Leo Baeck Werke. Band 5 Nach der Schoa - Warum sind Juden in der Welt?: Schriften aus der Nachkriegszeit 9783641248468


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German Pages 558 Year 2002

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Wiederbegegnung mit Deutschland
Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte
Brücken zwischen Judentum, Christentum und Islam
Die Sendung des Judentums in die Welt
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Leo Baeck Werke. Band 5 Nach der Schoa - Warum sind Juden in der Welt?: Schriften aus der Nachkriegszeit
 9783641248468

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Herausgegeben von Albert H. Friedlander (London) † Bertold Klappert (Wuppertal), Werner Licharz (Frankfurt a.M.), Michael A. Meyer (Cincinnati/Ohio), im Auftrag des Leo Baeck Instituts, New York Die Herausgeber danken Marianne C. Dreyfus, James N. Dreyfus und Richard B. Dreyfus für die Erlaubnis, Leo Baecks Werke wieder im Druck erscheinen zu lassen.

Band 1 Das Wesen des Judentums Band 2 Dieses Volk Band 3 Wege im Judentum Band 4 Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte Band 5 Schriften aus der Nachkriegszeit Band 6 Briefe, Reden, Persönliches

Gütersloher Verlagshaus

Band 5

Nach der Schoa – Warum sind Juden in der Welt? Schriften aus der Nachkriegszeit Herausgegeben von Albert H. Friedlander (†) und Bertold Klappert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2002 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Umschlagfoto: Leo Baeck Institut, New York Satz: Weserdruckerei SatzWeise GmbH, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-641-24846-8 www.gtvh.de

Baeck 5 p. 5 / 11.7.2006

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Wiederbegegnung mit Deutschland Gedenken an zwei Tote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Der Sinn der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Das Judentum auf alten und neuen Wegen . . . . . . . . . . . .

35

Israel und das deutsche Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte The Task of Progressive Judaism in the Post-War World . . . .

65

Individuum Ineffabile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

The Interrelation of Judaism and Science . . . . . . . . . . . . . 109 The Interrelation of Judaism and Philosophy The Interrelation of Judaism and Ethics 5

. . . . . . . . . . 122

. . . . . . . . . . . . . 131

Baeck 5 p. 6 / 11.7.2006

Inhalt

Maimonides – der Mann, sein Werk und seine Wirkung . . . . 139 Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig . . . . . . . . . 158 Epochen der jüdischen Geschichte

. . . . . . . . . . . . . . . . 207

Brücken zwischen Judentum, Christentum und Islam Die Pharisäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Haggadah and Christian Doctrine . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Der Glaube des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Some Questions to the Christian Church from the Jewish Point of View . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Benai B’rith-Rede in Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Judentum, Christentum und Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . 472

Die Sendung des Judentums in die Welt Changes in Jewish Outlook . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Why Jews in the World? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 The Law in Judaism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 The Psychological Root of the Law . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Jewish Mysticism

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533

World Religion and National Religion . . . . . . . . . . . . . . . 551

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Vorwort

Der fünfte Band der Leo Baeck Werke stellt die letzte Wirkensphase des großen Rabbiners und Gelehrten in den Mittelpunkt. In vier Abteilungen werden die Themen, die Baeck nach der Schoa in der Schlußzeit seines Wirkens beschäftigten, an exemplarischen Texten vorgestellt. Sie dokumentieren das Ringen des großen Gelehrten mit dem Erlebten, sie zeigen, wie ein deutscher Jude, ohne vorschnell von Versöhnung zu reden, doch zu einer neuen Ansprache der Deutschen und des Christentums findet. Dabei geht es nicht darum, ein »Spätwerk« Baecks zu konstruieren. Man kann diesen Mann und sein Werk nicht in Epochen zerstückeln, und es gibt nicht den Augenblick, in dem sein Leben sich aus einem Zeitalter löst, um sogleich im nächsten verortet zu sein. Das Neue wächst aus dem Alten, das Alte lebt fort im Neuen und kann doch nicht mit den alten Paradigmata des Denkens verstanden werden. Leo Baecks Text Epochen der jüdischen Geschichte, der hier in der zweiten Abteilung vorgestellt wird, zeigt in diesem Zusammenhang, wie sehr sich das Geheimnis der Geschichte dem, der es zu offenbaren sucht, entzieht, mag man auch noch so behutsam und methodisch vorgehen, um Schritt für Schritt ein Verständnis für eine Zeit zu gewinnen. Man gewinnt immer mehr Fragen als Antworten. Und auch in Leo Baecks Lehre sind Theologie und Geschichte so ineinander verwoben, daß Ewigkeit und Endlichkeit bleibende Polaritäten einer ebenso fragenden wie tragischen Existenz bleiben. Der Band nimmt nicht alle Texte auf, die Baeck nach seiner Befreiung aus Theresienstadt bis zu seinem Tod schrieb. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, daß auch die letzte Lebensphase für Baeck eine außerordentlich produktive war. Alles aufzunehmen hätte schlicht den zur Verfügung stehenden Raum gesprengt. Außerdem wird vieles von dem, was hier Aufnahme hätte finden können, in Band 6 Briefe, Reden, Persönliches zu lesen sein. 7

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Vorwort

Die Herausgeber danken dem Leo Baeck-Institut in London, der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal und dort besonders Herrn Assistent Michael Haarmann, Frau Wenke Bartholdi und Herrn Martin Bartholdi für die aufmerksame Korrektur der Texte, dem Wissenschaftskolleg in Berlin und Frau Gudrun Rein, der Bibliothek des Hebrew Union College in Cincinnati sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gütersloher Verlagshauses. Albert H. Friedlander Werner Licharz

Bertold Klappert Michael A. Meyer

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Einleitung

Der ursprüngliche Plan der Herausgeber war es, im fünften Band Baecks Texte nach der Schoa einfach in chronologischer Reihenfolge zu bringen, vielleicht geordnet nach den verschiedenen Wissenschaftsgebieten, zu denen Baeck publizierte. Bald schon mußten wir jedoch feststellen, daß die rein zeitliche Strukturierung des Bandes dem Baeckschen Werk nicht gerecht geworden wäre. Sichtbar wird dies schon am ersten hier abgedruckten Text. Weder ist er nach der Schoa entstanden, noch handelt es sich um einen wissenschaftlichen Beitrag, und dennoch gehört er zu den Texten, die ein zentrales Thema der späten Arbeiten Leo Baecks aufnehmen: die Hoffnung und Stärkung des Volkes angesichts der Bedrohung. 1935 schreibt Baeck am Kol Nidre das Gebet »Ganz Israel steht in dieser Stunde vor seinem Gott«, ein Sündenbekenntnis, in den Gemeinden vorzutragen in den Liturgien der hohen Feiertage. Ein besonderes Gebet: ein Wort des Widerstandes. Angesichts einer immer bedrückender werdenden Lage und immer unsicherer werdenden Rechtsstellung der Juden im Deutschen Reich formuliert der »Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden« ein mutiges Wort gegen Lügen und Verleumdungen. Der Text wirkt wie ein Hirtenbrief, gesandt, um den geistlichen Widerstand gegen die Nazi-Regierung zu stärken, als Ermutigung gegen die Verzweiflung, zur Stärkung des Glaubens. Die Nazis erkannten sehr wohl die Brisanz der Worte. Baeck wurde ins Gefängnis geworfen und kam nur mit Mühe wieder frei. Der Text wurde verboten und sollte unter der Zensur sterben. Es gelang nicht – 1935 beteten Jüdinnen und Juden: »Trauer und Schmerz erfüllen uns. Schweigend, durch Augenblicke des Schweigens vor unserem Gott, wollen wir dem, was unsere Seele erfüllt, Ausdruck geben. Eindringlicher als alle Worte es vermöchten, wird diese schweigende Andacht sprechen.«

Albert H. Friedlander

Bertold Klappert 9

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WI EDERBEGEGNUNG M IT DEUTSCH LAND

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Baeck 5 p. 13 / 11.7.2006

Gedenken an zwei Tote*

Der Titel dieses Beitrages zeigt an, daß es sich um einen liturgischen Text handelt, um eine Hesped, eine Trauerrede im gottesdienstlichen Raum. Bei genauerer Betrachtung wird aber sichtbar, daß Baeck hier nicht nur auf zwei Menschenschicksale zurückblickt. Die Erinnerung an zwei Menschen wird ihm vielmehr zum Anlaß, Geschichte im Großen zu erzählen, einen Rückblick zu geben auf den Weg der Juden Deutschlands in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus. Im Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen formt sich die Neugestalt des deutschen Judentums. Baecks Skizze beschreibt nicht nur die Wanderungsbewegung der Juden aus Posen und Westpreußen in die großen Städte, die Wandlung des Landjuden zum Großstadtjuden, die sich in gewisser Weise auch in Baecks eigenem Leben in Lissa, dann in Breslau und schließlich in Berlin vollzog. Analog zum Streben Deutschlands, nach dem ersten Weltkrieg »den alten Partikularismus zu überwinden und den Einheitsstaat zu schaffen«, entwikkelt auch die jüdische Gemeinschaft Bestrebungen, einheitliche und einheitsstiftende Interessenvertretungen zu bilden. So entstand der »Deutsch-Israelitische Gemeindebund«, der jedoch nie zur Gesamtvertretung aller Juden Deutschlands wurde. Erst mit dem Erstarken des Nationalsozialismus gewinnt auch die Frage nach der Einheitlichkeit des Judentums neue Bedeutung und erhält im »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« und in der »Zionistischen Vereinigung« Antworten. Schon die Namen der Gruppen zeigen an, daß die politischen Herkünfte und Ziele der in ihnen Organisierten unterschiedlicher kaum sein können. Dennoch entwickeln sich mit dem Wachsen der nationalsozialistischen Bedrohung die Organe der beiden Verbände, die »C.V. Zeitung« und die »Jü*

Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlagsanstalt GmbH, Stuttgart, entnommen aus: Deutsches Judentum – Aufstieg und Krise, herausgegeben und eingeleitet von Robert Weltsch, Stuttgart 1963, 307 ff.

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Baeck 5 p. 14 / 11.7.2006

Wiederbegegnung mit Deutschland

dische Rundschau«, in gleicher Weise zu Brennpunkten jüdischer Selbstvergewisserung und geistigen Widerstandes. Als dann die »Reichsvertretung der deutschen Juden« und das heißt auch: als Leo Baeck die Repräsentanz des deutschen Juden gegenüber dem nationalsozialistischen Staat zu übernehmen hat, kann er auf die Hilfe von Menschen zurückgreifen, die in den beiden genannten Organisationen geprägt wurden und Erfahrungen sammeln konnten. An zwei dieser Menschen erinnert Baeck in diesem Beitrag. Otto Hirsch stammte aus Schwaben, der Heimat Schillers und Hegels. Er war Jurist und hatte sich vor allem im Rahmen wirtschaftlicher Tätigkeit im Auftrage der Planungsbehörden um den Bau des Rhein-Donau-Kanals Verdienste erworben. Er hatte den Humor und die Treue seiner Landschaft, war ein stolzer, mutiger Jude. Wie Baeck erzählt, begleitete er ihn in den Rachen des Löwen, um für sein Volk nach dem Reichspogrom von 1938 zu kämpfen. Hirsch wurde in Mauthausen umgebracht. Baeck erzählt die tragische Familiengeschichte; es war die Geschichte der deutschen Juden. Julius L. Seligsohn war ein Mitglied der »jüdischen Aristokratie« in Berlin, gesegnet mit einem scharfen Verstand und mit dem feinen Witz des Berliner Juden; er war ein charmanter Vermittler von großem diplomatischem Geschick. Wie Otto Hirsch war er ein tiefdenkender religiöser Jude, und besaß auch denselben Mut: Es war Seligsohn, der Baecks Entlassung aus dem Gefängnis erreichte, als dieser nach den Konflikten um das Kol Nidre-Gebet von 1935 inhaftiert worden war. Pflichtgefühl verbot es Seligsohn, eine Auslandsreise als Gelegenheit zur Absetzung aus Deutschland zu benutzen. Er wurde im KZ Oranienburg ermordet.

Für die Juden Deutschlands brachte die politische Umwälzung, die eine Folge des Ersten Weltkrieges war, wesentliche Änderungen sowohl in der Struktur wie in der geistigen Haltung mit sich. Gebiete, in denen zahlreiche und geistig lebendige jüdische Gemeinden bestanden, im Osten die Provinz Posen und der größte Teil Westpreußens, wurden an Polen abgetreten, und im Westen fielen Elsaß und Lothringen, ebenfalls ein Gebiet vieler und eigenartiger jüdischer Gemeinden, an Frankreich zurück. Die Juden Posens und Westpreußens, die sich mit der deutschen Bildung sprachlich sowohl wie geistig verbunden wußten, gaben fast sämtlich ihre alten Wohnsitze auf und wanderten nach dem nun veränderten Deutschland hinüber. Die Juden im Elsaß und in Lothringen, die in einem eigenen sprachlichen und kulturellen Raum lebten, blieben in ihren Gemeinden. 14

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Gedenken an zwei Tote

Die Struktur des deutschen Judentums erfuhr so eine Wandlung. Einerseits war die Zahl der Juden vermindert, der wirtschaftliche Raum war eingeengt, und, was noch mehr bedeutet, die Zahl der Gemeinden verminderte sich. Die Juden, welche aus Posen und Westpreußen fortzogen, suchten vor allem in den Großstädten nun seßhaft zu werden, und die Zahl und auch der Einfluß der großen Gemeinden verstärkte sich. Abgesehen davon nahm auch der Zug von der kleinen Stadt zur großen Stadt, der schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Struktur der deutschen Judenheit mitbestimmt hatte, jetzt weiterhin zu. Der Jude wurde zu einem großen Teil Großstadtjude. In dem neuen Deutschland herrschte das Bestreben, alten Partikularismus zu überwinden und den Einheitsstaat zu schaffen. Ein ähnliches Bestreben entstand bei den Juden in bezug auf ihre eigenen Organisationen. Schon Jahrzehnte vorher war es versucht worden, durch den Deutsch-Israelitischen Gemeindebund eine gewisse Zusammenfassung der Juden Deutschlands zu bewirken. Aber dieser Zusammenschluß, der mit großen Hoffnungen begonnen worden war, vermochte nur einige wenige und geringere Aufgaben zu erfüllen. In den süddeutschen Ländern, in Bayern, Württemberg und Baden, hatte die staatliche Gesetzgebung eine einheitliche und geschlossene Arbeit der jüdischen Gemeinden bewirkt. Ähnliches war der Fall in Hannover und Kurhessen als Ergebnis früherer Verfassung. Jetzt versuchten die Gemeinden Preußens, dem Beispiel der süddeutschen Staaten zu folgen, ohne es nachzuahmen. Der »Preußische Landesverband Jüdischer Gemeinden« wurde gegründet. Im Unterschied zu den süddeutschen Verbänden erhielt er eine demokratische Grundlage. Eine Art jüdischen Parlaments in Preußen wurde geschaffen. Dieser Landesverband hatte seine finanzielle Grundlage in den großen, wohlhabenden jüdischen Gemeinden. Die Großgemeinden hatten ihre besonderen Interessen und hatten sich auch ihren eigenen gemeinsamen Kreis zur Vertretung dieses Gemeinsamen geschaffen: die Konferenzgemeinschaft jüdischer Gemeinden, der die großen Gemeinden Berlin, Frankfurt, Breslau, Köln vor allem angehörten. Beschlüsse, die dort gefaßt worden waren – und es waren Beschlüsse, in denen meist Verständnis für die Aufgaben waltete –, waren dann zwar nicht formell, aber tatsächlich durch den Preußischen Landesverband im wesentlichen nur gutzuheißen. Dieser norddeutsche Verband und die süddeutschen Verbände traten auch in regelmäßige Verbindung, und so war eine Art von Gesamtvertretung der jüdischen Gemeinden in Deutschland geschaffen. In den einzelnen Landesverbänden, wie auch durch ihre Gemein15

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Wiederbegegnung mit Deutschland

schaft, wurde viel nützliche Arbeit geleistet. Besonders die Fürsorge für die kleinen Gemeinden, die durch den Fortzug vieler, besonders wohlhabender, Mitglieder leistungsschwach geworden waren, bildete eine wichtige Aufgabe. Wenn ruhige Zeiten fortgedauert hätten, würde diese Entwicklung, die durch die einzelnen Landesverbände und durch ihre gemeinsamen Beratungen eingeleitet worden war, ihren ruhigen und stetigen Fortgang genommen haben. Durch das Emporwachsen des Nationalsozialismus, weniger aus eigener Kraft als vermöge der Förderung, die er von den nationalistischen Gruppen des alten Kaiserreiches wie auch durch alte und neue Wirtschaftsverbände materiell und moralisch erhielt, wurde die Situation für die Juden in Deutschland mehr und mehr eine bedrohliche. So wurde das Verlangen nach regelmäßigem Gedankenaustausch, nach gemeinsamer Politik und nach einer Gesamtarbeit unter den deutschen Juden immer lebendiger. So mußte das Verlangen nach einer Gesamtvertretung, die mit genügenden Mitteln und ausreichenden Befugnissen ausgestattet war, sich immer mehr regen. Dieses Verlangen wurde besonders in den zwei großen Verbänden lebendig, in denen Gruppen des ganzen deutschen Judentums vereint waren, in dem »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« und in der »Zionistischen Vereinigung«. Von diesen beiden Verbänden gingen in wachsendem Maße die bestimmenden Gedanken aus. Sie gewannen nicht im äußerlichen Sinn, aber in ihrer starken Dynamik unverkennbar die Führung. Bei ihnen fand die Forderung, die Juden ganz Deutschlands in einer demokratischen Form zusammenzuführen, immer stärkeren Ausdruck und immer stärkeres Echo. Die Führung ging von den großen Gemeinden mehr und mehr auf diese Verbände über. In Preußen war durch das Ereignis des Januar 1933 ein Plan, der vieles versprach, zunichte geworden. Der Preußische Staat hatte nach der Revolution von 1918 zuerst mit der katholischen Kirche und dann mit den protestantischen Kirchen Preußens ein Konkordat abgeschlossen. Die leitenden Beamten des zuständigen Preußischen Unterrichtsministeriums, des ehemaligen Kultusministeriums, hegten schon aus Beamtenrechtschaffenheit, aber auch auf Grund von Anregung und Wünschen, die von jüdischer Seite an das Ministerium herantraten, den Plan, ein solches Konkordat auch mit der Judenheit Preußens geschlossen zu sehen. Besonders der zuständige Ministerialdirektor Trendelenburg, ein streng konservativer Mann, hat diesen Plan in ehrlichem Bemühen zu einer befriedigenden Erfüllung zu bringen gesucht. Die Vorarbeiten, die mit großer Objekti16

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Gedenken an zwei Tote

vität und auch mit innerer Erschlossenheit geleistet wurden und an denen die beiden jüdischen Sachverständigen im Ministerium, der Verfasser dieses Aufsatzes und neben ihm in vorbildlicher Bereitschaft zur Zusammenarbeit Rabbiner Dr. Esra Munk, beteiligt waren, waren so weit gediehen, daß Ende des Jahres 1932 in gemeinsamer Beratung von Vertretern des Unterrichtsministeriums und des Innenministeriums, welches für einen Teil der jüdischen Angelegenheiten ebenfalls zuständig war, ein Gesetzentwurf fertiggestellt war, um im Januar 1933 dem Preußischen Landtag zugeleitet zu werden. Es ist nicht bekannt, ob die betreffenden Akten des Preußischen Unterrichtsministeriums erhalten sind und wo sie sich befinden. Es würde, falls eines Tages diese Akten erreichbar sein sollten, eine interessante Aufgabe sein, der Geschichte dieses Gesetzesentwurfs im einzelnen nachzugehen. Aus eigener Erfahrung darf gesagt werden, daß von den Beamten dieses Ministeriums, welche auch Staatsrechtler zuzogen, eine bedeutungsvolle Arbeit, die eine ganz neue Form des Zusammenschlusses der jüdischen Gemeinden zu schaffen suchte und auch staatliche Beihilfe verbürgen sollte, geleistet worden ist. Die Ereignisse des Jahres 1933 trafen viele Juden in Deutschland innerlich unvorbereitet. Diese Ereignisse waren zudem mit einer gewissen Plötzlichkeit hereingebrochen; man darf sagen, daß einem Feinde, der sich zurückzog, die Schlüssel der Festung durch die, welche sie hüten sollten, übergeben worden waren. In den Jahren vorher war von den Juden in Deutschland ein zu großer Optimismus gegenüber den immer drohenderen Geschehnissen gehegt worden. Als der Verfasser dieses Aufsatzes Ende der zwanziger Jahre in Allenstein in einer Versammlung, die Verständnis für den Keren Hajessod wecken sollte, sagte, daß vielleicht der Tag kommen werde, wo die »Heimstätte« im Lande Israel nicht nur für Juden aus jetzigen Gebieten wirtschaftlicher und politischer Not in den östlichen Ländern notwendig sein werde, sondern auch für die Juden Deutschlands, erweckte dies weithin Verwunderung. Nicht nur äußerlich, sondern innerlich brach der Umschwung plötzlich herein. Der Preußische Landesverband und die Vertreter der großen Gemeinden schienen, und dies war begreiflich, ratlos zu sein. Man hoffte dort noch immer, daß die Kreise, mit denen man durch gemeinsame Arbeit und in gemeinsamen politischen Sphären durch Jahrzehnte verbunden war, die Bundesgenossen der Juden im Kampfe gegen Verfassungs- und Rechtsbruch sein würden und daß es ihnen gelingen würde, die Lebensverhältnisse eines Rechtsstaates wieder herzustellen. 17

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Wiederbegegnung mit Deutschland

Man setzte Hoffnungen auf die nichtnationalsozialistischen Mitglieder des neuen Reichskabinetts, und der Vizekanzler, Herr von Papen, war bemüht, solche Hoffnungen zu nähren. Auch der Tag des Boykotts am 1. April 1933 machte nicht in allen diese Hoffnung zunichte. Die Besinnung erwachte zuerst in den zwei großen Verbänden. Durch die Organe, die sie besaßen, die »C.V. Zeitung« und ganz besonders die »Jüdische Rundschau«, hatten diese Organisationen die Möglichkeit, zu den Juden Deutschlands zu sprechen. Diese beiden Zeitungen erlebten in drangvollen Tagen eine große Zeit. Hier in diesen beiden Verbänden wurde man dessen zuerst bewußt, daß es darauf ankomme, nicht nur Opfer einer Politik der neuen Gewalt zu werden, sondern eigene Gedanken zu verwirklichen, nach innen wie nach außen, und vor allem in Verbindung mit den Juden anderer Länder, besonders Englands, der Vereinigten Staaten und Palästinas, einen Weg zu bereiten. Als der Verfasser dieses Aufsatzes im April in einer Beratung im Kreise des C.V. erklärte, daß man keine Hoffnung auf eine baldige Beseitigung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hegen könne, daß man daher damit beginnen solle, die Jugend in andere Länder zu führen, und daß die Älteren zunächst ausharren sollten, um Positionen soweit wie möglich zu halten und so die Fortwanderung der Jugend zu ermöglichen, begegnete dies zwar zunächst den Bedenken des einen und des anderen, aber die meisten, und unter ihnen die Besten, begannen sich der Aufgabe zu eröffnen. In der Zionistischen Vereinigung, die in der Jugend-Alijah bereits ein Organ für die Durchführung eines solchen Planes hatte, ließ die bereitwillige Zustimmung nicht auf sich warten. In dem Hilfsverein der deutschen Juden, der wertvolle Erfahrungen besaß und seit langem über Beziehungen zu den jüdischen Gemeinden anderer Länder verfügte, stand ebenfalls ein sehr nützliches Instrument für diese Aufgabe zur Verfügung. Hierzu trat die Erkenntnis, daß es mehr und mehr notwendig sein werde, die jüdische Schuljugend aus den öffentlichen Schulen herauszuziehen und für sie jüdische Schulen zu schaffen. Unter dem Druck des Geschehens und vermöge der wachsenden Einsicht wurde eine provisorische Reichsvertretung geschaffen, die aber in Wirklichkeit nur ein erweiterter Preußischer Landesverband oder auch nur ein erweiterter Vorstand der Jüdischen Gemeinde Berlin war und vielleicht unter den obwaltenden Verhältnissen zunächst nur sein konnte. An der Spitze standen der Vorsitzende des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden und der Verfasser dieses Aufsatzes. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit schied 18

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dieser letztere aus, da er keine Möglichkeit sah, die Gedanken, die er für notwendig hielt, in die Wirklichkeit überzuführen. Wenn dies gesagt wird, soll niemandem ein Vorwurf gemacht werden; eine notwendige Entwicklung verlangte wohl ihre Zeit. Aber sehr bald zeigte sich, daß es unerläßlich war, eine wirkliche Reichsvertretung der Juden in Deutschland zu schaffen. Die beiden großen Verbände setzten sich immer entschiedener dafür ein. Einflußreiche Persönlichkeiten, wie Max M. Warburg und Carl Melchior, Hamburg, und Dr. Georg Hirschland in Essen, stellten sich zur Verfügung; aber das Wesentliche geschah durch die Hilfe, die Einsicht und die Bereitschaft der zwei großen Verbände. Ihnen ist es auch zu danken, daß Männer für die neue Arbeit gewonnen wurden. Wohl selten in der Geschichte, und vielleicht niemals in der Geschichte der Juden, hat eine solche Zusammenarbeit von Männern verschiedener Art, von verschiedenem Denken und verschiedener politischer Richtung sich unter schwierigen Umständen in gegenseitigem Sich-Finden und Vertrauen, in Erkenntnis des Wesentlichen und Entscheidenden so bewährt, wie es in dieser leitenden Gruppe von Monat zu Monat in immer zunehmendem Maße geschah. Auf keine eigentliche formalrechtliche Autorisierung, nur auf die moralische Autorität und das Verständnis vieler im Lande konnte sie sich stützen. Aus dem kleinen Kreise dieser Männer sollen zwei von denen, die nicht mehr unter den Lebenden weilen, mit inniger Dankbarkeit hier vor allem genannt werden, Otto Hirsch und Julius L. Seligsohn. Beide waren aus einer Generation hervorgegangen, in der die jüdische Renaissance, die Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, lebendig geworden war. Es war für diese Generation charakteristisch, daß sie ihre bestimmte politische Überzeugung hatte, die sie stets offen aussprach, aber ihr nicht in Parteibegriffen, sondern durch eine geprägte Persönlichkeit Ausdruck geben wollte. Ideologien, welche früher trennend gewirkt hatten, wie die Frage »Nation und Religionsgemeinschaft«, konnten für sie nicht mehr starre Form ihres Denkens sein. Sie gehörten organisierten Gruppen zu, aber ließen sich durch diese in ihrem Denken und Hoffen nicht beengen. Otto Hirsch wurde der geschäftsführende Vorsitzende der Reichsvertretung und Julius L. Seligsohn war der, welcher die Verbindung mit dem Hilfsverein der deutschen Juden und der Gemeinde Berlin aufrechtzuerhalten hatte. Beide waren Männer klaren, ruhigen Denkens, frei von jeder Kleinlichkeit und Voreingenommenheit. Otto Hirsch stammte aus Württemberg, einem Lande, das im allgemeinen fruchtbar wie wenige andere Länder in Deutschland an 19

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Begabung und auch an Genie war; es hatte einen Schiller und Hegel und einen Robert Meyer hervorgebracht. In Wesen und Haltung, an Sprache und Denkweise und auch im Humor, der kaum je versagte, hatte Otto Hirsch viel von den Schwaben, und er war immer auf dieses sein Land, aus dem er hervorgegangen war, stolz. Er hatte eine mannigfache Möglichkeit besessen, Kenntnis von Dingen und Menschen sich zu erwerben. Als Jurist war er in die Verwaltung des Landes eingetreten und Rat in einem wichtigen Ministerium geworden, dort waren ihm dann besonders wirtschaftliche Aufgaben wie die, welche mit dem Bau des Rhein-Donau-Kanals zusammenhingen, übertragen worden. Er war ein Mann, der in sich ruhte und daher fest stand, ein Mann, auf den man bauen konnte. Kein Falsch und kein Fehl war in ihm. Auch wenn man ihm widersprechen mußte, was freilich selten war, mußte man ihn lieben. Er hatte, ohne je hervortreten zu wollen, in der jüdischen Welt Deutschlands sich einen Namen verschafft, und es war wie eine Selbstverständlichkeit geworden, daß er der Geschäftsführer der Reichsvertretung sein sollte und daß das Zustandekommen der Reichsvertretung davon abhing, daß er ihr Geschäftsführer wurde. Unermüdlich und immer hilfsbereit, immer bereit, Menschen anzuhören, hat er Jahre hindurch die Arbeit der Reichsvertretung getragen. Nie hat seine Tapferkeit versagt. Als der Verfasser dieser Zeilen am Tage nach dem Brande der Synagogen im November 1938 beschloß, nach der Reichskanzlei zu gehen und den Versuch zu machen, der dann freilich vergeblich blieb, den Staatssekretär Dr. Meissner zu sprechen, bestand Dr. Hirsch darauf, daß er mitgehe, um jede Gefahr zu teilen. Bald danach, aber sicher ohne Beziehung darauf, wurde er mit anderen leitenden Beamten der Reichsvertretung verhaftet. Da auch in den Behörden, aus welchen Motiven immer, der Wunsch vorhanden war, eine Gesamtvertretung der Juden in Deutschland zu haben, gelang es durch Rücksprache mit einzelnen Beamten, zu erreichen, daß er nach wenigen Wochen freigelassen wurde. Er hat, da seine Gesundheit einer sehr geregelten Lebensführung bedurfte, unter den Entbehrungen und dem Drucke der Haft sicher schwer gelitten. Aber als er zum ersten Male wieder unter uns war, äußerlich gekennzeichnet durch das, was er ertragen hatte, war er doch derselbe. Die ersten Worte, die er sprach, waren Worte des Scherzes, fast wie wenn er von einer Reise zurückgekehrt wäre. Ohne Furcht hat er weitergearbeitet, bis er zum Opfer ausersehen und in dem Konzentrationslager Mauthausen zum Tode gebracht wurde. Kurz nach seinem Hinscheiden wurde seine Frau, die ihm in ihrer stillen, selbstlosen Art zur Seite gestanden hatte und gemeinsam mit ihm in 20

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Gedenken an zwei Tote

mancher schweren Stunde in der Musik eine Trösterin fand, verhaftet, gerade als das Flugzeug sie zunächst nach England bringen sollte. Sie ist im Osten in den Tod geführt worden. Der Verfasser dieser Zeilen wird nie die letzten Stunden vergessen, in denen er mit Otto Hirsch zusammen war, und auch nie die Stunde, in der Frau Hirsch von ihm Abschied nahm, eine Heldin in ihrer stillen Art, voll innerer Größe. Seine und ihre letzten Worte hatten den Kindern, den zwei Töchtern und dem Sohn, gegolten, die sie zu ihrem Troste im Ausland in Sicherheit wußten. Julius L. Seligsohn war in Berlin geboren, Sohn einer angesehenen Familie, die aus der Provinz Posen stammte, aus diesem kleinen Gebiet, das eine Fülle jüdischer Begabung – es braucht nur auf zwei so verschiedene Persönlichkeiten wie Heinrich Graetz und Eduard Lasker hingewiesen zu werden – hervorgebracht hat. Diese Familie gehörte zur Aristokratie des jüdischen Berlin, eine Aristokratie, welche Vornehmheit vor allem auch im Geistigen und in der Anteilnahme am jüdischen Leben zu beweisen bereit war. Sein Vater war einer der führenden Juristen Deutschlands, maßgebend auf dem Gebiete des Patentrechts. Julius L. Seligsohn hatte alle die guten Eigenschaften des Berliners, und im besonderen des jüdischen Berliners: einen scharfen Verstand, einen treffenden Witz, einen Sinn für Wirklichkeiten und schließlich, was nicht viele hatten, einen guten Humor, wie ihn auch Otto Hirsch besaß und der manche Schwierigkeiten im Meinungsaustausch zu mildern und zu lindern vermochte. Er war der Mittler, der die notwendige Beziehung zu den Vertretern des bestehenden Gemeindeapparates pflegte und manche Schwierigkeiten und auch manche Hindernisse so aus dem Wege räumte. Eine gewisse Grazie und ein gewisser Charme waren ihm eigen, so daß jeder ihn liebhaben mußte. Er war im Auftrag der Reichsvertretung des öfteren im Ausland, zuletzt auch in Amerika, und er hatte seine Familie auch dorthin zu bringen vermocht. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, seine letzte Reise dorthin zu einer Übersiedlung werden zu lassen. Sein starkes, nie versagendes Pflichtgefühl führte ihn zurück nach Deutschland. Ein Persönliches darf aus einer tiefen Dankbarkeit hervor erwähnt werden. Der Verfasser dieses Aufsatzes war im Herbst 1935 verhaftet worden und nach dem SS-Gefängnis verbracht worden, weil er ein Gebet für die jüdischen Gemeinden verfaßt hatte, in dem jüdischer Stolz vor den Menschen und jüdische Demut vor Gott ihren Ausdruck zu finden suchten. Damals hat Julius L. Seligsohn, wozu ein starker Mut gehörte, sich Zutritt zu einem entscheidenden nationalsozialistischen Beamten zu verschaffen gewußt und hat, ne21

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Wiederbegegnung mit Deutschland

ben der Wirkung von Stimmen aus dem Auslande, das Seine dazu beigetragen, daß der Verhaftete freigelassen wurde. Im persönlichen Mute waren Otto Hirsch und Julius Seligsohn einander gleich. Auch Julius L. Seligsohn war zum Opfer ausersehen. Er wurde nach dem Konzentrationslager Oranienburg verbracht, und dort war ihm der Tod bereitet. Es wurde möglich, seinen Leichnam nach Berlin zu holen, und er hat auf dem alten Friedhof in der Schönhauser Allee die äußere Ruhestätte gefunden. Der Verfasser dieses Aufsatzes durfte den Gefühlen, die alle, die ihn kannten, für Julius L. Seligsohn empfanden, an seinem Grabe Ausdruck geben. Ob das Manuskript dieser Worte irgendwo sich noch finden mag? Beiden, Otto Hirsch und Julius L. Seligsohn, war eine tiefe persönliche Religiosität eigen. Sie war in ihrem Ton und in ihrer Weise in beiden verschieden, aber in beiden war sie voller Echtheit und Wärme, und dem, zu dem sie in mancher Stunde sprach, senkte sich ein Unvergeßliches in die Seele. Ohne Otto Hirsch und Julius L. Seligsohn hätte die Reichsvertretung die Schwierigkeiten, die ihr bisweilen bereitet wurden, und die Gefährdungen, von denen ihre Arbeit bedroht war, nicht bestehen können. Als sie beide genommen wurden, war eine Lücke entstanden, die nicht mehr ausgefüllt werden konnte. Solange die Dankbarkeit, diese vielleicht beste jüdische Tugend, im jüdischen Volke lebt, wird dieser beiden Männer, die ihr Leben für uns hingegeben haben, immer in Treue und Verehrung gedacht werden.

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Der Sinn der Geschichte*

Die Wiederbegegnung mit Deutschland nach der Schoa gestaltete sich für Baeck sehr langsam. In London, wo Baeck nun lebte, hatte sich eine lebendige Gemeinschaft emigrierter deutscher Juden entwickelt, und Leo Baeck fand hier Freunde und Kollegen, die ihm mit Ehrfurcht begegneten und ihn nach der Befreiung aus Theresienstadt mit Hoffnung umgaben. Robert Raphael Geis schrieb über die Atmosphäre: »Wie ein Sieger kam er nach der Befreiung zu seinen Kindern nach England: ungebrochen, von erstaunlicher körperlicher und geistlicher Vitalität«. Das Wort »Sieger« führt in die Irre! Baeck hatte überlebt, aber Schmerz und Trauer um die Toten beschatteten sein Leben. Und Sorgen beschwerten ihn: In England, in den Vereinigten Staaten, in Südamerika und in Palästina durfte man auf ein lebendiges Weiterleben des Judentums hoffen. Als Lehrer in London und Cincinnati hatte Baeck am Aufbau dieses Lebens regen Anteil. Aber Deutschland? Würde es wieder ein Judentum in Deutschland geben? Wie würde die Beziehung zwischen Deutschland und den Juden in Zukunft sein können? Baecks eigentlicher Dialog mit Deutschland kam erst 1952 in Gang. Doch schon im Mai 1946 hielt Baeck die drei hier dokumentierten Vorträge im Deutschlandsender der BBC. Vieles von dem, was Baeck vor der Schoa zum Thema »Theologie und Geschichte« gesagt hatte, findet sich hier in Anklängen wieder. Allerdings: Baecks Erlebnisse in der Zeit der Grausamkeit spiegeln sich nun in einer eher pessimistischen Geschichtsschau und -philosophie. Hatte Baeck in den dreißiger Jahren, wie Hans Liebeschütz in seiner Einleitung zu Aus drei Jahrtau*

Publiziert als: Der Sinn der Geschichte. Drei Vorträge aus der Sendereihe »Lebendiges Abendland« des Deutschen Dienstes des Londoner Rundfunks (5., 12. und 19. 5. 1946), Carl Habel Verlagsbuchhandlung, Berlin 1946.

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Wiederbegegnung mit Deutschland

senden feststellt, kein Interesse an den Machtkämpfen der Staaten gezeigt und seine Schrift Weltgeschichte noch unter das jeremianische Motto »So mühen sich die Völker um ein Nichts und die Nationen um ein Entschwindendes und vergehen«

gestellt, so steht Baeck nach der Nacht von Theresienstadt vor dem Faktum eines Zusammenbruchs der Zivilisation und einer in Trümmern liegenden Welt. Mehr als vor dem Krieg mußte er die Umwelt zur Kenntnis nehmen, und gerade in einer Sendung für Deutschland hatte er auch den Ruinen des 3. Reiches Beachtung zu schenken. Doch in seiner ersten Rede sind es nicht die Ruinen des Reichstages, des Führerbunkers oder der Gedächtniskirche, auf die Leo Baeck sich bezieht. Er folgt den Bahnen der Geschichte in die ferne Vergangenheit »et perire ruinae«. Wie ein Geschichtsprophet deutet er die Gegenwart aus der Vergangenheit des frühen Altertums, der Reiche Ägyptens, Mesopotamiens und Kleinasiens. Der Geschichtspessimismus eines Thukydides, eines Tacitus oder des von Baeck verehrten Ranke wehen uns hier an, Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« findet Erwähnung. Allerdings: Weiterhin ist Baeck nicht bereit, in der Macht der Staaten das Wesen der Geschichte zu sehen. Vielmehr findet er in der Integrität seines jüdischen Glaubens das wahre Recht, das gegen die Macht bestehen wird und Zukunft verheißt. Daneben steht das unzerstörbare Licht des Geistes, das schöpferische Völker und Menschen hervorbringt. Diese beiden, Recht und Geist, sind auf Erden unsterblich. In ihnen liegt Hoffnung, auch für die Menschen in Deutschland. Die zweite Rede stellt die Frage nach Zivilisation und Menschsein in ihren Mittelpunkt. Es gilt in Deutschland, in dem Menschen zu Tieren wurden, die Menschenwürde wieder zurückzugewinnen. Die erstaunliche Botschaft, die der Rabbiner, der nur knapp das KZ überlebte, an die Deutschen hat: »Ihr seid nicht mehr isoliert, ihr müßt euch anderen zuwenden«. Das ist »… die Aufgabe, die Rettung und der Weg in die Zukunft«. In der dritten Sendung schließlich skizziert Baeck wiederum in groben Zügen den Gang menschlicher Kulturentwicklung, um sichtbar zu machen, daß ein Staat ohne Gesetz und Gerechtigkeit nicht existenzfähig ist. Wir finden hier keine spezifischen Anklagen gegen den Nationalsozialistischen Staat, diese kamen erst später und blieben selten, sondern Ermutigungen für ein Volk und Erinnerung an seine sittliche Pflicht: »Ein Volk betrügt sich, wenn es Scheinideen und Irrgedanken folgt, und ein Volk droht zu sterben, wenn der Wille zum sittlichen Ideal in ihm erstorben oder ertötet worden ist.« 24

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Der Sinn der Geschichte

Wenn die Gegenwart unbehaglich oder bedrückend ist, dann zieht es den Blick oft zu dem zurück, was gewesen ist und aus dem das, was jetzt dasteht oder daliegt, geworden ist. Das, was war, soll das erklären, was jetzt ist. Die Geschichte soll eine Antwort geben auf die Frage des Tages. Man hat zwar die Geschichte bisweilen auch als die rückwärts gewandte Prophetie bezeichnet, das heißt, als ihre Aufgabe, dem Vergangenen einen Sinn zu geben. Aber das will doch sagen, daß sie das auch aufzeigt, was einst Menschen hätten voraussehen können oder sollen. Und darin spricht doch zugleich der hoffnungsvolle Wunsch mit, daß dieser erkennende Blick sich dann auch nach vorn wenden dürfe, um auch hier Gesetze und Richtungen zu finden und zu verkünden, was kommen werde. Aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen, ist das Verlangen vieler. Schon zu erkennen, was war, um zu verstehen, was ist, und zu erfassen, was sein wird, das scheint doch die Aufgabe zu sein, die der Geschichtserkenntnis zugeschrieben wird. Was war? – das ist darum die Frage, von der hier alles ausgeht. Oder um diese Frage noch allgemeiner und zugleich noch bestimmter zu fassen: Was ist von allem, was bisher war, geblieben für uns und unsere Nachkommen, was ist geblieben von alledem, wofür Menschen gerungen oder wofür Völker neben- und gegeneinander gestanden haben? Wir kennen viele Jahrhunderte menschlicher Geschichte, menschlicher Kultur. Die Grabungen der Altertumsforscher führen in immer frühere Gebiete, in immer frühere Tage zurück; immer neue Räume und Zeiten künden von dem, was gewesen ist. Und was alles wird durch diese Forschung wohl noch weiter erschlossen werden? Und was alles ist vielleicht für immer oder noch für lange begraben, um so für lange oder immer unbekannt zu bleiben? Plato erzählt von einem Lande wundersamer Bildung und wunderbaren Könnens, das mit allen seinen Menschen und allem, was sie geschaffen hatten, im Meer versunken sei, von dem Lande Atlantis, und vielleicht ist das mehr als nur ein Märchen. Um so bestimmter erhebt sich die Frage: Was ist von allem, was gewesen ist, geblieben, was hat Bestand gehabt? Es gibt einen Geschichtspessimismus, der ein dunkles Bild aufzeigt oder vielmehr jedes Bild im Dunkel untertauchen läßt. Er kann sich auf jenen Pessimismus allgemeinerer Art gründen, für den alles, was entsteht und lebt, eben nur entstanden und am Leben gewesen ist, um eines Tages zu sterben und zu vergehen. Aber dieser Geschichtspessimismus hat es nicht schwer, auch seine besonderen Antworten zu finden und seine Beweise zu geben. Denn wenn das 25

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Auge des Historikers die Bahnen der Geschichte rückwärts verfolgt, was liegt vor ihm? Wo er hinsieht, doch Zerstörung um Zerstörung, sei sie durch Menschenhand, sei sie durch die Hand des Geschickes geschehen; Felder von Gräbern und Ruinen liegen vor ihm, dieser große Schutt der Geschichte, Trümmer um Trümmer zeugen hier von dem, was einst die großen Mächte, die sich zur Höhe erhoben und ihre Kreise gedehnt hatten, gewesen sind und besessen haben. Und von manchem Gebiet mag das trübe Wort des alten Dichters gelten: »Et perire ruinae«, »Selbst die Ruinen sind versunken.« Man braucht, um diesem Pessimismus ein gewisses Recht zu geben, nur an die bedeutungsvollen und mächtigen Reiche des frühen Altertums zu denken, an die Reiche in Ägypten, Mesopotamien und Kleinasien, die für die Dauer gegründet zu sein schienen. Sie haben ihre Existenz nur noch in den Hügeln und Höhlen der Trümmer und dem, was aus diesen geborgen worden ist. Und neben und vor ihnen waren doch die vielen Völker und Staaten, die auch ihr Leben und ihren Platz hatten, und wir kennen von ihnen nur noch die Namen, oder selbst die Namen sind verlorengegangen. Das ist eine eindrucksvolle Sprache. Man kann es daher begreifen, daß, wenn Geschichtsforscher ihre Ergebnisse zogen, ihre Rede so oft voller Wehmut war. Man braucht nur an die beiden größten des Altertums, den Griechen Thukydides und den Römer Tacitus, oder aus neuerer Zeit an den Engländer Gibbon, auch er einer der größten, zu denken. Und selbst bei Männern, in denen der Glaube an einen aufwärts steigenden Weg so lebendig war wie bei Ranke oder Macaulay, wird ein dunkler Unterton bisweilen vernehmbar. So ist es zu verstehen, daß der Geschichtspessimismus sich schließlich seine Philosophie, sein System bereitet hat. Man braucht, um e i n e s bloß zu nennen, nur an das gedankenreiche Buch zu erinnern, das in der ersten Periode dieses Jahrhunderts Oswald Spengler über den »Untergang des Abendlandes« schrieb. Ihm wird der Geschichtspessimismus zum Kulturpessimismus. Kulturen, so lehrt er, haben ihr Leben, so wie Menschen ihr Leben haben. Nach Tagen der Kindheit, der Jugend und der Kraft kommen die des Abstiegs, der Müdigkeit und des Alterns, bis dann auch hier der Tod naht. Und so wird die Frage nach dem, was bleibt, zu der Frage nach dem Sinn von dem allen. Und die Antwort, so scheint es, müßte sie jetzt auch nicht die sein, die ein alter Satz gibt, den das biblische Buch der Propheten aufbewahrt hat: »So mühen sich die Völker um ein Leeres und die Nationen um einen Rauch und sinken hin.« Allein, das ist doch nicht die Antwort oder wenigstens nicht die ganze Antwort. Denn wenn wir deutlicher hinsehen: was ist hinge26

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Der Sinn der Geschichte

sunken, was ist zu Trümmern geworden? Zu Trümmern geworden ist nur das, was bloß Macht, nichts als Macht hatte sein sollen, was nichts als Macht, bloße Macht auszuüben und zu bewahren gesucht hatte. Das allerdings ist immer wieder zugrunde gegangen, immer aufs neue errichtet worden und immer aufs neue zusammengebrochen. Es liegt im Wesen der Macht, die nur Macht sein will, daß sie immer Macht über andre sein will, daß sie sich immer wieder gegen andere wendet und darum die anderen sich dann mehr und mehr gegen sie wenden. Druck erzeugt Gegendruck, solche Macht, die nur Macht über andere sein, nur herrschen und bedrücken will, ist nicht konstruktiv, sondern kann nur destruktiv sein. In ihr selbst liegt ein Prinzip des Zerstörens, und darum zerstört sie im Grunde sich selber. Kaum, daß sie errichtet ist, knistert schon in ihren Mauern der kommende Zusammenbruch. Wer in der Geschichte nur das Kommen und Gehen solcher Mächte sieht, wem das die Geschichte ist, dessen Blick trifft zuletzt immer nur Trümmerfelder, diesen Schutt der Geschichte. Es ist ein trauriger Anblick. Aber steigt aus ihm nicht zugleich eine große Zuversicht auf? Wir sehen: Macht kann nie bleiben, wenn sie nur Macht sein will. Gegen sie stand immer das Recht, und Recht, das wahre Recht, muß doch Recht bleiben – das wahre Recht, das niemals zum Diener der Macht werden will –, denn es empfängt seine Legitimation nicht von der Macht, sondern von etwas Höherem. Alle Macht ist zugrunde gegangen, wenn und weil sie gegen das Recht war. Sie ist versunken, und das Gebot des Rechts ist geblieben. Wir können diesen Zug des Rechts durch die Geschichte erkennen. Es ist ein langsamer Weg immer gewesen, ein schwerer Weg, voller Hindernisse und Unterbrechungen, ein Weg der Mühen und des Märtyrertums. Aber es war und blieb ein Weg, vor dem sein Ziel stand, das immer gleiche Ziel. Und das ist der eigentliche Weg der Geschichte, ihr bestimmter Weg. Geschichte der Menschheit ist Geschichte des wahren Rechtes. Geschichte der Menschheit ist darum Geschichte einer großen Hoffnung, der bleibenden und gebietenden, der kategorischen Hoffnung. Dazu kommt ein Weiteres, ein Weiteres, das im Grund dasselbe ist. Auf Erden sind schöpferische Völker erstanden, Völker, aus denen schöpferische Menschen hervorgegangen sind, welche der Menschheit neue Ideen schenkten oder alte Ideen neu gestalteten. Sie ließen ein neues Licht des menschlichen Geistes leuchten. Geschichte der Menschheit ist doch vor allem Geschichte dieser großen Ideen und ihrer Männer, Geschichte der großen Erkenntnisse, der großen Gebote. Es ist im Gang der Zeiten oft versucht worden – die 27

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Wiederbegegnung mit Deutschland

Mächte, die nur Mächte sein wollten, haben es oft unternommen –, neues oder altes Licht zum Verlöschen zu bringen; Zeiten des Dunkels wollten oft über die Erde hereinbrechen. Aber Licht des Geistes, Licht der Seele ist unzerstörbar. Das Licht bleibt, und es geht eines Tages wieder auf. Darum behält ein Volk, das sich mit einer wahren Idee, einer wahren Aufgabe, einem wahren Gebot verbindet, die Kraft dieses Lebens. Bloße Macht vergeht, aber diese Kraft bleibt. Das wiederum ist wahre Geschichte, Geschichte des Geistes, Geschichte einer wirklichen Kraft, eines wirklichen Lebens. Hier gibt es die Geburten und Wiedergeburten, Geburten und Wiedergeburten zu wahrem Leben. Hier auch lebt die große Hoffnung, das große Gebot, die kategorische Hoffnung, dieses kategorische Gebot, das große »Du Sollst«, das große »Und Dennoch«. Hier lebt das, was jeder in seiner Weise besitzen und verwirklichen kann und was doch alle eint, alle zusammenhält: das bleibende Ziel, die bleibende Aufgabe, Ziel und Aufgabe für alle. Hier kann die Fackel immer weitergereicht werden. Das ist die Geschichte der Menschheit, die Geschichte dessen, was lebt und besteht. Und das ist der Sinn der Geschichte, das ist die Antwort auf die Frage: Was bleibt im Gange der Zeiten. Recht und Geist, sie sind auch auf Erden unsterblich. Vielen ist gewiß die Erklärung bekannt, in welcher der Unterschied zwischen Mensch und Tier dahin bezeichnet wird: der Mensch sei das Lebewesen, welches Werkzeuge mache. Die Definition stammt von einem Manne, der selbst ein Mann des Werkzeuges war, allerdings auch wußte, daß es etwas Höheres noch gilt als Kunst und Macht des Werkzeuges, von Benjamin Franklin, dem Erfinder des Blitzableiters, dem großen Freiheitsmanne. Durch das Werkzeug ist in der Tat das gestaltet worden, was gemeinhin als die Zivilisation bezeichnet wird. Wenn dieses Wort gebraucht wird, ist allerdings zu beachten, daß das, was in der deutschen Sprache den Namen »Zivilisation« hat, in der englischen und der französischen das zu benennen pflegt, was in der deutschen Ausdrucksweise »Kultur« heißt, und umgekehrt dem deutschen Wort »Kultur« in der englischen und französischen Sprache in der Regel das Wort »Zivilisation« entspricht. Manches Mißverständnis ist dadurch bewirkt worden. Durch seine Fähigkeit, sich Werkzeuge zu bereiten, ist dem Menschen gegeben worden, daß er über den Platz des Tieres hinausgelangen konnte. Durch das Werkzeug hat er gewissermaßen seine Glieder über seinen Körper hinaus verlängert. Er hat seinem körperlichen Können eine sich mehr und mehr vergrößernde Reichweite 28

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Der Sinn der Geschichte

verliehen, während das Tier an sich selbst, an den Bezirk seiner Glieder gebunden bleibt. Und während das Tier auch zeitlich bei sich stehenbleibt, während das Tier so nur sich selbst vererben kann, hat der Mensch das Werkzeug von Geschlecht zu Geschlecht weiterreichen können, so daß es dann nach und nach weitergeformt und veredelt worden ist. Es gibt eine Geschichte des Werkzeuges. Sie ist die Geschichte der Zivilisation, die so gern als die Geschichte menschlichen Fortschritts gepriesen wird. In seinen äußeren Formen hat in der Tat das menschliche Leben einen gewaltigen Fortschritt erfahren. Das Tier bleibt dauernd in einem gleichen Hause des Daseins, nur wenn der Mensch es in seinen Kreis hineinzieht, wird ihm ein anderes bereitet, ein neues aufgezwungen oder anerzogen. Einen eigenen Fortschritt, eine Zivilisation, kennt das Tier nicht; die Art seines Lagers, die Art seiner Nahrung ist in seinem eigenen Bezirke immer dieselbe geblieben. Und welchen Weg ist in dieser Zeit das Menschengeschlecht gegangen von der Steinzeit her bis zu unserem Zeitalter der Maschine! Es war der Weg des Werkzeuges und seiner Technik. Die Zeiten dieser Geschichte sind verschieden. Es gab Jahrhunderte langsamer und Jahrhunderte schneller Entwicklung, und es hat Zeiten des Stillstandes oder auch des Rückschrittes gegeben. Aber auf das Ganze gesehen ist der Weg der Zivilisation siegreich und unaufhaltsam gewesen. Sie ist überall hingekommen und fast über Nacht aufgenommen worden, dort auch, wo die Daseinsformen gestern noch denen eines früheren Jahrtausends glichen. Ihr gehört heute die Erde. Die Frage hat sich oft eingestellt, besonders seit eine neue große Zeit des Werkzeuges in der Mitte des 18. Jahrhunderts begann, die Frage, ob diese Entwicklung, zumal in dieser ihrer Raschheit und Ausdehnung, ein Segen gewesen oder vielleicht gar zum Unheil für die Menschheit geworden ist. Von Rousseau bis Tolstoi und in unseren Tagen von neuem ist immer wieder gefragt worden, ob es denn nicht so sei, daß mit all der Zivilisation und durch sie nur das Leid und das Übel in der Menschheit gewachsen wären. Sie habe den Menschen der Natur und seinem eigenen Innern entfremdet, sie habe den Blick immer nur auf das Werkzeug und dessen Erfolg gebannt, bis schließlich im Menschen selbst nur ein Werkzeug erblickt und die Menschen, die von Gott zur Gleichheit geschaffen, in Herren und Knechte des Werkzeugs geschieden wurden, sie habe dazu das Leben der Menschen seiner Einfachheit und Ruhe beraubt, sie habe es immer komplizierter werden lassen und es bewirkt, daß der Mensch keine Zeit mehr habe, weder Zeit für sich selbst noch für 29

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seinen Mitmenschen, keine Zeit mehr für seine Seele und keine Zeit für seinen Gott. Er meinte, das Werkzeug zu treiben, und das Werkzeug treibe ihn; er meinte, die Natur sich zu unterwerfen und sei selber unterjocht. Ist das wahr, oder – um die Frage zu begrenzen – was ist daran wahr? Es ist zunächst kein Zweifel, daß in den Ländern, von denen die neue Zivilisation ausgegangen und ebenso denen, wohin sie gedrungen ist, sich ein Gefühl des Unbehagens ausgebreitet hat, das Gefühl, auf einem falschen Wege zu sein. Ein Grund dafür ist leicht erkennbar. Wir sind in den letzten anderthalb Jahrhunderten mit immer rascherer Bewegung durch eine Revolution, welche die Form unserer Zivilisation erfaßt, hindurchgeführt worden. Es ist die Revolution, die darin sich kundgibt, daß der Begriff des Raumes, das heißt, der Überwindung der Entfernung, sich völlig verändert hat. Von den frühesten Tagen an, die unser Blick oder unsere Vermutung erreicht, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hin, in allen diesen Jahrtausenden, war die Art und Weise, wie der Mensch Entfernungen bemeistern konnte, im wesentlichen die gleiche geblieben. Den Männern der großen französischen Revolution stand nur dieselbe Schnelligkeit oder – wie mancher heute herablassend sagen würde, die selbe Langsamkeit zur Verfügung, wie einst den ägyptischen Pharaonen der frühesten Jahrtausende; diesen wie jenen nur die Kraft der Füße von Mensch und Tier auf dem Lande und der Ruder und Segel auf dem Meere. Durch die motorische, akustische und optische Überwindung des Raumes, wie unsere Zeit sie staunend und bisweilen fast betäubt erlebt hat, ist das Verhältnis des Menschen zu alten Grenzen und Schranken ein neues geworden. Jedes Volk ist jetzt in die Nähe der anderen gerückt. Es gibt gleichsam keinen Rückzugsraum mehr auf Erden, die Völker können sich nicht mehr ausweichen. Es muß gelernt werden, so nahe beieinander zu leben. Und die Menschen haben sich darin noch nicht zurechtgefunden, und daher so manches Mißbehagen, so manche Unsicherheit in ihnen. Allein der Grund für all die quälende Spannung, die an den Menschen zu zerren scheint, liegt doch auch noch tiefer. Das Werkzeug ist doch das Werkzeug e i n e s Menschen, wesentlich ist daher doch – wie der Mensch ist, der es zu eigen hat. Das zeigt sich vor allem dort, wo das Werkzeug Menschen zusammenführt und zusammenhalten will. Man könnte sagen, daß es individuelle und soziale Werkzeuge gibt, und ein Kennzeichen des Zeitalters der Maschine ist, daß hier das Werkzeug immer mehr sozial geworden ist, daß es nicht mehr das Werkzeug eines Menschen, sondern einer Gruppe von 30

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Menschen ist. Hier kommt so viel auf den Menschen an, auf den Maßstab, den der Mensch an sich und den anderen anlegt, auf die sittliche Ehrfurcht, die er vor sich und vor seinen Mitmenschen und vor seiner Aufgabe hat. Es kommt hier so viel auf den Geist, den sittlichen Geist der Zivilisation oder – um dieses Wort nun zu gebrauchen – auf die Kultur an. Hier hat die Menschheit viel nachzulernen und nachzuholen. Die technische Entwicklung hatte die moralische Entwicklung überholt, ja sie fast zurückgedrückt. Das ist der eigentliche Grund jener inneren Unausgeglichenheit. Man hatte über dem Werkzeug den Menschen so oft vergessen oder ihn wenigstens zurücktreten lassen, das Werkzeug durfte den Trieben der Macht dienen, nicht aber dem Menschentum. So konnte die technische Zivilisation vielfach fast zum Verhängnis werden. In die Hand des Menschen war das Werkzeug gelegt, vom Menschen hängt es ab, ob es Segen oder Fluch, ob es Leben oder Tod bedeutet. Das Schicksal der Welt, zumal des Abendlandes, ist hierdurch bedingt. Jetzt, wo es keine Entfernung und darum keinen Platz mehr für eine Isolation gibt, wo die Völker durch die Überwindung des Raumes so nahe aneinander geführt sind, fast wie Kinder einer Familie, jedes einzelne Volksleben, ob es will oder nicht, in ein gemeinsames Leben hineingestellt ist, in solcher Zeit bedürfen sie alle der starken Moral, des Willens zur menschlichen Würde. Schweifende Horden, die aneinander vorbeiziehen konnten, brauchten, um zu existieren, vielleicht weniger sittlichen Geist. Völker, die überall und immer wieder auf den Wegen ihres Willens und ihrer Hoffnung einander begegnen, werden ohne den sittlichen Geist, ohne die sittliche Kraft nicht weiterleben können. In all dem Rausche der technischen Zivilisation war es oft vergessen worden, daß die stärkste Realität auf Erden doch der Mensch ist – nicht das Werkzeug mit seiner Technik und seinem Erfolg, sondern der Mensch, seine Seele, sein Leben. Dem Menschen sich zuzuwenden – und hier ist viel nachzuholen –, das ist die Aufgabe, und das ist die Rettung, der Weg zur Zukunft. Neben jene bekannte Definition, in der Benjamin Franklin den Menschen dahin bestimmen wollte, daß er das »Werkzeug machende Lebewesen« sei, kann noch eine andere treten, die besonders von Hellpach hervorgehoben worden ist. Danach ist der Mensch das Lebewesen auf Erden, das von seinen Großeltern weiß. Auch damit ist ein Charakteristisches hervorgehoben. Für das Tier beschränkt sich die normale Beziehung der Generationen darauf, daß das Muttertier das junge Tier kennt, das es in sich getragen hat 31

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Wiederbegegnung mit Deutschland

und geboren hat, und dieses Kindestier die Mutter; es ist schon kein Allgemeines und Feststehendes mehr, daß ein Gleiches oder Ähnliches von dem Vatertier gelte gegenüber dem Kindestier, das von ihm gezeugt worden ist. Erst der Mensch, und auch er wohl vielleicht nur im Gange der Zeit, ist dazu gelangt, daß sein Blick zu den Großeltern und umgekehrt zu den Enkelkindern reichte und daß durch das Mittel des Sprache und später der Schrift dann ein Wissen von früheren Tagen zu den späteren hingeführt wurde. Dadurch ist die eigentümliche menschliche Gemeinschaftsform geschaffen worden, und sie ist – darin liegt wieder ein wesentlicher Unterschied vom Tiere, dessen Gemeinschaftsform immer im Gleichen bleibt – entwicklungsfähig gewesen. Die Familien bedeuten hier ein ganz anderes als bei dem Tiere, und aus diesen Familien ist hier die Sippe geworden, die wieder ein ganz anderes ist als die Herde, und aus den Sippen dann der Stamm, der ein ganz anderes ist als die Rasse. Einen maßgebenden neuen Abschnitt in der Geschichte menschlichen Lebens und menschlicher Gemeinschaft hat es dann bezeichnet, daß schweifende Stämme von Jägern und Viehzüchtern zum geregelten Ackerbau übergegangen sind. Durch ihn und durch die aus ihm sich ergebende Seßhaftigkeit verband sich der Stamm dauernd mit einem bestimmten Stück der Erde, mit einem bestimmten Lande; seine Wohnung wurde jetzt seßhaft, an die Stelle des Zeltes trat das Haus, an die Stelle des Lagers das Dorf und schließlich die Stadt; die Zeit der Wanderung des Stammes war beendet; er wußte nun, wohin auf Erden er gehörte. Damit lernte der Stamm und lernten die Sippen, Familien und Menschen in ihm ein Wichtiges: sie lernten, Grenzen zu ziehen und Grenzen anzuerkennen. Und damit lernten sie, Gesetze zu schaffen und Gesetze zu wahren; die ersten Gesetze sind sicherlich Gesetze der Grenze gewesen. Denn die Grenze wurde nicht nur Linie für Platz und Besitz, sondern ebenso Schranke gegen Willkür und Gewalt; ihnen, der Willkür und der Gewalt, wurde durch das Gesetz nun die Grenze festgelegt. Um Grenzen und Schranken zu wissen, Grenzen und Schranken zu achten, darauf bauen sich seitdem menschliches Zusammenleben, menschliche Gemeinschaft und auch die Verbindung zwischen den Generationen auf; sie stehen und fallen mit dem Gesetze, das dem Begehren und Verlangen die Grenze bestimmt. Schrankenlosigkeit wird zur Zerstörung der Gemeinschaft. Auf diesem Boden hat ein Zweifaches entstehen können. Zunächst der Staat. Äußerlich gesehen war er anfänglich die befestigte Stadt mit dem sie umgebenden Ackerland und Dorfgebiet; in vielen Spra32

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Der Sinn der Geschichte

chen bezeichnet ja ursprünglich dasselbe Wort die Stadt und den Staat. Aber in seinem Wesen ist er von Beginn an der Platz der Gesetze, und darin hat er auch seine eigentliche Entwicklungskraft. Die Entwicklung des Gesetzes, dieser Idee der Grenze, ist zur Entwicklung des Staates geworden; zu seinem Wachstum und Aufstieg, wenn das Gesetz erstarkte, oder zu seinem Niedergange, wenn es schwächer und inhaltlos oder zum Werkzeug der Willkür wurde. Mit dem Staate zugleich entsteht das Bewußtsein einer Geschichte, dieses Bewußtsein von einer großen Gemeinsamkeit der Erinnerungen, Erlebnisse und Hoffnungen, von einer bleibenden Verbindung derer, welche waren, und derer, welche sein werden. In dem einen Volke hat dieses Bewußtsein Stärke und Weite gewonnen, in dem anderen ist es matt und eng geblieben, und es läßt sich beobachten, wie dort, wo der Sinn für das Gesetz lebendig ist, auch das Geschichtsbewußtsein lebt und sich dehnt. Das andere, was sich auf dem Boden jener dauernden Gemeinschaft hat entwickeln können, ist die Kultur – dieses Wort so genommen, wie es der deutsche Sprachgebrauch verwendet. Kultur ist die Durchdringung der Gemeinschaft mit einem Geist, so daß eine sittliche Idee vor dem Gesetz und der Geschichte steht und diese sittliche Idee dem Gesetze und der Geschichte den Weg weisen kann und die Gemeinschaft so nicht nur durch Boden und Geschick gegeben ist, sondern durch einen gemeinsamen wahren Geist. Damit erst gewinnen Volk und Staat einen inneren Wert, eine eigene Würde. Ganz wie der einzelne Mensch eine Persönlichkeit werden, das heißt, ein seelisches, geistiges, sittliches Besitztum in sich entfalten kann, so daß alles, was er tut, was er denkt und spricht, was er erhofft und ersehnt, nun Ausdruck dieser seiner inneren Habe wird und er eine Bedeutung hat nicht nur, und vielleicht nicht einmal zuerst, durch das, was er leistet, sondern vorerst durch das, was er ist, durch seine Persönlichkeit eben, ganz so kann und soll es dem Volke, dem Staate beschieden sein. Sie auch können eine sittliche, eine geistige Kultur haben – diese allein ist ja wahrhaft Kultur – und damit der Menschheit etwas geben schon dadurch, daß sie da sind. Vor jedem Volke steht so seine sittliche Pflicht, die große Pflicht der Kultur. Seine Bedeutung, sein Platz in der Menschheit hängt davon ab, daß es sie begreift. Das große Ideal, das Gesamtgebot ist eines, aber zu ihm führen die mannigfachen Wege; jedes Volk kann hier seinen Weg haben und auf ihm zu einer Zukunft gelangen. Will ein Volk neben diesem Wege des sittlichen Gebotes sein Leben haben, dann verliert es sich, und ein Volk verliert sich, wenn es von diesem Wege fortgeht, ein Volk betrügt sich, wenn es Scheinideen und Irr33

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gedanken folgt, und ein Volk droht zu sterben, wenn der Wille zum sittlichen Ideal in ihm erstorben oder ertötet worden ist. Hat ein Volk den sittlichen Geist so verstoßen, dann ergießt sich alles, was es kann, nur in die Gebrechen und Mängel hinein, um sie groß zu machen. Erst wenn ein Volk danach sich erkennt und umkehrt, wenn es den Weg zum sittlichen Ideal, den Weg der Kultur wieder findet, dann erwacht in ihm wieder das wahre Leben, diese ihm verliehene Kraft. Eine Zeit seiner Geschichte beginnt wieder. Aber Kultur, ganz wie die Staatsform, schwebt nicht über den Köpfen, sondern stellt sich in Menschen dar, sie wird in Menschen Wirklichkeit. Wie jede Kultur durch einzelne Menschen geschaffen worden ist, so hängt ihr Dasein in jedem Volke davon ab, daß die Menschen wahrer Kultur in ihm leben, in ihm leben können. Ein Volk sinkt herab, wenn die Menschen des Geistes in ihm gesunken sind und sich untreu wurden oder wenn es sie aus sich ausstieß. Es gibt nur so viel Wahrheit, Gerechtigkeit, Geradheit, Güte, sittliche Tapferkeit in einem Volke, wie es in ihm Menschen der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Geradheit, der Güte, der sittlichen Tapferkeit gibt. Und nur solange noch solche Menschen im Volke geblieben sind oder in ihm wieder erwachen, zeigt sich ein Weg zur Wiedergeburt, zur Zukunft. Auf jeden einzelnen Menschen kommt es an. Es liegt ein tiefer geschichtlicher Sinn in der alten biblischen Erzählung, daß die Stadt bewahrt bleiben wird, »um der zehn Gerechten willen, die in ihr sind«. Durch die echten Menschen, die in ihr sind, gewinnt eine Gemeinschaft ihre Kraft und ihre Würde. Wo das Umgekehrte gelten will, wo der Mensch erst von der Gruppe, von der Klasse, von dem Volke her seinen Wert empfangen soll, dort sind immer an die Stelle der Kultur alle die Äußerlichkeiten und die Zügellosigkeiten getreten, in denen Fanatismus, Arroganz und Chauvinismus ihren Kampf gegen den Geist führen. Die Geschichte spricht hier deutlich. Der Mensch steht in der Geschichte. Ihm ist es verliehen, daß er die kennen kann, von denen er hergekommen ist, und an die denken kann, die von ihm ausgehen. In ein Geschick von Generationen ist er hineingestellt. Er steht im Volke und im Staate, Schicksal empfangend und Schicksal gebend. Volk ist neben Volk, Staat neben Staat gestellt, sie alle in ihren Grenzen und mit ihren Gesetzen. Zusammen sollen sie die Menschheit sein. Jedes Volk, jeder Staat hat sein Eigentümliches, den charakteristischen Ton, die Besonderheiten der Kultur. Zusammen sollen sie die Menschheitskultur schaffen.

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Das Judentum auf alten und neuen Wegen*

Dieser 1949 in Darmstadt gehaltene Vortrag skizziert den Weg des Judentums vom 17. Jahrhundert bis in Baecks Gegenwart unter einer spezifischen Perspektive. Im Zentrum steht die Betrachtung der jüdischen Mystik, gerade auch als ein Moment der Verfolgungsgeschichte des Judentums. Im homo mysticus entdeckt Baeck einen Zugang für ein vorsichtiges Gespräch mit einem Deutschland, das »Dienst an Israel« leisten will. Geöffnet wird dieser Zugang durch eine Parallelität in der Geschichte: Graf Zinzendorf und der Pietismus auf der einen Seite, Baal Schemtov und der Chassidismus auf der anderen. Die Feststellung dieser Nähe kann aber auch als bedrückende Frage verstanden werden: Wie wurde es möglich, daß von zwei Völkern, die in ihren geistigen Entwicklungen einander so nahe waren, das eine dem anderen in solcher Unmenschlichkeit begegnete? Baeck beläßt es allerdings nicht bei diesem subtilen Vorwurf: »Die Bedrückung der Juden ist in der Tat niemals etwas nur für sich gewesen, sondern ein Teil, allerdings wohl der schlimmste, in einer allgemeinen Bedrückung der Schwachen, und die Emanzipation der Juden ist desgleichen hier nicht etwas Isoliertes gewesen, sondern ein Teil der großen Befreiung der Geknechteten.« So fehlt in diesem Beitrag auch nicht der Hinweis auf den Zionismus, auf die Wiedergeburt des Volkes im Lande Israel. Baeck spricht darüber mit großer Liebe. Und es fehlt nicht der Hinweis auf eine Wiederbegegnung zwischen Deutschen und Juden: »Auf die Dauer sollte nicht nur ein Nebeneinander sein – jedes bloße Nebeneinander kann hier nur zu leicht zu einem Gegeneinander werden. Beide sollten das begreifen, um einander willen, aber auch um ihrer selbst willen.« Am Ende des Beitrages skizziert Baeck seine Auffassung vom Mitein*

Publiziert in: Judaica 6 (1950) 133-148.

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Wiederbegegnung mit Deutschland

ander und von der Verbundenheit zwischen Christen und Juden. Sichtbar wird: »Dienst an Israel« kann Mission nicht sein.

In dem Titel, der unserem Thema gegeben wurde: »Das Judentum auf alten und neuen Wegen«, ist bereits ein Wichtiges ausgesprochen, etwas, was ein jeder, der urteilen will, beachten sollte. Es ist erforderlich, die alten Wege zu kennen, wenn man die neuen begreifen will. Die Bahn, die das Judentum in unseren Tagen eingeschlagen hat, verstehen wir ganz, erst wenn wir von den Strömungen wissen, die ihm in den Generationen vorher die Richtung bestimmt hatten. Im 17. und dann im 18. Jahrhundert hatte die jüdische Seele neue Form der Frömmigkeit in sich aufgenommen: die Mystik war in den jüdischen Menschen eingetreten. Zwar ist die Mystik im Judentum alt, sie geht auf die talmudische Zeit zurück, und sie hat seitdem eine fast ununterbrochene lebendige Geschichte, die ihren Platz in allen Ländern hatte, in denen jüdisches Leben erwachsen war oder neu erwuchs. Aber sie war lange nur das Besitztum enger, esoterischer Kreise gewesen. In ihnen war sie gepflegt und war sie mündlich oder hier und dort auch in kurzen Niederschriften weiter gegeben worden. Die breiteren Kreise wußten zwar von ihr, aber kannten ihre Inhalte kaum. Erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts, dieses Jahrhunderts der Entwicklung des Buchdrucks und der, fast revolutionären, Ausbreitung des Buches, begann die Welt der Mystik sich zu dehnen, sie gelangte nun nach und nach zu allen in den Gemeinden hin. Bedeutungsvoll sind in dieser Hinsicht schon die Jahre 1558 und 1559, in denen in Cremona und Mantua das mystische Buch »Sohar« gedruckt wurde. Diesem geheimnisumwobenen Buche, das in der Form eines Kommentars zum Pentateuch die Lehren der bisherigen Mystik in einem eigenen Stil darzustellen und neu zu gestalten gesucht hatte, war jetzt der Weg bereitet. Es hat die vielen Leser gefunden und konnte nun fast zu einer mystischen Bibel werden. Aber vor allem die Zeit war dafür auch vorbereitet: das Empfinden und das Denken waren durch die geschichtlichen Ereignisse durchpflügt worden. Die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal, am Ende des 15. Jahrhunderts, hatte auch die Seelen tief getroffen; jüdisches Leben, jüdische Wissenschaft und Dichtung hatten lange dort feste Wurzeln gehabt. Anderthalb Jahrhunderte danach hat dann die Verfolgung und Zerstörung, die über die zahlreichen und kraftvollen jüdischen Gemeinden in Polen infolge der Kosakenaufstände hereinbrachen, in gleicher Weise die starken inneren Wir36

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kungen auch ausgeübt. In den Jahrzehnten dazwischen hatten die Religionskriege, in denen die Einheit Europas und der Kirche sichtbar auseinanderbrach, das Nachdenken auch der Juden erfaßt und geschichtliche, eschatologische Fragen neu geweckt. Man meinte nun, Zusammenhänge zu begreifen, man glaubte, an einer Wende der Zeiten zu stehen, deren Weg und Sinn die alte Mystik aufzuzeigen schien, diese Mystik, die immer ihren eschatologischen Zug auch gehabt hatte. Und das alles blieb nicht nur im Bereiche der Gedanken und der Träume; es trat auch in die Bahnen des Willens ein. Mystisch-messianische Bewegungen, von denen die des Sabbatai Zwi, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die ereignisvollste und verhängnisvollste war, gewannen weithin ihre Anhänger, und wie sie die Wirkung der Mystik gewesen waren, so erzeugten sie neue Mystik. Den kleinen schlichten Leuten auch, besonders in Polen, wo die breiten Massen der Juden lebten, wurde die Mystik zum Ausdruck ihres inneren Lebens, als sie dort, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ihre innige volkstümliche Form durch den sogenannten Chassidismus gewann. Der Chassidismus war von Gedanken ausgegangen, die in den jüdischen Gemeinden in West- und Süddeutschland heimisch geworden waren und die im 13. Jahrhundert im »Buch von Frommen«, dem »Sepher Chassidim«, sich ihre Form verbreitet hatten. Ein Zweifaches vor allem war hier Lehre und Forderung gewesen: zuerst die Idee von der Andacht in Wort und Tat, der »Kawwanah« – sie gibt dem Gebete, in dem der Mensch seine Seele auftut, und ebenso dem Gebote, das ihm den Willen öffnet, ihre Wahrheit, so daß sie der Weg zu Gott hin werden, und sodann die Idee von der schöpferischen Kraft, die in den Menschen gepflanzt ist – sie gibt es ihm, daß er in sich und in anderen dem Guten ein Leben schenken kann, daß er gleichsam ein »Mitarbeiter Gottes« im Werke der Schöpfung wird, ein Helfer Gottes im Aufbau der wahren Welt. Mit diesen beiden Ideen verbanden sich im Chassidismus andere, spätere, besonders die von der mystischen Kraft des Sabbats, die von den ewigen Sphären des Guten, die zu Gott emporleiten, und die von den geschichtlichen Kreisen, in denen sich die messianische Welt, die Welt der Verwirklichung des Sabbats, vorbereitet; diese Ideen waren im 16. Jahrhundert in Saphed in Palästina von mystischen Persönlichkeiten, vor allem von Isaak Luria, dem »Deutschen«, der ein Heiliger genannt wurde, verkündet worden und waren vielen zum Erlebnis geworden. Das alles fügte sich im Chassidismus zusammen wie zu einem mystischen Kosmos, in dem auch die schlichteste Seele, und gerade sie, immer wieder eine große Har37

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monie, eine Musik der Sphären vernehmen konnte. Die Welt des Geheimnisses umgab und durchdrang diese Menschen; sie glaubten, es hier zu erfassen, indem Lehre und seelische Erfahrung sich verbanden, wie das Gebet den Menschen in die Unmittelbarkeit Gottes, des schaffenden und sich offenbarenden, führt, wie die göttliche Schöpfung und die göttliche Offenbarung fortdauern und jedem Tage neu zugehören und wie es die große Gabe und das große Gebot sei, sie in jedem Menschen und in aller Kreatur immer wieder zu entdecken. In dieser Epoche ist der jüdische Mensch weithin zum homo mysticus geworden, die Gebete der Zeit zeugen davon. Er wohnte inmitten der ruhelosen Länder der Erde, deren Völker ihn bedrückten, er hatte sein Haus in der Enge des Ghettos, in die er zurückgedrängt worden war, aber er lebte in der Weite, dem Frieden und der Herrlichkeit einer anderen, einer mystischen Welt. Von den Gassen, über die er, oft so mühselig, hinschritt, führte der Weg zu den Straßen der Glorie. Wohl nie hat eine Gemeinschaft so tief und so innig in einem Reiche des Wunders gelebt wie damals das jüdische Volk. Der Jude konnte so vieles in dieser irdischen Welt, die ihn umgab, ertragen, weil er in jene andere Welt emporsteigen konnte, die über ihm war; er war dort im Reiche seines wahren Lebens. Diese Welt ringsherum war in dieser selben Zeit, nach und nach, weithin eine ganz andere geworden, als sie vorher gewesen war. Sie stand der Welt des Juden anders gegenüber, auf anderen Wegen drang sie an den Bezirk des Juden heran. In dieser Zeit, in der der Jude ganz ein Mystiker geworden war, war sie zu einer rationalen geworden. Große Entdeckungen und Erfindungen hatten der Mathematik, der Astronomie und der Naturwissenschaft eine bis dahin ungeahnte Weite gegeben, und sie hatten Linien eines geschlossenen natürlichen Systems aufgezeigt; neue Bahnen des Erkennens schienen jetzt alles zu seiner wahren Bedeutung und zu seinem wahren Zusammenhange zu führen. Die Welt von gestern war in der Tat einer anderen gewichen, und diese andere schien auch den gespaltenen Ländern anstelle der verlorenen Einheit eine neue Einheit zu verheißen. Denn dieses Neue durchdrang nicht nur das Gebiet des Wissens, sondern ganz ebenso, und in der Wirkung auf den Menschen vielleicht noch tiefer, das Gebiet des Rechtes und der Moral. Die Lehre vom Naturrecht und vom Menschenrecht, von der natürlichen Moral und der natürlichen Erziehung erfaßte die Geister, und sie vor allem schien jene neue Einheit aufzuweisen, der Beziehung von Mensch zu Mensch über alles Trennende hinweg den Boden zu zeigen, auf dem alle sich zusammenfinden könnten. Es war eine alte Lehre, diese Lehre vom Naturrecht, stoische und biblische Gedan38

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ken hatten sich in ihr miteinander verknüpft, aber sie hat nun in dieser neuen Welt sich selber neu entdeckt und neue starke Kräfte entbunden. In der Französischen Revolution, wie schon vorher in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, war sie zu einer politischen Macht geworden, die es sich zur Aufgabe setzte, überall die alten Schranken niederzulegen. Sie hat auch an die Tore des Ghettos geschlagen und sie durchbrochen. Eine Welt, die zu einer Freiheit hinführen und auch auf dieser Erde eine Harmonie, einen Frieden, eine Weite erschaffen wollte, drang nun in die Gassen des Juden ein, um auch ihn mit sich zu verbinden. Eine Verbindung, wie sie bisher nicht bestanden hatte, war in der Tat jetzt gegeben. Im Naturrecht konnte die Lage der Juden nicht länger mehr ein Problem für sich sein. Es konnte hier nur eine Einheit des Rechtes und nur eine Einheit des Unrechtes geben. Was dem Juden zugefügt wurde, war jetzt nur ein Teil einer viel weiterreichenden Vergewaltigung, seine Not nur ein Teil einer größeren Not. Das war die neue Erkenntnis, aus der eine neue, ganz andere Forderung sich ergab. In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts erschien, um ein charakteristisches Beispiel anzuführen, die Schrift eines angesehenen Popularphilosophen Christian Garve über die Lage des Bauernstandes; in ihr ist eine Parallele gezogen zwischen der Last, unter der die Bauern, und der Last, unter der die Juden lebten, und zwischen dem Rechte, auf das die einen und die anderen den Anspruch hätten. Die Bedrükkung der Juden ist in der Tat niemals etwas für sich nur gewesen, sondern ein Teil, allerdings wohl der schlimmste, in einer allgemeinen Bedrückung der Schwachen, und die Emanzipation der Juden ist desgleichen nicht etwas Isoliertes gewesen, sondern ein Teil einer großen Befreiung von Geknechteten. Dies trat jetzt auch vor das Nachdenken des Juden hin – denn er hat, wenn er auch in seiner abgeschlossenen Welt lebte, doch immer hinausgeschaut und hinausgehorcht. Bisher hatte er nur gewußt, daß ihn eine feindliche Welt umgab; jetzt erfuhr er, daß eine neue Welt geworden war und daß diese ihn als einen Teil von sich betrachtete, ihm zur Seite treten und ihm den sicheren Platz auf dieser Erde gewähren wollte. Aber diese Welt, die ihn aufnehmen wollte, die ihm die Straßen zur Freiheit öffnete, war innerlich eine ganz andere als das Reich, in dem seine Seele lebte und das ihr den Frieden, das Glück und die Heimat gab. Sie war eine rationale Welt, sie lehnte die Sphäre ab, zu denen er emporstieg. Zwar gab es in ihr auch eine Mystik, es gab den Pietismus in Europa, und es war ein eigenes Zusammentreffen der Tage, daß der Vater des Pietismus, Graf Zinzendorf, in demselben Jahre 1700 geboren und in demselben Jahre 1760 gestorben war 39

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wie der Vater des Chassidismus, Israel Baal Schemtob, und es ist ein eigenes Zusammenkommen der Worte auch hier, denn die Worte Chassidismus und Pietismus bedeuten ein Gleiches. Es gab in Amerika das »Great awakening« auch, das von Jonathan Edwards ausging. Aber der siegreiche und bestimmende Grundzug der Zeit war doch der andere: die Welt war die rationale geworden, sie hatte sich säkularisiert. Wenn jetzt der Jude durch die Tore des Ghettos, die die Welt draußen durchbrochen hatte, zu den offenen Straßen Europas hinauszuziehen begann, so trat er bürgerlich in eine neue, eine freie Welt, und es wurde ihm nicht schwer, ja es zog ihn dahin, so in ihr zu stehen, sich im Empfangen und Geben dankbar in sie einzufügen. Aber seine Seele stand dort doch auch, und das seelische Problem erhob sich, dieses ernsteste aller Probleme. Er, der homo mysticus, stand in der rationalen, der säkularisierten Welt; er mußte ratlos hier zunächst dastehen. Als Bürger konnte er so leicht und so bald neben den Bürger treten, als Mensch dieser mystischen Welt konnte er in dieser rationalen Welt so schwer nur den Platz finden, auf dem er verstand und verstanden wurde. Er mußte, so schien es, sich für die eine oder die andere entscheiden. Ein Entweder – Oder, eine Schicksalsfrage wollte von dem Juden die Antwort verlangen und fast in einer Plötzlichkeit sie verlangen; wozu die Menschen ringsumher fast zweihundert Jahre Zeit gehabt hatten, sollte von ihm sofort entschieden sein. Es war, wie wenn ein Sprung über einen Abgrund geschehen sollte. Noch ein anderes kam hinzu, das nicht so tief griff, aber doch auch an das Innere seinen Anspruch stellte. In seinen Gemeinden hatte der Jude in allen den Jahrhunderten, seit er das Land der Väter verlassen, überall sich seine eigenen Lebensformen bereitet. Die vier Krankheiten, die zumal in Europa diese ganze Zeit hindurch weithin an Körper und Seele zehrten, Roheit, Trunksucht, Prostitution, Unwissenheit, sie hatten nur in den Häusern der Juden nicht den Eintritt gefunden; die jüdischen Gemeinden waren eine Stätte der Gesittung, der Mässigkeit, der Reinheit und des Wissensdranges, die Stätte eines wahren Sabbats darum auch. Sie waren auch ein Gebiet einer rechtlichen und sozialen Ordnung, wie sie anderswo nicht oder noch nicht bestand. Die biblische Auffassung vom Recht lebte hier. Während sonst das Recht zumeist von dem, der die Macht hatte, geschrieben oder diktiert worden war, während so die Gesetze zumeist den Standpunkt des Besitzenden wählten, um ihm den Besitzstand zu garantieren, hatte die Bibel den umgekehrten Ausgangspunkt genommen, den vom Schwachen, vom Besitzlosen her: der, um dessentwillen vor allem hier das Gesetz da ist, ist der Arme, der 40

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Bedürftige, der Fremdling, die Witwe, die Waise. In dieser Richtung hatte das jüdische Recht seinen Weg genommen; in den jüdischen Gemeinden herrschten fast allgemein eine soziale Rechtsordnung und Rechtssicherheit, wie sie anderswo noch nicht oder nicht in gleichem Maße zu finden waren. Auch hier sah der Jude seine Seele in eine Welt gestellt, die von der verschieden war, in der sie bisher gewohnt hatte. Alles zusammen bedeutete eine völlige Änderung in der ganzen Lebensatmosphäre, sozusagen einen Klimawechsel, wie ihn so wohl kaum jemals eine Gemeinschaft zu bestehen gehabt hatte. Aber der Jude war nun vor diese andere Welt und bald in diese andere Welt hineingestellt, Gott, »der die Zeiten und Stunden ändert« (Daniel 2,21), hatte es so bestimmt; die Geschichte, die von Gott gefügt wird, hatte gesprochen. Eine ihrer Epochen begann, und der Jude mußte in sie eintreten und in ihr sich zurechtfinden, in ihr seinen Weg gehen. Er selbst mußte ihn sich bereiten, er für sich. Denn die Tore waren ihm durch andere geöffnet worden, aber für die Aufgabe, die ihm jetzt gestellt war, hat er bei den Menschen ringsum selten Verständnis und Sympathie gefunden. Es war eine große und harte Aufgabe. So mancher suchte sich gegen sie zu wehren oder wollte sie nicht sehen, aber sie ließ sich nicht abweisen. Der Eindruck der neuen Zeit, ihres geistigen Systems, ihres Zuges zur bürgerlichen Freiheit und Weite, ihrer großen Hoffnung und ihrer menschlichen Verheißung war besonders im westlichen und mittleren Europa ein zu gewaltiger, als daß man sich ihm verschließen konnte. Ein seelisches Auf und Nieder begann, ein Kampf zwischen der neuen Welt und der alten Religion. Man könnte ihn auch den Kampf zwischen den Jahrzehnten und den Jahrtausenden nennen. Die Seele des Menschen wird durch die Generationen geprägt, und sie hat wie ihre Jahre so ihre Jahrhunderte – vielleicht tritt ein Unterschied zwischen dem Juden und den Menschen ringsumher darin hervor, daß in seiner Seele ältere religiöse Kräfte wirken, so daß er mit älterem, verstehenderem Auge in die Welt blickt und mit älterem, erfahrenerem Ohre vernimmt, was die Welt spricht; die jüdische Seele ist durch die Jahrtausende geformt. In wenigen Jahren, rasch, fast jäh, drang jetzt das neue Europa auf sie ein und wollte den Platz in ihr haben. Der Kampf um den seelischen Raum begann, und es mußte so oft geschehen, daß die Jahre die Jahrtausende zurückdrängen wollten; die Gegenwart trachtete, dem religiösen Erbe den Raum zu nehmen. Die Tiefenpsychologie hat uns erkennen gelehrt, daß, wenn elementare Kräfte der Seele verdrängt werden, das seelische Gleichgewicht des Menschen eine 41

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Störung erleidet. So haben nicht wenige Juden es damals erfahren. Es mag vielleicht hart klingen, aber es war doch so; mancher Jude hat damals viel von dem inneren Gleichgewicht eingebüßt. Es war in allem Gedeihen eine Zeit der inneren Not. Aber die Hilfe stellte sich ein. Sie kam in einer Richtung, in der der europäische Geist jetzt dem jüdischen eine Bahn weisen konnte, ohne daß dieser etwas von seinem Eigensten verlor, ja, auf dem er seiner selbst wieder bewußt werden konnte. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit des Erstarkens der Geschichtswissenschaft; in ihr sprach eine Erfahrung der Zeit, die zur Erkenntnis wurde, und sie hat zum jüdischen Geiste und zum jüdischen Willen auch gesprochen. Juden begannen, sich ihrer Geschichte, ihrer Jahrtausende zu erinnern. In diesem großen Akte der Erinnerung war, fast könnte man sagen, eine Rettung gegeben. Von der Gegenwart aus suchten jüdische Gelehrte mit jener »rückwärts gewandten Prophetie« zu den Zeiten hinzuschauen, die Wege des jüdischen Volkes und des Judentums zu erforschen und darzulegen. Die Jahrtausende waren Geschichte, und die Jahrzehnte waren Geschichte, ein Weg führte von dort nach hier und von hier nach dort. Männer wie Krochmal und Rappaport im Osten, wie Zunz, Jost und Frankel, Isaak Bernays und Samson Raphael, Hirsch, Geiger und Graetz auf deutschem Boden haben den Gang der Tage, vom Einst zum Jetzt, die Bedeutung der Epochen verstehen gelernt. Schon vorher hatte an der Wende der Zeiten Moses Mendelssohn in einer wundersamen Gesamtschau den bleibenden Sinn des Judentums, dem keine Zeit etwas anhaben könne, aufzuzeigen gesucht; er war denen, die mit ihm lebten, um zwei Generationen voraus und hat schon deshalb zunächst keine Nachfolger gehabt. Aber er fand sie jetzt, ein Steinheim, ein Samuel Hirsch führten jetzt weiter, was er begonnen hatte. So war eine Verbindung zwischen den Jahrzehnten und den Jahrtausenden hergestellt. Man hatte eine Richtung, von der man herkam und in der man in seinen Tagen weitergehen konnte, man sah den Platz so auch, auf dem man sicher stehen könne. Mit dem erschlossenen Sinn für die europäische Gegenwart verband sich, in neuer Form, der lebendige Sinn für die jüdische Tradition; ohne den starken Sinn für die Tradition kann das Judentum nie und nirgends seiner selbst bewußt bleiben. Der siegreiche Stolz auf die Vergangenheit erwachte wieder; verdrängte Kräfte gewannen ihre Bahn, ein inneres Gleichgewicht kam wieder. Judentum und Europa konnten sich verbinden, und der Bund zwischen ihnen konnte zur Losung nun werden. Es waren mannigfache Formen, in denen diese Verbindung sich ausdrückte, bald mehr konservative, welche das 42

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Neue in die Tradition, bald mehr liberale, welche die Tradition in das Neue hineinfügen wollten. Aber die eine wie die andere Richtung war Ausdruck des starken Willens zum Judentum, des bestimmten religiösen Willens zu den Jahrtausenden. Die Entscheidung zur Geschichte, also im Grunde ein nationaler Wille, hat die großen inneren und äußeren Zusammenhänge, ohne die so viele im Leeren geschwebt hätten, hergestellt. Hierdurch ist die große Wandlung vorbereitet und auch erst ermöglicht worden, die sich dann gegen Ende des Jahrhunderts zu vollziehen begann. Sie kam in ihrem Eindruck und in ihrer Wirkung wie ein Wunder, und man kann nur ehrfurchtsvoll von ihr sprechen. Sie kam nicht nur von einer Verbindung mit den Jahrtausenden, sondern sie war ein Durchbruch der Jahrtausende in der jüdischen Seele. Ihr Letztes und Eigentliches kann man daher kaum erklären; sie war gekommen, und sie war da. Man kann es nicht anders ausdrücken: die Jahrtausende brachen durch, ihre elementare Kraft ließ sich nicht länger zurückdrängen oder beiseite stellen. Geschlecht um Geschlecht, alle die Zeiten hindurch, war das Leben des Juden mit all seiner Spannkraft und Geduld ein Kampf für seinen Gott, ein Kampf um den jüdischen Geist, um das Judentum gewesen; das war sein Wille zum Leben, aus dieser Wurzel stiegen die Kräfte empor. Ohne diesen seinen jüdischen Glauben, ohne diesen seinen jüdischen Willen wäre er ohne das Wesentliche seiner Seele, seines Lebens gewesen. Dieser Wille zu sich selbst war jetzt wieder erwacht. Es war in der Tat wie eine große Renaissance, eine Wiedergeburt; das ganze seelische Gleichgewicht begann wiederzukehren. Den stärksten und vernehmbarsten Akzent hatte das alles im Zionismus, der auch dem alten Land und der alten Sprache ihr Leben wiedergeben, die Bahn zu einer unmittelbaren großen Hoffnung aufzeigen wollte; er hat die Jugend am tiefsten ergriffen. Aber in allen Richtungen, den konservativen wie den liberalen, vollzog sich das gleiche, und auch der Sinn für ein mystisches Empfinden erwachte hier wieder. Auf das Zurückweichen der Großeltern und die Ferne der Eltern folgte die Nähe der Kinder. Eine neue Epoche jüdischen Lebens hat begonnen, in dieser unserer Zeit, und erst ein späteres Geschlecht wird ganz sehen, was das alles bedeutet hat, das, was jetzt gekommen ist. Osten und Westen Europas fanden sich hier zusammen. Aber es war doch auch ein Unterschied zwischen dem Westen und dem Osten. Rationalismus, Aufklärung und Naturrecht hatten ihren Weg nach dem Osten auch gesucht; aber hier war ihnen ein starker Bund politischer und kirchlicher Macht entgegengetreten. Zurück43

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gedrängt, verfolgt und verfehmt waren sie zum Radikalismus und Nihilismus geworden. Auch die Abschließung der Juden hat demgemäß hier länger fortgedauert. Sie haben hier mehr als ein Jahrhundert weiter inmitten einer Welt, die die alte geblieben war und bleiben wollte, gelebt, und vermöge der Zahl, die in ein geschlossenes Gebiet hier zusammengedrängt war, hatten sie sich eine gewisse Autarkie zudem bereiten können. Wenn dann Juden, in der Entschlossenheit des Wagnisses oder später im Wandel der Tage, aus diesem jüdischen Bezirke hinausgingen, dann konnte die Welt, in die sie eintraten, die sie so, wie sie waren, aufzunehmen bereit war, nur die Welt jenes Extremismus, jener Verneinung sein. Eine Welt der Mitte zeigte sich ihnen nicht. Der säkularisierte, radikalisierte Jude, der um des neuen Ideals willen sich auch seines Judentums ganz entledigen zu sollen meinte, war jetzt eine häufige Erscheinung. Der ganz und nur im Alten und der ganz und nur im Neuen lebende Jude standen neben und gegen einander; die geistige Verbindung fehlte hier fast ganz. Aber dann geschah auch hier das Wunder der Wiedergeburt. Das Alte und das Neue trafen sich um des Judentum, um der jüdischen Zukunft willen die Alten, um im Neuen einen neuen Lebenswillen zu gewinnen, die Neuen, um im Alten, den alten Quell der Kraft sich zu erschließen. Auch hier brachen die Jahrtausende durch, wenn auch in einer anderen Weise. Sie waren, aufs Ganze gesehen, nicht verdrängt worden wie in Mittel- und Westeuropa, so daß sie sich wieder durchsetzen mußten. Hier war es ein anderes: sie waren hier eingeschlossen und eingeengt gewesen, und nun wurde ihnen eine Weite gewiesen, gleichsam das neue Flußbett und der neue Lauf bereitet, so daß sie in breiteren Welten und freier Strömung zu neuen Zielen hinziehen konnten. Hier war es der Zionismus vor allem, der seine Kraft bewies, er war die geweckte und die weckende Kraft. In ihm vor allem haben die von rechts und von links sich geeint; in ihm haben auch Ost und West sich verbunden. Inzwischen hatte der äußere Bereich des jüdischen Lebens sich ungeahnt erweitert. Als die Juden aus Spanien vertrieben wurden, entdeckte Columbus, der vermutlich ein Kind von Juden war, Amerika; ein Weg nach draußen war auch für Juden nun aufgezeigt, und man möchte hier an das alte jüdische Wort denken, daß der Heilige, gelobt sei er, vor dem Leid das Mittel der Heilung schickt. Juden aus der Pyrenäischen Halbinsel kamen denn auch schon früh nach dem neuen Erdteil, nach dem Süden und Norden. Im 19. Jahrhundert wanderten dann Juden aus Mitteleuropa in größerer Zahl nach den Vereinigten Staaten, dem Lande, das Zukunft verhieß. Ihnen folgten 44

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in breiten Wellen Juden aus Rußland, als dort die Regierung bald in geplanter Lenkung, bald in bereitwilliger Duldung Pogrome in jüdische Gemeinden einbrechen ließ. Eine Verschiebung der Schwerkraft jüdischen Lebens von Europa nach Amerika vollzog sich mehr und mehr, und sie wurde eine endgültige in den unseligen Tagen, in denen das Verbrechen an den Juden Deutschlands und Polens verübt wurde. Fast sechs Millionen Juden leben heute in der Neuen Welt, eine neue Welt der jüdischen Geschichte ist dort auch. Und dann war, wieder wie durch jene Fügung der Vorsehung, die vor der Not die Hilfe schickt, in Jahrzehnten, die wir erlebt haben, der alte Boden der Väter, das Land Israel, zu einem Boden der Juden geworden, zu einem Boden der Zuflucht nicht nur, sondern zu einem Boden des Aufbaus und zugleich wie zu einem Platze der Weltgeschichte. Jüdischer Boden wurde hier geschaffen, Mystik und ratio verbanden sich hier – auch hier, und hier zumal eine neue Welt jüdischer Geschichte. Es ist, wie wenn jetzt zwischen zwei Polen, Palästina und Amerika, Ströme jüdischen Lebens fließen sollten, von dem einen zum anderen, hin und zurück, damit eine Welt jüdischen Geistes neu werde, Kraft von dem einen und anderen gewinne. Der, der hier über das Land Israel spricht, über das, was Juden dort in geduldiger Hoffnung geschaffen haben und schaffen, niemals in einer Gegenwart ausruhend, sondern immer auch um einer Zukunft willen, gesteht es, daß er aus einer tiefen Liebe hervor davon spricht. Es ist ein Sprichwort, daß Liebe blind mache, aber wenn irgend ein Sprichwort irrig und trügerisch ist, so ist es dieses. Nicht Liebe macht blind, sondern Kälte, Gleichgültigkeit, Haß macht blind. Liebe macht sehend; man muß mit dem Blicke der Liebe sehen, um zu verstehen, um zur Wahrheit zu gelangen. Wer so sieht, der erkennt, wie sich hier ein Großes vollzieht, wie hier eine neue Form der Gemeinschaft von Menschen geschaffen wird. Gewiß, wir mußten auch auf manches blicken, was unrecht, unjüdisch war, auf manches, wovon wir in tiefem Schmerze uns abwenden mußten; gerade die Liebe sieht auch das, sie sieht es in dem Schmerze der Liebe. Aber sie sieht dann all das Gute, das Große und Edle, das dort nach Ausdruck ringt und Ausdruck findet. Es ist nicht mehr nur, daß eine Wüste zum Garten Gottes gemacht wird: eine Gemeinschaft wird hier aufgebaut, eine jüdische Gemeinschaft, in der keiner sich verlassen, verloren, vereinsamt fühlen muß, eine soziale Gemeinschaft, in der Land, Arbeit und Besitz unter moralischen Ordnungen stehen, eine menschliche Gemeinschaft, die sich gründet auf den Respekt der Gesamtheit vor dem Einzelnen und der Einzelnen vor der Ge45

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samtheit und in der darum wenig befohlen und viel vollbracht wird, eine Gemeinschaft, über der etwas von jenem Ehrfurchtsvollen schwebt, in dem der Name Gottes vernommen wird. Ein ganz Eigenes wird hier geschaffen, etwas, was der Erinnerung an jenes Große würdig ist, das in alter Zeit hier war und in dieser seiner Art damals allein stand, an jenen Staat, der ein Staat war ohne Despotismus, ohne Kasten, ohne Latifunden, ohne Proletariat, ohne die Sklaverei, ohne die Herrschaft der Stadt über das Land oder des Landes über die Stadt. Die innere Teilnahme der Menschheit darf sich dem zuwenden, das hier geworden ist und werden will; für den Weg der Menschheit auch hat es seine Bedeutung. Wer liebevoll hinhört, vernimmt auch, wie sich hier lebendige religiöse Kräfte regen. Die Männer und Frauen, die hierher gekommen waren und eine harte Pionierarbeit leisteten, ähnlich wie einst auf anderem Boden die Pilgrimväter und ihre Nachfolger, waren meist Menschen aus dem europäischen Osten. So manche von ihnen waren aus dem Ghetto und seiner Welt der Orthodoxie in raschem, bisweilen jähem Übergange in jene Welt eines Radikalismus getreten, der dem Religiösen nicht nur abhold, sondern feindlich war, und sie haben manches von ihm hierher mitgebracht. Sie standen hier neben den Gruppen, denen ihre Religion, ihr Judentum erst den ganzen Sinn ihres Lebens aufzeigte. Dieses Zusammensein, aber auch gewissermaßen der Boden und die Luft des Landes Israel, die fast jeden irgendwie zu einem anderen Menschen machen, haben viele von ihnen nach und nach verständnisvoller für das Religiöse wieder werden lassen, und in ihren Kindern besonders begann der alte Quell aufzubrechen. Eines vor allem offenbarte sich: die Bibel gewann hier ein neues Leben, und die Kinder wuchsen in ihr heran. Die Bibel war das Buch ihrer Sprache, und sie wurde wieder das Buch der Antwort, wenn der Tag die Frage stellte. Man kann die Bibel nicht besitzen, ohne von ihr ergriffen zu werden; die Dynamik der Religion geht von ihr aus. Wer die Bibel hat, zu dem kommt heute oder morgen die Religion. Was die Bibel vermögen wird, wird auch in Europa und in Amerika ein Entscheidendes sein; jüdisches Leben in dem, was es gibt, und in dem, was es erfährt, wird hierdurch schließlich bestimmt werden. Und ebenso doch auch, wenn auch das gesagt werden darf, christliches Leben; es gibt hier eine Gemeinschaft des Geschickes. Juden und Judentum leben, in Europa seit anderthalb Jahrtausenden und in Amerika dann von Anbeginn an, inmitten einer christlichen Welt. Judentum und Christentum werden immer wieder und immer neu durch den Willen oder die Fügung in Beziehung zuein46

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ander gesetzt. Und diese Beziehung darf schließlich keine äußere bloß bleiben, zumal, wenn Judentum und Christentum in Wahrheit, und nicht nur dem Namen nach, Judentum, Christentum sein wollen. Auf die Dauer sollte hier nicht nur ein Nebeneinander sein – jedes bloße Nebeneinander kann hier nur zu leicht zu einem Gegeneinander werden. Beide sollten das begreifen, um einander willen, aber auch um ihrer selbst willen. Das Judentum sollte nie vergessen, daß aus seiner Mitte das Christentum hervorgegangen ist und daß seine Bibel Besitztum auch des Christentums ist; gemeinsame Provinzen sind in beider Welt, Gemeinsames ist in beider Gebot, Gewißheit und Gebet. Das Judentum sollte dessen bewußt bleiben, worauf seine großen Denker des Mittelalters hinwiesen, daß ein Weg göttlicher Vorsehung, göttlichen Planes sich hier offenbare. Je mehr das Judentum sich selber versteht, um so mehr wird es das Christentum, das Große in ihm begreifen. Und die christliche Kirche sollte nie vergessen, daß es für sie keine Bibel ohne die jüdische Bibel geben kann. Seit den Tagen Markions, gegen den die alte Kirche hatte kämpfen müssen, hat es sich so manchesmal gezeigt, welchen Weg das Christentum geführt wird, wenn das Verständnis hierfür verloren geht oder zurückgedrängt wird; wer es noch nicht gewußt hatte, dem haben die Jahre des Entsetzens, die hinter uns liegen, es kund getan, was vom Christentum übrig bleiben mag, wenn es der jüdischen Bibel ledig werden will. Und ebenso sollte hier immer jenes Mysterium gegenwärtig bleiben, von dem der Römerbrief spricht. Judentum und Christentum sind durch das Mysterium miteinander verbunden. Ja, durch das Mysterium; denn Judentum und jüdisches Volk sind nicht nur ein Mysterium, sondern, man darf es sagen, das Mysterium. An ihnen kann man begreifen lernen, was in der Menschheit und ihrer Geschichte das Geheimnis ist, und wäre einer ohne den Sinn für das Geheimnis, so wäre er im Grunde ohne Religion. Wer aber das Mysterium ahnt, der wird nur mit Ehrfurcht vom Judentum und vom jüdischen Volke sprechen. Er wird nie meinen, im Rate des ewigen Gottes zu sitzen, er wird nicht seine kleinen, irdischen Gedanken als die Gedanken Gottes hinstellen. Er wird auch nicht, um etwas, was verübt worden ist oder verübt werden soll, zu legitimieren, von göttlichen Schöpfungsordnungen reden. Er wird sich auch nicht vermessen, wenn sich die Sünde in der Welt erhebt und ihr erstes und rohestes Verbrechen immer wieder gegen das jüdische Volk begeht, dann hochmütig lästernd zu sagen, daß Gott dieses Volk verworfen, es als Zeichen der Verdammnis hingestellt habe; wer so redet, müßte denn auch die, die für den Glauben, den selber 47

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er bekennt, verfolgt und getötet worden sind, als die von Gott Verworfenen, die Verdammten erklären. Gewiß, Juden mußten vieles erdulden, Märtyrer, Zeugen Gottes sind sie immer wieder geworden, und wenn die Wunden tief waren und bluteten und zuckten, so war doch eines dadurch immer nur bewiesen worden, welch satanischer Geist in den Foltermeistern und ihren Knechten gewesen ist. Man kann in der Tat nicht Jude sein, und doch auch nicht Christ sein, ohne den Willen zum Martyrium, ohne diesen Willen, vor den kleinen Menschen auch als Verworfene dazustehen. Durch das Geheimnis des Martyriums werden Christen und Juden einander nahe kommen. Zusammen in der Geschichte leben Juden und Christen, und der, dem die Geschichte seine Seele erfaßt, blickt voller Sehnsucht, voller Vertrauen nach der Zukunft aus, nach der Zeit der Erfüllung. Der fromme Christ harrt des Tages, an dem das Judentum den Weg zum Christentum finde. Es gibt Wege der Frömmigkeit, Wege der Hoffnung, und fromme, echte Hoffnung hat niemals getrennt, sie führt zum Verstehen. Das letzte Ziel, die letzte Antwort liegt in Gottes Geheimnis geborgen. Gott wird sprechen, wenn der Tag gekommen ist. Vom Menschen ist verlangt, daß er durch Gerechtigkeit, Liebe und Demut fromm sei und verstehen lerne und daß so auch seine Hoffnung aus der Gerechtigkeit, der Liebe und der Demut erwachse. Wenn Juden und Christen, Christen und Juden so einander zu begreifen suchen, dann wird etwas von dem sich erfüllen, was das Wort des Psalms verkündet hat (85,11 und 12): »Liebe und Wahrheit, begegnen einander, Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Wahrheit wird aus der Erde hervorsprossen, und Gerechtigkeit schaut vom Himmel hernieder.« Hier sind nicht alte und neue Wege, hier ist nur immer der Weg, der eine Weg.

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Israel und das deutsche Volk*

War 1952 schon die Zeit gekommen, um vom Frieden zwischen Israel und dem deutschen Volk zu sprechen, wie Baeck es hier tut? In eben diesem Jahr nahm Martin Buber in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen und sprach ein versöhnendes Wort. Baeck ist hier vorsichtiger. Man könnte seine Warnung gegen die »Sentimentalität der Zuneigung oder der Ablehnung« vielleicht als den Unterschied zwischen ihm und Buber erkennen. Das »Klassische« zeigt sich hier gegen das »Romantische«. Baeck bleibt nüchtern. Eine weitere Warnung ist genauso ernst zu nehmen: »Es ist sozusagen die Kairos-Voraussetzung mit ihrer Frage, die sie stellen muß: Vorausgesetzt, daß dieser Boden des Sachlichen und Persönlichen – beide meinen ja dasselbe; echte Persönlichkeit ist im Grunde große Sachlichkeit – schon gegeben ist, soll dann auch diese Auseinandersetzung über diesen Frieden schon jetzt beginnen? Ist die Zeit dafür gekommen? Es ist ein altes jüdisches Wort: Wer die Stunde drängt, vor dem flieht sie.« Wer soll über den Frieden sprechen? fragt Baeck. Wer ist berechtigt? Die Juden, wie sie gestern und noch heute leben? Die Überlebenden? Die Schatten? Viele kamen in das alte neue Land, Israel. Alle können befragt werden – nur der Haß soll nicht sprechen. Die Geschichte selbst stellt die Fragen hier; und wir müssen diesen Text sehr sorgfältig lesen, um die Aufforderung an die Deutschen, die eigentlich nur vom Juden kommen kann, zu hören. Die Antwort kann nur von Deutschen kommen, die sich selbst erkennen und wissen, daß sie angesprochen sind. Baeck betont: »Aber das bleibt der Fluch einer schwarzen Zeit, daß sie dort, wo sie geherrscht hat, auch nachher die rechte Wirklichkeit einer Gegenwart

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Publiziert in: Merkur 10 (1952) 901-911.

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nicht aufkommen läßt; daß so manches, was in Gutem oder Ungutem sich regt, bisweilen so unwirklich erscheint.« So bleibt Baeck nur, auf die Zukunft zu weisen. Der Kairos ist noch nicht gekommen, und es gibt keine billige Gnade, die in dieser beschwerten Zeit einfach in Anspruch genommen werden könnte. Nicht mehr als der leise Beginn eines Gesprächs zieht sich durch diesen Text; doch das bedeutet schon viel. »Erkenne dich selbst«, fordert Baeck die Deutschen auf und überläßt ihnen die Aufgabe des moralischen Selbstbegreifens. Denn der Weg in die Zukunft ist immer ein Weg des sittlichen Gebotes. Hier muß ein Volk die Frage an sich selbst richten, aber in dem Verständnis, daß in der neuen Welt die Mitmenschen, die Mitvölker, auch ein Wort mitsprechen. Und das jüdische Volk, immer neuwerdend, auch im neuen Land, mit allen Schwierigkeiten dieses Landes, spricht hier zu einem neuen deutschen Volk im Prozeß der Neuwerdung. In einer echten Begegnung müssen sich Deutsche und Juden neu erkennen, um zu einem Frieden zu kommen. Sie haben ein gemeinsames Schicksal und einen gemeinsamen Weg.

Nur wen ein tiefes, fast möchte man sagen ein liebevolles Verlangen nach innerer Offenheit und äußerer Deutlichkeit bewegt, darf über einen Frieden Israels mit dem deutschen Volke sprechen. Erst diese Wahrhaftigkeit, in der sich Denken und Reden zu Bestimmtem einen, so daß für Hintergedanken und Ausflüchte kein Raum bleibt, berechtigt hier, zu bejahen oder zu verneinen, zu erhoffen oder zu bezweifeln. Daß diese Ehrlichkeit – um auch diesen Ausdruck zu gebrauchen –, in der das Intellektuelle und das Moralische zusammenwachsen, in jenen zwölf Jahren und in den Jahren, die sie vorbereitet hatten, weithin zerstört wurde, darunter haben die, die zu den Vernichtungen hinausgestoßen wurden, vielleicht am schwersten gelitten. Man kann fragen, was das Frühere war: das Schwinden der Sachlichkeit oder das Schwinden der Menschlichkeit? Aber beide hängen zusammen, das eine bewirkt immer das andere – man vergißt zu oft, welche menschliche Gefahr der Mangel an Sachlichkeit bedeutet. In der »gelben« Theologie und »gelben« Philosophie jener Jahre ist mehr noch als die Wissenschaft zerstört worden. Ihr Halbdunkel war bedrückender als das Dunkel, das schließlich kam. Wer nach diesem Frieden fragt, sollte sich daher auch vor der Sentimentalität hüten, in der das Halbdunkel sich des Gefühls bemächtigt – mag es die Sentimentalität der Zuneigung oder die der Ablehnung sein. So harmlos oft ist, womit sie beginnt: was aus ihr folgt, ist 50

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meist ein Unwahres. Aus dem Hang zum ungewissen Schein wird das Beharren in der Selbsttäuschung. In den Tagen des ersten Weltkrieges hörte man die Menschen, die sich Stelzen hergestellt hatten und täglich auf ihnen einherschritten, oft sagen: Wir haben jetzt die Sentimentalität verlernt. Sie war in Wirklichkeit geblieben und vielleicht noch gewachsen, nur daß aus der sentimentalen Hinwendung die ebenso sentimentale Abkehr geworden war. Und zu Zeiten kann es auch umgekehrt sein. Aber nun die andere Voraussetzung. Es ist sozusagen die KairosVoraussetzung mit ihrer Frage, die sie stellen muß: Vorausgesetzt, daß dieser Boden des Sachlichen und Persönlichen – beide meinen ja dasselbe; echte Persönlichkeit ist im Grunde große Sachlichkeit – schon gegeben ist, soll dann auch diese Auseinandersetzung über diesen Frieden schon jetzt beginnen? Ist die Zeit dafür gekommen? Es ist ein altes jüdisches Wort: Wer die Stunde drängt, vor dem flieht sie. Ist die Zeit gekommen? Manche sagen – und sicherlich ist mancher der Besten unter ihnen –, daß die Juden ihren Frieden machen sollten mit der Zeit, mit dem Guten und Traurigen der Zeit. Mit dem Guten, gewiß, und auch mit dem Traurigen; Trauer wird sich mit Trauer einen. Aber war nicht ganz anderes noch, und ganz anderes vor allem, in dieser Zeit? Soll mit dem allen, mit all den Arten, auf die das Ebenbild Gottes zerstört werden sollte, der Frieden geschlossen werden? Allein: mag auch die Zeit – mit Kierkegaard zu sprechen – sich nicht umkehren lassen, so sinkt sie doch in ein Gestern hinab, sie wird zur Vergangenheit. Aber läßt alle Zeit sich zu Vergangenheit machen? Jedes Volk weiß doch von Wunden, die es sich selber geschlagen hat und die lange nicht heilen wollen. Selbst wenn eine andere Zeit jetzt gefolgt sein mag: was ist ihr Antlitz, und wie wird die Zeit sein, die dann folgt? Oder um es noch unmittelbarer zu sagen: welches ist die Wirklichkeit des deutschen Volkes heute, und wie wird sie morgen oder übermorgen sein? Und schließlich: wer sind die, die auf die Frage nach dem Frieden antworten sollen, antworten dürfen? Sind es die Juden, welche heute so leben, wie sie gestern und vorgestern gelebt hatten? Oder sind es die, die das Gestern wie durch ein Wunder überleben durften? Oder sind es die, deren Leben vernichtet wurde? Der Jude, der sehen und hören will, sieht die Schatten, die auf sein Dasein gefallen sind, und hört die Stimmen der Schatten; und es ist, als würfen die Schatten noch ihre Schatten und als sprächen auch diese. Sie sind ein Teil seines Lebens geworden. Es gibt ein Wort in der Bibel, das Gott zu 51

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Israel gesagt hat – nur Er, der Eine, durfte es sagen: »Ein Volk harten Nackens bist du.« Harten Nackens sind auch diese Schatten. Sie lassen sich nicht beugen und fortweisen. Sie gehen mit jedem Juden und bleiben bei ihm, wenn er auf neuen Boden tritt. Im Lande Israel heißt die Losung: »das Einbringen der Verstreuten«. Auch die Schatten werden dort eingebracht. Auch sie verlangen dort ihr Wort. Einer allerdings braucht nicht befragt zu werden. Er braucht nicht aufgerufen zu werden, weil er nur selten da ist. Das ist der Haß. Wer mit Juden in fast allen Erdteilen gesprochen hat, der weiß, wie mannigfach und widerspruchsvoll ihre Empfindungen sind, auch die gegenüber Deutschland. Aber er weiß auch, daß ein Gefühl kaum anzutreffen ist: der Haß. Was da ist, kann am ehesten – und diesem Worte wird man nicht ausweichen dürfen – Verachtung genannt werden. Sie ist das Gefühl, das einst auch die in Deutschland duldenden Juden erfaßt hatte. So befremdlich es zunächst klingen mag: es gibt eine Verachtung auch für die Tüchtigkeit, und es muß sie geben können, wenn es einen Respekt vor der Tüchtigkeit geben soll. Die Entscheidung, ob jeweils das eine oder das andere zu zollen ist, zieht eine Scheidelinie zwischen Menschen. Derart sind die Fragen und dies die Befragten. Kein Mensch, freundlichen oder unfreundlichen Willens, sondern das, was getan und angetan worden ist, stellt diese Fragen und ruft die Befragten auf. Kein »er«, sondern ein »es« fragt. Aber kein »es«, sondern nur ein »er« kann hier antworten. Menschen, individuelle Menschen, sollen sich mit einem Geschehen, einem kollektiven Geschehen, auseinandersetzen. Auch da ist ein Problem. Aber wesentlich bleibt doch, daß die Fragen Aufnahme finden, hüben wie drüben. Vielleicht werden sie hier und dort zunächst erschrecken, aber vor allem anderen kommt es darauf an, daß sie aufgenommen werden. Die Antwort, die wahre Antwort wird dann, früher oder später, hervorkommen: das ist die Hoffnung. Dies ist die Weise der Geschichte: Sie gibt niemals und nirgends Antworten, sie stellt nur Fragen. Des Menschen Aufgabe ist es, auf die Fragen hinzuhören; alsdann: u m die Antwort zu ringen; und darnach: m i t der Antwort zu ringen, auf daß schließlich sie »ihn segne«. Hier unterscheidet sich Geschichte, die Volksweg und Menschheitsweg in einem sein kann, von der Geschichtslosigkeit, dieser Ungeschichte, dieser Weg- und Menschheitslosigkeit. Die Geschichte hat nur Fragen, die Ungeschichte hat bloß Anworten. Sie hat für alles ihre eigenen, fertigen Antworten und verbietet darum die Frage sowohl wie jede abweichende Antwort. Vor den Menschen, welcher Geschichte erlebt, tritt deren Frage hin als ein Gebot 52

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seines Lebens, für das er sich die Antwort erkämpfen muß. Dem Juden ist dieses zugleich ein Gebot von Gott. Er kann sich darum, um seiner Geschichte und um Gottes willen, nicht der Frage entziehen, ob und wie und wann ein Friede Israels mit dem deutschen Volke und dem deutschen Lande sein kann. Dem Worte »Frieden« muß hier sein reiner Ton, gewissermaßen seine Heiligkeit bewahrt werden. Wiedergutmachung und Entschädigung sind eine notwendige Voraussetzung, aber sie sind noch nicht der Frieden. Sie müssen geleistet werden, damit das Recht zurückgebracht werde und der Zerstörung des Rechtes, dieser Selbstzerstörung, nicht länger Raum gegeben sei. Nicht bloß um Zahlen und Zahlungen handelt es sich hier, es handelt sich um die Würde, um die der Zurückerstattenden sowohl wie um die des Empfängers. So verschieden die Richtungen und Anschauungen in der jüdischen Welt sein mögen, darin sind alle einig, daß hier die Moral des Rechtes, oder, wenn man lieber will, das Recht der Moral in Frage steht. Vielem mag der Mensch entsagen, und der Jude hat oft entsagt, zornigen oder gelassenen Sinnes. Aber auf das Recht und die Moral kann er nirgends verzichten; das Nichts würde sich sonst unter ihm auftun. Doch so bedeutungsvoll und so bedeutsam auch dieses Wiedergutmachen sein mag, es ist noch nicht der Frieden. Man könnte, und fast müßte man heute bisweilen glauben, daß, nachdem dies getan sein wird, die beiden Parteien einander wieder den Rücken kehren werden, wie nach einem Prozeß, wenn der Spruch des Rechtes verkündet worden ist. Aber der Friede ist hier das Problem, und schon als Problem stellt er die Aufgabe, der nicht ausgewichen und von der nicht fortgesehen werden darf. Jede Aufgabe hat ihre Richtung, und diese Richtung ist nicht leicht zu erfassen, weil innerhalb des jüdischen Volkes die Standpunkte und damit die Ausblicke so verschieden sind. Es ist erforderlich, von ihnen allen zu wissen, wenn ein Weg gefunden werden soll. Zwei Arten der Betrachtung sind zuerst festzustellen. Sie stehen in einer Polarität zueinander, das heißt: in einer Gegensätzlichkeit bei wesenhafter Zusammengehörigkeit. Sachlich genommen ergänzen sie einander, geistig genommen wollen sie einander im Auge behalten. Die eine ist die, die den meisten Juden und auch vielen Christen, sowie sie in den anderen Ländern leben, notwendiger- und berechtigterweise eignet. Jahr um Jahr erfuhren sie, was geschah, und sie hörten dann später, daß die Wirklichkeit noch furchtbarer gewesen war als die Kunde, die zu ihnen drang. Aus der Ferne sahen sie das 53

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Schreckliche in seiner Ganzheit. Für sie konnte und kann es daher nur das deutsche Volk in seiner Gesamtheit geben. Hinter der einen großen Untat erblickten sie den einen großen Untäter – um das Wort des Buches Daniel zu gebrauchen: den »schikkúz schomém«, den »Greuel der Verwüstung«. Eine andere Betrachtungsweise vertreten die, welche in den bösesten Jahren in Deutschland gewesen waren, bis auch sie fortgeschleppt wurden, um dann inmitten der Sterbenden und Gemordeten wie durch Zufall zu überleben. Sie hatten immer wieder die Treulosigkeit erfahren, ganz unmittelbar, die Unmenschlichkeit ganz an sich selbst erduldet, und in ihrem Herzen war immer neue Bitterkeit aufgestiegen. Aber sie hatten doch auch an so manchem Tage – und ihre Seele hätte sonst kaum leben können – das andere erfahren: eine tapfere Treue, eine tapfere Liebe von dem einen und vielleicht auch dem anderen, eine menschliche Anständigkeit von einem Gekannten und einem Unbekannten. Und als sie dann hinausgerissen wurden, haben sie wieder unter anderer Roheit und Bosheit gelitten, deren Spur sie vielleicht noch an ihrem Körper tragen. Sie haben die einzelnen Untaten bestehen müssen. Doch immer haben sie an jene Treue einzelner und jenen Anstand einzelner gedacht. Und als sie zum Leben zurückkehrten, ist diese Erinnerung mit ihnen gegangen und zu einer Sehnsucht geworden, dankbar zu sein und zu bleiben. Neben diesen beiden Einstellungen, bald ihnen nahe, bald ihnen fern, zeigen sich zwei andere. Die eine ist an denen zu beobachten, welche in den Monaten vor dem Kriegsbeginn »ausgewandert« waren, die die Qual dieser sogenannten Auswanderung erduldet hatten. Sie hatten vorher so manches erlebt; das geile Wuchern des großen Verrates, die Entweihung ihrer Gotteshäuser, die Verhaftungen der Männer, die Zerreißung der Familien – die jüdischen Frauen hatten damals die größte Tapferkeit bewiesen –; sie hatten erlebt, wie ihre Kinder in den Schulen gemieden und dann aus den Schulen gewiesen wurden. Sie zogen nicht nur aus Deutschland fort, sondern kehrten ihm den Rücken, für immer. In die Tiefe ihrer Dankbarkeit haben sie überall die neue Heimat aufgenommen, das Land, das sie in der Stunde der Not geborgen hat. In Deutschland spricht nur noch der alte Friedhof zu ihnen. Doch hatten sie auch ihre Bücher mitgeführt, viele deutsche Bücher; und diese Bücher sind wie ein großes wundersames Denkmal, und es spricht zu ihnen. Deutschland aber spricht zu ihnen nicht mehr. Es ist für sie im Grunde ein fremdes Land geworden mit fremden Menschen. Nicht der Gang der Zeit hat es so bewirkt, sondern eine Entscheidung des Geistes. Diese meint 54

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nicht die einzelnen Menschen – zu nicht wenigen von ihnen ziehen freundliche Gedanken hin –, aber sie meint Deutschland und das deutsche Volk. In einer anderen Richtung bewegt sich das Denken der Überlebenden aus jenen Lagern, in welche die Juden aus den östlichen und südöstlichen Ländern Europas zusammengepfercht worden waren. Sie befanden sich nun in Deutschland oder kamen dorthin. Für sie bedeutete Deutschland nichts von dem, was es für die Ausgewanderten noch war; nichts aus der Welt der großen Dichter, Denker, Künstler und Musiker des Landes. Wenn sie das Wort Deutschland hörten, so hörten sie nur den Klang von Namen, in denen das Roheste, Sinnloseste, Niedrigste auf Erden sich zusammengefunden hatte – nur das und nichts anderes. Darum war dieses Land, in dem sie nun für Monate oder Jahre bleiben sollten, für sie nicht, wie für den Ausgewanderten, ein fremdes Land mit fremden Menschen, sondern gewissermaßen ein Niemandsland. Ein Land aber, durch das sie entweder hindurchblickten, als wäre es nicht da, oder aus dem sie sich jetzt mit wendiger oder greifender Hand das zurückholen wollten, was ihnen geraubt worden war. Vielleicht war das noch die bestmögliche Einstellung. Vor einigen Jahren kam einer, der selber ein Lager erduldet hatte und nun in einem anderen Lande wohnte, in eines der befreiten Lager, um dort mit seinen Brüdern für einen Tag zusammen zu sein; er erfuhr in diesen Stunden die ganze seelische Güte und geistige Wärme, die dort wohnten. Im Gange der Unterhaltung erzählte er von seinen letzten Jahren in Deutschland und auch davon, wie da und dort, selbstlos und schlicht, ein Deutscher einem Juden geholfen hatte. Und er sagte dann, daß irgendeiner der Leute, denen die Menschen aus dem Lager heute oder morgen auf der Straße begegnen würden, möglicherweise einer dieser unbekannten Helfer sei, und alle hörten in achtungsvollem Schweigen zu. Tags darauf nahm er Abschied, und einige geleiteten ihn ein Stück Weges. Als ein Deutscher vorüberging, wandte sich dem Gaste eine leise Stimme zu: »Der unbekannte Helfer? Aber vielleicht ist er der unbekannte Mörder.« Nur Schweigen konnte antworten. Fast alle diese Menschen sind weitergezogen, aber sie haben ihr Denken mitgenommen. Dies sind die vier Betrachtungsweisen, die sich dem Versuche einer Diagnose anbieten, und sie meinen vier Fragen an den, der antworten will. Zwischen ihnen liegt, begreiflicherweise, noch eine große Mannigfaltigkeit im einzelnen. In allen Ländern gibt es Juden, nachdenkliche, treffliche Naturen, die die Antinomie zwischen den zwei Mah55

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nungen: »Du sollst vergessen« – »Du sollst nicht vergessen« im Innersten beunruhigt. Und es gibt überall die Klugen mit ihrer Nützlichkeitsphilosophie und neben ihnen die Armen, die sich nach einem Stück alten Besitzes zurücksehnen, und es gibt die Romantiker auch, die echten und die unechten. Und in Deutschland selbst gibt es unter den Juden Menschen, die nicht eine Anschauungsart, sondern nur Handlungsarten und Redensarten haben; die Menschen der Konjunktur und die Marodeure in ihren verschiedenen Gewändern und in ihren verschiedenen Würden. Aber es gab und gibt dort auch Menschen wie jenen Jakob aus Polen, den Ernst Wiechert in seiner »Missa sine nomine« mit so viel Liebe gezeichnet hat. Und es gibt dort vor allem Juden, die mit so viel Mut und Hingebung den Versuch unternommen haben, auf deutschem Boden wieder jüdische Gemeinden aufzubauen, dort zu beten, zu helfen und zu hoffen, wie ihre Väter dort gebetet, geholfen und gehofft hatten. Jedoch die entscheidenden Betrachtungsweisen sind jene vier: nur wer sich mit ihnen auseinandersetzt, wird einer Antwort nahekommen, der sich keiner entziehen sollte. Eines muß zunächst wiederholt werden: Wiedergutmachung ist zwar noch nicht Frieden, aber sie muß ihm vorangehen. Zwischen beiden besteht ein innerer Zusammenhang. Denn Frieden meint auch Ordnung, sowohl in der Voraussetzung wie in der eintretenden Tatsächlichkeit, und die Wiedergutmachung ist ein nicht unwesentlicher Teil der Ordnung. Wenn die Ordnung bewirkt ist, wird, über sie hinaus, etwas Lebensfähiges geschaffen. Denn echte Ordnung, die in moralischem Boden, und das heißt zugleich: im freien Willen wurzelt, ist etwas Organisches, sie wächst weiter und bereitet sich immer neue Entwicklungsformen. Der so oft mißverstandene und so viel mißbrauchte Begriff »Demokratie« bedeutet im Grunde das gleiche: freie, gewollte und darum sich gestaltende Ordnung als Ausdruck eines Gemeinwillens, der ja, ebenso wie der individuelle freie Wille, nicht an sich schon da ist, sondern immer wieder errungen werden muß, immer wieder Schaffung eines Weges und einer Harmonie, gewissermaßen einen Friedensschluß erfordert. Eine Verfassung ist darum organisch und hat Dauer und Form nur, wenn sie auf dieser Gesinnung beruht; es liegt ein tiefer Sinn in Platos Vergleich zwischen dem Staate und der Einzelseele. Von dieser demokratischen Gesinnung, dieser Überwindung von Erstarrung und Formlosigkeit, darf gesagt werden, daß sie zum Frieden führt. Sie bezeichnet den Weg, auf dem der Friede, von dem hier die Rede ist, erzielt werden könnte. Schon darum kann er nicht im Namen einer Vergangenheit her56

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beigerufen werden, wie reich und leuchtend sie auch sei. Welche Merkwürdigkeit war es doch, daß in einem der ersten Jahre nach dem Kriege ein deutscher Historiker sich für die Sache des Friedens im Lande so viel von Goethe-Kränzchen versprach. Eine Zeit läßt sich nicht wiederholen, geschweige denn, daß eine Vergangenheit, selbst die größte, über einen Abgrund hinwegtragen könnte. Doch auch im Namen einer bloßen Gegenwart kann der Frieden nicht angesprochen werden; darum selbst nicht im Namen dessen, was heute in Deutschland gut und edel ist. Nur wer sich selber die Binde vor die Augen legt, kann das Gute, Reine und Edle übersehen oder verkennen, das neben manch anderem jetzt dort zu finden ist. Aber das bleibt der Fluch einer schwarzen Zeit, daß sie da, wo sie geherrscht hat, auch nachher die rechte Wirklichkeit einer Gegenwart nicht aufkommen läßt; daß so manches, was in Gutem oder Ungutem sich regt, bisweilen so unwirklich erscheint. So bleibt denn nur der Appell an die Zukunft. Durch sie und um ihretwillen, darf und soll hier der Friede bereitet sein. Zukunft kann entweder ein Zufälliges sein, bloß Folge der Zeit, oder sie kann aus einem Willensakte sich ergeben, aus einem Willen, aufrichtig sich selbst zu erfassen, aus einer Auseinandersetzung menschlicher Endlichkeit mit einem Bleibenden, Sittlichen. Um die Zukunft befragt, kündete das alte Orakel zuerst: »Erkenne dich selbst.« Alle Gerechtigkeit, diese Vorbedingung des Friedens, und ebenso auch alle Staatsmannskunst gehen von einem Akt der Selbsterkenntnis aus; die eine wie die andere ist ein Wille zur Zukunft, der sich auf moralisches Sichselbstbegreifen gründet. Der Weg zur Zukunft, dieser Weg zur Geschichte – man sollte mehr von dem Weg z u r Geschichte als von dem Weg d e r Geschichte sprechen – ist immer ein Weg des sittlichen Gebotes. Das Zusammenkommen von Ereignissen, diese Verschiebung des Materials der Geschichte, bewirkt Situationen, und diese Situationen können einen Weg offenlegen, der bis dahin versperrt schien, eine Möglichkeit bereiten, wie sie vielleicht im Dasein eines Volkes bis dahin nicht gewährt war. Die so seltene Aussicht eines echten Beginnes, eines neuen Standortes kann sich ergeben. Für zwei Völker, mehr als für irgendein anderes Volk, ist solche Möglichkeit heute geschaffen, in einer Verschiedenheit und doch fast einer Gleichheit der Fügung: für das deutsche Volk und für das Volk, das ein Volk Gottes sein soll, das jüdische Volk. Das deutsche Volk zunächst. Seine Vergangenheit zeigt, meist im Tragischen und bisweilen im Komischen, das Bild steter Teilung, der Teilung eigenen und der Teilung fremden Landes. Fast dünkt 57

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es, als sei die Teilung hier zum Prinzip geworden und als sei es kein Zufall, daß hier die konfessionelle Teilung so tief gewirkt hat wie nirgend sonst. Eine künstliche und daher gewaltsame Desintegration scheint die leitende Regel gewesen zu sein. Auch im Antisemitismus tat sie sich ja kund. In der schwarzen Zeit der organisierten Ordnungslosigkeit ist sie die »Neuordnung Europas« benannt worden. Sie hat ansteckend gewirkt, und sie ist nun von anderen Völkern auf Deutschland angewandt worden. Nach den vielen Perioden des Zerteilens kam die des Zerteiltwerdens. Und die Hoffnung geht dahin, daß diese verhängnisvolle Methode sogenannter großer Politik, wie eben besonders Deutschland sie gelehrt hatte, sich jetzt ad absurdum führen, daß eine unselige Zeitenspanne nun sich selbst beseitigen werde. Man könnte daneben auch sagen: daß eine Historikerklasse an sich selber gestorben sein werde. Für das deutsche Volk könnte so ein neuer Boden bereitet sein. Die neue Bahn auf neuem Boden öffnet sich für Menschen und für Völker, wenn sie die Kraft und den Mut besitzen, sich von den alten Irrbildern zu befreien, die in ihnen und aus ihnen hervorwucherten. Eine verzehrende Vergangenheit wird nicht schon dadurch überwunden, daß man die Leute von früher fortschickt; sie sind, solange die Phantasmagorien nicht beseitigt sind, revenants, sie kehren leibhaftig oder als Gespenster wieder. Auch nicht durch den Wechsel der Institutionen wird jene Vergangenheit gebannt; hinter ihnen kann sich so manches verstecken, um eines Tages wieder zu erscheinen. Die Götzen überwindet nur, wer Gott gefunden hat. Das will sagen: es kommt auf das wahre, das neue Prinzip, auf die emporsteigende echte Idee an. Ein Mensch und ein Volk können in Wirklichkeit nie stille stehen. Sie können nur entweder vorwärts oder rückwärts schreiten. Und sie gehen anderen voran, wenn sie eine große, eine Leben bringende Idee vielleicht um einen Tag früher als andere erfaßt haben. Die neue Idee, so will es scheinen, ist heute die neue Erkenntnis des Wesens von Volk und Staat. Der Boden mag bereitet sein. Der Nationalismus, der in den letzten Jahrhunderten wuchs, hat in der alten Kulturwelt mehr und mehr sich selber zerstört, er zeigt nur noch die Zuckungen des Endes. Die Kleider des Sterbenden holt sich hier und dort ein Volk jüngeren Daseins. Und die Staatsvergötterung dieser selben Jahrhunderte, die den Menschen nur um des Staates willen dasein ließ, flammt heute in Extremen auf, an denen ein Gebilde zu sterben pflegt. Die neue Idee, die nun ihren Platz sucht, ist, was das Volk betrifft, die des individuellen Volkes innerhalb der Menschheit. Sie meint nicht jenen Kosmopolitismus, der das Eigene vergißt und überall zu 58

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Israel und das deutsche Volk

Hause sein will, um der Pflicht gegen das Eigene enthoben zu sein. Etwas ganz anderes ist hier gefordert. Es geht darum, daß in jeder Frage, die ein Volk an sich richtet, die Menschheit zugleich ihr Wort habe; daß ein Volk, wenn es um seinetwillen etwas beginnen oder etwas unterlassen will, zugleich die Frage vernimmt und auf die Frage hört: was wird damit der Menschheit gegeben, von der ich ein Teil bin, was wird es für die Menschheit bedeuten? Und ein gleiches soll und will im Bereich des Staates zum Ausdruck kommen: er soll ein Staat von Menschen sein und für den Menschen dasein. Das will sagen: daß der Staat in allem, was er vorhat und was er beginnt, die Frage höre: was wird damit den Menschen, die hier leben, gegeben, wird es sie menschlich reiner und reicher oder wird es sie menschlich kümmerlicher werden lassen? Die neue Erkenntnis vom Leben des Staates und die vom Leben des Volkes sind in der Wurzel eines. Es handelt sich um ein neues Prinzip. In ihm kann das deutsche Volk seine große Möglichkeit finden. Hier kann es einen neuen Weg für sich sehen. Und nun das jüdische Volk, dieses Volk jenseits der gewohnten Regel. Es hat ein Leid sondergleichen erfahren, und es hat in ihm, mögen einzelne auch versagt haben, als Ganzes doch eine Größe sondergleichen bewiesen, welche Zukunft verheißt. Das jüdische Volk ist oft und in so manchem Lande zerteilt und auseinandergerissen worden, aber es hat vor keiner Teilung und keiner Zerreißung kapituliert. Es war immer, oder wenigstens in seinen besten Zeiten, ein Volk ohne Politik, aber dafür ein Volk mit einer Idee, einem Glauben. Darum war es, was das Politische angeht, so oft so schwach – und immer so stark, so unbesiegbar durch seine Idee, durch seinen Glauben. Das Ganze, das Eine, sein Eigenes und das der Menschheit, war und ist seine Idee. Daß, vielleicht einmal nur, aber zuletzt, in dem letzten Siege, die Idee siegen wird, ist ihm ein Glaube. In unseren Tagen hat das jüdische Volk altes Land wiedergewonnen, Land seiner Gemeinschaft. Als Besitz wurde es wieder erlangt, aber vor allem als Aufgabe und als Hoffnung. Großes wird von ihm auch dort erwartet. Aber groß kann auch die Gefährdung sein. Das jüdische Volk ist immer das gefährdetste gewesen; das ist ein Teil, ja ein Bestandteil seiner Geschichte. Im neuen alten Land naht eine neue alte Gefahr. Wesen, die anderswo ihr Sterben ahnen: Nationalismus, Staatsvergötzung und mit ihnen ihr Alliierter von langen Tagen her, der Klerikalismus, möchten auch nach diesem Volk in seinem Lande greifen, um Blut aus seinen Adern zu trinken und sich hier ein neues Dasein zu geben. Es ist eine Gefahr. Juden und Juden, Juden im Lande und Juden in der Welt, könnten darüber von ein59

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Wiederbegegnung mit Deutschland

ander getrennt werden. Aber größer als die Gefahren und stärker ist die neue Aufgabe und der Wille, sie zu ergreifen. Sie ist nicht eigentlich neu, sondern die alte jüdische Aufgabe, die nur immer neu wird, weil sie sich immer neu ihre Gestaltung und ihre Ausdrucksform bereiten muß. Sie ist die Aufgabe, immer wieder zur Erkenntnis dessen bereit zu sein, was Mensch und Volk und Staat einander sein sollen. Sie ist diese stete Auseinandersetzung des Menschen mit Volk und Staat und Menschheit, die Auseinandersetzung mit dem, was zu bleiben scheint, den Gebilden der Geschichte und dem, was wahrhaft bleibt, dem göttlichen Gebote. So scheint es, als stehe ein Gleiches vor dem deutschen Volke, das jetzt neu werden kann, und vor dem jüdischen Volke, das immer neu wird. Die Voraussetzung ist hier und dort verschieden, im Geschichtlichen und im Seelischen, und vielleicht auch gegensätzlich; man sollte hier keine Ähnlichkeiten ersinnen. Aber die Aufgabe hier und dort, Kampf und Mühe um das Problem, das das gleiche ist, sie können einander finden. Und die Menschen hier und dort, die so suchen und ringen, werden einander begegnen, und es wird ihnen sein, als seien sie irgendwie füreinander bestimmt. Jede wahre Begegnung stammt aus der Selbsterkenntnis und schafft neue Selbsterkenntnis. Sie zwingt fast immer wieder zum Nachdenken über sich selbst, das auch der Anfang zum Verstehen des anderen ist und damit zum Anfang des Friedens wird. Deutsche und Juden, die den Frieden miteinander erhoffen, sollten darum damit beginnen, daß sie von neuem sich zu begreifen suchen. Im deutschen Volke gibt es alte und neue Risse und Spaltungen. Aber aus dem Geiste jenes Reinsten und Edelsten der Deutschen, der, gewiß nicht bloß zufällig, in der Freundschaft mit einem der Besten der Juden stand, erwächst diesem Volke eine besondere Kraft des Zusammenführens und Zusammenfassens. Im jüdischen Volke stehen heute sehr unterschiedliche Weisen des Denkens und Empfindens dem deutschen Volke gegenüber und auch ihm entgegen. Aber sie alle bestehen innerhalb der weltweiten jüdischen Art, verstehen zu wollen und in Jahrhunderten, ja auch in Kontinenten zu denken. Auch sie hat sich dadurch erneuert, daß das alte Land wieder da ist: das Land der Väter, das im Scheitelpunkte von Asien, Afrika und Europa liegt und jetzt von Amerika her die große Hilfe empfing. Und vor allem: in jedem Juden, auch dem seelisch schwächsten, lebt etwas von dem Gebote des einen Gottes, der von dem Menschen und darum zu allen Menschen spricht. Im Namen des Gottesgebotes und der Menschenzukunft soll schließlich dieser Frieden geschlossen werden. Zwei Völker, beide 60

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Israel und das deutsche Volk

mit einem Schicksal, können auf die Dauer nicht einander den Rükken kehren und aneinander vorübergehen. Für die Menschheit kann es etwas bedeuten, wenn dieser Friede ehrlich, und das heißt auch: ohne Vergeßlichkeit, betrachtet und vorbereitet und, so Gott will, schließlich geschlossen wird.

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ENTDECKUNGEN UND EPOCHEN DER JÜDISCHEN GESCHICHTE

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The Task of Progressive Judaism in the Post-War World*

An die großen Gestalten des liberalen Judentums erinnernd, formuliert Baeck hier seine Vorstellung von der Aufgabe des Progressiven Judentums in der Welt nach der Schoa. Bezeichnend ist, wie sehr Baeck nicht die Liberalität des Progressiven Judentums, sondern das Judentum des Liberalen Judentums herausstreicht.

As in this hour we visualise the task that is set before us, the picture rises in our minds of a man in whom for years this task appeared personified, the picture of Dr. Claude G. Montefiore. It was the dignity and sanctity of his personality which made it possible to found our World Union. His name was our best title. We see this man before us in the present hour. He was a liberal man or, what means the same, a human man, and this liberal, human man lived fully in his Judaism. From wherever he might start and wherever the wealth of his knowledge and the width of his outlook might cause him to go, they always led him to his Judaism. What was human always sought and found in him its Jewish expression, and what was Jewish in him could thus always and only speak in terms of humanity. He was a great man, a great Jew. It will be the yardstick for our discussions whether they would stand test before his judgment. Since the last Conference of our World Union, a terrible ordeal has swept over the Jewish people and over humanity; it has once again *

Entnommen aus einer Broschüre der World Union of Progressive Judaism mit dem Titel: The Task of Progressive Judaism in the Post-War World. Presidential Address given by Rabbi Dr. Leo Baeck at the Fifth International Conference of The World Union for Progressive Judaism on Sunday, July 28th, 1946 in London.

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte

proved true that the Jewish people and humanity are inseparable from one another. This ordeal has been so terrible, it has grown to such a torment and such a misery, because men who were responsible for parts of the world, for the leadership of great communities remained silent when they should have spoken, and stood by and looked on when they should have stepped forth to act and to help. Once again came to the present generation Jeremiah’s word of indictment: »They mean to heal the hurt of my people slightly, saying: Peace, peace, when there is no peace.« The sin of silence and of looking on lay on the world. This disaster has come over mankind because the moral enthusiasm, the moral passion were lacking, this power that grows up out of the depth of religion, and true peace will be only when that sacred flame will make alight the souls of men so that in the fight between ideas and interests, between commandment and advantage, the divine commandment will be victorious, the commandment which shows the way to a future. This messianic power is needed for humanity. During the time of horror, not only Jewish communities were destroyed as before, but whole Jewish regions. All and everything of the manifold forms of Jewish life has been hit by the severity of the loss and of the suffering. We must never forget what we have lost or whom we have lost. We must conserve this emotion within us – »lest we forget, lest we forget.« And death has also taken its accustomed way: Ismar Elbogen, Max Dienemann, Hermann Vogelstein, and lately Rabbi Frieder of Bratislava – to name only these expressly – have been taken from our midst. Our faithfulness remembers them all. Yet Jewish life does not stand still. May be it has not always shown itself stronger than good fortune, but surely it has always proved itself stronger than ill fortune. It has in many ways become poorer today, but not weaker. In those parts where it remained unscathed, it has become all the more conscious of its strength and its duty. Where grave wounds are gaping, the will, intent on the future, has become all the more certain and serious, the will to conquer fate. This applies to all spheres and ways of Jewry and Judaism, it applies to our Progressive Judaism. The reports submitted from every part of the world for our Conference bear witness to this fact. In the United States, today more than ever a centre, strength is expanding; youth is full of it, and the older ones – our eyes are directed to David Philipson, Alfred Cohen, Julian Morgenstern, the men of Cincinnati; to Samuel Schulman of New York, and Rabbi Lazaron of Baltimore – they »still bring forth fruit in old age.« In this country, which events made to be the bastion of 66

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Europe and a bastion of European Jewry too, our congregations spread and endeavour to draw closer together in order to grow in unity; and youth, matured in the years of trial, is prepared to take up the torch in their own hands and with ideas of their own; and in the inner circle of our World Union, side by side with the indefatigable Chairman of our Executive, indefatigable in his energy as well as in his judiciousness, our Honorary Secretary is active in unfailing idealism, this woman »planted in the house of the Lord«; and full of gratitude we see in our midst the revered Rabbi Caesar Seligmann, a man and a symbol, linking our generations. Furthermore, on new soil new seed was sown to ripen towards days of harvest; in South Africa and in Australia, in Canada and South America and in agehallowed India. And deeply moved we stand watching how, on the martyred soil of the European Continent, in spite of everything, Jewish willpower is active, Jewish life, as in all forms thus also in that of our Progressive Judaism, endeavours to and will revive. And in the Land of Promise, that stands, as it were, in the centre of the lands, that stands in the centre of our hopes and of our cares, in Erez Israel, a Jewish life of its own and of our own is blossoming there, promising a future, promised and promising. In all our grief we may feel grateful too. Yet before us stands the task. It stands before us as the task of our Progressive, our Liberal Judaism; but it is set before us by our entire Judaism, in the fullness of its shapes and hopes. We are Progressive, Liberal Jews, not for the sake of Progressive, Liberal Judaism, but for the sake of Judaism, of Judaism as a whole. To that we want to give, by what is specifically our own, an especial strength and an especial will, a strength and a will Judaism cannot and must not dispense with. This is what we must hold on to, what we must become ever more sure of: that Progressive Judaism can have its significance only in the midst of the whole of Judaism, of all Jewish life, only with a strong feeling for the common tasks, for the whole, that is before and above all the parts, for the »K ’lal Jisrael.« We do not want to be a mere party, great or small, but a movement; not a sect, but an energy in Judaism. An egoistic Liberal Judaism, which would only think of itself, which would forget that it has its task for the sake of the greater whole, such a Liberal, Progressive Judaism would be a contradiction in terms, it would be neither Liberal nor Progressive, nor would it be Jewish. In all groupings of Jewry and spheres of Judaism we have too much little Judaism – a Judaism which exhausts itself in belonging to a Congregation or perhaps to some Association and which in such 67

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service deems to have fulfilled its share of Jewish duty. Certainly we must not belittle this service. It is so much better and healthier to be within the community than only to stand at its borders, better and healthier to belong to the Congregation than to remain outside. The Congregation is the living germ-cell of Jewish life. Judaism cannot live without the Jewish Congregation; but the Congregation is not the ultimate purpose; it is not an end in itself. It is there for the sake of Judaism, for the sake of the great Jewish whole; in that only has it its true life. That must never be forgotten. The Rabbi certainly is the Rabbi of his Congregation and must serve it with his devotion, his love and loyalty, but he must never forget that he is a Rabbi of Judaism, as it were, a Rabbi of the whole Jewish people. This applies quite especially to our Progressive Judaism, for it is our special and foremost task to rouse and keep alive this sense for the great whole of Judaism and, therefore, the sense for a greater Judaism, for the Judaism with the width of its horizon, with the dynamic quality of its will and its vision. If others find their fulfilment in that little Judaism, that is a deficiency in them; if we found our satisfaction therein, it would be a distortion of our nature, a denial of our supreme task. The greater Judaism is our especial strength, our especial right. We stand and fall with those great ideas and with the will to that great conception of Judaism. One might almost say that with this we earn the right to be the living conscience of Judaism. That should be our supreme title-deed within the frame of the great Jewish whole. Everything else, however well it may claim its place and its significance, is of lesser importance than that. The high aim and wide horizon, the will intent on the whole and on the future is what decides. These great ideas will then both give us and secure us our place within the world. Judaism must not stand aside, when the great problems of humanity, which are reborn in every new epoch, struggle in the minds of men to gain expression, battle in the societies of mankind to find their way. We must not, as Jews, deny ourselves to the problems of the time, nor hide ourselves, as Jews, in face of them; they must not be something that goes on outside our Judaism, in another sphere. We are Jews also for the sake of humanity; we should be there, quite especially in this world after the war; we have our questions to raise and have to give our answer. To rouse the conscience of humanity could here be our best title-deed. Surely we will then often have to speak a No to much that happens on earth and that rules on earth, to speak a No for the sake of our great Yes, of our great demand. We shall often have to accuse, for the sake of justice, of love, 68

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for the sake of the promise; say No and accuse, because we are what we are and should be, the Lord’s most loyal opposition on earth, the steadfast and stubborn for God’s sake. But in order to be capable of this we must possess our firm Jewish standpoint, our firm Jewish place. That we must not give up, that we must not yield also for the sake of humanity. We must not look at, or try to understand our Judaism from the point of view of Europe or America or Asia, not even only from the point of view of our Palestine. No, on the contrary, we shall learn to understand Europe, America, Asia and everything else, and above all Palestine, from the standpoint of our Judaism, from our Jewish point of view. And we must know, we must bear clearly in our mind that the Jewish standpoint has been created by a great history, the greatest perhaps on earth, the history of a revelation and of a spirit; it is not of today, nor of yesterday or the day before; it is not conditioned by the ever-changing days. The Jewish standpoint has grown to be what it is through the centuries and the millenia. It has its historic foundation, it rests on a tradition. Surely there can be no tradition without conviction, but neither is there here conviction without tradition. We must not lose the ground under our feet, just as we must not lose the outlook before our eyes. Tradition should not be a mere word for us. Jewish tradition stands on sacred soil; we must approach its gates with reverence and should have understanding also for the discipline and even for the ascetic traits that are interwoven with it; we should have understanding even – if one may use this expression – for its dishevelled distinction. Understanding and reverence – these are of the very essence of Progressive Judaism. For holding our ground and gaining our outlook two things may grant us clear insight; two things, both old, thousands of years old; one that remained through all the changes of the ages and is thus familiar to our thoughts, the other unknown to many, and to many who do know it, like »far off, forgotten things and battles long ago.« The first thing is Jewish learning. The sources and founts of Jewish learning have been destroyed on the European Continent. Libraries, treasure-houses of the mind, were demolished or scattered. It is a great consolation, of that old consolation, that the Holy One sends healing previous to malady; it is a great consolation to see how in America the activity of Jewish learning has gained in width and vigour, sprouting ever new branches, and how in the Holy Land, above all in the University of Jerusalem, our learning has sunk new roots and has grown. We all are thankful for it and proud of it. But no field of the Jewish community, if there is to be true Jewish life within 69

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it, can be without the life of Jewish learning, for it cannot be without the spirit of Judaism, and the spirit of Judaism was always, and is today, all the more dependent on Jewish learning and knowledge. The spirit rises and falls, as this learning rises or falls. Jewish science has for generations been a pride of Liberal Judaism. Here our genuine task is set before us. Here we shall always find our ground on which to stand safely. And that other thing, that old, but interrupted and forgotten thing – we can hardly speak of it without hesitation, but it is the hesitation in which conviction opens its eyes. There was a time when the ideas of Judaism, and as their bearers, men of Judaism, went out towards North and South and East and West, and when East and West and North and South met. There was a time when the great Prophet could speak of – and we repeat the words at the conclusion of any day of fast and self-examination – »the sons of the stranger that have joined themselves to the Lord to serve him,« that time when around the Jewish people there was the orbit of the »God-fearing« – so they were called – of all nations, and when the Psalm, after its words : »O Israel, trust thou in the Lord –, O house of Aaron, trust in the Lord,« addressed those too and addressed them with like words: »Ye, that fear the Lord, trust in the Lord: he is their help and their shield.« Thus had it been in those days; but then there came the time of grave distress and in its fetters all this was first cramped and then came to an end. The time which made an end to it, was the time in which that epoch commenced that in our days itself appears to have come to an end. We are again living in other days. Twilight hovers over the earth. Does it mean sunset or dawn? We believe in the dawn of light, in the dawn of our light. We should begin again, take up again what was interrupted. We shall ourselves grow stronger in giving to others; »the Ark of the Covenant will bear those who bear it.« We shall see clearer in showing others. We shall gain the wider outlook in striving to guide others. Before Judaism and, above all, before Progressive Judaism there stands the task. The question is raised; we have to give the answer. New days lie before us. However they may turn out, they will be different from those through which our years have passed. New forces have entered the world. A new economy and a new science have conquered its roads. We do not overlook them nor do we fear them. Our Judaism has its courage and its horizon. We do not oppose any economy nor oppose any science, save in that they forget the human being, save that they disregard the commandment regarding man. We do not oppose them as long as they do not dispossess mor70

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ality, as long as they would not have the depths of religion sealed. We know what history has spoken to us and what we have to say. We fight the Jewish fight, this fight for the world of men, the world of God’s children, fight for it with the strength of what is ours. Therefore we must be Jews, must hold the ground, must keep the way, must widen the outlook. That is our task in the post-war world, the task of Progressive Judaism.

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Der in der Zeit vom 18. bis 26. August 1947 – nur zwei Jahre, nachdem Baeck aus dem KZ Theresienstadt lebend herausgekommen war – vor der Eranos-Gesellschaft in Ascona, Italien, gehaltene Vortrag handelt nicht zufällig über das Thema »Individuum Ineffabile«, d. h. die unaussprechliche Besonderheit und Einmaligkeit menschlicher Individualität, und ist Baecks Bekenntnis zum jüdischen Volk und darin zugleich zum Menschen und zur menschlichen Individualität, zu jedem Menschen als Individuum, nach der Schoa. Baeck schließt seinen Aufsatz mit der grundlegenden, auch in seinem Maimonides-Aufsatz (1954) entfalteten These, daß das letzte alles anthropologischen »Wissens und das erste aller Religion … das Geheimnis« ist. Ein Weg des anthropologischen Wissens steigt auf zum Geheimnis – das ist der induktive Weg, den Baeck in seinem Aufsatz Individuum Ineffabile in dem ersten Teil verfolgt. Und ein Weg des Geheimnisses führt zum Wissen – das ist der Weg, wie ihn Baeck von der Offenbarung und jüdischen Existenz her in dem zweiten Teil seines Aufsatzes geht. Der erste Teil des Aufsatzes weist einen Weg von der Individualität über das Gesamtsystem aller Individualitäten, über die Individualität als ethische Aufgabe bis hin zu Gott als Grund sowohl der Individualität des Menschen (Gott als Ich allen Ichs), als Grund des offenen Gesamtsystems der Welt (Gott als Schöpfer) und als Geber des Gebotes *

Der Aufsatz ist zunächst im Eranos-Jahrbuch 1947, Bd. XV, im Jahre 1948 erschienen, zusammen mit Vorträgen von Adolf Portmann, Das Ursprungsproblem; Karl Kerényi, Urmensch und Mysterium; Karl Ludwig Schmidt, Homo Imago Dei im Alten und Neuen Testament, und Louis Massignon, L’homme parfait en Islam et son originalité eschatologique. Baecks Aufsatz ist sodann erneut im Jahre 1966 in der Herder-Bücherei unter dem Gesamttitel »Gibt es Grenzen der Naturforschung?« mit einer Einführung von Walter Strolz nochmals abgedruckt.

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(Gott als Ursprung des Sittengesetzes). Gott steht also über aller Spaltung und Spannung: Gott ist in diesem Sinn der eine schaffende und gebietende Gott. Gott wird von Baeck als die Einheit von »Naturgesetz und Sittengesetz« verstanden. Der zweite Teil des Aufsatzes entfaltet die Polarität und Spannung von Individualität und Erbe, die sich im Bereich der Geschichte vollzieht und die zielhaft nun nicht nur auf den schaffenden und gebietenden, sondern auch auf den »befreienden und erlösenden Gott« verweist. Vollendung und Ziel ist dabei die Integration des Ethischen (aus den Spannungen der Individualität) und des Schöpferischen (aus den Spannungen des Erbes) in das Religiöse, in dem also Ethisches und Schöpferisches, Individualität und Geschichtliches ihre Einheit und Mitte finden. Indem die Propheten die ethische Individualität einerseits und »Geburt und Erbe« andererseits auf Gott als den Ursprung bezogen haben, stießen sie in den Bereich des echten Geheimnisses vor: »Das letzte allen Wissens und das erste aller Religion ist das Geheimnis«. »Ein Weg des Wissens geht so zum Geheimnis« (induktiv) und »ein Weg vom Geheimnis zum Wissen« (deduktiv), wobei sich die Integration in der Einheit von Gebet und Gebot dokumentiert. Die Ebene der Individualität, die Ebene des Schöpferischen und Künstlerischen und die Ebene der Religion werden so von Baeck unterschieden, zugleich aber aufeinander bezogen und zielhaft sowie ursprunghaft begründet in dem »schaffenden, gebietenden, befreienden und erlösenden Gott«. Da sich in dieser Integration das Wesen des Judentums anthropologisch spiegelt, kann es von anderer religiöser Erfahrung unterschieden werden. Individuum Ineffabile ist Baecks Protest gegen die im KZ erfolgte Erniedrigung des Menschen zur bloßen Nummer, unter die auch Baeck selbst als Individuum unter Verlust aller Individualität gezählt und gerechnet wurde. Diesen gezählten, numerierten und ausgelöschten Menschen der KZs stellt Baeck den unauslöschlichen Menschen und dessen Geheimnis im Gott Israels, dem Schöpfer der Welt und des Menschen, gegenüber. Nur zwei Jahre nach der Schoa vorgetragen, ist Individuum Ineffabile deshalb »eine letzte und große Apologie des Menschen inmitten der Ruinen einer Welt, die jetzt daran zweifelte, ob der Mensch überhaupt fähig sei, mehr als Ruinen zu schaffen« (A. H. Friedlander). Individuum Ineffabile ist die Öffnung des Menschen für sein Geheimnis in Gott. Da es aber die eigentliche Aufgabe des jüdischen Volkes ist, diese Öffnung offenzuhalten, muß Individuum Ineffabile als die in das Allgemein-Anthropologische übersetzte Erfahrung unverwechselbarer jü73

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discher Existenz verstanden, noch genauer: als die im Allgemein-Anthropologischen aufweisbare »Analogie« und Entsprechung jüdischen Erbes und jüdischen Leidens gedeutet werden. Individuum Ineffabile ist nicht nur ein leidenschaftliches Plädoyer für das Geheimnis menschlicher Individualität und damit jedes Menschen nach der Schoa, sondern auch ein kritischer Maßstab für die unantastbare Würde des Menschen im Zeitalter von Gentechnologie und Stammzellenforschung. Baecks Vortrag hat damit nicht nur eine Relevanz für die Zeit des 20., sondern auch eine aktuelle Brisanz für die Zeit des 21. Jahrhunderts. Individuum Ineffabile als eindrückliches Plädoyer für die einmalige und unaussprechliche, nicht wiederholbare und wissenschaftlich nicht verobjektivierbare menschliche Individualität will mit der religiösen Fundierung jeder menschlichen Individualität in dem unverfügbaren Geheimnis Gottes sagen: Gott klont nicht!

I. Die Individualität, das heißt: die Einmaligkeit einer Existenz, eine Existenz also, die nur so, wie sie ist, sein kann und nicht anders, die daher nicht bloß die Wiederholung einer anderen Existenz ist, noch in einer anderen Existenz sich ganz wiederholt, diese Individualität ist die Form, in der alles Leben, wenigstens für uns Menschen auf diesem Planeten, erscheint. Wir kennen keine andere Art, in der Leben sich uns darbietet; es gibt nur eine individuelle Existenz. Was immer im Bereiche unserer Erfahrung lebt, lebt als Individualität, lebt dadurch, daß es Individualität ist. Lebensform – alles Leben stellt sich uns in einer bestimmten Form dar – und Individualität sind gleich bedeutend. Lebensform fängt dort an, wo Individualität, diese bestimmte Individualität, da ist; Lebensform setzt sich fort, wo auf irgendeine Weise aus dieser bestimmten Individualität eine andere Individualität, die nicht minder einmalig bestimmt ist, hervorkommt, und eine Lebensform hört auf, wo eine Individualität, diese bestimmte Individualität, zu existieren aufhört. Es ist ein sehr triviales Beispiel, aber man sollte es sich immer neu vergegenwärtigen: wir haben noch niemals einen Baum gesehen, sondern nur diese individuelle Kiefer oder diese individuelle Buche. Wir sollten uns durch die Sprache nicht verführen lassen. Man könnte dieses selbe auch so ausdrücken: Existenz, Existenzform, ist als solche eine Einheit, ein Unteilbares, ein Eines, das vor seinen Teilen ist und mehr als seine Teile ist. Nichts, was existiert, hat seine Existenz daher, daß es zusammengesetzt worden ist – nur 74

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das vom Werkzeug Hergestellte wird durch Zusammensetzung hergestellt. Die Harmonie ist kraft der Individualität da, nicht aber die Individualität vermöge der Harmonie, vermöge eines Parallelismus, einer Korrespondenz. Stoff und Kraft, Körperliches und Seelisches, diese alten Grundworte der Physik und der Anthropologie, sind gegenüber der Welt unserer Erfahrung nur behelfsmäßige Begriffe, sie bezeichnen keine Lebensform, keine Lebenstatsache für sich. Sie sind Lebenstatsache erst an dem Individuum, durch das Individuum; erst in seiner Einheit treten sie ins Dasein. In dem Individuum gewinnen sie eine Wirklichkeit, eine Ausdrucksform, eine Erfahrungsbedeutung. In unserer Welt ist so Individualität die Gegebenheit, ja die einzige Gegebenheit und Wirklichkeit, man könnte sagen: das einzige a priori. Sie ist das, was hier allem Existierenden als seine Erscheinungsform zugehört, ihnen allen uneingeschränkt und nicht etwa bloß höheren Lebenswesen; sie kommt allen zu, von den Gestirnen bis zu den Atomen, vom Menschen bis zum Kristall. Das Gesamte der Existenz, zu dem unser Blick hingelangt, bietet sich als die unendliche Fülle und Reihe der Individualität dar. Einer weitdringenden Schau von dem umfassendsten, fernsten Jenseits her, der Schau eines »Laplaceschen Geistes« würde alle diese Existenz wie eine gewaltige Milchstraße von Individualitäten, von Einheiten erscheinen. Alles, was existiert, ist daher in dieser seiner Existenzform, dieser seiner Individualität bestimmt; es ist in sich selbst bestimmt. Es ist seine eigene Tatsache; es ist nur sich selber gleich und keinem anderen gleich. Es kann mit anderen verglichen werden, mit anderen durch Logik und Sprache in einen höheren Begriff, in einen Gattungsbegriff hineingestellt werden, aber es kann in dem, was es selber ist, nicht durch anderes erklärt sein. Es kann nicht definiert, sondern nur konstatiert werden. Es ist da; so, wie es ist, ist es da. Wie das alte Wort sagt: individuum est ineffabile. Wenn unsere religiöse Sprache diesem Tatsächlichen ihr Wort geben wollte, so sagte sie: Alles, was lebt, ist Kreatur; es kann seinen Ursprung, den Ursprung der Individualität, nur in einem Schöpferischen, einem Schöpfungsakt haben. Oder wie ein Satz des Talmud dies ausdrückt: »Der Mensch prägt mit einem und demselben Prägstock die vielen gleichen Münzen; Gottes, des Einen, Schöpfung ist es, daß jede seiner Münzen, jedes seiner Geschöpfe von einem eigenen, immer wieder von einem neuen und besonderen Prägstock hervorkommt.« Was geschaffen wird, und nur das, ist Einmaliges. Durch dieses Gleichnis ist hier in der Tat das Wesentliche ausgesprochen. Die Individualität, die Einmaligkeit bezeichnet den ent75

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scheidenden Unterschied zwischen dem Existierenden und dem Hergestellten, der Kreatur und dem Fabrikat, den ganzen Gegensatz zwischen ihnen. Schaffen heißt: Individualität schaffen. Nur das Schöpferische vermag es, das Individuelle ins Leben zu führen, damit es »fruchtbar« sei, damit es Existenz sei und Existenz von ihm ausgehe. Gottes Attribut ist, daß er der Schöpfer ist: Deus creator. Des Menschen Eigenschaft ist, daß er das herstellende Werkzeug hat: homo faber. Nur wenn im Menschen das Genie erwacht, gleichsam der Schöpfer durch ihn spricht, daß also sich ganz ausdrückt, was der Mensch kraft seiner Individualität ist – und nicht vor allem oder bloß sein Werkzeug sich betätigt, daß also nur, was er hat, und worüber er verfügt, das Bestimmende wird –, dann tritt in den Menschen, im engeren oder weiteren Zugang, das Schöpferische ein. Hier hat die große Symbolik vom Ebenbilde Gottes ihren Raum. Wenn es sich so darstellt, daß alles, was existiert, als Individualität existiert und nur darin, daß es Individualität ist, existieren kann, so ist damit jedoch nur ein Erstes gegeben. Dieses Erste erhält seine ganze Bedeutung dann, wenn zugleich ein anderes erkannt wird. In der Welt, von der unsere Erkenntnis umschlossen ist, gibt es keine Individualität, welche Individualität nur für sich, nur »Monade« wäre. Es gibt kein Atom für sich und kein Gestirn für sich. Es gibt hier Individualität, Lebensform nur in der Form des Systems. Alle konkrete, nicht nur abstrahierte Individualität, tritt uns in unserer Welt als Gefüge, als Komposition, d. h. als Einheit, welche Ganzheit ist, als System eben entgegen, als physikalisches, chemisches, astronomisches, biologisches System. Alles Vordringen zu den Innerheiten und zu den Weiten der Natur besteht darin, daß Systeme neu erkannt werden. Es gibt nur, wie immer wir es nennen mögen: das Individualitätssystem oder die Systemsindividualität. Einheit existiert nur als Ganzheit. Hiermit ist zugleich ein anderes ausgesprochen. Jede Individualität, da sie nur in der Form des Systems existiert, existiert kraft der Tatsache und Dynamik – jede Tatsache des Lebens ist eine Dynamik – eines Gesetzes. Ein System ist Wirklichkeit, ist Individualität, ist Einheit und Ganzheit, nur wo und nur weil ein Gesetz ist, und Gesetz tritt in die Wirklichkeit, nur wo und weil ein System ist. System ist System durch ein Gesetz, und Gesetz ist Gesetz in einem System. Gesetz, Einheit bezeichnet ein Kontinuierliches im Diskontinuierlichen, und System, Ganzheit weist auf ein Diskontinuierliches im Kontinuierlichen hin. Individualität, System, Gesetz sind so nur die verschiedenen Benennungen für diese Einheit und Ganzheit, welche die Form ist, in 76

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der alle Existenz erscheint. Nur begrifflich können diese beiden, System und Gesetz, geschieden werden, ganz wie sie beide von der Individualität nur begrifflich gesondert sein können. Man könnte, in der Linie mittelalterlicher Sprachführung, sagen, Individua sunt universalia, universalia sunt individua; hier ist kein Primäres und Sekundäres, kein Vorher und Nachher. Überall, wo Existenz ist, ist Individualität; wo Individualität ist, ist System; wo System ist, ist Gesetz. Weil Individualität nur als System existiert, Einheit nur als Ganzheit da ist und Ganzheit nur kraft des Gesetzes, und weil es im Wesen der Ganzheit liegt, daß sie Gesamtganzheit sei, im Wesen des Systems, daß es Gesamtsystem sei, weil es im Wesen des Gesetzes liegt, daß es überall und immer seine Geltung habe, daß es alles einbeziehe, gleichsam unendlich und ewig sei, so führt jeder Versuch, Individualitäten und Systeme zu denken, dazu, sie zusammenzudenken, dazu also, daß alles Nebeneinander in ein Umfassenderes eintritt, alle Diskontinuität sich immer wieder in eine umschließende Kontinuität einfügt, jede Welt sich in eine höhere Welt einordnet, in der vielleicht das, was in der unteren Welt sich nur als Abstraktion, nur als Begriff darstellt, als eine Existenz, als ein Wirkliches schaffend wirken mag. Dieses Denken drängt dann schließlich dazu hin, daß alle Individualitäten, alle Systeme, alle Gesetze beschlossen sind und ihre Einheit und Ganzheit finden in einer letzten, oder von ihr aus gesehen, ersten Ganzheit und Einheit, einem letzten, ersten System, einem letzten, ersten Gesetz, einer letzten, ersten Individualität, einer letzten, ersten Kontinuität, einem n ka½ p”n, in dem alle Existenz ihre eigentliche Existenz hat, alle Lebensform ihre Grundform und damit ihre Gesamtform findet. Es ist das, was sich in der Sphäre der Religion als der Pantheismus darstellt, in der Sphäre der Metaphysik als Pankosmismus, mit ihren mannigfaltigen, bald mehr theoretischen, bald mehr künstlerischen Bildungen. Pantheismus, Pankosmismus – zwischen beiden ist ja nur ein Akzentunterschied – hat seinen Sinn, seine Richtigkeit, wenn er nur nicht bei sich stehen bleibt, nicht das Endgültige sein will. Er wird oft ein Durchgangsweg, ein vielleicht notwendiger, zum Monotheismus. Was er ist und was er noch nicht ist, kann uns, um hier wieder auf ein wenig bekanntes Feld alter Erkenntnis hinzuweisen, ein Satz aus dem Talmud verdeutlichen. Dieser Satz sagt: »Gott ist die Stätte der Welt, aber die Welt ist nicht seine Stätte« – doch diese Übersetzung ist nur erst eine vorläufige. Denn die zwei sich hier wiederholenden Worte sind eigentlich unübersetzbar. Das erstere, das hebräische Wort »makom«, das hier vorerst mit »Stätte« wieder77

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gegeben wurde, bezeichnet zugleich und ebenso das, was unsere Worte »Bestand«, »Existenz«, »Gegebenheit« meinen. Und das andere Wort, das zunächst mit »Welt« wiedergegeben wurde, »olam«, bezeichnet ebensosehr, und ursprünglich, die Ewigkeit; es bezeichnet in einem die Unendlichkeit des Raumes und die Unendlichkeit der Zeit. Man könnte am ehesten noch diesen Satz übersetzen: »Gott, der Eine, ist die Existenz aller Unendlichkeit, aber alle Unendlichkeit ist nicht seine Existenz«, d. h. er gibt dem Ganzen, der Unendlichkeit ihre Einheit, aber all die Unendlichkeit gibt ihm noch nicht seine Einheit. Sie hat die Kontinuität in ihm, aber er nicht in ihr; sie ist in ihm, aber er nicht in ihr. Pantheismus und Pankosmismus kennen nur die erste Hälfte dieses Satzes. Doch die begonnene Linie soll im Gebiete der Erfahrung fortgeführt werden. In der Existenz, wenigstens auf unserem Planeten, tritt zu der Tatsache der Individualität und der des Systems eine dritte Tatsache hinzu. Es ist die Tatsache, daß hier die Gesamtreihe der Existenz gewisse Abschnitte, gewisse Zäsuren aufweist. Es gibt Existenzformen, von denen die eine, innerhalb der Gesamtexistenz, den einen Individualitäten und Systemen zukommt und den anderen nicht, Existenzformen, in denen nicht nur die individuelle Besonderheit, sondern ein bestimmender Unterschied sich darstellt. Dieser Unterschied gehört nicht nur einigen hier oder dort zu, sondern den einen und den anderen, und er tritt auch erst an einer bestimmten Stelle der Gesamtexistenz hervor. Ein Dualismus tritt in die Erscheinung. Hinzu kommt ein Weiteres. Diese Formen sind unterschieden, aber sie sind zugleich aufeinander bezogen. Die Individualität, das System, das Gesetz ist jetzt durch diese Bezogenheit gekennzeichnet. Es gibt hier nicht bloß eine Existenz an sich, sondern die bezogene Existenz, das bezogene Gesetz und System. Und diese Bezogenheit ist eben eine existente, eine dynamische also, sie ist eine Polarität, eine Spannung. Es ist ein Auseinander und doch zugleich ein Zueinander, ein Zueinander und doch zugleich ein Auseinander. Die entgegengesetzten Existenzformen gehören zusammen; die Existenz ist eine Spannungsexistenz, die Individualität eine Spannungsindividualität. Attraktion und Repulsion bestimmen die Existenz, die Individualität. Ebenso wie Gesetz und System ist jetzt Spannung die Lebensform, die Form der Einheit und Ganzheit. Das Gebiet der Physik zeigt uns seine eigentümlichen Polaritätsgesetze und -systeme, und in einer gleichen Weise tritt es uns im Gebiete des Biologischen entgegen. Hier ist es die Polarität des Männlichen und Weiblichen. Alle Existenz, alle Individualität ist hier, 78

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abgesehen von einem engen Bezirk, wo sie in e i n e r Existenz männlich und weiblich ist, durchgehend entweder die männliche oder die weibliche. Es gibt hier männliche oder weibliche Individuen, Vater- oder Mutterindividuen, die Existenzform ist durch diese Spannung bestimmt. Das, was die eine Individualität ausmacht, stellt sie damit zugleich in Beziehung und Gegensatz zu der andern Individualität. Wenn man es anthropologisch ausdrücken wollte, so könnte man sagen: das Schicksal tritt hier in die Existenz ein, das Mann- und Weib-Schicksal, das Vater- und Mutter-Schicksal – dieses fatum, dieses destinatum originale. Die Individualität wird eine dualistische, eine schicksalhafte. Geschichtlich gesehen hat aller Schicksalsgedanke in einem Dualismus seine Wurzel. Wo innerhalb des Gesamtsystems diese Sonderung des Männlichen und Weiblichen tatsächlich beginnt und wie weit sie reicht, ob sie überhaupt irgendwo erst einsetzt und nicht vielmehr, vielleicht ganz wie Individualität, die Form der Existenz ist, das ist eine Frage, die über die Grenzen unserer Erfahrung überhaupt hinausführt oder noch hinausführt. In den Jahrhunderten des ausgehenden Altertums, in denen die Anthropologie gern den Kreis der Erfahrung übersprang und ihre Erfahrungen gern auch ins Kosmische übertrug, hatte man auch diese Frage mit Antworten ausstatten zu können gemeint. Nach zwei Richtungen hatte man es so unternommen. Man hatte die Lehre von den Syzygien aufgestellt, diese Lehre, daß alle kosmischen Kräfte entweder männlich oder weiblich seien, und man hatte vielfach damit alten Göttermythen ihr Recht geben wollen. Selbst in dem Bezirk jüdischen Denkens, dem diese Mythen immer fremd und fern blieben – die Sprache hat hier nicht einmal ein Wort für »Göttin« –, drang die Lehre von den Syzygien gelegentlich als Geheimlehre ein. Ein Satz der Mischna, des zeitlich ersten Teiles des Talmud, rät an, man solle »von den Syzygien nicht vor dreien sprechen, von dem, was der Weltschöpfung voranging, nicht vor zweien, und von der Weit der Vision auch vor einem nur dann, wenn er ein Weiser sei, dem gegenüber die Andeutung genüge.« Und die andere Lehre, die anthropologische – sie ist hier und dort in das mystische Denken, selbst in das jüdische gelegentlich, hineingelangt –, war hier dann die, daß die ursprüngliche Existenz des Menschen eine männliche und weibliche, in einem, gewesen und erst in einem späteren Zustand die Sonderung ins Männliche oder Weibliche eingetreten sei. Auch für die Entwicklung der Sprachen – darauf braucht nur hingewiesen zu werden – hat die Tatsache des Männlichen und Weiblichen die besondere Bedeutung noch gewonnen und damit zugleich 79

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für die Entwicklung des Denkens. Denn alle Formung der Sprache ist immer zugleich eine Formung des Denkens, die dann ihrerseits wieder auf die Formung der Sprache weiterwirkt. In der Geschichte des Denkens ist es so charakteristisch geworden, welche Vorstellungen die einzelne Sprache in das männliche und welche sie in das weibliche Geschlecht gewiesen hat, und wann und wo dann hier die Flucht in das Neutrum angetreten worden ist und damit die Flucht auch in das Abstraktum, die nicht selten die Flucht vor der Bestimmtheit des Individuellen ist. Auch hier ist die Sprache nicht selten bald eine Helferin, bald eine Verführerin gewesen. Doch die begonnene Linie der Frage der Individualität soll weiter verfolgt sein. Sie führt wieder zu einer Zäsur, und auch diese wiederum bedeutet eine Spannung. Diese neue Form der Spannung tritt uns, sofern es zu erkennen möglich ist, erst mit dem menschlichen Bereiche entgegen. Sie ist die Lebensform des Menschen, gewissermaßen sein attributum originale. Das Neue ist, daß in ihr eine besondere Lebensform, die, welche das seelische Leben genannt wird, sich darstellt und gestaltet. Die seelische Individualität, das seelische System und Gesetz, die seelische Dynamik tritt uns hier entgegen; zum Biologischen kommt das Psychologische hinzu. Die Form, das System, das Gesetz der Existenz und ihrer männlich-weiblichen Spannung ist hier immer zugleich Form, System, Gesetz einer seelischen Spannung. Sie ist die Spannung, die damit gegeben ist, daß hier die Bewußtheit in die Existenz, in die Individualität eintritt. Die Bewußtheit ist das eigentümlich Menschliche. Das Individuum beginnt hier, sich mit sich selber, mit sich als Individuum, zu befassen, es beginnt, über sich selber nachzudenken; es wird seiner selbst, als dieses Individuums, bewußt. Damit, daß der Mensch über sich nachdenkt – alles Denken geht auf ein Denken über sich selbst zurück – ist er für sich selbst, in sich selbst zugleich Subjekt und Objekt; die Individualität ist hier Subjekt-Objekt-Individualität. Der Mensch steht sich selbst gegenüber; er tritt in die Spannung zu sich selber. Diese Spannung ist nicht, wie im Männlich-Weiblichen, die zwischen zwei Individuen, zwei Systemen, zwei Gesetzen, sondern sie ist die Spannung, in der das Individuum zu und gegen sich selber gekehrt ist. Die Attraktion und Repulsion sind nicht, wie dort, die von einem Individuum zum andern hin, und vom andern fort, sondern sie vollziehen sich im Individuum selbst; das Individuum ist für sich selbst und in sich selbst das Angezogene oder Abgestoßene. Auch die Spannung des Männlich-Weiblichen wird hier durch diese Spannung des Individuums zu sich selber mitbestimmt. 80

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Diese Spannung zu sich selbst, die, weil sie eben Spannung zu sich selbst ist, zur Spaltung werden kann, bestimmt und charakterisiert hier die Existenz. Auch diese Spannung ist, wie die des MännlichWeiblichen, nicht eine stetige, eine immer wirksame, sie ist eine dem Gesetz, dem System innewohnende, eine Potentialenergie. Vermöge ihrer ist das Leben, potentiell, ein zweifaches, so daß es ein gespaltenes auch sein kann: ein Leben und ein Bewußtsein vom Leben oder, was dasselbe meint, ein Leben im Unbewußten und Unterbewußten und ein Leben im Bewußten. Das eine ruht auf dem anderen, und es können Schwergewichtsveränderungen, Verlagerungen eintreten. Das eine steht bei dem anderen, es kann sich gegen das andere wenden, und es könnten Verdrängungen oder Steigerungen eintreten. In die Einheit und Ganzheit, in ihr System und ihr Gesetz, tritt die Spannung und tritt, potentiell, die Spaltung. Das Menschentum, die Existenzform nach jener Zäsur, ist dadurch gekennzeichnet. In die Individualität, in die Einheit und Ganzheit sind die Kräfte hier gelegt, die sich gegen die Individualität, gegen die Einheit und Ganzheit kehren. Die Existenz wird Spannungs- und Spaltungsexistenz. Darin, daß der Mensch so gegen sich selbst gestellt ist, sich selbst gegenübertritt, entsteht und entwickelt sich der Intellekt, der Verstand. Der Intellekt ist die Folge und der Ausdruck dieser Spannung, dieser potentiellen Spannung, in der das Subjekt für sich selber zum Objekt wird. Er ist die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst. Durch ihn tritt in das Leben und gegen das Leben, und damit auch gegen seine Dynamik, gegen diesen Willen zum Leben, nun das Denken über das Leben, die Vorstellung vom Leben. Das Leben sondert und spaltet sich in das existierende und das gedachte, das vorgestellte. Und ebenso wird die Außenwelt, die Welt des weiteren Systems, dem das System des Menschen eingeordnet ist, durch den Menschen gesondert und gespalten: sie ist die existierende und ist die gedachte, die vorgestellte Außenwelt. Die Unmittelbarkeit, mit der das Individuum in dem weiteren System steht, mit der es die Außenwelt in sich aufnimmt, diese Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit der Existenz inmitten einer umfassenderen Existenz, dieser Rhythmus der Attraktion und Repulsion, auch das alles ist nun beeinträchtigt und gestört. Die Unsicherheit und der Irrtum, die Ungewißheit und der Zweifel sind nun in die Existenz, in die Einheit und Ganzheit hineingestellt. Bis dahin war das Verhältnis des Individualitätssystems zu dem umfassenden Außensystem das des Instinktes gewesen. In der Be81

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wußtheit, die den Menschen charakterisiert, ist der Instinkt, diese unmittelbare Reaktion auf die Außenwelt, gestört, beeinträchtigt und zurückgedrängt; er hat einen gewissen Raum nur noch im Unterbewußten – wobei es eine Frage für sich ist, ob und wieweit hier ein Unterschied zwischen der männlichen und der weiblichen Existenzform vorhanden sein mag. An die Stelle des Instinktes tritt nun die Frage, diese Unterbrechung des Rhythmus, diese Einschaltung in den Ablauf des Gesetzes, in seine unmittelbare Antwort. Die Frage tritt vor die Antwort wie auch hinter sie; ein unmittelbarer Ablauf ist gehemmt. Wie die alten Worte, voll unausschöpfbarer Symbolik, sagen: »Die Schlange war klüger als alles Lebende der Flur, das der ewige Gott gemacht hatte, und sie sagte zur Frau: hat Gott denn wirklich gesagt!« Und das andere Wort dann: »und sie erkannten, daß sie nackt waren«, wobei in einer Symbolik vielleicht auch das steht, daß das Wort »nackt« in dieser alten Sprache ganz in der Klangnähe des Wortes für »klug« und »wissend« ist. Erst der Mensch fragt so – daß Tier sucht oder bittet nur, sucht oder bittet mit dem Instinkt, wofern nicht durch eine Dressur sein suchender Instinkt oder sein bittender Trieb gestört ist; es ist charakteristisch, daß in vielen Sprachen dasselbe Wort, vielleicht in einer Entwicklung, das Suchen, das Bitten und das Fragen benennt. Und auch alle Frage ist zuerst Frage an sich selbst, und die eine Frage hat die vielen, die vielleicht entgegengesetzten Antworten. In diesen Fragen an sich selbst, in diesem Widerspruch der Antworten ist die Einheit und Ganzheit der Existenz, ist die Individualität gestört, und sie kann selbst zerstört werden. Die eigene Existenz und ihre Beziehung zur Außenwelt können bejaht, bezweifelt und verneint werden. Wie die Spannung zur Spaltung werden konnte, so kann die Spaltung zur völligen Verneinung, zur Verwerfung werden. In der Selbsttötung oder im Selbstmord bedrängt und vernichtet das Individuum, die Existenzform als Subjekt, sich selbst, die Existenzform, das Individuum als Objekt – die Geisteskrankheiten sind in gewissem Sinne ein Versuch oder eine Art von Selbsttötung. Die Individualität als Subjekt hat durch den Intellekt sich, wie immer man es nennen mag, als Ich, als Selbst, als autonomen denkenden Willen etabliert und hat sich gegen sich selbst, gegen seine objektive Existenz gewendet. Erst der Mensch ist dieser Spaltung fähig, ihr ausgesetzt. Hiermit tritt in die Existenzform, in die Individualität ein Besonderes zugleich ein: das Problem, d. h. das, was in uns und doch zugleich vor uns ist, was erst zu lösen, zu erfüllen, zu verwirklichen oder zu verneinen oder zurückzudrängen ist. Die Tatsache ist hier zugleich Problem. Menschliche Existenzform ist Existenzproblem, mensch82

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liche Individualität zugleich Individualitätsproblem, Gesetz hier zugleich Gesetzproblem. Existenz, Individualität, Gesetz sind hier Wirklichkeit und sind doch erst wirklich zu machen oder zu verwerfen. Problem ist anders und mehr, als die Spannung war: es ist die Bewußtheit der Spannung, die Vorstellung von ihr, das Denken, das an ihr zerrt und sie bewegt. Im Problem wird so auch der Gegensatz zu jener Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, die die Existenzform bis zu dieser Zäsur bestimmten, dem Menschen bewußt und wird ihm darin zur Frage. Alle Sehnsucht, »zur Natur zurückzukehren«, ist Sehnsucht danach, dem Problem als solchem zu entgehen, der Zäsur, der besonderen Existenzform, in der das Problem aufwächst, auszuweichen, um ihm enthoben zu sein. Es ist, wenn wieder eines jener alten Worte voller Symbolik sprechen darf, die Sehnsucht des Menschen, in den Garten Eden, aus dem er vertrieben worden war, zurückzukehren. Auch die Spannung des MännlichWeiblichen wird hier Bewußtheit und damit Problem. Das Verlangen, das sich in der Menschheitsgeschichte bisweilen geregt hat und besonders in der Welt der Gnosis zu manch irrer Askese führte, das Verlangen, die männlich-weibliche Spannung aus der Sphäre des Menschlichen auszuschließen, ist auch durch das Verlangen geweckt worden, dem Problem, das aus der Bewußtheit dieser Spannung und dieser Spaltung aufwuchs, zu entgehen. Das Problem des Menschen, dieses Problem, das der Mensch durch die Bewußtheit für sich selber wird und aus dem alle die anderen Probleme seines Lebens hervorwachsen, dieses eigentliche menschliche Problem steht hier vor uns und damit die zur Existenz und Individualität des Menschen gehörende Gefährdung. Durch sich selbst, durch die Form seiner Existenz, durch seine Individualität ist der Mensch in die Gefahr gestellt. Und damit tritt die Frage vor uns hin: kann die Spaltung, mit der so die Individualität des Menschen, seine Einheit und Ganzheit immer wieder durch die Bewußtheit bedroht ist, kann diese Gefährdung, wenn sie oder vielleicht auch ehe sie aktuell wird, aufgehoben sein? Kann sie, im wirklichen Sinne dieses Wortes, aufgehoben, das will sagen, in eine höhere Sphäre, in ein höheres System, in ein höheres Gesetz, zu einer höheren Einheit und Ganzheit, emporgehoben werden, und wie kann das verwirklicht sein? Die Antwort ist davon abhängig und darin gegeben, daß erkannt wird, wie zugleich mit der Bewußtheit und in der Korrelation zu ihr ein anderes noch in der menschlichen Existenzform hervortritt. Mit der Bewußtheit, dies muß erkannt werden, ist zugleich die Wahlfreiheit, die Fähigkeit einer Entscheidung über sich selbst, einer Ent83

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scheidung über die eigene Existenz und Individualität in den Menschen hineingelegt. Wie er, als Subjekt, sich, als Objekt, verdrängen oder verneinen kann, so kann er in derselben Weise sich selber bejahen und bestimmen, er kann das eine und kann das andere. Im Menschen ist der Instinkt so zum bewußten Willen geworden und damit zu dem denkenden und wissenden Willen, der ein Bild, eine Idee vor sich hinführen und sich zu einem vorgestellten, gewiesenen oder erkannten Wege entscheiden kann. Zu der Individualität als Existenz tritt die Individualität als Aufgabe und als Ziel hin. Die Individualität, die Existenzform, die Einheit und Ganzheit ist auch hier die geschaffene, die gegebene, aber sie ist zugleich die aufgegebene, die geforderte. Zu dem »ich bin« tritt das »ich soll« hinzu. Der Mensch soll selbst auch ein Schöpfer, gleichsam sein eigener Schöpfer sein, er selbst auch soll seine Individualität, seine Existenzform, seine Einheit und Ganzheit formen, sie gewissermaßen schaffen. Wenn jenes Bild von der Prägung wieder aufgenommen werden darf: Jedem Menschen ist der eigene, besondere Prägstock, mit dem, wie jede Existenz, so die seine zur einmaligen Existenz, zur Individualität geprägt ist, zugleich auch in seine Hand, in sein Denken und Wollen, gelegt, und er kann ihn immer neu zur Hand nehmen, in sein Denken und Wollen aufnehmen, damit er selbst, diese Existenz als Subjekt, sich selbst, diese Existenz als Objekt, zu seiner eigenen Existenzform, zu seiner eigenen Individualität forme und präge. Individualität ist hier nicht nur Tatsache, sondern sie wird verwirklichte Tatsache. Sie ist nicht nur ein a priori, sondern ist zugleich ein Ziel, zu dem ein gewollter Weg hinführt. Existenz ist nicht nur etwas bloß zu Konstatierendes, sondern auch ein zu Erfüllendes. Ein neues Gesetz, ein neues System, das sittliche Gesetz und System tritt hier hervor, dieses Gesetz und System der Freiheit, dieses Gesetz und System psychologischer, ethischer Autonomie, diese Lenkung des Ich durch das Ich, diese Bildung der Individualität durch die Individualität. Und nur, weil die Existenz potentiell eine Spaltungsexistenz ist, die Spannung zur Spaltung werden kann und will, ist die Möglichkeit und ist die Aufgabe dieser Freiheit gegeben; der Spannung und der Spaltung ausweichen wollen, hieße der Freiheit ausweichen. Aber in diesem System, vermöge dieses Gesetzes wird die Spaltung aufgehoben; sie wird, wie gesagt, zu einem höheren Gesetz und System emporgehoben. Freiheit ist aufgehobene Spaltung. In der gegebenen Einheit und Ganzheit bildet sich eine neue oder, was dasselbe meint, eine persönliche Einheit und Ganzheit; durch den Menschen selbst, durch sich selber also bildet sie sich. Es ist ein Schöpferisches, das sich hierin dartut, eine Kraft des 84

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schauenden, hörenden, denkenden Willens, des wollenden Schauens, Hörens, Denkens. Der Trieb ist zur Kraft geworden. Zu dem Gesetz und System tritt der bewußte, sich zum Gesetz und System entscheidende Wille, diese Fähigkeit der Autonomie. Der Weg zu diesem Ziel ist deutlich psychologisch erkennbar. Der Intellekt ist die Fähigkeit der Unterbrechung; der Mensch, als Subjekt, stellt nun gegen sich selbst, als Objekt, Widerstände auf, die ihm zugleich als Wegweiser dienen. Er schafft gegen sich selbst, für sich selbst Resistenzkräfte. Durch die Dressur kann der Mensch ein Ähnliches im Tiere bewirken, und auch im ersten Beginne der Erziehung, in der ersten Lenkung und Leitung, die am Kinde geübt wird, wird ein Ähnliches unternommen. Aber das Charakteristische und Entscheidende ist, daß mit dem Erwachen des Intellekts, d. h. im wesentlichen von der Pubertät an, dieser Zeit, in der die männlichweibliche Spannung bewußt zu werden beginnt, diese Fähigkeit des Menschen, gegen sich selbst Widerstände aufzurichten, lebendig wird und erstarken kann. Der Mensch setzt nun durch sein aktives Gedächtnis ein Bild, eine Idee, eine Forderung, die zuerst andere vor ihn, aber dann, mehr und mehr, er vor sich hingestellt hatte, zwischen Reiz und Handlung, zwischen Trieb und Reaktion, zwischen Motiv und Tat hin. Diese Idee, dieses Bild, diese Forderung wird eine Zwischenschaltung, eine wirksame Resistenz. Die Erinnerung an Geschehnisse, an Folgen eines Getanen, die Vorstellung einer Zukunft, die Vorstellung von »nützlich und schädlich« von »recht und unrecht«, von »gut und böse« schaltet sich ein und bestimmt eine Richtung des Handelns. Eine Widerstandskraft wird wirksam, eine Pause wird bewirkt, eine Unterbrechung, in der ein Bewirkendes, auch ein Autonomes, auch eine Freiheit durchbrechen, eine Entscheidung vollzogen werden kann, eine Entscheidung für oder gegen die autonome Einfügung in ein Gesetz. Die Pause kann eine wirkungsleere und eine wirkungsvolle sein, die Zwischenschaltungen können schwach oder stark, gelegentliche oder stetige sein, sie können bloße Augenblicke des Schwankens und Zögerns auslösen oder zur Bestimmtheit des Prinzips, zur Stetigkeit des Grundsatzes werden, der dem Willen die feste Bahn gibt. Aber immer ist hier die eine Möglichkeit gegeben, die Möglichkeit der Frage, die der Mensch irgendwie hört, woher immer sie kommen mag, oder an sich richtet, und der Antwort, die irgendwie, woher immer, zu ihm gesprochen wird, oder die er sich gibt. Ein Gesetz tritt in dieser Pause vor ihn hin, und diese Pause kann eine schöpferische werden. Ein Gesetz tritt zu ihm hin, in der Form einer Forderung, eines Imperativs, eines Gebotes, und er hat die Pause, die Möglich85

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keit der Entscheidung, durch die er das Gesetz anerkennt und annimmt oder verneint und verwirft. Auch dieses Gesetz hat, wie alles Gesetz, Wirklichkeit im System, und das System hat, wie alles System, Wirklichkeit im Gesetz. Aber es ist zugleich Forderung, die sich an den Menschen richtet. Es besagt das, was ist, und sagt zugleich das, was der Mensch soll. Der Mensch steht wie sich, so dem Gesetze gegenüber, daß er es zum Gesetze seines Lebens mache, daß er selbst sich selbst, seine Existenz ihm einordne und so schöpferisch werde. Es wird für ihn zur Wirklichkeit erst damit, daß es durch ihn zum formenden Gesetze seines Lebens, seiner Individualität wird, und seine Existenz, seine Individualität so in einem höheren, dem sittlichen System durch ein höheres, das sittliche Gesetz ihre Form erhält. Die Individualität wird zur Forderung. Dies ist die Antwort auf die Frage, wie jene Spaltung und die mit ihr gegebene Gefährdung aufgehoben werden kann. Sie wird durch diese Einordnung in das sittliche Gesetz, in das sittliche System aufgehoben, dadurch also aufgehoben, daß auf Grund der Spaltung, aus ihr hervor, eine Freiheit, eine Autonomie erwächst und die Individualität frei, durch sich selbst, geformt wird. Durch die Bewußtheit und die dadurch bewirkte Spaltung war dem Menschen der Instinkt, diese Unmittelbarkeit genommen und die Unsicherheit über ihn verhängt. In dem sittlichen System, durch das sittliche Gesetz, welches da ist, aber nur dann und dort wirksam werden kann, wo die Spaltung ist, gewinnt er die andere, die sittliche Sicherheit, die andere, die sittliche Unmittelbarkeit und Stetigkeit, sozusagen den sittlichen Instinkt. Die gegebene Einheit und Ganzheit hatte sich gespalten, aber vermöge dessen eben vermag er die höhere, die aufgegebene Einheit und Ganzheit zu erlangen. Aus der spaltenden Bewußtheit wird die einende sittliche Bewußtheit. An dem Intellekt hatten sich Welt und Leben gebrochen, und sie brechen sich notwendig weiter an ihm, zur Welt tritt nach wie vor das Denken über die Welt, zum Leben das Denken über das Leben; aber in dem Kraftfeld des sittlichen Gesetzes ist der Intellekt nun sittliche Vernunft. Durch sie kommt das Gebrochene zusammen zur sittlichen Einheit und Ganzheit. Auch hier ist eine zerrende Spannung, aber sie ist die sittliche Spannung, d. h. die zu lösende Spannung, die zwischen der gegebenen, der von der Spaltung bedrohten, Individualität und der aufgegebenen, der zur Einheit und Ganzheit zu machenden Individualität. Aus der, in der Bewußtheit erwachsenden, Befragung und Bezweiflung des Lebens, die zur Verdrängung, zur Verwerfung und zur Tötung des Lebens werden kann, wird durch die sittliche Bewußtheit 86

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jetzt die Beantwortung und Bejahung des Lebens. Alle Spannung in ihrer Bewußtheit und Problematik, auch die männlich-weibliche, wird zur Aufgabe, die gelöst werden soll, und damit wird diese Spannung gelöst. Das »du bist geworden« wird zu dem »du sollst«, die Existenzform, die Individualität wird zum Gebote. Das Leben wird immer neu zur Welt hingestellt, um immer neu in das Gesetz eingeordnet zu werden. Es wird, vermöge der Widerstands- und Planungskraft, immer neu geformt, immer neu in das umfassendere System eingefügt; es wird, wenn es so gesagt werden darf, immer neu geboren. Diese Existenztatsache der Bewußtheit und Spaltung und der aus ihr hervortretenden Verbindung mit einem höheren Gesetz und System ist eine vom und am Menschen erfahrene und beobachtete Tatsache, d. h. sie wird von uns und an uns erfahren und von uns aus an anderen Menschen beobachtet. Es ist eine darüber hinausgehende Frage, ob diese Besonderheit, diese eigentümliche Zäsur erst mit der Individualität, die wir als die menschliche kennen, einsetzt oder ob sie in irgendwelcher Weise schon in anderen Existenzformen vorgebildet ist, ob und inwieweit also hier eine Gesamtentwicklung sich darbietet, ob und wieweit menschliche Bewußtheit einer Gesamtbewußtheit zugehört. Aber diese Frage kann auf dem Wege der Erfahrung und Beobachtung nicht beantwortet werden. Auch die Frage, ob und inwieweit in der erfahrenen menschlichen Bewußtheit sich das Ergebnis einer phylogenetischen und weiter sich vollziehenden menschlichen Entwicklung darstellt, auch das ist eine Frage, die über das Gebiet unserer Erfahrung hinausreicht. Aber eines steht im Bereiche unserer Erfahrung, wenn es auch vielfach über sie hinausgreift. Wir sehen das eine deutlich, daß das sittliche Gesetz, zu dem der Mensch kraft einer Entscheidung, einer Freiheit hingelangt, eben dadurch schon, daß der Mensch zu ihm erst hingelangt, etwas anderes ist und einer anderen Sphäre angehört als das gegebene Gesetz menschlicher Existenz, menschlicher Individualität. Von Natur aus, in seiner gegebenen Existenzform ist der Mensch nicht sittlich, wenigstens noch nicht sittlich, von Natur aus ist er noch nicht selbstlos, gerecht, wahrhaftig, liebevoll. Das Sittliche ist nichts Natürliches, sondern eher, fast möchte man sagen, ein Unnatürliches. Von Natur steht der Mensch »jenseits von gut und böse«. Mit gutem Grund haben daher die Philosophien, die den Menschen als natürliches Wesen nur darstellen wollten, in ihm nur den Egoisten oder das Raubtier – homo homini lupus – erblickt, und alle Ethik konnte hier nur ein Versuch sein, einen Weg aufzuzeigen, wie das Raubtier gezähmt oder seine Grausamkeit in Schranken gehal87

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ten, wie der Egoismus veredelt oder auf nützliche Zwecke hingelenkt werden könne. Wenn Ethik etwas anderes noch, wenn sie mehr sein wollte, hat sie immer das andere, das höhere Gesetz anerkennen müssen. Erst mit dieser Anerkennung dessen, was über der geschaffenen und gegebenen Existenz steht, erst mit dieser Anerkennung eines Reiches der Freiheit, für oder gegen das sich eine menschliche Entscheidung vollzieht, wurde hier die Ethik möglich. Hier ist auch der Weg, auf dem die Ethik von sich aus zur Religion hingelangt und, ohne ihren Begriff der Autonomie, aufzugeben, sich in die Religion einfügt. Und ebenso ist hier auch der Weg, von dem aus die Religion schon im Psychologischen darlegen kann, sowohl was Offenbarung ist wie auch was menschliche Freiheit bedeutet. Im Gebote, so ist es die Erkenntnis der Religion, tritt das, was das Erste und Letzte aller Individualität, was ihr Grund und was ihr Ziel ist, tritt das Ich alles Ichs zum Menschen hin und spricht zu ihm: Du bist, du sollst, du bist Individualität, und du sollst Individualität sein, damit Existenz und Gebot durch dich eines werden. An die menschliche Individualität tritt das Erste und Letzte aller Individualität heran; dieses Eine, in dem alle Individualität ihre erste und letzte Einheit, ihren Grund und ihr Ziel, findet, offenbart sich. Alle Schöpfung ist Schöpfung von Individuellem, und Individuelles reicht in die unendliche Möglichkeit und ist daher ohne Ende. Schöpfung ist Unendlichkeit der Schöpfung, Unendlichkeit der individuellen Existenz, die im Diskontinuierlichen, im Individuellen sich kontinuierlich, ohne Ende fortsetzt. Alle die unendliche Schöpfung geht von dem Einem aus, dem einen Seienden, dem einen Urheber und Prinzip, dem einen Urgrund und Urgesetz. Auch die sittliche Verwirklichung des Individuellen ist ohne Ende, sie ist Unendlichkeit der Aufgabe, Unendlichkeit der Gestaltung, eine Kontinuität des Diskontinuierlichen. Und auch diese Unendlichkeit geht von dem Einen aus, dem einen Seienden; nur aus ihm kann auch dies, dieses Fordernde ohne Ende, hervorkommen. Er ist Urgrund und Prinzip, Urheber und Urgesetz auch alles Gebotes, alles sittlichen Gesetzes. Beides, Naturschöpfung und Gebotsschöpfung, Unendlichkeit sowohl des Individuellen, welches ist, wie auch des Individuellen, welches sein soll, alle diese Unendlichkeit der Möglichkeit – im Wesen des Möglichen liegt es, daß es unendlich ist – geht von dem Einen aus. Man könnte es auch so ausdrücken: Naturgesetz und Sittengesetz, Existenzform als Gegebenheit und Existenzform als Aufgabe, haben den einen Ursprung, und darum sind sie aufeinander bezogen. In der Sprache der Religion würde auch das gesagt werden können: Alle Schöpfung ist Offenbarung, d. h. Eintre88

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ten des Einen, Ewigen in die Individualitäten ohne Ende, und all dieses Eintreten, diese Offenbarung ist eben die Schöpfung; alles das, was ist, wie das, was sein soll, kommt aus dem Einen, Ewigen hervor und bezeugt ihn, und es ist unendlich, eben weil es aus ihm hervorkommt. Das reicht über die Sphäre der menschlichen Existenz hinaus, aber schon in der Sphäre seiner Existenz erfährt und beobachtet es der Mensch deutlich. Er erlebt, stärker oder schwächer, aber doch bestimmt die Spannung, die zur Spaltung werden kann, und er erlebt, stärker oder schwächer, aber doch bestimmt die Einheit, in der die Spaltung sich aufhebt und fruchtbar wird. Es ist, um dem den letzten und entscheidenden Ausdruck hier zu geben, das Problem und die Aufgabe der Autonomie, wodurch die menschliche Existenzform gekennzeichnet ist. In der bewußten Spannung ist die Tatsache und ist die Aufgabe der menschlichen Autonomie gesetzt. Sie ist Tatsache, denn durch seine Bewußtheit ist der Mensch Subjekt zugleich und Objekt: er ist als Objekt sich selber als Subjekt gegenübergestellt, und er nimmt als Subjekt zu sich selber als Objekt Stellung. Er ist ein Autonomes, wenn er zu sich spricht oder zu sich schweigt, zu sich selber Ja oder Nein sagt oder sich ausweicht. Die Tatsache der Bewußtheit ist die Tatsache seiner Autonomie, und jede Tatsache hat dann die Grade ihrer Dynamik, sie kann stark oder schwach sein. Und ebenso ist hier die Aufgabe der Autonomie gesetzt. Dadurch, daß die Bewußtheit sittlich wird, dadurch, daß sie sich mit dem sittlichen Gesetze verbindet, das dem Menschen als potentielle Dynamik innewohnt, dadurch, daß das Individuum als Subjekt das so vernommene »Du sollst« zu sich selbst, zu dem Individuum als Objekt spricht und damit die schöpferische Pause schafft, durch diese sittliche Bewußtheit, durch diese schöpferische Einordnung in das sittliche Gesetz und System, wird die Tatsache der Autonomie zur Aufgabe der Autonomie. Die sittliche Autonomie, die Freiheit wird etwas, was zu verwirklichen ist. Man könnte wieder sagen: es ist die Aufgabe, die Einheit von Naturgesetz und Sittengesetz in der menschlichen Existenzform zur Wirklichkeit zu machen, damit die beiden, wie sie in ihrem Ursprung eins sind, so im menschlichen Leben, durch das menschliche Leben eins werden, sodaß sie in ihrer Spannung, durch ihre Spannung Gesetz e i n e s Systems werden, das Leben mit seiner Spannung System e i n e s Gesetzes wird. Wo Autonomie nur Tatsache bleibt und nicht zur sittlichen Aufgabe wird, bewirkt sie den Dualismus; die Spaltung tritt ein. Der Mensch steht sich nun gegenüber und, wie es die bezeichnenden Ausdrücke der Sprache sind: er kommt nicht zu sich selber und fin89

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det sich selber nicht. Er ist nur erst gegen sich und noch nicht für sich, und er muß vielleicht zunächst gegen sich sein, um für sich sein zu können. Erst im Sittengesetz gelangt er zu seiner Aufgabe und damit zu sich selber, zu seiner einenden Freiheit, zu seiner eigenen Einheit. Die Freiheit, die zunächst die des Negativen, Freiheit in der Spaltung war, ist nun zur positiven Freiheit, zur Freiheit in der Einung geworden. Diese Freiheit ist die der Überwindung der Spaltung, sie ist diese Fähigkeit, eben durch die Spaltung sich selber gebieten zu können und so durch das Sittliche frei zu sein. Hier zeigt es sich, wohin die pantheistische Methode, die in ihren Grenzen ihr Recht hatte, nicht hingelangt, was also außerhalb ihres Systems, ihres n ka½ p”nbleibt. Ihr System würde vollständig sein, wenn es nicht den Menschen, das menschliche Problem gäbe, den Menschen mit der Spannung und Spaltung in ihm, mit diesem Problem seiner Autonomie, seiner Freiheit. Auch der Satz, der dem Hippokrates zugeschrieben wird und der eine Variation des n ka½ p”nsein will: p€nta je…a ka½ ⁄njrðpina p€nta – »alles ist göttlich, und menschlich ist alles« –, auch dieser Satz könnte sein Recht haben, wenn das Menschliche nicht eben zugleich diese Spannung und Spaltung wäre, die, in der Sprache dieses Satzes ausgedrückt, eben zugleich die Spannung und die potentielle Spaltung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen ist. Die pantheistische Methode führt nur zur Kosmologie hin, aber nicht zur Psychologie, sie gelangt darum auch nur zu dem kosmischen Gesetz hin, aber nicht zu dem psychischen und dem ethischen. Die Tatsache des sittlichen »du sollst«, die Tatsache der sittlichen Entscheidung, der schöpferischen Pause und der schöpferischen Autonomie hat keinen Zusammenhang mit dem pantheistischen System und keinen Platz in ihm. Erst durch den Monotheismus ist das alles erfaßt und begriffen. Auch zu der Tatsache des Genialen, des schöpferischen Geheimnisses hat der Pantheismus keinen Zugang. Das Geniale ist das, worin der Mensch, er, der der Mensch des Werkzeugs, der homo faber ist, er, der dieser Mensch des Werkzeuges, des Experimentes deshalb sein kann, weil er der homo sapiens ist, der Mensch dieses Intellektes, welcher, weil sich die Welt an ihm bricht, in die Welt eindringt, – das Geniale ist das, worin dieser Mensch zum Menschen des Geistes, zum schöpferischen Menschen, zum homo creator wird. Geist – dieses Wort in seinem richtigen, klassischen Sinne gebraucht – bezeugt sich dann, wenn, durch eine Freiheit, einer Einheit und Ganzheit ihr Ausdruck gegeben, etwas also bewirkt wird, was nicht ein Zusammengesetztes, sondern eine Einheit und Ganzheit, ein Individuelles ist. Geist ist Genie, das will sagen: in ihm tritt im geschaf90

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fenen Menschen eine Kraft des Schöpferischen hervor, der Mensch wird von dieser Kraft »ergriffen«. Dreifach ist diese Fähigkeit des Genialen, mit ihrer Intuition, ihrer Inspiration und ihrer Entrückung; sie ist die erkennende, die künstlerische und die sittliche Genialität. In ihrem Grunde sind sie alle drei dasselbe, nur in ihrem Hervortreten, in ihrer Dynamik sind sie verschieden. In wenigen nur wird die erkennende und die künstlerische Genialität zur schaffenden Dynamik, aber in jedem Menschen kann das Sittliche dazu werden, im Sittlichen kann ein jeder der homo creator sein. Individualität schafft genial ein Individuelles, sei es in der Formung der Erkenntnis, sei es in dem Werke der Kunst, sei es in der sittlichen Tat. Ein Individuelles wird hier geschaffen, das heißt etwas, was ein Einmaliges und darum ein Unerklärliches ist, etwas, was, so sagt die Religion, seine Wurzel im Geheimnis hat, seinen Zusammenhang besitzt mit dem Geiste alles Geistes, mit dem Urgrunde aller Einheit und Ganzheit. So schließt sich der Kreis der Erfahrung, ihrer Beobachtung und der Linien, die sie von da aus zieht. Wohin immer sie gelangt, sie steht vor dem Individuum, seinem System und seinem Gesetz, vor dem individuum ineffabile, vor dem Erkennbaren, in dem doch das Geheimnis, das Jenseitige bleibt.

II. Wiedergeburt Der Mensch, so zeigt es sich immer neu, kann verstanden werden nur von dem Gesamtsystem der Individualitäten her; er hat seinen Platz im Universum. Und ebenso, auch das zeigt sich immer wieder, kann der Mensch verstanden werden nur vom Menschen her; er stellt im Universum unserer Erfahrung die eigentliche Besonderheit dar. Nur von beidem her kann er daher verstanden werden: von dem Gesetz und System her, welche Gesetz und System des Universums sind und in diesem Universum sich offenbaren, und von dem Gesetze und System her, welche Gesetz und System seiner Besonderheit sind und in dieser Besonderheit sich offenbaren. Diese beiden Gesetze und Systeme wiederum, die im Menschen zusammenkommen und die in die Bewußtheit des Menschen eintreten, das Naturgesetz und das Sittengesetz, das natürliche und das sittliche System, können, sowohl jedes für sich wie sie beide in ihrem Zusammen, verstanden werden nur, wenn es begriffen wird, daß sie beide den einen Ursprung haben, beide den einen Grund, oder, um es in der Sprache der Religion sprechen zu lassen, daß über allem Universum und al91

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lem Dualismus, über aller Spannung und Spaltung der eine Gott ist, der eine schaffende, gebietende, befreiende, erlösende Gott. Der Mensch ist so Individualität, Einmaligkeit, ganz wie jede Existenz im Universum es ist, und er ist zugleich Individualität, Einmaligkeit in dem besonderen Sinne, wie im Universum eben der Mensch es ist. Er hat seine Individualität als System und Gesetz ganz, wie alle Existenzform es hat, aber er erfährt zugleich das besondere Gesetz und System, kraft deren er eigene Individualität erst werden soll, er erfährt das System der Freiheit kraft des Gesetzes der Freiheit. Alle Individualität, alle Einmaligkeit, als solche eben, ist, wenn dieses Wort gebraucht werden darf, ein Wunder – Wunder ist Einmaliges, und Einmaliges ist Wunder; ein Wunder, das sich wiederholte oder wiederholt werden könnte, wäre kein Wunder mehr. Die Individualität ist das Geheimnis, und jede Existenz ist darum ein Geheimnis. Aber der Mensch ist es im besonderen Sinne, weil er des Geheimnisses, des Wunder bewußt wird und weil an ihn aus diesem Geheimnis, diesem Wunder hervor das Gebot der Individualität, das Gesetz der Freiheit herantritt. Der Mensch ist im besonderen Sinne innerhalb der Welt, um ein Wort des Talmud anzuführen, »eine Welt für sich«, d. h. eine Welt, die ihrer bewußt ist. Mit jeder Individualität, jeder Einmaligkeit fängt gewissermaßen eine neue Welt an, aber mit dem Menschen daher in ganz besonderer Weise. Alle die Spannung und Problematik, alle die Forderung und die Aufgabe, wie sie aus der Bewußtheit, die den Menschen kennzeichnet, sich ergeben, setzen mit einem jeden Menschen, der geboren wird, wieder individuell und damit neu ein. Jeder Mensch, der ins Leben tritt, ist eine neue Bewußtheit, er stellt sozusagen eine Revolution dar. Daher gibt es nicht jenen menschlichen Fortschritt, von dem so oft und so leichthin gesprochen worden ist. Es gibt einen Fortschritt im menschlichen Werkzeug und seiner Handhabung, daher dann in der anwendenden und experimentierenden Wissenschaft, der vom Werkzeug und am Werkzeug, und, dieser folgend, dann auch in der autonomen, der theoretischen Wissenschaft, die sich vom Werkzeug frei setzt. Aber den Fortschritt in der freien menschlichen Existenzform gibt es in einer gleichen oder auch nur ähnlichen Art nicht. Mit dem Menschen beginnt die menschliche Welt von neuem. Allein hier setzt doch wieder eine Paradoxie, eine Spannung ein. Jeder Mensch ist von einem Vater gezeugt und einer Mutter geboren, und sein Vater und seine Mutter stammen, in immer weiter zurückgehender Reihe, von Erzeugenden und Gebärenden her; jeder von ihnen war und ist Fortsetzung, die sich fortsetzt. Zu der Individuali92

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tät tritt so alles das hinzu, was der aus der Mannigfaltigkeit der Beobachtung und Erfahrung gewonnene Begriff des Erbes bezeichnen will. Von allem lebenden Wesen gilt es so, und wiederum ist es überall Ausdruck von Wunder, von Geheimnis: trotz des Erbes wird Individualität geboren, trotz der Individualität wird Erbschaft empfangen und fortgesetzt. Von jeder Existenzform gilt es in der Tat so, aber vom Menschen doch wieder in besonderer Dynamik und in besonderer Paradoxie. Er hat, wie die ganz besondere Individualität, so vermöge dessen auch das ganz besondere Erbe. Schon deshalb ist es so, weil es für ihn außer dem unsichtbaren Erbe, diesem Geheimnis, dieser Schöpfung, auch das sichtbare, greifbare Erbe, sozusagen das fabrizierte Erbe, die hingestellte und hinzustellende Fortsetzung gibt. Denn auf ihn, den homo faber, das tool making animal, wird das Werkzeug, wird die vom Werkzeug hergekommene Wissenschaft, alles das, was sich Kulturbesitz nennt, in steter Fortsetzung vererbt, daß er es weiter vererbe; ein akkumuliertes Erbe tritt an ihn heran und wirkt kontinuierlich auf ihn. Und auf ihn, den homo sapiens, dieses Wesen, das allein von seinen Großeltern weiß und an seine Enkelkinder denkt, werden Erinnerungen und Hoffnungen, Enttäuschungen und Erwartungen, Gedanken und Pläne, alles das, was im engeren oder weiteren Bezirk das Wort »Geschichte« meint, vererbt, daß er es fortsetze und weiterführe. Ein dynamisches Erbe, das in ihm wirkt, erfaßt ihn, und durch die Schrift, durch das Buch ist auch das alles zudem greifbarer, faßbarer geworden, es ist akkumuliert worden und wirkt von außen kontinuierlich auf ihn. Und das alles, diese Erbwelt, die in ihm ist und die ihn umgibt, das ist hier wiederum ein Entscheidendes, tritt in seine Bewußtheit ein und wird damit zur Spannung und kann zur Spaltung werden. Er, der Erbe als Subjekt, erfährt sich, den Erben als Objekt. Und diese Bewußtheit wird in ihm doch zum denkenden Willen; er, das Ich, in dem das Erbe ist, setzt sich als Subjekt, mit sich selbst, dem Ich, in dem das Erbe ist, als Objekt auseinander. Er, der im Erbe zur Individualität Gewordene, bejaht oder verneint dieses Erbe; er will es besitzen und weitergeben oder sich von ihm loslösen und es beenden. Und dieses Erbe, das so Subjekt sowohl wie Objekt ist, ist das unsichtbare in ihm, das in ihm wirkt, und ist das sichtbare rings um ihn, das auf ihn wirkt. Das Erbe ist Welt und ist auch Außenwelt, beide zu bejahen oder zu verneinen. Die Attraktion und Repulsion ist sowohl die zu dem Erbe im Menschen wie auch dem Erbe ringsum den Menschen, und die eine wirkt in die andere hinein. Dazu kommt hier ein Weiteres. Auch dieses innere Erbe, mit sei93

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ner Dynamik und Spannung ist – so wie schon das rein individuelle Erleben – zu groß, zu stark und zu tief und zu weitreichend, als daß es ganz zur Bewußtheit werden könnte. Die Bewußtheit bietet ihm gewissermaßen nicht genügend Raum. Ein großer, wohl der größte Teil dessen, was das Erbe an Trieben oder Kräften oder Erfahrungen umschließt, bleibt im Unterbewußten, d. h. es wirkt als Spannung, attraktiv oder repulsiv, ohne in den denkenden Willen hineinzugelangen. Und auch hier können Verlagerungen und Verschiebungen eintreten, es kann sein, daß das Erbe einen Kampf, einen häufigeren oder selteneren, einen mehr oder weniger wirksamen, um den Platz in der Bewußtheit führt. So entsteht auch hier wieder die Spannung, die zur Spaltung werden kann, die immer erneute Spannung zwischen dem, was in die Bewußtheit und den denkenden Willen hervorzukommen vermag, und dem, was, zeitweilig oder dauernd, unterhalb von ihnen bleibt. So ist in dem menschlichen, aus dem Erbe hervorgekommenen Individuum die zweifache Spannung. Es ist die zwischen ihm als Subjekt und ihm als Objekt; in der Bewußtheit, welche den Menschen zu Subjekt und Objekt macht, sind sie auseinandergetreten. Und es ist die zwischen der engen Bewußtheit und der weiten Unterbewußtheit, zwischen dem Erbe der Individualität, das denkender Wille geworden ist, und dem, was nicht oder noch nicht dieser denkende Wille wird. Es ist die Auseinandersetzung zwischen dem, was bleibt, und dem, was ist und wird. Man kann das Erbe in der Sphäre des Seelischen auch dahin definieren, daß das, was in der Reihe der Generationen je und je in der Seele war, zum Gedächtnis der Seele geworden ist, zu einem Generationengedächtnis, das dann durch ein individuelles, ein neues Gedächtnis zurückgedrängt, passiv, potentiell geworden ist. Es ist seelische Erbmasse geworden mit all ihrer Widerstandskraft und ihrer gebundenen Energie. So ist in der Spannung zwischen den Bereichen des Unterbewußten und des Bewußten zugleich auch die zwischen dem Erbgedächtnis und dem Individualgedächtnis, zwischen dem aktiven, dem denkenden, dem subjektiven und dem passiven, dem potentiellen, dem objektiven Gedächtnis. Es ist eine Spannung zwischen den Jahrzehnten und Jahrhunderten, die sich im Individuum des Erbes vollzieht, und sie kann zur Stellungnahme der Jahrzehnte gegen die Jahrhunderte werden. Ein Weiteres verstärkt dann noch die Spannung. Die Linie des Erbes ist die der Fortpflanzung, sie ist eine vertikale Linie, mit ihrer Kontinuität und Konstanz, durch die Generationen zum Individuum hin. Aber da sie sich in Individuen fortsetzt, so bricht sie sich not94

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wendig an ihnen; immer wieder entstehen die Winkel, die Ablenkungen in der Fortsetzung, die dann die breitere Basis schaffen. So bildet sich, zugleich mit der vertikalen, immer auch eine horizontale Linie, die der Erbgemeinschaft, die in weiterer oder engerer Erstrekkung die zusammenfaßt, zu denen jene Vertikale hinführte. Immer wieder bildet sich wie eine vertikale, so eine horizontale Kontinuität in der Diskontinuität, eine horizontale Konstanz in der Diskonstanz, auch sie wiederum mit ihrer Widerstands- und ihrer Wirkungskraft, mit ihrer Existenz unter und in dem Bewußtsein, mit ihrer Spannung, die in die Individuen eintritt. Es ist das horizontale System und Gesetz des Erbes, gewissermaßen System und Gesetz des Raumes, in dem das vertikale, das der Zeit wirkt, Erbzeit und Erbraum, in die das Individuum gestellt ist. So sind die Individuen des Erbes potentiell und dynamisch nicht nur zu und gegen sich, sondern auch zu und gegen einander gestellt. Es gibt hier die Nähen, in denen diese Erbgemeinschaft unmittelbar so wirkt, alles das, was Familie und Verwandtschaft umschließen, und es gibt die Fernen, in denen sie nur mittelbarer oder absichtlicher erfahren wird. Und in der Sphäre des Bewußten gibt es auch hier die Bejahungen und die Verneinungen und das, was zwischen diesen beiden ist. Es gibt den Willen, Gemeinschaft zu schaffen, diesen Willen, der sich zur Zukunft hin richtet und zur seelischen Bestimmtheit werden kann, und es gibt hier den Willen, Erbe und damit Gemeinschaft zu verdrängen oder zu beenden, diesen Willen, der sich gegen die Vergangenheit kehrt und oft zur seelischen Störung wird. Und in das alles treten dann die im menschlichen Individuum als solchem, unabhängig vom Erbe, schon gegebenen Spannungen, die Spannung des Männlich-Weiblichen und die, welche aus der Bewußtheit folgt. Und das alles bricht sich dann am Intellekt, und die Spannungen werden zu Kämpfen, zu Kämpfen des Individuums mit sich und seinem Erbe, mit sich und seiner Welt der Gemeinschaft. So tritt uns die menschliche Erbindividualität als ein System von Spannungen und Spaltungen entgegen, ein System, das durch ein Gesetz System ist, und dieses Gesetz scheint ein Gesetz zu sein nur wie das, welches auch das Chaos regiert. Und wieder ist es die Frage, die auch diesem Problem gegenüber sich erhebt: Kann in dem, was uns als Chaos erscheint, ein Prinzip der Ordnung festgestellt werden, kann das menschliche Individuum zu einer Kraft, zu einem Gesetz emporgehoben, in ein System eingefügt sein, in dem auch diese Spannungen zwischen Individuum und Erbe und die dadurch bewirkten Spaltungen überwunden sind, ganz wie die behoben sein 95

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konnten, die sich schon aus der Bewußtheit ergaben, welche dem menschlichen Individuum zu eigen ist? Um hier der Antwort näher zu kommen, muß auch hier von der Tatsache ausgegangen werden, daß der Mensch eine Freiheitskraft in sich erfährt. Er erfährt – wie zu zeigen versucht wurde – in sich als eine Wirklichkeit, daß in ihm, wie immer und woher immer es sei, ein Imperativ mit seinem Gebot und seiner Aufgabe, ein Gesetz des »du sollst« sich geltend machen kann, daß in ihm eine Kraft ist, Ziele zu setzen und Wege zu wählen. Er erfährt, wie er in sich selbst eine Spannung und einen Widerstand zu erzeugen, sich selbst Möglichkeiten zu geben imstande ist dadurch, daß er sich selber, fragend und antwortend, sich gegenüberstellt und sich so zum Subjekt eines denkenden Willens, einer Entscheidung zu machen vermag. Er kann anfangen und jederzeit wieder anfangen, er kann, wie das große biblische Wort sagt, »umkehren«. So erlebt es der Mensch in seinen Spannungen und durch seine Spannungen, er erlebt die schöpferische Spannung. Diese Freiheitskraft kann der Mensch auch an dem Erbe, an den Spannungen und Spaltungen, mit denen dieses ihn bedroht und ihn bedrohen muß, erfahren und beweisen. Gewiß, zunächst kann dies, da diese Freiheitskraft ja erst in der Bewußtheit lebendig wird, nur so weit geschehen, als dieses Erbe in die Bewußtheit aufsteigt. Aber zwischen dem, was im Bewußten, und dem, was unter ihm ist, zieht sich ja nicht die starre und stetige Grenze; zwischen ihnen ist ein Aufsteigen und Absteigen. Zwischen ihnen ist die Korrelation, sie sind in der Einheit des Systems; was in dem einen wirkt, wirkt auf das andere zurück. Aktualität wird in die Potentialität versenkt, und Potentialität wird zur Aktualität geweckt. Auch der Gegebenheit des Erbes gegenüber gilt es, daß der Mensch seine gegebene Individualität, diese Erbindividualität, frei formen und entwickeln kann, daß er aus seiner Gegebenheit und damit auch seinem Erbe heraus sich selber zu schaffen vermag. Man könnte in einem Vergleich – und der Vergleich ist eine Tangente, die an den Kreis des Problems heranführt – sagen: das Erbe, das der Mensch als seine Vergangenheits- und Verbundenheitsmasse, aus der seine Individualität geworden ist, als seine große Potentialität also, in sich trägt, dieses Erbe ist der Stoff, und ihn formt und ordnet oder, fast möchte man zunächst das triviale Bild hier brauchen, ihn drainiert, kanalisiert und reguliert der Mensch. Aber es ist in Wirklichkeit doch mehr noch, als dieses Bild zeigen will. Es ist die ganz besondere, die künstlerische Aufgabe, die hier dem Leben gestellt ist. Im Künstlerischen vollendet sich die Freiheit. Das Ethische 96

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hat es vermocht, die Spannungen zu überwinden, die sich aus der Individualität als solcher ergeben, aus der ihrer bewußten und darum wollenden, wissenden, denkenden Individualität. Das Künstlerische überwindet die Spannungen, die sich aus dem Erbe ergeben, aus der, seelische Zeit und seelischen Raum in sich tragenden, Erbindividualität. Und in der Frömmigkeit der Religion, in ihrer Heiligkeit, wenn dies hier schon hinzugefügt werden darf, werden dann Ethisches und Künstlerisches, Künstlerisches und Ethisches eines. Im Frommen ist das Leben ein zum Sittlichen gewordenes Kunstwerk, eine zum Künstlerischen gewordene Sittlichkeit, eine Welt in Zeit und Raum und doch oberhalb von Zeit und Raum, eine Erfüllung des Gegebenen. Alle Kunst ist der Versuch, ein Material, ein Gegebenes zu formen, an dem Material, welches immer es sei, eine Einheit und Ganzheit, dieses Geheimnis eines Individuellen, zum Ausdruck zu bringen. Der Künstler hört den Ruf, das Gebot, er sieht das Bild, die Idee vor sich, und im Kampf mit dem Stoff sucht er den Ruf zu erfüllen, das Bild zu verwirklichen. Und nicht nur in dem, was zumeist, aber in einem zu beengten Sinne, Kunst heißt, kann sich dieses Künstlerische beweisen, sondern ganz ebenso in aller vollbringenden Wissenschaft und ebenso und am stärksten in aller sittlichen Leistung. Überall hier ist dieser Kampf mit dem Gegebenen, ist dieses Vernehmen des Gebotes, diese Schau der Idee. Alle Kunst, in allen ihren mannigfachen Offenbarungen ist daher ein immer erneutes Experiment; sie ist immer am Ende, denn sie sieht immer das Bild, hört immer den Ruf, und sie ist nie am Ende, denn sie hat nie den Ruf, das Bild ganz verwirklicht, nie ganz erfüllt. Sie begibt sich, wenn sie wahrhaft Kunst ist, immer wieder auf den Weg zum Ziel. Dieses immer wieder aufgenommene Experiment auch unterscheidet das Künstlerische von dem Ethischen mit seinem jeweiligen bestimmten und sich bestimmt fortsetzenden Gebot und kommt zu ihm in dem Künstlerischen noch hinzu. Die schöpferische Pause erlangt hier ihre ganze Dynamik, ihre ganze Aktivität; sie wird zu der schöpferischen Geduld, die immer von dem Bilde zurücktritt, um der Aufgabe und des Zieles gewiß zu werden, zu dieser schöpferischen Spannkraft, ohne die das Genie des Künstlers sich nicht offenbaren kann. Das Material mag sein, welches immer, das, welches technisch zu bemeistern ist, das, in welches ein denkendes Forschen hineindringt, das, welches der sittliche Wille ergreift, immer ist an ihm die Aufgabe der Kunst zu vollbringen: einem Stoffe ist durch eine Begabtheit mit ihrer schöpferischen Geduld seine Einheit und Ganzheit zu geben, so daß er ein 97

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Individuelles, ein System und Gesetz offenbart. Einem gegebenen Stoffe, welcher immer er sei, ist seine Form zu verleihen. Das ist diese schaffende Kunst. Auch sie ist darum eine, bewußte und unbewußte, Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst; denn der Mensch, der den Ruf hört, befragt sich immer neu. Auch sie kommt daher aus menschlicher Freiheit hervor; sie ist ein Wirken kraft dessen, daß ein höheres Gesetz in den Willen aufgenommen ist und damit eine innere Logik das Schauen und Denken bestimmt. Alle Logik ist in ihrem Wesen ein Künstlerisches, auch die gedankliche; sie ist Formgebung, Formung zur Einheit und Ganzheit. Alle Logik ist Logik des Gestaltens, und auch sie wie alles Künstlerische kommt von einem Sittlichen, von einer Freiheit her. So ist die Existenzform des Menschen, sein menschliches Leben, da ihm die Gabe der Freiheit immer neu gegeben wird, zugleich seine künstlerische Aufgabe; zu immer neuem Experiment ist er berufen. Er ist hier Künstler und Material in einem. Das gegebene Material, das zur Individualität geprägte Erbe, das er ist, soll von ihm selbst immer neu geprägt werden. Aus der Spaltung hervor vollzieht sich der künstlerische Prozeß; er ist der stete Kampf, den der Mensch als Subjekt mit dem Menschen als Objekt führen kann, um die eigene Existenzform neu zu prägen. So kann das Leben immer wieder anfangen; es kann, wie das große Wort der Bibel sagt, »erneut werden« – das Wort »neu« ist eines der klassischen der Bibel. Und, um diese alte Weisheit, diese Kraft der Offenbarung, weiter sprechen zu lassen: der Mensch sieht die Idee, das Bild eines höheren Lebens vor sich, dieses »Ebenbild Gottes«, in dem und zu dem er geschaffen worden ist, das Bild des Lebens, das sein Leben werden soll, und danach bildet er sein Leben in immer neuem Beginnen. Er selber gibt sich selber gleichsam neue Geburt. Sich selber, dem Geborenen, den neuen Anfang geben, das heißt, wiedergeboren werden, sich selber erzeugen. Daß der Mensch geboren wird, als Kind eines Vaters und einer Mutter, das ist Tatsache der Fortsetzung; daß er wiedergeboren wird, das ist Tat seiner Freiheit. Hier folgt nicht eines auf das andere, sondern hier ist der neue Anfang bereitet; hier wird das Ziel gesetzt und wird die Wendung oder die Umkehr vollzogen; es ist nicht die Weiterführung, sondern die Eröffnung eines Weges. Dem Menschen, da er wiedergeboren werden kann, ist die Freiheit des neuen und eigenen Weges gegeben, die Freiheit der Richtung. Weg, Richtung sind, wenn so in der Freiheit gewählt, oft ein Widerspruch gegen das Erbe, sie sind dann wie ein Sieg der Individualität über das Erbe. Im Erbe des Menschen gab es nur Weg und Richtung zu ihm hin und weiter, 98

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durch die Wiedergeburt gehen sie kraft seiner Freiheit von ihm aus, und in diesem Wege, in dieser Richtung werden Raum und Zeit, Material und Ziel eines, eine neue Einheit und Ganzheit, die der Wahl, wird geformt. Eine Zukunft, die in der Gegenwart beginnt, wird zu dem oder gegen das, was war, um sich fortzusetzen, nun frei gesetzt. Waren im Erbe nur Vergangenheit und Gegenwart eines, so wird jetzt die Einheit und Ganzheit durch die Zukunft bestimmt, durch die Dynamik dessen, was werden soll; ein Gang der Zeit wird bestimmt, sie wird zur neuen Kraft in dem Raum, der durch das Erbe gegeben ist. Die eigene Vertikale, die über das Erbe hinausführt, wird durch diese Wiedergeburt geschaffen. In den Menschen sind, und auch dadurch ist jene Zäsur bezeichnet, besondere Potentialitäten als Kräfte der Wiedergeburt hineingelegt, Kräfte also, die gegen das Erbe auch wirken können. Es ist eine Eigentümlichkeit der menschlichen Existenzform, ein Ausdruck des Kunstwerkes, als das sie, von dem Standpunkte einer Betrachtung und eines Urteils aus, also von einem sogenannten höheren Standpunkte sich darbietet, daß sie selbst das Werk einer schöpferischen Geduld darstellt. Die menschliche Existenzform gelangt langsamer als andere zu einer letzten Geformtheit des Materials, das durch ihre Erbindividualität gegeben ist, und kaum je zu einer abschließenden Verwirklichung der Möglichkeiten, die in ihr sind. Es kann ganz davon abgesehen werden, daß Wiedergeburt wieder neue Wiedergeburt gebären will, daß so Wiedergeburt ohne Ende sein kann, ganz wie sie an sich ein Widerspruch gegen das Ende ist. Aber auch in dem Menschen, in welchem die Möglichkeiten der Wiedergeburt nicht zur Erfüllung kommen, in jedem Menschen ist jene Langsamkeit des Werdens, jene Allmählichkeit der Erfüllung. Denn jeder Mensch und, soweit unsere Erfahrung reicht, nur er, hat ein Jahrzehnt, und mehr, einer Kindheit, und er hat ein Jahrzehnt, zum mindesten, einer Jugend. Und zwischen seiner Kindheit und seiner Jugend ist zudem eine Zäsur. Man könnte in der Tat, um jenem alten Gleichnis zu folgen, sagen: menschliche Existenzform ist Ausdruck einer Geduld des Schöpfers, einer Geduld im Werke der Prägung. Was die Kindheit des Menschen ist, kann zunächst am besten negativ definiert werden: Sie ist die Zeit vor dem Erwachen und Erwachsen des Intellekts, die Zeit also, in der noch nicht das im Menschen sich entwickelt hat und durch denkenden Willen weiter entwickelt wird, was ihn zum Subjekt und Objekt in einem macht, was zwischen ihn und sein Leben, zwischen ihn und ihn selber tritt, das, woran die Welt, in der er lebt, sich bricht und er selbst sich bricht. Das Kind hat noch kein gedachtes Leben und noch kein ge99

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wolltes Leben, es hat nur ein Leben. Wenn jedes Leben das Ergebnis eines Kampfes zwischen dem Geschaffensein und dem Geborensein, zwischen Einmaligkeit und Fortgesetztheit, zwischen Individualität und Erbe ist, so ist im Kinde dieser Kampf noch nicht in die Bewußtheit getreten. Das Kind nimmt vieles, fast alles in sich auf, nur sich selber noch nicht, es weiß noch nicht, daß es »nackt« ist. Kindheit ist der eigentliche Anfang, diese Unbewußtheit des Anfangs, fast möchte man wieder sagen, mit jedem Kinde wird die Möglichkeit der Revolution, des Willens zu ganz Neuem geboren. Das Kind ist die große Möglichkeit, in ihm ist die Fülle der »intentionalen Dispositionen«. Das ist das, was jedem Menschen dadurch, daß er zuerst Kind ist, verliehen wird. In ihm sind diese Möglichkeiten, aber noch nicht die Spannungen; Ferne und Nähe, Außenwelt und Innenwelt sind ihm eines, es kennt noch nicht die Distanzen, auch nicht die der Erinnerungen und der Hoffnungen. Darum setzt das Kind sich noch nicht auseinander, weder mit sich noch mit der Welt. Aber dafür und eben darum hat es die Gabe des reinen Spiels, welches spielt um des Spieles willen, diese Gabe, jenseits von wirklich und unwirklich und damit auch jenseits von nützlich und schädlich zu sein. Das Kind ist der homo ludens. Weil in ihm die Bewußtheit noch nicht ist, hat das Kind diese Gabe, und Gabe im Menschen ist eine Kraft des Ausdruckes und der Handlung. In seiner Phantasie hat das Kind diese Kraft, diese Dynamik des reinen, freien Spiels; sie ist eine nicht gewollte und nicht gelenkte Dynamik der Seele. Vermöge der Phantasie vollbringt das Kind alles »spielend«. Alles wird ihm wie von selbst zur Handlung und zum Ausdruck. Von hier aus können dann die Möglichkeiten und Richtungen in das weitere Leben führen. Das Spiel kann in der Zeit der Bewußtheit und des denkenden Willens zunächst seinen Ernst, die Richtung zur Aufgabe gewinnen und dadurch zum Sinn für die Wahl und die Entscheidung werden. Der Sinn für das Sittliche, für den Weg, und der Wille zu ihm entwickelt sich. Die Phantasie wird zur sittlichen Phantasie. Und auf dem Wege über die Geduld und das Experiment tritt in das Spiel der Sinn für das Beginnen und Gestalten und der Wille zu ihm; vor dem Spielenden steht das Bild, die Idee, die verwirklicht werden soll, und die Phantasie wird zur künstlerischen Phantasie. Hieran fügt sich ein Weiteres, Kindheit ist Anfang, sie ist voll von dem, was zum ersten Male ist, was erst eintritt. Das Kind entdeckt, es findet auf und erfindet; es lebt im Neuen, im Wunder, es verwundert sich. Es betrachtet alles staunend, mit weit geöffneten Augen, und staunend sieht es sich von allem, von den weit geöffneten Augen angeblickt; in ihm lebt dieses stete Staunen, das, nach Platos Wort, der 100

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Anfang aller Philosophie ist. Man könnte auch sagen: Dem Kinde ist alles Intuition; denn Intuition ist doch die Fähigkeit, irgendwo ein ganz Neues zu sehen, diese Fähigkeit, nicht bloß der Fortsetzung unterworfen zu sein. Und das Kind braucht von nichts erst fortzugehen, von nichts erst abzusehen, um einen Weg zu einem Neuen, zu einem neuen Aussichtspunkt und Standort frei zu machen; es braucht noch nichts zu vergessen; in allem Genie ist ja eine Kraft des Vergessens auch – eine Pforte zu dieser Einsicht ist in jenem alten Gleichnis aufgetan, das von Plato sowohl wie vom Talmud überliefert ist: Ehe das Kind geboren wird, wußte es alles; wenn es dann in die Welt tritt, berührt ihm ein Engel den Mund, und es vergißt alles, was es gewußt hatte. Diese Gabe der Intuition kommt auch daher, daß das Kind nur das Konkrete, das Einzelne sieht; die Welt ist ihm die Welt der Individuen mit ihrer Fülle. Es vollzieht Assoziationen, aber es steht noch nicht in dem zwingenden, festhaltenden Geflecht der Assoziationen; es ist noch nicht in einem Gefüge verbindender Begriffe, die Phantasie bereitet ihm noch die Fäden zwischen den vielen Einzelnen. Es hat die ganze Wahrnehmung und nur die Wahrnehmung, und es kennt darum zunächst nur Personen, das heißt: anschauende, ansprechende, hörende Wesen, aber noch nicht Sachen; das Neutrum ist in seine Welt noch nicht eingetreten. Darum gibt es für das Kind zunächst noch nicht den Unterschied von Schein und Wirklichkeit, alles ist ihm wirklich, weil es entdeckt wird, alles wie ein Erstmaliges. Auch die Sprache, die es erlernt, ist ein Wirkliches, Konkretes, aufgenommen zugleich und erfunden, im Gedächtnis zugleich und in der Phantasie wohnend. Sie hat ihr Künstlerisches hier noch, sie ist mehr ein Bilden als ein Lernen. In ihr stellt das Kind Wesen, Personen vor sich hin und »gibt ihnen den Namen«, bildet sie durch den Namen ab, malt sie durch den Namen, und die Person ist ihm der Name und der Name die Person, und auch das alles ist darum immer ein Neues. Weil das Kind so das Einzelne und immer wieder nur das Einzelne kennt, so steht es vor einem jeden in seiner Unmittelbarkeit; ein jedes tritt an das Kind ganz nahe heran, an seine Liebe und seine Furcht heran. Das Kind vermag sich fortzuwenden und auch zunächst zu schwanken, aber nicht sich zu verschließen, nicht gleichgültig zu sein; es ist immer wieder in der Anlehnung oder der Ablehnung, in beidem eröffnet und hingegeben; was es ist, ist es immer wieder und immer von neuem ganz. Man kann dieses selbe auch dahin bezeichnen, daß im Kinde die freie Begabtheit, die Begabungs-Dynamik lebt; es hat nur selten wohl ein Talent, aber es hat 101

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immer wohl das Genie – Talent hängt mit dem Organ, mit dem Werkzeug zusammen und ist darum nichts oder wenig ohne das Instrument; Genie wohnt in der Individualität. Begabungskraft ist immer eine große Gläubigkeit, und die daraus erfolgende Fähigkeit, sich nicht zu teilen, ganz sich hinzugeben und zu umfassen, ganz einzudringen, ganz sich zu versenken, ganz zu lieben, so daß in diesem Suchen und Sinnen, diesem Fühlen und Schauen eine Ganzheit und Einheit sich ausdrückt und handelt, die Reinheit eines Wesens darin spricht. Begabung ist die Fähigkeit eines ganzen reinen Ausdrucks, die Fähigkeit, ein Ungemindertes und Ungekünsteltes zu geben. Das ist es, was die Kindheit zu eigen hat. Es ist das, was man auch die Ursprünglichkeit und Naivität, die Originalität und Unmittelbarkeit, die Selbstverständlichkeit und Genialität, die Gestaltungslust, die dichterische und künstlerische Lebendigkeit des Kindes zu nennen pflegt. Das sind viele Worte, aber sie meinen alle eines; sie bezeichnen alles, von verschiedenen Seiten herantretend, diese dem Kinde verliehene, von ihm nicht gewußte noch gewollte Begabtheitskraft mit ihrer spielenden Phantasie, ihrer schauenden Intuition; sie bezeichnen alle diese undefinierbare Kindheitstatsache, dieses ineffabile. Diese freie Begabtheit, diese ungezwungene Kraft ist eines jeden natürlichen menschlichen Lebens Anfangszeit. Mit dem Beginn der Jugendzeit tritt an sie eine Zäsur, welche eine Grenze setzt, und es ist vielleicht vermöge dieser Zäsur, daß diese Gabe, diese Fülle bleibt, daß sie vor dem Verrinnen und Versickern bewahrt wird, daß sie zur Widergeburt gelangen, daß sie neu werden, neu in das Leben des Individuums eingehen kann. Die Kindheit, mit der ein Mensch geboren wird, harrt ihrer Wiedergeburt. Ein Reichtum des neu Aufgenommenen und des Herantretens an das Neue, dieser Verbindung des Individuellen mit Individuellem hat im Kinde sich angesammelt. Eine Fülle seelischer Potentialität, seelischer Ausdruckskraft und Handlungskraft hat sich gebildet; auf ihr ruht das Leben, wenn es dann seiner bewußt geworden ist. Sie ist wie ein Erbe, ein seelisches Gedächtnis, welches das Leben in seiner Kindeszeit, durch seine Kindeszeit, seinen kommenden Jahrzehnten bereitet hat, diesen Jahrzehnten der Bewußtheit. In dieser großen Vorbereitung schafft das Kind, das von sich nicht weiß und noch nicht durch Gedanken will, für die lange Zeit, in der dieses Kind zu dem Menschen, der von sich weiß und denken will, geworden ist. Der Mensch, diese Erbindividualität, schafft in sich ein Eigenes, ein Individualitätserbe, damit, wie er aus dem Erbe hervor geboren worden ist, dieses Eigene aus ihm hervor und in ihm wiedergeboren 102

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werde. Alle spätere Begabung des Menschen, alle Gestaltungs- und Ausdruckskraft, die künstlerische, die erkennende, die sittliche, die ja alle in ihrer Wurzel und ihrem Wesen eines sind, weil sie aus dieser Kindheitsgabe hervorkommen, alle diese Begabung hängt mit ihrer Wirklichkeit im späteren Leben, mit ihrer schließlichen Erfüllung, vor allem auch davon ab, daß die Kindheit im Reiche der Seele so lebendig und so stark geblieben ist, daß sie sich selbst wiedererzeugen, daß sie wiedergeboren werden konnte. Es liegt doch ein tieferer Sinn noch in dem Worte: »Wer nicht das Reich Gottes nimmt als ein Kind«! Naivität, Originalität, Genialität sind sowohl Ursprünglichkeit wie Reife, sowohl Anfang wie Erfüllung. Sie werden zur Erfüllung und Reife, wenn der Mensch dessen, was in ihnen ist, bewußt geworden ist, wenn ihr Sinn, ihr Gehalt und ihr Wert in seine Freiheit, in seinen Geist eingetreten sind. Auf der Kindheit ruht das Leben. An sie schließt sich die weitere Zeit der Vorbereitung, der Bildung eines Individualitätserbes an, die der Jugend: Sie ist die Zeit eines langsameren und kürzeren, aber erregenden und bisweilen krisenhaften Wachstums. Es ist die Periode, in der, wie gezeigt, die Reflektiertheit, die Selbst- und Weltbewußtheit heranwächst, der Mensch für sich selber und die Welt für ihn erfaßbar und bestimmbar wird und er damit die Distanzen erfährt, die kurzen und die weiten Wege, das, was war, und das, was sein wird oder nicht sein wird, das Gewisse und das Ungewisse. Es ist die Periode, in der die Spaltungen einsetzen und aus ihnen die sittliche Freiheit dann und mit ihr die große Sehnsucht, die Erwartung der Ferne, die Spannungen des Ideals hervorkommen wollen – diese sittliche Freiheit, die die Geburt im geborenen Menschen ist. Auch auf dieser Jugend, die über die Kindheit gelagert ist, ruht das spätere, längere Leben, dieses Leben, das zu wachsen aufgehört hat und nun von dem, was gewachsen ist, lebt. Diese Lebensschicht der Jugend ist keine so tiefe wie die der Kindheit, und sie ist auch keine so einheitliche, sie hat ihre Bruchstellen. Aber auch sie ist Individualbesitz, Lebensmaterial, das der Mensch selber sich schafft, im Menschen geboren, um wiedergeboren zu werden. Alles, was der Mensch dann später an sittlicher Phantasie, dieser Phantasie des Weges, in der das Gedächtnis für sich selber und die Ausschau in die eigene Ferne sich verbinden, was er an Kraft des Kampfes mit sich selber und um sich selber zu eigen hat oder wieder zu eigen gewinnt, hängt davon ab, daß diese Jugend die freie Bahn ungehindert in sein Leben hinein behält oder daß sie wieder erzeugt wird. Sie kann schon sich fortsetzen, was der Kindheitsbesitz 103

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nicht vermag; denn hinter ihr ist keine eigentliche, keine tiefgreifende Zäsur – ein gewisser Einschnitt ist hier nur darin gegeben, daß das Wachstum aufhört –; aber auch sie kann, wenn sie versandet war oder gehemmt und unterbrochen wurde, dann wiedergeboren werden, wieder erwachen, um wieder den Weg zu sehen. Hatte die wiedergeborene Kindheit die Kraft neuen Ausdrucks gegeben, so gibt die wiedergeborene Jugend die Kraft neuer sittlicher Entscheidung, die Kraft der Umkehr und des Anfangs, dieses neuen Weges. Die Jugendgabe kommt im Menschen wieder empor, er beginnt in der Freiheit sich selbst wieder und wird damit wieder jung. Wie die Kräfte jener Ordnung des Generationenerbes und die dieser Wiedergeburt wirken, wie sie sich seelisch vollziehen und wie hier Material und Form, Gegebenes und Gewolltes sich einen, wie die Strömungen von dem Unterbewußten zum Bewußten empor und vom Bewußten zum Unterbewußten hin sich finden und sich hemmen oder sich verbinden, das bleibt im Geheimen. Es ist ein Geheimnis, wie alle Tatsache es ist; es ist wie alle Tatsache nur zu konstatieren, als Tatsache anzuerkennen, es kann nur in dem, worin es sich offenbart, erfahren und beobachtet, aber nicht erklärt und definiert werden. Alle Freiheit auch wurzelt so im Geheimnis, alles Rationale im Irrationalen, alles Gebot hat seinen Grund im Unergründlichen. Alles, was zur Wirklichkeit, zur Individualität, zur Tatsache eben, geworden ist, kommt aus Verborgenem hervor. Aber von jeder Tatsache, von jedem Geheimnis führt ein Weg zu einer Bestimmung durch den Menschen, zu seiner Freiheit, seiner sittlichen Logik, seinem Künstlerischen hin. Der Mensch ist ein System, und er schafft frei ein System; er fügt sein Ich in das Gesetz des Gebotes, dieses Gesetz seiner Freiheit, seiner Sittlichkeit, seines durch ihn frei geschaffenen Denkens und Wollens ein. Ein Weg der sittlichen und künstlerischen Bestimmung durch den Menschen kommt auch von den Generationen her. Freiheit und Gestaltung können auch von Generation zu Generation für die, welche die Nachkommen sind, geschaffen und für sie vorbereitet werden. Es wird, wenn so gesagt werden darf, ein Erbe an Offenbarung und an Gemeinschaft der Offenbarung bewirkt: eine Kraft wirkt von der vertikalen Richtung her und von der horizontalen aus. Es handelt sich hier nicht um einen akkumulierten Geistesbesitz, der vor den Menschen steht, obwohl dieser hier aufgerichtet und weitergegeben wird, sondern es ist etwas ganz anderes; eine angesammelte Kraft wird zur Vorbereitung der Individuen. Und wie es diesen einen bereiteten Weg, den der Offenbarung und der Freiheit, gibt, so den anderen auch, den von Strömungen und Strebungen, die sich gegen das 104

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Sittliche und Gestaltende richten, von Tendenzen des Rohen und Ungestalten, der Offenbarungslosigkeit und Freiheitslosigkeit, und auch sie werden zur Vorbereitung des Individuums. Das Individuum kann Erbe des einen und des anderen sein, aber das eine wie das andere begegnet einem neuen Anfang, einer Kindheit, das eine wie das andere bricht sich an einer Jugend, an einem Intellekt, einer schöpferischen Pause, einer Möglichkeit der Bestimmung und Entscheidung. Jedes Individuum, weil es eben Kindheit und Jugend hat, hat die neuen Kräfte, die des Beginns und der Wahl, die in ihm dann wiedergeboren werden können. Gewiß, vermöge der Vorbereitung durch das Erbe können die Wege des Individuums, diese neuen Wege, gerade und leicht sein und können sie gehemmt und schwer sein. Und in der Verborgenheit des Erbes gibt es die Anlehnungen und Ablehnungen, die Attraktionen und Repulsionen, in denen eine Erbschicht den Einzelnen und der Einzelne eine Erbschicht anzieht oder zurückstößt, dieses Auf- und Absteigen aller der Widersprüche im Menschen. Aber das Entscheidende ist, zuerst wie zuletzt, doch wohl, daß das menschliche Individuum seine Kindheit und seine Jugend hat, seine eigene Vorbereitung, seine eigenen und neuen Kräfte des Künstlerischen und der Freiheit, Kräfte der eigenen und neuen Prägung, dieses Kampfes um sich selbst oder, um wieder die religiöse Sprache auch sprechen zu lassen, dieses Kampfes um das »Ebenbild Gottes«. In diesem Kampfe, dem schweren und langsamen für den einen, dem leichteren und rascheren für den anderen, kann der Mensch, zumal der heranwachsende, den Beistand erfahren, das also, was ein anderer, der neben ihm steht oder neben ihn tritt, ihm hier gewähren kann. Diese Hilfe ist in dem vor allem enthalten, was das Wort »Erziehung« meint, das ja, wenn auch die beiden sich immer wieder treffen, ein ganz anderes, bisweilen sogar ein Entgegengesetztes, als das Wort »Unterricht« besagt. Unterricht ist Technik, die zum akkumulierten Kulturbesitz hinleitet, Erziehung ist Kunst, die sich auf das Eigentümliche und Freie im Menschen hin richtet. Die eine hat es mit der Aufnahmefähigkeit des Menschen, mit seiner Beobachtung und Erfahrung und seinem Gedächtnis zu tun, mit dem also, was er sehen, hören und erlernen kann, die andere mit seinem Leben, mit dem, was er ist und sein soll, mit seiner Wachstumsgabe und seiner Fähigkeit der Wiedergeburt. Der Unterricht geht von der Voraussetzung einer Gleichheit und Uniformität aus – es ist dasselbe, was alle oder viele lernen sollen; die Erziehung wird durch den Gedanken der Unterschiedenheit und Besonderheit bestimmt – jeder Einzelne ist für sie ein Mensch für sich. Darum schafft 105

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Erziehung eine neue Gemeinschaft, eine, die nicht durch das Erbe gegeben ist, sondern durch Freiheit entsteht; ein menschliches Individuum, als solches, tritt zu einem menschlichen Individuum als solchem hin. Einen Menschen erziehen ist eine künstlerische Aufgabe wie kaum eine andere. Zwar wird nicht eine Schöpfung vollbracht, sondern nur eine Hilfe gewährt, aber sie ist Hilfe durch den Künstler, eine künstlerische Hilfe. Erziehung ist die große Kunst zu helfen – umgekehrt schließt ja alles Helfen, selten gewollt, meist ungewollt, ein Erziehen in sich –; sie ist eine große Kunst mit ihrer Gabe, das zu schauen und zu vernehmen, was sich offenbaren will, mit ihrer großen Geduld, immer wieder von anderer Seite hinzusehen und hinzuhören. Der Seele wird geholfen, damit ihre Kräfte frei und gerade erwachsen, damit sie bewahrt bleiben und dann wiedergeboren werden können. Nicht ein Material, ein Stoff, dem ein Ausdruck erst verliehen werden soll, der nur Mittel des Ausdrucks ist, wird vor die Kunst hier hingestellt, sondern ein Wesen, das schon selber ein Ausdruck ist, selber voll des Sinnes und der Offenbarung. Und es ist ein Wesen, das dasselbe ist wie der Künstler, der Erzieher, und die Gabe dieser Kunst, dieser Hilfe, wie ja aller Hilfe, ist darum die Fähigkeit, sich vor sich selbst hinzuführen, an sich selber sich zu erinnern. Was diese große Kunst des Helfens bedeutet, kann in der religiösen Sprache kaum besser gesagt sein, als es in einem Satze des mittelalterlichen »Buches von den Frommen« – den »jüdischen Frommen in Deutschland« – gesagt worden ist: »Wer erzieht, ist ein Helfer Gottes, des Schöpfers, im Werke der Schöpfung, er hilft Gott, daß der Mensch, der im Ebenbild Gottes Geschaffene, Ebenbild Gottes werde.« Erziehung ist Hilfe; sie kann und darf nur das, und nichts mehr, sein: Hilfe in der Vorbereitung und damit für die spätere Wiedergeburt. Dem Kinde, ihm, das eine Welt hat, aber noch nicht den Weg, wird diese Hilfe dadurch geleistet, daß alles ferngehalten wird, was diese Welt beeinträchtigt, stört oder trübt, und alles gefördert wird, was dieser Welt ihre Reinheit und Weite gibt. Alles unterstützen, worin die Kindheit in ihrer Naivität und Originalität sich entfalten und sich selbst ansammeln kann, und alles verhüten, wodurch die Kindheit beengt oder zu früh beendet sein könnte, unterstützen und verhüten ohne eingreifende Absichtlichkeit, das, und nicht weniger, aber auch nicht mehr, ist hier die Aufgabe. Das Kind ein Kind sein lassen, die Kindheit sich dehnen lassen, darin besteht hier diese Kunst der Hilfe. Ist sie hier ein seelisches Lassen, so ist sie der Jugend gegenüber und in der Gemeinschaft mit ihr, in dieser Zeit also, in welcher der 106

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Mensch in der Welt einen Weg zu sehen beginnt, dann ein Aufzeigen, ein Führen durch das Hinweisen. Hier wird die Hilfe deutlicher und auch dem, dem sie zuteil wird, bewußter. Vor dem denkenden Willen, der sich nun zu entwickeln begonnen hat, die Ziele aufrichten und dadurch die Richtungen darlegen zu den Werten und Idealen, zu dem also, was dem, nun Subjekt zugleich und Objekt gewordenen, Individuum die Einheit gibt, hinlenken und damit die Störungen der Auseinandersetzung aufheben oder mindern, dem jungen Menschen sein Leben und Ich vor den Blick stellen, das ist hier die Aufgabe dieser Kunst, dieser Hilfe. Wird sie der Kindheit und der Jugend gewährt, so ist dazu geholfen, daß Kräfte der Wiedergeburt vorbereitet werden und lebendig bleiben und sie dann auch die Anziehung ausüben auf das, was Vorfahren als Erbe an Offenbarung und als Weg zu Künstlerischem und zur Freiheit vorbereitet haben. Es ist ein Weiteres noch und ein Tiefstes und Stärkstes, worin in gewissem Sinne eine Wiedergeburt, ein Hingelangen zu Eigenstem, sich vollziehen kann. Wie der Anfang, das Wachsende, sich erneuen und in das Festgewordene, das Aufgewachsene wieder eintreten kann, wie so die Wiederverbindung mit der schaffenden Gabe von Kindheit und Jugend bewirkt und schaffende Kraft des Früheren auch heraufgeholt werden kann, ganz so kann, über den Anfang hinaus und über alles Erbe hin, eine Verbundenheit mit dem Ersten, gewissermaßen ein Angezogenwerden durch den Ursprung, im Leben des Menschen zu einer Richtung, zu einem Wege werden. Der Ursprung ist der eine, aus dem Einen, dem Ewigen, aus Gott. Geburt und Erbe kommen von Eltern und Ahnen, der Ursprung ist von Gott. Das Angefangene und Gewachsene endet eines Tages, der Ursprung bleibt Ursprung. Vor ihm, vor dem Grunde alles Grundes, dem darum Unergründlichen, dort, wo Jenseits und Diesseits des Lebens zusammenkommen, kann der Mensch stehen, und Kraft von der Kraft des Ursprungs kann in ihn eintreten, so daß er wieder geboren wird. Hier beginnt jenes Unergründliche, aus dem aller Grund hervorkommt; hier setzt der Bereich des Geheimnisses ein, das die Grenze der Wissenschaft und das Zentrum der Frömmigkeit ist. Das Letzte alles Wissens und das Erste aller Religion ist das Geheimnis. Ein Weg des Wissens geht so zum Geheimnis und ein Weg des Geheimnisses zum Wissen. Es ist darum gut, zweifeln zu können, um zu glauben, und es ist gut, glauben zu können, um zu zweifeln. Jede Tatsache ist ein Zugang zum Geheimnis, und jedes Geheimnis führt zur Tatsache. Auch das seelische Hingelangen zum Ursprung, um Kraft von ihm zu empfangen, Kraft von ihm aufzunehmen, ist so 107

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Richtung von der Individualität, von dieser Tatsache zum Geheimnis und vom Geheimnis zurück zur Tatsache, zur Individualität. Die Psychologie wird hier von der Religion umfaßt. So ist die Erfahrung hier jene besondere, welche die religiöse heißt. Sie bezeugt sich an einem Zweifachen, das aber im Wesen eines ist: an der Versenkung, der Andacht im Gebet, an dieser letzten Reinheit, und an dem Selbstverzicht, der Verinnerlichung, im Gebot, an dieser letzten Freiheit. Beides ist im Grunde eines, beides ist die Vertiefung in das Geheimnis, ist die Berührung mit dem Ursprung –, es ist bezeichnend, daß die Sprache der jüdischen Frömmigkeit nur e i n Wort für beides hat. Im Gebete und im Gebote ist ein Scheidendes überwunden, die Verbindung des Geborenen mit dem Ursprung ist wieder gegeben, die Verbindung des Geschöpfes mit dem Schöpfer ist wieder gewonnen. Der Mensch ist nicht nur zu sich selbst, zu seinem Anfang und Erbe, sondern zu seinem Gotte, zu dem Sein seines Werdens zurückgelangt. Die große Einheit und Ganzheit tritt in sein Leben ein, und sein Leben wird ganz eines. Er ist vom Ursprunge her wiedergeboren. So schließt sich wiederum der Kreis. Jeder Mensch ist, so wie jede Existenz es ist, die Tatsache seines Lebens, diese Tatsache, hinter der das Geheimnis wohnt. Alles, was lebt, ist System, ist Gesetz, ist Individuum und ist Erbe. Im Menschen wird das Leben seiner selbst bewußt, und es wird damit zur Aufgabe und zur Freiheit, es kann neu empfangen und wieder beginnen, es kann zu seinem Anfang und zu seinem Erbe und zu seinem Ursprung wiedergelangen, es kann wiedergeboren werden. Der Mensch kann seine Tatsache formen, seine Wirklichkeit verwirklichen, er kann erfüllte Individualität sein.

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Leo Baecks Aufenthalt in Amerika gab dem amerikanischen Judentum die Gelegenheit, nicht nur seine Lehre, sondern nun auch den Lehrer selbst kennenzulernen. Dies war nicht immer leicht: Leo Baeck war in allen Richtungen des Judentums zu Hause und selbst eher konservativ gestimmt. Er hätte die drei hier versammelten Vorträge ebenso gut am konservativen Jewish Theological Seminary statt am Hebrew Union College halten können. Aber gerade an dieser Schule hatten viele deutsche Freunde in Cincinnati einen neuen Wirkungsort gefunden, und der Verband der Reformgemeinden, die Union of American Hebrew Congregations, brauchte Baeck als Persönlichkeit der Identifikation und Integration. So stellt Leonard Baker, dessen Baeck-Biographie mit dem Pulitzer-Preis geehrt wurde, fest: »1947 übernahm die ›Union of American Hebrew Congregations‹ die Schirmherrschaft über eine neu gegründete ›American Jewish Cavalcade‹ und beschloß, daß dem Ereignis durch einen Besuch Baecks im Weißen Haus bei Präsident Truman Publizität gewonnen werden sollte. … Die kurze Zusammenkunft fand statt, und die ›Cavalcade‹ hatte die gewünschte Publicity.« Noch wichtiger für das amerikanische Reformjudentum war eine weitere Ehrung, die Leo Baeck in 1947 zuteil wurde: Am 12. Februar 1947, Abraham Lincolns Geburtstag, eröffnete er die Sitzung des amerikanischen Repräsentantenhauses in Washington. In seinem Gebet erinnert Baeck an Lincoln als an einen Mann, der Zeuge und Zeugnis der Menschlichkeit war. Er zitiert Lincolns Wort an den Kongreß »Wir können uns der Geschichte nicht entziehen« und fährt fort: »So hilf uns, o Gott, daß wir uns der Geschichte nicht entziehen, daß uns jedoch Geschichte gewährt werde.« *

Veröffentlicht als: The Interrelation of Judaism and Science, Philosophy and Ethics. The Dr. Samuel Schulman Lectures at the Hebrew Union College, Cincinnati/Ohio, 3–10, 11–17, 18–23.

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Baeck kann also nicht als ein genuiner Vertreter des Reformjudentums verstanden werden, aber gerade die Institutionen der Reformbewegung gaben ihm die Möglichkeit, das amerikanische Judentum anzusprechen. Im Hebrew Union College selbst besuchte nur eine kleine Gruppe von Studierenden seine Vorlesungen. Mit den hier dokumentierten Vorträgen aus dem Jahr 1949 in Cincinnati und in New York konnte er einer viel größeren Zahl von Gelehrten und Laien wichtige Grundzüge seiner Lehre darlegen. Dabei spricht Baeck weniger als der »Gelehrte« im Gegenüber mit anderen Wissenschaftlern als vielmehr wie ein Lehrender, der eine Verbindung mit den Hörern sucht, Rosenzweigs Idee vom »Lehrhaus« folgend. In seiner Rede über die Verbindung zwischen Religion und Philosophie benutzt Baeck eine einfache, klare Sprache, so daß alle Zuhörenden auf dem Gebiet der Philosophie Heimat finden können. Paradoxien schärfen die Aufmerksamkeit der Anwesenden: Einsteins Satz »Das unverständlichste Ding an der Welt ist, daß die Welt verstehbar ist.« oder ein Epigramm von Oscar Wilde: »Nur oberflächliche Menschen beurteilen nicht nach dem Äußeren. … Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare und nicht das Unsichtbare.« Und dann bringt Baeck Kant und Max Planck ins Gespräch, und die Hörenden können ihm folgen. Andere Philosophen – Sokrates, Platon und Spinoza – werden herangezogen, um zu zeigen, daß beide, Philosophie und Religion, dem Menschen helfen, seine Identität zu entwickeln. In den Fragen nach dem Vortrag verteidigt Baeck die Religion gegen den Vorwurf, das Rationale nicht anzuerkennen. Und man hört etwas ganz Neues zur Definition des Existentialismus unter Heranziehung Martin Luthers. Ohne alle Vorträge hier nun im einzelnen durchzugehen – das beste bleibt, sie selbst zu lesen –, soll noch kurz auf Baecks Position zum Staat Israel, die hier auch zur Sprache kommt, eingegangen werden. 1950 konnte er noch die Euphorie der Staatsgründung teilen und die utopischen Träume der Jahrtausende in diesem Moment der Geschichte in Erfüllung gehen sehen. Baeck sieht den Staat innerhalb der geschichtlichen Existenz des Volkes Israel, in den Polaritäten, in denen Jerusalem und die Diaspora als Foci einer dynamischen Entwicklung erkennbar sind. Auch Amerika als das neue Zentrum, welches jetzt dem Aufleben des Volkes Israel in dieser neuen Zeit eine neue Kraft gibt, wird hier anerkannt. Ein mystischer Glaube an das Land selbst, das Land der Bibel und das Land der Freiheit, zeigt sich in Baecks Worten. Die Fragen zu diesem Vortrag zeigen dagegen einen gewissen Skeptizismus, auch die endemische Furcht und das Mißtrauen vor dem 110

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»Marxismus«, das im Amerika der 50er Jahre zum Teil skurrile Formen annahm: Ehe Baeck Präsident Truman besuchen konnte, mußte man die Berater von Truman überzeugen, daß Baeck kein Kommunist war. Auch als Eisenhower Präsident der Columbia-Universität war und Martin Buber einen Vortrag halten sollte, wollte er Gewißheit haben, daß Buber kein Kommunist war. Dennoch: Baecks Hoffnung und Zuversicht, daß sich ein neues ethisches Denken und die Liebe zum Mitmenschen in Israel entwickeln würden, ist ein wichtiges Wort für unsere Zeit. Baeck wußte, wie der Text zeigt, daß jeder Staat, in das Wirrwarr des politischen Handelns hineingezogen, in Gefahr steht. Dennoch zeigt er eine große Zuversicht, daß der utopische Traum in der Welt leben kann und Hoffnung für die Zukunft bringt.

Is there any interrelation between Judaism, and religion generally, and science? If there is such an interrelation, how shall we describe and define it? Are there factors related to both, common to each, something mutual by virtue of which each adds significance to the other or even gives of its own benefits to the other? These questions must be approached with all the caution they demand. Science means systematized study, methodological research, exact investigation, directed towards the discovery of those general and special laws that operate in the world, making it a universe, a cosmos, a harmonious system. Again we ask the question: What is it which relates religion and science? First and foremost, one must see that religion and science are distinct, entirely distinct. There is a fundamental difference between the two in method, in aim, in point of view and point of departure. Science is the sphere of that which, apart from intuition, is to be reached by numbering, calculating, measuring, weighing and combining. Its procedures and its logic are mathematical. At the portals of science might be written the sentence inscribed on the door of Plato’s Academy: »No one ignorant of mathematics may enter.« This is science. And religion – though many a definition of religion has been proposed in the course of time – it has never been suggested that religion is a way to be followed or a goal to be achieved by means of counting, balancing, computing, or any other mathematical formula. There is strong distinction between religion and science. One can understand both best by being aware of this distinction and by being aware of its indispensibility. In this distinctiveness one perceives 111

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that each is fully independent of the other. Each must be conscious of its own sphere and respect the other’s sphere. Science must remain science and religion must remain religion. Science cannot judge or take the place of religion. In the eighteenth century, and since then, many people believed science could and should do so. Nor can religion be established as some kind of supreme authority above science. In the Middle Ages, and since, some people have thought this could and should be so. Science and religion were both prejudiced by these claims. It was a weakness in religion when it sought justification or vindication through science. Science showed the same weakness when it, so to speak, looked to religion for approbation. Each must retain its identity. Science must be science and religion must be religion. Nevertheless, there can and should be an interrelation between the two. There is indeed a sphere, a spiritual one, common to both, characteristic of both; a mutual feeling – one could say, a moral atmosphere wherein both science and religion can fully breathe and soar. This common sphere, this moral atmosphere is an awareness of the sublime, of the exalted; a sensibility to the reality of the great. Religion and science cannot be without this awe, this reverence. An irreverent and arrogant science, a religion aweless and irreverent, quite particularly an arrogant Judaism, would be a contradiction in terms. Genuine science breathes in an atmosphere of reverent respect. Again and again, the man of science experiences the infinity and immensity of the universe which he investigates and can never penetrate. He becomes more and more aware of the endlessness of the task which is ever renewed and never ended. He lives in a world of reverence, a realm from which pettiness and narrow-mindedness are excluded. Goethe, both a poet and a scientist, put it thus: »It is the greatest blessing with which a spiritual man can be blessed: to have explored what can be explored and silently to revere what cannot be explored.« This, too, is the sentiment implanted and fostered by religion and, we may add, first and foremost by the Jewish religion. Judaism might well be called the religion of awe and reverence. Few feelings find more frequent or impressive expression in our Bible. The religious man is conscious of the sphere of God, of the greatness of the Creator, the magnitude of creation, the majesty of the divine commandment and the grandeur of the duty that lies before him and never will be fully accomplished. He is aware that he is confronted by the Universe and the Law, or, to quote the famous 112

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sentence of Kant, with »the starry heavens above him and the moral law within«. Religion, then, cannot exist except in the deep soil of this consciousness. Here both may breathe a common atmosphere; here there is an interrelation of science and religion. One could dare to say: Reverence is the religious atmosphere of science and the scientific atmosphere of religion. Another factor indicating interrelationship might be described as the sense of spiritual and intellectual honesty. Lecomte du Nouy, a French scientist who lived in this country and wrote two remarkable books, Human Destiny and The Road to Reason, in the latter defined the scientist in these terms: »He must be absolutely honest and endowed with intelligence and brilliant imagination.« This formulation contains much that applies to the religious mind as well. For the scientist, »absolute honesty«, whether inherent or acquired, is indeed a primary and indispensable quality. As we reflect upon his role, we rightly stress his clear thinking, his sagacity and sensitivity in judgment, but even more, we must emphasize his honesty of mind. What we call objectivity, detachment, is primarily this honesty. It has long been a subject of controversy as to whether there could ever be a science entirely free of prejudice or a scientist exempt from bias or preconceptions. Each man is born into a certain milieu, is somehow determined by his environment. He exists in the social, moral and intellectual climate of his land. He lives in a historic period, carried along by a trend of history. That is self-evident. Moreover, people also, unconsciously and even consciously, may make themselves dependent on the system of thought of a party or a school. Many may be influenced by the opinions and tenets of others. Special interests may claim their attention. The moral and intellectual history of mankind tells many stories of combat between ideas and interests. Sometimes the idea was the victim; sometimes the interest was finally overcome. The sharp criticism that the Marxian schools formerly leveled against what they called bourgeois science was that it had its origin in such special interests. Such a mechanical criticism obviously springs from political bias. One should at no time forbear to stress that honesty is the precondition for genuine scientific and scholarly work. This applies to religion also. It should not be overlooked that religiousness means a way of thinking, as well as a way of feeling and of doing. Thought that is righteous and free from prejudice is supposition and proof of piety. To both the man of religion and science, we 113

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may attribute what is written in the psalm: »He speaketh truth in his heart.« Thus honesty, consequent upon awe and reverence, is common to science and religion, and is a part of the atmosphere in which both thrive and prosper. One might say that awe is the starting point and honesty the effect in religion as well as in science. An interrelation appears here. There is another quality which might be called intuition – and defined as the faculty of immediately comprehending the whole through perception of the single component, and in the same manner of apprehending the single, the something individual, when grasping the whole, the universal. Intuition is the sense of revelation – the ability to embrace simultaneously that which actually comes within sight and that which lies dynamically in the background. Science begins with appreciation of and, indeed, respect for the detail. There can be no methodological program without affectionate attention to the particular. Nothing is too small in learning, nothing is insignificant. Only if this path is followed patiently can the scientific goal be reached. Even genius is to a great degree a matter of strong endurance. It should be the student’s ambition to make himself the foremost specialist in any province of knowledge, science or art, however small. Sometimes, attending to details is very hard, very tiring, but there is no road leading to genuine results other than the way which is paved by detail. One day I was privileged to see a letter written by that great humanist and jurist, Oliver Wendell Holmes, to a young friend, a law student who lamented upon the dullness of details. Justice Holmes replied with tins wonderful sentence: »For your sake, I hope that when your work seems to present only mean details, you may realize that every detail has the mystery of the universe behind it and may keep up an undying faith.« A remarkable sentence, truly a scientific and religious sentence. »Every detail has the mystery of the universe behind it.« Indeed every detail points to something greater, to an endless task, a far-off goal, to an enduring dignity. When reading this, I recalled a fine and significant thought expressed by the distinguished art historian, A. M. Warburg, founder of the Warburg Institute. He used to tell young people who felt bogged down in petty work: »You must know, the Lord dwells in the detail«, or to quote the original »Der Liebe Gott wohnt im Detail.« It is a witty word and a profoundly thoughtful phrase. Every detail is rooted in something greater, and this again within a comprehending greatness. By a deep respect for the single, the scientist experiences 114

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the intuition which simultaneously includes the individual and the universal. This quality is characteristic of science and also of religion. To the man of religion, the detail is a portal to revelation and the revelation, this aspect of the valid and universal, is expressed to him in something particular and individual. Piety, especially Jewish piety, respects the little – the little man, the little matter, the little task, the little duty. Through the little, religion meets the greatness that lies behind. Moreover, religiousness means a strong readiness for the sake of the whole and the forever which is to begin here and now and this here and now always means something special, something individual. God alone could begin with the whole. There is an old saying that at its manifestation the Divine Law was divided into six hundred and thirteen commandments, each of them being only a detail, but every one of them leading to the wholeness of the Law. This, then, is religious insight – the ability to grasp both the whole, the ideal, and also the detail, the tangible; neither to pass by the detail, as the Reform movement sometimes does; nor to forget the former as the Conservatives tend to do. Thus, the way of insight, of intuition that issues from awe and reverence, is common to religion and science and is part of the interrelation between the two. A further consonance between science and religion, again issuing from the spirit of awe and reverence, is the appreciation of the unknown, the mystery, the sense of the secret. There is in science the lasting problem of infinity. Time and again science grapples with the unknown. Perhaps it is today’s unknown which will be known tomorrow. Or it may be the unknown from which the human mind seems to be barred. The mind abides surrounded by infinity. It stands to reason that the borderline dividing the known from the unknown is not fixed. The history of science is a history of the shifting of this barrier through discoveries that widen the horizon, conquer new realms of knowledge, by weighing, numbering and calculating. Yet behind this remains the mystery. At this point we are often met with a common error. People suppose that discoveries that throw back the borderline between the known and the unknown reduce the number of remaining enigmas. The contrary is true. Every riddle solved poses two and three new riddles; every answer given arouses new questions. The progress of science is matched by an increase in the hidden and in the mysterious. The world of our day is darker than it was in times of old. To the 115

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Babylonian and Greek mathematicians and astronomers, who were indeed great scientists and originators of knowledge, the cosmos was clearer, more patent and more obvious than, shall we say, to Galileo, Kepler and Newton. And Galileo, Kepler and Newton were masters who opened new roads, yet looked at the construction of the universe with greater certainty than the scientist of our times. There is no new knowledge without a new problem. We are encompassed by questions to which only awe can respond. Here again, religion and science meet with each other. In the soul of religion is the sense of infinity, the consciousness of the hidden, of the secret, which is round about and also profoundly within man. A religious man, especially a Jew, can never be a man of answers only; he remains alive to questions, awake to the voice of endlessness. It is true that as to the source and the direction of this faculty there is a real difference between religion and science. Religion somehow issues from the mystery; science somehow arrives at the mystery. In religion, mystery is central. In science, it is peripheral. Each, therefore, has its own relationship to the secret, but because there is this common relationship, there is indeed an interrelation. Hence science and religion can appreciate and dignify each other. Judaism may be especially conscious of this, for it is a nondogmatic religion. It is always alive to the mystery, but does not encroach upon it; it affirms the secret, but does not attempt to define it. Here, too, is the religion of awe. Religion and science, to sum up, are different from each other. Science tries to demonstrate the roots and reasons of existence; religion points to the origins, the ways and goals of life. But common to both is awe and that which springs from it: honesty of thought, comprehending intuition and a sense of the infinite. Today, perhaps more than ever, we need the sincerity of such a conception. We have come to that time when the earth, this small planet, home of mankind and human history, has become smaller and narrower in range, while the universe has become more and more vast and immense. Because of the development of optical and accoustical instruments and because of the mew means of mechanical progress which permit us to conquer distance, our earth appears to have lessened in size. This is the cause of much unrest. We are not only enabled, we are almost compelled, to see, to hear and learn what comes to pass everywhere. We are virtually compelled to witness anything that happens in any zone of our planet. Peoples are drawn nearer to each other. They can scarcely escape each other. They sometimes feel ill at ease in this narrowness. 116

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And obversely, in what we call the universe, endless distances extending toward new spheres of infinitude and new worlds are emerging from a beyond. Within the very reach of observation and inference cosmic systems stand revealed, and we are learning what takes place there. A sense of forlornness and giddiness may encompass the human mind, confronted, stupefied by these immensities. A contemporary scientist, Pascual Jordan, in a book, Physics and the Secret of Organic Life, refers to the stars as »the big laboratories of the heaven in which nature makes experiments of an enormousness surpassing even all comparison«. And, like the stars, just as the atom, the smallest elementary particle, is such a cosmic laboratory, now entrusted to man. The pressure of a narrowness never before known, and of an immensity equally unknown before, is put upon us. It seems that a new epoch is beginning or has begun. It is expressed in the words of Virgil in the motto on the reverse side of the Great Seal of the United States: Novus ordo seclorum, »A new order of the ages«. The era seems to lay claim to a new mental attitude. In such a period there is spiritual and moral solace and reassurance for the soul that these two great sources of power, religion and science, these well-springs of vigor for humanity, will meet, will always meet in a community of feelings in a common atmosphere of awe, of reverence. It is a consolation to be aware of this interrelation. In these crucial, testing times, awe and reverence will give strength to man; they will greatly help him, inspiring him with a deep confidence so that he may stand in his place. They will make him conscious of that which endures, and aware of the lasting reality in all of life. Here religion and science have their interrelation and lend significance to each other. Question: Can the scientist, as scientist, believing in the unknowable, still have a belief in a personal God? Answer: He who acknowledges the unknowable acknowledges the mystery. God is surrounded by mystery. No man can know what God is; he can only be aware of God’s manifestation within the human sphere. God is the known and the unknown God, the revealed and the hidden. We name Him, and He cannot be named. When Moses asked about the name of God, the answer was, »I am that I am.« That means his name is nameless, an ineffable. The unknowable is approached by religion and science. Science meets it while attempting to explore the ways of the universe, and religion meets it while striving to show the ways of human life. On the road of science, 117

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the human mind ever learns new things, but the personal God will not be found there. On the road of life, our mind, our soul, our heart and conscience will experience always the same things because the same problems of human life, as old as mankind, are born anew with every human being. Here man can find the personal God. One day he hears the mysterious voice that calls him and tells him: thou shalt; thou shalt not; and comforts him and strengthens him, saying that there is something behind and beyond which pertains to the last day. Here, in his deepest personal experiences, he experiences the personal God. Therefore, the scientist as such, in his approach to the orbits of the cosmos will one day find there the unknowable, yet not the personal God. But the scientist may, in the experiment of his own life, experience the fears and hopes, the grief and joy of his personal life, and he may also be stricken by the questions and afflictions of all human life. There he can find his God, the personal God. Question: How is it possible to speak of honesty in relation to the unknown, which you take to be the point of departure in religion? In other words, what, if any, is the intellectual basis of theological propositions? Would not the honest thing be to say we do not know? Answer: I think some part of this question was answered in my reply to the first question. A man who would fancy that he knows all, or that the main problems are clear to him, in any case would not be a religious man. Socrates said that philosophy begins with knowing that one does not know. With religion, this is even more true. The man who thinks he knows all is far away from the road to religion. It was in the heyday of irreligious and anti-religious materialism that people supposed they could explain everything. They knew all. But religious thought is based on knowing what it does not know. In relation to the unknown you emphasize: Would not the honest thing be to say we do not know? I agree. Especially in Judaism, there is a great measure of agnosticism. Then the questioner asks about the intellectual basis of theological propositions. Purposely I have not spoken of theology here. Theology is the interweaving of philosophy and religion. The propositions of theology, therefore, do indeed rest upon an intellectual basis. The proposition can be theoretical, setting forth a principle, or it may pose a problem that is to be answered, or perhaps cannot be answered. Of Jewish theology, it is characteristic that it presents more problems than it does theories. Its intellectual basis consists in great measure in the recognition that there are lasting problems which at all times are set before the human mind which must ever struggle with them anew. Every pro118

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position involves also a presupposition, one could even say an act of faith. Even in mathematics, it is not possible to avoid presuppositions. And in Jewish theology this presupposition is a two-fold affirmation: the honest affirmation of the infinite within which the known and that which is capable of investigation turns to the unknown and the unknowable; and the honest affirmation of the determined, the individual life within which man always has to answer, to make decisions. Today, I have attempted to deal with the first affirmation. The third lecture will deal with the other. Thus Jewish theology says strongly, firmly: we do not know, but it does not say only and merely this. Question: The interrelations you list apply to certain kinds of people who may be engaged in scientific or religious pursuits. Do the same interrelations not apply to such people in any pursuits? Answer: My answer is in the affirmative. Of course, the craftsman, the businessman, people in any pursuit, must have this sense of honesty, this reverence for the totality, this respect for the details that are the way to the whole and for the whole that rests upon the details – that is to say, something religious, something scientific. But in religion and science, this sentiment has its origin, its strength and fullness. Question: What is the meaning of the term »reality of the great« to the scientist whose honesty compels him continually to try to push back the unknown frontiers and whose principle is: there is nothing that is not eventually knowable? Answer: This question stresses the term »reality of the great«. Reality means that an appearance, a phenomenon, is not merely an idea or exists not only in our apprehension, but has an objective existence. Reality is a presupposition of science. To quote a sentence from Albert Einstein’s essay, The World As I See It, »the belief in an external world, independent of the perceiving subject, is the basis of all science.« And it is a presupposition also of Judaism. The word creation denotes reality, whereas, for instance, Buddhism denies this reality. And, the term »the great« connotes that which in measure is beyond human standards and in significance beyond ordinary goals. Thus the reality of the great means, in the sphere of the universe, the reality of an infinite – beyond the galaxies; and in the sphere of humanity, it means an ultimate goal for the human task and destiny. And now as to the principle that there is nothing that is not eventually knowable. As a working hypothesis, in order that the scientist may 119

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continually try to push back the frontiers, this can be accepted. But as a final and definite theory it must be met with reservations. Some sixty years ago Emil Dubois-Reymond, in an essay concerning these frontiers, proposed that there are problems not solved today, but to be solved tomorrow. As to them we could say: ignoramus – we do not know. But there are also problems which, by their very nature, seem unsolvable by the human mind. As to them, we should say: ignorabimus – we shall not know. Is this today’s argument, too? I do not dare to answer in the negative. Question: The social sciences would call value judgments unscientific. How should religion react to this attitude? Answer: One should be careful about calling any method or any department of knowledge unscientific. What truth is there which, in the course of time, has not been called unscientific? Half a century ago a renowned physicist, Ernst Mach, thought that the atom theory, then only tentative, was unscientific. Since then we have come to know its terrible actuality. Nevertheless, our question has its significance. There are two kinds of judgment, each with its own method: the one, as in physics and chemistry, based on palpable, measured facts; the other, as in ethics or aesthetics, based on spiritual and moral facts. Essentially the former has its objective factors, the latter its subjective factors, but each is equally able to pass a clear and right judgment. The one states and judges the nature of the existence; the other states and judges the value inherent in an existence. The one deals with some part of the universe; the other with some part of the human sphere, and here, too, rules and conclusions can be stated. The attitude of religion toward value judgments in the human sphere is, therefore, evidently both positive and affirmative. Question: What is the method of religion as contrasted to the method of science? Answer: The method of religion is not the mathematical procedure through which science explores the ways of the cosmos. Religion searches for the meaning of all life and, even apart from the intuition of the genius and traditional knowledge, its method is rather a psychological one. It searches for the unity from which all life is to be derived, for the connections of the irrational that is at the root and the rational that is the expression; for the lasting categorical imperatives and categorical hopes that rule the true life; for the course through which man really becomes man and for the hard experi-

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ment through which genuine human life is achieved. This is the religious method. Question: Does the scientist acknowledge a dividing line between the unknowable and the unknown knowable? Answer: Should the word »dividing line« mean a rigid line, the scientist would scarcely acknowledge it. No one knows what tomorrow, what the year 2000, may bring – and this is true of answers as well as questions. New knowledge that no one had foreseen may arise, but also new mystery that no one could anticipate. It is the task of the scientist to try to push the line back in order to discover new light, perhaps new darkness. He will not acknowledge a hard, fixed line between the unknowable and the unknown.

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Judaism has always been particularly concerned with its relation to philosophy. From of old, the Jewish mind has been interested in and has had affection for philosophy. The first Greek who became acquainted with Jews and Judaism – the naturalist and philosopher, Theophrastus, disciple of Aristotle and later Aristotle’s successor as head of the Peripatetic School, called the Jews a »philosophical race«, or, to render the Greek word more exactly, »philosophers by birth«. His contemporary, the Greek historian Megasthenes, one-time Syrian ambassador to the Court of an Indian King, mentioned the Jews in a book he wrote about India, commenting that what the Brahmins are in India, the Jews – those sacerdotal philosophers – are in the Near East. What is philosophy? Perhaps it will be helpful to give a very simple explanation first. We might say that philosophy is the art by which man attentively examines his surroundings and looks into himself to discover his origin in the midst of all that exists, his place on earth and his way through the years of his life. Philosophy on principle starts with the question, the inquiry. Socrates, master of philosophy and philosophers, was a persistent interrogator, always ready and able to interrogate himself, and hence prepared and qualified to interrogate and sometimes to agitate and irritate other people. Plato, who was perhaps the greatest of all philosophers, said that philosophy begins with astonishment, with amazement; that is, with a big question. To spur questions he composed his treatises in the form of dialogues. And the Jews, by the way, were always good questioners. It is an old saying. Ask a Jew a question and he answers with a question. Indeed, philosophy is a specific kind of questioning. But to put it in more technical language, we might say that philosophy is the endeavor to investigate all facts with regard to their rea122

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lity and unreality, to explore whether there is such a thing as reality and, if so, what is the principle, the reason, the mark of reality? Reality is the main problem of philosophy. The task of science is the search for the general and special laws operating in the world. Science proceeds from the presupposition that this world is a reality. Philosophy disputes this act of faith and calls it in question. Reality being the problem of philosophy, its foremost question must be whether it is possible to arrive at a reality and, what is the way of perception, the manner of apprehending it. What do we perceive? Do we perceive only a surface? Do we perceive only an appearance, an aspect of things; or are we able to see them whole and to discern realities, so that an actual entity is revealed to us? Is there, on the whole, any possibility of true experience, or is our scientific system founded on the agreed-upon supposition, on a universal working hypothesis? Question upon question. But since the days of the old Indian and Greek philosophers these questions have been asked time and again. This is the root of philosophy. We must not take it as self-evident, as a foregone conclusion, that we plainly apprehend. A sentence from Einstein – it may sound a little bizarre – stresses the point: »The most inexplicable thing about the world is that the world is explicable.« Indeed, do we know why we know? Moreover, there are millions of people, and none of them see alike. There are not two people who see the same things in the same way. Do we know what we know? Immanuel Kant, who initiated a new era in the history of philosophy, said in the preface to the second edition of his chief work, Critique of Pure Reason (and he considered it something horrible), that hitherto it has not been possible to demonstrate the reality of external things. Five generations have passed since he spoke, but his words are still valid today. The problem is still ours. Is there a way to clear up this problem? In the attempt we must first consider that there is no one philosophy. We know only philosophies, in the plural. When dealing with the character of science, we speak of the science, because there is one comprehensive science, the one unique way, the one kind of evidence. Of course, men of science are distinctive. There are different ways of interpreting a fact, in drawing conclusions from a premise, in drawing inferences, and there may also be predelections and even presuppositions. We know also that there are changes and revolutions in science. We need only call to mind the revolution that occurred in geometry when the old classic Euclidean geometry was superseded by the so-called fourth dimension geometry. Nevertheless, we may justly speak of the science, but 123

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we cannot speak of the philosophy. There are philosophies, entirely different philosophies, separated in principle and foundation. On the one hand there is materialism, which considers all facts of the universe and human life to be sufficiently explained by the existence and nature of matter; that is, the existence and nature of the palpable quantity, the issue of which is also quality, so that differences in the quality are really but differences in the quantum. All is matter, and matter is all. This materialism, which, in the last two centuries was a favorite philosophy in the thinking of the so-called bourgeoisie, and by an odd succession has come to be communism’s official philosophical dostrine, is the most dogmatic of all philosophies. The belief in an external world, independent of the process of knowing it, which science postulates as a general working hypothesis in order to start the search, has been established here as the most definitive truth, as a principal dogma. Its fundamental character is, for example, clearly emphasized by Nicolai Lenin, the victorious leader and theorist of Bolshevism, in his book Materialism and Empirio Criticism (empirio-criticism is criticism based on empirical method, without resort to theory). There, it is stressed: »The only quality of matter, the only one in the acknowledgment of which philosophical materialism is bound up, is that matter is objective reality, existing outside our perception.« What matter presents is the reality, the only reality that exists, and reality, therefore, is completely represented by matter without being transformed by the process of conceiving. That is the code of materialism. On the other hand, and likewise the result of simplification, there is sensationalism. Proceeding from the other extreme, this philosophy emphasizes that nothing exists but appearances. There is no fact or phenomenon except through the man who perceives it. All knowledge is known through the senses, thus reality is known only through perception. It is interesting to see that in modern times sensationalism has been most ingeniously expressed by Irish philosophers. The originator of sensationalism in the Eighteenth Century was the Irish Bishop George Berkeley, who declared that so-called material things exist only in being perceived, having no reality in themselves, therefore no objective existence can be ascertained. In another generation this philosophy was given epigramatic form by the Irish author, Oscar Wilde, who sometimes quite provokingly, sought philosophic implications in everything. Wilde affirmed: »Try as we may, we cannot get behind the appearance of things to reality, and the terrible reason may be that there is no reality in things apart from their appearance.« Another sensationalist author from Ireland, 124

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George Bernard Shaw, could have written that sentence. And another epigram from Wilde holds: »It is only shallow people who do not judge by appearance. The true mystery of the world is the visible and not the invisible.« These are the two extremes of philosophical simplification: Materialism, the extreme expression of realism, and sensationalism, the extreme expression of spiritualism. One asserts, »Matter is all«, the other, »All is sensation.« Certainly, the mind in its workings often cannot operate without simplifications. They are very helpful expedients. But it is the main task of philosophy never to content itself with any expedient, however suitable, but to acknowledge and to investigate complexity; that is, to see the whole and its properties. This is the aim of that trend in philosophy which may be called critical philosophy or simply philosophy in the strict sense of the word. It takes into account not matter alone or sensation alone, but the whole, the unit with which the mind is confronted. And the whole includes not only perception and matter, but also that which is evidently behind them and perhaps connects them. As Immanuel Kant expressed it: What is behind the experience is the presupposition of all experience. The physicist Max Planck, whose quantum theory with Einstein’s theory of relativity forms the basis of modern physics, put it this way in his book, The Meaning and the Limits of Exact Knowledge: »The world reached by the organs of sense is not the only one that exists, but there is still another world (he calls it the metaphysical reality) that certainly is not directly accessible to us, but that time and again is pointed out to us not only by life itself, but by the work of science with cogent distinctness.« This philosophy does not, as does sensationalism, deny the objectivity of the external world by affirming only the perception; nor does it, as does materialism, affirm the full reality of the external world by denying the perceptive factor. This philosophy considers the whole – the actual connection of objective perception, of the accessible and the inaccessible. These are the main trends in philosophy. And now our question arises: Is there an interrelation between Judaism, and religion generally, and any of these philosophies? There can hardly be any interrelation with materialism. Judaism stresses metaphysical reality, the reality of that which cannot be directly attained, but enters into the sphere of the human mind and manifests itself. Materialism rejects that dogmatically. Again, it would be difficult to find an interrelation with sensationalism, which teaches that we human beings live in a world of appearances only, that nothing 125

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exists outside our perception. Sensationalism might well fit Buddhism. Judaism has too strong a sense of the reality in which man is placed from birth. There is more of an interrelation between Judaism and that philosophy which holds that reality is neither confined to matter nor negated by perception, but that there is an actuality comprising matter and perception, and that it is through an apprehension of both that reality may be revealed. Historical evidence of this interrelation may be provided. From the days of Philo to modern times, Judaism and this philosophy have met each other repeatedly. Here there is common ground. What is this common ground? To understand it, we must keep in view two facts. One of these is that we are living in a world made up of objects that can be numbered, measured and weighed, in a world of science, of observations and experiments, which have been greatly developed in the course of years. It is the world of the socalled rational, of rational law and rational premise. This fact must be fully acknowledged. We cannot question this without questioning ourselves. The great mathematician and philosopher, Descartes, who stands at the threshold of modern times, began with the principle that, although we can doubt anything, we cannot doubt our doubting, our thinking. We cannot dispute the title of mathematics to the sphere of the rational. But there is another fact just as evident as the fact of the rational. That is the fact that we are also living in a sphere where the rational can no longer prove instrumental, in a sphere where mathematics and its logic will no longer show the way. Even mathematics may sometimes arrive at the point where something non-rational seems to begin. The French mathematician, Henri Poincaré, a cousin of the French statesman, Raymond Poincaré, spoke of meta-mathematics, by which he meant that at the bottom of mathematics there is something transcending mathematics. What does the word non-rational signify? When we discussed the interrelation of religion and science we referred to two spheres; on the one hand the sphere of the known and the unknown which, however, may one day be known; and on the other hand, the sphere of that which seems unknowable because it transcends the reach of science. This second sphere can be called the non-rational, since it defies the mathematical, the rational method. The reference to the non-rational is quite deliberate. It is not the irrational which is under discussion. The non-rational is not contrary to the rational but coherent with or inherent in it, and obviously manifests itself in or out 126

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of the rational. Meta-mathematics, for example, could prove to be the basis of our rational mathematics. Generally, the non-rational could be the root, the ground work, the one foundation of all which appears in the rational. Our life also reveals itself through these two facts – the fact of the rational and the fact of the non-rational. In addition to the ample field of the rational, there is also the manifold sphere of that which cannot be derived from anything rational – the sphere of conscience, righteousness, love, compassion, piety, generosity, sense of duty, sense of the ideal, sense of the beautiful; the sphere of art, music and poetry, of vision and imagination, this entire sphere wherein develop the inner endowments and potentialities, the noblest motives and impulses of man. Certainly they result in something rational, but they cannot be deduced from or explained by the rational. The distinction may be illustrated in this way. To wage war successfully in these days of great technological and economic progress requires a grasp of the rational. Supremacy in industrial production and economic structure may hope to carry the day. But to make peace, to win the peace, demands the comprehension of the non-rational, and an insight into spiritual forces. He who has the greater idea and is alive to higher morals and values, who is sensitive to the »metaphysical« world, will give the final, lasting answer. The existence of these two facts in human life and, therefore, also in history, cannot be denied. And perhaps there may be some actuality or some texture in the manifold contingencies which penetrate human life. We recognize here something like the »laws of chance« of which modern scientists speak paradoxically. He who looks back over the decades becomes aware of mysterious factors operating in his life, of ostensibly small causes producing large effects. Had he not been here … had he met not this man but that one, the direction and the destiny of his life would have been quite different. To give it a name, we call this chance. Yet, what is the character and what is the range of this world? Life is not like a mathematical problem that can be solved and brought to an end without any residue. Something indissoluble always remains. It is the broad reality of these two parts which genuine philosophy always keeps in view in order to be able to comprehend the whole. An interrelation between Judaism and philosophy can be seen here, indeed a common ground. Judaism also affirms all manifestations of factual reality. It derives these manifestations from the one God, the origin and source of all reality and all individuality. It emphasizes likewise the whole, it contemplates everywhere the unities 127

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and, ultimately, the universal unity presented by the One God. Of course, there is also a distinct difference between philosophy and religion. Philosophy relates to a system of thinking the truth; religion to a way of accomplishing the true thought. Philosophy seeks to build up a system; religion, to build a life. Philosophy stresses the form; religion, the conduct. Philosophy starts with a thesis; religion, with an act of will. Yet, even with these differences, they may benefit each other. Philosophy, by its questions and challenges, will warn religion not to forget, not to unlearn; warn it to grow neither doctrinaire nor presumptuous; not to obscure clarity and reason, or fall short of cultural and educational standards. Philosophy can sometimes be the intellectual conscience of religion. On the other hand, religion can somehow be the moral, the spiritual conscience of philosophy. It can keep philosophy from avidity and bloodlessness, from being a mere matter of formal principles and definitions, from losing sight of man’s existence or his thoughts as he faces darkness and light. This interrelation has a special feature. Philosophy and religion appeal to man in a way quite other than does science. Scientific truth means accuracy, strictness, cogency, but it is not related to the very quality of man. Galileo’s doctrines would not have forfeited any of their importance had he been a man of feeble character. But religious truth cannot be dissociated from the man who teaches it. Here the verity is simultaneously a human verity, a personal testimony, a living veracity. So, too, philosophy, if it is not merely natural philosophy or only a technique. The philosopher cannot presume to disappear behind his doctrine. His personality is to a certain extent a part of his thinking. Some philosophers have disputed this. Arthur Schopenhauer, while claiming that he was building a new, an absolute, philosophy, hotly contested this view. He asserted: »As a sculptor who forms a statue of a very beautiful man need not himself be a very beautiful man, so a philosopher who forms and emphasizes the ideal of a saintly life need not himself live this saintly life.« Those acquainted with Schopenhauer’s life know that here he was the advocate of his own way of life. This is not the common ground which characterizes the philosophy of Socrates and Plato or Spinoza and Kant, among others. Philosophy, like religion, may also shape personality, so that life may reveal its character. Such is the interrelation of these two. There can be a giving and a taking. Each in its own peculiar way, on this common ground, will grant to man a certainty of existence, an assuredness of his identity, an awareness of his place. In these days we very much need this assurance. Rationalism 128

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alone can scarcely give it. Perhaps it could in earlier, easier days, but it cannot now. Nor can non-rationalism meet the need, except perhaps in isolated hours. Only the two together reveal the whole, the reality, which is manifest in the universe and in our life. Question: According to you, religion can be defined as a definition of the universe which transforms the non-rational into the rational. Does not this distinction defeat the purpose of religion? Answer: The question points to something noteworthy, but I must qualify the word »transform«. Transforming means changing, and we cannot speak here of »change«. We meet with the non-rational in the experiences of life and in the development of science without being able to explain its form and substance. We can only draw tangents to the non-rational, and by that act indicate its area and try to bring it nearer to the rational sphere and to express it through these tangents. The marks are like symbols – rational signs of a non-rational. This is an act of expression, not of transformation. The intuition that operates in science, art and religion is an aid and a means. An example taken from the field of art may provide an illustration. What is the difference between the painter and the photographer? The photographer, through skillful use of his instrument, records the visibility of a face or a landscape. What he represents is held in and explained by the rational reach. The painter seizes something more. He comprehends a reality behind the visible; he discovers the reality of a soul, expressed through a countenance; a creative wholeness, expressed through a meadow or a wood. If we view a portrait painted by Rembrandt in his later years, we see that very little is visible but the fullness of that which indicates a sphere of the non-rational – the invisible soul and destiny of man, his fear and hope. In a witty epigrammatical manner, Max Liebermann, the painter, once expressed this thought to a model who complained that he found no likeness in his portrait. »Indeed, I have portrayed you more like yourself than you are«, said Liebermann. The subject had known only his visible face, the rational factor. Liebermann had detected what was behind it, the non-rational constituent. In this way, too, we come to understand the uniqueness and the significance of the prophets. The prophets were religious men of genius. They had the tangential approach, the insights from the rational to the non-rational. Their discoveries, their revelations, are handed down to us. Every genius is such a mediator between the rational and the non-rational: the great poet, the great musician, the great artist, the great scientist, the great philosopher and, especially, the great prophet. 129

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This is the way I should like to answer this part of the question. And now to the second part of the question: does not this distinction defeat the purpose of religion? I think it does not. Religion, Judaism in particular, thereby opens the way to comprehension of the character of the universe and of life’s meaning and purpose. Judaism stresses the comprising unity of the two spheres. They belong to one another, both being the creation and revelation of the One God. The transcendent becomes imminent and the imminent has its transcendency. The one cannot be understood without the other. Without being aware of the non-rational, the reasoning mind would be incapable of grasping life’s inner forces and values and, on the other hand, the non-rational would be a mere term, a mere borderline, were it disassociated from the sphere of the human mind and its task. Moreover, the sphere of nearness to God, of devotion, prayer, hope, sacrifice and faith – this domain of religion – is now given foundation and establishment. A large world was conquered by religion when Judaism showed that unity. Question: What is your opinion of the school of Existentialism? Answer: That is a hard question because it would require extended time to give a full answer. However, I will try to make a few remarks. There is a theological form of Existentialism, the theology represented by a stern Lutheranism of our day. In the manner of Luther, it originates from man’s deep anxiety in the midst of a dismal world, from the dark distress of the human soul and the despair of lives facing death, and equates this with existence. Judaism cannot take this stand nor this point of view. Then there is a philosophy of Existentialism which, on the one hand, stresses the existential character of the individual, defining his nature and condition primarily by the here-and-now character of his existence. Existence is thus presented as the first reality. In this regard, Existentialism is opposed to the phenomenalism that disputes existence other than the phenomenal. On the other hand, the philosophy of Existentialism emphasizes the responsibility of the individual resulting from his existence, from the »call of eternity«, which summons him by the voice of conscience to make a human value of his existence. This Existentialism is genuine philosophy, and certainly we have here an interrelation, a common ground, with Judaism.

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The Interrelation of Judaism and Ethics

The problem of science, which was explored in the first lecture, is that of the operation of law in the universe. The problem of philosophy, which was examined in the second lecture, concerns reality, actual or supposed. The problem of ethics and its interrelation with religion is the problem of man, the place assigned to him, his given way, the goal shown to human beings. Therefore, the main question is: What is man? What is the nature, the character, the peculiar feature of this remarkable, curious being called »man«? Benjamin Franklin’s definition was »Man is the toolmaking animal.« And indeed man is the only being on earth that has proved able to devise instruments extending the range of his limbs, enlarging the reach and effectiveness of his organs. By means of these tools, man has made himself ruler of the earth. Before the tool was developed, the big beast was sovereign in the land. When man sought to picture a deity as a symbol of highest strength, he drew the figure of a beast. By virtue of the tool, man dispossessed the beast and established his own supremacy. He is the tool-making animal. But, however illuminating, this definition does not reveal the full significance of man. There is another peculiarity that also characterizes man and makes him distinctive. Man is the only creature on earth that has come to have knowledge of his grandparents and his grandchildren. The animal lacks this knowledge. The mother animal knows her child and the child animal knows the mother. It is not quite certain that the father animal knows the child or the child animal knows the father. Charles Darwin was inclined to doubt it. In any case, no animal knows its grandparents or its grandchildren. Only man has this acquaintance and relationship and is, therefore, able to hand down his tool and to impart of his thinking to another generation; thus bringing about a succession, completing historical links and ties. Man realizes history, is aware of development; the an131

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte

imal does not have that capacity. Thus man’s life is not mere existence, but something more; it comprises an order of experiences and a sequence of actions. This is the problem and the aim of ethics: To discover in these experiences and actions whatever root and rule and reason there may be, and by that act to comprehend the source and direct the course of human events. To approach this question, philosophers have treated ethics by some kind of empirical method, through the contemplation of what is generally called man’s nature, that is, his bearing, in relationship with other men. They arrived at the conclusion that it is natural selfishness which spurs human behaviour, and that this individual natural egoism knows no bounds. Or, to use the phrase of Thomas Hobbes: »Homo homini lupus.« (Man is wolf to man.) They held the view that he who wants to help and guide man must proceed from this fact. Hence, morality could be advanced only by means of rationalizing and ennobling this self-interest in the same way that one domesticates a wolf – by taming and teaming. This appeared to be a proper ethical procedure. Such a principle contains dangerous implications, something contrary to the real aim of ethics. Taming man, making him tractable, could easily justify forcing and subduing him. It is no accident that Thomas Hobbes, the most consistent and persistent advocate of this theory of man’s natural egoism, was at the same time a strong advocate of absolutism in government. If, indeed, egoism is natural to man, then the best and perhaps the only way to restrain his selfish instinct, to bridle his bellicose spirit, to prevent the anarchy of a war of all against all, and to bring about some measure of social life, would seem to be the establishment of a reasonable autocrazy, that most vigorous and efficacious tamer of man. In the Middle Ages there was an aphorism: »Homo est animal bipes quod vult cogi.« (Man is a two-footed animal that likes to be coerced.) Despotism liked this aphorism, and a moral system suitable to it found ready sponsors in all periods of history. This is indeed a dismal consequence, but history shows many such an example. The theory of utilitarianism, of which the finest representative was perhaps Jeremy Bentham, places us in quite a different, and happier, sphere. This ethical doctrine is much more interested in the fruits than in the roots of human actions. It begins with the assumption that morality is inherent in man and it proposes that this trend should be directed towards the greatest good. General usefulness, reasonableness, which also means balance of mind, the balance of pleasure 132

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The Interrelation of Judaism and Ethics

over pain, or, as Bentham put it, »The greatest happiness of the greatest number«, are considered the test and rule of morality. Doubtless this theory has proved appealing to man. It has helped man to find the right way; it has given him a goal, the goal of the greatest happiness of the greatest number. But is this theory not also one of a precarious good? Many an absolute ruler sought to justify his arbitrary actions by declaring that his autocratic regime was calculated to promote the wellbeing of the many. Utilitarianism can be made to serve many purposes. About 250 years ago Bernard Mandeville, a Dutch physician who lived in England, dealt with this problem in a satirical story, The Fable of the Bees. He wrote of a kingdom of bees where vicious drones lavishly spent money for luxuries, and money flowed and business prospered throughout the country. But one day the busy, vigorous bees, strict Puritans, of course, came to power. Vice and luxury were prohibited. Commerce shrank and many a bee began to long for the »good old days«. In his fable, Mandeville leaves us with the problems he raised unsolved. However, we may draw the conclusion that ethics based on the principle of utility offers problems. A parallel might be seen in another story. A city was marred by a disgraceful slum, given over to squalor and gloom. One day a cruel crime committed there dramatically called public attention to the spot and aroused the public conscience. Finally the old slum was cleared away and in its place was created a beautiful park dedicated to brightness and cleanliness. Thus the real welfare of the great number was brought about by an outrageous crime. Here again we are faced with the problem whether usefulness can serve as a test of morality. Nevertheless, these two theories have often influenced Jewish thinking, and in Judaism, from its very early days, voices that sound like Hobbism before Hobbes, and like Benthamism before Bentham, were heard. Yet, for all that it would be very hard to establish an interrelation between Judaism and either of them. Thus, in order to deal with our subject, it seems we must start with two other questions. First, is there another source of human behavior other than selfishness, other than a crude or civilized egoism? And then, is there an ethical standard other than usefulness? In these questions, it seems our problem is rooted. The first question could also be phrased: Is there some human substance, and thus a sphere of human activity, which differs from the so-called natural? Perhaps an example will explain, and at the same time affirm, what is meant. When the well-known commandment in the Book of Leviticus (19:18) demands of us, »Thou shalt 133

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love thy neighbor as thyself« and then amplifies it by adding, »Thou shalt love the stranger as thyself« – when such a demand arises, is this not an appeal to something entirely contrary to all the so-called natural man? By what is called his »nature«, man would first indeed acknowledge only his self, his own unrestricted advantage, interest and gratification. He loves himself only. If this is man’s »nature«, then it must appear a paradox that a man would love his neighbor as himself. The paradox becomes very striking when, instead of the usual version, we are given the exact translation, the Hebraica veritas (the Hebraic truth), which runs: »Thou shalt love thy other; he is as thou«, for the Hebrew word rea means »the other«, and the word Khamokha is not reflexive. Yet this paradox is factually exact, proved by experience. It is a fact, which, to be sure, does not obtrude as egoism obtrudes. It is hidden and needs to be discovered and brought to light. But it is indeed a clear fact, signified by the commandment. There exists in human life, in man’s endowment, in man’s relationship to man, such a thing as unselfishness, devotion and self-sacrifice. There are people who disregard their own advantage and spurn profit in order to do what they recognize to be the good. This is a clear human fact, and it can in no way be explained away by a natural egoism, however refined. Neither can we explain it in the name of utility, since it is a rejection of the useful. It stands, on its own merit, as weighty and actual as any material or physical fact. This fact has been investigated by sages, philosophers and by the geniuses of religion, above all by the great men of religion, the religion of Israel being here in the forefront. It is the quality of genius that it comprehends a reality which is not readily grasped by the many. Talent only enhances, improves and refines what is known. Genius brings to light what hitherto was unknown. In this way, the prophets of Israel discovered the non-egoistic element in man and founded upon it the ethical demand. In this respect they served as great explorers and pioneers and also as instruments of revelation. They established a new principle, the fundamental truth of »thy other«, of him who is the »same as thou«. Kant’s famous Categorical Imperative: »Act only on that maxim – on that rule of conduct whereby thou canst at the same time will that it should become a universal law« is, after all, only a derivative from this principle. Here again we meet those two spheres to which philosophy had pointed, the sphere of what is, and what is not, directly sensible. Morality is based on the latter. Both spheres are governed by laws. The 134

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laws of the former are the laws of mathematics, which are theoretically precise and tested and proved by experiment. The laws of the latter, as they relate to ethics and moral law, are characterized by unimpeachable logic, are socially unquestionable and are tested and proved by life’s experiences. It is the mark of any law that in the province in which it operates it is always applicable and valid. The laws of which we speak here are applicable and valid at all times, the one in the realm of nature, the other in the realm of human conduct – in keeping with Kant’s principle. The one is shown through the general; the other through the individual. Human individuality is the core of the Moral sphere. If there is any miracle in the world, any mystery, it is individuality. Every being is individual. Only in the separate distinctiveness of the individual does existence appear. It may sound trivial, but we may well stress the point: We have never seen an animal or a tree, for instance; we have seen only this cow, this horse, this oak, this pine. As the Talmud puts it: »Every being is coined for itself.« This mystery of individuality can never be fully explained in the rational way. All that exists, exists individually, but man alone is conscious of his individuality. This distinguishes him from other creatures. He alone is aware of his I, and therefore is able to grasp the endowment and the responsibilities bound up in this assertion: I, myself, I as an individual. Through this consciousness, man is able to develop his individuality; that is, to transform the fact into the task of bestowing upon himself dignity and moral personality. Individuality is the form and the presupposition of life. To become a moral personality, this is his opportunity, and this becomes the accomplishment and fulfillment of his life. This is the starting point of the religious, the Jewish ethic as explored and evidenced by the prophets. Here is the discovery by man of his fellowman. The principle may be stated thus: Everyone is an individual, a self, an ego, an I, created in the likeness of Him who is the I of all I’s, the one God of all being. By virtue of this, everyone else relates to me and to my individuality. My fellowman is really the other, but he is also my other. The poor and the needy, therefore, is not only someone who is poor or needy, but my poor, my needy. The I and the thou come to signify both distinction and sameness. The rule and the test of morality is to acknowledge both the right of each to his individuality, to his being another, and the human obligation inherent in this recognition to help our fellowman and thus to give him a genuine opportunity to develop his individuality into true per135

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sonality. My own right is legitimized by the right of my fellowman, the human duty or obligation serving as the bridge between the two. This is the ground in which ethics is rooted. Morality is derived neither from egoism nor utility. The strong sense of justice, democracy and community also has its origin in the soil. Justice and democracy represent the reconciliation, the harmony, of the individual and society – individuality being the stand, justice the way, and community the goal. Individuality, the point of departure for a free and righteous community, always has given great concern to despots. Autocracies from the beginning of time have sought to make all men uniform, destroying personality and herding people together in order to control them better. In the long run it may be a futile attempt. Only when it is possible to produce men in a laboratory retort, will individuality come to an end. Then all men might be produced uniformly. But as long as man is born to human parents, there will always remain the possibility that the individual, the antagonistic human being will be brought into this world. Individuality, not egoism, is the root of morality. The right of man, not utility, is the gauge of human action – and the right of man is primarily the right of »the other«. This means acknowledgment of the right of others to our loving-kindness and assistance. Morality begins, not with what man mostly is, but rather with what he shall morally be. Here the interrelation of religion and ethics appears: They have a common task. Of course, there is a difference between religion and ethics. Ethics is not yet religion, and religion is more than ethics. Ethics is concerned with the understanding and expression of what men should do and be. Religion deals with the foundation and reason of ethics, and, in addition, with the entity, the entirety underlying that sphere. A word from Nietzsche, the last philosopher of the past century, a man of clear insight and gloomy dreams, points up the distinction. He said, »When Socrates and Plato began to speak of truth and justice, they were no longer Greeks, but Jews.« What he means is obvious. The Greek philosophical genius – and ethics is part of philosophy – tried to penetrate the problem of substance and phenomenon. But when Plato, for instance, pointed to the everlasting ground that bears all the substance of creation as well as of commandment, his philosophy, began, so to speak, to transcend itself and approach the realm of Jewish religion. The book of Leviticus tells us: »Thou shalt love thy other, he is thyself, I am the Lord.« To grasp the full significance of what this means one must not omit this conclusion, »I am the Lord.« Only with this 136

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conclusion is it proved that here is firm ground, the unshakable principle, that reality is eternal. Ethics stands in need of this foundation. In calm days morality seems self-evident; when the tempests rage, it becomes a problem, it totters and threatens to fall. It can withstand the storm only if rooted in religious truth. But religion must not separate itself from ethics. There must be a give and take. Ethics can help religion not to forget or neglect the importance of the distinct commandment; not to permit the clear moral act to lag behind faith or profession. On the other hand, apart from principle, religion also can help ethics to remember and not neglect the individual, the soul of »the other«. It must not content itself merely with that which must be done; it must not separate itself from an atmosphere of holiness. Certainly here is an interrelation: a common task. Judaism, all religion, cannot by-pass anything great. The great always appeals to the religious mind. Therefore religion turns toward science, philosophy and ethics so that it may see, hear and ask. Moreover, these three categories of thought and action are provinces in the realm of man, who is both author and subject of true religiousness. In him, in his being they all meet. This is the deepest interrelation, wherein we may truly find certainty. Question: If a Jew is to believe Leviticus 19:18, »Thou shalt love thy neighbor as thyself«, how can mankind justify the Crusades which killed so many of the Jews? Answer: I think that in this question the Crusades are but one example of all the tragedies that have afflicted humanity whenever fanatic faith superseded genuine religion and then became an instrument of politics. The Jews were usually the first victims. No religious man can justify such acts; crimes remain crimes. They must not be overlooked, diminished or condoned; otherwise man would lose or blunt his awareness of the depth of evil. Were we to lose sight of this, it would not be long before the perpetrator would find justification for his misdeeds and condone them in himself. We should not supply the criminal with a free conscience, either actually or even historically. We should not forfeit the seriousness of moral judgment. This does not at all mean that we should be hard-hearted or selfrighteous. We must take into consideration the background, environment and circumstances. Sometimes someone’s stumbling is also the result of the indifference and the negligence of others. We must not count too much upon ourselves. Perhaps our excellence is but a happy dispensation. To explain, I would like to relate an authentic story. Sixty years ago there lived in Berlin a fine, well-to-do Jewish 137

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gentleman, a trustee of a charitable institution. One day a poor woman applied for relief. Discussing her petition, other trustees said: »Indeed she is a poor woman, but she is not a very worthy one.« Hearing this, that gentleman rose to his feet, rapped the table and in a loud voice declared: »Herewith I make a foundation of such and such a sum exclusively devoted to aid unworthy people.« That should be a rule: first to help and then to dispute. That could also be our rule when we take it upon ourselves to judge others. Such an attitude would legitimate our moral judgment when we determine never to justify any wrong or ever compromise on morals. If I may, I would like to make some general remarks regarding historical instances. We must know history, learn by history, and learn also by the history of the crimes against humanity, and especially the crimes against the Jewish people, for the crimes against the Jews were nearly always the worst crimes against humanity. The genuine book of history bears this unwritten heading: »Lest We Forget.« But we must not escape into history, or justify ourselves by history, oblivious to the present. In all the course and turn of history there remains the commandment, and the commandment points to the present day. I would like to cite another story. In 1903 when a cruel pogrom was visited upon the Jews of Kishinev, the Crusades seemed to be re-enacted. One of the greatest of men, Tolstoy, wrote a few short tales to help the victims of the pogrom. This is the content of one of them: To a wise man in the Far East there came a man from another land and said to him, »I have come a very long way to see thee, to ask thee three questions.« And the sage replied, »Tell me thy three questions.« The man said, »My first question is: Which is the most important hour of my life? The second question is: Who is the most important man I can ever meet? And the third question is: What is the most important deed I can ever accomplish?« The wise man answered, »The most important hour in thy life is this hour, this present hour, for dost thou know if thou wilt have another hour like this? The most important man you can ever meet is the man who is approaching thee in this hour, for dost thou know if thou wilt be approached by a man like this another time? And the most important deed thou canst accomplish is to stand for this man in this hour, for dost thou know if another time thou wilt be able to do that again?« This commentary to Leviticus 19:18, may also be an answer to our question.

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Maimonides – der Mann, sein Werk und seine Wirkung*

Bei seiner Erstveröffentlichung in der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland erschien dieser Beitrag mit einem Vorwort von H. G. van Dam und Karl Marx, dem Chefredakteur der AWJD, sowie mit einer Einführung von Professor K. H. Rengstorf. Eine größere Einleitung zu diesem Text und zu dem Anlaß, zu dem er verfaßt wurde – dem 750. Todestag von Maimonides, öffentlich gefeiert mit Präsident Theodor Heuss an der Spitze einer Festversammlung im Plenarsaal des Düsseldorfer Landtages – ist kaum nötig. Dennoch, beinah ein halbes Jahrhundert später, ist es wertvoll, diesen Moment in der neuen Geschichte der Juden in Deutschland zu betrachten. Die Leiter der kleinen jüdischen Gemeinschaft im Deutschland des Jahres 1954 glaubten, daß die neue Zusammenarbeit mit Deutschland ein »Dennoch« des Überlebens des jüdischen Volkes sei, nur möglich in einer freien Geisteshaltung ohne Ressentiment. Nennen wir es ein edles Denken dieser Gruppe, ermutigt durch die Offenheit, die ihnen in Präsident Heuss und in anderen Menschen seines Umkreises begegnete. Professor Rengstorf zeigt dieselbe Hoffnung und offene Stimmung dieses Momentes. Er sah die Erinnerung an Maimonides als Anfang einer gemeinsamen Zukunft nach der bitteren Vergangenheit. Das Gute der Geschichte, besonders die Wissenschaft des Judentums, sollte wieder einen berechtigten Platz in der deutschen Geisteswelt einnehmen. Das Thema: »Moses Maimonides« und der Referent »Leo Baeck« sollten für diesen neuen Anfang bürgen. Waren diese Hoffnungen berechtigt? Der Anfang von Leo Baecks Referat konnte diese Hoffnungen ermutigen. Das Thema der großen Dankbarkeit des Judentums in der Begegnung mit den es umgebenden Kulturen zeichnete einen Weg durch *

Erschienen in den Mitteilungen des Zentralrates der Juden in Deutschland, Düsseldorf 1954, 13–30.

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die Zeiten. Das Gedenken an Zeiten, in denen Symbiose möglich war und Brücken des Verstehens und Voneinander-Lernens zwischen den Kulturräumen existierten, erweckte die Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte und Erfahrung vor der Zerstörung. Die deutsche Wissenschaft des Judentums hatte durch nüchterne Gelehrte wie Steinschneider und Zunz die alte in die neue Zeit vermittelt. Die »Protorenaissance« sollte wieder ein Vorbild werden; und Moses Maimonides diente als ihr Repräsentant, der dem Judentum jeder Zeit nach ihm vertraut war. Baeck stellt den Zuhörern diesen großen Lehrer des Judentums lebendig vor Augen. Er schildert ihnen sachkundig und ein wenig malerisch die äußere und innere Entwicklung dieses Lebens. Er zeigt den Naturwissenschaftler und berühmten Arzt, den Rechtsgelehrten und den Philosophen, der die jüdischen Gemeinden konsolidierte. Vor allem zeigt er einen Juden, der in den Wechselfällen seines Lebens, getrieben von den Ereignissen der Geschichte, seine innere Autonomie wahrte: »Ein Eigener, ein Jude im Eigenen, ein Denker im Eigenen, ein Eigener auch inmitten der Tage des Schicksals … non sit alterius, qui suus esse potest – Nicht sei eines anderen, wer ein eigener sein kann.« Und hier nun scheint hinter dem Rückblick die Aktualität durch, mit der Baeck Maimonides versteht. RaMbaM wird zum Gegenbild, zur anderen Möglichkeit im Gegenüber zur jüngst erlebten Geschichte: Während Maimonides das Ius emigrandi gewährt wurde, er sich zwar auf den beschwerlichen Weg machen mußte, aber als Fremder in der Fremde neue Möglichkeiten zum Eigenen fand, gab es für die Juden in Deutschland nur den Tod. Maimonides’ Weg also als Bild der Hoffnung für Deutsche und Juden im Jahre 1954? Was Baeck hier andeutet, ist allenfalls ein vorsichtiges Vielleicht.

Das 12. Jahrhundert, in welches uns diese Stunde geschichtlichen Gedenkens zurückführen will, war eine der reichen Perioden in der Geschichte menschlichen Geistes. Damals waren Morgenland und Abendland in der Wissenschaft einander begegnet. Das, was so oft bezweifelt worden ist, daß die beiden den Weg zueinander finden können, das, worüber Kipling, der Sohn Englands und Indiens, jenes Niemals ausgesprochen hat: »Denn Ost ist Ost, und West ist West, und nie werden die beiden sich treffen« – »For East is East and West is West, and never the twain will meet« –, damals war es dennoch wirklich geworden: Morgenland und Abendland kamen zueinander, in der Welt der Erkenntnis und der Kultur. Der Geist fand seine We140

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ge, und auf ihnen haben damals auch Islam und Christentum und Judentum einander getroffen und haben in Gemeinsamem zueinander gesprochen. Besonders hier in diesem westlichen Teile Europas war ein Boden bereitet. Neues regte sich damals hier, Bereitschaft zu neuen Gedanken und zu neuen Formen wurde lebendig. In der historischen Forschung der letzten Jahre – einen klaren Überblick gewährt ein Aufsatz von H. Liebeschütz im »Archiv für Kulturgeschichte« – wird das 12. Jahrhundert gern das der Protorenaissance, der ersten Renaissance, genannt, und viel Richtiges spricht darin. Die Renaissance hat nicht erst im fünfzehnten Jahrhundert eingesetzt. Gewiß, die Zeit war mittelalterlich. Sie glaubte an ihr endgültiges Fundament, sie hatte ihre gegebenen Sätze und ihre festgestellten Methoden. Aber innerhalb dessen beginnt nun eine Bewegung, man besinnt sich auf anderes und froheres und fängt an, umherzublicken. Schon in einem zeigte es sich: in einer Verfeinerung des lateinischen Stils. In den Briefen und den staatlichen Urkunden jener Zeit ist ein Einfluß der Sprache Ciceros erkennbar. Man legt Wert darauf, die gute lateinische Schreibweise zu pflegen. Der französische Gelehrte Gilson sagt in seinem Buch über die Theologie des Bernhard von Clairvaux – »La théologie de St. Bernhard de Clairvaux« –, daß er, der große Asket, der die Entsagung lehrte, und mit ihm seine Genossen und seine Schüler, auf alles zu verzichten bereit gewesen wären, nur nicht auf die Kunst, gut zu schreiben. Aber das Entscheidende ist, daß damals Straßen sich öffneten, auf denen Gedanken und Bücher vom Osten hierher nach Frankreich und Deutschland gelangten. Von der arabischen Welt her, vielfach auf dem Wege über die jüdische Welt, kamen nun griechische Philosophie und Wissenschaft nach dem Westen. Vor allem im Namen des Aristoteles zogen sie ein. Es ist ein eigenes Kapitel in der Geschichte der Menschheit: diese Wanderung der griechischen geistigen Kultur. Als Justinian 529 die Universität von Athen schloß und den Unterricht in der Philosophie verbot, meinte er, der Philosophie ein Ende bereitet zu haben. Aber Menschen der Philosophie waren am Leben: Lehrer zogen nach dem Osten, nach Ländern des Islam, der auf dem Boden des alten persischen Reiches neue Staaten gegründet hatte. Es war eines der großen Ereignisse in der immer erneuten und wechselvollen Geschichte der Emigration. Die Männer selbst – in ihrer ersten Generation zumal –, wurden auf dem neuen Boden nicht heimisch. Aber sie haben dort ihre Gedanken, ihre Wissenschaft, ihre Lehre eingepflanzt, und diese haben dort Wurzeln geschlagen. Die 141

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Rezeption griechischer Philosophie und Wissenschaft durch den arabischen Genius ist eine der großartigen Leistungen in der Geschichte menschlichen Geistes. Plato, Aristoteles und Plotin, die in Griechenland verboten oder verworfen waren, wurden nun in arabischer Sprache, in arabischen Ländern gelehrt, und sie wurden von arabischen Denkern kommentiert. Der griechische Geist hatte jetzt seine zweite große Zeit. Griechenland lebte nun in Bagdad und in all den anderen Kulturzentren der großen mohammedanischen Welt, die sich bis zum Atlantischen Ozean hin erstreckte. In der Dankesschuld dafür steht auch das jüdische Volk. Dank jenen arabischen Meistern ist die griechische Philosophie, die schon einmal in den Generationen nach Alexander dem Großen, in der sogenannten hellenistischen Zeit, sich mit jüdischem Denken verbunden hatte, nun zum zweiten Male von ihm durchdrungen worden. Die große Epoche jüdischer Philosophie hob an. Und die Juden sind in ihrer eigenen Weise dafür dankbar geworden. Sie haben das, was sie empfangen hatten, immer wieder weitergereicht. Sie sind die großen Übersetzer geworden: in den Ländern der mohammedanischen Kultur haben sie aus dem Arabischen die großen griechischen Philosophen, Astronomen, Mediziner und Mathematiker ins Hebräische übertragen, und aus dem Hebräischen wurde das ins Lateinische übersetzt. Wir haben hierüber ein gelehrtes Buch: »Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters« von Moritz Steinschneider, dem Vater der jüdischen Bibliographie. Es ist ein nüchternes, trockenes Buch – der Mann, der es verfaßt hat, hatte die Ambition der Nüchternheit –, aber wer es liest und das, was hinter den trokkenen Namen und Daten steht, zu sich sprechen läßt, der ist ergriffen: Ein Bedeutungsvolles, eine kulturelle Leistung spricht zu ihm. Diese jüdischen Übersetzer haben zu ihrem Teil den Weg bereitet, einen dieser geschichtlichen Umwege, der die griechische Wissenschaft nach dem Abendland führte und neues Denken und Streben in die Universitäten des Westens einkehren ließ. Sie haben das Ihre dazu getan, daß Ost und West damals sich fanden. In verhältnismäßig kurzer Zeit ist die griechisch-arabische Philosophie nun in den zwei großen Universitäten Paris und Köln, die eng zueinander gehörten, heimisch geworden. So konnte es auch geschehen, daß schon wenige Jahrzehnte nach dem Tode des Mannes, dem diese Stunde gilt, des Moses ben Maimon, sein philosophisches Hauptwerk in den Auditorien von Paris und Köln behandelt wurde, daß es in den Büchern des Alexander von Hales und des Wilhelm von Auvergne, der großen Lehrer von Paris, und dann in den Werken der drei großen Dominikaner in Köln, des Albertus Magnus, des 142

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Thomas, des Aquinaten, und des Meister Eckehart, einen Platz hatte. Auch das war ein Ergebnis jener Protorenaissance und ihrer lebendigen Bereitschaft. In dem Leben dieses Mannes selbst, des Moses Maimonides, war diese große Erschlossenheit, eine stete Bereitschaft, zu begreifen. Das Geschick selbst, das ihm Lehrjahre in immer neuer Anforderung bestimmt hatte, hat Tore seines Wesens geöffnet. Das hat dazu beigetragen, ihn zu einem Manne eigenen Denkens zu machen. Seine Tage hatten allerdings im Geborgenen begonnen, innerhalb der spanischen Heimat des Judentums und des spanischen Gebietes der arabischen Kultur – zweier Bereiche des Blühens und Wachsens. Er war in Cordoba im März 1135 geboren, einer Stätte sowohl arabischen wie jüdischen geistigen Lebens. Arabisch ist hier seine Muttersprache geworden und ist die entscheidende Sprache seines literarischen Schaffens geblieben. In der ansehnlichen, gebildeten jüdischen Gemeinde in Cordoba war, wie überall, das Hebräische die Sprache der Bibel und die Sprache des Gottesdienstes. Aber hier, im südlichen Spanien hatte es durch Dichter und Denker zudem eine wundersame Bereicherung und Vertiefung erfahren. So wurde Hebräisch auch die Sprache dieses Mannes, eine Sprache, der er neue Züge verlieh. Sein Vater, Maimon ben Joseph, war Dajan, Richter, in der Gemeinde Cordoba. So wuchs er in einer Atmosphäre der Jurisprudenz und des Respektes vor dem jüdischen Recht auf. So konnte dieses Recht ihm ein Inhalt und eine Aufgabe seines Lebens werden. Dort in Spanien hatte damals jüdische Philosophie mehr und mehr sich selber entdeckt, und sie war, in ihrer platonischen wie in ihrer aristotelischen Richtung, ein Teil der Bildung geworden. So hat von Beginn an die Philosophie eine Kraft in diesem Manne werden können. Diese zwei, das Recht und die Philosophie – dieses Wort in seinem allgemeinsten Sinne genommen – sind seit altem wirksame Elemente in der jüdischen Kultur. Jahrhunderte hindurch hat sie im Recht sich gewissermaßen selber aufgebaut. In der Torah und dann dem Talmud und dem weiten Schrifttum, das sich um sie und an sie fügte, hat ein Wille zum Recht sich seinen Ausdruck geschaffen. Im Empfangen und Geben hat er den Geist lebendig erhalten. Und ebenso ist der philosophische Zug hier seit je ein Antrieb. Es ist bezeichnend, daß der erste Grieche, der von den Juden erzählte, Theophrast, der Schüler und dann der Nachfolger des Aristoteles, von ihnen sagte, sie seien »philosophoi to genos«, Philosophen von Geburt, eine philosophische Rasse, und daß sein Zeitgenosse, Megasthenes, welcher Gesandter des seleucidischen Reiches an einem der indischen Höfe 143

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war, in seinem Buche über Indien meinte, was in Indien die Brahmanen sind – die Philosophen im Lande –, das seien in der vorderasiatischen Welt die Juden. Der philosophische Trieb, das stetige Fragen, das Suchen und Forschen nach Prinzipien und nach Zusammenhängen und Analogien, alles das, was in der Auseinandersetzung mit dem Bibelwort durch den talmudischen Begriff »Haggadah« bezeichnet wird, ist in der Tat seit je dem jüdischen Wesen zu eigen. Auch in das jüdische Recht und in die Philosophie war Maimonides durch sein Elternhaus in Cordoba gleichsam hineingeboren. Aber auch ein Drittes, das wie ein geschichtlicher Wesensteil jüdischer Existenz ist, das hat er dann früh schon erfahren: das jüdische Schicksal, die jüdische Heimsuchung, die jüdische Wanderung. Als er dreizehn Jahre alt war, wurde Cordoba von den Almohaden erobert. Die Almohaden, die »Bekenner der Einheit«, waren Männer einer puritanischen Bewegung, wie sie innerhalb des Islams oft erwacht ist: einer Rebellion – der Islam hat nie Revolutionen, sondern nur Rebellionen erlebt –, in der sich die Wüste gegen die Stadt erhob, die Askese gegen die Kultur, der strenge Glaube gegen das Bildungsstreben, der Koran gegen die vielen Bücher. Eine solche Bewegung war im achtzehnten Jahrhundert die der Wahhabiten in Arabien gewesen, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die des Mahdi im Sudan und in neuerer Zeit die des Ibn Saud, der das Königreich Arabien schuf. In raschem Ansturm hatten damals die Almohaden sich einen großen Teil Nordafrikas unterworfen und waren nach dem südlichen, dem arabischen Spanien vorgedrungen und hatten nun den Sitz des Emirats, Cordoba, eingenommen. Auch hier proklamierten sie ihre strenge Lehre, und diese schloß die Ablehnung alles Fremden und aller Fremden ein, und ein Fremder war für sie der Andersgläubige nur – trat er zum Islam über, so hörte er auf, ein Fremder zu sein. Man könnte eine Geschichte der Kultur danach schreiben, welcher Inhalt jeweils dem Worte »Fremder« gegeben worden ist. Dort und damals war das Bekenntnis das Zeichen: der »Fremde« hatte die Wahl, sich zum Islam zu bekennen oder fortzuziehen. Manche nahmen, allermeist zum Scheine, die andere Religion an. Man machte es ihnen leicht; eine Inquisition, welche die Beständigkeit der Convertiten nachprüfte, gab es nicht. Andere wanderten fort, unter ihnen der Dajan Maimon ben Joseph mit den Seinen. Das jus emigrandi, das Recht fortzugehen, wie es in Mitteleuropa später durch den Westfälischen Frieden festgelegt wurde, war hier die gewohnte Übung. Jahre hindurch hielt sich die Familie, wohl wie in einer ge144

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kannten Ungekanntheit, bald hier, bald dort im südlichen Spanien und dann in Marokko auf, bis auch dort schließlich – der Rabbiner von Fes starb als Märtyrer – der Boden immer unsicherer wurde. Auf dem Wege über Palästina gelangten sie endlich nach Ägypten. Hier ließen sie sich in dem alten Kairo, in Fostat nieder, im Jahre 1165, und diese Stadt wurde ihnen nun eine bleibende Heimat. Ägypten war damals eine Blütezeit beschieden. Der große Sultan Saladin, der sich zum Herren über Syrien und Ägypten gemacht und Palästina den Kreuzfahrern entrissen hatte, war ein Mann fast so, wie Lessing ihn in seinem Nathan geschildert hat: Ein freier Sinn waltete, die Wirtschaft gedieh, Wissenschaft wurde gepflegt. Flüchtlinge konnten das Gefühl gewinnen, hier wieder eine Stätte ihres Lebens zu haben. Maimon ben Joseph selbst hat freilich nur kurze Zeit hier noch gelebt, und auf das Haus fiel weiterer Schatten. Der jüngere Sohn, David, der einen Juwelenhandel begonnen hatte, um sich und zugleich dem Bruder Moses, der sich der Wissenschaft zugewandt hatte, die Existenz zu sichern, erlitt auf einer geschäftlichen Fahrt Schiffbruch; er ertrank. Auch das Vermögen der Brüder war verloren. Es war eine schwere Zeit, zumal Moses mit Krankheit zu kämpfen hatte. Er hat von alle dem nicht erzählt; es wäre nicht die Art des Mannes gewesen, der immer ruhig seinen Weg ging. Er war nun in die dreißiger Jahre seines Lebens eingetreten, und er sollte seinen eigenen Platz haben. In den Jahren der Wanderung hatte er sich um das Studium der Medizin bemüht. Wir können es uns vorstellen, wie er Meister der Kunst aufsuchte, wo immer die Rast und die Gelegenheit sich boten. Jetzt sah er seinen Beruf vor sich und war selber ein Meister geworden. Als er nun die Heilkunst in Fostat auszuüben begann, verbreitete sich bald sein Ruf. Binnen kurzem war er einer der anerkannten Ärzte Ägyptens, einer der Gesuchten. Er wurde einer der Ärzte Saladins, der Leibarzt des Sohnes Saladins, der Leibarzt auch des Wesirs. In einem Briefe aus späteren Jahren schildert er die Anspannung, in der sein Beruf ihn hält, wie er manchen Abend fast erschöpft niedersinkt. Und für ihn bedeutete die Medizin zugleich ein Studium ohne Ende, eine immer erneute wissenschaftliche Aufgabe. Er hat von dem in einer Reihe von wissenschaftlichen Schriften Rechenschaft gegeben, und diese haben seinen Ruf und dann seinen Ruhm weithin getragen. Einige seien hier genannt: ein Buch über Gifte und eines über Diätetik, eine Schrift über Sexualhygiene, die er auf Verlangen eines Sultans schrieb und in der er mit großem Freimut mahnte und warnte, und schließlich und vor allem ein Handbuch der Medizin unter dem Titel: Medizi145

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nische Aphorismen – man könnte vielleicht besser sagen: Paragraphen der Medizin –, das auch schon bald in das Lateinische übersetzt und als Autorität angeführt wurde. Mit den Worten »Rabbi Moses dixit«, »Rabbi Moses hat gesagt«, berief man sich oft auf dieses Buch. Aber in all dieser Zeit waren zugleich immer zwei andere Aufgaben in seinem Geiste lebendig geblieben: das Recht, dieses Erbe von seinem Vaterhause her, und die Philosophie, dieses Erbe aus der alten spanischen Heimat. Diese drei, die Naturwissenschaft, das Recht und die Philosophie, von einander empfangend und einander gebend, haben seinen Geist geprägt. Das Recht hat ihn den Respekt vor der Form gelehrt, die Philosophie den Respekt vor der Idee und nun die Naturwissenschaft den Respekt vor der Tatsache. Dieser dreifache Respekt, der ja im Grund einer ist, war immer in diesem Manne, blieb eine lebendige Kraft in ihm. Diese drei haben seinem Können und seinem starken Willen die Ziele der Arbeit gewiesen. In den Wanderjahren schon, mit dreiundzwanzig Jahren, hatte er ein Werk der Rechtswissenschaft begonnen: einen in arabischer Sprache geschriebenen, aber dann bald auch ins Hebräische übersetzten Kommentar zur Mischnah; 1168 wurde dieser in Kairo veröffentlicht. Mit ihm bereits hat Maimonides einen endgültigen Platz in der Geschichte des jüdischen Denkens gewonnen. Seit anderthalb Jahrtausenden schon war in steigendem Maße die Wissenschaft vom Recht ein Bestandteil des jüdischen geistigen Lebens geworden, zu der Einheit des Glaubens trat das Bewußtsein von der Einheit des Rechts deutlich hinzu. Auf der Grundlage der im Pentateuch gegebenen Rechtsvorschriften hatte sich in Palästina in den Wogen der Zeit und ihrer Wandlungen ein »common law« mit seinen Autoritäten, seinen Präzedenzfällen und seiner Tradition gestaltet. Der Charakter der Tradition, das heißt der des Mündlichen, sollte ihm gewahrt bleiben, und es wurde darum auch als die »mündliche Lehre« bezeichnet. Erst verhältnismäßig spät, um das Jahr 200 post Chr., da die äußeren Verhältnisse es ratsam erscheinen ließen, wurde dieses Recht durch maßgebende Lehrer der Zeit niedergeschrieben, und es wurde die »Mischnah« genannt, die »Darlegung«. Die Rechtsforschung und Rechtsprechung entwickelte sich aber in gleicher Weise wie bisher fort in Palästina, sowohl wie nun auch in den babylonischen jüdischen Rechtsschulen und Gerichtshöfen. Auch sie wurde mündlich weitergegeben, bis schließlich, wiederum dem Gebote des Tages folgend, zuerst etwa 350, in Palästina, und etwa 150 Jahre später in Babylon, auch das alles schriftlich niedergelegt wurde: als Gemarah und zusammen mit der 146

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Mischnah als Talmud bezeichnet. Aber die Mischnah blieb das klassische Grundbuch. Im Jahrhundert vor Maimonides hatte Rabbi Salomo Jizchaki, Raschi genannt, aus Troyes in der Champagne, den dann bestimmende Jahre des Lernens und Lehrens mit Worms verbanden, einen Kommentar zum Talmud geschrieben, welcher d e r Kommentar geworden und geblieben ist und der in der Tat seinesgleichen kaum mehr finden konnte. Raschi war der große Pädagoge, unter dessen Händen, man könnte sagen, alles zur Klarheit wurde. Er hatte den genialen Blick für das, was nicht verstanden oder vielleicht mißverstanden werden würde, die wunderbare Gabe, zu erklären, durch jede Schwierigkeit hindurchzuführen. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte und die er mit einem eigenen schlichten Stil durchführte, war die, überall einen Weg zu weisen. Er ist damit der große Helfer, der Vater der Schüler geworden. Wenn Maimonides es jetzt unternahm, selbst zu dem Grundbuche des Talmud, der Mischnah, einen Kommentar zu verfassen, so stand ihm ein anderes Ziel vor Augen. Er dachte wohl weniger, wie Raschi getan, an den Lernenden als vielmehr an den Lehrenden. Ihm will er zur Seite treten, ihm den Ausblick aufzeigen. Gewiß, auch er will erklären, auch er hat den Respekt vor der Einzelheit – der Weg zum Ganzen führt nur über alle die Einzelheiten. Aber er denkt vor allem an das Verbindende, zu dem sich die Einzelheiten zusammenfügen und das ihnen ihre Bedeutung gibt. Er geht darum von Prinzipien aus und lenkt zu allgemeinen Sätzen immer wieder hin. Seine Kraft ist ganz besonders die Systematik. Der philosophische Zug ist in ihm. Er weiß um die Idee, um das Ganze, das vor den Teilen ist. Wenn man diesen Kommentar liest, so empfindet man immer wieder, wie er über sich hinausweist. Das Gesamte des Talmuds, das Gesamte des Rechtes scheint schon im Hintergrunde zu stehen und danach zu verlangen, dargelegt und systematisch aufgebaut zu werden. Ein inneres Erfordernis hat so zu einem zweiten, dem größeren Werke hingeführt. Durch zwölf Jahre hat Maimonides den Genius und die Kraft der Stunden, die sich außerhalb der Pflichten des Berufs öffneten, dieser gegebenen Aufgabe gewidmet. Im Jahre 1180 erschien das Buch, mit vierzehn Hauptteilen, unter dem Titel »Mischneh Torah«, »Darlegung der Torah«, der alten Bezeichnung des Deuteronomiums. Es ist in hebräischer Sprache geschrieben; Moses ben Maimon hatte, ein eigener auch hierin, seinen charakteristischen hebräischen Stil gefunden. Der Stil des Raschi im Westen und der des Maimonides im Osten sind zwei neue Stilformen im jüdischen Mittelalter. In der hebräischen Sprache geschrieben, der 147

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Sprache, die zu allen hintrat, konnte das Werk alsbald für die gesamte jüdische Welt, für alle, die in ihr das Recht suchten, bestimmt sein. Der Einheit des Rechtes in einem Bereiche, der sich über die drei alten Kontinente erstreckte, konnte es damit unmittelbar dienen. Von diesem Werk kann nur mit Worten der Bewunderung, ja des Staunens gesprochen werden. Mit einer unendlichen Geduld – alles Genie ist im Grunde auch eine unendliche Geduld –, mit einem unbezwinglichen Fleiße, der sich mit keinem Vorläufigen begnügt, in einer Spannkraft, einer Dynamik, die das Begonnene, das Konzipierte immer weiter gestaltet, bis es beendet, bis es wahrhaft zum Abschlusse gebracht ist, hat dieser Mann, der beanspruchte Arzt, dieses Werk gewagt, es nicht verlassen, bis er es geschaffen. Ein fast endloser Stoff, überall in die Weite und Tiefe geschichtet, hier zusammenhängend, dort auseinanderstrebend, immer neu sich darbietend, ist hier überblickt, ist hier gesammelt und gemeistert, durchdrungen und geordnet worden. Und alles das hat eine unvergleichliche architektonische Kunst zu einer Einheit gestaltet: ein in sich geschlossener Bau, in welchem in der Fülle seiner Teile jeder einzelne den anderen trägt, den anderen aufzeigt, ist hier aufgerichtet. Allem, was durch viele Jahrhunderte im jüdischen Geiste seinen Rechtsausdruck suchte, ist hier sein Platz bereitet, seine Stelle zugewiesen, seine Bedeutung gewährt. Der Sinn für die Tatsache, für die Einzelheit, dieses aufbauende Element, das Gefühl für die Form, diese zusammenerhaltende Kraft, das Verständnis für die Idee, von der her und zu der hin sich alles fügen will, haben sich vereint, damit dieses Werk erstehe. Neben der großen und bleibenden wissenschaftlichen Leistung, die im Mischneh Torah vollbracht ist, kommt dem Werke auch eine Wirkung in einer eminent praktischen Richtung zu. Es hat dazu beigetragen, die Rechtsordnung in den jüdischen Gemeinden zu konsolidieren. Dadurch, daß es das Recht in seinen Grundlagen und seinen logischen Zusammenhängen darstellte, hat es auch in gewissem Maße Recht geschaffen. Es ist in diesem Sinne eine schöpferische Leistung, die nicht unterschätzt werden kann. Die jüdischen Gemeinden in Europa, Afrika und Asien waren in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht unterschieden. Aber sie alle hatten ein gemeinsames Gefüge, gewissermaßen dieselbe Konstitution. Jede von ihnen besaß eine Selbstverwaltung und dadurch, inmitten der zahlreichen Beschränkungen, in denen sie zumeist leben mußte, doch eine innere Autonomie. Sie waren alle wie kleine Republiken in allen den Ländern. Sie hatten – wie Franz Delitzsch es in seiner Schrift über die weit erstreckte jüdische Dichtung 148

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hervorhob – ihre Freiheit inmitten der Bedrückung. Wie jede echte Autonomie beruhte auch diese auf einem lebendigen einheitlichen Rechte, das hier zudem seine starken sozialen Züge hatte. Diese jüdischen Gemeinden hatten eine Rechtsordnung, eine Rechtssicherheit und eine Rechtsbeständigkeit zu eigen, wie sie die scheinbar so viel stärkere Welt ringsumher zumeist noch nicht besaß. Um so beachtlicher war diese Rechtsstetigkeit, da diese Gemeinden über keine eigentliche Exekutivgewalt verfügten. Sie zeigten das außergewöhnliche geschichtliche Bild einer Judikatur ohne Vollstrekkungsorgan. Das letzte und selten angewandte und sehr selten mißbrauchte Mittel, um einen Spruch gegenüber einem Böswilligen durchzusetzen, war der Bann, diese Trennung der Beziehungen; er hat hier so nicht den kirchlichen, sondern eher den rechtlichen Charakter. Die Autorität des Richters war hier im wesentlichen eine moralische, und sie wurde durch eine lebendige Tradition unterstützt. Der Bund zwischen Persönlichkeit und Gesetz, zwischen Richter und Recht bestand hier und machte sich auch unter schwierigen Verhältnissen geltend. Er bedeutete mehr als der Besitz einer Vollzugsgewalt. An solche Verhältnisse konnte Maimonides denken, als er diese Kodifikation des gesamten jüdischen Rechtes unternahm. Keine Behörde hat das Werk sanktioniert oder legitimiert, und keine Behörde war ja da, welche das hätte tun können. Man durfte zu ihm Stellung nehmen, und sehr bald ist das auch durch Rabbi Abraham ben David aus Posquieres, bisweilen recht temperamentvoll, geschehen. Aber um so freier und lebendiger hat das Buch wirken können. Es hat sehr bald seinen unangezweifelten Platz gewonnen, so wie immer eine Vereinigung von Wissenschaft, Eindringlichkeit und Rechtschaffenheit sich durchsetzt. Dieser Mann wurde und blieb kraft seiner selbst Autorität. Generationen von Richtern und Forschern wurde sein Werk Hilfe zugleich und Mahnung, Rückhalt zugleich und Ansporn. Die, die sich gegen ihn gewandt hatten, wären ohne ihn vergessen worden. Es ist eindrucksvoll, in der umfangreichen Rechtsgutachten-Literatur in den Jahrhunderten nach ihm seinen Einfluß zu verfolgen. »Der Rambam« – wie das abkürzende Anagramm für Rabbi Moses ben Maimon ihn nennt – »hat gesagt«, das gab einem Satze höhere Geltung, als sie ihm die Sanktionierung durch eine weltliche oder geistliche Behörde hätte gewähren können. Ein besonderer geschichtlicher Platz kommt dem Buche durch seine philosophische Bestimmtheit zu. Recht ist hier nicht etwas, das nur für sich und um seinetwillen da ist. Es ist hier Ausdruck 149

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einer Philosophie, einer Welt- und Lebensanschauung. Bezeichnend ist, daß der erste Teil des Buches, welcher die Einleitung gibt, die Fragen der »Erkenntnis« zum Thema hat; Methoden und Grenzen des Wissens wollen aufgezeigt sein. Nicht der Gelehrte bloß, sondern der Denker spricht hier. Es ist wichtig, den Mischneh Torah mit einem anderen Buche zu vergleichen, dem Schulchen Aruch, in welchem fast vierhundert Jahre nach Maimonides der Mystiker Joseph Karo, auch er ein Flüchtling aus Spanien, eine neue Kodifizierung des jüdischen Rechtes gegeben hat. Auch sein Werk, das um eines praktischen Zweckes willen sich engere Grenzen setzte, ist eine außerordentliche Leistung und war von großer geschichtlicher Wirkung, aber es ist ohne die Philosophie. Manche Nachdenklichkeit kann durch einen Vergleich zwischen den beiden Werken angeregt werden. Das Judentum, wenn es sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit, in seiner Religiosität und seiner Sehnsucht, zum Ausdruck bringen will, kann weder des einen noch des anderen entraten, weder des Rechtes noch der Philosophie. Man könnte in zwei alten Begriffen andeutend sagen: es darf weder seine Halachah noch seine Haggadah verlieren. Wie der Mischnah-Kommentar psychologisch und logisch zum Mischneh Torah hingeleitet hatte, so führte dieser zu dem dritten der großen Werke des Maimonides hin, dem philosophischen. Es ist arabisch geschrieben, aber ist mit dem Titel, wie ihn die klassische hebräische Übersetzung wiedergibt, bekannter: »Moreh Nebuchim« – »Führer der Schwankenden«. In der lateinischen Sprache, in die das Buch bald übertragen wurde, lautet es: »Doctor perplexorum« oder auch »Dux perplexorum«. Die drei Werke sind in einem höheren Sinne eines. Sie sind es nicht nur in der persönlichen Hinsicht, daß ihr Verfasser ein Mann der Naturwissenschaft, des Rechtes und der Philosophie war. Sie sind es auch in sachlichem Betracht. Die Prinzipien des Rechtes sollten sich an denen der Philosophie legitimieren und die der Philosophie an denen des Rechts. Von der Wissenschaft her und um der Wissenschaft willen sollten sie es tun. Aber das alles, das Wissen von dem Leben und der Lebensordnung ist doch umfaßt und getragen von der Welt der Religion. Und Religion, und darin stimmten der Jude, der Christ und der Mohammedaner überein, ist doch offenbarte Religion, sie hat Erkenntnis erschlossen von einer anderen Sphäre, der prophetischen her. Damit aber trat ein Problem unabweisbar vor das Denken hin. Die Frage mußte sich immer wieder einstellen: Wo ist die Grenze der Erkenntnis, welche die Wissenschaft gewährt, und wo öffnet sich die Erkenntnis, die durch die Religion, den Glauben gegeben wird. Hierin 150

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war ein anderes Problem zugleich enthalten, das des Geheimnisses. Für die Wissenschaft ist das Geheimnis ein Grenzbegriff, sie muß, wie Aristoteles sagte, irgendwo »stehen bleiben«. Für die Religion ist das Geheimnis das Zentrum; aus dem Geheimnis kommt Offenbarung. Unendlichkeit und Ewigkeit, die ja im Grunde eines und dasselbe besagen, sind für die Wissenschaft eine Frage, die sich hier und dort nicht abweisen läßt. Für die Religion sind sie Bestandteil des tragenden Geheimnisses. Es ist bedeutsam, daß das hebräische Wort »olam«, welches sowohl die Ewigkeit wie die Unendlichkeit benennt, zugleich in seinem Wortstamm das Geheimnis einschließt. Und fernerhin: was ist ewig – unendlich? Ist es Gott allein, ist es der Geist, der von Gott kommt, die Kraft, welche schafft und ordnet und gestaltet? Oder ist es der Stoff, die Materie auch, wie Plato und Aristoteles, deren Philosophie siegreich in den mohammedanischen, jüdischen, christlichen Bildungsbereich eingedrungen war, es gelehrt hatten? Wer gab hier die letzte Antwort? Oder geben etwa beide sie? Geben das Glauben und das Wissen sie, jedes in seiner Weise, jedes für seinen Bezirk? Das war die Ungewißheit, das Schwanken, aus dem der »Moreh Nebuchim« herausführen wollte. Um den Weg zu weisen, sucht er vorerst darzulegen, was inmitten der Zweifel feststehe. Eine solche Tatsache ist für ihn die Prophetie: diese psychologische und geschichtliche Tatsache, daß Erkenntnisse, vor allem sittlicher Art, zu denen kein Forschergeist und kein Scharfsinn hingelangt waren, sich hier unmittelbar und vollkommen eröffnet hatten. In den Propheten, unter denen Moses seine ganz besondere Stellung besitzt, waren Kräfte des schöpferischen Intellekts wirksam, wie sie in gleicher Weise auch in große Denker nicht eingetreten waren. In den Worten der Prophetie, wie die Bibel sie überliefert hat, ist darum – und dies ist eine weitere Tatsache – mehr enthalten, als der bloße Wortsinn schon zugesteht; sie bedürfen daher der ganz besonderen eigentümlichen Erklärung. Diese Erklärung ist nie zu Ende; fortschreitendes Wissen gibt hier – und das ist eine fernere Tatsache – neue oder vertiefte Einsichten. Und Wissenschaft ist nie zu Ende. Wie ein epigrammatischer Satz im zweiten Buche des »Moreh« sagt: »Die Tore der Forschung sind nicht zugeschlossen«. Der Mensch darf der Glaubenswahrheit gewiß sein, aber er darf sich deshalb nicht als »beatus possidens«, als der glückliche Besitzer fühlen. Die Philosophie wird immer neu zum Antrieb, und man könnte in diesem Sinne die Lehren des Maimonides als eine biblische Philosophie bezeichnen. Die Sicherheit dieser Position sucht Maimonides in eingehender Beweisführung, teils mit Hilfe des Aristoteles, teils gegen ihn dar151

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zulegen. Was ihn von Aristoteles trennt, ist vor allem die Lehre von Gott. Für Aristoteles ist Gott der höchste, der in sich selbst ruhende Geist, und ewig wie Gott ist die Welt. Sie geht, wie die durch den Neuplatonismus beeinflußten arabischen Ausleger des Aristoteles es erklärten, in einem ewigen Prozeß mit Notwendigkeit aus Gott hervor. Gott ist unbewegt, und die oberen Sphären streben zu ihm empor, und dadurch werden sie bewegt. Das oberste Wesen bewegt, wie ein Satz in der Metaphysik des Aristoteles sagt – »kinei de hos eromenon« – »indem er geliebt wird«; das ist diese Liebe, von der die Schlußverse in Dantes Göttlicher Komödie sprechen: »die da bewegt die Sonne und die anderen Sterne«. Dieses wundersame Bild, das Aristoteles gezeichnet hat, kann aber, so sucht Maimonides nun zu beweisen, gegenüber der Wirklichkeit der kosmischen Bewegung, gegenüber der Mannigfaltigkeit des Universums, der gekannten wie der geahnten, nicht standhalten. Das, was ist, in der Fülle seiner Formen, erfordert einen Schöpfungsakt. Auch eine ewige Materie würde, damit Bewegung sei, desselben bedürfen, und diese Ewigkeit der Materie sei zudem, so oft es auch versucht worden, niemals stringend bewiesen worden. Und in dem Weltbilde des Aristoteles sei ebenso wenig der Grund für den sittlichen Kosmos, für die Welt der großen und bleibenden Aufgaben der Menschheit, für das messianische Ziel und sein Ideal. Nur der Gott des Gebotes, der offenbarende Gott spricht hier das ewige Wort. Die Welt um uns und in uns und über uns, so will Maimonides zeigen, hat ihren Sinn und ihre Vernunft, nur wenn wir um den Gott der Bibel wissen, den Gott der Schöpfung, den Gott der Offenbarung. In dem, was die Propheten geschaut und verkündet haben, ist die eine Wahrheit erschlossen, die jedes neue Wissen, jede Erkenntnis immer wieder in sich aufnimmt. Dies ist der Weg, den der Moreh Nebuchim weist. Mit einer starken Kraft der Dialektik und der Kritik, der Begriffsscheidung und der Konsequenz, mit der sicheren Fähigkeit, Probleme zu erkennen und festzuhalten, mit der besonderen Gabe auch, metaphysische Fragen in den psychologischen Bereich hineinzuführen, hat Maimonides hier sowohl Grenzen abgesteckt wie auch Ausblicke eröffnet. Er ist in der Tat ein Führer geworden. Das tiefe Problem, das das eigentümlich jüdische religiöse Problem ist und aus dem hier alle Fragen und alle Forderungen hervorkommen, dieses Problem des Eintritts des Ewigen, des Unendlichen, des Geheimen, des Unbedingten, des Gebietenden in diese Welt des Endlichen, des Begrenzten, des Irdischen, des Natürlichen, des Wahrnehmbaren, dieses Problem der Schöpfung und der Offenbarung ist hier erfaßt worden. Mit den Me152

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Maimonides – der Mann, sein Werk und seine Wirkung

thoden und der Sprache der Zeit, in dem wissenschaftlichen Raume jener Tage, hat Maimonides es aufgezeigt und dargelegt. Aber er hat es in seinem Wesentlichen und Entscheidenden und damit in seinem Bleibenden begriffen. Und, was bedeutungsvoll ist, er hat an der Einheit des Problems festgehalten. Er hat die verhängnisvolle Ausflucht abgewiesen, welche sein Zeitgenosse Ibn Roschd, den die lateinische Welt Averroes nannte, auch er ein Sohn Cordobas, neu aufgetan hatte – und bis zu Hegel hin läßt sich hier eine Linie verfolgen –, daß es eine doppelte Wahrheit gebe, die eine in der Wissenschaft, die andere in der Religion, die eine für die Großen und die andere für die Kleinen im Geiste. Maimonides hat bestimmend dazu beigetragen, daß solche Lehre dem Judentum fernblieb. Für ihn ist Wahrheit die eine, die eine und selbe im Glauben und im Wissen, die eine und selbe in der Welt der Offenbarung und der Welt der Schöpfung. Die Einheit geistigen Lebens, und so auch die Einheit menschlicher Aufgabe und Hoffnung, war damit gefordert wie auch verbürgt. Wie durch seine medizinische Schriften ist Maimonides, wie schon erwähnt, durch seinen Moreh auch in die christliche Welt eingetreten. Auch die Scholastiker hatten Aristoteles, den »Meister derer, welche wissen«, wie Dante ihn nannte, nicht nur aufgenommen, sondern sie mußten sich mit ihm auseinandersetzen. Hierin sind sie in wichtigen Fragen dem Moreh Nebuchim gefolgt, besonders in denen der Schöpfung, der Offenbarung, der Prophetie, der Vernunftlehre und der Ewigkeit der Materie. In zwei Richtungen läßt sich die Einwirkung der jüdischen mittelalterlichen Philosophie auf die Scholastik verfolgen. Die eine kommt von dem großen synagogalen Dichter Solomo ibn Gabirol, lateinisiert Avicebron, her. Sein arabisch geschriebenes philosophisches Werk »Mekor Chajim«, »Quell des Lebens«, war sehr bald ins Lateinische übersetzt worden und wurde dann bisweilen für das Werk eines Christen angesehen. Seinen Einfluß hat dieses Buch, der »Fons Vitae«, vor allem auf franziskanische Denker ausgeübt. Die andere Richtung ist die, in welcher der Moreh Nebuchim eingewirkt hat; sie erstreckt sich vorerst auf die dominikanischen Denker. Wir sehen die Linie deutlich von Alexander von Hales, dem Meister von Paris, und Wilhelm von Auvergne, dem Bischof von Paris, hin zu den drei Großen, deren Namen mit Köln sich verknüpft. Albertus Magnus, Thomas von Aquino und Meister Eckehart. Überall, bei Meister Eckehart in seinen, größtenteils noch unveröffentlichten lateinischen Schriften, begegnen wir hier Sätzen und Gedanken des »Rabbi Moses Aegyptius«, wie er zumeist genannt ward. Und die Linie zieht sich weiter zu dem großen 153

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Kardinal von der Mosel, Nicolaus Cusanus, besonders seiner Lehre von der Unerkennbarkeit Gottes, hin zu dem französischen Rechtslehrer Jean Bodin und schließlich bis zu Leibnitz und seiner »Theodicee« – Leibnitz hatte sich Auszüge aus dem »Moreh« gemacht. Auch in der Bildungswelt Europas hatte Maimonides seinen Platz gewonnen, weit über den Bereich der jüdischen Gemeinden hinaus. Mit der Moreh Nebuchim war das Lebenswerk des Maimonides vollendet. Die Idee, die ihn durch alle die Jahre geleitet hatte, von ihm fordernd, in seinem Judentum es zu zeigen, wie in der lebendigen Religion sich ein Zugang zu einer höheren Welt öffnet, diese Idee hat ihn nie verlassen, weil er sie nie verließ. Ihr hat er immer neu den Ausdruck zu geben gesucht, ihr hat er in allen den arbeitsvollen Jahren gedient. Nun war das Werk beendet. Aber die Arbeit seiner Tage war nicht beendet, bis zuletzt. Er war, ohne es zu wollen, das Oberhaupt der Juden Ägyptens geworden, und der Sultan hatte ihn als solches anerkannt. Darüber hinaus war er für die Juden aller Länder die Autorität geworden. Von überall her kamen zu ihm die Rechtsanfragen. Die Rechtsprechung in der jüdischen Welt hat keinen eigentlichen Instanzenzug; die frei dastehende persönliche Autorität eines Mannes war eine oberste Instanz. Die große Rechtsgutachten-Literatur zeugt von dem, was mehr ist als ein Amt. Es gab hierin keine Grenzen der Länder. Wir wissen von einer Anfrage aus einer Gemeinde am Kaspischen Meer, die sich an Raschi wandte. Die große Rechtseinheit und die Rechtsfreiheit sprachen sich auch darin aus. So wurde Maimonides’ Wort nun zu einer Höchstentscheidung; Fostat in Ägypten wurde wie zu einem Mittelpunkt der jüdischen Welt, so wie einst Mainz und dann Worms und Troyes es gewesen waren. Auch diese neue Pflicht hat Maimonides frei übernommen, und von der Fülle der Pflicht erzählt die große Zahl seiner Gutachten, die wir noch besitzen. Auch sie sind für den Mann kennzeichnend. Für ihn bedeutete die Anfrage, die an ihn gelangte, nicht einen Fall bloß mit seiner Schwierigkeit, mit seiner Kompliziertheit und Intrikatheit, sondern vor ihm stand ein Mensch, ein Mensch mit seiner Not und seiner Sorge und seiner Pein und seiner Erwartung. In das Bild des Mannes, des Arztes, des Rechtslehrers, des Philosophen, fügen sich als ein wesentlicher Zug diese Gutachten auch ein, ganz wie in das Gefüge seines Lebens, seines Charakters die Sendschreiben hineingehörten, die er, in früheren Jahren schon, aus eigenem Antriebe auch, nach Stätten der Bedrängtheit und des Zweifels geschickt hatte, um Menschen zu belehren und zu leiten und, nicht zuletzt, um sie zu trösten. Er war der Mann, der nie von sich abwich. Er war immer er selbst. 154

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Sein Leben war so erfüllt, als seine Jahre endeten. Er starb im Dezember 1204. Im Heiligen Lande, in Tiberias am See Genezareth, wurde er bestattet. Aus der jüdischen Welt ist Moses ben Maimon nicht fortzudenken. Fast zu Lebzeiten schon war er zur Geschichte geworden, und er ist ein Bestandteil der jüdischen Geschichte geblieben. Sein Denken ist in ihr einer der Pole geworden, um die viele Tage noch kreisten. Von dieser Bedeutung des Mannes zeugt es auch, daß seine Gedanken von manchen vorerst noch nicht verstanden und darum von ihnen abgelehnt worden sind. Bald nach seinem Tode erhob sich in südfranzösischen Gemeinden, wo die Philosophie des Maimonides schon früh ihre Schüler gefunden hatte, ein Widerstand gegen den Moreh. Eine Gruppe von Eiferern, die sich selbst zu Strenggläubigen ernannt hatten, fühlte sich aufgerufen. Es war die Zeit des Kreuzzuges gegen die Albigenser in Südfrankreich. Offenbar wollte auch diese Gruppe das Ihre haben, und sie etablierte Ketzergerichte gegen den Moreh und seine Anhänger. Menschen der Minderheit leben in der Atmosphäre der Mehrheit. Juden wissen davon im Günstigen wie im Abträglichen. Es ist so eine alte Erfahrung. Schon der Talmud redete gewisse Leute also an: »Wie die Schlechten unter den Anderen habt ihr gehandelt, wie die Guten unter ihnen habt ihr nicht gehandelt.« Auch über diese »strenggläubige« Episode der Tribunale gegen den Moreh ist die jüdische Geschichte sehr bald hinweggeschritten. Opposition und Kritik haben im Judentum stets ihren weiten Raum gehabt. Als Abraham ben David aus Posquieres seine »Randbemerkungen« zum Mischneh Torah, und oft mehr noch gegen ihn und oft mit dem ganzen Temperament seiner südfranzösischen Heimat, geschrieben hatte, hat jede spätere Generation dies als eine Bereicherung anerkannt. Seine Kritik war zur Selbstverständlichkeit geworden, und wenn die Schreiber und dann die Drucker den Mischneh Torah immer wieder neu herausbrachten, so geschah dies fast nie ohne diese »Randbemerkungen«. Der große Mann und sein Gegner, sie beide zusammen, sollten vor dem Blicke stehen. So war es auch getan worden, als in Lothringen die Gelehrten der Generationen nach Raschi ihre kritischen Hinzufügungen, die »Tossaphot« zu dem Talmudkommentar des Meisters verfaßten. Beinander, wie untrennbar voneinander, stehen sie in den Handschriften und den Drucken. Raschi und die Männer der Tossaphot. Die Größe des Maimonides wie die des Raschi schien das kritische Wort nicht nur zu ertragen, sondern zu fordern. Die Statur des Mannes wuchs nur. Fast von Anfang an und dauernd stand die Größe des Rabbi Moses ben Maimon auch im Volksbewußtsein fest. Der schlichte Jude fühl155

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte

te hier eine Besonderheit, eine seltene Einheit von Geisteskraft und Menschentum, auch wenn er die bestimmenden Züge nicht zu erfassen vermochte. Schon früh ist im Volke der Satz aufgekommen: »Von Moses – dem Propheten – bis zu Moses – dem Sohn des Maimon – war keiner wie Moses – wie Moses ben Maimon.« Jene große Ehrfurcht, jene durch Dankbarkeit verstehende Liebe sprach hier, ohne die ein Volk, das jüdische zumal, sich nicht finden kann. Das Werk wie die Persönlichkeit dieses Mannes hat sich damit als eine Kraft bewährt, welche Einheit schuf. Für das jüdische Volk sind solche in eine Einheit führende Persönlichkeiten ein Lebensfaktor. Das jüdische Leben hatte in fast allen seinen Zeiten nicht die Form eines Kreises mit seinem e i n e n Mittelpunkt, sondern die einer Ellipse mit den zwei Brennpunkten. In alten Tagen waren diese beiden das Nordreich und das Südreich, danach Palästina und die hellenistische Welt, das jüdische Land und Babylon, im Mittelalter die Gebiete der Juden Deutschlands, der Aschkenasim, und die der Juden der Pyrenäischen Halbinsel, der Sephardim, und in neuen Tagen, erst in Umrissen sich abzeichnend, das Land Israel und die Gemeinden in den Ländern. Diese Unterschiede, die ins Gegensätzliche bisweilen reichen konnten, verlangten nach den einigenden Kräften, vor allem auch nach den Persönlichkeiten, in denen sich die Einheit einprägsam darstellte. Das hat Maimonides für seine Zeit und für lange Zeit geleistet. In ihm haben der jüdische Orient und der jüdische Okzident sich zusammengewußt. Auch das, und das nicht zuletzt, ist seine große geschichtliche Bedeutung. Zu dem Historischen kommt das Moralische hinzu oder vielmehr: es ist im Moralischen gegründet. Maimonides war, wo immer er gekannt und verstanden wurde, eine Stimme des Gewissens geworden. Er war wie ein Mahner zu jener Andacht des Denkens, die sich nicht verliert, weil sie um das Wesentliche, um die Idee weiß, zu jener Rechtschaffenheit des Denkens, ohne die es keine echte Erkenntnis gibt, zu jener Ernsthaftigkeit und Treue des Denkens, die es sich nicht leicht macht, noch auch die Aufgabe an nahe oder ferne Halbheiten verrät, jener Demut des Denkens, die immer dessen gewiß bleibt, was noch zu tun ist, jener Wahrhaftigkeit des Denkens, ohne die alles Wissen und aller Scharfsinn sich als unnütz herausstellen. Wer ihm innerlich nahe trat, hat diesen Appell an das Gewissen vernommen, diesen Ruf, in der Wissenschaft zu leben und auch in der Wissenschaft fromm zu sein um des Lebens willen, des Lebens und der Wissenschaft wegen so auch ein freier Mensch zu sein, wie keines Menschen Knecht so keines Trachtens Knecht. Etwas davon hat, wie gesagt, auch das einfache Volk gespürt, 156

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Maimonides – der Mann, sein Werk und seine Wirkung

wenn es an diesen Mann dachte, von diesem Manne sprach. Statt vieler Beispiele sei eines angeführt, weil es ein keusches Wort ist, nicht vor den Leuten gesprochen war, geschweige denn für die große Welt bestimmt. Im persönlichen Nachlaß von Ferdinand Lassalle, dem großen Arbeiterführer, dessen Name ja auch mit dieser Stadt hier, mit Düsseldorf, verknüpft ist, fand sich ein Brief, den er mit sich trug. Der Großvater, ein Handelsmann in Loslau in Oberschlesien, hatte 1802 ihn an den Sohn geschrieben, der hinausgezogen war, um zu lernen. In diesem Brief sagt er dem Sohne, Ferdinand Lassalles Vater: »Denke nicht, daß Du gebildet bist und keines Studiums bedarfst; denn der Rabbi Hamoreh – der Rabbi, der Verfasser des Moreh Nebuchim – sagt einmal: ›Wenn Du glaubst, daß Du wissend bist, so bist Du doch unwissend.‹« So dachte, so sprach das Volk von diesem Manne, von Moses ben Maimon. Dieser Mann hatte vieles geschaffen und vieles vollbracht, und hinter allem stand und bestand immer er selbst, die Persönlichkeit. Nicht sein geringstes Werk ist er selbst, diese seine Persönlichkeit. Er war ein Eigener, ein Jude im Eigenen, ein Denker im Eigenen, ein Eigener auch inmitten der Tage des Schicksals. Zur Wirklichkeit seines Lebens hat er das gemacht, was der Vater der modernen Medizin, Paracelsus, ein Arzt und ein Philosoph wie Maimonides, freilich ohne den sicheren Sinn für die Form des Begriffes, welchen dieser in der Rechtswissenschaft gelernt hatte, einmal mahnend als die menschliche Aufgabe hingestellt hat: »Non sit alterius, qui suus esse potest«, – »Nicht sei eines anderen, wer ein eigener sein kann«. Für die anderen zu leben und doch im Eigenen zu stehen, Maimonides hat es erfüllt. Das war dieser Mann, Rabbi Moses ben Maimon, der Rambam. Seiner gedenken, heißt, an uns eine Frage richten, die uns selbst gilt.

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Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig*

Zu den letzten öffentlichen Vorträgen Leo Baecks gehören diese im Juni 1956 im westfälischen Münster gehaltenen Vorlesungen, die vier große Gestalten des Deutschen Judentums ins Blickfeld rücken und entsprechend »der Erinnerung an das einstige deutsche Judentum und seine große geistige Geschichte gewidmet sind«. Wir wollen auf eine größere Einleitung zu den Texten verzichten in der Meinung, daß die Endnoten die meisten wesentlichen Fragen zum Hintergrund klären. Versuchen wollen wir aber, die vorgestellten Persönlichkeiten mit der Person Leo Baecks in eine Beziehung zu setzen. Ist die Auswahl der hier Vorgestellten Zufall, oder ist in den historischen Figuren das Eigene Leo Baecks zu erkennen? Mit Moses Mendelssohn haben wir die große jüdische Persönlichkeit im Zeitalter der Aufklärung vor uns. In Mendelssohns Schaffen und Wirken gelang die Vermittlung zwischen Judentum und der neuen Zeit mit ihrem neuen Denken. Modern formuliert: Mit Mendelssohn wurde das Judentum »anschlußfähig« an den Fortschritt der es umgebenden Kultur. So konnte es bei sich selbst bleiben und – sich wandelnd – zugleich Gemeinschaft mit dem anderen und zunächst Fremden finden. Wie Mendelssohn wird auch Baeck zu einem Vermittler jüdischen Geistes in einer sich wandelnden Welt. Dies gilt – ausgedrückt in einer unüberschaubaren Fülle an Gremienzugehörigkeiten – für die Zeit vor der Schoah. Dies gilt besonders aber auch für die Jahre, die Baeck nach der Katastrophe noch vergönnt waren. Man hat Mendelssohn nach Auschwitz den Vorwurf gemacht, gerade sein Denken habe eine Akkulturation des Judentums in Deutschland befördert, die es unmöglich gemacht habe, die Todesgefahr zu erken*

Publiziert als: Von Mendelssohn zu Rosenzweig. Typen jüdischen Selbstverständnisses in den letzten beiden Jahrhunderten, Verlag Kohlhammer 1956.

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Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig

nen. Zu sehr habe man sich einlullen lassen von der Illusion, es gebe eine Symbiose zwischen jüdischer Identität und moderner, deutscher Kultur. Baeck hält dagegen und macht deutlich, daß Mendelssohn jüdische Identität nicht auflöste, sondern zur Weiterlebensfähigkeit wandelte. Eine Aufgabe, die dem Wirken Leo Baecks – gerade auch nach Auschwitz – nicht fremd ist. »Einer ist hier als ein Eigener zu nennen: Moses Hess aus Bonn. Etwas Eigentümliches war an diesem Mann – ein gläubiges Suchen, ein Suchen, das das Ziel erblickte und den Weg erkannte –, der die Bahnen, die zu dem Weg führen würden, zu finden sich bemühte« – so charakterisiert Baeck den zweiten Vorgestellten. Eine Beschreibung voller Wärme, obwohl da auch Distanz ist: Hess gilt als einer der Vordenker der zionistischen Bewegung, und gerade der Nationalismus ist Baecks Sache nicht. Doch sieht Baeck in Hess auch weniger den ersten Zionisten als vielmehr den Propheten, den Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. In dem Anliegen, die soziale Kraft des biblischen Gesetzes für die Gegenwart lebendig werden zu lassen, lag der Ort, an dem Baeck sich mit Hess identifizieren konnte. Größer ist die Nähe zu Walther Rathenau. Mit dessen Familie und mit ihm persönlich war Baeck verbunden. In Rathenau erkennt Baeck nicht nur die Einsamkeit des Außergewöhnlichen, die Rathenau selbst in den »Ungeschriebenen Geschichten«, einer Aphorismensammlung im vierten Band seiner Gesammelten Schriften, zu beschreiben scheint: »Wir lieben an Menschen nicht ihre Vollkommenheit, sondern ihre Schwächen. Ein vollkommener Mensch, der in seiner Größe unter uns träte, würde uns zu kalter Bewunderung erstarren machen. Er besäße weder Persönlichkeit noch Charakteristik, weder Tugend noch Laster. Wir lieben die Schwachen, und zwar diejenigen, durch welche die Stärken hindurchleuchten. So lieben wir auch an der Weltgottheit die Bedingtheit und Verhüllung. Das Absolute ist Entsetzen erregend.« In Rathenau sieht Baeck das bewunderte Paradigma des begabten Juden: ein Künstler und Suchender. Immer auf dem Weg, auch auf der Suche nach dem Judentum. »Hätte er länger gelebt – man darf wohl sagen, er hätte es gefunden«, schreibt Baeck über den Mann, von dem gesagt wird, er sei der Mann ohne Eigenschaften des Robert Musil. Schließlich Franz Rosenzweig. Baeck verbindet mit Rosenzweig eine tiefe Freundschaft, die nicht zuletzt in der Förderung der Buber-Rosenzweig-Übersetzung der Bibel und in der Ordinierung des Todgeweihten durch Baeck Ausdruck findet. Er schreibt: »Wie ein Zeitloses war es zuletzt um ihn gebreitet, wie immer, wenn ein Mensch überwindet. In seinem Lächeln und seinem Blicke mit ihrer Güte und ihrer Ironie – beide sind vielleicht in der Wurzel dasselbe – wendete er sich zu uns. 159

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte

Wahre Güte und wahre Ironie scheinen ein über die Zeit Erhobenes zu bedeuten. Trotz allem Kämpfen mit dem Alltag schwebte es so wie eine Poesie um ihm. Und Leben der Menschen war um ihn, die sorgende Treue der Mutter, die opfernde Liebe der Frau … er durfte erfahren, wie er gab, und wie er umgeben war (Chaggais Wort): ›ein Bote des Ewigen, in der Botschaft des Ewigen‹, das Wort ist nicht zu groß auch für Franz Rosenzweig.« Nahe waren sich beide auch, weil beide im Lernen und in der Lehre die eigene Berufung fanden. Im Geist fanden sie Wahrheit und wurden so einander Brüder.

1. Vorlesung am 14. Juni 1956 Moses Mendelssohn 1 Darf ich vorerst Ihnen, Herr Professor Rengstorf, für die so verständnisvollen und aufgabenreichen Worte danken, mit denen Sie mich hier begrüßt haben? Es ist für mich eine Stunde, die mir etwas bedeutet, daß ich hier in Ihrer Mitte weilen darf. Sehr geehrte Herren Professoren! Meine Damen und meine Herren! Die Juden in Zentraleuropa – und das bedeutet vor allem in Deutschland – waren durch das 18. Jahrhundert vor eine ganz neue Aufgabe gestellt, und es ist die große Leistung M o s e s M e n d e l s s o h n s , daß er diese Aufgabe begriffen und zum Erbe derer, die nach ihm kamen, gemacht hat. Die Aufgabe war durch den Wandel gestellt worden, der sich in Europa im 18. Jahrhundert vollendet hatte. Der Beginn der neuen Philosophie durch Descartes und Bacon, des neuen Weltbildes, wie es Kopernikus und Kepler geschaffen hatten, die neue Naturwissenschaft, wie sie durch Galilei und Newton heraufgeführt worden war – das alles zusammen hatte eine Wandlung des Geistes mit sich gebracht. Wandlungen in der Geschichte werden ja nicht durch Veränderung von Grenzen herbeigeführt, nicht durch Erfolge oder Niederlagen, die das eine oder das andere Volk erfährt, sondern dadurch allein, daß in der Sphäre des Geistigen sich etwas vollzieht. So war es im 18. Jahrhundert zu einem gewissen Ziele geführt worden, und das bedeutet zugleich, daß Tage, die nachher folgten, nicht immer imstande waren, an diesem Ziele festzuhalten. Auf jeden Fortschritt – das Wort im allgemeinen geistigen Sinne genommen – folgt zu leicht ein Zögern und ein Rückschritt. Aber das, was das 18. Jahrhundert vollbracht hatte, war vollbracht. Was war es? Kant, der der jüngste, der geniale Sohn dieses 160

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18. Jahrhunderts war, hat rückblickend später gesagt: Die Menschen in Europa haben das alte Gebot zu befolgen begonnen Sapere aude: »Hab den Mut, vernünftig zu sein« 2 . Sie haben den Mut gewonnen, aus einer Zeit der Unmündigkeit, wie Kant sich ausdrückt, in Tage der Mündigkeit einzutreten. Wir können es rückblickend vielleicht so ausdrücken, daß damals die Idee einer menschlichen Vernunft die Gemüter erfaßt hat und daß diese Idee ihnen neue Wege zu neuen Zielen gewiesen hat. Hinter dieser Idee der Vernunft lag die große Hoffnung und Forderung einer Einheit. Diese Idee der Einheit ist fast so alt, wie Geschichte in Europa als europäische Geschichte ist. Das ganze Mittelalter hindurch war die Einheit erhofft und gefordert worden im Namen des einen Glaubens – des einen Glaubens, der auf dem einen gleichen Bekenntnisse beruhe. Diese Einheit des Glaubens durch die Einheit des Bekenntnisses herbeizuführen und zu sichern, das war die Aufgabe, die sich, so sehr sie oft gegeneinander kämpften, Papst und Kaiser in gleicher Weise gestellt hatten. Einheit kraft des einen Bekenntnisses! Und nun wurde die neue Einheit ersehnt und verlangt: Einheit aller vermöge der einen Vernunft, die in alle eingepflanzt ist! Das war die Wandlung, die sich im 18. Jahrhundert, nachdem sie schon zwei Jahrhunderte vorher sich angebahnt hatte, mehr und mehr vollzog. Im Namen der Vernunft und durch den Gebrauch der Vernunft sollten alle, so verschieden sie waren, sich zusammenfinden können. Vor diese Wandlung sahen sich die Juden gestellt, und für sie bedeutete das mehr als für irgend einen andern im Lande. Denn fast ein Jahrtausend lang hatten sie ein Eigenleben führen m ü s s e n und je länger desto mehr dann führen w o l l e n . Sie waren – je länger desto mehr – isoliert worden und waren dazu gelangt, daß sie es als ihre geschichtliche Aufgabe in dieser Zeit, in der sie damals lebten, ansahen, sich zu isolieren. Sie waren isoliert worden durch geistliche und weltliche Obrigkeiten, und man muß es zugestehen, daß – zumal für die Kirche – die Tatsache jüdischer Gemeinden in Europa ein Problem darstellte. Die Hoffnung der Kirche war die Einheit des Glaubens. Man nannte damals das, was heute Europa genannt wird, die Christenheit. Erst im 17. und 18. Jahrhundert beginnt dann der Name Europa, weil es nicht mehr die eine Christenheit in diesem Erdteile gab, üblich zu werden und sich schließlich durchzusetzen. Innerhalb dieser Christenheit lebten Menschen anderen, in mancher Hinsicht entgegengesetzten Glaubens. 161

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Und es lag darin ein ganz besonderes Problem. Die, welche Ketzer waren, die, welche die [kirchliche] Einheit ablehnten, einen Individualismus an Stelle der Forderung der Einheit setzen wollten – die Ketzer konnte man abtun, gegen sie das Verfahren des Verbrechens gegen die Idee der Einheit eröffnen. Die Ungläubigen konnte man beiseitestellen; sie gehörten andern Gebieten und Sphären auf der Erde an. Aber diese Juden im Lande! Sie waren keine Ketzer; denn sie hatten nie unter der Oberhoheit geistlicher Art, unter der Obrigkeit, die die Kirche als Kirche ausübte, gestanden. Sie waren keine Ungläubigen; denn die Bibel, die ihnen die Bibel war, war Bibel auch der Kirche. Das Alte Testament, jeder Satz des Alten Testamentes, sollte zur Kirche von der Kirche und ihrem Glauben auch sprechen. Und wie die Vergangenheit und Gegenwart der Kirche ohne dieses Jüdische nicht zu denken war, so die Zukunft nicht; denn das, so hoffte man, würde das Siegel sein, das auf die Erfüllung der Zukunft geprägt werde, daß die Juden zur Kirche sich hinwendeten, Kinder der Christenheit würden. So konnte man sie weder einfach negieren noch gegen sie vorgehen, wie man gegen Ketzer vorging. So hat man sie in der Not dieses Problems in Europa umhergeschoben von Gebiet zu Gebiet, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Und schließlich hat man sie eben isoliert, sie abgekapselt, in ihren Gemeinden eingeschlossen. Das sogenannte Ghetto entstand. Und wenn man die jüdische Literatur aus jener Zeit zu sich sprechen läßt, so erkennt man, wie die Antwort, die die Juden darauf gaben, die war: »Wir wollen für uns sein!« Und man hat diese Antwort freudevoll gegeben. In alten Gebeten, die in jener Zeit entstanden sind, ist der Satz oft enthalten: »Heil uns! Wie schön ist unser Erbe, wie gut ist unser Los!« 3 Äußerlich litten sie, diese Menschen, alle; aber innerlich – es ist das etwas, was man nicht vergessen sollte – haben sie ein seelisches Frohgefühl gehegt. Sie wollten für sich sein. Und auch das spricht aus dem Schrifttum jener Tage: Sie sahen in gewissem Sinne auf ihre Umgebung herab, und, historisch betrachtet, durften sie es tun. Die drei großen Krankheiten, unter denen Europa litt: die Rohheit, vor allem die geschlechtliche, die Trunksucht und die Unwissenheit – all das fand durch die Tore der Judengassen keinen Eintritt. Dort gab es keine Analphabeten; dort nahm jeder am geistigen Leben sogar Anteil. Dort gab es keine Zügellosigkeit und keine Rohheit; dort gab es keine Trunksucht. Und es war dort ein geordnetes Rechtssystem, das aus den Responsen 4 jener Zeit deutlich zu uns spricht, das jedem einzelnen, und dem Schwachen vor allem, sein Recht 162

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gab und den Anspruch, den er erheben durfte, anerkannte. So sonderte man sich innerlich ab, nachdem man äußerlich abgesondert worden war. Aber nun hatte sich diese Welt geändert. In dieser Welt wollte man alle ohne Einschränkung und ohne Vorbedingung einen im Namen der Vernunft, im Namen der Wissenschaft, im Namen der Bildung. Hier konnten Juden eintreten. Sie konnten eintreten, und sie sollten eintreten; denn hier fand das statt, was das Große im Leben und in der Geschichte ausmacht, im Leben des einzelnen und der Geschichte der Völker: die Begegnung der Seele mit der Stunde. Die Geschichte gibt niemals etwas Fertiges, das der Mensch nur zu ergreifen hätte, um es sich nutzbar zu machen. Was die Geschichte gibt, ist nur die Möglichkeit, die dem Menschen, dem einzelnen Volke gewährt wird. Seele und Stunde können einander begegnen. Es ist Sünde in der Geschichte und Schuld im Leben des einzelnen, wenn von Menschen das nicht begriffen wird. So war es eine Aufgabe, geschichtliche Aufgabe, die den Juden gestellt war, nun diesen Wandel der Zeiten zu begreifen. Aber aus zwei Gründen, einem äußeren und einem inneren, war es schwierig. Bis in das 14. Jahrhundert etwa hinein und, später erwachend, dann im 16. Jahrhundert wieder lebte in den Juden Europas ein Gefühl: das Gefühl, daß sie einen Anspruch auf das Bürgerrecht hatten. Durch die sogenannte Antoninianische Konstitution, die Kaiser Caracalla erlassen hatte, war allen freien Provinzialen das römische Bürgerrecht verliehen. Dieses Bürgerrecht besaßen seitdem ausnahmslos alle Juden. Wenn man alte Eingaben liest, die im frühen Mittelalter Juden an weltliche und geistliche Behörden richteten, so spricht eines vor allem darin: »Heiliges Reich, Römisches Reich deutscher Nation ist Deutschland! Römisches Reich: wir sind römische Bürger. Die Konstitution des Caracalla ist niemals aufgehoben worden; wir erheben unsern Anspruch!« Und als [sich] im deutschen Humanismus zum erstenmal der neue Geist, der dann später sich verwirklichen sollte, erhob, hat der Führer der deutschen Humanisten, Reuchlin, in seinen Schriften das betont: »Es ist Rechtsentziehung, wenn den Juden ihr Recht genommen oder gekürzt wird; sie sind Bürger im Römischen Reiche.« 5 Und als in der Zeit der Reformation der damalige Leiter der Juden in Deutschland, ein schlichter Mann, Joselmann aus Rosheim im Elsaß 6 , an Kaiser Karl V. seine Eingaben richtete, ist es das, was er betont: »Kraft der Konstitution im Römischen Reiche verlangen wir unser Recht.« Aber diese Gedanken waren mehr und mehr zurückgetreten. Das Römische Reich, selbst als Idee, hörte seit der Reformation auf. Man 163

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konnte auf das Römische Reich und seine Verfassung sich kaum mehr berufen. Aber stärker war der innere Grund. Etwa vom 15. Jahrhundert an mehr und mehr sind die Juden Europas homines mystici geworden, mystische Menschen. Die Mystik hat die Geister, nicht nur die Gemüter, erfaßt. Die Mystik schien die Antwort auf alles zu geben. Es war in Deutschland schon früh eine Mystik entstanden am Rhein und an der Donau; das »Buch der Frommen« 7 zeugt davon. Und dann, in der spanischen Welt, wurden die Systeme der Mystik aufgebaut, und diese drangen nun weiter und weiter. 8 In all den Gebeten jener Zeit ist der mystische Zug: Alte Gebete werden in mystischem Sinne ergänzt oder umgearbeitet. 9 Die Juden waren Mystiker geworden. Und diese Mystiker traten nun in eine Welt ein, zu der sie neu die Stellung gewinnen sollten, in eine Welt, die rational geworden war. Der homo mysticus, der Jude, sollte zum homo rationalis nun werden. Das war die schwere Aufgabe jener Zeit – eine Aufgabe, so schwer, wie sie kaum je einer Gemeinschaft und Menschen in ihr gestellt war. Denn in dieser Mystik fanden die Juden damals überall in der Welt ihren Trost. An den Toren des Ghettos begann die höhere Welt; die Judengasse ging in die höheren Sphären hinüber. Dort, in dieser höheren Sphäre, lebte man; durch alle Türen der Häuser, durch alle Fenster der Häuser drang dieser mystische Geist ein. Mystiker waren diese Menschen und sollten nun in der rational gewordenen Welt sich zurechtfinden; sie, die Mystiker, sollten auf die Frage, die diese Welt, die sich gewandelt hatte, rational an sie stellte, die Antwort geben. Das war die große Aufgabe, vor welche die Juden, in Deutschland vor allem und Moses Mendelssohn in ihrer Mitte, gestellt waren. In Deutschland vor allem! Denn mit dem Ende des 15. Jahrhunderts hatten die sogenannten Sephardim, die Juden Spaniens und Portugals – 1492 aus Spanien, 1497 aus Portugal vertrieben –, sich in die Welt des Islam begeben. Ein wunderbares Kulturleben hatten sie auch dort zu entfalten begonnen. Aber es war ein Leben außerhalb Europas, außerhalb dessen, was bis zum 16., 17. Jahrhundert das Wort »die Christenheit« meinte, und außerhalb dessen, was der neue Begriff, der dann üblich wurde, »Europa«, eben meinte. Die ganze Bürde, die ganze Aufgabe lag auf den deutschen Juden. Hier allein war eine kompakte Gruppe. Und es war eine Gruppe eigener Prägung. Zwei große Stämme jüdischen Lebens waren im Mittelalter, die Sephardim, wie sie genannt wurden, die Juden der pyrenäischen Halbinsel, und die Aschkenasim, die »Deutschen«, wie sie 164

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genannt wurden – die Juden im deutschen Lande und [in] ihren Kolonien, die sie östlich der Weichsel mehr und mehr von Generation zu Generation gründeten. Beide begabt in ihrer Weise! Die Sephardim hatten den architektonischen, den systematischen Geist. Dort, unter den Sephardim, sind die großen Systeme des Rechtes, des Religionsgesetzes, der Philosophie, der Mystik geschaffen worden – Systeme in wunderbarem Bau. Die Aschkenasim, die Juden Deutschlands, waren die Empiriker. Das religiöse Erlebnis, die religiöse Erfahrung, die rechtliche Forderung des Tages – das war [hier] das Entscheidende. Wenn man das Buch, welches die Juden in Deutschland im 13. Jahrhundert geschaffen haben, das »Buch der Frommen«, das wohl vor allem in Regensburg entstanden ist, mit den Philosophien der Mystik in der spanischen Welt vergleicht, da sieht man den Unterschied. In dieser spanischen Welt wird ein System des Kosmos im mystischen Sinne aufgebaut, Sphäre um Sphäre, sie alle ineinandergefügt, ein logischer mystischer Bau. In dem »Buch der Frommen«, das dann seine Fortsetzung im 18. Jahrhundert im Chassidismus im östlichen aschkenasischen Gebiet fand – es ist interessant zu beachten: Der Stifter dieses Chassidismus, der sogenannte Baal-Schem 10 , ist in demselben Jahre geboren und in demselben Jahre gestorben wie Graf Zinzendorf, der Schöpfer des Pietismus 11 –, die Mystik der Juden in Deutschland ist auf mystischer Erfahrung aufgebaut. Mystiker erzählen von ihren mystischen Erlebnissen. Nicht das mystische System, sondern die mystische Persönlichkeit ist das Entscheidende. Und so ist es ja auch im Chassidismus, der seinen Namen von dem Sepher Chassidim, dem »Buch der Frommen«, übernommen hat. Nicht Systeme, sondern Persönlichkeiten, mystische Persönlichkeiten, die das mystische Erlebnis hatten und es ausstrahlen, geben dieser Bewegung die Bedeutung. Aber wie es auch immer war, die Mystik hatte von den Juden überall Besitz ergriffen. Ein Jude aus Deutschland, Isaak Luria 12 oder, wie er auch genannt wird, Isaak Aschkenasi, Isaak der Deutsche, hat im heiligen Lande diese Mystik der Persönlichkeit in Safed in einen empfänglichen Boden gepflanzt, und von dort ging es neu überall hin, wo Juden lebten. Und diese Mystiker sollten nun sich in die rationale Welt einfügen. Das war die Aufgabe, die gestellt war. Und der, der als erster, in seiner Zeit fast als einziger, sie begriffen hat, war Moses Mendelssohn. Er war ein schlichter Mann. Er war in Dessau geboren. Und als sein Lehrer, der Rabbiner in Dessau gewesen war, einem Rufe als Rabbiner nach Berlin folgte 13 , zog es Moses Dessau, wie er auch genannt wurde, oder Moses, Sohn des Mendel, Mendelssohn, auch 165

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nach Berlin. Er war ein kaufmännischer Angestellter, und damit hat er seinen Lebensunterhalt verdient. Aber er hatte von der neuen Welt erfahren, von dieser Welt der Aufklärung, dieser Welt, welche mündig sein wollte, dieser Welt der Vernunft. Und in sie wollte er eintreten. Er hat darum das neue Deutsch gelernt. Die Juden in Deutschland und ebenso ihre Kolonien im Osten hatten als ihre Tagessprache ein mittelalterliches Deutsch, mit hebräischen Worten durchzogen, das sogenannte Jüdisch-Deutsch oder Jiddisch, wie es in neuerer Zeit genannt wird. Es ist mittelalterliches Deutsch. Und in einer Arbeit, die schon vor Jahrzehnten erschienen ist über den Dialekt der Bauern in Handschuhsheim, einem badischen kleinen Orte nicht weit von Heidelberg 14 , ist vor den, der es liest, die merkwürdige Tatsache hingestellt, daß die Bauern dort, die noch das Mittel[hoch]deutsche gewahrt hatten, dieselbe Sprache wie die Juden damals sprachen, ohne die hebräischen Bestandteile der Sprache. Wer aber in die Welt, die jetzt erstanden war, eintreten wollte, in diese Welt der Vernunft, der neuen Bildung, mußte die Sprache dieser neuen Welt sich erwerben. Und da diese Aufklärung im 18. Jahrhundert vor allem in Deutschland auch ihre Stätte hatte und in Deutschland allein damals jüdische Gemeinden in großer Zahl waren, war es die deutsche Sprache, die erlernt werden sollte. Sie hat Mendelssohn gelernt. Er erzählt nicht von den nächtlichen Stunden, die er der Arbeit widmete; andere haben davon erzählt. Aber er hat es vollbracht, daß er in wenigen Jahren es vermochte, deutsch zu sprechen und einen edlen deutschen Stil zu schreiben, so, daß der Mann, der der Beste und Reinste jenes Jahrhunderts war, Lessing, auf ihn aufmerksam wurde. Und ohne daß Mendelssohn es wußte, veröffentlichte er das, was Mendelssohn für sich und seine Freunde geschrieben hatte 15 , und der Name Mendelssohn wurde so in der neuen Welt der Bildung bekannt. Und nun – vielleicht hat Lessing auch darauf hingedrängt – wurde [es] Mendelssohns Bestreben, selbst in diese Welt einzutreten, um nun seine Menschen, zu denen er gehörte, die Juden in Deutschland, in diese Welt hineinzuführen. Deutsch lernen und Deutsch lehren – das war darum die erste Aufgabe, die er gestellt hat. Er selbst war nun in diese Welt eingetreten, in die Republik der Gebildeten, res publica eruditorum, wie man damals sagte, wo kein besonderes Verlangen gestellt wurde, damit einer eintrete; deren Bürgerrecht jeder sich selbst durch seine Leistung erwarb. Er selbst war in diese Welt eingetreten. Und in dieser großen Selbstlosigkeit, welche Moses Mendelssohn besonders kenn166

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zeichnet, wurde es nun sein Verlangen, die Menschen der jüdischen Gemeinden denselben Weg zu führen, wie er ihn gegangen war. Er hat zu diesem Zwecke die Bibel zum großen Teil in das Deutsche übersetzt. Und da das hebräische Alphabet den Juden damals vertrauter war als das deutsche, das gotische oder [das] lateinische, so hat er die deutschen Übersetzungen in hebräischen Buchstaben drucken lassen. Und so hat diese Übersetzung rasch den Eingang in die Gemeinden gefunden, sicherlich gegen manchen Widerstand hier und dort – mystisches Empfinden und der Wunsch, isoliert zu bleiben, hat diesen Widerstand belebt –, aber doch unwiderstehlich am letzten Ende. Schon eine Generation nach Mendelssohn haben fast alle Juden in Deutschland deutsch gesprochen so wie die anderen und deutsch geschrieben so wie die Besten der andern. In die Welt der Bildung war damit der Eintritt gewährt. Eine Wandlung hatte sich vollzogen, eine Wandlung in der Welt draußen und eine Wandlung in den jüdischen Gemeinden Deutschlands. Aber diese Wandlung verlangte ein Besonderes: sie verlangte, daß auf diese veränderte Welt eine andere Antwort gegeben werde, daß das Verhältnis zwischen den Juden in der Welt und der Welt ringsumher nun einen anderen Bescheid gäbe und erhielte. Lange Zeit hindurch, im Mittelalter, hatten Christen und Juden innerlich von einander wenig Kenntnis genommen. Es fanden Disputationen statt, besonders in Spanien und Italien, aber auch in Deutschland, zwischen christlichen Theologen und Juden 16 . Aber es waren Diskussionen, bei denen die Antwort, die erteilt werden sollte, von vornherein festgestellt wurde. Es war nicht Stätte des freien Wortes. Juden haben auch über das Christentum gelegentlich, freilich selten, Bücher geschrieben, Lipmann aus Mühlhausen 17 und andere; aber es sind Bücher, die nur zu den Interpretationen und Deutungen, welche die Kirche biblischen Sätzen gibt, Stellung nahmen – nicht zum Christentum als Glauben, nicht zu dem Glaubensprinzip des Christentums, sondern nur zu Sätzen, die der Theologie dieses Glaubens dienen sollten. Aber jetzt, wo die Welt sich gewandelt hatte, mußte irgendwie das Judentum nicht nur durch seine Existenz, wie es bis dahin geschehen war, von sich Zeugnis ablegen, sondern religiös, geistig [und], wenn man das Wort hier brauchen will, theologisch auch. Und diese Stellungnahme zu sich selbst bedeutet eine Stellungnahme zu den anderen. Mendelssohn war eine scheue, schüchterne Natur. Ihm lag solches nicht. Er hat von sich selbst einmal gesagt, er sei nicht zum Heroen geboren. 18 Er mußte, fast möchte man sagen: bisweilen vom Schicksal an der Hand ergriffen und geführt werden. So hatte ein gü167

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tiges Geschick ihn durch Lessing geführt; und so hatte ein gütiges Geschick ihn nun durch einen Mann wertvoller Eigenschaften, der aber sicherlich kein Lessing war, durch Lavater 19 , geführt. Mendelssohn hat in verschiedenen Schriften über Unsterblichkeit, über Grundfragen der Philosophie, auch über ästhetische Fragen im Sinne der Aufklärung geschrieben. Er war in der Republik der Gebildeten anerkannt. Und nun schrieb Johann Caspar Lavater aus Zürich an ihn einen Brief: »Du predigst die Wahrheit; nun denn, entschließe dich zur Wahrheit! Du bist ein Jude; nun, widerlege das Christentum oder, wenn du es nicht kannst, tritt zum Christentum über!« 20 Es war auch damals, auch im Preußen Friedrichs des Großen, der in camera pietatis ein Philosoph und in der Stube der Regierung es nicht war, nicht leicht, frei über das Christentum zu sprechen. Aber Mendelssohn, der nicht zum Heros geboren war, hat immer heroisch gehandelt, wenn die Zeit, die Stunde es verlangte, wenn Seele und Stunde einander begegneten. So hat er in dem Buche, das sein bestes war und geblieben ist bis heute als ein Buch voller Bedeutung, »Jerusalem« 21 , über seine Religion gesprochen, ihre Besonderheit zum Ausdruck gebracht und damit gegenüber dem Christentum Stellung genommen, Glaubensprinzip gegen Glaubensprinzip gestellt. Die Grundlinie in diesem Buche »Jerusalem« ist, daß Mendelssohn erklärt, daß es in der Geschichte Besonderheiten edler Art, d. h. Besonderheiten, die nicht einem Egoismus oder einem Machtverlangen oder einem sonstigen Begehren dienen, sondern eben Besonderheiten innerer Art, die die Selbstlosigkeit, den Opfersinn, die Hingebung verlangen, gibt und daß diese Besonderheiten ihr Recht in sich selber tragen. Sie sind da von Gottes wegen, von Gottes Gnaden. In der Religion im allgemeinen Sinne, wie die Aufklärung sie lehrte, die das mysteriöse Element verwarf – damals ist von John Toland das merkwürdige Buch geschrieben »Christianity not mysterious« (»Christentum nicht mysteriös«) 22 –, in dieser allgemeinen Religion der Vernunft, einem Erbe der stoischen Philosophie, kamen alle Menschen zusammen, konnten und sollten, so sagte Mendelssohn, sie alle einander begegnen. Auch das Judentum ist im Fundamentalen des Glaubens Vernunftreligion, vernunftgemäß zu beweisen, vernunftgemäß nicht nur zu rechtfertigen, sondern wahrhaft als Religion hinzustellen. Aber innerhalb dessen gibt es diese Tatsache, daß e i n Volk, ein kleines Volk – um es so aus[zu]drücken, wie Mendelssohn es ausdrückt – am Sinai stand 23 , daß ihm eine Aufgabe gestellt wurde, sich treu zu bleiben, so wie es durch die Offenbarung zur [personifizierten] Treue geworden 24 war, bis zum Ende ge168

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schichtlicher Zeit. Kein Rationales kann es erklären. Die Tatsache besteht, die Tatsache dieses Volkes als eines Trägers der Offenbarung. Und darum – so sagt nun Mendelssohn und vollendet damit die Antwort, die gegeben wurde –, darum soll der Jude ein Mensch der Vernunft sein, aber ganz ein Jude, … Anmerkungen 1. Moses Mendelssohn, eigentlich Moses ben Menachem, oder – verdeutscht – Moses Sohn des Mendel, war am 6. September 1729 in Dessau geboren, wo sein Vater Tora-Schreiber war, und erhielt von diesem den ersten gründlichen Unterricht im jüdischen Wissen. Getrieben von seinem unbändigen Drang nach Anteil an der modernen Bildung, siedelte er schon 1743 im Alter von vierzehn Jahren von Dessau nach Berlin über, wohin sein Lehrer, der Dessauer Rabbiner David Hirschel Fränkel, berufen worden war. Dort erwarb er sich aus eigenem Willen mit Förderung jüdischer und später auch christlicher Bekannter Kenntnisse auf dem Gebiet des Allgemeinwissens und speziell der Philosophie und knüpfte Bekanntschaften mit christlichen, zum Kreis der Aufklärer gehörenden Persönlichkeiten an. Gotthold Ephraim Lessing, mit dem Mendelssohn 1754 bekannt geworden war, führte ihn in die deutsche Gelehrtenrepublik durch die (ohne Wissen Mendelssohns vorgenommene) Veröffentlichung seiner »Philosophischen Gespräche« ein (1755). Weitere eigene Veröffentlichungen über philosophische Themen erregten u. a. die Aufmerksamkeit des Schweizer Theologen Lavater. Durch eine von diesem entfachte Polemik (1769/70) wurde Mendelssohn gezwungen, Stellung zum Problem der Philosophie im Judentum zu nehmen. Seitdem begann sich Mendelssohn mit jüdischen Problemen praktischer und ideologischer Art zu befassen, als Fürsprecher der Juden und als Förderer der Emanzipation. Aus seiner Beschäftigung mit jüdischen Themen erwuchs auch die (ursprünglich nur für seine Kinder bestimmte) deutsche Bibelübersetzung (1780 ff.) und die Schrift »Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum« (1783), in der er die Anschauung vertritt, daß das Judentum keinen Konflikt zwischen Religion und Vernunft kenne. Er starb am 4. Januar 1786, von vielen beklagt, aber in seiner Bedeutung nur von wenigen erkannt. Diese liegt für das Judentum weniger auf dem philosophischen Gebiet als in dem Beweis, den er durch seine Person erbracht hat, daß es möglich ist, Judentum und moderne Kultur miteinander zu vereinen. Eine vollständige moderne kritische Ausgabe der Werke Mendelssohns gibt es nicht. Die aus Anlaß der 200. Wiederkehr seines Geburtstages von der Akademie für die Wissenschaft des Judentums und der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, beide in Berlin, vorbereitete »Jubiläumsausgabe« seiner Gesammelten Schriften, die auf 16, z. T. geteilte Bände berechnet war, erlag den Verhältnissen, nachdem bis 1933 fünf Bände bzw. Halbbände erschienen waren. So ist man immer noch auf »Moses Mendelssohn’s Gesammelte Schriften«, hrsg. von G. B. Mendelssohn in sieben Bänden (Leipzig 1843–1845), angewiesen, wenn man von den Erstausgaben und den zahlreichen Nachdrucken absieht. Die Vollendung der »Jubiläumsausgabe« wäre dringend zu wünschen. Für eine erste Beschäftigung ist geeignet: Moses Mendelssohn. Der Mensch und das Werk. Zeugnisse, Briefe, Gespräche, hrsg. und eingeleitet von Bertha Badt-Strauss Berlin (Der Heine-Bund) 1926.

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte Literatur:

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Gedenkbuch für Moses Mendelssohn, hrsg. vom Verbande der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland, Berlin 1929. Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland I 3 (Oktober 1929: Mendelssohn-Gedenkheft). A. Lewkowitz, Mendelssohns Anschauung vom Wesen des Judentums, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 73, Frankfurt a. M. 1929, 257–263. Horaz’ Sapere aude (Sat. I 2,40) hat Kant in seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von 1784 mit »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« wiedergegeben und als Wahlspruch der Aufklärung bezeichnet. Der zitierte Satz steht vor allem im täglichen Morgengebet, und zwar im ersten Teil, noch vor der ersten Rezitation des Bekenntnisses zu Gott als dem Einen. Unter Responsen versteht man rabbinische Rechtsgutachten, die auf Anfragen von Gemeinden von anerkannten Autoritäten erstattet wurden und auch noch werden. Da sie in großer Zahl erhalten sind, bilden sie eine wichtige Quelle für unsere Kenntnis der inneren Geschichte des Judentums. Johannes Reuchlin (1455–1522) war gegen seinen Willen in die durch den getauften Juden Johann Pfefferkorn in Köln hervorgerufenen Streitigkeiten zwischen der Kirche und den Juden hineingezogen worden, da er ein Gutachten erstatten mußte. In diesem, das er 1510 unter dem Titel »Ob es göttlich, löblich und dem christlichen Glauben nützlich sei, die jüdischen Schriften zu verbrennen« vorlegte und 1511 in seinem gegen Pfefferkorn gerichteten »Augenspiegel« veröffentlichte, hat er zwei entscheidende Gesichtspunkte für eine gerechte Behandlung der Juden geltend gemacht: Man dürfe sie nicht wie Ketzer behandeln, da sie nie Glieder der Kirche gewesen seien und deshalb von ihr auch niemals hätten abfallen können, und man habe nicht zu übersehen, daß sie als Glieder des heiligen Reiches und des Kaisertums Bürger Anspruch auf Rechtsschutz hätten. Vgl. dazu Gustav Kawerau, in: Realencyclopaedie für protestantische Theologie und Kirche3 XVI (1905), 684 f.; Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes VI, Berlin 1927, 194 ff. Joselmann aus Rosheim: Josef (Josel) ben Gerschom aus Rosheim im Elsaß (c. 1478–1554), der bekannteste und hervorrangendste unter den offiziellen Vertretern der deutschen Judenheit gegenüber dem Kaiser und den Ständen in der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, vor allem auch während des Bauernkrieges. Einzelheiten und Literatur: Encyclopaedia Judaica IX (1932), Sp. 338–340. Das »Buch der Frommen«, hebr. Sepher Chassidim, ein berühmtes und beliebtes jüdisches Volksbuch, das seit seiner Entstehung im hohen Mittelalter einen unverlierbaren Platz in der jüdischen Erbauungsliteratur hat, geht mindestens im Grundstock auf Jehuda ben Samuel, genannt »der Fromme«, aus Regensburg zurück, der am 22. Februar 1217 starb, nachdem er u. a. die jüdische Mystik in Deutschland begründet hatte. Das Buch liegt in zwei verschiedenen Fassungen vor. Über das Werk und seinen Autor, dessen geschichtliche Bedeutung von sachkundiger Seite (F. Baer) der seines großen Zeitgenossen Franz von Assisi gleichgestellt ist, vgl. Enc. Jud. VIII (1931), Sp. 945–950; Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, 87–91. Vgl. Scholem (s. Anm. 7), 128 ff. Näheres vgl. bei I. Elbogen in Enc. Jud. X (1934), Sp. 1054 unter »Liturgie«.

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Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig 10. Baal-Schem (tob), »Meister des (guten) Namens«, d. h. des Gottesnamens, ist der Beiname des Begründers des polnischen und ukrainischen Chassidismus, Israel ben Eliezer aus Okop bei Kamenez-Podolsk (1700–1760). Vgl. über ihn nach Enc. Jud. III (1929), Sp. 835–842 (Literatur), jetzt Scholem, a. a. O., 356 ff. Aus der großen Literatur ist besonders hervorzuheben Martin Buber, Die Legende des Baalschem, Frankfurt a. M. 1908 (seitdem öfter und in verschiedener Form neu aufgelegt). Zu der durch den Baal-Schem (tob), auch abgekürzt Bescht genannt, ausgelösten Bewegung s. ebenfalls Scholem, a. a. O., mit reichen Literaturangaben. 11. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) ist, genau genommen, lediglich der Begründer einer bestimmten Richtung innerhalb des Pietismus, aus der dann die Herrnhuter sog. Brüdergemeine hervorging. 12. Isaak ben Salomo Luria ist in Jerusalem 1534 geboren und in Safed (Galiläa) 1572 gestorben. Seine Herkunft von aus Deutschland eingewanderten Eltern hat ihm den Beinamen »der Deutsche« eingetragen. Die von ihm entwickelte kabbalistische Lehre hat einen ebenso umgestaltenden wie weiterführenden Einfluß auf die ältere jüdische Mystik ausgeübt und darin epochemachend gewirkt. Über Luria und seine Schule vgl. jetzt Scholem, a. a. O., 267 ff. 13. Vgl. oben Anm. 1 und zu David ben Naftali Hirsch (Hirschel) Fränkel (1707– 1762) Enc. Jud. VI (1930), Sp. 1083 f. 14. Vgl. Philipp Lenz, Der Handschuhsheimer Dialekt, I. Teil: Wörterverzeichnis. Beilage zu dem Programm des Großherzogl. Bad. Gymnasiums zu Konstanz, Konstanz 1882; Philipp Lenz, Der Handschuhsheimer Dialekt, Nachtrag zum Wörterverzeichnis von 1887. Beilage zu dem Programm des Großherzogl. Bad. Gymnasiums zu Heidelberg, Darmstadt 1892. 15. Es handelt sich um die »Philosophischen Gespräche« Mendelssohns. Lessing veröffentlichte sie 1755 anonym. 16. Die erste der großen spanischen Schaudisputationen fand 1263 in Barcelona, die berühmteste 1413/14 in Tortosa statt. Vorausgegangen war ein Religionsgespräch in Paris 1240. Über ihre Gegenstände und ihren Gang unterrichten knapp und übersichtlich Hans Joachim Schoeps, Jüdisch-christliches Religionsgespräch in neunzehn Jahrhunderten 2 , Frankfurt a. M. 1949, 60 ff.; Enc. Jud. V (1930), Sp. 1138–1144. In Italien ragt unter zahlreichen weniger bedeutenden die öffentliche Disputation in Rom im Jahre 1450 unter führender Beteiligung des Franziskaners Johannes de Capistrano hervor (Enc. Jud. ebd., Sp. 1147). Die in Deutschland während des Mittelalters veranstalteten Religionsgespräche kommen an Gewicht nicht einmal denen in Italien, geschweige denn denen in Spanien gleich. Eine gewisse Ausnahme bildet eine Disputation in Poppelsdorf bei Bonn auf Veranlassung des Kölner Erzbischofs Hermann IV. von Hessen (1480–1508) unter führender Teilnahme des Christ gewordenen Rabbiners Viktor von Karben (1423–1515; über ihn s. Enc. Jud. V, Sp. 39 f.). 17. Jomtob ben Salomo Lipmann, im allgemeinen als Lipmann-Mühlhausen bezeichnet, lebte im 14. und 15. Jahrhundert als Rabbiner in Prag, vielleicht auch anderenorts, und soll um 1450 gestorben sein. Obwohl über sein Leben wenig Sicheres bekannt ist, darf man in ihm, wenn der jüdische Historiker Heinrich Graetz (s. noch Anm. 10 zur 2. Vorlesung) recht hat, »den ersten und vielleicht einzigen gebildeten deutschen Juden im Mittelalter« sehen. Ein hervorragender Kenner der Bibel und der talmudischen und mystischen Tradition, verfaßte er unter anderem – wahrscheinlich zwischen 1401 und 1405 – das polemische Werk »Sefer Nizzachon«, d. i. »Buch des Disputes« als Antwort auf die verschiedensten Angriffe auf das Judentum, darunter auch solche von christ-

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte licher Seite. Dies Buch hat ihn für alle Zeiten berühmt gemacht. Vgl. Enc. Jud. X (1934), Sp. 988–991. 18. Vgl. Mendelssohn in der »Nacherinnerung« gegenüber Lavater (s. Anm. 19): »… überlasse ich mich gerne der freyen, ungetheilten Empfindung des Herzens, die ich mit dem Zustande eines Streitführers noch nicht zu vereinigen weiß. Ich bin so wenig im moralischen, als im physischen Verstande zum Athleten geboren.« 19. Johann Caspar Lavater (1741–1801), Pfarrer in Zürich und als solcher als Prediger und Seelsorger ebenso bedeutend wie als Schriftsteller, als Briefschreiber und als »Virtuose der Freundschaft«, hat es im Jahre 1769 unternommen, Mendelssohn, den er bei einem Besuch in Berlin 1763 persönlich näher kennengelernt hatte, durch ein offenes Sendschreiben zum Übertritt zum Christentum zu veranlassen, indem er ihm seine Übersetzung einer apologetischen Schrift von Charles Bonnet in entsprechender Weise widmete. Das gesamte Material zu dem dadurch eröffneten »Lavater-Mendelssohn-Streit« ist nunmehr im 7. Band der in Anm. 1 genannten »Jubiläumsausgabe« der Werke Mendelssohns gesammelt (Berlin 1930). Die wichtigsten Stücke bietet auch Bertha Badt-Strauss in ihrem ebenfalls in Anm. 1 genannten Auswahlbande. Vgl. noch Simon Rawidowicz in der Einleitung zum 7. Band der Jubiläumsausgabe, XI–LXXX sowie Walther Hoch, Das Glaubensgespräch zwischen Johann Caspar Lavater und Moses Mendelssohn, in: Judaica 3, Zürich 1947, 44–84, 89–122. 20. Die entscheidenden Sätze des Zueignungschreibens Lavaters vom 25. August 1769, auf die hier interpretierend Bezug genommen ist, lauten: »… Sie zu bitten, Sie vor dem Gotte der Wahrheit, Ihrem und meinem Schöpfer und Vater zu bitten und zu beschwören: Nicht, diese Schrift mit philosophischer Unpartheylichkeit zu lesen; denn das werden Sie gewiß, ohne mein Bitten, sonst thun: Sondern, dieselbe öffentlich zu widerlegen, wofern Sie die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finden. Dafern Sie aber dieselben richtig finden, zu thun, was Klugheit, Wahrheitsliebe, Redlichkeit Sie thun heißen; – was Socrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte.« 21. Vollständiger Titel: »Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum.« Die Schrift erschien im Frühjahr 1783. 22. John Toland (1670–1722), aus katholischer irischer Familie, wurde mit sechzehn Jahren Protestant und begann 1687 mit dem Studium der Theologie in Glasgow, um dies in Leiden und Oxford fortzusetzen. Das von ihm in Oxford geschriebene Buch »Christianity not mysterious« erschien 1696 in London, und zwar anonym. Einer der Hauptvertreter des englischen Deismus, hat er durch eine ebenfalls anonym erschienene und fast völlig verschwundene Schrift »Reasons for naturalizing the Jews in Great Britain and Ireland, on the same Foot with all other Nations. Containing also, A Defence of the Jews against all vulgar Prejudices in all Countries« (London 1714) sich als erster moderner Vertreter der Toleranz mit umfassender Begründung für die Emanzipation der Juden in seinem Vaterlande eingesetzt. Vgl. hierzu Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes VII, Berlin 1930, 520–523; Abbildung des Titelblattes: Jüdisches Lexikon II (Berlin 1928), Sp. 387. 23. Vgl. die grundlegenden Sätze in »Jerusalem«, die das Wesen und das bleibende Recht des Judentums ausschließlich in der geschichtlichen Offenbarung des göttlichen Willens im Gesetz an Israel am Sinai begründen: Die Stimme, die sich an jenem großen Tage auf Sinai hören ließ, rief nicht: »Ich bin der Ewige, dein Gott! das notwendige, selbständige Wesen, das all-

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Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig mächtig ist und allwissend, das den Menschen in einem zukünftigen Leben vergilt, nach ihrem Thun.« Dieses ist allgemeine Menschenreligion, nicht Jerusalem … Nein! … und nun rief die göttliche Stimme: »Ich bin der Ewige, dein Gott! der dich aus dem Lande Mizraim geführt, aus der Sclaverey befreyet hat« usw. Eine Geschichtswahrheit, auf die sich die Gesetzgebung dieses Volkes gründen sollte, und Gesetze sollten hier geoffenbart werden … 24. Das hinzugefügte Wort enthält einen Versuch, den aus dem Augenblick formulierten Gedanken im Sinne des Vortragenden verständlich zu machen.

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2. Vorlesung am 14. Juni 1956 Moses Heß 1 Meine Damen und meine Herren! Die Zeit der Aufklärung hatte ihr Ende in der Französischen Revolution gefunden. Ohne die Ideen der Aufklärung wäre nie diese französische Revolution geworden, und ohne die Französische Revolution hätten die Ideen der Aufklärung nicht zu einem Ferment, zu einem Sauerteig in der Geschichte der Welt werden können. Unter diesen Ideen der Französischen Revolution hat vielerlei sich geborgen, vor allem zwei Bewegungen: die soziale Bewegung und der Nationalismus; auch der Nationalstaat, so befremdlich es zunächst vielleicht klingen mag, ist ein Kind der Französischen Revolution. Diese beiden Bewegungen haben in der Zeit nach der Revolution Europa in Atem und in Spannung gehalten. In den Kriegen der napoleonischen Zeit hat der Nationalstaat sich durchgesetzt mit all dem Berechtigten, was in ihm ist, aber auch mit all den Gefahren, die er in sich barg. Und in dem Nationalstaat ist ein Mythus erstanden, ein Mythus mit doppeltem Antlitz, der Mythus vom Volk und der Mythus vom Staate. Mythus unterscheidet sich von der Idee darin, daß der Mythus dem Menschen nur etwas zuspricht, während die Idee etwas von ihm fordert. Der Mythus kann darum leicht den Menschen zu einer Überschätzung seiner selbst, zu einem Eigenlob auch führen. Die Idee stellt ihre Gebote. Im Gefolge des Mythus vom Nationalstaat ist die sogenannte Reaktion über Europa hereingebrochen. Die Juden waren, dem Rufe Mendelssohns folgend, voller Begeisterung in die neue Welt, die sich gewandelt hatte, eingetreten. Sie hofften, eine neue Zeit hätte begonnen, eine neue Epoche der Geschichte nähme ihren Anfang. Aber die tiefe Enttäuschung kam. Schon wenige Jahre nach den napoleonischen Kriegen brach in Deutschland, vor allem im südlichen Deutschland, eine judenfeindliche Bewegung in die Gemeinden der Juden drohend ein, und wir ersehen es aus dem, was damals geschrieben wurde, wie tief diese Enttäuschung war, welche die Juden ergriff. So mußte die Frage erstehen: Hat es einen Zweck, in die neue Welt einzutreten? Hat es einen Sinn, sich aufrichtig, ehrlich in sie einzufügen, wenn das die Antwort geworden ist, wenn Reaktion auf die Aufklärung folgt? Das ist die Frage, welche Menschen damals beschäftigte. Werke, die in jener Zeit unter den Juden erstanden sind oder später von Männern verfaßt wurden, die in dieser Zeit der Enttäu174

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schung ihre Jugend verlebten, legen davon Zeugnis ab. Ein gewisser pessimistischer Ton klingt hindurch, wenn von Europa gesprochen wird. Die Republik der Gebildeten hatte versagt; sie hatte Juden aufgenommen, aber in den Stunden der Not nicht zu ihnen gehalten. Und so erstand die Frage unter denen, welche nicht rückwärts sich wenden wollten, sondern das Erbe Mendelssohns weiter hüten wollten, ob nicht vielleicht doch in der andern Bewegung, in der sozialen, die wahre Antwort gegeben sei. Derjenige, der als erster diese Frage stellte und die Antwort zu geben suchte, war M o s e s H e ß , geboren in Bonn, gestorben 1875 in Paris, beerdigt auf dem jüdischen Friedhof in Deutz. Er war früh in die Arbeiterbewegung eingetreten, als Jude, einer jüdischen Stimme in ihm folgend, in sie eingetreten. Denn – es darf das nie vergessen werden – das Judentum ist als Religion Israels zuerst in die Welt eingetreten als eine religiöse Revolution, aber ebensosehr als eine soziale Revolution. Es trat in die Welt ein als eine Proklamation an alle die Armen und die Kleinen, die Bedrückten, die Bedürftigen. Wenn man die Bücher des Pentateuchs liest, die von dem Sozialen sprechen: im 2. Buche Moses das 21. und 22. Kapitel, im 3. Buche Moses das 25. und das ganze Buch Deuteronomium – es ist die große soziale Proklamation! Es ist, wie wenn der Satz aus dem 25. Kapitel des Buches Leviticus über allem als Überschrift, als Motto stände: »Ihr sollt Freiheit ausrufen im Lande für alle, die in ihm wohnen!« 2 Das blieb so im Judentum. Als das Christentum entstand, waren es soziale Ideen, die darin wirkten. Im Talmud bricht überall das Soziale hindurch und ebenso in der philosophischen und religiösen Literatur der Juden im Mittelalter. Das alte Erbe blieb. Und als nun im 18. Jahrhundert die große Richtungswandlung in den jüdischen Gemeinden Europas sich vollzog, daß die Juden, die bis dahin nur in Europa g e w o h n t hatten, nun es wollten und von sich forderten, in Europa zu l e b e n , da hatte die soziale Hoffnung darin immer mitgesprochen. Überall wird darum jetzt in den jüdischen Gemeinden auch der soziale Gedanke lebendig. Man las die alten biblischen Texte nun wie mit anderen Augen. Ein Anderes redete aus ihnen. Jetzt verstand man es, wie eine ganz andere Stellung zu den sozialen Problemen durch die Bibel gegeben war. Die Gesetze in der Welt ringsumher – in der orientalischen, in der griechischen, der römischen Welt – waren geschrieben vom Standpunkte des Besitzenden aus: Dem Besitzenden sollte sein Besitzstand garantiert sein. Das alte biblische Gesetz, wie dann die Propheten es verkündeten, ist vom Standpunkt des 175

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Kleinen, des Schwachen, des Bedürftigen aus geschrieben. Das Schlußwort ist immer: »Dein Armer …, dein Bedürftiger …, die Witwe …, die Waise …, damit sie leben können und der Fremdling, der im Lande ist, leben kann.« 3 Darum sind diese Gesetze gegeben. Ein ganz anderer Standpunkt ist eingenommen: Vom Standpunkte des Schwachen, des Bedürftigen, des Kleinen aus werden die Gesetze gegeben, werden sie immer neu verkündet und proklamiert. Vielleicht ist eines, das nicht äußerlich scheint, etwas besonders Kennzeichnendes. Es ist bekannt, daß die zehn Gebote in einer in einzelnen Worten verschiedenen Form im 2. Buche Moses und im 5. Buche Moses überliefert sind. Das Gebot vom Sabbat sagt im 2. Buche Moses 4 in der üblichen klassischen Form: »Du sollst ruhen, du, dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Arbeitstier!« Im 5. Buche Moses 5 ist ein Satz hinzugefügt: »… damit Ruhe habe dein Knecht; er ist wie du.« Das ist diese soziale Idee. Vom Standpunkte des Knechtes aus ist hier das Sabbatgebot gegeben. Und das wurde nun lebendig. Die Welt der Gebildeten hatte nicht standgehalten; die Welt der Aufklärung schien zusammengebrochen … Vielleicht wird die Welt derer, um derentwillen die Bibel ihre Gesetze gegeben hatte … die Kleinen, die Geringen, die Bedrückten, die schwer Arbeitenden – vielleicht würden sie die neue Gemeinschaft bilden?! Und in sie sollte nun der Jude eintreten. Das klassische Beispiel dafür ist Karl Marx aus Trier. 6 Er hat, um in diese Welt einzutreten, sein Judentum beiseitegestellt. Man könnte fast sagen: Es existierte für ihn nicht mehr. In einer Jugendschrift 7 hat er sein jüdisches Volk verworfen, weil es zu einem Volke der Händler geworden war, und dem Handel, dem Händlertum galt die ganze Erbitterung des jungen und auch noch des alten Karl Marx. Aber ihn hatte die neue Idee, die Arbeiter zusammenzuschließen zu einer neuen wahren Gemeinschaft, zu einer wahren Gemeinschaft, welche Bestand halten werde, so ergriffen, daß er nur diese kannte. Moses Heß war, ganz wie Marx, nach Paris zunächst ausgewandert und gehörte dort dem Kreise von Karl Marx an. Und immer hat er in diesem Kreise sein Jüdisches, das in ihm war, betont, und spöttisch nannten ihn manche den Kommunisten-Rabbi 8 . Aber er hat es betont, weil es ein Problem in ihm geworden war. Wenn man etwas betont sozusagen nur um der Rhetorik willen, ist es ein Leeres und Nichtiges, das verfliegt; wenn es aus einem Problem hervor betont wird, dann ist es etwas, was in dem Menschen lebt und darum bleibt. Ihn hat der Gedanke beschäftigt: Welches ist die Aufgabe der Juden in dieser neuen Welt, der neuen Welt, von der das kommunistische 176

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Manifest von Marx und Engels gesprochen hatte? Welches ist der Platz und die Aufgabe der Juden in dieser neuen Welt? Ihm auch war die jüdische Besonderheit ein Erlebnis geworden. Er hat ein Buch geschrieben »Rom und Jerusalem« 9 – man könnte fast geneigt sein, dem Buche den Untertitel zu geben »Macht und Kraft« – ein Buch, in dem er das, was Rom war (und er hat Sinn für die Größe Roms), und das, was sein Volk, das von Rom besiegte, war, einander gegenübergestellt [hat]: die Macht, deren Verkörperung Rom war, der inneren Kraft, der unüberwindlichen, die in seinem Volke war. Und die Erkenntnis, die ihm aufging, wurde ihm nun, daß das eine Aufgabe seines Volkes sei, in diese neue Welt sozialen Kampfes, die nun erstand, einzutreten, um jüdisches Besitztum, jüdisches Ideengut, jüdischen Glauben an die Zukunft darein einzupflanzen. Er hat sich darüber mit Karl Marx und dessen Freunden äußerlich überworfen, obwohl sie innerlich, Karl Marx und Moses Heß, einander immer weiterhin Respekt zollten. Er hat eine eigene Aufgabe nun erfahren. Und um diese Aufgabe zu erkennen, wurde ein Buch für ihn ein entscheidendes: »Die Geschichte der Juden« von Heinrich Graetz 10 . Dieser Mann hat, fast als erster – vor ihm hat ein anderer, Jost, 11 den gleichen Versuch unternommen, aber er in seiner [Darstellung hat] als erster es versucht –, die Geschichte der Juden als Einheit, als stetes Erfahren des Gleichen, als Gestaltung einer ursprünglichen originalen Form, einer Gestaltung, die stärker sei als alle Eingriffe des Schicksals, zu schreiben unternommen, und es ist heute noch ein klassisches Buch. Hier sah nun Moses Heß sein Volk vor sich vom Anfang an bis zu seinen Tagen. Und er hat begonnen, dieses Buch – er lebte in Frankreich – ins Französische zu übersetzen. 12 Aber das war nur ein äußeres Zeichen dessen, was in ihm vorgegangen war: die neue Aufgabe des jüdischen Volkes in der neuen Welt. Und ein Gedanke ist nun in ihm erwacht: Müßte nicht dieses Volk seinen Platz unter den Völkern, sein Land unter den Ländern der Völker haben, damit es dort seine Existenz zu einem Vorbild für andere machen lasse? Er ist so der erste Zionist geworden – er, der als erster diese Idee, der dann später Theodor Herzl den Ausdruck gegeben hat, zu ahnen und auch schon zu formen begonnen hatte. Was wollte das für ihn sagen? Die ganze Geschichte des jüdischen Volkes hindurch ist Zion im Mittelpunkt jüdischen Empfindens und Hoffens gewesen. Es ist eine ganz eigene Erscheinung: Es wurde zu einer Utopie. Aber während sonst das Wort Utopie doch meint, im wörtlichen Sinne: ein Traum von etwas, das nirgends seinen bestimmten Platz hat o' tpo@, war das, wenn man das Wort Utopie 177

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brauchen darf, eine Utopie, die ihren bestimmten Platz hatte, die in irgendeinem Gebiete auf Erden lokalisiert war. Von diesem Lande hat das jüdische Volk nie abgelassen. Und immer war die Hoffnung, daß dort eine neue Welt erstehen werde, als ein Vorbild für die Welt ringsumher. Es ist eigen zu beobachten, wie ein Mann, der damals auch in Paris lebte, Heinrich Heine, 13 auch von dieser Idee ergriffen war, und man kann in vieler Beziehung Moses Heß gut verstehen, wenn man ihn gegen den Hintergrund des Lebens von Heine und anderer, die diesem glichen, stellt. Denn die Enttäuschung, die nach den Freiheitskriegen kam, hat viele der Juden dazu geführt, ihren Glauben zu verlassen. Sie traten zu einem Glauben über, an den sie nicht glaubten; aber sie meinten – sie waren vom Mythus des Staates gefangen –, um des Staates willen müßten sie es tun. Heinrich Heine hat es später so formuliert: Es sei dieser Übertritt das »Entréebillet zur europäischen Kultur« geworden, 14 zu dieser Kultur, die eine Kultur von Nationalstaaten geworden war. Wir haben ein Dokument von der anderen Seite, das eindringlich spricht. Im Jahre 1847 trat der Vereinigte Landtag zusammen, 15 in dem ja Männer aus Westfalen, vor allem der Freiherr Georg von Vincke, 16 eine solche Rolle spielten, und hat dort alle Fragen der Zeit behandelt. Es ist heute noch lohnend, diese Reden zu lesen. Sie haben ein hohes geistiges Niveau; es ist ein Genuß, sie zu lesen, selbst wenn man nicht beistimmt. Und dort ist in der sogenannten Herrenkammer 17 eine Rede von dem Fürsten Radziwill, 18 einem Verwandten der hohenzollerschen Familie, gehalten worden, eine Rede, in der etwas Ergreifendes ist. Er sagt dort zu den Juden: Wir wollen euch aufnehmen; wir breiten die Arme aus – wie er wörtlich sagt –, um euch aufzunehmen. Aber eines sollt ihr wissen: unser Staat ist der christliche Staat, und Bürger eines christlichen Staates kann nur der Christ sein! Es war ein ehrliches Wort, das dieser Aristokrat sprach, und man ist, wie gesagt, fast ergriffen, wenn man es heute noch liest, was er in dieser Rede spricht. Und man kann es verstehen, wie stark es auf Juden wirkte: Sie wollten ihr Judentum vergessen, nicht um in einem anderen Glauben gläubig zu leben, sondern um Bürger dieses Staates, des christlichen Staates, zu sein. So hat Heine auch empfunden; so hatte Marx Umgekehrtes empfunden. Er wollte in den neuen Staat, in die neue Gemeinschaft, wie er sie sich dachte, die Gemeinschaft der Arbeitenden, eintreten und darum Vergessenheit über sein Jüdisches breiten. Heine hat das eigene Schicksal gehabt, daß er an seinem Leben enttäuscht wurde. Er hatte in das neue Europa eintreten wollen, und er sah nirgends die178

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ses neue Europa, und so ist er denn zu seinem Judentum zurückgekehrt. Es ist ein eigenes Wort, das ein jüdischer Dichter des Mittelalters, Salomo ibn Gabirol aus Spanien, 19 gesprochen hat. Er läßt dort 20 den Menschen sagen: »Ich fliehe vor Dir, o Gott, zu Dir hin!« Vor Gott geflohen, weil die Zweifel des Tages oder die Enttäuschungen des Jahres ihn forttrieben, aber zu Gott dann zurückgekehrt – so ist es das Leben Heines geworden! Und so ist es in gewissem Sinne das Leben von Moses Heß geworden. Er hat nie sein Judentum vergessen, geschweige denn verlassen. Aber andere, neue Ideen hatten ihn ganz gefangengenommen, und um dieser neuen Ideen willen hatte er Jude bleiben wollen. Jetzt erkannte er, daß um seines jüdischen Volkes willen diese neuen Ideen verwirklicht werden sollten. Ein Platz, ein Gebiet, ein Land auf Erden, das alte verheißene Land, sollte ihnen gehören, damit prophetisches Ideal verwirklicht werde. Das ist für ihn die Forderung geworden. Und um dieser Forderung willen hat er seinen Platz in der jüdischen Geschichte. Er ist in seiner Zeit wenig begriffen worden. Aber er hat sich selber begriffen, und nur wenn einer in ehrlichem Ringen aufrichtig gegen sich selber sich begreift, dann gehören ihm kommende Tage. Nur wenn ein Jude ganz das versteht, um wessentwillen er ein Jude ist, dann lebt er nicht nur für sich, sondern für Kindes- und Kindeskinder. Das war die neue Form, in der das Judentum sich Moses Heß darstellte. Er hat vieles erlebt bis zu seinem Tode im Jahre 1875, was ihm ans Innerste griff. Er hat auch vieles in seinem jüdischen Volke erfahren, was seinem Wesen mannigfach widersprach. Aber er behielt den Glauben an sein Volk, den Glauben an seine Religion und damit schließlich den Glauben an sich selbst. Und er hat eines seinem Volke und seiner Religion gegeben: Er hat es klar erkannt, daß ein Jude, wenn er wahrhaft ein Jude sein wolle, nicht hinter seiner Zeit einhergehen dürfe, sondern es versuchen solle, einen Schritt und zwei seiner Zeit voranzusein. Mendelssohn hatte es geglaubt und in der ganzen Reinheit und inneren Freiheit seines Wesens ehrlich geglaubt, er solle seiner Zeit zugehören; und damit sein Volk dieser seiner Zeit, dieser Zeit, die gekommen war, angehören könne, darum ist er ihm zum Lehrer dessen geworden, was er sein Volk gelehrt hat und was sein Volk niemals wird missen wollen. Moses Heß sagte: »Nicht der Zeit, welche ist, sollen wir angehören, sondern der Zeit, welche kommt, welche kommen wird; dann sind wir das, was wir sein wollen!« 21 Er hat den Zionismus – das Wort ist ja von ihm noch nicht gebraucht – gelehrt, nicht um einem Wunsche der Gegenwart Ausdruck zu geben; 179

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nicht damit ein Platz, ein Asyl gewissermaßen, beschaffen werde, wo Verfolgte, Bedrückte, Beeinträchtigte einen Platz der Freiheit und der Weite finden können. Nein, um der Zukunft willen hat er das gefordert. Er hat gewissermaßen – das ist das Eigentümliche an ihm – die Gegenwart in die Zukunft eingepflanzt. Die Zukunft soll der Boden der Gegenwart sein. Darum ist es kein zu großes Wort, wenn gesagt wird: Er gehört in die Linie hinein, an deren Beginn die großen Propheten stehen. Denn das ist durch das Eigentümliche der großen Propheten gewesen, vor allem des sogenannten Zweiten Jesaja, 22 des Propheten des Trostes im babylonischen Exil: Sie haben die Gegenwart bewältigt – sich nicht mit ihr abgefunden, sondern sie bewältigt dadurch, daß sie die Gegenwart in die Zukunft einpflanzten. Die Zukunft wird das Recht bedeuten, das die Gegenwart hat; die Zukunft wird Zeugnis für das ablegen, was die Gegenwart ist! Das war die Idee von Moses Heß. Es ist etwas von dem Messianischen in ihm wieder lebendig geworden. Es war das der Mangel der Zeit gewesen, in der er lebte, der Juden seiner Zeit auch, daß das Messianische in ihnen schwach geworden war. Man kann es begreifen. Das, was die Gegenwart brachte, war aufregend und erschütternd. Die Aufklärung war gekommen und hatte die Juden begrüßt. Sie hatte das Problem der Juden auch, und es ist interessant, daß darin ein Christ es deutlicher erkannt hat als manche Juden. Christian Garve, 23 einer der großen Popularphilosophen, kein großer Philosoph, aber innerhalb der Popularphilosophie einer der Großen und Eigentümlichen, hat ein Buch damals in der Zeit Mendelssohns über die Bauernfrage geschrieben, und in diesem Buche sagte er, man dürfe die Unterdrückung und Entrechtung der Juden nicht isoliert für sich betrachten, sondern nur zusammen mit der der Bauern; die Entrechtung der einen und der andern sei ein gleiches Begebnis; Emanzipation werde Emanzipation der Juden und der Bauern, der Bauern und der Juden bedeuten. Fast ein prophetisches Wort damals! Das ist etwas von dem, was nun seinen stärksten Ausdruck – wie gesagt – in Moses Heß fand. In seiner Zeit und in den Jahren vorher war das messianische Empfinden in den Juden schwach – wie erwähnt – geworden. Denn was der Tag brachte, die Französische Revolution, dann die große, in ihrer Art große napoleonische Zeit – es ergriff die Menschen so sehr, daß sie nur an die Gegenwart dachten, von der Gegenwart sich erfassen ließen. Und die Zukunftsidee, diese große Aufgabe, Gegenwart in die Zukunft einzupflanzen, blieb ihnen ferner und ferner. Moses Heß hat erkannt, was erforderlich war. Er hat das messianische Empfin180

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den in das Judentum wieder stark zurückgeführt. Vielleicht ist er darum in seiner Zeit nicht ganz begriffen worden. Aber die Zukunft hat sich ihm zugewandt. Ein eigener Mann war er. Aber wie wenig andere hat er die Juden Europas gelehrt, in sich hineinzublicken – weniger um sich herum zu blicken, um Hoffnungen zu erschauen und Hoffnungen zu erheben, sondern dafür weniger die Hoffnungen, als d i e Hoffnung, die eine große Hoffnung, die sittliche, soziale Hoffnung, die Hoffnung auf die Einheit des Menschen, aller Menschen darum, kraft des Rechtes, das Gott ihnen gibt, in sich zu erkennen. Seine Zeit ist gekommen und ist in mancher Beziehung noch nicht gekommen. Denn viel hängt davon ab, was Jahre, welche kommen werden, im jüdischen Volke erzeugen können. Aber dieser Mann, Moses Heß, darf nie vergessen werden. Sein Einfluß ist ein stiller gewesen, aber ein gewaltiger und großer. So war das Judentum Deutschlands in jener Zeit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erfüllt von dem, was Mendelssohn gegeben hatte, und allmählich sich dem eröffnend, was Moses Heß ihnen gab. Ohne diese beiden Männer ist das Judentum jener Zeit und ist das Judentum unserer Tage nicht zu begreifen. Das große Problem, in der Welt zu leben, erschlossen für alles, was die Welt an Großem bringt, und doch an sich festzuhalten die eigene Besonderheit, [also] das, was Gott gibt, festzuhalten, es höher zu schätzen als das, was Menschen geben können und nehmen können – das haben diese beiden Männer gelehrt. Wären sie nicht gewesen, dann hätte das Jahrhundert nach ihnen nicht das bestehen können, was es bestehen mußte: den Druck der Not, die Pein des Leides und die Verlockungen scheinbarer Erfüllungen, die Träume, die Wirklichkeit geworden zu sein schienen. Ohne diese beide Männer hätte die Zeit nicht bestanden sein können. Durch sie hat in einer Zeit, die sich gewandelt hatte, die vorwärts schritt und rückwärts ging … ohne sie hätten Juden es nicht lernen können – so wie sie es lernen sollten, in sich hineinzublicken, um sich zu verstehen, in sich hineinzublicken, um dann andere auch zu verstehen, ehrlich und aufrichtig sie zu verstehen, so daß Menschen hüben und drüben offen und frei einander ins Auge blikken können, offen und frei ihr Besonderes achten, das Besondere des anderen achten, weil sie den Respekt vor der eigenen Besonderheit gelernt haben –, diese Ehrfurcht lernen, ohne die es Humanität nicht geben kann.

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Anmerkungen 1. Moses Heß, geboren am 21. Januar 1812 in Bonn als Sohn eines Industriellen, war mütterlicherseits der Nachkomme einer ostjüdischen Gelehrtenfamilie. Er fand früh, nachdem er sich zunächst mit philosophischen Studien beschäftigt hatte, den Weg zum Sozialismus, und zwar von einer betont jüdischen Grundeinstellung aus. Bereits in seinem ersten, anonym erschienenen Werk »Die Heilige Geschichte der Menschheit« (1837) forderte er die Überwindung des historischen Rechts und näherte sich dem Kommunismus. 1841 begründete er mit Gesinnungsfreunden die »Rheinische Zeitung« und war zeitweise ihr Redaktor, später ihr Pariser Korrespondent; es liegt vor allem an ihm, wenn dies Blatt für den vormärzlichen Radikalismus große Bedeutung gewann, obwohl es schon nach fünfzehn Monaten verboten wurde. Von den Behörden überwacht und verfolgt, lebte er abwechselnd in Paris, Köln, Genf und Belgien. Sowohl Karl Marx als auch Friedrich Engels wurden von ihm für den Sozialismus bzw. den Kommunismus gewonnen. Gerade mit ihnen brach er aber nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes (1848), da er in diesem mit seinem ökonomischen Materialismus nur einen Verrat an dem von ihm selbst begründeten und vertretenen »wahren Sozialismus« zu sehen vermochte. In seinen späteren Jahren kam der »Kommunistenrabbi« über naturwissenschaftliche und jüdische Studien zur Erkenntnis des nationalen Charakters des Judentums und gewann damit zu diesem ein völlig neues Verhältnis. Sein Buch »Rom und Jerusalem« – »Da steh’ ich wieder nach einer zwanzigjährigen Entfremdung in der Mitte meines Volkes …« –, das 1862 erschien, nimmt gewissermaßen Konzeption und Programm der späteren Zionistischen Bewegung voraus, blieb aber für lange ohne unmittelbare Wirkung und ist erst, als sein Verfasser als »Vorläufer« entdeckt war, von Bedeutung für die zionistische Ideologie geworden, vor allem bei Achad Haam. Je älter er wurde, um so stärker nahm er auch praktischen Anteil an jüdischen und humanitären Dingen. Gerade sein Begriff des Sozialismus, in dem er wesentlich praktische Ethik sah, bildete dabei für ihn eine tragfähige theoretische Brücke. Heß starb am 6. April 1875 in Paris und wurde auf ausdrücklichen Wunsch auf dem jüdischen Friedhof in (Köln-) Deutz begraben. Leider gibt es noch keine Gesamtausgabe der Werke von Heß. »Jüdische Schriften« hat Theodor Zlocisti herausgegeben (1905), ebenso »Sozialistische Aufsätze 1841–1847« (1921) und das jüdische Hauptwerk »Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage. Briefe von Moses Heß« (Wien und Jerusalem 1935). Literatur: Theodor Zlocisti, Moses Heß, der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus 2 , Berlin 1921. Theodor Zlocisti, in: Enc. Jud. VII, Sp. 1230–1232. Martin Buber, Israel und Palästina. Zur Geschichte einer Idee, Zürich 1950, 140 ff.: Der erste der Letzten (Über Moses Heß). Edmund Silberner, The Works of Moses Hess. An Inventory of his signed and anonymons Publications, Manuscripts, and Correspondence, Leiden 1958. 2. Lev 25,10. 3. Vgl. etwa Lev 19,10; 23,22; Dtn 26,12; 24,19–22; Lev 25,35. 4. Ex 20,10. 5. Dtn 5,14. – In der in der Vorlesung gegebenen Übersetzung ist die hebräische Vorlage der üblichen Übersetzung »gleich wie du« bzw. »gleich dir« verselbständigt und als Begründung des Vorausgehenden genommen, wie es gele-

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Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig gentlich auch Lev 19,18 geschieht: »Du sollst deinen Nächsten lieben; er ist wie du!« 6. Karl Marx, geboren am 5. Mai 1818 als Sohn eines Rechtsanwalts in Trier und von beiden Eltern her aus Rabbinerfamilien stammend (vgl. jetzt Bernhard Brilling, in: Trierisches Jahrbuch 1958, S. 46–50), empfing bereits als Kind, infolge des Übertritts seines Vaters zur evangelischen Kirche, mit seinen Geschwistern am 26. August 1824 die Taufe. Er ist also niemals selbst mit Bewußtsein und Verantwortung Jude gewesen, hat aber natürlich sehr genau über seine familiäre Verwurzelung im Judentum Bescheid gewußt und durch seine zeitweise nahe Verbundenheit und Zusammenarbeit mit Moses Heß, etwa in der Redaktion der »Rheinischen Zeitung« (1842), gerade in den entscheidenden Jahren Beziehungen zur geistigen Welt des Judentums gehabt (vgl. oben Anm. 1 und das Folgende). Marx hat sich, anders als Heß, auch später niemals um das Judentum gekümmert. Er starb am 14. März 1883 in London. 7. Gemeint ist die Schrift »Zur Judenfrage« aus dem Jahre 1844. Vgl. aber auch den Aufsatz »Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden« aus demselben Jahre. Beide Arbeiten erschienen zuerst in den Deutsch-französischen Jahrbüchern. 8. S. schon oben in Anm. 1. 9. Näheres dazu s. oben in Anm. 1. 10. Heinrich Graetz (1817–1891) ist, obwohl er nicht ohne Vorgänger war (s. Anm. 11), der erste große moderne Historiker des Judentums. Seine »Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart« reicht bis 1848 und erschien 1853–1876 in elf Bänden (seitdem mehrere Neuauflagen; Übersetzungen in mehrere Sprachen). Er war seit 1853 Dozent für Geschichte am Jüdisch-theologischen Seminar in Breslau, seit 1869 auch Honorarprofessor an der dortigen Universität. Literatur: Enc. Jud. VII (1931), Sp. 645–652. S. Baron, Graetzens Geschichtsschreibung. Eine methodologische Untersuchung, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 62, Breslau 1918, 5–15. 11. Isaak Markus Jost (1793–1860) schrieb nach dem Studium der Philologie in Göttingen als Lehrer an höheren Schulen in Frankfurt am Main in den Jahren 1820–1828 seine »Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer bis auf unsere Tage« in neun Bänden und ergänzte sie, die bis 1815 reichte, später mehrmals durch Nachträge. Vor allem die älteren Teile gelten methodisch als nicht zureichend, obwohl die Verdienste des Verfassers um die Entwicklung einer eigenen jüdischen Geschichtsschreibung nicht zu bestreiten sind. Vgl. über Jost im allgemeinen: Enc. Jud. IX (1932), Sp. 455–457. 12. Bearbeitet und veröffentlicht wurde nur der 3. Band des Werkes von Graetz unter dem Titel »Sinai et Golgotha« (1867). 13. Heinrich Heine (1797–1856) lebte seit 1831 in Paris. 14. Heinrich Heine, Sämtliche Werke, hg. von E. Elster, Leipzig 1925 ff., Band 7, 407. 15. Der »Vereinigte Landtag« Preußens, trat im Frühjahr 1847 aus den durch die Provinzial-Landtage gewählten Delegationen in Berlin zusammen. Er war nur ein beratendes Organ, kein Parlament im Sinne einer gesetzgebenden Körperschaft. 16. Georg Ernst Friedrich Freiherr von Vincke (1811–1875), damals Landrat von Hagen und seit 1843 Abgeordneter der Märkischen Ritterschaft im Provinzial-

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte Landtag von Westfalen, gehörte seit 1847 dem »Vereinigten Landtag« an. Seine Rede in der Satzung der Kurie der drei Stände vom 14. Juni 1847 in den Verhandlungen über den Gesetzentwurf betr. die Verhältnisse der Juden s. in: »Der Erste Vereinigte Landtag in Berlin 1847«, Verhandlungen nach den stenographischen Berichten, 4. Teil, Berlin 1847, 1761–1765. Über Georg von Vincke s. noch Wilhelm Schulte, Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Münster 1954. 17. Genauer: Herrenkurie. Diese war neben der »Kurie der drei Stände« als der zweiten etwa die erste Kammer des Vereinigten Landtages. 18. In der »Herrenkurie« des Vereinigten Landtags gab es 1847 zwei Mitglieder des Fürstenhauses Radziwill, die Brüder Wilhelm (1797–1870) und Boguslaw (1809–1873), die mütterlicherseits Enkel des Prinzen Ferdinand von Preußen waren. Fürst Wilhelm von Radziwill sagte in der Sitzung der Herrenkurie vom 14. Juni 1847 nach dem oben erwähnten stenographischen Protokoll S. 2021: »Zur völligen Emanzipation sind die Türen alle Tage geöffnet. Mögen sie sich bekehren, zum christlichen Glauben übertreten, so sind sie unsere Brüder in allem und nehmen teil sowohl an bürgerlichen als an den politischen Rechten.« An diese Rede ist offenbar gedacht. 19. Salomo ben Jehuda ibn Gabirol, der mit Avicebron identisch ist, gehört zu den gefeiertsten Dichtern und Denkern des spanischen Judentums. Er ist jung gestorben und hat wahrscheinlich etwa 1020–1057/58 in Malaga, Saragossa und Valencia gelebt und gewirkt. Vgl. neben Enc. Jud VII (1931), Sp. 1–24 jetzt José M.’ Millas Vallicrosa, Šeˇlomó ibn Gabirol como poeta y filósofo, MadridBarcelona 1945. 20. Das Zitat stammt aus dem Gedicht »Kether Malchuth« (Krone des Königstums) Z. 38 (Hinweis von dem Bibliothekar der Schocken-Bibliothek in Jerusalem, Dr. A. M. Habermann). 21. Das ist kein Zitat, sondern eine Zusammenfassung wesentlicher Grundgedanken von Heß innerhalb seiner »zionistischen« Gesamtanschauung. 22. Als Deutero- oder Zweiter Jesaja werden bibelwissenschaftlich die Kapitel 40 ff. des kanonischen Jesaja-Buches bezeichnet und einem andern Verfasser als jenem Jesaja zugewiesen, der im ausgehenden 8. Jahrhundert im Reiche Juda wirkte. 23. Christian Garve (1742–1798), Popular- und Moralphilosoph der Aufklärung, stammte aus Breslau und war seit 1766 Dozent, seit 1769 außerordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Leipzig. Nachdem er 1772 aus gesundheitlichen Gründen auf sein Lehramt verzichtet hatte, lebte er als freier Schriftsteller wieder in Breslau. Sein hier herangezogenes Buch heißt »Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Gutsherrn und gegen die Regierung« und erschien 1786 in Breslau. Der Vergleich zwischen den Juden und den Bauern findet sich S. 9–12.

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3. Vorlesung am 15. Juni 1956 Walther Rathenau 1 Meine Damen und meine Herren! Es war gestern versucht worden, es aufzuzeigen, wie am Ausgang des 18. und im Beginne des 19. Jahrhunderts die Juden in Deutschland vor ein ganz besonderes Problem und damit vor eine ganz neue Aufgabe gestellt waren. Sie hatten bis dahin fast 1000 Jahre hindurch in den Ländern Europas gewohnt, ohne im eigentlichen Sinne des Wortes in diesen Ländern zu leben. Sie hatten an dem Gesamtdasein dieser Länder und der Staaten, die sie umfaßten, oft einmal als Objekt ihren Anteil gehabt, aber nicht den persönlichen Anteil nehmen können und schließlich auch nicht mehr nehmen wollen. Jetzt, im Gefolge der Aufklärung und im Gefolge des neuen Weltbildes und der neuen Auffassung vom Leben, die im 18. Jahrhundert sich vollendet hatte – nun waren sie vor diese Aufgabe gestellt, welche die Geschichte heraufgeführt hatte, an dem Leben der Länder, in denen sie bis dahin gewohnt hatten, innerlich mit aller Hingabe und aller Sorge, die das bedeutet, teilzunehmen. Wir haben gesehen, wie am Anfange dieser Zeit ein schlichter, einfacher, scheuer Mann steht, Moses Mendelssohn, der für sich die Frage hatte beantworten wollen und dadurch, wie immer dann, wenn ein Mensch selbst eine Frage in sich vernimmt und er die Antwort darauf geben will für alle, die rings um ihn waren, die sich auf demselben Wege befanden, diese Antwort gegeben [hat]. Mit ihm beginnt das Leben der Juden in Europa, das Leben in den Ländern und Staaten, in denen sie ihren Wohnsitz hatten. Er hatte, so haben wir gesehen, für sich diese Antwort geben können, indem er eigenerseits, aus starker Überzeugung hervor, den Rationalismus der Zeit betonte, der im Namen der Einheit der Vernunft die Verschiedenheiten zueinander fügen wollte. Aber er hatte sein Reservat oder, noch bestimmter gesagt, sein inneres Heiligtum, das er nicht fortgeben, aus dem er nicht fortgehen wollte: sein Judentum, sein jüdisches Erbe. Er hatte das beides nebeneinander gestellt. Und wie das in ihm keinen inneren Konflikt, sondern eher eine innere Ergänzung bedeutete, so, das hoffte er, würde es für alle die anderen in gleicher Weise sich erfüllen. Es hat sich so freilich in anderen nicht erfüllt. In ihnen begann der Kampf zwischen dem Rationalen, dem Vorhof sozusagen, und dem inneren Heiligtum. Die Geschichte der Juden in den Jahrzehnten nach Mendelssohn gibt die Fülle der Beispiele. 185

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Es ist uns dann weiter entgegengetreten, wie die große Enttäuschung über die kam, die den Weg zu gehen versuchten, den Moses Mendelssohn eröffnet hatte. Nach den Befreiungskriegen, nach der Besiegung Napoleons, begann das, was man damals die Reaktion nannte. Herrscher und Völker begannen, sich vor dem eigenen Mut, den sie vorher bewiesen hatten, zu fürchten. Und so zogen sie sich in Bereiche zurück, die vor der Zeit der Aufklärung gewesen waren. Die Enttäuschung kam über die Juden. Moses Mendelssohn hatte sie gelehrt und von ihnen gefordert, in die europäische Bildungswelt einzutreten. Sie hatten das bereitwillig, ja voller Begeisterung getan. Sie standen nun in dieser Bildungswelt, und die Antwort, die sie erhofft hatten, kam von dort nicht. Und so ist damals in der zweiten Generation nach Mendelssohn ein Mann, Moses Heß aus Bonn, den anderen Weg geführt worden. Er hatte es erfahren und tief innerlich erlebt, wie eine andere europäische Gemeinschaft im Entstehen war, nicht im Namen der Bildung, der res publica eruditorum, aber im Namen der Befreiung der Bedrückten, im Namen des sozialen Ideals. In d i e s e r Gemeinschaft, so hoffte er, würden die Juden ihren Platz finden, ohne die Enttäuschung fürchten zu müssen. Für dieses Ideal hat er gekämpft zusammen mit Karl Marx aus Trier, ihm persönlich nahestehend, aber in einem Entscheidenden – so haben wir gesehen – von ihm tief unterschieden. Für Marx hatte mit dem Eintritt in das neue Gebiet, in dem die Zukunft sich für ihn erschließen sollte, seine jüdische Vergangenheit aufgehört; er schied aus ihr bestimmt, dezidiert aus. In Moses Heß – so haben wir gesehen – lebte sie weiter; und je mehr er dem neuen Ideal sich eröffnete, dem sozialen Ideal, desto mehr wurde es ihm zur Gewißheit, daß das Grund und Kern und Wurzel in seinem Erbe, dem jüdischen Erbe, besaß; und ganz wie Mendelssohn wollte er darum das Eigene wahren, das jüdische Besitztum, ein Land, in dem dieses jüdische Volk das soziale Ideal verwirklichen könnte. Das waren die zwei Richtungen, in die das 19. Jahrhundert zunächst hineingestellt war. Und Menschen haben sich dem einen Wege oder dem anderen zugewandt, sind in die Bildungswelt eingetreten oder in die Welt dieser sozialen neuen Idee. Die Generationen nach Mendelssohn und Heß zeigen es deutlich, wie die Ideen dieser beiden Männer fortlebten: wie kein Jude, welcher nachdachte, über die Welt nachdachte, und dadurch dazu kam, über sich selber nachzudenken, und da er über sich selber nachsann und dahin geleitet wurde, über die Welt nun nachzugrübeln – keiner konnte sich die186

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sen Ideen entziehen. Sein Weg war entweder der Mendelssohns oder der von Moses Heß. Aber die Ereignisse, das, was die Geschichte im Geben und Nehmen brachte, haben nun doch noch zwar nicht neue Probleme, aber neue Farben und Formen dieses alten Problems, des Eintritts in die Welt Europa, erzeugt. Es war in den Juden Deutschlands mehrmals die Fülle der Hoffnungen lebendig geworden. Als in der Paulskirche in Frankfurt über ein neues deutsches Reich beraten wurde, da hörten sie Worte, die vorher nicht vernommen waren 2 . Aber das zusammen mit der Revolution von 1848 blieb in den deutschen Landen eine Episode. Und nach ihr kam von neuem die Reaktion. Und wiederum waren die, die am tiefsten enttäuscht wurden, die Juden. Aber sie – diese geborenen Optimisten – die auch, als sie in der Isolierung lebten, diesen Glauben an die Zukunft, wenn die Zukunft auch ferne sein würde, nie verloren haben, behielten doch die Zuversicht, daß die Ideen von Mendelssohn oder die von Moses Heß sich verwirklichen würden. Und eines schien dafür zu sprechen: Im Namen des Liberalismus wurde ein neues Deutschland verheißen; ein Deutschland, das die verschiedenen deutschen Stämme vereinen würde zu einer großen Gesamtheit, in der jede Besonderheit ihren Platz haben könnte, in der die Einheit so stark erfaßt und dann empfunden würde, daß für die Besonderheit der Platz sein dürfte. Das, was in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, als der Britische Commonwealth gegründet wurde, der damalige Außenminister, Lord Balfour, im Oberhause in einer ganz charakteristischen, historischen Rede so geprägt hat, daß das neue Ideal, das Ideal in dem neuen britischen großen Reiche, sein solle: Einheit in der Verschiedenheit und Verschiedenheit in der Einheit (unity in diversity; diversity in the unity) 3 – das war in dem deutschen Liberalismus die große Hoffnung in jenen Tagen. Wer konnte verschiedener voneinander sein als vielleicht auf der einen Seite die Menschen in Ostpreußen und auf der anderen Seite die in Baden und Schwaben oder auf der einen Seite Westfalen und Rheinländer und auf der anderen Seite Schlesier und Sachsen oder Preußen hier und Bayern dort? Aber in dem neuen Reiche, das man erhoffte und für das man zu kämpfen bereit war, würde für alle Platz sein. Und so haben die Juden auch ihren Platz durch den deutschen Liberalismus zu gewinnen gehofft. Sie blieben dem sehr konservativen Ideal Mendelssohns treu, aber sie waren, sozusagen, konservative Liberale; vielleicht gibt es überhaupt keinen wahren Liberalismus ohne ein Stück konservative Gesinnung und keinen Konservativis187

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mus ohne ein Teil liberaler Art. Sie blieben dem Ideale von Moses Heß auch treu: Soziales wollten sie erringen, aber im Liberalen. Wir haben ein Zeugnis der Empfindung dieser Zeit in einem Briefwechsel, den der badische Dichter Berthold Auerbach 4 – vielleicht manchen noch bekannt als Verfasser der »Schwarzwälder Dorfgeschichten« – mit seinem Vetter Jakob Auerbach 5 [führte], der das Philanthropin in Frankfurt a. M., eine jüdische höhere Schule dort, 6 leitete. 7 Dort spricht diese Hoffnung: Das eine Deutschland wird entstehen, das liberale Deutschland, und in ihm wird für jede wertvolle Eigentümlichkeit, so wie die der Juden, auch Platz sein. So beginnt denn jetzt in der Geschichte der Juden Deutschlands die Zeit des Liberalismus. Oder mit anderen Worten: [Man dachte,] das Europa und das Deutschland, in das man einzutreten hoffte und in das man einzutreten – so glaubte man – imstande sein werde, werde das liberale Deutschland sein. In diese Zeit, in der der Liberalismus – im Laufe der Generationen hat er sich geändert; aber er blieb in seinem Wesentlichen dieser Liberalismus – [sich ausbildete], gehört W a l t h e r R a t h e n a u auch hinein. Aber um ihn zu verstehen, muß man auch die Welt, in der sein Vater gelebt hatte, zu begreifen suchen, diese Welt vor ihm, in die er hineingeboren war. Es war über die Juden Deutschlands wieder die Enttäuschung gekommen. Das Deutsche Reich, das eine Reich, war gegründet worden, im Namen des Liberalismus geschaffen worden. Aber wieder kam der Rückschlag, und er zeigte sich vor allem in einer Judenfeindschaft in dem, wofür das merkwürdige Wort »Antisemitismus« damals üblich wurde 8 . Wir können uns heute schwer die ganze Tiefe der Enttäuschung vorstellen, welche den Juden damals erfüllte. Wieder ist dieser Briefwechsel von Berthold Auerbach mit seinem Vetter Jakob Auerbach ein sprechendes Zeugnis. Ein Mann mit dichterischem Gemüte, ein Mann mit starkem Glauben an Deutschland – man kann es kaum anders ausdrücken: Glauben an Deutschland –, steht nun verzweifelt und zweifelnd da. Es gibt einen Zweifel, der aus der Verzweiflung erwächst. Aber eine Hoffnung hat damals viele in Deutschland erfüllt: die Hoffnung auf den zweiten deutschen Kaiser, auf den, von dem man es meinte, mit Recht oder Unrecht, daß er dem Liberalismus wieder den Weg bahnen werde. Aber nun trat in die Geschichte Deutschlands – und in einem merkwürdigen erschütternden Nebeneinander ebenso in die Geschichte Österreichs und in die Geschichte Italiens auch – ein Verhängnis ein. Ein Mann, der von der Kirchengeschichte aus diesen Wandel der Zeit und dieses Verhängnis betrachtet hatte, 188

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der Jenaer Kirchenhistoriker Nippold 9 , hat das Wort dafür gebraucht, und es kann kein besseres Wort gefunden werden: »Eine Generation ist damals ausgefallen!« Der zweite deutsche Kaiser, Friedrich III., starb vor der Zeit; der österreichische Kronfolger, Rudolf, übte Selbstmord; der junge König Italiens, Umberto, wurde ermordet 10 . Drei Männer, auf die viele ihre Hoffnung gesetzt hatten in all den drei Ländern, waren nicht mehr da. Man hatte in die Zukunft vertrauensvoll zu sehen gedacht, und diese Zukunft war nun verschwunden. Es ist in der Tat wie ein Eintreten eines Schicksals in die Geschichte dieser Länder, daß eine Generation ausgeschieden ist; denn nicht nur diese drei Männer wurden dahingerafft, sondern die, welche es gehofft hatten, daß durch diese Männer eine Zukunft herbeigeführt werde – die hatten ihre Zukunft verloren. Man muß das wissen, um die Atmosphäre zu verstehen, in der Walther Rathenau seine Jugend, die Jahre beginnenden Denkens, verlebte. Der Vater, Emil Rathenau 11 , eine starke, bisweilen etwas starre Natur, einer der erfolgreichsten Ingenieure und Industriellen, hatte ein großes Werk, die Allgemeine Elektrizitäts-Anstalt, gegründet. Diese Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft war nun sein Leben. Außerhalb ihrer kannte er nichts. Wie viele andere mochte er gehofft haben, daß in der Politik auch seine Zeit kommen werde, wenn der Mann, in dem sich die Hoffnung auf den Liberalismus zu verkörpern schien, die Geschicke Deutschlands mitbestimmen werde. Diese Zeit war genommen, und er lebte nun in seiner Welt, der Welt seiner AEG, der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft. Das füllte ihn aus. Starr fast hat er dort geherrscht, aber immer voller Verständnis für die, die mit ihm arbeiteten oder unter ihm standen. Wer dort eingetreten war – das ist oft bezeugt worden –, wußte sich gewissermaßen geborgen. Die Mutter 12 , die aus Frankfurt stammte, war eine ganz eigengeprägte Natur, noch eingeprägter in ihren Zügen wohl als ihr Mann. Und wenn ihr Mann, der gern in seinem Werke der Herrscher war, zu einem Menschen bisweilen zagend hinblickte, um ihr Urteil, ihre Kritik zu hören, so war es diese Frau. Und in dieser Frau war ein starkes jüdisches Empfinden. Sie hat am Gemeindeleben kaum teilgenommen, am Gottesdienste wenig; aber ihr Empfinden war in dieser Hinsicht stark und unbeugsam. Ein Sohn wurde früh schon durch den Tod fortgeführt, 13 und Walther Rathenau, neben dem eine Schwester den Eltern geschenkt worden war, war nun der Erbe, der Thronfolger gewissermaßen, in der AEG. Und nun erwachte in diesem Menschen, vielleicht von der Mutter 189

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her noch mehr als von dem Vater, das Suchen. Ein Suchender ist er sein ganzes Leben gewesen. Man könnte fast sagen: Überall in der Welt hat er sich selber gesucht, ohne sich doch ganz zu finden. Er war eine merkwürdige Mischung, wie man sie unter Juden nicht selten findet, von einem liberal und gleichzeitig sozial gerichteten Menschen, von einem Intellektuellen und einem Künstler, von einem Menschen eines gewissen Selbstgefühls und doch im entscheidenden voller Demut. So hat er gesucht; er hat seine Seele gesucht oder – man könnte sagen – den Platz, wo seine Seele rasten und standhalten könnte. Er hatte den Glauben an das Deutsche Reich mitübernommen, und dieser Glaube ist durch den Krieg von 1914–1918 fast vernichtet worden. Er hatte vorausgesehen, schon in den ersten Wochen des Krieges, daß ein Unheil drohe; er sah ein Unheil vor sich und konnte es doch nicht wenden, konnte es nicht verhüten, und das Unheil kam herauf. Und dann kam die Republik, die in Weimar sich die Verfassung gegeben hatte, und in ihr glaubte er nun, den Platz zu finden. Hier, so dachte er, würde die suchende Seele rasten können, um zu bleiben; hier, so hoffte er, würden Liberalismus und Soziales sich miteinander verbinden; hier, so hoffte er, würde für jede Eigenart der Platz bleiben, damit sie kraft ihrer Eigenart dem ganzen dienen dürfe. In den Briefen, [in denen] dieser suchende Mann, mit seiner im Innersten keuschen Natur, sein eigentliches Wort immer spricht, das er vor der Öffentlichkeit nicht ausspricht, kommt das alles zum Ausdruck. Er war unterwegs. Beethoven sagt vom Künstler: »Der Künstler ist immer unterwegs, eine künstlerische Natur ist nie zu Ende; nur der Philister glaubt, fertig zu sein.« So hat Rathenau vermöge seines Künstlerischen, das in ihm war, gesucht und war in diesem Suchen unterwegs. Aber er hat gesucht und war unterwegs vermöge des Jüdischen, das in ihm lebte. In seinem Elternhause ist wohl wenig davon an ihn herangetreten. Aber er wußte es von der Mutter her mit ihrem starken Empfinden, das sie meist in sich verbarg; von dem Vater her mit seinem Stolz auf das, was er war. Als [zu dem] Kind seiner Eltern, als [zu dem] Nachkommen seiner Großeltern und Vorfahren sprach es zu ihm. Für Emil Rathenau und seine Frau wäre es ein Unmögliches gewesen – man darf dieses Wort »unmöglich« hier brauchen –, aus ihrem Judentum fortzugehen. Stolz und Würde allein verboten es ihnen, und verborgene Stimmen im Inneren sagten noch mehr. So war auch Walther Rathenau. Aber in ihm war doch, man könnte fast sagen: etwas wie ein bedrücktes Gewissen. Sein Ge190

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wissen war bedrückt dadurch, daß er von diesem Judentum, von dem sein Wesen doch das Gepräge erhalten hatte, nicht genug wußte, und wenn er überall suchte, so hat er sein Judentum zugleich gesucht. Es sind eigene Zeugnisse, die hiervon sprechen. Wenn hier ein Persönliches erwähnt werden darf: Als Walther Rathenau gestorben war, hatten die Mutter und die Schwester Bücher aus seiner Bibliothek mir zum Geschenke gemacht. Darunter war eine Erstausgabe des »Kapital« von Karl Marx. Ebenso wie das Buch selber konnte das sprechen, was Walther Rathenau in diesem Buche besonders anzusprechen schien. Er hatte Bleistiftstriche unter Sätze oder unter Worte getan; er hatte am Rande einen Bleistiftstrich gezogen, um auf einen Abschnitt besonders hinzuweisen. Und wenn man diese [Striche] zu sich sprechen läßt, wie sie zu mir sprachen, dann sieht man, wie das Soziale mehr als das Ökonomische an ihn sich wandte. Und dann andere Bücher: die Reihe der Midrasch-Übersetzungen, voll aus dem Hebräisch-Aramäischen von Winter und Wünsche übertragen 14 , Übersetzungen des Midrasch – dieser alten Schrifterklärungen, dieser alten Predigten, die von der Zeit vor der Entstehung des Christentums bis in das 5. und 6. Jahrhundert verfaßt worden waren und dann, redigiert, in ein Werk mannigfacher Art und mannigfacher Teile, den Midrasch 15 , zusammengeschlossen wurden! Man sieht, wie Walther Rathenau diese Übersetzungen nicht nur überflogen, sondern gelesen hat, trotz aller Schwierigkeiten, die die Übersetzung, bisweilen noch mehr als der Urtext, bietet, trotz all der Mühen, welche diese Schwierigkeiten bereiteten. Er suchte sein Judentum. Hätte er länger gelebt – man darf wohl sagen, er hätte es gefunden. Es ist die Tragik dieses Mannes, daß er, der unterwegs war, auf dem Wege, gleichsam am Wegesrande, gestorben ist. Vieles hätte er dem jüdischen Denken und Hoffen auch geben können, hätte er länger gelebt, hätte er, der sein Judentum gesucht hatte, es auch gefunden. So ist er vor der Zeit aber hingegangen – wenig wahrhaft von seinen Zeitgenossen gekannt, wenig begriffen und gewürdigt von denen, die nach ihm kamen. Aber auch er gehört in die Geschichte des deutschen Judentums hinein – dieses Suchens, dieses Suchens, in dem der Mensch, um heute wieder das Wort des jüdischen Dichters aus Spanien, Salomo ibn Gabirol, anzuführen, vor Gott flieht zu Gott hin, Gott gleichsam ausweichen will, aber dann eines Tages sich auf dem Wege zu Gott hin findet. 16 Walther Rathenau hat für die Juden nicht einen neuen Weg ge191

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zeigt wie Moses Mendelssohn aus Dessau, wie Moses Heß aus Bonn. Aber in seiner Person – und diese Person war in den entscheidenden Stunden immer Persönlichkeit –, in seiner Persönlichkeit steht das Ringen und Hoffen, die Enttäuschung und die Erwartung, das Suchen der Juden in jener Zeit vor uns: in jener Zeit, da eine Generation mit ihren Erwartungen ausgefallen war und eine neue Generation so viel Unheil vor sich sah. In seinem Suchen in dieser Zeit war er wie ein Zeichen für vieles im Judentum. Er darf in der Geschichte der deutschen Juden nicht gemißt sein. Anmerkungen 1. Walther Rathenau wurde am 29. September 1867 als Sohn von Emil Rathenau im Norden Berlins, mitten im Arbeiterviertel, geboren. Dort betrieb sein Vater damals eine kleine Eisengießerei; er gab sie bald wieder auf, um im Mai 1883 eine Gesellschaft für angewandte Elektrizität zu gründen, aus der 1887 die Allgemeine Elektrizität-Gesellschaft, die AEG, hervorging. Walther Rathenau war das erste Kind seiner Eltern; mit ihm wuchsen ein Bruder und eine Schwester auf. Vielseitig auch künstlerisch begabt und interessiert, mit starken Neigungen zu Philosophie und literarischer Betätigung, übernahm er nach gründlichen naturwissenschaftlichen Studien und Promotion 1891 erstmals eine Tätigkeit in der Industrie, als technischer Beamter, um sehr bald führend in der Großindustrie zu werden und schließlich, nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1915, an dessen Stelle die Leitung der AEG zu übernehmen. Hugo Stinnes soll gelegentlich über ihn gesagt haben, er sei auf technischem Gebiet das größte Genie im Deutschen Reich gewesen. Ihn selbst zog es allerdings noch mehr als zu Technik und Industrie mit starken Kräften in die Öffentlichkeit und in die politische Arbeit. Seine sozial- und kulturphilosophischen und zeit- und wirtschaftskritischen Arbeiten – die ersten Essays erschienen in Maximilian Hardens »Die Zukunft« – fanden schon vor dem 1. Weltkrieg einen ungewöhnlich großen Leserkreis. Während des Krieges mit der Organisation der deutschen Rohstoffversorgung betraut, gewann er immer mehr politisches Gewicht und erhielt mit dem Ende des Krieges Gelegenheit, sich auch selbst verantwortlich an der Vorbereitung und Durchführung wichtigster innen- und außenpolitischer Entscheidungen zu beteiligen. Vom 30. Mai bis zum 26. Oktober 1921 war er im Kabinett Wirth Reichsminister für Wiederaufbau und wurde am 31. Januar 1922 Reichsminister des Äußeren. Als solcher wurde er, auf der Höhe des Lebens, aber vor dem Reifen der Früchte seiner Arbeit, am 24. Juni 1922 auf dem Wege zum Auswärtigen Amt in seinem Auto von jungen Rechtsradikalen, die in ihm die Demokratie, den Sozialismus und das Judentum treffen wollten, verfolgt und auf offener Straße ermordet. Die »Gesammelten Schriften« in fünf Bänden (zuletzt Berlin 1925) enthalten nur eine, allerdings alles Bedeutsame berücksichtigende Auswahl der Veröffentlichungen Rathenaus, die 1929 durch einen Band »Schriften aus Kriegsund Nachkriegszeit« ergänzt wurde. »Gesammelte Reden« erschienen in einem Bande (Berlin 1924), »Nachgelassene Schriften« in zwei Bänden (Berlin 1928) »Briefe« in drei Bänden (Dresden 1926–1930), »Politische Briefe« in einem Bande (Dresden 1929). Besonders aufschlußreich für das Wesen des

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Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig Verfassers sind die »Briefe an eine Liebende« (Dresden 1931). Wichtige Ergänzungen: Ernst Norlind, Gespräche und Briefe Walther Rathenaus (Dresden o. J.); Walther Rathenau, Auf dem Fechtboden des Geistes. Aphorismen aus seinen Notizbüchern (Wiesbaden 1953; Neudruck eines Privatdruckes von 1923). Literatur: Die neue Rundschau XXXIII 8 (August 1922): Rathenau-Heft. Harry Graf Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, BerlinGrunewald 1928. Etta Federn-Kohlhaas, Walther Rathenau. Sein Leben und Wirken, Dresden 1928 (hier 106–114: Rathenaus Religion; vgl. weiter 44 ff., 195 ff. zu R.’s Stellung zum Judentum). 2. Es handelt sich vor allem um die durchschlagende Rede des Hamburger jüdischen Abgeordneten und 2. Vizepräsidenten der Versammlung Gabriel Rießer (1806–1863) vom 29. August 1848. 3. Nach einer Mitteilung der Wiener Library in London vom 27. Dezember 1957 enthalten die von Lord Balfour im Oberhaus zum Thema der Gründung des Commonwealth gehaltenen Reden Formulierungen, deren Sinn die Parole »Unity in Diversity usw.« genau wiedergibt. 4. Berthold Auerbach (1812–1882) aus Nordstetten (Württemberg) ist der Verfasser der zu seiner Zeit berühmten »Schwarzwälder Dorfgeschichten«, die er in zwei Reihen schrieb (1843–1854 bzw. 1856–1861). Im Vormärz stand er in Beziehungen zu Moses Heß und Karl Marx. Seine erste Frau fiel bei Ausbruch der Revolution von 1848 in Heidelberg einem Judenkrawall zum Opfer. Er gehört zu den durch die antisemitische Welle der Zeit nach dem Kriege gegen Frankreich zutiefst getroffenen und enttäuschten deutschen Juden. Vgl. Enc. Jud. III (1929), Sp. 654–657. 5. Jakob Auerbach (1810–1887) aus Emmendingen (Baden), Berthold Auerbachs Vetter, war Theologe und Pädagoge und hat sich jüdisch-publizistisch vielfach und erfolgreich betätigt. Die Briefe Berthold Auerbachs an ihn erschienen 1884 in Frankfurt am Main: Berthold Auerbachs Briefe an seinen Vetter Jakob Auerbach. 6. Das »Philanthropin«, 1804 als ein Institut zur Heimerziehung von jüdischen Waisenknaben ins Leben gerufen, entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhundert als Institution der Frankfurter jüdischen Gemeinde zu einer höheren Schule von anerkannter Bedeutung. Schon seit 1811 wurden auch christliche Schüler aufgenommen; ebenso gehörten neben dem zweiten Direktor, der Christ war, auch sonst stets Christen dem Lehrkörper an. Die Tätigkeit des »Philanthropin« fand 1938, wie alle öffentlichen höheren Schulen des deutschen Judentums, ein erzwungenes Ende. Vgl. Jüd. Lex. IV, Sp. 898 f. 7. Hier liegt ein Versehen des Vortragenden vor. Jakob Auerbach war niemals Leiter des Philanthropins; er gab dort lediglich Religionsunterricht (vgl. Enc. Jud. III, Sp. 659). 8. Der genaue Ursprung des Wortes liegt noch im Dunkeln. 9. Friedrich Nippold (1838–1918) war als Nachfolger von Karl von Hase 1884 bis 1907 Professor der Kirchengeschichte in der Theologischen Fakultät von Jena. Sein besonderes Interesse galt der neuesten Kirchen- und der Zeitgeschichte. 10. Friedrich III. starb 1888, Kronprinz Rudolf am 30. Januar 1889, König Umberto am 29. Juli 1900. 11. Emil Rathenau lebte 1838–1915. Vgl. Artur Fürst, Emil Rathenau. Der Mann und sein Werk, Berlin-Charlottenburg 1915. 12. Die Mutter Mathilde geb. Nachmann ist bis in ihr hohes Alter und bis zum

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte Tode des Sohnes diesem innigst verbunden gewesen. So pflegte er, der unverheiratet blieb, wenn irgend möglich, täglich eine Hauptmahlzeit bei ihr einzunehmen. Den besten Kommentar zu den ihr gewidmeten Sätzen der Vorlesung bildet der Brief, den sie nach dem Tode des Sohnes an die Mutter eines seiner Mörder schrieb, nachdem sie gehört hatte, diese hätte wegen der Tat persönlich Unbill zu erleiden: In namenlosem Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand. Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich im Namen und Geist des Ermordeten ihm verzeihe, wie Gott ihm verzeihen möge, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit ein volles offenes Bekenntnis ablegt und vor der göttlichen bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, den edelsten Menschen, den die Erde trug, so hätte er eher die Mordwaffe auf sich selbst gerichtet, als auf ihn. Mögen diese Worte Ihrer Seele Frieden geben. Mathilde Rathenau. Vgl. dazu noch die Mitteilungen von Rathenaus Freund Ernst Norlind (s. Anm. 1) 98 ff., über dessen Gespräch mit der Mutter des Toten während des Prozesses gegen die Mörder. 13. Der einige Jahre jüngere Bruder, Erich, starb bereits im Januar 1903 auf einer Reise, die er zusammen mit dem Vater unternommen hatte, in Assuan. 14. Es handelt sich um den Midrasch zum 2. Buche Moses aus der Zeit vor 200 n. Chr. (Mechiltha. Ein tannaitischer Midrasch zu Exodus. Erstmalig ins Deutsche übersetzt und erläutert von Jakob Winter und August Wünsche, Leipzig 1909) und um eine Reihe jüngerer Midraschim in zwei verschiedenen Sammlungen (1. Bibliotheca Rabbinica; 2. Aus Israels Lehrhallen), die Wünsche allein übersetzt hat. 15. Leo Baeck war mit dieser Literatur besonders vertraut und hat ihr mehrere bedeutende Untersuchungen gewidmet. Vgl. besonders die in den Sammelband »Aus drei Jahrtausenden« (Berlin 1938) aufgenommenen Abhandlungen über den Midrasch. Eine so gut wie vollständige Bibliographie Baecks hat übrigens Theodore Wiener zusammengestellt: The Writings of Leo Baeck, in: Studies in Bibliography and Booklore I, Cincinnati 1953/54, 108–144. 16. S. oben Anm. 19 zur 2. Vorlesung.

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4. Vorlesung am 15. Juni 1956 Franz Rosenzweig 1 Meine Damen und meine Herren! Franz R o s e n z w e i g aus Kassel, der in dieser Stunde jetzt nun vor uns hintreten soll, kann in mancher Hinsicht neben Walther Rathenau gestellt werden. Er ist ein vor der Zeit Hingegangener. Mit 55 Jahren war Walther Rathenau zu dem Ende seines Lebens gelangt; mit 43 Jahren mußte Franz Rosenzweig hinscheiden. Wie Walther Rathenau ist auch er in einem Hause herangewachsen, in welchem der Liberalismus das Ideal, die Hoffnung für die Zukunft war. Und wie Walther Rathenau ist er, wenn man es so sagen darf, von Europa und Deutschland her in sein Judentum eingetreten, während Moses Mendelssohn und Moses Heß von ihrem Judentum her in Europa sich den Eintritt bereiteten. Er ist auch insofern neben Walther Rathenau zu stellen, als er in einer Zeit lebte, die den starken Stolz auf die Leistung der Juden Deutschlands hegen durfte. Es ist etwas, was vielleicht bisweilen vergessen wird, daß von den vier großen Revolutionären im Reiche des Geistes in den hundert Jahren, die hinter uns liegen, drei deutsche Juden gewesen sind. Ein Revolutionär im Gebiete des Geistes ist ja der, der ein neues Prinzip aufstellt, der einen neuen Standpunkt einnehmen heißt. So war Sokrates einst ein Revolutionär gewesen; so war es in der neuen Zeit Kopernikus; so war es Newton – Männer, welche forderten, einen neuen Maßstab anzulegen, von einem neuen Standorte aus die Welt oder ein weites Reich der Wissenschaft zu betrachten. Die hundert Jahre, die hinter uns liegen, haben vier solche Revolutionen gekannt. Die erste ist mit dem Namen Charles Darwin verbunden: die große Umwälzung im Gebiete der Lehre vom Leben, der Biologie. Dann – Karl Marx: die große Revolution im Gebiete des Ökonomischen, der neue Standort, der dort eingenommen wurde! Dann – Sigmund Freud, der vor hundert Jahren geboren war, 2 im Reiche der Psychologie, und Albert Einstein 3 in den Sphären der Physik! Drei von ihnen, drei von diesen Vieren, die das geistige Leben Europas umgeformt, umgestaltet haben – drei von ihnen sind Juden aus dem deutschen Sprachgebiete. Das haben Juden in der Zeit, in der Franz Rosenzweig heranwuchs, vollauf empfunden, und sie durften auf andere Namen noch hinweisen, auf die die Welt stolz war. Aber in einem wesentlichen ist Franz Rosenzweig von Walther Rathenau unterschieden. Er ist ein Kind bereits der »Jüdischen Re195

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naissance« 4 . Was will diese »Jüdische Renaissance« bedeuten? In unserem Leben sind unsere Jahre und Jahrzehnte, die dreißig und sechzig und siebzig und achtzig Jahre; aber in unserem Leben sind zugleich die Jahrhunderte und die Jahrtausende. Wir wissen von ihnen nicht, zumindest nicht in den deutlichen Umrissen des Bewußtseins. Aber sie sind in uns, sie ringen und kämpfen in uns, sie wirken und formen in uns, sie werden zurückgedrängt und brechen wieder durch – die neue Psychologie, die Tiefenpsychologie, hat es gelehrt. Es gibt Völker, die älter, und Völker, die jünger sind, weil in den einen die vielen Jahrhunderte sprechen und kämpfen und in den andern die wenigeren. Und eines der ältesten Völker ist das jüdische. Mehr als drei Jahrtausende kämpfen und ringen in den Juden. In dem einen so, daß er es ahnt und vielleicht etwas davon erfährt, in dem andern, ohne daß er es weiß. Wenn man das letzte Jahrhundert in der Geschichte der Juden Europas und vor allem Deutschlands charakterisieren will, so kann man sagen: Das Jahrhundert, das 19., das beginnende 20. mit der Gewalt der Eindrücke – das Jahrhundert hat die Jahrtausende zurückdrängen wollen. Jahrtausende wurden zurückgedrängt. Und wenn Menschen das versuchen, kommt in ihre Seele eine Unruhe, ein Zagen, ein Schwanken. Und so war es in den Juden Deutschlands in jenem Jahrhundert gewesen. Eine gewisse Unsicherheit seelischer Art war bisweilen in ihnen trotz äußerer Sicherheit. Die Jahrtausende kämpften mit dem Jahrhundert. Eine Zeitlang kann ein Mensch und ein Volk die vielen Jahrhunderte zurückdrängen, kann der Tag mehr zu bedeuten scheinen als die Jahrtausende. Aber eines Tages brechen die Jahrtausende durch. Das ist es, was die Juden Deutschlands in den hundert Jahren, auf die wir zurückblicken, erlebt haben, die einen wissend, die andern im Unterbewußten. Aber es ist so geschehen: Die Jahrtausende brachen durch. Und das ist die »Jüdische Renaissance«. In allem zeigt sie sich: in einer religiösen Orthodoxie und in einem religiösen Liberalismus, in einer jüdischen Zionsbegeisterung und in einem jüdischen Universalismus. Die Jahrtausende haben ihren Weg, ihren Ausgang gefunden, und die große innere Sicherheit ist über die Menschen gekommen. Das ist die Zeit, in die Franz Rosenzweig hineingeboren wurde. Und sein Leben ist es, daß er diese Wiedergeburt zu begreifen suchte. Wenn man vielleicht in den siebziger Jahren in einer jüdischen Familie Deutschlands eine Prognose hätte stellen sollen, dann hätte manch einer gesagt: Die Großeltern stehen in ihrem Judentum; die 196

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Eltern halten noch zu ihrem Judentum und werden es nicht verlassen; aber der Weg der Enkel wird vielleicht anderswohin führen. So hätte damals jeder, der prophezeien wollte, gesprochen. Und umgekehrt ist es gekommen. Die Enkelkinder wurden wieder fromm, frömmer als Eltern und Großeltern es gewesen; sie wurden innerlich jüdisch, innerlicher noch auch als Großeltern und Urgroßeltern gewesen waren, weil sie durch das Tal der Prüfungen hindurchgeschritten waren. Die Wiedergeburt, die Renaissance, war gekommen. In sie ist Franz Rosenzweig hineingeboren worden. Er ist in sie hineingeboren worden, und es ist die Geschichte seines Lebens, wie gesagt, daß er sie zu begreifen suchte. Verhältnismäßig spät hat er sie zu begreifen begonnen. Es hat Jahre in seinem Leben gegeben, Jahre des ersten Universitätsstudiums, in denen er schwankte, wohin sein Weg ihn führen solle. Menschen aus seiner Familie, die ihm nahestehen konnten, waren aus dem Judentum fortgegangen. 5 Und er schwankte. 6 Und nun brachen – fast möchte man sagen: eines Tages – die Jahrtausende in ihm durch. 7 Er kannte jetzt nur einen großen Inhalt seines Lebens: jüdisches Erbe, jüdische Gegenwart, jüdische Zukunft. 8 Dafür wollte er leben. Und dafür hat er in den sieben und acht Jahren, die ihm [nach seiner Erkrankung] noch gegeben waren, gelebt und sich innerlich verzehrt, um erleben zu können, was er noch erleben dürfe, um geben zu können, was noch zu geben ihm vergönnt sein könnte. Immer deutlicher wurde es in ihm. Seine Eltern waren fast erstaunt, die, die ihm nahestanden, fast noch mehr von Staunen und Verwunderung erfüllt. Aber so war es geschehen. Wie in ihm war es in anderen geschehen. Aber ihm war es gegeben, was die Gottheit wenigen gibt: zu sagen, was er erlebt hatte, und zu sagen, was es ihm bedeutete. So begann er nun, für sein Judentum zu leben. Zwei Aufgaben erfüllten ihn vor allem, nachdem sie ihn damals ergriffen hatten. In eine Bildungswelt waren die Juden Europas eingetreten, und in dieser Bildungswelt hatten sie ihren Platz sich erworben. Europäische Bildung hatten sie sich angeeignet; aber darüber hatten sie unterwegs, fast ohne es zu wissen, ihre jüdische Bildung verloren. Und diese jüdische Bildung wollte Franz Rosenzweig ihnen wiedergeben. So hat er nun zu kämpfen begonnen. Überall, wo er seinen Weg bahnen konnte, hat er zu ringen und zu streiten angefangen: »Lernt wieder! Gründet Häuser des Lernens, Lehrhäuser! Lernt wieder die Bibel, lernt wieder den Talmud, lernt die mittelalterliche große jüdische Literatur, und ihr werdet nicht in ferne Sphären damit 197

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ziehen, sondern zu euch selber werdet ihr damit kommen! Zu euch selber werdet ihr gelangen!« 9 Er fand Menschen, die ihn begriffen. Vor allem einer, der immer mit Dank zu nennen ist, Martin Buber 10 , trat ihm zur Seite. Aber der starke Impuls war von ihm gekommen und kam von ihm. Und um lehren zu können, begann er zu lernen. Er, der Mann, der durch ein Buch über Hegel und den Staat – die Frage des Staates hat ihn zeitlebens in seinem kurzen Leben beschäftigt – sich seinen Namen in der wissenschaftlichen Welt erworben hatte, 11 er begann jetzt wie ein Schulknabe zu lernen: Hebräisch zu lernen, um in die Bibel einzudringen; das Aramäische im Hebräischen der nachbiblischen Zeit sich anzueignen, um in den Talmud eindringen zu können; die weiteren Formen der Sprache sich zu eigen zu machen, lernend und wieder lernend, um in die mittelalterliche Literatur eintreten zu dürfen. Er hat gelernt, und nur der Lernende hat das Recht zu lehren. Bis zu seiner letzten Stunde hat er gelernt. Und die, an die er sich wandte, wußten dies und empfanden es zum mindesten, und sie hatten den großen Respekt vor dem Lehrer, der ein Lernender ist. Das hat er in den Gemeinden Deutschlands gepredigt: »Lernt, lernt ohne Ende; dann werdet ihr zu eurem Judentum, zu euch selber, den Weg finden!« »Ein Unwissender kann nicht fromm sein«, so hatte einer der alten jüdischen Weisen gesprochen. 12 Das war das Motto für alles, was Franz Rosenzweig nun schrieb und sprach. Und das andere, was er forderte, war Rückkehr zum Gesetze. Insofern könnte man sagen: Rückkehr zu dem, was Moses Mendelssohn gelehrt und in seinem Leben bewiesen hatte, forderte er. Er hat ein neues Leben begonnen, ein Leben im Gesetze. Vieles davon widersprach der Art des Elternhauses. Sein Elternhaus gehörte der gehobenen Bourgeoisie an, diesen wohlhabenden Klassen, in denen das Ästhetische gepflegt wird und [wo] vergessen wird, daß das Ästhetische wohl unser Leben begleiten und bisweilen zieren könne, aber niemals es vermöge, unser Leben zu führen. Jetzt kehrte er zum Gesetze zurück, um den Stil seines Lebens, das Führen des Lebens, wie Goethe es faßt, wiederzugewinnen. Es ist ein Eigentümliches um dieses Gesetz. Man könnte dieses Gesetz die Verfassung oder man könnte es auch den Lebensstil des jüdischen Volkes nennen. In diesem Volke waren explosive Kräfte. Als eine Revolution war der Glaube Israels in die Welt getreten, und überall, wo religiöse Revolutionen sich vorbereiteten, war es kraft dieser springenden Kraft in der Bibel gewesen. Aber damit diese explosive Kraft ihre Grenzen, ihre Schranken fände, Sicherheit in ihnen und trotz ihrer gegeben werde, ist schon früh das Gesetz ent198

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standen, das heißt Vorschriften, welche in die Prosa des Tages die Poesie hineinführen wollen; welche in das, was den Menschen im Materiellen untergehen lassen kann, ein Geistiges hineinführen wollen, welche sein Leben immer wieder zügeln und bestimmen wollen, damit es vor Zügellosigkeit, vor Roheit bewahrt bleibe. Das hat dieses Gesetz, diese mannigfachen Sabbatvorschriften, diese Speisegebote, diese Satzungen über Reinheit und Unreinheit, durch die Jahrhunderte bewiesen. Ein Lebensstil war geschaffen worden und damit eine Lebenspoesie. Vielleicht hätten die Menschen des jüdischen Volkes in manchen Zeiten nicht leben können, wenn sie nicht diese Poesie ihres Lebens besessen hätten. Und alles Religiöse bedarf ja der Poesie. Man scheidet bisweilen den Gläubigen und den Atheisten. Es ist keine wirkliche, echte Scheidung. Im Atheisten kann ein Suchen sein; in ihm kann der Glaube, den er morgen finden wird, schon sich ankündigen. Aber der wirkliche Gegensatz ist der zwischen dem religiösen Menschen und dem Philister. Der Philister, der nur die Prosa, das Kleinliche, das Staubige kennt, der nur dem Tage und der Stunde dient, der nur das anbetet, was lärmend und geräuschvoll ist – der Philister ist der Gegensatz zu dem religiösen Menschen! Vor dem Philistertum hat das Gesetz die Juden bewahrt. Und Franz Rosenzweig, der deutlich und scharf blickte, sah in den Gemeinden in Deutschland so manche Philister-Art sich regen, und gegen sie wollte er kämpfen, durch die Treue gegen das Gesetz sie überwinden. Dafür hat er nun Menschen gewonnen. Für die Poesie im Gesetze und für die hebräische Sprache und das jüdische Schrifttum und ihre unüberwindliche innere Kraft hat er sich eingesetzt. Er hat ein Buch geschrieben, »Stern der Erlösung«; man könnte es auch überschreiben »Die Poesie, welche bleibt«. Und er hat zusammen mit Martin Buber die Bibel zu übersetzen begonnen. 13 Immer, wenn im deutschen Judentum die Forderung der Zeit sprach, übersetzte man die Bibel von neuem. Mose Mendelssohn hat sie zum wesentlichen Teile übersetzt, zusammen mit seinen Jüngern. Der Mann, mit dem die Wissenschaft vom Judentum beginnt, von dem jeder gleichsam herkommt, der sich damit befaßt, das Judentum zu erkennen, Leopold Zunz aus dem Anhaltischen Lande, 14 hat die Bibel übersetzt. Und so begann nun Franz Rosenzweig, sie zu übersetzen. Das Hebräische wollte er in die deutsche Sprache hineintragen. Den Rhythmus, den Gesang, fast die Gestalt des Wortes wollte er in der deutschen Sprache wiedergeben. Diese Übersetzung ist kein leicht geschrieben Buch. 15 Sie kann nicht gelesen werden in Stunden, die die Müdigkeit vertreiben sollen. Man 199

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muß sich in sie vertiefen. Aber wer in sie sich vertieft, der erfährt, was die Bibel in ihrem hebräischen Urworte sagt. In den wenigen Jahren seiner Arbeit hat Franz Rosenzweig viele Jünger herangezogen, und sie gehen nun den Weg, den er gelehrt hat: ein Gesetz – und das Gesetz ist nicht starr; in jeder Zeit muß es zwar nicht reformiert werden, aber, wenn dieser Unterschied der Worte gebraucht werden darf, re-formiert werden, von neuem geformt und gebildet werden – und die hebräische Sprache, ohne die ein Jude nicht leben kann, wenn er ein innerliches Leben haben will. Dieses Zweifache hat er gelehrt. Er hat ebenso biblische Dichtungen zu übersetzen gesucht, vor allem solche aus dem Mittelalter, welche er in der Art der Psalmen weiterdichtete. Und vielleicht das Schönste, was er geschrieben hat, sind – es klingt vielleicht merkwürdig – Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Gedichten von Jehuda Halevi, dem jüdischen Dichter aus Spanien 16 . In diesen Anmerkungen hat er das Beste seines Denkens gegeben, hat er gezeigt, wie die Kraft der Bibel weiterlebt. Und Weiterleben heißt nicht bloß, weiter da sein, sondern weiter sich formen, weiter gestalten, weiter neuen Ausdruck suchen und finden. Den immer neuen Ausdruck, den die Bibel gefunden hat, hat er zu zeigen gesucht. Er ist jung gestorben. Neben ihm stand seine Frau, ohne die er seiner Arbeit nicht fähig gewesen wäre, wahrhaft eine Helferin an seiner Seite, die seine Lippenbewegungen zu lesen verstand, als er nicht mehr sprechen konnte; die die Richtung seiner Hand zu deuten vermochte, als er kaum mehr die Hand bewegen konnte. So hat er gearbeitet bis zuletzt. Und eine letzte Freude, wenn auch das – auch das aus Persönlichem hervor – erzählt werden darf, hat er erfahren. Wenige Tage vor seinem Tode wurde ihm mitgeteilt, daß eine große Vereinigung innerhalb der Juden Deutschlands, die etwa 12 000 Mitglieder zählte, beschlossen habe, für jedes ihrer Mitglieder ein Exemplar des ersten Teiles der Bibelübersetzung, der er sein Leben geschenkt hatte, der Übersetzung des Pentateuches, zu erwerben. An einem Tage wurden 12 000 Bücher erworben. Der Geist war respektiert worden. Das war die letzte Freude von Franz Rosenzweig. Es war die letzte Freude. Aber wenn man diesen Mann aufsuchte, in dessen Körper die Fähigkeit, das Glied zu bewegen, Glieder der Hand, Muskeln der Lippen, Glieder des Fußes, mehr und mehr abnahm – man war erstaunt und von Dank erfüllt, aus den Zügen seines Antlitzes ein Glück zu lesen. Er hatte seine Aufgabe gefunden; er hatte ein Werk beginnen können. Und er wußte, kein Mensch kann 200

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ein Werk zu Ende führen; es ist ihm nur gegeben, dieses Große ist ihm gegeben, ein Werk zu beginnen. In der Zeit, die er nicht mehr zu erleben hatte, wäre er trotz allem in seinem inneren Glücke, in diesem Bewußtsein geblieben. Vielleicht, wenn er diese Zeit hätte sehen müssen, hätte er vielleicht zu einem Buche gegriffen – zu einem Buche, welches betitelt ist »Buch der Tränen« (Sefer Hademaot) –, in dem ein Schriftsteller seiner Tage, Simon Bernfeld, die Berichte über die ersten Kreuzzüge, über das Leid, das diese über jüdische Gemeinden gebracht hatten, sammelte 17 . Er hätte in diesem »Buche der Tränen« gelesen und hätte gewußt: Der Geist bleibt, und vom Geiste geht die Kraft aus, die Kraft, durch die allein das jüdische Volk leben kann. Er wußte, wie nahe ihm das Ende bevorstand. Der Tod war gleichsam sein täglicher Gefährte; aber er hörte nie zu arbeiten auf. Man möchte an ein Wort denken, das einer der sieben Weisen Griechenlands, Bias von Priene, gesprochen hat 18 : tn bfflon o˜tw metre…n £@ ka½ pol±n ka½ ¤lfflgon crnon biwsmenw@ »Versuche so zu leben, als ob du ein langes und als ob du ein kurzes Leben nur leben solltest!« So hat Franz Rosenzweig gelebt: Er wußte, wie nahe das Ende war; aber er arbeitete, als läge ein langes Leben vor ihm. Und er hat nicht für sich gearbeitet. Für sein jüdisches Volk und vor allem für die Juden in Deutschland wollte er arbeiten. Die Wiedergeburt, die in ihm geschehen war und die er begriffen, die in so vielen anderen eines Tages erwacht und dann erwachsen war – dieser Wiedergeburt wollte er dienen. Und er hat ihr nicht vergeblich gedient. Von seinem europäischen und deutschen Denken war er zum jüdischen hingelangt. Mit all dem, was Europa und was Deutschland ihm gegeben, wollte er sein Judentum bereichern, nicht um Neues ihm zu geben, sondern um neue Ausdrucksform ihm zu verleihen. Das wußte er, und dafür hat er gelebt. Darum darf er neben Moses Mendelssohn genannt werden, dem er in so vielem gleicht; neben Moses Heß, dem er nicht gleicht, aber dem er im Motive seines Wesens nahekommt; neben Walther Rathenau, der ein Suchender war – denn auch er, Franz Rosenzweig, hat gesucht. Walther Rathenau war es versagt, zu sich, zu seinem Letzten, zu kommen. Franz Rosenzweig hat eine gütige Vorsehung, die ihn geprüft hatte, es doch gewährt. Er war, ehe sein Leben geendet, zu sich gekommen, zu seiner Aufgabe, zu seinem Glauben, zu dem Wissen um seinen Glauben. Und so wird er seinen Platz behalten, so lange es ein jüdisches Volk, so lange es einen jüdischen Glauben gibt.

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Anmerkungen 1. Franz Rosenzweig wurde am 25. Dezember 1886 in Kassel geboren. Sein Elternhaus war assimliert; doch waren in ihm jüdische Überlieferung und jüdisches Bewußtsein, vor allem in der Mutter, so weit lebendig geblieben, daß sie an Franz Rosenzweig im entscheidenden Augenblick seines Lebens wirksam werden und ihn beim Judentum erhalten, ja ihn erst eigentlich für das Judentum gewinnen konnten. Durch seinen Vater war er mit der Familie Ehrenberg verwandt, deren Ahn Samuel Meyer Ehrenberg (1773–1853) eine führende Rolle in den Anfängen der Reform gespielt hatte, dessen Nachkommen aber zum Teil nunmehr dem Judentum nicht mehr angehörten und – das ist hervorzuheben – lebendige Christen waren. Rosenzweig studierte seit 1905 zunächst Medizin in Göttingen, München, Freiburg und Berlin. Nach dem 6. Semester ging er zum Studium der Geschichte und der Philosophie über und schloß dieses im Sommer 1912 mit der Promotion zum Dr. phil. ab, um anschließend weitere juristische und philosophische Studien in Leipzig und Berlin zu betreiben. Nachdem er nach langem innersten Ringen schon so gut wie entschlossen war, Christ zu werden und sich taufen zu lassen, fiel im Oktober 1913, nicht zuletzt unter dem Eindruck einer, nach seiner Meinung letztmaligen, Teilnahme an der Feier des Versöhnungstages, seine Entscheidung für das Judentum. Sie war klar und endgültig. In ihrer Auswirkung ist Rosenzweig in den etwa anderthalb Jahrzehnten, die ihm noch vergönnt waren, zu einem der führenden jüdischen Geister dieses Jahrhunderts geworden. Schon im Winter 1913/14 begann er mit systematischen jüdischen Studien an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Hier hörte er auch Hermann Cohen, der nach seiner Emeritierung in Marburg hier lehrte. Die früheren philosophischen Arbeiten wurden also auf dem neuen Lebensgrunde fortgesetzt, kamen aber dann mit einem umfangreichenWerk in zwei Bänden über »Hegel und der Staat« (München und Berlin 1920) zum Abschluß. Schon während des Krieges, an dem Rosenzweig zuerst als freiwilliger Krankenpfleger, später als Artillerist, entwarf er sein religionsphilosophisches Hauptwerk »Stern der Erlösung«, das System eines Weltbildes aus der Sicht des Judentums, und veröffentlichte es 1921. Nunmehr galt seine ganze Kraft der jüdischen Bildung mit dem Ziele einer inneren und äußeren Neubelebung des Judentums. Schon im Juli 1920 war er, jung verheiratet, nach Frankfurt am Main übergesiedelt und hatte dort das Freie Jüdische Lehrhaus begründet. Da brach im Januar 1922, auf der Höhe des Schaffens, bei ihm – wohl durch eine Kriegserkrankung bedingt – die Amyotrophe Lateralsklerose aus, die am 10. Dezember 1929 zum Tode führte. Obwohl er sehr bald, schon im Dezember 1922, nicht mehr schreiben und von Mitte Mai 1923 ab auch nicht mehr sprechen konnte, waren die Jahre der Krankheit eine Zeit fruchtbarsten geistigen Schaffens. In sie fällt auch die Übersetzung des Alten Testaments als »Die Schrift« zusammen mit Martin Buber bis zum Buche des Propheten Jesaja einschließlich. Daß das alles möglich war, ist außer der eigenen Zähigkeit und Willenskraft Rosenzweigs der hingebenden Hilfe seiner Frau zu verdanken. Sie hat sich auch, durch Freunde Rosenzweigs unterstützt, die höchsten Verdienste um die Erhaltung und Ordnung seines Nachlasses erworben. Dieser wird heute durch Professor Dr. Nahum N. Glatzer in Watertown (USA) verwaltet. Eine Gesamtausgabe der Werke Rosenzweigs gibt es nicht, auch keine vollständige Bibliographie. Der »Stern der Erlösung« erschien 1930 (in drei Teilen) in

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Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig Berlin in zweiter, 1954 in Heidelberg in dritter Auflage. Auf »Sechzig Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi deutsch« (Konstanz 1924) folgte eine erweiterte Ausgabe »Jehuda Halevi: Zweiundneunzig Hymnen und Gedichte deutsch« Berlin 1927. »Briefe« gab Edith Rosenzweig (zusammen mit Ernst Simon) Berlin 1935, »Kleinere Schriften« aus den Jahren 1914–1929 wiederum Edith Rosenzweig (allein) Berlin 1937 heraus. Eine ganze Anzahl von kleineren Arbeiten enthält der Sammelband »Die Schrift und ihre Verdeutschung« von Martin Buber und Franz Rosenzweig (Berlin 1936). Literatur: Franz Rosenzweig. Ein Buch des Gedenkens. Berlin 1930. Nahum N. Glatzer, Franz Rosenzweig. His Life and Thought, New York 1953. 2. Sigmund Freud (1856–1939), gestorben im Exil in London. 3. Albert Einstein (1879–1955), gestorben im Exil in Princeton. 4. Diese von Martin Buber geprägte Wendung faßt die nationale (zionistische) Bewegung und die innere Selbstbesinnung des Judentums, wie sie ebenfalls im 19. Jahrhundert eingesetzt hatte, im Sinne einer einheitlichen Bewegung zusammen, wie sie bald nach 1900 immer deutlicher erkennbar wurde und immer weitere Kreise, vor allem der jüdischen Jugend im deutschen Sprachgebiet, ergriff. 5. So sein Onkel Professor Dr. Viktor Ehrenberg (1851–1929), einer der Enkel von Samuel Meyer Ehrenberg (s. Anm. 1), bedeutender Rechtslehrer in Rostock, Göttingen und Leipzig. Mit einem der Söhne stand Franz Rosenzweig in seinen Studienjahren in innigstem Austausch (s. noch Anm. 8). 6. Näheres vgl. bei Glatzer, a. a. O., 23 ff. 7. Es geschah am Versöhnungstage 1913. Vgl. Glatzer (s. Anm. 1), 25 ff. 8. Vgl. den Brief vom 31. Oktober 1913 an Rudolf Ehrenberg, den Sohn von Victor E. (Anm. 2), in: Briefe, 71 ff. Hier ist ausdrücklich davon die Rede, er sei »in langer und, wie ich meine, gründlicher Überlegung dazu gekommen, meinen Entschluß« – zum Christentum überzutreten – »zurückzunehmen. Ich bleibe also Jude«. 9. Vgl. z. B. die Schrift »Zeit ist’s … Ps 119, 126. Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks. An Hermann Cohen«, Berlin-München 1917. 10. Martin Buber war 1916 in Heppenheim (Bergstraße) ansässig geworden. Von 1923 ab lehrte er als Honorarprofessor an der Universität in Frankfurt am Main. 11. Hegel und der Staat. Zwei Bände, München und Berlin 1920. S. auch: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.-hist. Klasse, Jahrg. 1917, 5. Abhandlung (vorgelegt von Heinrich Rickert), Heidelberg 1917. 12. Es handelt sich um ein Wort Hillels in den »Sprüchen der Väter« (2,5). 13. S. Näheres in Anm. 1. 14. Über Leopold Zunz (1794–1886) vgl. Luitpold Wallach, Leopold Zunz und die Grundlegung der Wissenschaft des Judentums, Frankfurt am Main 1938. 15. Vgl. Franz Rosenzweig, Briefe, 533 ff. passim sowie Martin Buber und Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936. 16. Vgl. die Angaben in Anm. 1. Jehuda Halevi aus Toledo lebte ca. 1080 bis ca. 1145; er ist einer der Großen des spanischen Judentums. 17. Simon Bernfeld, Sepher Hademaot, 3 Bände, Berlin 1924–1925. Es handelt sich um eine Sammlung der Quellen über die Judenverfolgungen vom ersten bis zum 18. Jahrhundert. Die Berichte über die Untaten an den Juden während der Kreuzzüge nehmen einen breiten Raum ein. Zu diesen vgl. auch: A. Neu-

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte bauer – M. Stern – S. Baer, Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge (= Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland II), Berlin 1892; Nathan Birnbaum – Hugo Herrmann, Edom. Berichte jüdischer Zeugen und Zeitgenossen über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge, Berlin 1919. 18. Diogenes Laertius I 87. In der Vorlesung hatte das Zitat wahrscheinlich die Form: o˜tw@ pefflrw z»n kaffl pol±n ka½ ¤lfflgon crnon biws[email protected] beiden ersten Worte sind in der Bandaufnahme nicht ganz zu verstehen. In den Text ist die überlieferte Fassung eingesetzt, an die offenbar ohnehin gedacht ist. 19. Leo Baeck, Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig (Franz DelitzschVorlesungen 1955), Stuttgart 1958.

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Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig

Worte des Dankes an den Vortragenden von Professor D. Johannes Herrmann, Münster Es ist eine sehr undankbare Aufgabe, nach diesen Vorträgen noch ein Wort sagen zu müssen. Jedes Wort, das danach gesprochen ist, kann nur abschwächen. Aber der Leiter des Institutum Judaicum Delitzschianum war der Meinung, daß der Dank der Zuhörer irgendwie von einem Zuhörer zum Ausdruck gebracht werden sollte. Wenn ich dazu nur ein paar Worte sagen darf, dann soll es keine kritische Rezension sein – das wäre das, was am wenigsten am Platze wäre –; aber es soll so, wie ich den Vortragenden kenne, ganz gewiß auch nicht ein Panegyrikus sein, der irgendwie sich in landläufigen Redensarten erschöpft. Ich möchte sagen, wir wollen uns nach diesen Vorträgen besinnen auf das, was wir dem Vortragenden danken. Daß wir ihm viel zu danken haben, wird sicherlich die Überzeugung eines jeden Zuhörers sein. Wofür sollen wir danken? Es hat zunächst etwas Beglückendes gehabt, bei dem heutigen Stand des Gebrauches der deutschen Sprache einen Vortrag zu hören, der in einem so gepflegten und klassischen Deutsch uns entgegentrat, wie wir es sehr selten finden werden. Das beglückt! Es wäre davon zu sprechen, daß wir sicherlich alle in diesen Vorträgen viel gelernt haben – jedenfalls muß ich das von mir sagen, und es wird wahrscheinlich jeder in seiner Art auch diesen Dank abzustatten haben – und daß es etwas Beglückendes war; daß das, was Herr Dr. Baeck uns sagen wollte, ein Zeugnis eines außerordentlich ausgebreiteten geschichtlichen Wissens war; daß alles unterbaut war mit dem, was eine jahrtausendelange Geschichte – Geistesgeschichte und auch äußerliche Geschichte – zuwege gebracht hat, eine grenzenlose Sache, über die man eigentlich auch in der Kürze gar nichts sagen kann. Zugleich aber käme dann dazu, daß eine solche Fundierung von allem Gesagten in der Geschichte nun auch für den jüdischen Redner deswegen nur möglich ist, weil für ihn die Geschichte in der Religion fußt. Denn der Gott der Bibel ist der Gott der Geschichte, und deswegen kann der Jude wie der Christ von der Geschichte letztlich nicht sprechen, wenn er wirklich Jude und wenn er wirklich Christ ist, ohne eben dieses Wissen um den Gott, der der Herr der Geschichte ist. Und so muß natürlich auch in alles das, was von geschichtlichen Dingen hier uns gesagt wurde, hineinströmen die Re205

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte

ligiosität, die echte und lebendige Religion, die hinter dem allen steht. Aber ich glaube, diese beiden oder drei Dinge sind noch nicht das Entscheidende. Das Entscheidende scheint mir etwas anderes zu sein. Alles das, was uns gesagt worden ist – und da sehen wir nun von Einzelheiten vollständig ab –, war das Zeugnis von einer reinen und reifen Geistigkeit. Und diese reine und reife Geistigkeit hing nun notwendigerweise und organisch für den Vortragenden zusammen mit einer anderen Seite seines Wesens, die hier bei dem Gegenstand nicht so stark und so häufig hervortreten konnte, wie es in seiner eigenen Lebensgeschichte der Fall ist, die sich aber eben mit dieser reinen und reifen Geistigkeit verbinden muß, wenn sie auf diesem Grund der Geschichte und der Religion steht. Das ist die Betrachtungsweise, die zusammenhängt und unterbaut ist mit einer ganz anderen Eigenschaft, die hinter alledem auch gestanden hat, nämlich mit einer reinen und unbegrenzten Gütigkeit. Ich möchte gern – wenn es auch exegetisch nicht in jeder Hinsicht einwandfrei ist –, das mit dem Zitat aus dem Neuen Testament begleiten, das diese beiden Dinge zusammenbringt: »Die Frucht des Geistes ist allerlei Gütigkeit.« Das ist das Wort, das die Dinge miteinander verbindet. Diese beiden Dinge, eine reine und reife Geistigkeit und eine reine und unbegrenzte Gütigkeit – das ist es, was mir aus diesen Vorträgen am stärksten entgegengetreten ist. Und das ist nun eine Sache, die letztlich ganz unabhängig von dem Gegenstand ist (auch von etwaigen kritischen Bedenken, die natürlich in Einzelheiten jeder Professor haben muß – das gehört zu seinem Beruf; aber das ist ja gar nicht wichtig). Wenn wir sagen, daß eine solche reine und reife Geistigkeit und eine solche reine und unbegrenzte Gütigkeit aus alledem hervorleuchtet und dahinter alles Einzelne zurückbleibt, so ist das, was wir damit charakterisieren, das Erlebnis einer Persönlichkeit und, das scheint mir das Entscheidende dabei zu sein: das Erlebnis einer Persönlichkeit eben in dieser Ausprägung. Ich glaube sicher, daß jedem von uns diese Vorträge aus diesem Grunde unvergeßlich sein werden. Sie werden unvergeßlich sein, sie werden gerade auch deswegen unvergeßlich sein. Und unser Dank kann nur der sein, daß wir dieses Erlebnis in uns wirksam werden lassen und daß wir es – und damit schließe ich wieder in einer bedenklichen Anwendung mit einem neutestamentlichen Wort –, daß wir dieses Erlebnis von Geistigkeit und Gütigkeit »in einem feinen und guten Herzen« bewahren. Das ist unser Dank! 206

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Epochen der jüdischen Geschichte*

Die in der Zeit vom 16. Januar bis 09. Juli 1956 von Baeck vor dem »Montagsseminar der Society for Jewish Studies« in London gehaltenen Vorlesungen hat Hans I. Bach 1974 im W. Kohlhammer-Verlag erstmals publiziert und mit einer sachkundigen Einleitung versehen. Zur Einführung in Baecks »Epochen der jüdischen Geschichte« verweisen die Herausgeber weiter auf ihre Einleitung zu und ihre Kommentierung von »Dieses Volk. Jüdische Existenz« in der Leo BaeckWerkausgabe Bd. II, Gütersloh 1996. Ignaz Maybaum, einer aus der Gruppe deutscher Juden und deutscher Rabbiner, der Baeck noch aus Deutschland kannte, hat Baecks Vorlesungen wie folgt beschrieben: »Freunde Baecks hatten die Vortragstradition wiederbelebt, für die die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums einst berühmt gewesen war. Der alte Weise (Baeck) hatte seine treue Zuhörerschaft deutsch-jüdischer Intellektueller. Es kamen auch einige der wenigen überlebenden deutschen Rabbiner, die sich in London niedergelassen hatten. Alle lauschten gebannt seinen Worten, und alle waren von ihm beeindruckt«. Tonbänder von den wesentlich frei vorgetragenen Lehrvorträgen Baecks befinden sich im Leo Baeck College in London. Für die in deutscher Sprache in London auf englischem Boden gehaltenen Lehrvorträge über die Epochen jüdischer Geschichte, die im wesentlichen die erste Epoche jüdischer Geschichte ausführlich darstellen, gilt zu erinnern, was Baeck nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt 1945 schriftlich und öffentlich erklärt hat: »Für uns Juden *

Hier wiedergegeben: Epochen der jüdischen Geschichte. Studia Delitzschiana. Abhandlungen und Texte aus dem Institutum Judaicum Delitzschianum, Münster (Westfalen), herausgegeben von Karl Heinrich Rengstorf, Band 16, Kohlhammer, Stuttgart 1974.

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte

aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß. Unser Glaube war es, daß deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei –.« Noch deutlicher antwortete Baeck in New York einem Herausgeber der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau: »Die Geschichte des deutschen Judentums ist definitiv zu Ende. Die Uhr kann nicht zurückgestellt werden … Zwischen den deutschen Juden und dem Deutschland der Epoche 1933-45 steht zu viel. Soviel Mord, Raub und Plünderung, soviel Blut und Tränen und Gräber können nicht ausgelöscht werden … Gewiß werden einzelne Gemeinden hier und da fortexistieren, doch die nährende Humusschicht ist nicht mehr vorhanden«. Nur ein Jahr später wiederholte Baeck seine Stellungnahme in der Zeitschrift National Jewish Monthly vom Januar 1946: »Die gesamte (deutsche) National nahm aktiv an dem Verbrechen an den Juden teil, fand Gefallen daran und versuchte, sich daran zu bereichern. Oder aber sie billigte die Verbrechen und würde den Verbrechern applaudiert haben, wären diese siegreich gewesen. Vor allem aber unterstützte, oder zumindest billigte, die geistige Führung die Verbrechen an den Juden, insbesondere an den Universitäten. Der gesamte deutsche Boden ist entheiligt worden, und viele Jahre werden vergehen müssen, bevor das Verbrechen gesühnt ist. Die wenigen guten, anständigen und moralisch mutigen Deutschen, die mit uns gelitten haben, werden dieses sicher ähnlich empfinden«. Leo Baecks im vorliegenden Band publizierten Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum und Judentum und Deutschland, die er nach 1948 an verschiedenen Orten in Deutschland gehalten hat, dürfen und können über diesen Bruch nicht hinwegtäuschen, den Baeck in diesen Stellungnahmen markiert hat. Die Zukunft wird zeigen, ob es Brücken über diesen Abgrund hinweg geben kann und wie stabil sie sein können. Ohne die Erinnerung an diesen von Baeck mehrmals eindrücklich beschriebenen Bruch und Abbruch werden sie jedenfalls nicht gebaut werden können.

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Inhalt

Einleitung von Hans I. Bach

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Perioden der jdischen Geschichte: Das Problem . . Perioden im Weltall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perioden im Leben des Einzelmenschen . . . . . . Perioden in der Völkergeschichte . . . . . . . . . . . Völker mit kurzer Geschichte und Völker mit Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judentum als Revolution und Wiedergeburt . . . .

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Wann beginnt eine israelitische Geschichte? . . . . . Das Gedächtnis von Völkern: Geographie und Recht Ägypten und seine Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . Iwrim, Hebräer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philister und Hettiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Raum der ältesten israelitischen Geschichte . . . Die Vorgeschichte: Babylonien . . . . . . . . . . . . . Beginn und Epochen der jüdischen Geschichte . . . Ägyptische Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nordarabien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Owed: ›aus dem Stamme ausscheidend‹ . . . . . . . .

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Erste Epoche der israelitisch-jdischen Geschichte: vom Aufenthalt in gypten bis zum babylonischen Exil (ca. 1500-586 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Periode: Volkwerdung in der Wüste . . . . . . . . Midjan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wüste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der neue Gottesname . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prophet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Ich, Dein Gott« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Stamm Levi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Heilige Lade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gesetz als Abbild Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schechinah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datierungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zweite Periode: Kampf um das Land und Kampf gegen das Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Eroberung des Landes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die drei Hauptstämme: Benjamin, Juda, Ephraim . . . . Erhaltung der Einheit: die Richter . . . . . . . . . . . . . . Das Heiligtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kämpfe mit den Nachbarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . Edom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richter und Könige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kampf mit dem Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrsager und Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die allmähliche Herausbildung des Prophetentums . . . . . Religiöse Genies und Sozialrevolutionäre . . . . . . . . . . . Die Eigenart der Sprache und des Denkens der Propheten . Der Monolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophetische Rede und Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Analogien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Chochmah-Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zukunft in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judentum und Christentum: der offenbarende Gott und der offenbarte Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Logik der Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Trennung der zwei Reiche: Augustin und Luther . . . . Der Geist der Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Himmelsöffnung offenhalten« . . . . . . . . . . . . . . .

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Epochen der Wiedergeburt . . . . . . Anmerkungen und Literaturnachweise Namenregister . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . .

352 354 357 359

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Epochen der jüdischen Geschichte

Einleitung von H. I. Bach Dr. Leo Baeck hielt die in diesem Band gesammelten Vorlesungen über »Epochen der Jüdischen Geschichte« vom 16. Januar bis 9. Juli 1956 vor dem »Montagsseminar« der Society for Jewish Studies, London. Die Vorlesungen stellen ein in sich geschlossenes Werk dar. Obwohl Dr. Baeck von den vier je etwa tausendjährigen Epochen, in die er die jüdische Geschichte einteilte, nur die erste voll bearbeiten konnte, vermitteln häufige Bemerkungen über die charakteristische Eigenart der folgenden Epochen bis zur Gegenwart ein Gefühl der Vollständigkeit eher als das eines kostbaren Torsos. Zusammen mit dem zweiten Band von »Dieses Volk« 1 stellt diese Vorlesungsreihe Dr. Baecks letzte Arbeit dar. Die Endsätze der abschließenden Vorlesung, gesprochen mit dem Wissen, daß er sie mindestens für einige Zeit nicht werde weiterführen können, obwohl er der Fortsetzung hoffnungsvoll entgegensah, waren tatsächlich die letzten Worte, die er in der Öffentlichkeit aussprach, gerichtet an Hörer weit über die Anwesenden hinaus. Voraussetzungen und Ziel der Vorlesungen Das Thema war der Endphase eines langen und hervorragenden, der Wissenschaft und dem Dienst an den Menschen geweihten Lebens würdig. Dies mag zunächst erstaunlich klingen. Sollte man denn nicht annehmen, die jüdische Geschichte und ihre Epochen seien zu oft dargestellt worden, als daß etwas Neues darüber zu sagen wäre? Tatsächlich jedoch bestanden gute Gründe, das Problem aufs neue anzugehen. Lange Jahrhunderte hindurch, für eine Generation nach der andern, war die Bibel d a s Buch gewesen, das Gefäß der Stimme Gottes, einzigartig, jedem anderen Dokument unvergleichbar auch ihres Alters wegen. Als Grundlage der jüdischen Geschichte war ihre wörtliche Zuverlässigkeit jedem Zweifel enthoben; sie wurde als im wesentlichen von einem Manne, Moses, verfaßt angesehen. Seit hundert Jahren etwa haben diese Ansichten sich von Grund auf geändert. Historische Forschungen und Vergleiche, die viele Einzelheiten der altjüdischen Geschichte klarstellten und erhellten, unterschieden ebenso zwischen Tatsachen und Legenden in der Bibel. Die »Höhere Bibelkritik« seit dem 19. Jahrhundert löste die Einheit des Textes in ein Kunterbunt von Stücken und Fragmenten höchst verschiedenen Alters auf, mit der Genesis unter den späten statt des 211

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ältesten Teiles usw. Das | Gesamtergebnis all dieser verschiedenen Forschungsrichtungen war, daß, je mehr Einzelheiten der altjüdischen Geschichte deutlich wurden, desto mehr ihre Umrisse verschwammen – eine Reihe von Ruinen statt einer zusammenhängenden Folge. So war reichlich die Veranlassung gegeben zu dem Versuch, diese Geschichte auf eine sichere Grundlage zu stellen. Das unternahm Dr. Baeck in diesen Vorlesungen. Zu solcher Verwischung der Hauptlinie, wie sie auch auf anderen Gebieten der Geschichte einem begegnet, kam nun aber der jüdischen Geschichte gegenüber eine unmerkliche Voreingenommenheit. Für die christlichen Kirchen und für Christen ist das Verständnis von Juden und Judentum mehr oder weniger stets davon beeinflußt gewesen, daß das Weiterleben der Juden nach der Entstehung des Christentums ein ernstes Problem, eine Herausforderung, darstellt, während andererseits die gemeinsame biblische Grundlage der beiden Religionen sie verbindet. Die traditionelle christliche Reaktionsweise, bereits im zweiten Jahrhundert von Justin formuliert, beschränkte die Anerkennung von Juden auf die biblische Vergangenheit und auf die messianische Zukunft, verweigerte sie aber für jede Gegenwart. Sie würdigte die Juden des Altertums als Gottes Offenbarungsvolk und als die Gemeinschaft, der Jesus entstammte. Am Ende der Tage würden sie wiederum zu ihrem Rechte kommen zu Ehren des göttlichen Namens, bei dem ihnen ewiges Leben zugeschworen war. Für die Dauer der menschlichen Geschichte jedoch wurde den Juden nach Justins Meinung jeder Wert und Sinn über die bloße Existenz hinaus abgesprochen, da sie sich außerstande fühlten, Jesus als Erlöser anzuerkennen. Ideologien wie diese versteifen sich im Laufe der Zeit zu Haltungen und erhalten sich mit Leichtigkeit selbst in der heutigen säkularisierten Welt, weil sie als selbstverständlich angesehen werden. Darum ist die nachbiblische Geschichte der Juden außerhalb eines Spezialistenkreises so gut wie unbekannt, wird der Beitrag des Judentums zur Kultur des Westens kaum je wirklich verdientermaßen anerkannt. Wie könnte die innere Einheit jüdischen Lebens über Jahrtausende hin auch begreiflich werden, wenn, wie z. B. in Hochschulstudien, das Fach unter drei verschiedene Disziplinen aufgeteilt ist? Die biblische Periode ist der christlichen Theologie übertragen, die ältere Geschichte einer der vielen Unterabteilungen historischer Forschung, während die nachbiblische Zeit, unter dem Namen Judaistik, einen dunklen Winkel des akademischen Gesamtaufbaues einnimmt. Weit über dieses Übersehen ihrer inneren Einheit hinaus aber sind seit dem 19. Jahrhundert entschlossene Ver212

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suche gemacht worden, diese Geschichte zu entwerten, ja, sie zu einer lediglich formalistischen Orthodoxie zu reduzieren, indem man es unternahm, die Propheten und ihre universale Verkündigung davon abzutrennen. Bald wurden die Propheten den Persern zugeschrieben (de Gobineau), bald den Babyloniern (Friedrich Delitzsch) oder – mit ›Rassen‹begründungen – den Hettitern (H. St. Chamberlain). Diese Verdrehungen fanden ihren Höhepunkt in der Beschimpfung und Karikatur der jüdischen Geschichte | durch Nazi-»Historiker«. Kein Wunder darum, daß die Einheit und der Sinn dieser Geschichte für Leo Baeck von der gleichen ernsten Bedeutung waren wie deren historische Begründung. Das Problem der Einheit der jüdischen Tradition, jener »inneren Einheit, welche Zeiten verbindet«, hatte ihn fast lebenslang beschäftigt. In seinem Buch »Das Wesen des Judentums« (1905) war er zu dem Ergebnis gekommen, das Wesen des Judentums bestehe eben in seiner Tradition, also in der Gesamtheit seiner Geschichte eher als im Werk großer Einzelner oder schöpferischer Epochen. Als er sich in seinem letzten Lebensjahr diesem Problem aufs neue zuwandte, fragte er nicht nur nach einem vereinheitlichenden Prinzip in einer Geschichte, die so lang und so verschiedenartig ist wie die der Juden und des Judentums, sondern nach einem, das gleichzeitig die Unterscheidung von Perioden oder Epochen in dieser Geschichte ermöglichen würde. Darum fand er in diesen Vorlesungen eine weitere und tiefere Antwort. In einer lebhaften Auseinandersetzung mit den Geschichtstheorien von Hegel, Marx, Spengler und Toynbee erreicht er eine neue Geschichtsanschauung, eine Perspektive, die über die einengende Analogie mit dem Kreislauf natürlichen Wachsens und Vergehens hinausreicht. Er kennzeichnet das prophetische Judentum als eine »geistige Revolution«, wie man sie im materiellen Bereich mit der Entdeckung der Elektrizität als einer vorher unbekannten Kraft- und Lichtquelle vergleichen könnte. Eine Grundidee, so führt er aus, einer der wenigen »großen Gedanken« der Menschheit, steht im Mittelpunkt, ist von gleich entscheidender Bedeutung in allen Epochen der jüdischen Geschichte und stellt die Verbindung zwischen ihnen dar: die Idee einer höheren Welt, der der göttlichen Offenbarung und Gesetzgebung, die diese Welt durchdringt, formt und einigt. Perioden der jüdischen Geschichte entstehen darum durch »Wiedergeburten« dieser zentralen Idee, durch ihre Renaissance in immer neuen Formen, die eine schöpferische Antwort auf die Notwendigkeiten jedes neuen Zeitalters geben. Diese Anschauung wird sowohl der Kontinuität 213

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wie dem Wechsel in der jüdischen Geschichte gerecht, so daß diese ihre beiden Aspekte darin voll lebendig werden. Von dieser im ersten Kapitel der Vorlesungen gelegten Grundlage aus kann nun die geschichtliche Einzelanalyse beginnen. Der Historiker in Leo Baeck geht von der Beobachtung aus, daß in alten Texten geographische Namen zuverlässig sind, während biblische Persönlichkeiten der Legende angehören mögen. Indem er zunächst nur Ländernamen wie Ägypten oder Babylonien als Ausgangspunkt benutzt und historische Gegebenheiten und archäologische Funde dazu in Beziehung setzt, gelingt es ihm, Ort und Zeit des Beginns der israelitischen Geschichte zu bestimmen. Wiederum gibt ihm eine geographische Überlegung – über die beherrschende Stellung der Bergstämme gegenüber denen in der Ebene – den Schlüssel zu einem Überblick über die Hauptlinien dieser Geschichte. Dann aber verbinden sich der Sprachwissenschaftler, der Theologe, der Philosoph und der homo religiosus in Baeck mit dem Historiker zur Klärung der spezifischen Eigenart | der altjüdischen Religion in leuchtenden Kapiteln über die Bedeutung des Gottesnamens, die Schechina (die Glorie und die Gegenwärtigkeit Gottes), das Heiligtum, das, nicht ortsgebunden, nur die Zehn Gebote, aber kein Bildnis der Gottheit enthält, und die Propheten. Eine Reihe von Vergleichen mit den führenden Kulturen über die Zeitalter hin führt die dauernde Bedeutung des Judentums vor Augen. Das innere Ziel dieser Vorlesungen mag vielleicht mit den Worten bezeichnet werden: »Judentum als eine geistige Macht in der Weltgeschichte«. Ein weltgeschichtlicher Blick durchdringt die ganze Reihe der Vorlesungen. Wieder und wieder fühlte ich mich beim Hören durch den mühelosen Reichtum an historischen Beispielen und die Fülle tiefer Einsichten an Burckhardts beste Leistungen erinnert (wenn auch ohne seinen Pessimismus). Um nur einiges zu erwähnen: Der Unterschied zwischen Christentum und Judentum wurde erklärt als der zwischen dem offenbarten Gott und dem offenbarenden Gott; es gab faszinierende Charakteristiken der altägyptischen, babylonischen und griechischen Kulturen; der griechische Denk- und Schreibstil z. B. wurde entwickelt aus der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes »Periode«, »Satz«, als ein um einen Gegenstand »Herumwandeln« in immer engeren Kreisen, gegenüber dem biblischen Stil, der direkt auf den Mittelpunkt zugeht. – Auch die Schlußkapitel über die Propheten gehören zu den Höhepunkten der Vorlesungen.

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Das Montags-Seminar Die Teilnehmer des Montags-Seminars setzten sich, glücklicherweise vielleicht, ungefähr je zur Hälfte aus Rabbinerkollegen und Schülern Baecks und aus Laien zusammen. Das Seminar entstand aus einer kurz vor dem letzten Krieg von Rabbiner Dr. H. Reinhart begründeten Studiengruppe, in der Flüchtlingsrabbiner, entwurzelt und noch ohne neue Gemeindepflichten, sich trafen und ihre beruflichen Studien fortführen konnten. Als nach dem Kriege Baeck, aus dem Konzentrationslager gerettet, nach England kam, fand er hier eine glückliche Bereitschaft für seine Lehrtätigkeit vor. Der Hörerkreis seiner wöchentlichen Vortragskurse erweiterte sich bald durch die Zulassung besonders interessierter Laien, nicht ausschließlich Juden; doch blieb es eine eng verbundene Gruppe mit einer Atmosphäre freundlicher Intimität und geistiger Hingabe. Viele der Seminarmitglieder lebten auf diesen Montagmorgen hin, das Seminar war ihre geistige Heimat. Die Vorlesungen wurden, bis auf eine, deutsch gehalten, da dies den älteren Mitgliedern wie auch Dr. Baeck am leichtesten fiel und auch die englischen Mitglieder Deutsch verstanden und sprachen. Die englische Vorlesung – aus Höflichkeit gegen einen amerikanischen Gast – fand nach einer Pause von zwei Monaten statt und enthielt im wesentlichen einen Rückblick auf die bis dahin gehaltenen und einen Umriß der folgenden Vorlesungen. Die Zusammensetzung des Hörerkreises führte den Vortragenden zu zwei Arten von Randbemerkungen, wissenschaftlichen und populären. Beide, obwohl | nicht selten, durchbrachen nie die klargehaltene Linie der Darstellung. Abschweifungen beider Typen, sei es über die Datierung des Deuteronomiums oder sprachliche Fragen oder andererseits Bemerkungen über Rembrandts Gemälde oder die Psychologie des Genies, wandten sich an ein Interesse des Allgemeingebildeten, das auch der ganzen Behandlung des Stoffes zugrunde lag. Sein ganzes Berufsleben hindurch und ohne je Konzessionen am Niveau seiner Arbeit zu machen, hatte Baeck ihre Ergebnisse in den Dienst all derer gestellt, denen es aufrichtig um Wahrheit zu tun war, und diese Vorlesungen bedeuten darin keine Ausnahme. Sorgsam vorbereitet, aber frei gehalten, mit nur so viel Notizen, wie auf ein Zettelchen von der Größe eines Bahnbillets gingen, aus der Westentasche gezogen, übten die Vorlesungen eine starke, persönliche Wirkung aus. Durch die gesammelte Macht der Persönlichkeit vermittelten sie oft das, was der Vortragende im Sinne hatte, 215

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über das hinaus, was er tatsächlich sagte. Bei der Herausgabe des Textes habe ich in dieser Hinsicht eine erstaunliche Erfahrung gemacht. Als Baeck über den Einfluß der Wüste auf die Volkwerdung der Israeliten vor ihrer Ankunft am Berge Sinai sprach, erwähnte er, er sei selbst zu kurzem Aufenthalt in der Wüste gewesen. In meiner Erinnerung und der anderer Mitglieder des Seminars hatte er diesen Eindruck beschrieben, die Weite einer hügeligen, kahlen Steppe, deren Grenzenlosigkeit das Gefühl der Gegenwart eines unsichtbaren Wesens hervorief, bei Tag und, unter einer Vielzahl leuchtender Sterne, bei Nacht. Als ich die Übertragung dessen las, was er wirklich gesagt hatte, gaben die Worte nur einen Bruchteil dessen wieder, was vermittelt worden war. In diesem intimen Kreise fühlte Baeck sich wohl. Daher enthalten die Vorlesungen eine Reihe persönlicher Bemerkungen, fast einzigartig in dieser Beziehung in seinen Werken und selbst in den meisten seiner Briefe; bei all seiner großen Höflichkeit und persönlichen Sorge selbst für Fremde, die der Hilfe bedurften, vermied er scheu den Ausdruck von Gefühlen. Die Vorlesungen wurden belebt bald durch Reiseerinnerungen aus dem Nahen Osten, bald durch sachdienliche Zitate aus dem unveröffentlichten Manuskript eines Schulfreundes, Eugen Taeubler, oder durch einen Hinweis auf Albert Einstein, einen alten Bekannten. Doch selbst in rein sachlichen Feststellungen konnte plötzlich das Persönliche darin hörbar mitschwingen. Ein Gefühl der Verjüngung nach der Erholung von einem Verkehrsunfall kam zum Ausdruck in dem fast triumphierenden Ton des Satzes: Jugendlichkeit »braucht nicht aufzuhören, soll nicht aufhören« selbst im hohen Alter. In Baecks liebevoller Kennzeichnung des Kindesalters (»Ein Kind lügt nie«, es »dichtet nur«) konnte man sein Entzücken am Spielen mit seinem kleinen Urenkel fühlen. In seiner strengen Behandlung Luthers (»›Zwang, Zwang‹ ist sein letztes Wort – man sollte das Vorkommen dieses Wortes in seinen Schriften zählen«) hallte die Erfahrung des Konzentrationslagers wider, in dem die Nazis versucht hatten, diesen geistigen Repräsentanten des deutschen Judentums für immer zum Schweigen zu bringen, der nach dem Kriege, ungebrochenen Gei-|stes, zu einer der hervorragenden Stimmen der Menschlichkeit in der Welt werden sollte. Manche Sätze in diesen Vorlesungen waren gleichzeitig Glaubensbekenntnisse. Die Tatsache der Individualität wurde »das Wunder aller Wunder« genannt, selbst und gerade für jene, die »Wunder in der strengen Bedeutung dieses Wortes von sich weisen wollen«. Die Welt des Rechnens, in der Wissenschaft wie im täglichen Leben, 216

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wurde scharf kontrastiert mit der Welt der Ideale: diese Welt, »die Welt der Treue, der Güte, der Liebe, der Zuversicht«, ist, jedem Anschein entgegen, »die eigentliche Welt«. Indem er dem humanistischen Idealismus, in dem er aufgewachsen war und den er teilte, diesen Tribut zollte, fühlte Leo Baeck jedoch den religiösen Unterton darin und brachte ihn zum Ausdruck. Selbst ebenso erfahren in Verwaltungsfragen und schwierigen Verhandlungen wie auf geistigem Gebiet, machte er deutlich klar, daß er nicht hochfliegende Ideale ohne Beziehung auf die tägliche Wirklichkeit im Sinne hatte. Wieder und wieder betonte er, daß der Kern der Botschaft der Propheten in sozialer Verantwortlichkeit liegt, konkret auf individuelle Fälle angewandt. Aus dieser Überzeugung heraus zeigt er ein Maß an Sympathie für soziale Revolutionäre, das man in diesem freundlichen, liebenswürdigen und höflichen Mann nicht vermutet hätte. In dem gleichen Sinn wurde die Auserwählung Israels, als bedingt durch die Ausübung sozialer Verantwortlichkeiten, als »das große Wenn« bezeichnet (»Wenn ihr Meinen Geboten gehorcht …«), das zweite Jesaia-Kapitel »die Magna Charta der Menschheit« genannt. Aus diesem tiefen Sinn für persönliche Verantwortung charakterisierte Leo Baeck prophetisches Denken als in gewissem Sinne »monologisch«, als eine Auseinandersetzung mit der göttlichen Stimme im eigenen Herzen. Erst nach langem Hören nach innen, so fühlte er, sprachen die Propheten, erst wenn sie »eine Gewißheit« erreicht hatten, wie hart auch immer der innere Kampf gewesen war. Darin spiegelte sich sicherlich seine eigene lebenslange Erfahrung wider. Wenn er einerseits eine wesentliche Grundlage des Glaubens in »großen Gedanken« sah, so wies er doch auch auf dessen nicht-rationale Eingebung hin, wenn er über die »wundervolle« Gegenwart der Schechinah sprach, des göttlichen Geistes, der selbst auf einem einzelnen ruhen kann in Augenblicken völliger Hingabe. Und mit all seinem Respekt vor den griechischen Meistern des Denkens und seiner Neigung zu ihnen schrieb er doch den Niedergang der altgriechischen Kultur einem Mangel an Enthusiasmus zu und im besonderen dem Fehlen jeder Hoffnung auf die Zukunft – die Zukunft, die, im Glauben des Judentums, der Gegenwart »uns, die Hand reicht«. Das sind einige der Sätze, in denen ein persönlicher Ton zu hören war. Baecks Konzentrationskraft blieb ungetrübt, sein Blick klar, seine Weisheit erstaunlich bis zur letzten der Vorlesungen. Nur das Gedächtnis des 83jährigen für Namen und Zitate war gelegentlich vermindert (diese sind daher sorgfältig nachgeprüft | worden). Er hatte sich über Neuerscheinungen und -entwicklungen auf seinen Interessengebieten auf dem laufenden gehalten, soweit er konnte. In die217

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sen Vorlesungen jedoch beschäftigten ihn mehr die bleibenden Gehalte als die zeitgenössischen Aspekte an den Problemen, über die er sprach. Ein alter, weiser Mann überschaute mit weitreichendem Blick die Jahrhunderte, in die Vergangenheit zurück und vorwärts in die Zukunft, manchmal an Stellen verweilend, die ihn in seiner Blütezeit vor dreißig Jahren beschäftigt hatten. Er selbst war ein lebendiges Verbindungsglied zwischen zwei Zeitaltern, und diese Vorlesungen mögen vielleicht einst als ein Brückenbau von der Vergangenheit in die Zukunft erscheinen. Der Text Die Vorlesungen waren auf Tonband aufgenommen worden, und ein daraus übertragenes Schreibmaschinenmanuskript wurde von Rabbiner Dr. C. E. Cassell geprüft, der die Aufnahme veranlaßt hatte. Dieses Manuskript bildet die Grundlage der Ausgabe. Ich bin Herrn Dr. Cassell zu Dank verpflichtet, der mir die noch in seinem Besitz befindlichen Tonbänder der letzten sieben Vorlesungen zur Verfügung stellte. Sie sind nochmals mit dem Ergebnis einer Anzahl weiterer Textverbesserungen verglichen worden. Die Herausgeberprobleme, die zu lösen waren, ergaben sich im Grunde aus dem Übergang vom gesprochenen Wort zum gedruckten Text. Zu Beginn einer Vorlesung wurde regelmäßig eine Zusammenfassung des Inhalts der vorhergehenden gegeben, was nach einer Woche oder gar längerer Pause erwünscht war. Eine fast wörtliche Wiederholung nach jeweils etwa sechs Seiten wäre jedoch unnötig und störend. Diese Zusammenfassungen, ebenso wie andere Wiederholungen, enthielten nun aber häufig wesentliche Zusätze oder Abwandlungen, manchmal ganze Sätze, meist aber kurze Bemerkungen oder Erweiterungen. Während die Wiederholungen ausgelassen wurden, sind solche Zusätze in den Text eingefügt oder zwei Parallelversionen zusammengefaßt worden; so gibt S. 17, Z. 12– 17 eine gute Vorstellung von der Art solcher Zusätze. Manche Kapitel nahmen mehrere Vorlesungen in Anspruch. In solchen Fällen wählte Baeck einen Teil aus, der in einer Stunde zu beenden war, und fuhr das nächste Mal in einer anderen Richtung fort. Da das Ende eines Kapitels manchmal zu Ende der ersten Vorlesung vorausgenommen und am Schluß nicht wiederholt wurde, ist die beabsichtigte Linie, die überall deutlich war, im gedruckten Text durch Umstellung solcher Teile hergestellt worden. Die Rohübertragung aus den Tonbändern enthielt nicht allzu viele Satzabtrennungen, noch weniger Kommas und nur vereinzelte Ab218

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sätze, geschweige denn Kapitelüberschriften oder Zwischentitel, und sah dementsprechend so sonderbar und schwerverständlich aus, wie eine solche Nachschrift eben erscheint. Die Textgestaltung war relativ leicht in beschreibenden Teilen konkreten Inhalts. Absätze jedoch, in denen bewegte Rede in langen, locker ineinander übergehenden | Sätzen sprach, mit Seitenbemerkungen durchsetzt, konnten einen nahezu wie ein sinnloses Dickicht von Wörtern anmuten, besonders wo ein wichtiger Ausdruck verhört worden war. Dann war es von großem Nutzen, die Vorlesungen gehört zu haben und lange mit Baecks Sprechweise vertraut gewesen zu sein, um ihren Sinn zu erfassen und – fast ausschließlich durch präzise Interpunktion – verständlich zu machen. Eine größere Lücke – ein Absatz, in dem nur einzelne Wörter hörbar waren (S. 87, 2. Abs.) – konnte gefüllt werden mit Hilfe der Aufzeichnungen von Seminarmitgliedern. Drei kurze Stücke (S. 59 f., 79, 81 f.) wurden aus der englisch gehaltenen Vorlesung ins Deutsche zurückübersetzt. Worte oder Wendungen, die in der Übertragung oder den Tonbändern selbst zweifelhaft blieben, sind durch (?) gekennzeichnet. Während runde Klammern sonst ausschließlich Baecks eigenen Seitenbemerkungen innerhalb eines Satzes vorbehalten sind, werden Zusätze des Herausgebers wie üblich durch eckige Klammern gekennzeichnet, wie etwa Wörter, die im Text fehlen, Vervollständigung unbeendeter Sätze oder Übergänge zwischen Absätzen, die die Linie der Darstellung verdeutlichen. Einige eindeutige Versprechungen wurden verbessert, wie etwa eine Erwähnung ägyptischer Keilschriften in einem Satz, worin babylonische und ägyptische Schriftformen zusammen erwähnt wurden, ein irrtümlicher Vorname von Niebuhr usw.; in anderen Fällen wurde die Korrektur in den Anmerkungen gegeben. Im Wortlaut des Textes trat das Problem der Wiederholung erneut auf. Baeck, als erfahrener Dozent und Lehrer, vertrat sogar theoretisch die Meinung, was man nicht dreimal gesagt habe, werde nicht behalten. Dem folgte er selbst, wobei er jedoch dauernd den Blickwinkel wechselte, so daß viele Facetten des Themas aufleuchteten. Da auch seine Aufsätze diese Eigenart teilen, fühlte ich mich zu drastischen Kürzungen aus diesem Grunde nicht berechtigt. Nur sehr selten mußte dem Übergang vom Hören zum Lesen Rechnung getragen werden, wie etwa durch Zusammenziehen einer viermaligen Wiederholung des gleichen Wortes in einem kurzen Satz in eine zweimalige. Ein Meister des Stils wie Baeck hätte selbst das gesprochene Wort vielleicht viel durchgreifender für den Druck redigiert. Diese Gedenkpublikation jedoch sollte den persönlichen Ton der 219

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Vorlesungen bewahren, soweit es nur möglich und mit der klaren Wiedergabe ihres Vermächtnisses vereinbar war. Die in der Fassung von Textzitaten, Stellennachweisen und Anmerkungen von Rabbiner Dr. Max Gruenewald (New York), Dr. Ellen Littmann (London), Dr. I. Joel (National- und Universitätsbibliothek Jerusalem) und Professor Paul Seligman (Ontario, Canada) empfangene Hilfe möchte ich dankbar anerkennen. Besonderer Dank gebührt dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der auf Antrag von Herrn Heinz Galinski, Berlin, zu den Kosten der Drucklegung großzügigerweise beigetragen hat; Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Karl Heinrich Rengstorf für die Anteilnahme, die er dieser Publikation gewidmet hat, sowie für deren Aufnahme in die STUDIA DELITZSCHIANA.

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| Perioden der Jüdischen Geschichte: das Problem Um für das Problem von Perioden in der jüdischen Geschichte eine Antwort zu finden, müssen wir uns erst darüber klar werden, was unter dem Begriffe »Periode«, der aus dem Griechischen stammt und in alle modernen Sprachen übergegangen ist, zu verstehen wäre. »Periode« meint einen in sich geschlossenen Kreis, in sich geschlossen, aber doch nicht selbständig für sich, nicht für sich allein zu betrachten, sondern im Zusammenhang mit anderen Kreisen, die innerhalb eines Gesamtkreises sind: also einen einzelnen Kreis innerhalb eines Größeren, eines großen Ganzen. Perioden im Weltall Dementsprechend spricht man, um das äußerste Ende zuerst ins Auge zu fassen, von Perioden im Weltall, im Universum, im Kosmos. Diese Frage beschäftigte die Astronomie seit altem, und es wurde die Frage gestellt und zu beantworten versucht, ob es innerhalb des Universums einzelne Kreise gibt, welche beginnen und enden, so daß am Anfang des Kreises sich das Ende schließt, oder, um es nüchterner auszudrücken, ob es innerhalb des Weltalls Welten gibt, welche geboren werden und sterben, welche anfingen und aufhörten oder eines Tages aufhören werden. Man hat in der astronomischen Physik diese Frage mit dem Wort Entropie bezeichnet: »Entropie des Weltalls«, das heißt, ob die ungeheuren Wärmemengen und Wärmequellen in irgendeinem Gestirn oder Gestirnsystem eines Tages sich verbrauchen werden. Und es sind zwei Antworten darauf bisher von der Physik gegeben worden. Die eine Antwort sagt: Diese Wärmemengen und -quellen werden eines Tages sich verbrauchen. In den leeren, nüchtern ausgedrückt: kalten Weltenraum strömt immer mehr Wärme aus, und eines Tages, eines astronomischen Tages, der ja vielleicht Millionen Jahre zählt, wird diese Wärmemenge aufgebraucht sein. Das heißt: dieses Weltsystem wird erkalten, es wird nicht das, was wir Leben nennen, auf ihm sein können. So hat manchmal diese Frage der Entropie des Planeten, auf dem wir leben, der Erde, die Geister beschäftigt: ob diese Wärmemenge, die innerhalb der Erde ist, die durch die Sonnenbestrahlung immer bereichert wird, eines Tages verbraucht sein und die Erde dann das sein wird, was der Mond heute ist, ein erkalteter Stern, der um einen anderen Stern sich herumbewegt. Die andere Antwort ist die, daß diese Erkaltung, dieser völlige Ver221

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brauch der Wärmeenergie, nicht eintreten wird, daß immer wieder Vorgänge sind innerhalb dieser Wärmemenge, Explosionen und ähnliches, und immer wieder ein Ausgleich erfolgt zwischen den Wärmemengen in den einzelnen Gestirnen, die von einem Zentrum herkommen, so daß dieser Zeitpunkt nicht eintreten, sondern die Wär| me vielleicht wechseln, zunehmen, etwas abnehmen, aber doch immer erhalten bleiben wird, so daß das Leben immer bleiben wird. Das sind die beiden Antworten. Und kein Mensch hat lange genug darüber nachdenken können, und man hat keine Experimente darüber anstellen können, die eine oder die andere Antwort zu beweisen. Aber es ist eine Tatsache, daß es gewisse Entwicklungen innerhalb des Weltensystems doch wohl gibt, daß einzelne Sterne doch erkaltet sind. Das kann einen doppelten Grund haben, wie die Astronomie sagt: entweder daß eben doch die Wärmemenge, die Energie, sich verbraucht hat oder daß von einem zentralen Gestirn durch die Bewegung um sich selbst äußere Teile abgesprengt wurden, dadurch ohne Zusammenhang mit dem Zentrum der Wärmeenergie sind und darum erkalten, da sie von dem Zentrum aus nicht weiter gespeist werden. So sind die Monde, von denen einer sich um die Erde, mehrere sich um Jupiter und andere Gestirne bewegen, abgesprengte Teile, losgelöst vom Zentrum der Energie und darum erkaltet. Und auch das ist kaum im Zweifel, daß, wie einer der modernen Physiker, ein Franzose, es ausdrückte, die Gestirne die großen Laboratorien sind, in denen die Natur ihre gewaltigen Experimente vollzieht. Immer wieder liest man, wie durch astronomische Beobachtungen es sehr wahrscheinlich gemacht worden ist, daß auf irgendeinem entfernten Gestirn sich ungeheure Explosionen vollziehen. So scheint ein Beginnen zu sein, und wo ein Beginnen ist, könnte, kann auch ein Ende sein. Aber diese Frage, ob es Perioden innerhalb des Weltalls gibt, d. h. also, ob einzelne Weltkreise, einzelne Weltsysteme, die entstanden sind, eines Tages vergangen sind und kaum eine Spur von ihnen bleibt oder eines Tages vergehen werden, ist nach dem, was die Wissenschaft bisher erkannt hat, nicht zu beantworten. Es kann Perioden im Weltsystem geben; es ist auch möglich, daß es sie nicht gibt. Perioden im Leben des Einzelmenschen Um nun von dem äußersten Ende zum nächsten überzugehen: Das menschliche Individuum. Gibt es im menschlichen Leben, im Leben 222

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des einzelnen für sich bestehenden Individuums, Perioden, d. h. abgeschlossene Kreise innerhalb des ganzen Lebens, Kreise, von denen einer sich an den anderen fügt? Schon das eigene Erlebnis und die erste Beobachtung zeigt, daß ein Leben, wenn es gewisse Jahrzehnte zu vollenden erreicht hat, Abschnitte hat: Kindheit, Jugend, Zeit der Reife, Greisenalter. Und um das bald vorwegzunehmen: das ist für viele, welche über die Frage von Perioden in der Geschichte von Völkern nachdachten, das Schema gewesen. Auch ein Volk hat seine Kindheit, seine Jugendzeit, seine Zeit der Kraft und Reife und seine Zeit der abnehmenden Kraft, des Greisenalters, bis dann das Volk aufhört. Aber um eines zunächst hervorzuheben: Wenn von Kindheit, Jugend, Zeit der Reife, Alter als in sich geschlossenen Abschnitten gesprochen wird, so ist das | nur, wie das römische Wort lautet, cum grano salis, mit einem Vorbehalt, zu verstehen. Der Vorbehalt ist der, daß nicht eines Tages etwas aufhört und das andere anfängt. Wann hört das Kindsein auf, wann beginnt der junge Mensch, wann hört die Jugend auf, wann beginnt die Zeit der Kraft, wann hört die Zeit der Kraft auf, wann beginnt das Greisenalter? Das ist nicht der eigentliche Einwand. Der eigentliche Einwand ist der, daß jede frühere Zeit im Individuum weiterdauert. Das Kind stirbt nie, sondern lebt im jungen Menschen weiter, der junge Mensch stirbt nie, sondern lebt weiter, und die Zeit der Kraft stirbt nicht ab, sondern lebt weiter. Hier gibt es selbstverständlich die Perioden und die Individuen, d. h. die Besonderheiten in diesem Fortleben, in dem Abnehmen oder Weiterdauern von Kindheit, Jugend, Zeit der Kraft. Eine Periode im Leben des Menschen ist also nicht ein abgeschlossener Kreis, sondern etwas, was sich in weitere Perioden, in fernere Jahre fortsetzen kann. Und die Art, wie es sich fortsetzt, ob die Werte einer Lebenszeit in der anderen fortleben oder ob sie verkümmern oder ob sie vielleicht stehen bleiben, davon hängt Inhalt und Wert und Charakter eines einzelnen Lebens ab. Man kann sagen: alles, was Genie oder genialer Zug genannt wird, ist im wesentlichen ein Fortdauern der Kindeszeit. Das Kind ist der große Künstler, es erlebt alles. Es ist nicht nur so, daß der Mensch nie im Leben wieder so viel lernt, so viel in sich aufnimmt, wie er als Kind in sich aufgenommen hat. Er lernt die Dinge sehen, die Dinge unterscheiden dadurch, daß er sie sieht; er lernt – was die Bibel von dem ersten Menschenpaar sagt – den Dingen Namen geben; er lernt eine Sprache; er lernt, innerhalb der Sprache Wörter miteinander zu verbinden, Sätze miteinander zu verbinden. Er lernt, Verbindungen in der Außenwelt herzustellen, zwischen Nahem und Fernem zu un223

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terscheiden. Zu Beginn ist für ein Kind alles nahe, alles greifbar. Das Kind lernt dann allmählich, zwischen dem, was greifbar, was nahe ist, und dem, was jenseits der Reichbarkeit ist, fern ist, zu unterscheiden. Niemals, und wenn sein Leben noch so lang sei, lernt der Mensch so viel, wie er in den etwa zwölf oder dreizehn Jahren der Kindheit gelernt hat. Und das Kind hat die Gabe der Dichtung, der produktiven Phantasie. Es baut auf: die Einbildungskraft läßt alles überhandnehmen. Man sagt bisweilen, ein Kind lügt. Das ist nicht wahr. Ein Kind lügt nie. Die Phantasie in einem Kinde läßt zwischen dem, was der Mensch im späteren Leben ›tatsächlich‹ nennt, und dem, was er später »erdacht« nennt, noch nicht unterscheiden. Alles ist in derselben Linie; die Phantasie des Kindes obwaltet. Erst später, wenn der Intellekt sich entwickelt hat, beginnt die Zeit, wo ein Mensch vielleicht lügt. Aber ein Kind dichtet nur, es lügt nicht. Sie wissen, Plato hat in seinem Buch »Von den Gesetzen« 2 die Dichter nicht in den Staat einlassen wollen, auch den Homer nicht – er sagt: die Dichter lügen. Das ist bei diesem genialen Psychologen ein Irrtum gewesen. Ein Dichter lügt nicht, und darum lügt auch das Kind nicht: es ist die | Phantasie, welche arbeitet. So viel wie von dieser dichterischen Kraft des einzelnen Menschen in ihm bleibt, sein ganzes Leben hindurch, so viel von einer gewissen Genialität. Der sogenannte Philister, der Philistine, ist der, in welchem die Kindheitskraft so abgenommen hat, daß fast nichts mehr übrig bleibt. So ist es darum nicht ein Enden der Kindheit, sondern ein Weiterdauern – oder vielleicht die Möglichkeit eines Weiterdauerns – der Kindheitsbegabung, der Kindheitsgenialität, der Kindheitsnaivität. Wenn man von Naivität spricht, dann denkt man meist an das Kind. Es gibt aber auch eine Naivität der Reife – die letzte künstlerische Vollendung ist auch eine Naivität. Darum, um das schon vorwegzunehmen, sind alle Geschichtsphilosophien, welche sich darauf aufbauen, daß ein Volk seine Kindheitszeit schon gehabt hat und diese Kindheitszeit dann aufhört, irrig, weil der Vergleich nicht stimmen kann: schon im Individuum hört die Kindheit nie ganz auf und braucht sie nicht ganz aufzuhören. Und ebenso ist es mit der zweiten ganz großen Periode, der Jugendzeit, in der sich das entwickelt, was wir Intellekt nennen. Intellekt ist die Zwischenschaltung zwischen der Außenwelt und der Innenwelt, so daß alles von der Außenwelt auf etwas im Menschen stößt, an dem es sich bricht, so daß es nicht wie im Kinde unmittelbar in den Menschen eindringt. Jeder jugendliche Mensch lebt ja darum in einem doppelten Leben und mit einem doppelten Ich, mit dem 224

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Leben in ihm und mit dem draußen in der Außenwelt, mit dem Ich dieses Lebens in ihm und dem Ich des Lebens draußen, und die beiden widersprechen sich oft. Sie wissen, es gibt eine geistige Erkrankung, welche Schizophrenie genannt wird, wörtlich übersetzt »Spaltung des Gehirns«, – zwei »Ich« im Menschen. Aber etwas von dieser Schizophrenie ist in jedem Menschen, wenn er jung ist. Und ist die große Begabung in ihm, so ist es die des erwachenden Intellekts. Nun kann es so sein, daß irgend etwas im Übermaße, unproportioniert, weiterdauert. Darum gibt es ja das im Leben, was man Infantilismus nennt, daß der reife Mensch zu sehr Kind ist – Kind nicht im genialen, sondern im nichtgenialen Sinn –, und es gibt etwas, was man Juvenilismus nennt, sozusagen der ewige Unterprimaner, »the seventh-grade man« sein ganzes Leben, wo irgend etwas, was ein Vorzug war, unproportioniert, außerhalb seines Verhältnisses zum Ganzen weiterdauert. Wie ja auch im Alter sich das entwickeln kann, daß, was das Alter als Eigenschaft hat, sich unverhältnismäßig entwickelt, der sogenannte Senilismus. Aber, um auf den Ausgang zurückzugehen: – die Jugend hört nie auf. Sie soll nicht aufhören; es soll diese Fähigkeit, Ideale zu haben, weiter bestehen. »Ideale« heißt doch, ein Leben in sich zu haben, mag die Außenwelt auch widersprechen, zu hoffen, zu erwarten, selbst wenn die Außenwelt widerspricht – wenn diese Gabe fortdauert. Das ist eine der großen Gaben des Menschen. Alle wissenschaftlichen Leistungen im höchsten Sinne des Wortes gehen darauf zurück. | Also auch die Jugend hört nicht auf. Und um das wieder vorwegzunehmen: Wenn viele Geschichtsphilosophien das auf das Völkerleben anwenden und sagen, »eines Tages hört nun die Jugend auf, so wie die Kindheit eines Tages aufgehört hatte«, so ist das nur mit allem Vorbehalt aufzunehmen. Denn die Jugend hört nicht auf, braucht nicht aufzuhören, soll nicht aufhören. Und so ist es auch mit den Jahren der Reife. Sie können fortdauern, sie brauchen nicht aufzuhören. An einem kann es besonders deutlich illustriert werden: an den Menschen, in denen die Kindheitskraft am stärksten weiterdauert, und an denen, in denen die Kraft der Jugend bleibt – an den Genies der Kunst und der Wissenschaft. Man kann diese Frage auch so ausdrücken: wann haben solch geniale Menschen ihr Höchstes erreicht? Es gibt solche – dieses Jahr und dieser Monat, die uns an Mozart erinnern, gibt ja ein Beispiel schon –: Mozart hat in der Kindheitszeit, die in die Jugend hineindauerte, sein Höchstes geleistet. Er ist dann jung gestorben, und was drängt sich in dieser kurzen 225

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Zeit zusammen! So daß man kaum es sich denken könnte, daß, wenn er länger gelebt hätte, er noch Größeres hätte erreichen können. Es ist, wie wenn das Leben so intensiv in seiner Energie gewesen wäre, daß diese Energie sich in einer kurzen Zeit verbrauchen mußte. Ähnlich ist es zum Beispiel bei dem Dichter Hölderlin, und überall, in der Literatur und der Kunst aller Völker, sind die Beispiele – Raffael z. B. ja auch. Demgegenüber gibt es Menschen, bei denen erst spät das eintrat, was das bleibende Werk dieser Menschen ausmacht. Wenn wir an Immanuel Kant denken, diesen großen Revolutionär auf dem Gebiete der Philosophie: er war nach unseren Begriffen, und noch mehr nach denen seiner Zeit, ein alter Mann, als das Werk, mit dem seine revolutionäre Leistung begann, die »Kritik der reinen Vernunft«, von ihm niedergeschrieben und veröffentlicht wurde. Dann folgten fast alle zwei, drei Jahre die anderen großen Werke. Wenn wir uns vorstellen könnten oder sollten, Kant wäre – was ja ein Unglück für die Geschichte menschlichen Denkens gewesen wäre – in der Mitte der Fünfziger gestorben, was damals schon ein gewisses Alter war (Sie wissen ja, im letzten Jahrhundert hat die Lebensdauer des Menschen sich verlängert): Kein Mensch hätte etwas von diesem Manne Kant gewußt. Vielleicht einige, die sich mit der Geschichte von Universitäten beschäftigten, hätten gewußt, »in Königsberg hat es einen Professor Immanuel Kant gegeben, der über Astronomie und ähnliches geschrieben hat«. Kein Mensch hätte von ihm gewußt – erst das Alter brachte die große Erfüllung. Und andere Beispiele dafür gibt es auch auf allen Gebieten. Und andererseits wieder Menschen, bei denen immer wieder Kindheit und Jugend neu erwacht sind! Denken Sie an Michelangelo, denken Sie an Goethe und an den vor allem, der wie ein Wunder auch in dieser Beziehung immer ist, an Shakespeare, wo das ein Genie kennzeichnet, was das Wort in den »Sprüchen der Väter« (2,8) nennt ma’jan hamithgaber, »eine Quelle, die immer neu strömt und immer stärker wird«. Ohne Ende strömt bei ihm das Genie, bis eines Tages – und darin ist er auch ein Wunder – er sich selber zu sagen schien: »Nun ist die | Zeit meines Genies beendet«, wo er sich nach seiner Geburtsstadt zurückzog, um dort in der Stille weiterzuleben. Aber es hat immer Menschen gegeben, in denen der Strom strömte: Goethe, Michelangelo, wie gesagt, die großen griechischen Tragiker und Shakespeare vor allem. So sieht man, wie eine Zeit nicht aufhört, nicht aufhören muß, sondern immer wieder sich erneuern kann: daß es gewiß Perioden im Leben des einzelnen gibt, aber Perioden, die nicht abgeschlossene 226

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Kreise sind mit Beginnen und Enden, sondern die sich in sich weiter fortsetzen können bis zuletzt. Und aller Reichtum, vielleicht sogar alle geistige und seelische Gesundheit des Menschen, hängt davon ab, daß sich das alles fortsetzt – daß Kindheit und Jugend nicht aufhören, sondern, wenn dies Wort gebraucht werden darf, wiedergeboren werden. Das macht den Genius, den Künstler aus. Aber etwas vom Künstler, etwas vom genialen Zug kann in jedem Menschen, auch im schlichtesten, sein. Und es gibt ja auch, was nie vergessen werden darf, eine Genialität des Herzens, des Gemütes, eine Genialität des Empfindens: ein Genie, das so viel im Menschlichen bedeutet, ganz ebensoviel und bisweilen noch mehr als alles künstlerische und wissenschaftliche Genie. Das sind die Perioden im Leben des einzelnen. Perioden in der Völkergeschichte Und nun die Frage, zu der unser Thema hinführt: Gibt es Perioden in der Geschichte der Völker? »In der Geschichte der Völker«, das heißt: im Leben der Völker, welche eine Geschichte haben. Sie wissen, es gibt Völker oder, genauer gesagt, Stämme, die nie in eine Geschichtsperiode eingetreten sind. Geschichte beginnt, wenn ein Volk, ein Stamm, eine Sippe über sich nachzudenken beginnt, den Zusammenhang mit früheren Zeiten aufrechtzuerhalten und für spätere Zeiten weiterzuarbeiten und vorzuarbeiten sucht. Das erst ist Geschichte. Uns hatte im vergangenen Jahre die Frage beschäftigt: Wodurch unterscheidet sich der Mensch vom Tiere? Und die Antwort, die versucht worden war, war zunächst die, die Benjamin Franklin, an den ja auch dieses Jahr erinnert, gegeben hat: daß der Mensch »the toolmaking animal« ist, das Lebewesen, welches Werkzeuge verfertigt, welches die Reichweite seiner Glieder ausdehnt mit Hilfe und vermittels des Werkzeuges. Das ist richtig, aber es sagt noch nicht alles. Es kommt noch ein anderes dazu. Der Mensch – und das ist für Geschichtsbildung noch charakteristischer – ist das Wesen, das von Großeltern und Enkelkindern weiß. Ein Tier kennt nicht das Enkeltier, und kein Tier weiß von dem Großelterntier. Es ist ja schon eine Frage, ob das Vatertier überhaupt von dem Kindestier weiß. Charles Darwin hat diese Frage verneint. Er sagte: Das Muttertier kennt das Kindestier, aber nicht das Vatertier. Aber wie immer diese Frage beantwortet wird – nach Darwin ist sie zum Teil anders beantwortet worden –, kein Tier kennt | Enkeltier und Großelterntier. Erst der Mensch weiß von Generationen vor ihm und denkt an Generationen 227

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nach ihm, hat äußere Beziehung und dann innere Beziehung zu den Geschlechtern vor ihm und nach ihm. Damit fängt Geschichte an. Wenn ein Stamm diese Fähigkeit, die dem Menschen gegeben ist, gering achtet, nicht pflegt, dann tritt er nicht in die Perioden der Geschichte ein, dann bleibt er einer der sogenannten wilden Stämme, wie es in Amerika, in Afrika, in Asien sie gegeben hat. Erst wenn darüber nachgedacht wird, beginnt Geschichte. Da fühlt sich ein Mensch und die Gesamtheit der Gruppe von Menschen rings um ihn, das Volk, mit den früheren Generationen, von denen es hergekommen ist, verbunden und sucht für die Generationen, die nach ihm sein werden, Wege zu bahnen, Werke aufzurichten, Hoffnungen zu geben. Die Geschichte beginnt also mit diesem Nachdenken über Geschlechter vorher und nachher. Und nun ist die Frage: Wie lange dauert die Geschichte eines Volkes? Es gibt Völker, von denen wir nur ahnen können, von denen wir nichts wissen, sogenannte prähistorische Völker, die selber eine Geschichte hatten – vielleicht –, die aber vor der Zeit lebten, von welcher wir eine Kenntnis haben. Wir wissen ja nicht, was für Völker vielleicht auf den in das, was wir heute Mittelländisches Meer nennen, hinabgesunkenen Ländern waren. Reste von denen sind die Inseln des Mittelländischen Meeres. Aber am Boden dieses Meeres liegen Vergangenheiten begraben: das, wovon die Griechen erzählten, daß es dort einen wundersamen Kontinent, Atlantis, gegeben habe, mit hochentwickelter Kunst und Wissenschaft und Technik, der eines Tages im Meere versunken sei. Es ist vielleicht nicht nur eine dichtende Erzählung, sondern Nachklang einer Erinnerung. Und das, was die Bibel und was babylonische alte Erzählungen enthalten, die Geschichte von der großen Flut, in der Länder und die in ihnen wohnenden Stämme und Völker versunken sind, ist vielleicht und wahrscheinlich auch Nachklang eines solchen frühen Geschehens. Jedenfalls, wir wissen nicht, was – um irgend ein Datum zu nennen – vor dem Jahre 5000 vor der gewöhnlichen Zeitrechnung gewesen ist, welche Völker, welche Kulturen, welche Geschichtssphären, welche Geschichtsperioden es damals gegeben hat. Aber von dieser Zeit an ungefähr sehen wir in gewissen Umrissen manches, und dann deutlicher und deutlicher. Völker mit kurzer Geschichte und Völker mit langer Geschichte Da sehen wir, daß es Völker gab und gibt, die eine lange Geschichte haben, und Völker, die eine kurze Geschichte haben. Um zwei Völ228

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ker zu nennen, deren Spuren in der Geschichte ja nicht untergehen werden: Griechen und Römer. Wie kurz ist die Geschichte der Griechen! Sie fängt ungefähr mit der sogenannten dorischen und jonischen Wanderung an, etwa 1200-1100 v. Chr., und hört auf ungefähr mit dem Jahre 200 v. Chr. – tausend Jahre der Geschichte und nicht mehr. Gewiß, die Wirkungen des hellenischen Geistes dauern weiter und werden | immer fortdauern. Aber die Geschichte, das geschlossene Leben eines Volkes mit bestimmten Aufgaben und Leistungen, hat aufgehört: ungefähr um das Jahr 200 wurden die Griechen »provinzial« – eine Provinz innerhalb des Römischen Reiches. Oder das Römische Reich selber: 753 [v. Chr.] ist das Jahr, das als Jahr der Gründung Roms genannt wird. Ungefähr tausend Jahre später, um 300-400 [unserer Zeitrechnung], hört die römische Geschichte auf. Die germanischen Stämme, später die slavischen Stämme dringen ein. Rom bleibt als Name, aber die römische Geschichte hat aufgehört. Wenn man ein sehr interessantes Buch liest, Gregorovius’ »Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter« 3 , dann sieht man, wie Geschichte zu Ende geht. Er schildert, wie Rom, die Millionenstadt, damals etwa 17.000 Einwohner hatte, wie dort, wo die Paläste waren, Gras wuchs. Die römische Geschichte hatte aufgehört: tausend Jahre ungefähr. In diesen Tagen wurde viel von dem »tercentinary« der Juden in England gesprochen. Man muß sich immer vergegenwärtigen, wie alt oder wie wenig alt das englische Volk ist: auch erst ungefähr tausend Jahre – man könnte fast eine kürzere Zeit rechnen. Und wenn man denkt, »dreihundert Jahre Geschichte der Juden in England ist eine kurze Zeit« – man sollte doch nicht vergessen, es ist ungefähr ein Drittel der ganzen Zeit, in der ein englisches Volk als dieses englische Volk besteht. Dreihundert Jahre scheinen wenig zu sein, aber ein Drittel der Zeit ist viel. Demgegenüber gibt es Völker mit langen Jahren. Wenn wir an China denken: eine Geschichte von Jahrtausenden. Ähnlich Indien, obwohl Indien immer die Beute fremder Eroberer gewesen war, durch alle die vielen Jahrhunderte hindurch. Aber doch immerhin eine gewisse Geschichte: Nachdenken über frühere Zeiten, Denken an folgende Generationen, Jahrtausende hindurch. Unter den Völkern, die in der Geschichte vor unseren Blicken stehen – nicht einer sich vielleicht auf zehntausende von Jahren erstreckenden prähistorischen Zeit, von der wir nichts wissen, einer Zeit, wenn man so sagen darf, vor der Sintflut –, unter diesen Völkern sind nur zwei, die Chinesen und die Inder, ein ganz altes Volk. – Und neben ihnen, wie 229

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wir sehen werden, dann ein drittes. Und vielleicht hat das einen Grund. Man spricht von Indien – und besonders amerikanische Historiker und Politiker gebrauchen diesen Ausdruck – als von dem indischen Subkontinent. Wenn man sich die Karte oder noch besser den Globus ansieht, dann sieht man: Indien ist ein ganz abgeschlossenes Gebiet. Im Norden die bis heute unüberwindbaren und unübersteigbaren Gebirgsketten des Himalaja und der an ihn angeschlossenen Gebirge, und darunter ein Land, das auf dem Globus fast wie Afrika aussieht, ein Kontinent für sich, ein Kontinent im Kontinent, ein Subkontinent. Und China ist dasselbe. Dort ist im Westen der große Wüstengürtel der sogenannten Äußeren Mongolei und der Wüste Gobi, Gebiete, die auch kaum zu überschreiten sind. Dort konnten Völker, die zwei Völker, alt werden. Sie leben heute und | werden sicherlich noch lange leben, weil sie in einem abgeschlossenen Gebiete sind. In Kontinenten spielt sich die Geschichte ab. Und Indien ist doch ein Kontinent – ein Subkontinent –, und China ist es. Napoleon, der neben anderen genialen Eigenschaften ein tüchtiger Geograph war, pflegte zu sagen: Europa ist eine Halbinsel am Körper Asiens. Es ist mehr ein Subkontinent sozusagen als ein Kontinent. Und darum kann sich ja auch die Geschichte Europas nur im Ganzen entwickeln. Man spricht heute von einer gesamteuropäischen Geschichte. So lange wir europäische Geschichte kennen, von der Zeit der Römer an, ist sie immer eine gesamteuropäische Geschichte gewesen. Immer haben die verschiedenen Länder miteinander in Verbindung gestanden, und große Staatsmänner und Herrscher, Karl der Große, später Karl V., haben immer daran gedacht, alle diese Länder zu vereinigen. Sehr oft haben ja Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich ein Land gebildet, im Sinne der Kultur und im Sinne der Politik. Und wenn der Plan Philipps von Spanien, Elisabeth von England zu heiraten, sich verwirklicht hätte, dann wäre auch England nicht mehr »this Island« gewesen, sondern ein Teil des Kontinents. Nur ein Land scheint dieser Verbindung immer gespottet zu haben, Rußland, das ja vermöge seiner außerordentlichen Erstreckung, zumal seitdem Sibirien ein Teil von Rußland geworden ist – und vielleicht ist Sibirien das Rußland von übermorgen –, auch eine Welt, ein Kontinent für sich ist. Dort allein ist die lange Dauer. Wie es mit Rußland sein wird, liegt in der Zukunft. So gibt es Völker mit langer und mit kurzer Geschichte. Ein Jahrtausend kann die gesamte Geschichte eines ganzen Volkes umschließen. Ja, tausend Jahre sind viel: in den Augen Gottes k’jom eth230

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mol ki ja’awer (Ps 90,4), aber im Leben der Menschheit eine lange Zeit, die Geschichte eines ganzen Volkes. Und nun gibt es neben den zwei ganz alten Völkern, China und Indien, dieses merkwürdige Volk, das jüdische Volk. Jüdische Geschichte beginnt, wenn man ein ungefähres Datum ansetzen soll – man kann es ja nie fixieren –, mit dem Jahre 1500 vor der gewöhnlichen Zeitrechnung. Das heißt also, es sind über dreitausend Jahre, die dieses Volk nun lebt, so lange wie Indien und sein Volk, wie China und sein Volk. Und hier ist das Merkwürdige: wieso hat dieses Volk fortdauern können? Ein wesentlicher, der wesentliche Grund, so wird es sich uns wohl zeigen, ist der, daß dieses Volk immer seine Persönlichkeit bewahrt hat, daß es im Laufe der Zeit den geistigen Inhalt, aus dem es Kräfte der Persönlichkeit schuf – Kräfte, welche die Persönlichkeit nachher gestalteten und prägten –, immer gewahrt hat. Aber ein weiterer Grund ist der: es lebte nicht nur in einem Kontinent, sondern in den Kontinenten. Sein Gebiet war so groß, daß es in gewissem Sinn zwar immer angreifbar, aber nie zerstörbar war: wenn ein Gebiet betroffen wurde – das andere Gebiet wurde nicht betroffen und blieb frei. Jedenfalls sind diese drei Völker, die beiden ersten aus dem Grunde, weil sie einen Kontinent für sich innehaben, das jüdische, weil es über die Kontinente hin sich | erstreckt, die Völker mit langer Lebensdauer, über dreitausend Jahre, und Indien und China vielleicht noch mehr. So kann man von Perioden am ehesten sprechen oder sich das, was Perioden bedeuten, am ehesten klarmachen, wenn man die Völker von kurzer Lebensdauer – verhältnismäßig kurzer – mit denen von langer Lebensdauer vergleicht. Nun, wie ist es? Gibt es Perioden in der Geschichte der Menschheit oder, um mit Einfachem zu beginnen, in der Geschichte der Völker? Diese Frage stellt sich in der chinesischen und indischen Geschichte nicht so dringend und drängend wie in der jüdischen Geschichte. Denn was diesen beiden Geschichtssphären eigentümlich ist: sie sind bis zur Gegenwart immer in einer Statik gewesen, in sich beharrend, fast unerschütterlich in sich ruhend, aber ohne starke Dynamik, ohne explosive Erregung und Bewegung. Die jüdische Geschichte Israels und des jüdischen Volkes ist dagegen wie eine Geschichte steter Revolution, steten Neubeginnens, steter Umwälzung. Aber wenn man Gesamtgeschichte erkennen will, gibt es kaum ein fruchtbareres Gebiet als das der jüdischen Geschichte. Hier lebt ein Volk seit Jahrtausenden, lebte und lebt in steter Dynamik, in steter Bewegung, in stetem Neubeginnen, unter immer sich ändernden Bedingungen. Da tritt die Frage an uns heran: gibt es in dieser Geschichte Peri231

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oden? Bevor wir darüber weitersprechen, wollen wir uns mit den Theorien von Spengler und Toynbee zu befassen suchen, um zu sehen, wie von deren Erkenntnis aus der Begriff der Periode vielleicht noch bestimmter oder anders zu fassen ist. Geschichtstheorien

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Die alten Griechen, welche über Perioden in der Geschichte der Völker nachdachten, haben immer wieder, wenn sie davon sprachen, gesagt: »Wie die Bäume des Waldes«, wie der Dichter dort sagt, »so sind die Geschlechter der Menschen – wachsend, aufsteigend, grünend, welkend und verdorrend«. So scheint es in der Tat zu sein. Aber wenn man genauer hinsieht, ist es doch nicht so. Was die Griechen sagten, mit dichterischen Worten, hat am Beginn des Jahrhunderts Oswald Spengler gesagt, ein Mann, der sehr stark einwirkte überall, wo Menschen über Geschichte nachdachten. In seinem zweibändigen Buche »Vom Untergang des Abendlandes« 4 , in dem er dem Abendlande den Tod voraussagte, führt er aus: Das ist die Geschichte der Völker: sie sind jung gewesen, kräftig geworden, sie sind alt geworden, und eines Tages hat ihr Leben auch aufgehört. Und er sucht es zu begründen. Er sagt: Wenn ein Volk ein wirkliches Volk, ein Volk der Geschichte ist – wir haben darüber gesprochen, wann Geschichte beginnt: wenn Stämme über sich nachzudenken beginnen, wenn sie Großväter- und Enkelzeit miteinander zu verbinden suchen –, wenn Völker Geschichte haben, dann beginnen sie in einer Zeit unverbrauchter Kraft, wo Gedanken und der Geist noch nicht am Körper zehren, wo der Körper noch nicht verbraucht ist; und je mehr der Geist wächst, desto mehr wächst die Bildung, die Kultur, – das, | was in einigen Sprachen Kultur und in anderen Zivilisation heißt. Und am Übermaß von Bildung, durch die das Leben immer komplizierter wird, gehen Völker schließlich zugrunde – sie werden dadurch alt. Man hätte über das Buch von Spengler das Wort aus dem Prediger Salomos, aus Kohelet (Koh 1,18), schreiben können: w’jossif chochmah jossif mach’ow, »Wer die Erkenntnis mehrt, mehrt das Leid, den Schmerz«. »An ihrem Übermaß von Wissen und Bildung sind die Völker schließlich zugrunde gegangen« – ein pessimistisches Bild, und es ist dort an Beispielen eindrucksvoll dargelegt. Aber wir werden sehen: Eines ist vergessen. Ein weiteres Beispiel hatte schon vorher Hegel gegeben, wie allgemein bekannt ist. Er sagte: Alle Geschichte vollzieht sich darin, daß etwas erreicht, erlangt, hingestellt, aufgebaut wird, eine Thesis 232

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da ist. Dagegen erhebt sich alsbald die Opposition, die Antithese. Und die Opposition kämpft gegen das Frühere, bis dann schließlich das große Kompromiß eintritt. – Alles im Leben ist ja in diesem Sinne ein Kompromiß. Nur Robinson auf seinem Eiland hätte ohne Kompromiß leben können. Menschen unter anderen Menschen leben in dauernden Kompromissen. Alle Erziehung, aller Unterricht ist ein Kompromiß zwischen Lehrer und Schüler. Alle Partnerschaft ist ein Kompromiß zwischen Menschen; fast könnte man manchmal sagen, alle Ehe ist ein Kompromiß zwischen Mann und Frau. So ist es. Aber auch Hegel hat, wie wir bald sehen werden, eines vergessen. Karl Marx hat dann die Theorie Hegels in gewissem Sinne umzukehren versucht. Er sagte, sein Werk – das von Karl Marx – bestehe darin, daß er Hegel, der auf dem Kopf gestanden habe, wieder auf die Füße gestellt hätte. Er meint damit: Hegel meinte, alle Kämpfe – Thesis, Antithesis, Synthesis – vollziehen sich im Gebiete des Geistes. Karl Marx behauptete demgegenüber: sie vollziehen sich im Gebiete der Wirtschaft, und aus den Formen und Veränderungen der Wirtschaft ergeben sich Formen und Veränderungen des Denkens und des Geistes. So meinte er, Hegel hätte auf dem Kopfe gestanden, weil er mit dem Geiste angefangen habe, und er stehe auf den Füßen, stelle Hegel auf die Füße, weil er mit der Wirtschaft beginne. Aber im Grunde meint Karl Marx es auch so: etwas wird aufgebaut, dann erhebt sich der Widerstand, und schließlich vereinigen sich Thesis und Antithesis. Bloß mit einem Unterschiede: eines Tages, so meint Marx, kommt die Sache zu Ende – und er glaubte, daß die Zeit nahe, da alles zu Ende komme. In Marx war ja etwas ApokalyptischEschatologisches. Er lebte und dachte in Zukunftsträumen, in einer Welt, die kommen werde; so glaubte er, die Welt komme jetzt. Wie er es ausdrückte: die Expropriierten werden die Expropriateure, das heißt, die Arbeiter, denen alles weggenommen worden ist, nehmen das wieder zurück von denen, die es ihnen wegnahmen, und damit sind die Zeiten erfüllt. Aber es ist im Grunde das Hegelsche System. Und nun hat in unseren Tagen Arnold Toynbee ein anderes System aufgestellt, mit einer staunenswerten Gelehrsamkeit, mit einer bewundernswerten Fähigkeit, zusammenzusehen und zusammenzufassen, alles zusammenzudenken. Er sagt – | das ist in den vielen Bänden, die er geschrieben hat, und besonders in dem Schlußband, das letzte Wort –: Jedes Volk kann nur durch einen großen Glauben leben, durch große Ideen; wenn die großen Ideen, der große Glaube verloren gehen, wenn anstelle der großen Ideen die kleinen Gedanken treten, dann hat die Zeit eines Volkes aufgehört. Vieles scheint dafür zu sprechen. 233

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Judentum als Revolution und Wiedergeburt Dies sind die Versuche, in denen man das, was das individuelle Leben zeigt, auf Völker anzuwenden suchte. Aber hier ist mehreres außer acht gelassen worden. Etwas, woran das System Hegels und derer, die sich ihm anschlossen, zu scheitern scheint: die Tatsache der Revolution. Es geht nicht immer einfach so, daß etwas aufgebaut, etwas hingestellt, etwas behauptet wird, daß dann das Gegenteil dagegen anrennt, das Gegenteil sich zu etablieren sucht, bis nachher zwischen den beiden ein Kompromiß, die Synthese, geschlossen wird. So ist es in ruhigen, friedlichen Zeiten. Aber: es gibt Revolutionen, das heißt Unterbrechungen einer Entwicklung, Aufstellung eines ganz neuen Prinzips, Einnehmen eines ganz neuen Standortes. Als eine solche Revolution trat der Glaube Israels in die Welt. Er ist die große Menschheitsrevolution damals gewesen und seitdem geblieben. Das heißt, gegenüber den Standorten, den Grundsätzen, den Prinzipien, welche galten, ist ein ganz anderes Prinzip aufgestellt worden. Gegenüber der Aufteilung der Welt, in alter Zeit, in die Bereiche der Götter – die eine Welt, die der eine Gott geschaffen hat; gegenüber dem Polytheismus der Moral, das heißt der besonderen Moral für die Großen und der Moral für die Kleinen, der besonderen Moral für die Mächtigen und der für die Schwachen, wurde die eine Moral hingestellt, die für alle gilt. Gegenüber dem bis dahin geltenden Prinzip, daß der Sieger die Gesetze schreibt, d. h. also, daß die Gesetze geschrieben werden vom Standpunkte des Mächtigen, des Starken, des Siegers aus, das neue Prinzip, daß Gesetze geschrieben werden vom Standpunkte des Kleinen und Schwachen, des Armen, des Dürftigen, der Witwe, der Waise, des Fremdlings. Wo sonst überall der Sieger Geschichte schrieb und sagte, was Recht in der Geschichte sei, ist hier zum ersten Mal Geschichte vom Standpunkt des Besiegten, des Unterlegenen aus geschrieben worden: eine Revolution. Als eine solche Revolution trat dann auch das Christentum in die Welt. Und wo immer das Christentum seinen Ursprüngen treu blieb oder zu seinen Ursprüngen zurückkehrte, ist eine neue Revolution entstanden. Die Revolution in England, die von den Puritanern ausgeht, bedeutet einen Versuch der Rückkehr zum alten Christentum; die Revolution, die von Amerika ausging, einen gleichen Versuch. Auch das Christentum ist eine Revolution. Und so hat es im kleineren oder weiteren Kreise immer Revolutionen gegeben. Und die Revolution hat das ganze schöne System von Hegel und seinen Nach234

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folgern zunichte gemacht. Es | fand kein Kompromiß statt, sondern ein Früheres wurde abgeschlossen, wurde zerstört. So ist es ja auch in der Wissenschaft. These, Antithese, Synthese – aber da kommt der Genius und bringt etwas ganz anderes. Die ganze Geschichte der Astronomie von den Babyloniern her bis in das 15. Jahrhundert nach Christi Geburt ist immer wieder Behauptung, Gegenbehauptung, nachher Zusammenführung von Behauptung und Gegenbehauptung, bis Kopernikus kam und etwas ganz anderes lehrte. Oder so ist es in der Psychologie durch Freud geschehen, in der Physik durch Einstein, so war es in der Biologie durch Darwin geschehen, in der Ökonomik durch Marx. Ein ganz anderes ist aufgestellt worden. Die Tatsache des Genies und der Revolution macht das System von Hegel zunichte. Wie gesagt: wenn einmal tausend Jahre hindurch die Geschichte ohne Revolutionen, ohne Genies sich entwickelt, dann hat Hegel recht; aber dann kommt die Revolution und macht sie zunichte. Man sieht es so in allen Gebieten. Zum Beispiel kann man eine Geschichte der Malerei schreiben, und sie ist geschrieben worden von manchen, wie die Malerei sich entwickelte, in dieser Art des Malens, dann einer entgegengesetzten Art, dann beide zusammengeschlossen; die ganze italienische Malerei ist so oft geschildert worden. Dann aber kam das Genie Rembrandt, der ganz anders malte: vom Licht her malte, nicht die Gestalten in ihren Umrissen, sondern die Brechung des Lichtes an den Gestalten malen wollte. Oder worin er, um auch das zu erwähnen, ein Genie ist: bis dahin hatte man vor allem Pracht und Prunk gemalt – Gott den Vater in seiner Majestät, Jesus in seiner Glorie, die Jungfrau Maria in ihrer Pracht und Schönheit und auf Erden die Fürsten, die Großen, die Reichen, die Könige, die Patrizier, die Päpste, die Magnaten. Rembrandt ließ sich nicht dadurch imponieren. Er hatte das tiefe Mitleid mit der Kreatur und malte die Kleinen, die Armen, die Bresthaften, die Lahmen, die Buckligen, die Krummen – die malte er. Es war eine Revolution. Die Tatsache der Revolution darf man nie vergessen. Und man versteht eben auch so die Geschichte des jüdischen Volkes nur, wenn man weiß, daß es als eine Revolution in die Welt eintrat – nicht Ergebnis einer Entwicklung, nicht Antithese zu einer These, sondern als Revolution, als etwas ganz anderes. Gottseidank gibt es wenig Revolutionen, wie es, soll man sagen leider oder Gottseidank, wenig Genies gibt. Eine Revolution und ein Genie sind wie ein Erdbeben, und unser armer kleiner alter Planet verträgt nicht so viele Erdbeben, und die Menschheit verträgt auch nicht zuviel Genies. Sie muß bisweilen zur Ruhe kommen. Aber 235

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wenn man von Perioden sprechen will, muß man von der Revolution und dem Genie sprechen, muß man diese ins Auge fassen. Und nun gegenüber dem, was Spengler sagt: Da ist eines vergessen worden: die Tatsache der sogenannten Wiedergeburt. Wir hatten davon gesprochen, wie im Menschen, im einzelnen, im Individuum eine Wiedergeburt sich vollziehen kann. Kräfte der Kindheit, dieses Künstlerische des Kindes, diese Unmittelbar| keit des Erlebens, die dem Kinde eigen ist, erwachen wieder: das Kind wird wiedergeboren. Oder die Fähigkeit des jungen Menschen, eine Welt, ein zweites Leben aufzubauen, ein zweites Ich, ein Ich des Ideals zu gestalten, wird wiedergeboren – etwas ganz Neues wird entstehen. So ist es im Individuum, und so ist es in den Völkern. Wenn man, um Beispiele anzuführen, die Geschichte der Griechen nimmt: Griechenland hat in den zehn Jahrhunderten, in denen die Stämme und die Völker, die in Griechenland lebten, eben lebten, mehrfach Wiedergeburten erlebt. Mit Sokrates und Plato kam eine neue Wiedergeburt, mit den Neuplatonikern von neuem. Alte Kräfte stiegen wieder auf wie Quellen aus der Tiefe. Das, was einst in Jahren des Wachstums geworden war, wuchs nun wieder empor. Ein Volk wurde wiedergeboren. Oder das italienische Volk: zweimal, in der Zeit der großen geistigen und künstlerischen Renaissance und dann in dem Risorgimento des vorigen Jahrhunderts. So das englische Volk, so das französische Volk. Wiedergeburt gibt es immer wieder. Und wenn wir über die Geschichte des israelitisch-jüdischen Volkes und ihre Perioden zu sprechen versuchen werden, so kann das die Richtschnur sein: die Wiedergeburten, die Renaissance, the days of rebirth in diesem Volke. Wenn ein Volk nicht mehr eine Kraft der Wiedergeburt entwickeln kann, wenn es müde, matt, innerlich erschöpft wird – da ist seine Zeit zu Ende. Aber wer will das zu prophezeien suchen in Bezug auf dieses oder jenes Volk? Vielleicht wird es übermorgen oder an dem Tag nach übermorgen wieder die alten Kräfte erleben und wird wiedergeboren werden. An dieser Tatsache der Wiedergeburt ist Spengler vorbeigegangen. Und darum, wer diese, auch wunderbar geschriebenen zwei Bände (der erste ist der stärkere) liest, der sieht: wenn er auf die Juden zu sprechen kommt, versagt er. Sie passen in das Schema nicht hinein. Von rechtswegen hätten sie längst gestorben sein müssen – das heißt, wenn seine Theorie richtig ist. Aber sie leben weiter. Er wußte es sich nicht zu erklären. Und auch Hegel wußte nichts Rechtes mit dem jüdischen Volke anzufangen. Es ist eben der Widerspruch gegen die Hegelsche Theorie und ebenso gegen die Spenglersche Theorie. 236

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Und dann das, was Toynbee sagt: das Aufhören des großen Glaubens. Darin ist sehr, sehr viel Richtiges, wenn man dieses Wort richtig faßt. Was ist unter Glauben zu verstehen? Vielleicht könnte man von einem ausgehen: Sie kennen alle das Wort des Psalms (51,12), in welchem der Psalmist betet um ein reines Herz, daß es in ihm geschaffen werden möge, und um einen festgegründeten Geist, der in ihm sich erneuern, bestehen bleiben möge. Goethe – wahrscheinlich dachte er dabei an das Psalmenwort – hat gesagt: große Gedanken und ein reines Herz, darauf komme alles an. Im Grunde ist es dasselbe. Der große Gedanke ist der beste Gedanke. Nur ein großer Gedanke hat ein wirkliches Bestehen, er ist den Zeitänderungen und Zeitläufen gewachsen. Große Gedanken: das ist in der Tat der Glaube. Glaube ist eine innere Gewißheit, die nur aus dem großen | Gedanken aufblüht. Man kann über ein und dasselbe Ding groß denken und klein denken. In großen Gedanken liegt eine Lebenskraft. Wenn in einem Volke die großen Gedanken schwinden, dann hört in der Tat die Lebenskraft auf. Wir sehen es an den Griechen. Das griechische Volk ist untergegangen, so hat man gesagt, aus Mangel an Enthusiasmus. Und das ist richtig. Der Enthusiasmus wurde immer schwächer, immer dünner, immer inhaltsärmer. Das heißt eben: die großen Gedanken sind geschwunden. Das große Römische Reich des römischen Volkes, das Imperium Romanum Populi Romani, ist zugrundegegangen, weil die alten großen Gedanken verlorengegangen sind. Man sieht es an Spanien in unseren Tagen; man fürchtet manchmal, daß es in Frankreich so sein könnte. Das ist eine richtige Idee: der große Gedanke bringt immer von neuem die Wiedergeburt. Und wenn man das, was Toynbee lehrt und verkündet, dadurch ergänzt, daß man von der Wiedergeburt spricht, dann könnte darin vielleicht die Antwort für das Leben eines Volkes und die Perioden im Leben eines Volkes gefunden werden. Kein Volk hat alle großen Gedanken, auch das jüdische Volk nicht, auch das Christentum nicht und keine Philosophie nicht. Es genügt, und es ist ein Gewaltiges, wenn es einen großen Gedanken hat, aber an diesem einen großen Gedanken festhält. Dann kann ein Volk immer wiedergeboren werden. Und die Perioden in der Geschichte werden durch die immer wiederkehrenden Wiedergeburten bestimmt. Das könnte der Leitfaden sein, um Perioden auch der jüdischen Geschichte zu erkennen.

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| Wann beginnt eine israelitische Geschichte? Nachdem diese allgemeine Einleitung so versucht worden ist, kann nun an das eigentliche Thema herangegangen werden: Die Perioden der israelitischen und jüdischen Geschichte. Eine Vorfrage stellt sich hier: Wann beginnt eine israelitische Geschichte? Welche Zeit – nicht ein Zeitpunkt, aber welches Jahrhundert, vielleicht muß man sagen welche Gruppe von Jahrhunderten – ist als Beginn dieser Geschichte anzusehen? Und hier ist eine Frage wieder zunächst zu beantworten: Haben Völker ein Gedächtnis? Das Gedächtnis von Völkern: Geographie und Recht Es gibt Völkerstämme, deren Gedächtnis ausgelöscht ist oder ausgelöscht scheint. Das ergreifendste, das erschütterndste Beispiel dafür ist die Negerbevölkerung in Amerika. Soweit es sich feststellen ließ, erinnert sich keiner der Neger oder, um es noch bestimmter zu bezeichnen, erinnerte sich keiner der Neger, die vor hundert Jahren in Amerika lebten, geschweige denn die Menschen dunkler Hautfarbe dort von heute, daran, woher sie gekommen seien, welches irgendein Ereignis der Vergangenheit gewesen sei. Es ist eines der ergreifendsten Beispiele in der Geschichte, daß eine große Gruppe von Menschen, aus verschiedenen Stämmen zusammengesetzt, die alle aus demselben Gebiete kamen, aus dem inneren und dem westlichen Afrika, nicht mehr wissen, woher sie gekommen sind; daß sie kein Wort einer eigenen Sprache, die einst ihre Sprache, die Sprache ihrer Väter und Vorfahren, gewesen war, besitzen, keinen Namen mehr zu nennen wissen – Namen geschichtlicher oder geographischer Art –, der von ihrer Vergangenheit zeugt. Etwas Ähnliches ist auch, wohl nicht in demselben Maße aber doch auch, bei den Indianern im nördlichen und südlichen Amerika festgestellt worden. Aber die Tatsache steht fest, daß es Menschengruppen gibt, die das Gedächtnis verloren haben. Es gibt ja auch im Individuum die sogenannte Amnesie, das Aufhören, das Verlieren des Gedächtnisses. Ein plötzlicher Schock, ein plötzlicher Schrecken, ein Trauma, eine Verletzung kann für einige Zeit ein Aufhören des Gedächtnisses bewirken. Man liest ja öfter, daß irgendwo ein Mensch auf der Straße gefunden wurde, dessen Gedächtnis aufgehört hat, der im Moment oder für längere Zeit nicht weiß, wie er heißt, woher er gekommen ist. Es ist ja bekannt, daß die Nervenheilkunde auch künstlich, zu therapeutischen Zwecken, eine 238

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Amnesie betreffend gewisse Gebiete des menschlichen Lebens bewirkt. So ist es vielleicht bei Völkern auch. Der sehr plötzliche Schock, daß Menschen aus ihrem Lande, aus ihrem Erdteil, aus ihrer Kultur in ein anderes Land, einen anderen Kontinent, | in eine andere Kultur, in ein anderes Sprachgebiet versetzt wurden, dieser Schock hat vielleicht das Gedächtnis ausgelöscht. Wir können es nicht genau sagen, aber die Tatsache steht fest. Andererseits gibt es wieder Völker mit einem Gedächtnis. Und es ist interessant, festzustellen, woran Menschen eines Volkes mit Gedächtnis sich am meisten und am zuverlässigsten erinnern. Es scheint festzustehen, daß Völker sich nicht vor allem an Geschichtliches genau erinnern, wohl aber an Geographisches. Wenn in der Überlieferung eines Volkes ein Name geographischer Art vorkommt, eine Ortsbezeichnung, ein Gebirge, ein Meer, ein Fluß, dann kann man darauf sich eher wohl verlassen als auf alte Kunde, welche Menschennamen enthält. Was Völker als Überlieferung geographischer Art durch die Geschlechter weitergegeben haben, hat sich, durch die Archäologie vor allem, aber durch anderes auch, als richtig erwiesen, während in allem, was geschichtlicher Art ist, die Poesie durch die Kraft der Phantasie ihr Feld gefunden hat. Um ein Beispiel anzuführen: Man hatte früher dieses Gedächtnis unterschätzt und hatte gern geglaubt, alles, was ein Volk aus alten Zeiten erzählt, sei bloße Poesie, bloßer Mythos, und man hat mit viel Skeptik alte Volkserinnerung behandelt. So ist zum Beispiel behauptet worden – wenn Sie irgendeine Geschichte Griechenlands aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts lesen, finden Sie dies noch dort –, daß Troja eine Dichtung bloß sei, daß es einen Ort Troja nie gegeben habe, ebensowenig wie einen Mann Priamos oder Hektor, den König von Troja und dessen Sohn, daß das eben eine Namenbildung des Dichters gewesen ist, wie Dichter ja Namen bilden, – bis dann im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts durch Schliemann und seine Nachfolger diese Stadt Troja ganz dort, wo die alte Dichtung, in der die Volkserinnerung lebt, diesen Ort sein ließ, ausgegraben wurde. Dasselbe ist mit der alten Stadt der Lazedämonier, Mykene 5 , der Fall gewesen. Die geographischen Erinnerungen sind in der Regel zuverlässig. Um es nur nebenbei zu erwähnen: etwas, was nicht in der Erinnerung, aber in der Tradition weiterlebt, ist das Recht. Recht ist das, was immer weiter und weiter überliefert wird, erkennbar in Rechtsbestimmungen oder, unter der Oberfläche, in alten Rechtsanschauungen. Sie werden vielleicht wissen, daß zum erstenmal römisches Altertum erkannt wurde aufgrund dessen, daß man den Ausgangs239

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punkt nahm nicht von alten Erzählungen, die von den Königen erzählen und von Ereignissen in der Königszeit, sondern von den Rechtsformen. So hatte zuerst der große Däne Barthold Niebuhr diese römische Geschichte betrachtet, und ihm folgte dann ein Mann, der aus der Nachbarschaft von Dänemark, aus Schleswig stammte, Theodor Mommsen, in meisterhafter Weise. Wer die Eingangskapitel von Mommsens Römischer Geschichte 6 liest, der sieht, wie er festzustellen sucht, welches die älteste Rechtsüberlieferung ist, und daraus baut er nachher Geschichte auf. Wenn wir nun aufgrund dessen israelitische Geschichte betrachten und nicht zuerst fragen: Welches sind die ältesten Namen von Personen oder die ältesten | Berichte von Ereignissen, die in diesem Volke in alten Schriften erhalten sind?, sondern: Welches sind die ältesten Namen geographischer Art, welche vorkommen?, dann finden wir, daß durch alle Bücher der alten Überlieferung, wie sie in der Bibel uns erhalten sind, ein Name immer wieder vorkommt als einer, der mit den Anfängen dieses Volkes in Verbindung steht: das ist der Name Ägypten, Ägypten noch mehr als Kanaan und mehr noch als das Land der Kasdim, der Chaldäer, Mesopotamien. Ägypten und seine Kultur Wenn Sie die ältesten Berichte im Pentateuch, die älteste Kunde, die die Propheten weitergegeben haben, das Älteste, was in Volksdichtung vor uns steht, nebeneinandersetzen, überall finden Sie diesen Namen Ägypten in einer merkwürdigen Dualform Mizrajim, das doppelte, das »Zwei-Ägypten« – wie wirklich, soweit wir feststellen können, das in ältester Zeit war: Oberägypten und Niederägypten, Reich von Theben, Reich von Memphis. Von Ägypten spricht immer die alte Überlieferung. Was von Ägypten erzählt ist, kann man vielleicht in Zweifel ziehen, fragen »Was ist Dichtung, und was ist Geschehenes?« Aber die Tatsache, daß von der ersten und ältesten Zeit dieses Volkes das Wort Ägypten nicht zu trennen ist, das ist etwas, was feststeht und uns sagt: Die Geschichte dieses Volkes beginnt mit einer Beziehung zu Ägypten. Das ist bedeutungsvoll. Ägypten war das Kulturland der alten Welt – nicht ein Kulturland, sondern das Kulturland. Wie Ägypten auf jene Zeit wirkte, ersehen wir daraus, daß die großen griechischen Gelehrten, wenn sie ein höheres Studium betreiben wollten, nach Ägypten gingen, so wie vielleicht heute jemand aus Afrika, aus dem Nahen oder Mittleren Osten nach England kommt. Meister wie Pythagoras, wie Plato blickten zu Ägypten auf als dem Lande, wo ein 240

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höheres Wissen und höhere Methoden der Wissenschaft gepflegt wurden als in Griechenland selbst, von dem ja all unser Wissen herkommt. Was war es, was die alten Ägypter vermocht, man möchte sagen, was sie entdeckt haben? Sie haben entdeckt die Geometrie, die große Architektur, die Medizin oder, genauer, die Anatomie und die Skulptur. Die Griechen sind in alledem nur Schüler der Ägypter gewesen. Dieses Volk der Ägypter hatte den geometrischen Sinn, den Sinn für die Linie, während beispielsweise das alte Volk vom Euphrat und Tigris, das Volk der Chaldäer, der Babylonier, den Sinn für die Zahl hatte. Dort ist die Arithmetik entstanden. Von Ägypten ist die Geometrie hergekommen. Sie werden wissen, daß manche architektonischen Probleme doch auch geometrische Probleme sind, die Pyramiden zum Beispiel, vor denen heutige Männer der Geometrie und der Architektur, man kann nicht sagen: fassungslos, aber so stehen, daß sie nicht wissen, ob sie sie würden lösen können. Aus der Geometrie hat sich die Architektur entwickelt – nicht die kleine Architektur, welche dem Menschen ein not| dürftiges oder besseres Dach über dem Kopfe bereitet und Mauern, die ihn vor Wind und Sturm, vor Regen und Schnee schützen, sondern die große Architektur, in der eine architektonische Idee sich entwickelt. Dann, soweit wir wissen, kommt die Anatomie, und damit die Medizin, von Ägypten her. Die großen griechischen Mediziner, die ja die Väter der Medizin für das Abendland sind, gingen nach Ägypten, um dort zu lernen: dort wurde zuerst Anatomie getrieben. Die Linien des menschlichen Körpers suchten die Ärzte festzustellen, indem sie den Körper zerlegten, und Sie wissen, daß sie da zu der Kunst des Einbalsamierens kamen, die den Körper für lange, lange Zeit erhielt, deren Einzelheiten heute noch nicht verständlich sind. Und dann die andere Linie: die Skulptur. Auch hierin sind die Griechen Schüler der Ägypter und Schüler, die den Meister doch wohl kaum erreicht haben. Wer Gelegenheit hat, vielleicht im Louvre in Paris die alten ägyptischen Skulpturen zu sehen oder das berühmte Ägyptische Museum in Hildesheim zu besuchen oder die Ägyptische Abteilung im Berliner Alten Museum, der steht dort, man kann nur sagen: staunend. Wenn man beispielsweise an den Kopf des »Dorfältesten« im Louvre denkt – jeder, der nicht weiß, daß es ägyptische Kunst ist, würde glauben, es sei moderne Kunst: die Individualität, die sich in den Linien dieses Antlitzes ausspricht, ist in einer Weise wiedergegeben, die wir erst in unseren Tagen wiedergefunden haben. Oder der Kopf der Königin Nofretete – jeder würde glauben, das ist moderne expressionistische Skulptur, und es 241

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ist ein altes ägyptisches Werk. Und was die Ausgrabungen dort immer wieder zutage fördern – und des Findens ist sicher in Ägypten noch kein Ende –, das bestätigt immer wieder diesen Eindruck, welche Meister dort gewesen sind. Mit diesem Lande verbindet geographisch alte Überlieferung Anfänge des israelitischen Volkes. Iwrim, Hebräer

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Und mit diesem Namen geographischer Art ist ein anderer Name verbunden, dem wir ein Alter zuerkennen müssen, weil er nur der alten Sprache angehört, der alten Sprache der Israeliten, und erst später, als man das Altertum künstlich in eine Gegenwart brachte, erneut wurde, ohne den vollen Sinn noch zu begreifen. Das ist der Name Iwrim, »Hebräer«. Was das Wort bedeutet, ist heute wohl ohne Zweifel klar. Man kann es vergleichen mit einem Wort, das in dem babylonischen, mesopotamischen Kulturkreis vorkommt, ((a))abiru 7 , und einem Wort, das im Ägyptischen geschrieben ist 8apr – und die, die sich für diese Sprache interessieren, werden wissen, dem ägyptischen p entspricht im Semitischen in der Regel ein b. Dieses Wort bezeichnet »die Söldner«, das heißt diejenigen, die sich als freie Bedienstete unter gewissen Bedingungen, für einen gewissen Lohn einem Machthaber verdingen, um die Heere dessen, der sie angeworben hat, zu verstärken, für ihn seine Schlachten zu schlagen, um als Besatzung für Festungen | zu dienen oder um für ihn irgendwelche andere Aufgaben zu erfüllen. Wir wissen darüber durch die Ausgrabungen in Mesopotamien und im südöstlichen Kleinasien sehr genau Bescheid. In Boghazköi in Kleinasien wurde vor einigen Jahrzehnten eine ganze Reihe von Kontrakten aufgefunden, in denen Gruppen von solchen iwrim oder Söldnern sich an einen Machthaber verschrieben und die Bedingungen, Bezahlung usw. genau festgelegt sind. Wir wissen, es gab Clans, Familiensippen, die in den Dienst eines Herrschers traten; nicht einzelne Personen, sondern eine geschlossene Gruppe, ein geschlossener Clan trat in den Dienst eines Herrschers. Um das jetzt hier zu erwähnen: Als später das altertümliche Wort von der Sprache der Juden wiedergefunden und neu angewandt wurde, da ist man auf eine andere Bedeutung gekommen: es bezeichnete das ganz Alte, die ganz alte Sprache. Iwrith ist schon im frühtalmudischen Schrifttum Ausdruck für alte Sprache. Sie kennen das aus verhältnismäßig später Zeit stammende Buch Jona, in dem der Prophet Jona (1,9) sagt iwri anochi, »ich bin ein Hebräer«, d. h. 242

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ein Mann aus dem ganz alten Volk dieser Hebräer. Immer wieder klingt das »ganz alt« dabei mit an, weil es eben ein Wort ist, das aus der Frühzeit dieser Sprache stammt. So haben wir gewissermaßen als Ausgangspunkt, als den festen Punkt, wenn wir Anfänge feststellen wollen, daß das Land Ägypten in allen alten Überlieferungen in den Anfang der Geschichte gehört, – man könnte auch sagen, daß der Anfang der Geschichte in diesem Land mizrajim, diesem Wunderland, hineingehört; und ferner, daß die Israeliten, wenn ich dieses Wort schon gebrauchen darf, in Ägypten lebend als iwrim, als Hebräer, bezeichnet werden. Ich möchte nur das hier erwähnen: in der ganzen Bibel kommt das Wort immer nur vor im Munde von Ägyptern und Philistern. Dieses Volk bezeichnet sich nicht selbst als Hebräer, sondern die Ägypter nennen sie so, die Philister nennen sie so, und nur wenn sie den Menschen aus diesen Völkern, Ägyptern oder Philistern, antworten, benützen sie auch dieses Wort. Wir werden sehen, was aus diesem Zusammenkommen für Schlüsse zu ziehen sind. Philister und Hettiter Zwei andere Völker werden noch als älteste geographische Bezeichnungen genannt, soweit die Überlieferung dieses Volkes Anfänge in Erinnerung behalten und die Erinnerung weitergegeben hat. Das sind die Philister und die Hettiter. In Erzählungen, die unzweifelhaft alt sind – die Sprache und sonstige Kennzeichen zeigen es –, ist oft von den Philistern gesprochen. Die Philister sind eines der verschwundenen Völker. Wir wissen, wo sie lebten: ein Hauptort war das heute vielgenannte Gaza. Und wir wissen auch, daß sie mit den Kretensern, den Bewohnern der Insel Kreta, zusammen genannt werden: Kreti und Plethi, Kretenser und Philister, das ist eine Zusammenstellung in alten Überlieferungen. | Und auch das ist ein altes Kulturgebiet. Die alte kretische Kultur ist in ihren unmittelbaren Zeugnissen zugrunde gegangen. Aber wenn wir wieder den, man muß sagen, ungeheuren Respekt, mit dem die Griechen, die sonst für Nichtgriechen nicht immer Respekt aufbrachten, von den Bewohnern von Kreta sprechen, von dem König Minos, dessen Name in alten Überlieferungen genannt wird, dann müssen wir sagen: dort war auch ein Besonderes. In den letzten Jahrzehnten sind, besonders von englischen Archäologen, auf der Insel Kreta Ausgrabungen und Nachforschungen angestellt worden. Alles zeugt von einer außerordentlich großen Kultur. Es scheint, daß dort der Schiffbau und auch die Kunst, durch Segel das Schiff in Be243

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wegung zu setzen, zuerst erfunden oder im Größeren angewandt wurde. Ein Teil der Kretenser ist nach dem asiatischen Festlande gegenüber gewandert und hat das Randgebiet, in dem dort allein ein Hafen ist, der Hafen von Jaffa, kolonisiert und besetzt. Und immer wieder ist in den alten Überlieferungen von den Philistern die Rede, den Bewohnern von p’lescheth. Selbst wenn wir alte Erzählungen wie beispielsweise die, welche die Stammväter Abraham und Isaak mit den Philistern in Verbindung bringen, mit Zweifel erwägen – die Tatsache, daß die geographische Bezeichnung in alten Quellen vorkommt, ist doch ein Beweis dafür, daß auch die Philister mit der ältesten Geschichte dieses Volkes verbunden sind oder die älteste Geschichte dieses Volkes mit den Philistern verbunden ist. Und nun das dritte Volk, das genannt wird: die Hettiter, ein Reich, über das man erst seit den letzten Jahrzehnten etwas weiß aufgrund von Ausgrabungen vor allem im östlichen und südlichen Kleinasien. Wir ersehen daraus, daß dies das erste asiatische Weltreich war, ein Reich, welches den ganzen Vorderen Orient umfaßte, nach Ägypten hineingriff und hineinreichte bis zum Euphrat und Tigris hin, ein Reich, das nachher, wie es scheint, einem Aufstand unterworfener Stämme und Völker zum Opfer fiel. Aber dieses Reich bestand, und zu ihm gehörte auch Palästina. Und auch dieses Land der Hettiter, diese geographische Bezeichnung ist, eine der ganz alten. Sie werden sich wundern, daß hier diese drei zunächst genannt sind: mizrajim, Ägypten, das Land der Philister und das Land der Hettiter – und nicht das Kanaan, das Land Palästina. In den ältesten Überlieferungen geographischer Art kommt das Land Kanaan gelegentlich nur vor, und zwar der Teil, der im strengen Sinne nicht Kanaan ist. »Kanaan« heißt die Niederung, das Niederland, also die Ebene, die sich von dem Gebirgsmassiv, welches Palästina von Süden nach Norden, von der Wüste zum Libanon hin durchzieht, nach Westen hin abdacht 8 . Erwähnt ist es nur in alten Namen, deren Bedeutung uns dann beschäftigen wird: in den Namen Hebron – von dem gesagt wird, es sei älter als ägyptische Städte –, und Berseba. Das sind ja Gebiete nicht im eigentlichen Kanaan, sondern in dem, was heutzutage Negev heißt, d. h. Dürrland. Ich will hier bloß eine Nebenbemerkung für die, die das interessiert, erwähnen. Die Himmelsrichtungen sind bei vielen Völkern die: Aufgang der Sonne, | Untergang der Sonne, usw. In der alten israelitischen Sprache auch – aber vor allem geographischer Art. »Süden« ist Negev, das Land der Dürre, der Steppe, wo das Land, das fruchtbare Gebiet allmählich in die Wüste übergeht, wie auch der Negev es ist, wenn nicht wieder Wasser erschlossen wird. Das Wort 244

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ist zur Bezeichnung von Süden geworden. Und so auch z. B. jam, das Meer, der Westen. Und dann wieder auch rechts und links vom Aufgang der Sonne, so daß also zum Beispiel der Süden auch »rechts« heißen kann: wer nach Osten hinsieht, der hat ja den Süden zur Rechten. Aber das nur nebenbei! Der Raum der ältesten israelitischen Geschichte Was uns nun zuerst nahetritt, ist, daß in den ältesten übereinstimmenden Berichten geographischer Art über die Anfänge des israelitischen Volkes zusammenkommen und zusammen einen bestimmten Anhaltspunkt ergeben drei geographische Bezeichnungen: mizrajim, Ägypten; p’lescheth, das Land der Philister; und chittim, das Reich der Hettiter. Von Ägypten wissen wir sehr viel, von den Hettitern wissen wir weniger, von den Philistern wissen wir etwas. Aber der Raum der ältesten Geschichte ist jedenfalls dadurch genau fixiert, daß diese drei Namen zu den ältesten Überlieferungen gehören: der Raum also, in welchem diese drei Kulturen und diese drei Machtbereiche zusammentrafen. Das ist im wesentlichen der Süden Palästinas. Und die Namen von Städten, die aus dieser Zeit in alter Überlieferung genannt werden, Pithom, Ramses, Hebron, Berseba, deuten ebenfalls auf diesen Raum hin, so daß wir also sagen können: geographisch können wir den Anfang der israelitischen Geschichte feststellen. Es ist das Gebiet, in welchem heute ja wieder sehr unfreundlicherweise Ägypten und Palästina zusammenstoßen, und daran angrenzend der schmale Strich des Philisterlandes. Ich möchte für die, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, hier noch kurz daneben bemerken: wenn man das Vorkommen des Landes der Philister in der Bibel verfolgt, so sieht man, daß es bisweilen immer zusammengenannt wird mit Ägypten und bisweilen dann wieder zusammen mit Sidon und Tyrus, also mit den Städten der Phönizier. Und die historischen Kenntnisse, die wir aus alten Berichten haben, bestätigen das auch. Das Philisterland war eine Zeitlang in einem Bündnis mit, in einer Abhängigkeit von Ägypten und zu einer anderen Zeit wieder in einer Beziehung teils der Freundschaft teils der Abhängigkeit zu Phönizien. Aber also jedenfalls: der Raum steht fest. Die Vorgeschichte: Babylonien Nun werden Sie sich gewundert haben, daß ein Name nicht genannt wurde, – der Name der Chaldäer, der Babylonier: ur kasdim. Aber 245

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das hat einen bestimmten Grund. Das ist ein Gebiet, das nicht in die Geschichte Israels gehört, | um die Anfänge festzustellen, sondern in eine Zeit, die diesen Anfängen voranging. Es ist ebenfalls eine geographische Überlieferung. Ein Mann wird als Stammvater dieses Volkes genannt, Abraham oder Abram, und von ihm wird gesagt, daß er aus ur kasdim kam, aus der Stadt Ur im Lande der Chaldäer, also in dem Zweistromland des Euphrat und Tigris. Es ist das für gewisse Kulturüberlieferungen und Kulturquellen in diesem Volke wichtig, denn neben Ägypten war das Land der Chaldäer die alte Heimat der Kultur. Wir hatten darauf hingewiesen, daß Ägypten sozusagen die Linie entdeckt hat, sich mit den Problemen der Linie befaßte, infolgedessen mit der Geometrie, mit der Architektur, der Architektur der großen Linien, und dann mit den Linien des menschlichen Antlitzes, mit der Skulptur; die Skulptur gibt ja vor allem die Linien des Antlitzes wieder, nicht die Farben, wie sie sich auf dem Antlitz spiegeln oder darstellen. Die Linie ist in Ägypten entdeckt und das Wissen von ihr meisterhaft entwickelt worden. So ist in dem Lande der Chaldäer entdeckt worden die Zahl, daß heißt das in bestimmter Weise, in bestimmten Maßen auszudrükkende Verhältnis zwischen zwei Gegenständen in Beziehung von etwas zum anderen. Alles was Arithmetik heißt, was wir Rechnen nennen, das ganze Zahl- und Ziffernsystem, auf dem die Mathematik sich aufbaut, stammt aus dem Zweistromland, aus Babylonien, dem Lande der kasdim, der Chaldäer. Wie die Griechen, die für uns ja mittelbar die Väter aller Wissenschaft sind, ihre geometrischen, ihre skulpturellen, ihre medizinischen Kenntnisse auch aus Ägypten, so haben sie die arithmetischen und, was damit zusammenhängt, die astronomischen Kenntnisse aus dem Lande der Chaldäer empfangen. Wenn die alten Chaldäer die Gestirne beobachteten, so haben sie das gewiß auch getan, weil die Gestirne den alten Menschen Ausdruck von Schicksalsmächten zu sein schienen: sie kommen und gehen, steigen auf und nieder, sind sichtbar, verlieren sich in der Ferne. Aber die Chaldäer glaubten, das Schicksal bestimmen zu können, wenn sie das Verhältnis dieser Gestirne zueinander, wie es eben sich arithmetisch ausdrückt, und ihr Verhältnis zu dem Platz der Erde feststellten, so daß das Wort »Chaldaioi«, Chaldäer, für die Griechen die Bedeutung »Astrologen« hatte: Menschen, die das Schicksal aus der Konstellation der Gestirne bestimmten. Das Land der kasdim gehört nicht in den Anfang der Geschichte Israels hinein. Aber nach der alten Überlieferung war der Stammvater dieses Volkes von dort gekommen, zunächst nach Charan im 246

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Lande der Aramäer und dann von dort nach dem südlichen Palästina. Beginn und Epochen der jüdischen Geschichte Wenn wir nun alles das zusammenschließen, so können wir folgende Folgerung daraus ziehen. In der Zeit der großen Macht der ägyptischen Pharaonen war in Ägypten ein Stamm, eine Gruppe, eine Sippe, ein Clan, und diese Sippe wurde | von den Ägyptern als iwrim bezeichnet; überall, wo am Ende des ersten und am Beginn des zweiten Buches Moses Ägypter von diesem Volke sprechen, da nennen sie immer »die iwrim«, ganz wie später im Buche der Richter, wo von Kämpfen mit den Philistern gesprochen wird, die Philister dieses Volk immer iwrim nennen. Was iwrim bedeutet, habe ich schon zu zeigen gesucht: es bedeutet »Söldner«. Daher findet vielleicht ein Wort eine Erklärung, das, soweit ich sehe, nie richtig erfaßt wurde. In der alten Erzählung von Abraham, der seinen Neffen Lot befreite in einem Kriege zwischen Stämmen in Südpalästina und Stämmen aus dem babylonischen Gebiete – Kämpfen, in denen Lot gefangen genommen wurde –, erscheint Abraham als etwas, als was er in keiner der alten Überlieferungen, die im ersten Buche Moses erhalten sind, je erscheint. Er ist nicht der Mann, der Altäre baut und den Namen Gottes verkündet, nicht der große Herdenbesitzer, den Herden folgend von Weidegebiet zu Weidegebiet, sondern er erscheint dort als eine Söldnerfigur, als ein Mann, der seine Leute – seine eigenen und die sich mit ihm verbunden haben – über Nacht aufbietet (was man in Amerika aus anderer Zeit nannte »minute men«, die im Moment bereit sein müssen), mit ihnen in den Kampf eintritt und im Kampf siegreich ist. Und dort, an dieser einzigen Stelle, heißt Abraham ha-iwri, der iwri, der Hebräer. Und es ist wohl kein Zweifel, daß es bedeutet »der Söldnerführer«, der Führer und das Haupt, der Scheich eines solchen Clans, der entweder für sich lebt oder an andere sich verdingt, um für diese irgendwelche Dienste, besonders Kriegsdienste, zu leisten. Wir sehen also, daß einmal eine Gruppe, die ihren Ursprung auf Abraham zurückführt – Abraham, der auch iwri genannt wurde, »der Hebräer, der Söldnerführer« –, nach Ägypten kam, in Ägypten sich dem Pharao verdingte und, wie es aus den alten Berichten wohl deutlich hervorgeht, die Grenzwache im Osten Ägyptens, im Osten des unteren Nils, in dem Lande, das Gosen heißt, wahrnehmen mußte. Sie mußte dort die Grenzfestungen bemannen, sollte also das Untere Ägypten, das ja das wesentliche Ägypten war, gegen einen Ein247

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fall vom Lande der Hettiter, vielleicht auch vom Lande der Philister her schützen. Diese iwrim, freie Arbeiter, freie Söldner, freie Soldaten, wurden von einem der Pharaonen, indem er die Bedingungen des freiwillig geschlossenen Kontraktes nicht erfüllte, zu Zwangssoldaten, zu Zwangssöldnern, zu Zwangsarbeitern gemacht. Wenn am Anfang des 2. Buches Moses (1,10) es heißt, der Pharao fürchtete, diese iwrim könnten zu den Gegnern übergehen – vielleicht zu den Philistern, zu denen sie alte Beziehungen hatten, so wird uns das Bild jener Zeit ganz deutlich: diese iwrim, dieser Clan, diese Sippe ist in Ägypten, und dem Manne, der sie gemietet hat, dem Pharao, erscheinen sie gefährlich, und so macht er sie zu Zwangsarbeitern. Das sind die Folgerungen, die aus geographischen Tatsachen zu ziehen sind – und geographische Tatsachen, um es zu wiederholen, sind verbürgte Teile der Überlieferung. Das Sprachliche, das Sprachlich-Geographische ist hier der deut| lichste, der klarste Beweis. Es kann kaum bezweifelt werden, daß an diesen Tatsachen die Wirklichkeit erscheint: Geographie ist zuverlässig. Und diese Tatsachen fügen sich in das Gesamtbild jener Zeit hinein: Ägypten, die große Macht, die in Beziehung bleiben muß mit den Hettitern und den Philistern oder sich wehren muß gegen sie, diese Macht, die eine Söldnergruppe in ihren Dienst genommen hat, welche die gefährdete Grenze – das was jetzt der berühmte »Gaza strip« ist, die Gegend um Gaza herum – schützen soll, diese Aufgabe erfüllt hat und, vielleicht als sie in der Fortsetzung des Kontraktes sich nicht über die Bedingungen einigen konnten, zu Zwangsarbeitern gemacht werden, die dann an dem Bau von Grenzfestungen – von Pithom und Ramses, die das untere Niltal gegen Osten schützen sollten – zwangsweise beteiligt werden. An diesem Anfang ist wohl kein Zweifel. Und damit können wir, wie wir den geographischen Raum feststellen konnten, nun auch die Zeitpunkte festsetzen. Die Zeit ist, in aller Vorsicht gesagt, ungefähr das Jahr 1500 v. Chr. Man kann ungefähr in diesem Zeitraum den Beginn einer Geschichte des israelitischen Volkes festsetzen. Und wir werden dann sehen, wie ich jetzt nur kurz andeuten möchte, daß von da aus sich Epochen von immer etwa tausend Jahren ergeben. In einer merkwürdigen Übereinstimmung beginnt nach tausend Jahren ungefähr eine neue Epoche, bis in die Gegenwart hinein, so daß wir heute ungefähr in der Mitte der vierten Epoche, in der Mitte des vierten Jahrtausends wären.

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Ägyptische Namen Nun muß ich hier doch noch einige Nebenbemerkungen machen. Zunächst: die Tatsache einer Verbindung mit Ägypten wird bestätigt durch die Sprache, und zwar sowohl durch Namen wie durch Wörter und Wortverbindungen. Ein Mann, den manche von Ihnen kannten, Professor Yahuda 9 , der leider ja vor mehreren Jahren starb, hat ein Buch über ägyptische Sprache – ägyptische Wörter, Namen, Wortkonstruktionen – in der Bibel geschrieben. Yahuda war ein Mann von sehr starker Phantasie. Wenn ihm etwas einfiel, verliebte er sich darein – er war in seine brain waves wahrhaft verliebt und hat nicht immer scharfe Kritik gegen sich selbst geübt. Aber selbst wenn man das abzieht – und man muß es abziehen –, bleibt in seinem Buche doch eine Fülle der Ergebnisse. Und man muß diesem Manne dankbar sein, daß er sein großes sprachliches Wissen, seinen Scharfsinn und eben auch seine Phantasie in den Dienst dieser Aufgabe gestellt hat. Es gibt eine ganze Reihe unwiderleglicher Beispiele, daß die hebräische Sprache, wie sie im Pentateuch und noch im Buche Josua und im Buche der Richter uns entgegentritt, deutliche Einflüsse der ägyptischen Sprache zeigt: in der Art, wie Worte miteinander verbunden werden, auch in den Worten selber, die von semitischem Stamm sein, aber aus dem Ägyptischen her leicht erklärt werden können. Beispielsweise, Sie wissen, Moses ist ein ägyptischer Name, Phineas ist | ein ägyptischer Name, und so eine ganze Reihe anderer Namen auch noch. Namen nimmt ein Volk von anderen nur dann an, wenn es in einer gewissen, gewollten oder ungewollten, inneren Beziehung zu ihnen steht. Das jüdische Volk nahm griechische Namen an, als eine Verbindung mit den Griechen entstanden war, römische Namen, als eine Verbindung mit den Römern bestand, und so immer und überall. Sie wissen, es gibt eine klassische Abhandlung von Zunz über »Die Namen der Juden« 10 . Wenn also ägyptische Namen erscheinen, dann ist das ein Beweis dafür, wie eben eine Zeitlang, in einer entscheidenden Zeit, dieses Volk mit den Ägyptern verbunden war. Ich möchte nebenbei erwähnen: wahrscheinlich ist der Name Aaron auch ein ägyptischer Name. Vielleicht ist es einigen von Ihnen bekannt, daß Ernest Renan, der große französische Religions- und Sprachforscher, neben anderem sagte, ha aron sei kein Personen-, sondern ein Gattungsname, kein nomen proprium, sondern ein nomen appellativum. Sie wissen, im Hebräischen ist aron 11 die Lade, die Bundeslade, und die Priester, denen die Obhut der Bundeslade 249

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anvertraut war, wurden genannt »die Kinder, die Männer der Bundeslade«, b’ne aron, – und daraus wurde nachher ein Mann Aharon gemacht. Daß ein h in der Mitte ist, wird den, der die semitische Sprache kennt, nicht wunder nehmen; im Hebräischen haben Namen oft in der Mitte ein h, das auch wegfallen kann in der kürzeren Form, die der Name annimmt, z. B. Abraham und Abram oder Joseph und J’hoseph oder Jonathan und J’honathan – und so Aaron und Aharon. Das ist sehr geistreich, wird sich aber wohl kaum halten lassen. Dagegen stammt der Name wohl aus dem Ägyptischen. So ist das auch ein Beweis dafür, daß die Geschichte dieses Volkes in einer wichtigen Zeit, die die alte Überlieferung als die Zeit der Entstehung bezeichnet, mit Ägypten verbunden und benachbart war den Philistern und den Hettitern, daß es also in einer Kultursphäre zum Volke wurde und zwischen Kultursphären lebte. Und wenn auch das richtig ist – und auch diese Tatsache kann nicht bezweifelt werden –, daß der Mann, der als der erste große Mann, das große Haupt des Clans, als der Captain of the Clan erscheint, Abraham, von ur chasdim herkam, so deutet es darauf hin, daß auch er aus einem Kulturgebiet kam. Alles was damals Kultur war, ägyptische, kretisch-philistäische, hettitische, chaldäische oder mesopotamische, all das steht am Anfang der Geschichte dieses Volkes. Dieses Volk begann als Nomadenvolk, aber als Nomaden, die in der Welt der Kultur lebten und die Kultur in sich aufnahmen, so daß wir von diesem Volke ja auch wissen, daß es schon sehr früh die Schrift besaß, früher als andere Stämme in diesem Gebiet. Die Geschichte beginnt also sofort als Kulturgeschichte. Nordarabien

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Es ist aber gut, in diesem Zusammenhang auch noch einige andere geographische Feststellungen zu treffen, obwohl das wohl sehr trokken und nüchtern erscheint. | Es ist noch von einem anderen geographischen Raum die Rede, mit dem am Anfang die Geschichte dieses Volkes in Beziehung steht, das ist das ›midjanitische‹, daß heißt: das nördliche Arabien, das um das Sinaigebirge herum liegt. Man hat am Sinai vor einigen Jahrzehnten Inschriften gefunden, die man bis heute noch nicht entziffert hat; ein Gelehrter, Professor Grimme in Münster, hat sie zu entziffern geglaubt und älteste Form israelitischer Schrift dort zu finden gedacht, aber seine Ergebnisse, so wunderbarer Fleiß darin steckt, sind unhaltbar. Diese Inschriften sind noch nicht entziffert. Aber aus der Tatsache der Inschriften ersehen wir, daß dort auch eine gewisse Kultur zuhause war. Und es ist eine 250

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alte Überlieferung, daß Mose, der Mann mit dem ägyptischen Namen, nachdem ein Aufstand der iwrim, den er versucht hatte, zunächst fehlgeschlagen war, in das Land Midjan flüchtete und seine Frau von dort sich holte. Für die, die Hebräisch können, möchte ich auf eines hinweisen, das nicht meine Erkenntnis ist, sondern von Professor Taeubler stammt und in seinen »Biblischen Studien« (von denen jetzt der erste Band bei Mohr in Tübingen herauskommen wird) veröffentlicht ist. Von Mose ist (Num 12,1) gesagt, seine beiden Geschwister Aaron und Mirjam hätten ihn getadelt al odoth ha’ischa hakuschith »wegen der kuschitischen Frau, die er hatte«. Und man hat sich immer gewundert: Kusch ist im Hebräischen der Name für Abessinien, Äthiopien; zum Beispiel von dem König von Persien wird im Anfang des Buches Esther (1,1) gesagt, er herrschte mehodu w’ad kusch, »von Indien bis nach Äthiopien, nach Abessinien hin«. Es ist nirgends gesagt, daß Moses eine Negerfrau hatte; die Äthiopier waren ja dunkelfarbige Neger. Aber Professor Täubler hat unwiderleglich nachgewiesen, daß auf alten Inschriften und in alten Überlieferungen Kusch auch ein Gebiet in Midjan bezeichnet: das Gebiet in der Nähe des Sinai. Und die »kuschitische Frau«, das ist ja die Tochter des Jethro, von der die Bibel am Anfang des 2. Buches Moses (2,21) erzählt, daß Moses sie zur Frau nahm. Aber das, wie gesagt, nur nebenbei! So können wir also, um es nochmals zu sagen, das Anfangsgebiet deutlich und die Anfangszeit ungefähr feststellen. Owed: »aus dem Stamme ausscheidend« Es ist wohl eine Bezeichnung auch zu erwähnen, und hier darf ich wieder auf ein Ergebnis der Forschung von Professor Täubler 12 hinweisen. In einem merkwürdigen alten Gebete (Dtn 26,5) – und Gebete sind auch alte Überlieferung; nächst der Geographie sind Gebete (wie Beschwörungsformeln) etwas, was immer und immer weiter sorgfältig und zuverlässig überliefert wird – ist gesagt, daß der Israelit, wenn er die Erstlinge darbringe, sprechen solle, er danke Gotte für alles. Und in dem Gebete heißt es: arami owed awi, »mein Vorfahr war ein owed Aramäer«. Nun owed: bald hat man übersetzt »ein umherirrender Aramäer«, was aber gar keinen Sinn ergibt – was soll »ein umherirrender Aramäer« heißen?, | bald hat man den Text umgeändert, was immer die letzte Ausflucht, aber sehr schlecht ist. Aber Professor Taeubler hat genau nachgewiesen, daß das hebräische Wort awod das Ausscheiden aus dem Stamme bezeichnet: wenn jemand aus dem Clan ausscheidet, dann heißt er ein owed. 251

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Was das Ausscheiden aus dem Clan bedeutet, sehen wir aus geschichtlicher Zeit am deutlichsten an Mohammed. Die Chronologie des Islam beginnt mit dem Jahre der »Hedschra« – was gewöhnlich übersetzt wird, »der Flucht« – Mohammeds von Mekka nach Jatreb. Mohammed ist aber nicht aus Mekka geflohen, er ist freiwillig von dort weggegangen: er ist aus seinem Clan ausgeschieden. Damit hatte er einen schweren Entschluß gefaßt. Solange er innerhalb seines Clans blieb, in Mekka, hatte er den Schutz seines Clans. Er hatte durch seine neue religiöse Verkündigung viele Feinde sich zugezogen, aber man konnte ihm nichts antun, er hatte den Schutz seiner Sippe: right or wrong, my clan, wie man sagt, ob er recht oder unrecht hatte, er gehörte zum Clan, und der Clan schützte ihn. Als er von Mekka wegzog, schied er aus dem Clan aus. Er verlor dessen Rückhalt und Schutz, er begab sich ins Ungewisse, mußte sich auf sich selber und seine Anhänger verlassen, als er sich nun in Jatreb niederließ, das später ihm zu Ehren Medina Nabihu, »die Stadt des Propheten«, genannt wurde. Dasselbe bezeichnet das hebräische Wort owed. Es ist gesagt: »ein Aramäer, der aus seinem Clan ausschied, war mein, Vorfahr«. Das stimmt überein mit dem, was von Abraham gesagt ist, daß er aus ur kasdim wegzog. Dieses ganze Gebiet wurde das Gebiet der Aramäer genannt; es hatte ungefähr die gleiche Sprache. Wir wissen, daß nach der alten Erzählung, die wohl einen historischen Kern hat, der Enkelsohn dieses Abraham, Jakob, als er aus seiner Sippe wirklich flüchten mußte, weil sein Bruder Esau ihm nach dem Leben trachtete, sich zu dem alten Clan in das Land Mesopotamien zurückbegab und von dort seine Frau, oder die zwei Frauen, sich holte. Alles das läßt diesen Anfang deutlich vor uns hintreten. Wir sehen eine Sippe, einen Stamm, einen Clan von Menschen, die als iwrim, als freiwillige Söldner und Arbeiter, nach Ägypten gekommen waren; dort aus freien Arbeitern zu Zwangsarbeitern gemacht wurden, wie das auch anderwärts vorkam; die alte Beziehungen zu den Philistern, zu den Hettitern und zu dem altaramäischen Gebiete am Euphrat und Tigris hatten; und dann – wie wir sehen werden – unter Führung eines Mannes, der, wie der Name schon zeigt: Moses, stark ägyptisch gewesen ist, sich den Auszug aus Ägypten erkämpften, von dort wegzogen, wie der alte Ausdruck (Ex 14,8) heißt b’jad rama, »mit erhobener Hand«, d. h. als Rebellen, als Revolutionäre, und dort hinzogen, wo alte Clanbeziehung war, nach Midjan, und dort nun eine neue Form des Lebens sich zu bereiten suchten. Das ist der Anfang dieser Geschichte. Sie beginnt mit einem revo252

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lutionären Akt, mit einer Rebellion, die die Freiheit erkämpft. Sie beginnt dort, wo damals die größte, die wunderbarste und stärkste wissenschaftliche und künstlerische | Kultur war. Von dem ersten großen Scheich des Clans, von Abraham her, bestehen alte Beziehungen zum Lande der Chaldäer und Aramäer, Beziehungen auch zu Hettitern und Philistern. Aus revolutionärem Motive, auf Kulturboden hat diese Geschichte begonnen, ungefähr – immer nur unterscheidend – um das Jahr 1500. Und von da an zeichnen sich Epochen ab, ungefähr immer tausend Jahre, Millennium um Millennium einer großen Geschichte, aber Epochen innerhalb dieser Geschichte, nach denen sich gewissermaßen eine Ordnung, eine Übersicht in diese Geschichte hineinbringen läßt. Von Anfang an wird das, was folgt, deutlich.

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| Erste Epoche der israelitisch-jüdischen Geschichte: Vom Aufenthalt in Ägypten bis zum babylonischen Exil (ca. 1500 bis 586 v. Chr.) Die erste Periode: Volkwerdung in der Wüste Wir hatten den Versuch, Perioden in der jüdischen Geschichte festzustellen, zunächst dahin führen können, daß die erste Periode, die des Beginns, mit einem Aufenthalt in Ägypten zusammenhängt – dieses Wort »Aufenthalt« in seinem vieldeutigen Sinn genommen. Ein fester Punkt ist das Wort iwrim, wie wir gesehen haben. Und um einen Punkt bewegt sich alle Überlieferung: daß aus mizrajim, aus Ägypten, diese »Söldner« herausgeführt wurden unter Führung eines Mannes mit ägyptischem Namen, Moses, daß sie in die Wüste zogen und das Land der Philister mieden – wie der alte Bericht es poetisch ausdrückt: »Gott führte sie einen Umweg um das Land der Philister herum«. Dieses Volk der Philister, um darauf noch einmal hinzuweisen, war eine Kolonie, ein Kolonialvolk der Kreter. Als dann Kreta seine Macht verlor und Ägypten auf der einen Seite und Phönizien auf der andern Seite Erben dieses alten seefahrenden Volkes von Kreta wurden, hatten die Philister ihren Rückhalt verloren, und die Bibel, die in ihrer Geographie sehr zuverlässig ist (nicht immer in gleicher Weise vielleicht in den geschichtlichen Berichten), stellt die Philister, wenn sie sie nennt, bald zusammen mit den Ägyptern, bald mit den Phöniziern in ihre Berichte hinein. Wenn also diese iwrim, diese »Hebräer«, diese Söldner, direkt aus Ägypten auf dem kürzesten Wege nach der Wüste hingezogen wären, dann wären sie auf philistäische Grenzwachen, vielleicht auf ein philistäisches Heer gestoßen, das heißt, sie wären gezwungen worden, nach Ägypten zurückzukehren. So zogen sie auf einem Umwege, »durch das Schilfmeer«, wie der alte Bericht sagt, nach der Wüste hin. Welches Ereignis damals sich abspielte, das in den alten prophetischen Berichten der Bibel ja so lebendig und eindrucksvoll geschildert wird, können wir nicht wissen. Geographen nehmen an, daß der nördliche Teil des Roten Meeres, das sogenannte Schilfmeer, zeitweise, wenn eine starke Ebbe eintrat, trockengelegt war, und wenn man die Zeit der Ebbe benützte, ehe die Flut zurückkehrte, konnte man hindurchziehen. Und nach den alten Berichten sind diese »Hebräer« nun hindurchgezogen und waren in der Wüste, die heute die arabische Wüste im weiten Sinne genannt wird. 254

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Wenn wir nun weitergelangen wollen, müssen wir wieder von der Tatsache ausgehen, daß die Geographie der feste Punkt in aller Überlieferung von Stämmen und Völkern ist. Menschen werden erfunden, so genannt und werden ein sogenannter heros eponymos, wie das griechische Wort lautet – ein Held, der zum Stammvater oder zum Führer, zum Gesetzgeber gemacht wird. | Geographie wird nie erfunden. Die Geographie ist der Wegweiser durch die Geschichte, der feste Punkt innerhalb der Überlieferung. Hier treten uns nun zwei neue geographische Namen entgegen: Sinai und Midjan.

Midjan Um mit dem letzteren zu beginnen: Midjan – der Name kommt ja in anderen Quellen, der Südaraber, der Sabär und Nabatäer und der Ägypter vor – war der bestimmende, der herrschende Stamm in der Wüste, in dem nördlichen Teil Arabiens. Und die alte Überlieferung, die wieder ins Geographische hinübergreift, ist die, daß dieser Mann Moses mit dem ägyptischen Namen – »Moses« heißt »Sohn« – nach dem Lande der Midjaniter zog, dort blieb und eine Tochter des Scheichs, des Führers, der zugleich Priester und Medizinmann war, des Jethro, heiratete – und damit, da er dort blieb, aus seiner Gruppe ausschied. Ich hatte schon über den arabischen Begriff Hedschra gesprochen, der ein allgemein Semitisches bezeichnet, »Ausscheiden aus dem Clan«, aus dem Familienstamm, ein friedliches, manchmal auch vielleicht ein erzwungenes Ausscheiden. Wenn ein Mann eine Frau aus einem anderen Clan heiratete, dann kam die Frau zu ihm, wie es, ganz der vorderasiatischen Sitte entsprechend, von Isaak erzählt ist: er ging nicht zu der Familie des Laban hin, um dort die Frau zu holen, sondern die Frau kam zu ihm. Wäre er hingegangen, dann wäre es eine Art Hedschra gewesen. Das ist ganz die Sitte jener Zeit, wie sie den Hintergrund dieser Erzählung von Elieser, dem Knechte Abrahams, und Rebekka und Isaak bildet. Moses begab sich in das Gebiet der Midjaniter, nahm dort seine Frau und schied damit aus seinem Stamme aus. Und als er nach Ägypten zog, hatte er den Schutz, den Rückhalt seines Clans in Midjan, und das wurde immer in jenen Zeiten, wird heute noch in Vorderasien respektiert. In Midjan hatte nun dieses »Volk« – die Sippe, die Gruppe von Clans – der »Kinder Israel«, wie sie nun genannt werden, ihren Rückhalt. In den alten Erzählungen können wir es immer deutlich sehen. Von Jethro, dem Scheich von Midjan, wird gesagt (Num 255

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10,31): »Du bist unser Auge«, w’hajitha lanu l’enajim. Das »Auge«: erstens der Führer in der unbekannten Wüste, wo ja alles davon abhängt, die Wasserquellen zu kennen; dann aber auch, wie das hebräische Wort l’enajim es ausdrückt, »du bist unser Schutz, unser Führer, du kannst uns die Wege weisen«, – das war »unser Auge«, das in der Wüste Midjan diesen Rückhalt bot. Die Geschichte Israels steht, wie wir sehen werden, immer in Verbindung zu dem nördlichen Arabien. Das südliche Arabien, das Gebiet der Sabäer, der Nabatäer (?), das wir besonders gut kennen, weil da viele Inschriften aufgefunden worden sind, blieb der Geschichte Israels fern außer einmal: es wird erzählt, wie es ja bekannt ist, wie zu Salomo die Königin von Saba kam; das | ist die einzige Beziehung zu dem südlichen, kulturell hochstehenden Arabien, die wir in der Bibel haben. Um es zu wiederholen: Die drei Quellen, aus denen das israelitische Denken, die israelitische Kultur sich nährte, sind die ägyptische, die mesopotamische und die hettitische; denn vom südlichen Arabien hat das Volk kaum wohl etwas empfangen, und das nördliche Arabien war nicht Kulturgebiet, sondern Gebiet zwischen Kulturen. Von dort haben die Israeliten kulturell nichts erhalten können. Aber für die, die aus Ägypten zogen, war es eine Frage der Existenz, daß sie an einem, und zwar einem bedeutenden, Stamme dieses nördlichen Arabiens den Rückhalt hatten, der darin gegeben war, daß ihr Führer in diesen Clan der Midjaniter eingetreten war. So ist der Name Midjan wieder ein Wegweiser auf dem Versuche, durch diese alte Zeit hindurch einen Weg der Geschichte zu finden.

Sinai Und dann der andere Name: Sinai – ein Name, der ja in die Weltgeschichte eingegangen ist. Dieses Wort Sinai verlohnt eine nähere Betrachtung für die, die an Sprachforschung interessiert sind. Wir haben in der Bibel, im 1. Samuelisbuch (I Sam 14,4), den Namen eines Berges im südlichen Palästina, senne, der dasselbe bezeichnet wie »Sinai«: »zackig«: also einen Berg, der nicht in runden Formen zum Gipfel sich erhebt, sondern in verschiedenen Zacken aufragt. Und wenn Sie Bilder vom Sinai gesehen haben – er hat diese zackige Form. Und nun ist eine große Frage: warum und wodurch hat dieser Berg Sinai diese Rolle in der Geschichte – in der Anfangsgeschichte zumal – dieses Volkes gespielt? Er hat die Rolle behalten: wenn Sie die Geschichte Elias kennen, und Sie alle kennen sie ja – er ist zum Berge Sinai oder, wie 256

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er auch hieß, Horeb, hingegangen. Gott wird (Dtn 33,2; Jdc 5,5; Ps 68,9.18) genannt: »der auf dem Sinai wohnt«. Das Wort aus dem Schluß des 5. Buches Moses (33,16) schochni s’ne, das, soweit ich sehen konnte, überall übersetzt wurde »der im Dornbusch wohnt«, heißt wirklich »der auf dem Sinai wohnt«. Ich muß für die, die philologisch interessiert sind, eine Bemerkung einfügen, welche vielleicht manchen von Ihnen ferner liegt. Im Hebräischen, und ebenso im Arabischen, ist eine feminine Endung entweder ah – alle weiblichen Namen enden ja auf -ah, Sarah, Rebekkah, Zipporah usw. – oder die Endung ah und i sind Endungen für weibliche Namen. Daher kommt der Name Sarah auch als Saraj vor, und wenn die Bibel (Gen 17,15) erzählt: zu Saraj wurde gesagt »du sollst nicht mehr Saraj heißen, sondern Sarah«, die Herrin, so ist das nur eine spätere Dichtung, um diese zwei Namensformen zu erklären; ähnlich wie manche Namen in der Mitte ein h haben und ohne h sind – auch zu Abraham läßt die alte Erzählung sagen »du sollst nicht mehr Awram, sondern Awraham heißen«. Oder zum Beispiel das Wort für Feld kommt in der doppelten Form sadeh | und sadaj vor, mit h und mit j hinten geschrieben, und das Wort für Feueropfer, ischeh, mit h hinten, ischej mit j. Oder während im Hebräischen liwnah, im Arabischen libnaj, also anstelle des h das j. Wie im Hebräischen, so in den meisten semitischen Sprachen. S’ne ist nur die andere Namensform für Sinai. Schochni s’ne heißt also nicht »der im Dornbusch wohnt«, sondern »der auf dem Sinai wohnt«. Und ich will darauf hier nicht eingehen, ob die Worte aus dem Anfang des 2. Buches Moses (3,2 ff.) »der Dornbusch brannte im Feuer und wurde nicht verzehrt«, w’has’ne boer ha’esch w’has’ne enennu ukkal zu übersetzen sind »der Sinai brannte im Feuer …«. Aber das nur nebenbei 13 . Jedenfalls, dieser Berg Sinai spielt eine Rolle in der alten Überlieferung. Um es wieder zu unterstreichen: Geographie wird nicht erfunden. Dieser Sinai ist ein Vulkan, ein erloschener Vulkan heute, aber nach allen alten Berichten einst einer, der in Tätigkeit war, der Rauch und Flammen aussandte. Man kann es sich vorstellen, was das für ein Erlebnis gewesen ist für einen Stamm, für ein Volk, das noch niemals so etwas gesehen hatte. Und dort hat Moses sein Volk versammelt, dort ist diese alte Gesetzgebung, die Zehn Worte, gegeben worden, die seitdem das Zentrum des israelitischen Denkens, und nicht nur des religiösen Denkens dieses Volkes ausmachen. Was an Poesie hinzugekommen ist, ist schwer zu sagen. Aber diese Tatsache des Berges Sinai, aus dem die Flammen und der Rauch aufsteigen, um den herum und in dem es donnert, das ist feste, nicht zu 257

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bezweifelnde Überlieferung. Das lebte in allen Generationen dieses Volkes, soweit wir zu erkennen vermögen, weiter. So haben wir also einen zweiten Punkt, der festzustehen scheint und sicherlich wohl feststeht, wenn man die Geschichte in ihren Epochen und Perioden feststellen will: eine Zeit, in der dieses Volk unter dem Schutze, mit dem Rückhalt des midjanitischen Stammes am Sinai war, in der Wüste, und daß sie von dort aus in der Wüste umherzogen.

Die Wüste

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Die Tatsache der Wanderung in der Wüste, mit den genauen geographischen Bezeichnungen, ist wohl kaum etwas Erdachtes. Das ist auch wieder Geographie, die im Gedächtnis aufbewahrt ist, besonders da dies alte Namen sind, die, später geschwunden, neueren Namen Platz machten. Sie sind dort gezogen, umhergezogen von Wasserstätte zu Wasserstätte, mit Hilfe des Jethro und des Stammes der Midjaniter. Denn in der Wüste, midbar, wie das hebräische Wort lautet, ist nur rings um die Oasen ein fester Aufenthalt. Die Oasen waren alle, wie sie heute es auch noch sind, wenn ich es so ausdrücken darf, in festen Händen: sie gehören einem Stamme, einer großen Familiengruppe. Dort kann man sich kurz aufhalten, um Wasser zu schöpfen; aber die Oase ist fester Besitz, man kann nur in der Wüste umherziehen. | Wenn ich das Wort »Wüste« gebraucht habe, so ist es mit Vorbehalt nur geschehen. Dieses Wort midbar ist schwer zu übersetzen. Es bezeichnet, wenn man die verschiedenen Stellen, an denen es in der Bibel vorkommt, vergleicht, den Gegensatz zu a’damah: a’damah ist das Gebiet, das bestellt wird, midbar ist das Gebiet, das nicht bestellt wird. Man macht sich von den Wüsten meistens einen merkwürdigen Eindruck. Sie haben eine sehr gute Schilderung der Wüste – vielleicht ist manchen von Ihnen der Name des französischen Dichters Pierre Loti 14 , der vor etwa vierzig, fünfzig Jahren lebte, bekannt; in die Weltliteratur ist ja sein Roman »Pêcheur d’Islande« (»Islandfischer«) eingegangen. Der hat auch ein merkwürdiges Buch geschrieben, »Le Désert«. Er hat lange in der sogenannten Wüste gelebt und schildert nun die Art dieses Gebietes: nicht Fruchtland, aber doch nicht Sandwüste, sondern ein Gebiet mit welligen, hügeligen Formen, hier und dort eine Quelle, die etwas dürftiges Gras trägt; vielleicht am ehesten mit »Steppe« zu übersetzen. Die Steppe also, dieses Mittelding zwischen Sandgebiet und Fruchtgebiet, das ist die258

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se »Wüste«. Wenn ich ein Persönliches mitteilen kann: ich bin einmal einige Tage in der Wüste gewesen, von Beth Ascher im Negev, mit Hilfe von jemandem, der mich fuhr und führte, nach Süden weiter in die Wüste hinein, und ich habe nachher das Buch von Pierre Loti nochmals gelesen. Und es ist wirklich so, dieses Gebiet in seiner Eigenart, wie dieser französische Dichter, dessen Dichterauge schärfer sah als das des gewöhnlichen Menschen, es geschildert hatte. Wie lange die Israeliten dort waren, das ist schwer zu sagen. Die alte Überlieferung (Num 14,33) drückt sich aus: arba’im schanim, »vierzig Jahre«. Das Wort »vierzig« bedeutet eine nicht genauer zu bezeichnende Zahl: »eine lange Zeit, aber ich weiß nicht wie lange«, das ist im Hebräischen vierzig Jahre; und wenn man eine ganz, ganz lange Zeit, aber man weiß nicht wieviel, ausdrücken will, so sagt man: vierhundert Jahre. Wenn jemand reichlich Prügelstrafe bekommen sollte, so sagte man »vierzig Schläge«, arba’im makkoth, aber das heißt nur »viele«. So sind sie also nach der alten Überlieferung lange Zeit in der Wüste umhergezogen. Und wenn wir uns aufgrund der alten Berichte und Angaben ein Bild machen können, war es die Zeit, in der erstens ein neues Geschlecht heranwuchs, ein Geschlecht von Menschen, die nicht mehr iwrim und gezwungene iwrim gewesen, sondern in der Wüste entweder geboren oder aufgewachsen waren, und eine Zeit, in der dieses Volk die Natur kennen lernte. Das ist ja immer entscheidend in einem Volke, ob es die Natur kennt. Es ist merkwürdig – Alexander von Humboldt 15 , der einer der seltenen und wenigen Universalgelehrten war, ein großer Geograph vor allem, der hat ja das, was man heute Mittelamerika nennt, zuerst erforscht, der hat auch in seinem Buche »Kosmos« darauf hingewiesen, daß es Völker von großer Begabung gibt, denen die Natur doch wenig sagt. Wenn wir zum Beispiel an das vielleicht begabteste Volk, das es gegeben hat, denken, an die Griechen: Die Griechen sind über das Meer gefahren, sie waren vom Meer umgeben, aber nirgends im Homer, in den Lyri-|kern, in den Dramatikern oder in den Dichtern der Komödie kommt vor, daß das Meer schön ist. Die Majestät des Meeres hat nie Eindruck gemacht. Es ist furchtbar, wird auf der einen Seite gesagt, es verschlingt Menschen; auf der andern Seite: es ist salzig, man kann das Wasser nicht trinken – aber die Majestät des Meeres ist ihnen nie aufgegangen. Ebensowenig ist den Griechen die Majestät des Gebirges aufgegangen. Nur die Schönheit des Waldes, aber die auch sehr selten: nur einmal in der großen griechischen Literatur – oder wenigstens in dem Teil, der 259

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uns erhalten ist – im »Ödipus auf Kolonos« 16 , als Ödipus nach dem heiligen Hain von Kolonos kommt, da wird in Versen, die unvergeßbar sind, von der wundersamen Poesie des Waldes, dieses Waldes von Kolonos, gesprochen. Oder wenn wir an die Römer denken: die Römer haben die Annehmlichkeit der Quelle, eines schattigen Baumes, [in Idyllen] und wie diese Verse alle heißen, gewußt und besungen – aber nichts von der Majestät des Gebirges. Wenn man überlegt: Livius hat im 21. Buch sehr ausführlich über die Alpen geschrieben; er sagt von den Alpen alles Unangenehme und Schlechte, aber daß sie schön, daß sie majestätisch sind, davon spricht er mit keinem Wort. Und es ist merkwürdig – und darauf hat eben Alexander von Humboldt hingewiesen: Das einzige Volk der Antike, in welchem Majestät, Gewalt von Gebirge, von Fluren, vom Meere, von Wäldern besungen ist – die Psalmen sind voll davon, das Buch Hiob ist voll davon –, ist das Volk der Israeliten. Vielleicht, man kann nur sagen vielleicht, geht das darauf zurück, daß die entscheidende Jugendzeit, diese Zeit erster Plastizität des Volkes, in der Wüste war – in der Wüste, die auf den, der für Natur empfänglich ist, einen unvergeßlichen, unvergleichlichen Eindruck macht, einen Eindruck, der in dem, der ihn einmal empfangen hat, immer bleibt.

Der neue Gottesname

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Mit dem Sinai verbunden ist ein neuer Name Gottes: eine Bezeichnung Gottes, die nur diesem Volke der Israeliten angehört. Die Sprache der Israeliten, die später, in der Zeit, als das Wort iwrim schon den Klang des Altertümlichen gewonnen hatte, die hebräische Sprache genannt wurde, ist verwandt mit allen den anderen semitischen Sprachen, mit dem Arabischen, dem Aramäischen, dem Assyrischen vor allem, und Wörter aus der einen Sprache können durch Wörter aus den anderen, den verwandten semitischen Sprachen, erklärt werden. Im Buche Hiob zum Beispiel kann sehr vieles nur aus dem Arabischen erklärt werden. Wörter kommen dort vor, die nicht die eigentlich hebräische, sondern die arabische Bedeutung haben: das Wort kerem, Weinberg z. B., das Sie alle vom Hebräischen her kennen und das, wie manche unter Ihnen wissen werden, im Arabischen »Kostbarkeit, wunderbar Kostbares« bezeichnet, kommt im Buche Hiob nicht in der Bedeutung »Weinberg« vor, sondern nur in | der Bedeutung »Kostbarkeit«. David Jellin 17 , ein Mann, dessen Name vielleicht vielen von Ihnen bekannt ist, der in Jerusalem lebte und in seiner Kindheit zweisprachig, hebräisch und ara260

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bisch, herangewachsen war, hat auf diese Arabismen und die arabischen Bedeutungen im Buche Hiob, soweit er sie erkannt hatte, hingewiesen. Wir ersehen daraus, daß das Buch Hiob im Süden des Landes entstanden sein muß, dort wo eben die arabische und die hebräische Sprache sich berührten. Andererseits haben, worauf hier, obwohl nur nebenbei, hingewiesen werden darf, im Buche Hosea manche Worte aramäische Sprachbedeutung, begreiflicherweise – der Verfasser, Hosea, hat im Norden gelebt, dort wo das Hebräische und das Aramäische sich berührten. So finden wir überall Verbindungen von Wörtern, wie eben verwandte Sprachen aufeinander einwirken. Das Hebräische hat ja auch aus anderen semitischen Sprachen Wörter übernommen, wie z. B. das Wort th’hom, das im ersten Kapitel der Bibel (Gen 1,2) schon steht, dort ein assyrisches Wort ist, kein eigentlich hebräisches. Aber so verwandt alle diese Sprachen sind, ein Wort ist in der hebräischen Sprache, das wir in keiner anderen semitischen Sprache finden, – nicht in den nordsemitischen, nicht in den ostsemitischen, nicht in den südsemitischen Sprachen, sondern nur im Hebräischen. Das ist das Wort, das wir als Tetragrammaton bezeichnen, JHWH, das später, weil man dieses Wort selber nicht aussprechen wollte, »Adonai« genannt und so von den Masoreten auch punktiert wurde. Dieses Wort ist nur diesem israelitischen Volke zugehörig. Und die alte Erzählung im zweiten Buche Moses, die poetisch Tatsachen umkleidet in einer wundersamen Poesie, sagt, daß dieses Wort dem Moses offenbart worden sei: Gott habe zu Mose gesprochen (Ex 6,3): »Ich erschien den Stammvätern unter dem Namen El Schaddai, Allmächtiger Gott, aber unter diesem Namen bin ich ihnen nicht bekannt geworden«. Dieser Name tritt hier als etwas eigentümlich Israelitisches aus dem Beginn der israelitischen Volksgeschichte zu uns hin. Was bedeutet dieser Name? Es ist sehr viel darüber geschrieben worden, aber, wie es scheinen will, kaum etwas, was befriedigen kann. Am nächsten kommt sprachlich der Wirklichkeit noch die Erklärung, welche »Jahweh« deutet als, mit anderer Vokalisation, das Wort j’howah, »er schafft, er führt ins Dasein«. Man hat auch aus arabischen Wörtern, aber ganz gekünstelt, die Bedeutung »Donnerer« herausdeuten wollen. Was das Wort bedeutet, ist schon wohl am deutlichsten und klarsten gegeben in dem Kommentar, den die Bibel selber im 3. Kapitel von Exodus gibt:– e’heje a’scher e’heje, »Ich bin, der Ich bin«. E’heje a’scher e’heje heißt genau: »Ich bin«. Wenn im Hebräischen etwas sehr stark pointiert, accentuated and stressed, aus261

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gedrückt werden soll, da wird ein a’scher dazwischengefügt. In der Bibel gibt es eine ganze Reihe solcher Belege, wie durch dieses Wort a’scher, »welcher«, das dazwischengefügt wird – übersetzt: »Ich bin, der Ich bin« – ausgedrückt werden soll: » I c h b i n « in stärkster Betonung. I c h b i n , – das | Ich und das Sein zusammengefaßt. Und das ist auch in dem Worte Jahweh enthalten. Grammatisch gesprochen ist es so, daß Jahweh wohl ein Piel der Form des Verbums hajah, »sein«, ist. Sie wissen, es gibt im Hebräischen eine Form, die eine Verstärkung des Zeitwortes ausdrückt. Immer wenn ein Zeitwort verstärkt ausgesprochen wird – das gesprochene Wort ist ja älter als das geschriebene, die Sprache älter als die Buchstaben –, wird der Mittelkonsonant verstärkt, verdoppelt. Auch im Englischen wird die Mitte verdoppelt – die Mitte, die alles trägt –, wenn man z. B. sagen will »ich denke«, und das betonen will: »I am thinking«. So wird im Hebräischen durch ein Dagesch der mittlere Buchstabe verstärkt. »Jahweh« – das verdoppelte Jod ist im Hebräischen immer ein w – heißt: »Er ist«, – ein klares Piel von dem Worte hajah, »sein«; wie nachher, als Gott zu Moses spricht, es verdeutlicht wird »Ich bin«. » E r i s t « , das wurde ein neues Wort. Und nicht nur ein neues Wort, sondern eine ganz neue religiöse Idee – eine Offenbarung, die in die Geschichte eintritt. Man hat sie auch nicht genau übersetzen können. Die Septuaginta, die griechische Übersetzung, sagt z. B. ho˘ o¯n, »der Seiende« – dem Inhalt nach sehr richtig –; die aramäische Übersetzung hat überhaupt nicht den Versuch der Übertragung gemacht, sondern hat dieses Wort, so wie es ist, übernommen. Es ist damit etwas ganz Neues in das religiöse Leben eingetreten: in das religiöse Leben, nicht nur in das religiöse Denken. In das religiöse Denken insofern, als Gott bezeichnet wird als der Seiende, der, wenn er von sich spricht, sagt: »Ich bin«, von dem der Mensch spricht und sagen kann »Er ist, der Er ist«. Das findet sich nicht nur in keiner anderen semitischen Sprache als Wort, sondern auch in keiner anderen Sprache als Idee und als Begriff. Es ist etwas ganz Einzigartiges. Wie Calvin dem Sinne nach richtig übersetzt hat: Der Ewige (– die Übersetzung ›L’Éternel‹ stammt von Calvin). Luther hat übersetzt, und andere folgten ihm, »Der Herr«, »The Lord«, weil es die Art, wie die Juden, um dieses Wort nicht auszusprechen, ja diesen Namen wiedergaben – Adonai –, wiederzugeben schien. Aber die richtige Übersetzung, wenn man nicht das Wort »Er ist«, »ER, der ist« wiedergeben will, ist die Calvinsche »Der Ewige« 18 . Damit ist etwas ganz Neues in die Geschichte hereingekommen. 262

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Der Ewige, der hier mit aller Betonung heißt »Der, der ist«, der allein das Sein ist, kann nur Einer sein. Und so ist in diesem Worte schon der strenge Monotheismus verwurzelt. Das steht am Anfang der Geschichte dieses Volkes: der Anfang der Geschichte dieses Volkes ist ein ganz neues religiöses Prinzip, das in der Idee und in der Sprache sich ausdrückt. Alle Geschichte der Religion ist ja eine Geschichte der religiösen Sprache, worin das Religiöse versucht, das Unaussprechbare aussprechbar zu machen. Das menschliche Wort ist eine Brücke vom Menschen zu Dingen und zu anderen Menschen hin. Die Sprache fing ja an mit dem Zeichen: die ältesten Wörter, die | wir in den Sprachen primitiver Völker kennen, sind Zeichen, die auf etwas hindeuten, und aus dem Zeichen, das auf etwas hindeutet, wird nachher die Bezeichnung des betreffenden Dinges, des Gegenstandes. Und diese Sprache soll nun etwas ausdrücken, was jenseits des Irdischen ist. Das kann nur die Poesie zum Ausdruck bringen, und so wird alle Sprache, wenn sie den Bezirk des Überirdischen ausdrücken will, zur Poesie. Und die Poesie schafft nun neue Wörter oder gibt alten Wörtern neuen Inhalt. Alle Religion also ist ein Versuch, das Unaussprechbare aussprechbar zu machen: das ist auch in diesem Worte »Jahweh« (das, indem man die spätere Vokalisation zugrunde legte, auch »Jehovah« ausgesprochen wurde) – in diesem Worte, das Eigenbesitz des israelitischen Glaubens, des israelitischen Denkens geblieben ist und so, wie dieses Wort in seinem Grundsinne ist, in keine andere Sprache eindringen konnte. Damit fängt die Geschichte Israels an: der Sinai, der im Feuer brennt und nicht verzehrt wird, an dem Moses diesen Namen erfährt, an dem ihm dieser Name offenbart wird. Das ist das erste, was hier festzuhalten ist. Wir hatten gesehen, wie die Geographie uns der erste Wegweiser durch all die mannigfachen Fragen und Probleme gewesen ist, die die Anfangsgeschichte des israelitischen Volkes stellt. Es gibt zwei Fakten, die als Fakten dastehen, die nicht erfunden werden können, die von Poesie umkleidet sind, aber nicht von der Poesie geschaffen werden. Das ist erstens die Geographie und zweitens die Sprache: der zweite Wegweiser ist die Sprache.

Der Prophet Das zweite [hier Festzuhaltende] ist, daß hier zum ersten Male in diesem Volke mit einer besonderen Bedeutung auftritt der Begriff des nawi, des Propheten. Von Moses ist gesagt, er sei ein Prophet ge263

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wesen, und weil er ein Prophet war, ein nawi, darum war er fähig, diesen Namen von Gott zu hören und ihn dem Volke weiterzugeben. Und nun tritt die Frage auf: was ist ein nawi, ein Prophet? Das Wort ist kein eigentümlich israelitisches. Es kommt in derselben Form bei allen semitischen Sprachen vor; im besonderen ist es, soweit wir es verfolgen können, auch schon ein altes arabisches Wort. Sprachlich ist es bisher noch nicht genau erläutert worden. Man hat die verschiedensten Erläuterungen, »der Hervorsprudelnde« und anderes. Ich selber weiß auch, trotz allem Nachdenken, keine genügende Erklärung zu geben. Das Wort ist, wie gesagt, nicht spezifisch israelitisch, und es wird darum mit Recht, zum Beispiel in der Erzählung von Elijahu, von den n’wi’e ha-baal, den Propheten des Baal, gesprochen. Es gab Propheten in allen semitischen Völkern und, in ihrer Art, darüber hinaus. Ebenso gibt es den Propheten in vielen primitiven Völkern. Wir sehen es besonders deutlich vor uns in den sogenannten Schamanen bei den alten, heute schon fast ausgestorbenen Stämmen, die im südlichen und mittleren Sibirien | leben, dort wo Sibirien sich der Mongolei nähert. »Schaman« ist ein Wort einer mongolischen Sprache. Der Schaman ist derjenige, der einerseits ein Geisteskranker ist, andererseits als ein Verkünder höherer Worte angesehen wird – nicht nur höherer Gedanken, sondern höherer Worte, Worte einer höheren Sprache – und der in den meisten Fällen der Despot, der Tyrann des Stammes ist. Allen primitiven Völkern erschien die Geisteskrankheit nicht als Krankheit, sondern als Ausdruck der Tatsache, daß ein Geist, ein Wesen aus einer höheren Welt, in einem Menschen Wohnung genommen habe. Wenn ein Geisteskranker stammelte, unverständliche Laute aussprach, so war das die Sprache dieses höheren Wesens, das in ihm wohnte. Ein solcher Mensch wurde, um einen Ausdruck aus der Sprache der Südseeinsulaner zu gebrauchen, »tabu«: er durfte nicht angetastet werden; man durfte ihn nicht berühren, durfte nicht einmal, außer unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen, in seine körperliche Nähe kommen. Er war unantastbar. Sein Wort galt darum als Wort einer höheren Macht, was er gebot als Gebot, das eine höhere Macht gab. Die Worte solcher Schamanen wurden gedeutet: diese unverständlichen Laute wurden einem System der Deutung unterzogen, und daraus wurden Voraussagungen, Gebote, Orakel gegeben. Ein solches Prophetentum war ja auch das Orakel in Delphi. Dieses Orakel, das in Griechenland eine solche Rolle spielte, das ein Sokrates verehrte, hatte auch so angefangen, daß Menschen, die durch 264

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narkotische Dünste, die dort aus dem Erdboden aufstiegen, in einen Zustand der Verrückung, Verzückung versetzt wurden (in das, was man in der Psychologie früher einen Trancezustand nannte), stammelten, unverständliche Laute von sich gaben, und diese dann gedeutet wurden. Das war die Pythia in Delphi. Später hat dieses Orakel in Delphi seine Entwicklung genommen und hat Weisheit verkündet. Sie alle kennen das Wort, das die Pythia sprach und das auf Sokrates diesen tiefen Eindruck machte: »Erkenne dich selbst«, gnothi seauton. Das war im Grunde auch das Prophetentum in der semitischen Welt, und wahrscheinlich hat es so auch in den ältesten Zeiten der Hebräer, der Nachkommen Abrahams, solche Menschen im Volke, in den Stämmen gegeben. Und nun ist das Außerordentliche, daß hier das, was gemeinmenschlich ist, was, wie wir sehen, allen semitischen Stämmen zugehört, zu etwas ganz spezifisch, unvergleichlich Israelitischem umgewandelt wird. Der Prophet verkündet nicht geheime Laute, sondern er spricht mit bestimmter Deutlichkeit, um Gebote, Gebote Gottes, Worte Gottes zu verkünden. Wort Gottes ist hier nicht mehr, wie es bis dahin im Prophetentum war, eine Magik, die geheime Laute empfängt und deutet, sondern ist hier Ausdruck des Gebotes, des großen »Du sollst«. Gott offenbart sich nicht in Verzückungen, in unverständlichen Lauten, sondern in dem »Du sollst«, dem Gebote. Das ist das zweite, was hier am Anfang als die bestimmende Kraft dieses Volkes vor uns steht. Das erste ist der Name des Einen Gottes »ER IST«, und das andere der Prophet, der das den Menschen verkündet, was von dem Ewigen | her in ihm lebendig, ihm klar geworden ist: Menschen, tiefe Poeten, tiefe Denker, die imstande sind, aus einer höheren Welt – oder, mit einem anderen Bilde, aus den Tiefen alles Denkens und Empfindens hervor – Erkenntnis zu empfangen. Moses ist der Prophet. Und die Größe einer Idee zeigt sich immer darin, daß die Idee neue Ideen zeugt und daß ein Mensch der Idee neue Menschen der Idee beruft. Das ist die Größe des Prophetentums. Im Islam hat es den Propheten Mohammed gegeben: er ist der Prophet und hat keinen Nachfolger gehabt. In der indischen Welt ist der eine große Prophet Gautama Buddha gewesen: er hat keinen Nachfolger gehabt. In der Welt, in der sich das Christentum bildete, war der eine – der in den ältesten Quellen ja auch als Prophet bezeichnet wird – Jesus: keiner ist Nachfolger gewesen. Aber an Moses schließt sich die Reihe der Propheten durch ein volles Jahrtausend an. Und die erste Epoche, das erste Jahrtausend, um das schon vorwegzunehmen, ist das der Propheten, von Moses bis Maleachi. Tau265

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send Jahre etwa, die erste Epoche: auf den Propheten folgt der Prophet, einer erzeugt und schafft den anderen, bis das Ziel erreicht ist. So gehören sie zusammen, der Prophet und der neue Name Gottes, die neue Erkenntnis: der Seiende, der Eine Seiende, der das ganze Sein ist und aus dem das Gebot hervorgeht. Auch andere Völker, andere geniale Kreise haben den Gedanken der Einheit gehabt. In Griechenland hat Xenophanes das Wort gesprochen hen kai pan, »Eins und Alles« – das ist die Antwort auf die Verschiedenheit der Welt: alles Verschiedene und Mannigfaltige ist im Grunde Eines und ein Ganzes. Aber der griechische Denker hat das Gebot nicht gekannt. In Indien ist auch die Idee der Einheit gewesen – wir hatten hier vor zwei oder drei Jahren über die indische Religion gesprochen: Brahman und Atman ist eins, das Ich und das All; aber es fehlt auch dort das Gebot. Hier ist das Eigentümliche, daß der Kehrreim von allem ist: ER, DER IST – Du sollst. Immer folgt auf den Namen Gottes, dem die ganze Emphase gegeben ist, »Du sollst«, oder umgekehrt »Du sollst – Ich bin der, DER IST«. Das ist etwas nur Israelitisches, ein ganz Neues – ein Revolutionäres. Als die große Revolution ist der Glaube Israels in die Welt getreten, als die große Revolution hat der Glaube, hat das Leben dieses Volkes begonnen – eine geistige Revolution in der völligen Vergeistigung und Vereinheitlichung der Gottesidee. Das ist so zusammengehörig: der neue Name, der ewige Name, der nun neu wird, weil er jetzt erkannt wird, und das Prophetentum, das heißt, die Aufnahme dieser Erkenntnis durch Menschen, und die Weitergabe dieser Erkenntnis an andere Menschen, in dem großen Bewußtsein, daß, wo Gott spricht, das Gebot spricht. Keine Theosophie, keine Philosophie, keine Theologie, sondern »Gott ist – du sollst«: das ist der Kern der israelitischen Religion. Hier muß nun, ehe weitergegangen wird, kurz auf eines noch hingewiesen werden. Moses steht als die große Selbstverständlichkeit hinter der ganzen Geschichte dieses Jahrtausends. Ich weiß nicht, ob es einem von Ihnen aufgefallen ist: der Name Moses kommt in den Büchern der Propheten von Jesaja bis | Maleachi, mit Ausnahme dieses letzteren, kaum vor. Hosea sagt (12,14): »Durch einen Propheten habe Ich sie aus Ägypten geführt« – der Name Moses ist nicht genannt. Bei Micha sind Aaron, Mirjam und Moses nebeneinandergestellt. Das Wort Moses kommt kaum vor; es ist merkwürdig, daß das bisher so wenig beachtet wurde. Aber er steht als die große Wirklichkeit, als die Selbstverständlichkeit, von der man nicht spricht, hinter allem. Und erst der letzte der Propheten, aus der Zeit des babylonischen Exils und der Rückkehr aus ihm, Maleachi, sagt: sichru 266

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thorath Mosche awdi, »Denket an die Thora Moses, meines Knechtes« (3,22). Er ist der Prophet, aber von ihm sind die Propheten ausgegangen; er ist die große Selbstverständlichkeit, von der alles andere in dieser ersten Epoche dieses Volkes gekommen und hervorgeflossen ist. Sinai, Moses und Prophetentum, das steht als Deutlichkeit am Anfang dieser ersten Epoche dieser Geschichte. Die Poesie hat sich um das alles herumgelegt und hat in unvergänglicher dichterischer Kraft das alles neu gedichtet. Aber in der Poesie stehen diese festen Tatsachen: Sinai, Moses, der Prophet, Jahweh, ER, DER IST. Und wo die Poesie spricht, da kann das Wort des Aristoteles 19 auch immer angewandt werden: kai philosophoteron kai spoudaioteron poiesis historias estin, »viel philosophischer und viel tiefer als die ›historia‹, die Forschung, ist die Poesie«. Die Poesie gibt den letzten Ausdruck dort, wo das Unaussprechliche aussprechbar gemacht werden, wo ein Wort in die höhere Welt hinüberreichen soll.

»Ich, Dein Gott« Wir haben ausführlich über das Tetragrammaton gesprochen, den Namen Gottes, der kein Name ist, das heißt keine Bezeichnung einer Person, und darum nicht, wie ja sonst Wörter im Hebräischen, mit dem Possessivpronomen versehen werden kann, für den es auch kein Femininum gibt. Das ist das Charakteristische: das Wort »Göttin« läßt sich ja im Hebräischen, wie das Hebräische in der Bibel vor uns liegt, nicht übersetzen. Während alle anderen semitischen Sprachen – das Phönizische, das Aramäische, das Arabische, das Assyrische – Wörter für »die Göttin« haben – in der israelitischen Sprache gibt es kein Wort dafür. Und wir haben gesehen, daß dieses Tetragrammaton, durch das aller Mythus beseitigt ist, durch das alles Geschehen, jede Verbindung mit Geburt und Tod aus der Gottheit entfernt worden ist, daß dieser Name das Erste ist. Und nun tritt zu diesem Namen ein Weiteres hinzu, das der Sprache angehört, aber zugleich auch der vergleichenden Religionsgeschichte. In den ältesten Urkunden der Literatur (Ex 20,2–17) ist mit dem Namen des Tetragrammaton das Wort a’ni, »Ich«, verbunden, später ausgesprochen anochi, oder, in der kürzeren Form, a’ni. Wenn man, soweit ein einzelner dazu imstande ist, die verschiedenen Religionen in ihren Urkunden, ihren literarischen Erzeugnissen miteinander vergleicht, | so sieht man, daß in keiner der alten Religionen, und in neuen nur soweit sie vom Judentum herkommen, dieses Wort »Ich« mit dem Namen Gottes verbunden ist: nicht in den 267

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indischen noch in den chinesischen, nicht in den griechischen noch in den ägyptischen, assyrischen, babylonischen religiösen Urkunden kommt das Wort »Ich« vor als Bezeichnung für Gott, in der Verbindung vor allem mit »Adonai«, mit dem Tetragrammaton. Die Urkunde, die im israelitischen religiösen Leben unzweifelhaft eine der ältesten ist, die sogenannten Zehn Gebote, der Dekalog, beginnt mit anochi a’donai, »Ich bin der Ewige«. Es gibt dazu keine Parallele. Man hat sich in der Religionsgeschichte oft darum bemüht, Parallelen zu den Zehn Geboten festzustellen, und natürlich ist der Gedanke »Du sollst nicht morden«, »Du sollst nicht stehlen« etwas, was sich aus dem Menschlichen so von selber ergibt, daß er überall, wo Menschliches spricht, auch als Gebot, als Forderung gefunden wird. Aber alle Versuche, Parallelen zu den Zehn Geboten zu finden, scheiterten immer an diesem einen: nirgends findet sich dieses »Ich bin der, der ist, Ich bin der Ewige«. »Ich«: in diesem »Ich« ist eines der Probleme aller Probleme enthalten, das Problem eben des Ich, der Individualität – der ihrer selbst bewußten Individualität. Wenn es irgendein Wunder gibt, das als Wunder bezeichnet werden kann, so ist es diese Individualität. Alles in der Schöpfung, soweit menschliche Forschung zu ihr dringen kann, erscheint als Individualität, wie der alte lateinische Ausdruck sagt, als individuum ineffabile, als unaussprechbare, für sich bestehende, aus sich selbst ihr Recht gewinnende Individualität. Es gibt kein Kristall, das wie das andere wäre, obwohl die Kristalle in geometrischen gleichmäßigen Formen gebildet sind. Es gibt kein niederes Lebewesen, das wie das andere wäre. Alles ist individuell, für sich geprägt. Schon ein altes talmudisches Wort sagte: »Wenn Menschen Münzen prägen, dann prägen sie mit dem einen Prägestock tausende und abertausende von Münzen; wenn Gott prägt, prägt er immer mit einem neuen Prägestock, immer individuell«. Das ist das große Wunder aller Wunder. Man kann vielleicht sonst Wunder in der strengen Bedeutung dieses Wortes von sich weisen wollen, aber vor dieser Tatsache des Wunders steht der menschliche Geist immer wieder: das individuum ineffabile – die Individualität. Und nun gibt es Wesen – und das vielleicht charakterisiert den Menschen wesentlich –, die sich der Individualität bewußt sind oder bewußt werden. Wir können ja nur schwer in das Seelenleben von Tieren eindringen; aber es scheint doch kaum so zu sein, daß das Tier ein Bewußtsein seiner Individualität hat. Der Mensch hat es. Diese Tatsache menschlicher Individualität ist innerhalb der menschlichen Sphäre das Wunder. Kein Mensch ist wie der andere, keiner, seit jeher, hat mit denselben Augen in die Welt hineingeblickt 268

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und mit denselben Ohren die Welt in sich aufgenommen wie dieser eine, jeder für sich. Ausdruck dessen ist das Wort »Ich«, das ja alle Sprachen haben, haben müssen, weil es Sprachen sind, die von Menschen geschaffen wurden – auf welchem Wege immer –, und der Mensch ist eben Individuum, das seiner selbst bewußt ist. | Und nun ist hier das Eigentümliche, daß das Wort anochi, a’ni, »Ich« immer mit dem Namen Gottes, vor allem mit dem Tetragrammaton, dem Worte »Adonai«, zusammen angewandt wird. Sie alle kennen ja die Schlußsentenz aller Gebote a’ni a’donai, »Ich bin der, der ist«, und die späteren Lehrer waren sogar soweit gegangen, daß sie sagten (Mischnah Sanhedrin 4,5; Sukkot 4,4): »a’ni, ›Ich‹, – das ist auch Name Gottes«, ganz wie das Tetragrammaton Name Gottes ist. Wir haben bisher keine genaue Erklärung gefunden für das, was die alte Wunsch- und Gebetsformel, die im Heiligtum gebraucht wurde, a’ni wahu, bedeutet. Aber auch hier ist dieses a’ni wie ein Name Gottes – Gott der eine Seiende, aus dem alle Individualität hervorkommt, Gott als Ursprung aller Individualität. Hier geht die Religion in das Philosophische über. Philosophie ist ja etwas, das der Menschheit aus zwei Quellen zuströmte, aus Griechenland und aus Indien. Wir wissen nicht, wie weit in alter Zeit philosophisches Denken im israelitischen Volke war. Wenn wir vom Buche Koheleth, das ja ein sehr spätes Buch ist, absehen, ist sie nirgends zu finden. Aber wir müssen immer an einem festhalten: was uns als religiöse Literatur des israelitischen Volkes erhalten und in der Bibel und den Apokryphen gesammelt ist, ist doch wohl nur ein Teil dessen, was dieses Volk geschaffen hat. Wieviel verlorengegangen ist, vor allem in der doppelten Katastrophe der Wegführung der Zehn Stämme aus dem Nordreiche und des Stammes Juda mit dem Stamme Benjamin aus dem Südreiche, wissen wir nicht. Sicher ist, daß, was wir haben, nur ein Teil dessen ist, was der Geist schuf – sicher der wichtigste, der wesentliche, aber doch nur ein Teil. So ist es, daß wir nicht wissen, ob philosophisches Denken seinen Ausdruck suchte. Aber diese zwei Ideen, »Er, der ist«, der Seiende, Ursprung alles Seins, Jahweh, oder wie es, mit dem Ich verbunden, dann heißt anochi a’donai, »Ich bin«: »Sein« und »Ich«, der Ursprung von allem, das ist in diesen Wörtern zum Ausdruck gebracht – Wörtern, die keine spätere Poesie erfunden hat, sondern die so alt sind wie die ältesten Dokumente des Denkens und Nachsinnens dieses Volkes. So stehen wir vor der Tatsache, daß am Anfang der Volkwerdung, in der Zeit, die dem Auszuge aus Ägypten folgte, in der das Volk in der Wüste sich selber finden lernte, diese zwei Wörter stehen: »Jahwe«, »Er, 269

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der ist« und »Ich« als Bezeichnung des Ursprungs, – beide, »Jahwe« und »Ich«, der Ursprung. Das will heißen: alles kommt aus einem Sein hervor, und alles kommt aus dem Anfang und Beginn aller Individualität hervor – Sein und Individualität. Und nun, damit zusammenhängend, das dritte Wort, das auch dem Anfang angehört, das immer wieder in der Bibel spricht und auch schon am Anfang der Zehn Gebote steht: das Wort »Dein Gott«, so daß der Mensch sagen kann »Mein Gott, Unser Gott«. Demgegenüber gibt es in allen den Gebeten der semitischen Völker und der arischen Völker nichts, was ihm zu vergleichen ist; nur in den babylonischen Bußpsalmen kommt etwas vor, was diesem Wort »Mein Gott, Dein Gott« an die Seite zu stellen ist, aber in einer ganz anderen Bedeutung. Nur in der altisraelitischen religiösen Geschichte kommt dieses Wort »Dein Gott« vor: | daß Gott zum Menschen spricht, diese Verbindung menschlicher Persönlichkeit, menschlicher Individualität mit Gott, mit dem Ich, aus dem alles Ich kommt, mit dem Sein, aus dem alles Leben kommt. Was das bedeutet, kann man vielleicht am deutlichsten sich vergegenwärtigen, wenn man die indische Philosophie und die indische Religion, die dort Philosophie wurde, zum Vergleiche heranzieht. Das Problem, das das indische religiöse Denken beschäftigt, ist, ob das, was wir Sein, Leben nennen, nicht in Wirklichkeit das Nichts ist und ob das, was wir das Nichts nennen, nicht in Wahrheit das Sein, das Leben ist. Darum kommt auch in der indischen Philosophie nirgends der Begriff des Ich, der Individualität vor; eher ist dort der Versuch gemacht, alle Individualität dadurch auszulöschen, daß das Bewußtsein von der Individualität als der große Irrtum hingestellt wird. Im frühisraelitischen Denken, das mit dem Sinai, mit der Wüste, mit der Generation des Moses verbunden ist, stehen drei Ideen, drei sprachliche Fakten am Anfang: Gott der Seiende, Er der Ist, der nur dadurch bezeichnet werden kann, daß eben dieses Wort gebraucht wird, der, wenn er von sich spricht, sagt ›Ich bin‹; der damit zugleich »Ich« sagt; und der zum Menschen sagt »Dein Gott«. Und an diesen sprachlichen Fakten kann ebensowenig wie an den geographischen Fakten irgendwie gezweifelt oder gedeutelt werden: sie sind da. Man hat in der Bibel die verschiedenen Schichten oder Strata zu scheiden versucht – älteste Zeit, spätere Zeit, jüngere Zeit – und hat manches, was als alt galt, als spät bezeichnen wollen und umgekehrt auch. Aber daran ist nie gezweifelt worden, daß diese Dokumente, in denen das Ich, der Name »der Seiende« und »Dein Gott« vorkommt, älteste Zeugnisse sind. 270

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Das ist der Anfang der ersten Epoche des israelitischen Denkens, daß diese drei, durch einen Mann oder durch verschiedene Männer, durch eine Eingebung oder durch ein Nachdenken offenbart, entdeckt, erkannt worden sind. »Der, der ist, Ich, Dein Gott«, und dann das daraus folgende »Du sollst«: »Ich bin der Seiende, Dein Gott – du sollst«, – das ist gewissermaßen der Kern der ganzen israelitischen Religion. Alles andere ergibt sich aus diesem Dreifachen. Alles, was wir Prophetismus nennen, ist nur seine Weiterentwicklung. In diesem Dreifachen ist alles, was als Neues durch die israelitische Religion in die Welt hinaustrat, sich dann durch die Jahrhunderte und Jahrtausende weiter entwickelt hat und die Epochen in der israelitischen Religion schuf, enthalten: etwas ganz Einzigartiges in jener Zeit. Wir sind an alles das so gewöhnt, daß es uns als ein Selbstverständliches erscheint. Aber wenn man Religionen jener Zeit in ihren literarischen Zeugnissen zu sich sprechen ließ, dann ist man immer wieder von dieser Tatsache erfaßt und ergriffen, daß das etwas absolut Einzigartiges ist. Das ist, was man nennen könnte »die Entscheidung am Sinai«, das, was – um mit den Worten der Bibel es auszudrücken – Moses vor die Kinder Israel hinlegte und was sie annahmen. Das ist geschichtliche Tatsache, die durch Sprache und Geographie in gleicher Weise fest | gelegt ist, daß am Sinai dieses Neue vor das Volk hintrat und dieses Volk sich für dieses Neue entschieden hat. Das ist das, was die späteren hebräischen Quellen nannten ma’amad har-Sinai, »das Stehen am Berge Sinai« und die Offenbarung am Sinai. Was Offenbarung ist, wie wir Offenbarung erläutern können, das wird später uns beschäftigen. Hier wollen wir nur dieses Wort zunächst nehmen: die Offenbarung am Sinai, das Ereignis am Sinai, die Entscheidung am Sinai.

Volkwerdung In der Wüste wurden die Stämme Israels unabhängig. Mehr noch, sie wurden zu einem Volke: die Torah machte sie zum Volke. Daß eine Gesetzgebung ein lockeres Gemisch von Stämmen zu einem Volke, zur festbegründeten Nation macht, ist kein vereinzeltes Ereignis. Wir sehen es überall in der Geschichte. In der Geschichte des alten Griechenland zum Beispiel, der einzigen, die wir wirklich kennen, hat Solons Gesetzgebung in Athen, hat Lykurgs Gesetzgebung in Sparta aus einzelnen Stämmen, verschieden in ihren Riten, einheitliche Volkskörper gemacht. Das geschah auch in der Wüste. Durch die Gesetzgebung, die To271

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rah, durch den Mann der Torah, den Mann Moses, wurden die Stämme zum Volk. Diese Gesetzgebung jedoch ist nicht wie Gesetzgebung sonst. Da ergehen Gesetze im Namen des Volkes oder im Namen des Gesetzgebers. Hier war es Gesetzgebung im Namen des Einen Gottes – im Namen Gottes, dessen Namen wir nicht kennen. Aus zwei Gründen. Kein Mensch, so sagten die Propheten, wird je den Namen Gottes kennen. Und der Name, der wie eine Namensdichtung war, das sogenannte Tetragramm, wurde ausgesprochen in einer Weise, die wir nicht kennen; alle Wiedergaben des Namens, Jahweh und dergleichen, sind nur Mutmaßungen. Wir kennen den Namen nicht. Und im Namen des Einen Gottes, der mit keinem Wesen vergleichbar ist, erging diese Gesetzgebung. Das bedeutet etwas sehr Wichtiges. In anderen Gesetzgebungen gibt es einen obersten Richter oder zumindest einen Ausleger der Gesetze, einen König, der sie umformen und ändern kann. Hier war das Gesetzeswerk ein dauerndes, das Gesetz des Einen Gottes. Niemand auf Erden konnte, durfte es ändern: Gott gab das Gesetz und Gott allein, und Er änderte es nicht. Als in späteren Tagen Paulus von Tarsus, St. Paul, sagte, die Zeit des Gesetzes sei vorbei, erklärte er, das sei Gottes Wille: das Gesetz sei nur wie eine Vorbereitung, eine Einführung; nun sei diese Periode vorüber, und die neue Ära, die Ära des Messias, sei da. Wir sollten nie den Bibelsatz (Lev 19,18) »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (oder eigentlich: »er ist wie du«, das ist die richtige Übersetzung) zitieren, ohne hinzuzufügen, was ihm erst seine Bedeutung gibt: »Ich bin« (der Ewige). »Du sollst deinen Nächsten lieben …« ist nur ein Teil des Ganzen. Das | Ganze heißt: »Du sollst deinen Nächsten lieben, er ist wie du – Ich bin« (der Ewige). Das war die Gesetzgebung, durch die diese Stämme ein Volk werden konnten, ein Volk kraft der Torah, ein Volk nicht wie andere Völker, sondern in Hinsicht auf Gott, im Namen Gottes. Das ist der Anfang der israelitischen Religionsgeschichte oder, wie wir sagen könnten, das Werk dieses Mannes Moses. Das ist der Anfang der israelitischen Religionsgeschichte.

Satzungen Wenn hier gesagt wird »der Anfang«, so ist die Frage damit verknüpft: was steht außerdem am Anfang? Sie wissen, an die Offenbarung am Sinai schließen sich die sogenannten mischpatim an, die Rechte oder Gesetzesvorschriften, die vor allem die Freiheit von Mensch und Eigentum sichern wollten. 272

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Wir haben auch aus der Zeit vor dem Sinai, am Anfange der Wüste[nwanderung], die Erzählungen von Kadesch; es ist gesagt (Dtn 4,44): »Dort hat Moses mischpatim vor sie hingelegt«, dort hat er zuerst eine Satzung, eine Ordnung des Zusammenlebens geschaffen. Man hat in der Religionsgeschichte gesagt, daß die Oase Kadesch diese Stätte gewesen sei, weil dort alte Priesterschaft gewesen sei. Aber das gehört zu den Kombinationen. Wir haben keinerlei Urkunden, keinerlei Inschriften, daß Kadesch eine alte Priesterstätte war; es ist nur aus dem Worte Kadesch, das mit kadosch, heilig, zusammenzuhängen scheint, aber gar nicht mit ihm zusammenhängt, herauskombiniert worden. Aber die Tatsache, daß mit dem Auszug aus Ägypten neue Formen des Rechtes, die ein Zusammenleben sicherten und vielleicht erst ermöglichten, geschaffen worden sind, daran ist kein Zweifel. Es liegt darin sicher auch ein tatsächlicher Kern, der nicht fortgeschoben werden kann. Wenn Stämme, wie groß oder gering ihre Zahl sein mag, aus einem Gebiete fortziehen, neue Formen des Zusammenlebens schaffen [müssen], dann müssen eben diese neuen Formen irgendwie, da sie nicht vorhanden sind, gegeben werden. Es gibt zur Frühgeschichte des israelitischen Volkes ein Buch, das einen eigentümlichen Kommentar bietet und aus späterer Zeit hervor uns frühere Zeit verstehen läßt. Einer der Pilgrim Fathers in Amerika, William Bradford, schrieb eine History of the Plymouth Plantation 20 , die Geschichte der Kolonie Plymouth, eines der allerinteressantesten Bücher der Geschichte und auch der Religionsgeschichte. Und dieses Buch ist wie ein Kommentar zu diesem Satze in dem Kapitel vor dem Sinai: »Dort gab er ihnen mischpatim«. Menschen hatten die alte Stätte der Koexistenz, des Zusammenlebens verlassen. Auf neuem Boden mußten sie neue Formen des Zusammenlebens schaffen. Das war die große Aufgabe, die diesen Sippen der iwrim, die nach der Wüste zogen, gestellt war: neue Formen des Zusammenlebens. Und es war ihre Pflicht, | so sehr Ähnlichkeiten mit anderen bestehen, tatsächlich neue Formen zu schaffen, neue Satzungen, neue Rechtsgrundsätze, die dort aufgestellt wurden. Ob alles das, was im zweiten Buch Moses vom 21. Kapitel an steht und dann am Ende des dritten Buches Moses (25,1) mit den Einleitungsworten »Satzungen, chukkoth, die am Berge Sinai gegeben wurden«, in dieser Form alt ist oder ob es späteren Jahrhunderten angehört, darüber kann viel diskutiert werden. Sicher ist nicht alles, was dort steht, in der Form, in der es dort steht, alt. Aber wer das aufmerksam liest, der hat die Empfindung: es geht zu diesem Kapitel eine Linie, die von dem aus273

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geht, wovon gesagt ist: »Dort gab er ihnen mischpatim, Satzung und Recht«. Das ist wohl auch Anfang. Diese Stämme, diese Sippen, die in der Wüste zusammenlebten, haben sich eine Rechtsverfassung gegeben, sich selber durch die Häupter der Sippen, oder sie durch diesen Mann Moses erhalten. Auch das steht fest. So haben wir neben dem Dreifachen, was die Sprache sagt, nun hier das weitere, was die Rechtsüberlieferung sagt. Ich habe darauf schon hingewiesen: in jedem Volke haben das dauerndste Leben die Rechtsformen. Rechte und Rechtsformen bleiben – es bleibt auch manches Unrecht, aber Rechtsformen vor allem bestehen. Wie die Pilgrim Fathers, mit Benutzung natürlich des Rechtes des englischen Landes, aus dem sie kamen, doch ihr neues Kolonialrecht schufen, die neue Form des Zusammenlebens in der Kolonie, so ist damals diese neue Rechtsart geschaffen worden.

Der Stamm Levi

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Und nun kommt noch eine weitere Tatsache: daß das alles, was an den Namen Sinai, an die Offenbarung, an die neuen Rechtsformen anknüpft, nicht ohne Widerstände sich vollzog. Die Entscheidung am Sinai wurde – das zeigen uns die alten Berichte – vielleicht in einer Stunde des Enthusiasmus gefaßt. Aber der Enthusiasmus hörte auf, und [die Entwicklung] hatte, schon ehe er kam, manches, was ihm widersprach, in das Leben dieses Volkes hineingetragen. Durch alle die alten Berichte zieht sich die Erzählung von den Widerständen: von den sogenannten kiwroth hatha’awah, den »Gräbern der Lüsternheit« (Num 11,34), dem ersten Abschnitt des Weges zum Sinai, bis hin zu Korah und seinen Genossen – immer wieder die Widerstände und, mit diesen Widerständen verbunden, der Name der Leviten, dieses merkwürdigen Stammes, von dem wir nicht genau wissen, ob er von Anfang an ein Stamm ist oder nicht oder eine Gruppe von Menschen, die eine bestimmte Aufgabe haben. Uns wird zunächst berichtet, und zwar ohne Tendenz berichtet, so daß es einfach als Tatsache in der Erzählung erscheint, daß, als die Kinder Israel, die iwrim, aus Ägypten auszogen, andere die Gelegenheit benützten, um mit ihnen aus diesem Lande, in dem sie Frondienste leisten mußten, fortzugehen. Es wird gesagt (Ex 12,38), es sei »ein mannigfaches Volk« – »erew raw«, wie der hebräische | Ausdruck lautet – mitgezogen. Ein gemischtes Volk, wie gesagt: also Menschen von hier und von dort, das bedeutet dieses Wort, aus verschiedenen Völkern, aus verschiedenen Stämmen, von verschiede274

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ner Art, die mit hinauszogen. Es ist das ja vollkommen begreiflich: der Auszug war ein erzwungener. Die Ägypter hatten, wenn nach den Berichten der Bibel sie zuletzt auch sagten »gehet nur, ihr alle«, aber doch nur nach Widerstand diesen Auszug gestattet. Die Grenzfestungen waren geöffnet, und so zogen eben begreiflicherweise andere Zwangsarbeiter mit. Nach den alten Berichten ist unter diesen und unter vielen der Israeliten, als die Entbehrungen der Wüste begannen, der Wunsch, nach Ägyten zurückzukehren, erwacht. Die Wüste verlangt ein Asketentum, ein Hungern und Dürsten auch. Und Ägypten war in jener Zeit nach allem, was wir aus den Berichten der Griechen hören, die ja vorurteilslos urteilten, ein Land des Überflusses. Es gab dort wenig Freiheit, aber viel zu essen. Und das ist ja immer, in allen Zeiten, ein Problem in der Menschheit gewesen: was steht höher, die gute Nahrung oder die Freiheit? Alle Diktatoren haben ja ihre Herrschaft damit begonnen und damit allein zunächst aufrechterhalten können, daß sie dem Volke reichliche Nahrung gaben oder wenigstens reichlichere, als es vorher hatte. In Ägypten gab es, wie gesagt, kaum eine Freiheit, aber reichliche Nahrung. In der Wüste war es umgekehrt: viel Freiheit und wenig zu essen. Und so war es begreiflich, daß viele Reue darüber empfanden, daß sie aus Ägypten fortgezogen waren, und besonders die Menschen von hier und dort, die mitherausgezogen waren, jenen Wunsch hegten. Und die große Aufgabe war die, wenn Krisen kamen, in denen die Nahrung besonders knapp und das Wasser besonders karg bemessen war, daß solche Krisen überwunden wurden und das Volk bei der Entscheidung festblieb, nicht mehr nach Ägypten zurückkehren, sondern den Weg nach dem Lande, in dem die Vorfahren gelebt hatten, sich zu bereiten. Von diesen Krisen erfahren wir immer. Schon vor der Ankunft am Berge Sinai war, wie schon gesagt, besonders von diesen Mitherausgezogenen ausgehend, der Wunsch rege geworden, nach Ägypten zurückzukehren. Aber später immer wieder und immer von neuem. Und es erforderte viel, auch Kämpfe, in denen Blut floß, um es zu erreichen, daß die Gruppen im Volke, die nach Ägypten zurückkehren wollten und die anderen dazu zu bringen suchten, den gleichen Entschluß zu fassen, überwunden werden konnten. Und nun tritt hier ein neues Problem vor uns hin. Die Kämpfe mit den Aufrührerischen, mit denen, die den Weg nach Ägypten zurück nehmen wollten – mit diesen Kämpfen ist der Name eines Stammes verbunden, des Stammes Levi: die b’ne lewi, wie sie vor allem immer heißen, die »Söhne«, die Nachkommen Levis. Die große Frage ist die: 275

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wer waren diese »Nachkommen Levis«, zu denen auch Moses gehörte? Man hat manchmal, von sprachlichen Erwägungen ausgehend, behauptet – entsprechend der sprachlichen Erwägung, daß es keinen Aaron gegeben hätte, son| dern daß die Priester, die b’ne aron, »Kinder der Bundeslade«, die Hüter und Wächter der Bundeslade gewesen waren und man erst nachträglich als deren Stammvater einen Aaron erfunden habe (wir werden bald sehen, warum das nicht möglich ist) – und dementsprechend sagte man, b’ne lewi sei kein eigentlicher Personenname, sondern ein Appellativum, ein Gattungsname. Das Wort Levi hängt ja mit dem hebräischen Verbum lawah, »sich anschließen, sich verbinden« zusammen. Und es ist merkwürdig, daß dieses Verbum in Verbindung gebracht wird mit dem Dienste Gottes: es ist eine berühmte Rede des zweiten Jesaja, wo er (56,6) von den Kindern der Fremde spricht, die sich dem Ewigen anschließen, um Ihm zu dienen, »uw’ne hanechar hanilwim al adonai l’scharitho«, und dasselbe Verbum lawah gebraucht, so daß man übersetzen könnte »die Kinder der Fremde« – also die Proselyten, die zum Judentum Übergetretenen – die sich »zu Leviten des Ewigen gemacht haben, um Ihm zu dienen«. Und so wurde oft gesagt, daß b’ne lewi nicht Angehörige eines Stammes bedeute, sondern diejenigen, die den Dienst im Heiligtum verrichten – erst nachträglich sei ein Stamm erdichtet worden, zu dem diese alle gehörten. Was spricht dafür? Dafür könnte, wie gesagt, das Sprachliche sprechen, daß das Verbum, aus dem der Name Levi gebildet ist, bedeutet »sich verbinden, sich anschließen« und besonders – in einer klassischen Stelle – »sich mit dem Gott Israels verbinden«, um Ihm zu dienen. Und in den Erzählungen des Pentateuchs, in den Erzählungen von den Rebellionen, sind die Leviten immer die, die sich dem Ewigen sozusagen »anschließen«, die Moses zur Seite stehen, um die Erhebungen zu unterdrücken. Aber dagegen spricht eines der ältesten Dokumente der israelitischen Literatur, der sogenannte Segen Jakobs, wo Jakob in einer ganz alten Dichtung – in der Sprache auch ganz alt – jeden einzelnen Stamm segnet: und dort sind Simeon und Levi, als zwei Stämme, zusammen genannt (Gen 49,5). Und was ist von ihnen gesagt? Etwas, das mit dem, was man sonst vielleicht mit diesem Namen verbinden könnte – frommer Dienst im Heiligtum –, ganz im Widerspruch steht: in diesem Segen ist von Simeon und Levi gesagt, sie sind Gewaltmenschen, Menschen, die das Schwert führen und rasch zum Schwerte greifen; k’le chamas, »Schwerter der Gewalt« sind in ihrer Hand. Eine ganz kriegerische Gruppe, so erscheinen sie in diesem 276

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Segen Jakobs. (In einer alten Geschichte von Sichem ist ein Ähnliches gesagt.) Und wenn man das, was der Segen an die verschiedenen Stämme von Ruben bis Benjamin enthält, [nachprüft,] so sieht man, daß darin älteste Geschichtsüberlieferung erhalten ist, viel älter ist als das meiste andere, das im Pentateuch vor uns hintritt. Und wenn wir die Geschichte dieser aufrührerischen Bewegung in der Zeit der Wüstenwanderung betrachten, da sind es die Leviten, die das Schwert ergreifen und in der gefährlichsten dieser Erhebungen um Moses sich scharen – nicht sozusagen mit Händen, die zum Gebete sich erheben, sondern, das Schwert in der Hand, die Erhebung gewaltsam niederwerfen. Das ist das Bild, das von den b’ne lewi in der ältesten Zeit vor uns hintritt. | Und nun kommt dazu, daß Moses in der alten Überlieferung, deren Echtheit man kaum anzweifeln kann, nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, als Angehöriger eines der ältesten oder eines der stärksten Stämme, Juda oder Ephraim, hingestellt wird, sondern als Angehöriger dieses Stammes Levi. Und neben ihm stehen immer Aaron und seine Schwester Mirjam. Wenn der Prophet Micha davon spricht – in dem berühmten Kapitel, das mit den Worten endet »Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der Ewige von dir fordert«, in der Einleitung zu diesem Kapitel, wo er ganz kurz die Geschichte Israels in wenige Sätze zusammendrängt, dort (6,4) spricht er: »Gott sandte vor Israel einher Moses, Aaron und Mirjam« – diese drei nebeneinander. Und nun das weitere Eigentümliche: Moses, wie wir gesehen haben, ist als Prophet bezeichnet, als Mann, den der Geist einer höheren Welt zu erfassen sucht. Und ebenso wird Mirjam als Prophetin bezeichnet; in den Einleitungsworten zu dem Gesange am Meere und dann in den Schlußworten erscheint Mirjam, die Prophetin. Und Aaron wird auch als nawi bezeichnet. Der Satz, in dem er so bezeichnet ist, lautet zwar [so], daß, als Moses sagte, »Ich bin nicht gewandt im Sprechen«, Gott zu Moses spricht: »Aaron wird dein Prophet sein« – er wird für dich sprechen. Aber daß hier auch das Wort nawi, Prophet, gebraucht ist, daß diese drei, Moses, Mirjam und Aaron, als Propheten erscheinen, das ist etwas, was zu denken gibt. Und diese drei stehen an der Spitze des Volkes, und diese drei sind b’ne lewi, und in der Stunde, in der es sich für Moses und für Aaron um alles handelt – in der Erzählung von der Erhebung des Korah –, da sehen wir, wie eine Gruppe Leviten auch unter den Aufrührern steht, daß aber die Gesamtheit der Leviten sich um Moses schart. Und in dem, was voranging, in der Erhebung gegen die Entscheidung am Sinai, in der Erzählung vom Goldenen Kalbe, später in der Erzählung von den Kundschaftern – immer sind es die Leviten, die 277

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Moses, Aaron und Mirjam zur Seite stehen. Wir wissen zwar aus der Bibel, daß zwischen Moses und Aaron und Mirjam nicht immer Eintracht war (Num 12,1). Moses war der jüngste unter ihnen, und es entstand wahrscheinlich, vermutlich Zwiespalt unter ihnen. Aber sie waren doch alle Leviten. Und so sehen wir: in den entscheidenden Stunden, in den Zeiten der Krise, ist die Entscheidung gebracht worden durch die Leviten. Was will uns das sagen? Hier müssen wir die alten Berichte zu uns sprechen lassen. [Und doch] können wir nicht die Berichte allein nehmen. Sie reichen nicht aus, obwohl sie klar und deutlich sind, es müssen aus ihnen gewisse Folgerungen gezogen werden. Wenn etwas geschah, wie es damals geschehen ist, daß die Stämme Israels – Sippen, Stämme, die ihren Ursprung auf einen gemeinsamen Stammvater zurückführten, in denen eine gewisse Überlieferung war – etwas für ihr Leben ganz Entscheidendes vollzogen, aus Ägypten fortzogen, da muß irgend eine kleine Gruppe die Führung gewesen sein. Die Bibel erzählt nur von diesen zwei Personen, Moses und Aaron, zu denen nachher Mirjam, die Schwester, dazutritt, daß diese die Führenden, die Bestimmenden, die Entscheidenden gewesen wa-|ren. Aber wenn wir andere ähnliche Ereignisse der Geschichte, aus der Geschichte Griechenlands, Roms, der Gallier und anderer Völker zu uns sprechen lassen, so ist es immer so, daß um die, welche führen, eine Gruppe sich bilden muß, [daß] eine Gruppe vorhanden sein muß, auf die diese Führenden sich verlassen können. In Ägypten selber ist noch nichts Besonderes von den b’ne lewi gesagt, aber in der Wüste erscheinen sie. Nun kann der Grund ja ein naheliegender sein: überall in jener Zeit hielt immer der Stamm und die Sippe zu jedem einzelnen aus ihrer Mitte; der Stamm trat für alle ein. So war es ein Gegebenes, etwas, das dem Denken und Empfinden jener Zeit entsprach, daß, [wenn] da ein Mann aus dem Stamme Levi, Moses, der Führende war, der Prophet, durch den eine höhere Welt sprach, sein Stamm zu ihm hielt. Aber es kommt noch eines dazu, eben das, was der Segen Jakobs, dieses älteste geschichtliche Dokument, in bezug auf die Stämme sagt (Gen 49,5): sie sind »Menschen der Gewalt«, die nicht mit Worten, sondern mit dem Schwerte die Entscheidung bringen wollen. Diese Menschen waren die, die um Moses waren, und ohne ihre Hilfe hätte er über die vielfachen Erhebungen in der Wüste, über diese mehrfachen Versuche, nach Ägypten zurückzukehren, nicht Herr werden können. Und nun ist dieses ganz Merkwürdige: Wenn wir Jahrhunderte überspringen, um nachher zu ihnen zurückzukehren: diese Menschen des Schwertes haben das Schwert aus der Hand gelegt, sie 278

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wurden – wenn das Wort nicht mißverstanden wird – entwaffnet, zu geistigen Aufgaben geführt. Sie sind die, die in dem Heiligtum den Dienst leisten, dann später die, welche die Schrift handhabten, schreiben und lesen konnten und schreiben und lesen lehrten, dann schließlich (in den Büchern der Chronik vor allem) die, welche die Musik im Heiligtum pflegten. Sie waren die Lehrer des Volkes, die darum keinen Anteil am Eigentum hatten – an dem Eigentum, das, wenn der Feind hereinbrach, mit dem Schwerte verteidigt werden mußte. Die also, welche die Männer des Schwertes gewesen waren, sind nun die Männer ohne das Schwert geworden. Diese beiden Tatsachen stehen deutlich vor uns. Was dazwischen ist, das ist durch geschichtliche Zeugnisse nicht belegt. Da muß eine Vermutung an die Stelle des Zeugnisses treten. Die Vermutung – aber es ist nicht mehr als eine Vermutung – könnte die sein, daß Moses die Gefahr gesehen hätte, die ein Stamm, der schwertkundig und zum Schwert[ziehen] immer bereit war, für das ganze Volk bilden konnte, und daß er, nachdem sie ihr Werk getan hatten, dem Volke dadurch Hilfe bringen wollte, daß diese Menschen das Schwert niederlegen und den Dienst im Heiligtum, in dem kein Schwert geführt werden durfte, versehen sollten. Es ist nicht mehr als eine Vermutung; wir sehen nur den Anfang und das Ende und nicht, was dazwischen ist. Aber wenn diese Vermutung angenommen werden könnte, dann wäre es die größte Leistung, die Moses vollbracht hat: der Beweis dafür, daß er in die Zukunft sah und jene Gefahr für sein Volk beseitigen wollte. Daß er zwei andere Männer, Josua und Kaleb, mit den Aufgaben betraute, die der schwertführende Stamm Levi [erfüllt | hatte], daß die die Führer des Volkes sein sollten und nicht mehr der Stamm Levi, das ist nicht wieder eine Vermutung, sondern geschichtliche Tatsache, die vor allem durch das Buch Josua belegt ist. Daß der Stamm Levi dieser zum Schwerte bereite Stamm war, ersehen wir auch aus der Erzählung von Pinchas (Num 25,7 f.). »Pinchas« ist ein ägyptischer Name, wie Moses ja auch einer ist, und er ist ein Levite aus der Familie des Aaron. Er ist der, der auch zum Schwerte greift, wie im 1. Buch Moses (49,5 ff.) erzählt wird. Der Stamm des Schwertes, der nun zum Stamme des Dienstes am Heiligtum gemacht wird – um ihm jeden Rückhalt [dafür] zu nehmen, daß er wieder das Schwert ergreife und eine Gewaltherrschaft über das Volk sich zu erringen suche, ihm haben Josua und Kaleb, als sie das Land verteilten, keinen Anteil am Lande gegeben. Die Energie, die in ihnen war, sollte sozusagen von der Faust zum Kopf und zum Herzen hingelenkt werden. So könnte es die Geschichte der Leviten 279

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sein. Aber die Geschichte der Züge in der Wüste ist eine Geschichte der Leviten auch, der Männer, die – nicht alle, wie die Erzählung von Korah zeigt, aber doch in ihrer großen Mehrheit – in den entscheidenden Stunden um Moses sich scharten und ohne die Moses das, was er vollbracht hat, nicht hätte vollbringen können. So ist diese erste Periode der Geschichte Israels, der Aufenthalt in der Wüste, eine Zeit des Geistes, dessen, was neu, ganz neu vor dieses Volk hingeführt wurde: »Ich bin der, der ist – du sollst« und alles das, was daraus folgt und was das Volk annahm – aber dann eine Zeit schwerer Kämpfe, innerer Kämpfe. Kein Volk ist je in die Geschichte eingetreten ohne innere Kämpfe. Wenn man an die Geschichte Athens, an die Geschichte Spartas, an die Geschichte Roms denkt oder, in neuerer Zeit, an die Geschichte Englands und Schottlands oder Frankreichs – ohne innere Kämpfe hat kein Volk sich seine Geschichte bereitet. Und das Entscheidende ist eben, daß sozusagen das Schwert aus der Hand gelegt wurde und an seine Stelle Kopf und Herz, das Recht und die Gerechtigkeit treten. Die Leviten wurden die Hüter des Rechts, sie, die angefangen hatten als Menschen der Gewalt, die jeden Widerstand mit Gewalt niederdrücken sollten. Das ist also diese erste Periode der ersten Epoche der Geschichte dieses Volkes: die Wüste, mit dem Glauben, der ein neuer ist, und mit der Zusammenfassung des Volkes, durch einen Mann, dem Männer zur Seite standen, die erst das Schwert führten und die dann die Männer des Heiligtums wurden.

Die Heilige Lade

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Aber nun, ehe wir daraus die letzte Folgerung ziehen können, muß mit einigen Worten über das Heiligtum gesprochen werden. Ein Heiligtum war in alter Zeit ein Ort, dem niemand nahen durfte. Für uns verbindet sich mit dem Worte Heiligtum, Gotteshaus, der Begriff des Hauses, das man betreten soll, oft und zahlreich. Das Heiligtum begann als ein Platz, den man nicht betreten durfte, wo jeder Mensch sich dem Tode aussetzte, wenn | er dem nahte. Wenn man z. B. das lateinische Wort für »Heiligtum« nimmt, templum, »Tempel«, das bedeutet »das Abgeschiedene, das Abgeschlossene« (für die, die lateinisch können: mit dem Verb temnere: »abschneiden, abschließen, absondern« verbunden); ebenso die griechischen Worte templon und temenos, »das Abgeschiedene, das Abgetrennte«. Kein Mensch darf es betreten: der Tod würde ihn treffen, wenn er dorthin seinen Fuß setzte oder seine Hand ausstreckte. Nur Menschen, in denen selber etwas von diesem höheren Geiste ist, der seine Stätte 280

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in diesem Heiligtum hat, Priester, dürfen es betreten, kein anderer Mensch. Das profanum vulgus, wie das Wort des Horaz lautet, das gewöhnliche Volk, die Nicht-Priester, die müssen fernbleiben. So waren die Heiligtümer in Indien, in China gewesen, so waren die Heiligtümer in Griechenland, in Rom, in Gallien, bei den alten Kelten, wo sie überall waren – kein Mensch mit Ausnahme der wenigen, in denen der Geist lebte, durfte sie betreten. Und nun stellte infolgedessen der Weg durch die Wüste eine besondere Aufgabe, ein Heiligtum zu haben. Die Stämme, die in der Wüste lebten, hatten ihre Heiligtümer am Sinai, in Kadesch, in den anderen Oasen – abgeschiedene Plätze. Aber die Kinder Israel konnten ja in der Wüste leben nur, wenn sie wanderten. Sie konnten einige Zeit in einer Oase sein, um dort Wasser zu trinken und Wasser in ihren Schläuchen zu sammeln, um dort Nahrung zu gewinnen, Nahrung zu kaufen und dann weiterzuziehen. Die Besitzer der Oasen, die Stämme, die dort waren, hätten längeren Aufenthalt nicht erlaubt. Sie mußten wandern, von Oase zu Oase, und ihr Heiligtum sollte mit ihnen sein. Daraus ist nun ein besonderes Problem entstanden, das mit dem der Leviten in Verbindung steht, das als das Problem der sogenannten »Heiligen Lade« und der merkawah, des Wagens, auf dem die Heilige Lade geführt wurde, besteht. Die Heilige Lade, a’ron hakodesch, [bedeutet], genauer übersetzt, nicht die Lade, den Schrank, der heilig ist, sondern »Lade für Heiliges«. In der Bibel ist immer genau geschieden zwischen dem Adjektiv kadosch, heilig, und dem abstrakten Substantiv kodesch, das Heilige. Es ist sehr charakteristisch, daß z. B. der »Heilige Geist«, ruach hakodesch, der ja zweimal, im Psalter einmal und im Propheten Jesaja ein zweitesmal vorkommt, nicht wie die alte griechische Übersetzung [es wiedergibt], hagion pneuma, der heilige Geist ist, sondern »Geist des Heiligen«. Hermann Cohen, nebenbei, in einem sehr bedeutsamen Aufsatz über den Heiligen Geist 21 , hat darauf mit Recht, mit dem scharfen Blick, den dieser Mann auch hier wie immer hatte, hingewiesen. So ist es also die Lade für ein Heiliges, ein abstrakt Heiliges, das aber doch greifbar ist: es ist die Lade für die Zwei Tafeln. Nach all den alten Berichten ist es klar, daß schon auf dem Wege zum Sinai, bei den me m’riwah, dem »Haderwasser« (Num 20,13), und dann am Sinai selbst dem Volke eine Verfassung, eine Reihe von Gesetzen, gegeben wurde. Die eigentlichen Gesetze sind die sogenannten Zehn Worte, die Zehn Gebote, in denen die geistige Revolution, die in den einleitenden drei Worten gegeben ist: | a’donai e’lohecha anochi, »Ich bin der Ewige, Dein Gott«, und dann die pri281

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mitivsten moralischen Beziehungen bestimmt sind. Dieses Gesetz wurde auf zwei Tafeln geschrieben. Es ist das nicht etwas spezifisch Israelitisches, sondern bei allen Kulturvölkern sind Gesetze, in denen Grundbestimmungen, eine Grundkonstitution festgelegt wurden, auf ein, wie man meinte, unvergängliches Material geschrieben, also in Stein eingehauen worden. Man braucht nur an das Gesetz der duodecim tabulae, der Zwölf Tafeln, zu denken, mit denen die römische Konstitution beginnt. Aber ebenso war es, als Solon in Athen, als Lykurg in Sparta eine Verfassung schrieb: ein Mann war es dort, wie es in Israel war. Und nun sind zwei Fragen, die immer damit verbunden bleiben. Die erste Frage ist die: von diesen zwei Tafeln ist gesagt, sie sind »vom Sinai genommen«. Man könnte sagen, es liegt darin ein Selbstverständliches – da das Volk am Sinai weilte, so war es ein Gegebenes, daß vom Felsen des Sinaigebirges diese Tafeln gehauen wurden. Aber es ist ein Merkwürdiges, daß immer wieder betont ist »vom Steine des Sinai genommen«. Hier muß eine allgemeine Bemerkung angeknüpft werden. In jedem Kulturvolke gibt es eine Entwicklung vom Aberglauben zum Symbol. Etwas, was mit einem Aberglauben beginnt – und der Aberglaube hat ein zähes Leben – läßt sich nie, weder durch Prophetie noch durch Gewalt, ausrotten, aber es kann zum Symbol werden. Das, was etwas grob Materielles ist, das wird ein Geistiges, das, was Objekt des Aberglaubens war, wird Hinweis. Ich möchte zwei Beispiele anführen. Es ist bei allen antiken Völkern so, daß der Mensch sich von bösen Geistern umgeben glaubt. Und diese bösen Geister sind böse darin, daß sie dem Menschen das fortnehmen wollen, was er hat: sie rauben ihm die Gesundheit, sie rauben ihm sein Besitztum, sie rauben ihm das, was er liebt. Und es war bei fast allen Völkern ein Glaube, daß in entscheidenden bedeutungsvollen Stunden des Lebens die bösen Geister ihre Stunde gekommen glaubten, so [daß z. B.], wenn ein Mann die Ehe schließt, die bösen Geister ihm die Braut zu rauben suchen. Und so ist es – bei den antiken Völkern, in Australien und in Amerika, in Europa und Afrika sind die Beispiele – Brauch gewesen, am Tage der Hochzeit die Braut zu verstecken, sie mit Decken zu umhüllen, damit die bösen Geister sie nicht finden. Das ist der alte Aberglaube. Aus dem ist dann das Symbol geworden, daß die Braut den Schleier trägt. Niemand denkt heute, begreiflicherweise und mit Recht, daß der Schleier der Braut auf den alten Aberglauben zurückgeht, und es wäre lächerlich, die Sitte des Schleiers damit etwa bekämpfen zu wollen, daß man sagte, das ist ein alter Aberglaube. Aber das ist der Weg 282

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vom Aberglauben zum Symbol: das Symbol, daß die Frau verhüllt wird, wenn sie hintritt, um verheiratet zu werden, ein Symbol der Reinheit, der Keuschheit, Symbol dessen, daß sie [nur] diesem Manne und dieser Mann nur ihr angehören soll. So ist der Weg der Entwicklung. Die meisten Symbole gehen auf Aberglauben zurück. Was Amulett war, wird allmählich ein Symbol. Oder – etwas was uns, | wenn wir von den Tafeln sprechen werden, bald mehr beschäftigen wird – es ist bei allen alten Völkern ein Aberglaube gewesen, den man bezeichnen kann als pars pro toto, und der in der Religionsgeschichte auch so genannt wird: »der Teil für das Ganze«. Wenn man ein Teil von einem anderen hat, dann hat man die Gewalt des Ganzen in sich aufgenommen. Man konnte den Ganzen in sich aufnehmen. Zum Beispiel der Kannibalismus, die Menschenfresserei, geht nicht in erster Linie darauf zurück, daß die Menschen Hunger hatten und darum einen Menschen selbst fraßen; es war ja das die Zeit der Überfülle der Tiere auf Erden, Mangel an Fleisch war in der Zeit des Kannibalismus nicht. Aber wer einen anderen verzehrte, vor allem einen starken Menschen, einen Feind vielleicht, der nahm die Kraft, die ganze Potenz dieses Menschen in sich auf. Deswegen verzehrte man den Feind oder jemanden, dessen Kraft man sonst in sich aufnehmen wollte. Oder wenn man eine Locke vom Haare des andern nahm, dann hatte man – denken Sie an die Geschichte von Simson, obwohl darin ein Sonnenmythos auch enthalten ist – einen wesentlichen Teil seiner Kraft. Daher die Sitte des Skalpierens bei den Red Indians, den Indianern, nicht um eine besondere Qual dem anderen zuzufügen, obwohl man das auch gern und oft tat, sondern mit der Haut des Kopfes hatte man einen wesentlichen Teil der Kraft in sich, und wenn man sechs Skalpe trug, dann hatte man außer der eigenen Kraft die Kraft von sechs anderen Männern. Sie sehen hier, bei dem Haupthaar, auch wieder, wie Aberglaube zum Symbol wird: wenn der Liebende eine Locke der Geliebten in einem Medaillon bei sich trägt, so ist das Poesie, ein Symbol – ursprünglich war es ein Aberglaube. Es ist das, was man in der Religionsgeschichte – und es ist wichtig, hier bei dieser Gelegenheit darauf einzugehen – den Bedeutungswandel nennt: die Sache bleibt, aber die Bedeutung ändert sich vollkommen. Ich werde ein Beispiel dafür anführen, das das nahende Pessachfest nahebringt: die mazzah, das ungesäuerte Brot. Es ist bei allen Völkern so, daß das Archaische das Heilige wird. Archaische, altertümliche Trachten – es sind die heiligen Trachten, altertümliche Bräuche sind die heiligen Bräuche, und die Entwicklung ist 283

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die, daß auch hier die Sache zum Symbol wird. Das Säuern des Brotes ist erst eine spätere Erfindung. Wir kennen ja die größten Erfinder und Entdecker nicht; wir wissen nicht, wer der erste war, der das Backen des Brotes entdeckt hat. Das älteste Brot war das ungesäuerte Brot. Man mischte zerriebene Körner mit Wasser, legte sie auf den heißen Sand oder auf einen heißen Stein, und so wurde das ungesäuerte Brot [bereitet]. Dann kam einer der großen Entdecker und hat das Backen des Brotes erfunden. So war das ungesäuerte Brot das alte Brot, das archaische, das altertümliche, und wurde dann das heilige Brot. Sie wissen, auf dem Altar durfte kein gesäuertes Brot bei den Israeliten sein 22 . Nur ungesäuertes Brot durfte zur Opfermahlzeit gegessen werden. Und so war es ja auch an dem Feste, an dem jeder »Mann des Hauses«, jeder ba’al habajith, Priester wurde, ein Opfer darbrachte, am Pessach | fest: zu dem Pessachopfer durfte, wie zu allen Opfern, nur ungesäuertes Brot gegessen werden. Das ist der Anfang. Aber zu welch wunderbarem Symbol ist das geworden: »Das ist das Brot des Elends, ha lachma anja, wer hungrig ist, komme und esse mit uns« – von altem Brauch, der manchmal Aberglaube [ist], aber nicht immer, nicht bei der mazzah, zum Symbol. So könnten aus der Religionsgeschichte viele Beispiele angeführt werden. Und diese alte Anschauung kann vielleicht auch etwas für die Bedeutung der Tafeln am Sinai sagen. Teil für das Ganze, pars pro toto: wer etwas vom Sinai hatte – die zwei Tafeln, die dort aus dem Fels gehauen waren – hatte gewissermaßen den ganzen Sinai, das ganze Sinai-Erlebnis bei sich. Aber das ist nur das Äußerliche.

Das Gesetz als Abbild Gottes Mit der Bundeslade ist auch ein Revolutionäres in die Geschichte dieses jüdischen Volkes, des Volkes Israel, und in die Geschichte der Religion in der Menschheit eingetreten: Kein Bild darf im Heiligtum sein. Nirgends sonst gab es das. Aber das Gesetz: das Gesetz ist gewissermaßen das einzige Abbild Gottes, das dem Menschen erlaubt ist. Das Gesetz anstelle des Bildes, das ist das große Revolutionäre. Damit wurde der Charakter des Heiligtums neugeschaffen. Zum ersten Mal ein wahres Heiligtum: das Gesetz, das ist das, was im Heiligtum seinen Platz hat. Gewohnte Dinge nimmt man als Selbstverständlichkeit an, nicht als Gegenstände des Nachdenkens. Aber über die gewohnten Dinge sollte man vor allem nachdenken. Was bedeutete das? Anstelle des Bildes, des Götzen ist das Gesetz getreten – das war die Bedeutung 284

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der zwei Steine. Und sie waren im eigentlichen Heiligtum, in dem Allerheiligsten. Für die Römer später und die Griechen vor den Römern war das etwas Unverständliches, daß – in der Zeit, als mit der Zerstörung des ersten Tempels die Zwei Tafeln auch verschwunden waren, in dem zweiten Tempel also – im Allerheiligsten nichts stand. Wir wissen aus Philos Schrift gegen Apion, welche Fabeln unter Griechen, und wir wissen aus Tacitus, aus dem letzten Buch der Historien, welche Fabel unter den Römern auch bestand: irgend etwas mußte doch dort sein, ein Tier, ein Bild, irgend etwas … Und uns ist berichtet, wie der erste Nichtjude, der das Allerheiligste betreten hat, Pompeius Magnus, der sich den Zutritt mit Gewalt gegen die Priester, die sich ihm entgegenstellten, erkämpfte, erschrocken und bestürzt war, als er dort – nichts sah. Reenan, der in seiner »Histoire du peuple d’Israel« diese Szene sehr eindrucksvoll, mit etwas Phantasie vielleicht, beschreibt, sagt, wie er dastand und – mit der französischen Ironie – »es roch nach eingeschlossener Luft«, nichts anderes war da … Das war ein Revolutionäres, im Allerheiligsten das Gesetz. Es mag in der alten Zeit ein Stück Aberglaube mit diesen Tafeln sich verbunden haben: Teil vom | Sinai, und darum die Offenbarung am Sinai, die Gewalt vom Sinai war nun im Allerheiligsten. Aber welch schöpferische Kraft, welch symbolische Kraft lag darin! Die Leviten sind zusammen mit den Priestern die Hüter des Heiligtums gewesen. Und wer die Bibel, besonders in den historischen, so sehr instruktiven Büchern Josua und Richter liest, der sieht, wie sie die Hüter waren nicht dagegen nur und nicht dagegen zuerst, daß vielleicht diese Tafeln entführt wurden, wie das später in den Kämpfen gegen die Philister geschah, sondern daß kein Profanes, keine Entheiligung sich dem [Heiligtum] nähern durfte.

Die Schechinah Und damit hängt nun ein Anderes zusammen, das man mit dem Worte, das dafür später gebildet wurde, am besten bezeichnet: die Idee der Schechinah. Schechinah, wörtlich übersetzt, bedeutet »das Wohnen«. Gott wohnt inmitten der Kinder Israel: »Sie sollen mir ein Heiligtum machen, w’asu li mikdasch w’schachanti b’tocham, daß ich in ihrer Mitte wohne« (Ex 25,8). Das ist die alte, zum Teil superstitiöse Primitivität: wo ein Heiligtum ist, ist die Wohnung Gottes; wenn das Heiligtum besteht, bleiben der Gott oder die Götter in diesem Volke wohnen. Das war etwas, was in den ersten Jahrhunderten sicher unverrückbar im israelitischen Volke [feststand]. 285

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Es mußte vergeistigt werden. Und wir können nun diesen Weg der Vergeistigung durch die Propheten, durch die frühesten talmudischen Jahrhunderte verfolgen. Gott ist überall, das ist das Ergebnis der Entwicklung, wo ein Mensch sich mit Gott verbindet. Sie kennen gewiß die Stelle aus den »Sprüchen der Väter« (3,3), wo gesagt wird: »Wenn zwei Menschen zusammen sind, Gott zugetan, – dort ist die Schechinah«. Und wie dann weiter gesagt wird: »Wenn einer da ist, für sich mit der Torah beschäftigt, dort ist die Schechinah«: an keinen Ort gebunden, sondern wohin der Mensch geht, die Schechinah, die Präsenz Gottes, die Gegenwart Gottes, ist mit ihm. Und ich habe bei einem anderen Anlaß im vorigen Jahr darauf hingewiesen, wie bei der Zerstörung des [zweiten] Tempels dieser Gedanke ein entscheidender war, mit einer Kühnheit sondergleichen. Im Talmud, dann zuvor in der Bibel, stehen Worte, vor deren Kühnheit man erschrickt. So ist im Talmud, im Traktate Berachot (32 b), berichtet von einem alten Lehrer, daß er gesagt hätte: »An dem Tage, an dem der Tempel zerstört wurde, ist chomath barsel, eine eiserne Mauer 23 , die zwischen Israel und Gott gewesen war, gefallen«. Was dieser Mann meinte, ist klar. Die Tatsache, daß der Tempel da war und man glaubte, im Tempel sei die Stätte Gottes, sei ein Hemmnis gewesen für die klare Erkenntnis Gottes, die klare Erkenntnis dessen, daß, wo ein Mensch zu Gott sich hinwendet, die Schechinah ist. Als der Tempel fiel, sei, so meinte dieser Lehrer, gewissermaßen diese Mauer gefallen. Jetzt mußte der Mensch wissen: Gottes Nähe ist nicht durch eine Stätte, nicht durch ein Haus bestimmt, sondern durch den Menschen selber, der Gott nahe oder Gott fern ist. | Es gab dann nach der Zerstörung des Tempels zwei Richtungen, die der Lehrer im Süden, welche sagten: »Vom Tempel steht doch noch etwas« – pars pro toto: hakotel hama’araw »die Westmauer«, dort ist die Schechinah, l’olam en hasch’chinah sasa, »niemals ist die Schechinah von der Westmauer gewichen«. Die südlichen Lehrer, die immer diese Mauer vor sich sahen, hielten daran fest. Aber in den nördlichen Schulen, in der von Tiberias vor allem, da wurde dieser Gedanke lebendig: wo ein Mensch lebt, der in der Religion lebt, dort ist die Schechinah. Aber die Schechinah fing an, ein Begriff zu sein mit dem Bau der Heiligen Lade, die die zwei Tafeln umgab. Es war ja nicht so, das zeigen die alten Berichte deutlich, daß erst das Heiligtum, die Stiftshütte, ohel moëd, errichtet wurde und dann die zwei Tafeln, sondern erst die zwei Tafeln [da waren] und dann die Stiftshütte. Erst eine Bemerkung: was bedeutet das Wort ohel moëd? Moëd heißt »das Bestimmte, das Besondere, das Festgesetzte«. Darum ist es ein Wort für 286

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Feiertage: hamoa’dim, »die festgesetzten Tage, die festgesetzten Zeiten für den Ewigen«. So auch dieses Zelt, wo »das Bestimmte, das Festgesetzte« dann die Bedeutung gewinnt des Besonderen, des Außergewöhnlichen, damit des Heiligen. Hamoa’dim, »die heiligen Tage«, ohel moëd, »das heilige Zelt«, das, was das Zelt für ein Besonderes, Außergewöhnliches bestimmte – eben für dieses Gesetz. Und nun ist weiterhin ja ein religionsgeschichtlich Wichtiges. Sonst ist – ich habe darauf schon hingewiesen – mit einer bestimmten Stelle, einem bestimmten Fleck auf der Erde ein heiliger Charakter verbunden. Hier ist es nicht eine Stätte. Sonst gehören der Platz und das Heiligtum zusammen, das Heiligtum gehört zum Platze, der Platz ist das prius, das erste, das Frühere. Hier wird das Heiligtum getragen, von Ort zu Ort. Auch damit war in natürlicher Entwicklung eine Vergeistigung verbunden. Diese Bundeslade ist künstlerisch gestaltet worden. Die Israeliten kamen aus Ägypten, aus einem Lande höchst entwickelter Kunst, und unzweifelhaft legte die Stiftshütte Zeugnis ab von dieser Kunst, die sie dort gesehen und sicherlich auch gelernt hatten: die Cherubim, diese Gestalten, die doch nie Gott sein konnten und nie Götter, waren auf der Bundeslade gebildet und im Heiligtum selbst vielerlei Kunstwerke. Aber das Neue und Große war das Heiligtum-unabhängig-vom-Platze, das Heiligtum, aus dem diese wunderbare Idee der Schechinah sich entwickeln konnte.

Datierungsfragen Die Berichte aus dieser ersten Zeit stammen aus späten Jahrhunderten. Man darf aber einen Irrtum nicht begehen, der in der alttestamentlichen Wissenschaft so viel begangen wurde, wie z. B. einer, der ein großer Gelehrter war, Wellhausen, ihn begangen hat, und gegen den sich als erster Gunkel, der die Autorität von Wellhausen stürzte, gewandt hat. Man darf die Zeit, in der ein Bericht geschrieben, also zum erstenmal niedergeschrieben wurde, nicht mit der Zeit ver| wechseln, aus der er stammt. Das war der große Fehler der Wellhausenschen Schule. Wenn sie nachgewiesen zu haben glaubten, daß dieser [oder jener] Bericht in dieser schriftlichen Form aus dieser und dieser Zeit stammt, meinten sie, damit bewiesen zu haben, daß das, was in diesem Bericht gesagt ist, auch aus dieser Zeit stammt. Das ist ein kardinaler Irrtum. Bei allen Völkern geht der Niederschrift – nur ursprüngliche Gesetze werden zu Anfang niedergeschrieben – eine Zeit mündlicher Überlieferung voraus. Die mündliche Lehre im Judentum ist nicht 287

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nur etwas, was der Bibel folgt, sondern was ihr voranging. Von Geschlecht zu Geschlecht werden in Erzählungen Berichte weitergegeben, mit Veränderungen, wie sie jeder mündliche Bericht in sich schließt. Und die Gedächtniskraft in alter Zeit war ja, weil sie sich auf ein Gebiet beziehen konnte, eine viel stärkere, als sie in unseren Tagen ist. Unser Gedächtnis ist diffus, es wird von zu vielen Dingen, von hunderten, von hier und dort in Anspruch genommen. In alter Zeit war es im wesentlichen von Einem in Anspruch genommen. Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts konnte man in Serbien Rhapsoden hören, also Menschen, die alte Epen vortrugen, die aus dem Kopfe, ohne zu stocken und ohne sich zu irren, 15.000-18.000 Verse sprachen, was für uns ein Unvollziehbares ist. Aber deren Gedächtnis war nur auf dieses eine hingelenkt; so konnten sie dies eine, dieses Ungeheure entwickeln. Und das sind Epen, die mündlich dort im frühesten Mittelalter von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wurden, und kaum ein Wort war verlorengegangen, kaum ein Wort im wesentlichen geändert worden. So müssen wir, wenn wir das, was in diesen ersten Zeiten war, uns vergegenwärtigen wollen, wissen: es ist uns erhalten in Berichten, die aus viel späterer Zeit stammen, die begreiflicherweise auch etwas von der Farbe späterer Zeit haben. Aber sie gehen im wesentlichen und ohne Zweifel auf eine mündliche Wiedergabe aus früheren, aus ursprünglichen Zeiten zurück. Und wenn man in dieser Weise sich das vergegenwärtigt, was diese erste Periode dieser ersten Epoche in diesem Volke gewesen ist, so kommt man zu den Tatsachen, die uns hier in den letzten Wochen beschäftigt haben: der Auszug aus Ägypten, die große Gestalt des Moses, das große Ereignis am Sinai, dies ganz Geistige, Revolutionäre, der Eine Gott ohne Bild, das Ich, von dem alles Ich herkommt, der zu jedem Menschen sagt »Dein Gott bin ich«, das große Gebot des »du sollst« im Namen Gottes, und dann das Heiligtum, in dem das Gesetz ist und kein Bild, und eine Gruppe von Menschen, die diesem Heiligtum dienen und aus denen später die Lehrer des Volkes hervorgehen. Das war, soweit die alten Berichte sprechen, das, was die Kinder Israel aus der Wüste mitnahmen, als sie das Land, das ihnen Land ihrer Väter war, erobern wollten. Das ist der Anfang. Wir werden dann sehen, wie in dem Lande, als es Stück um Stück erobert wurde, weitere Schritte und auch Rückschritte sich vollzogen, Rückschritte zum Teil auch sich vollziehen mußten. Aber das große Geistige, die Schöpfung des Moses – dieser Mann hat in seinem Volke weitergelebt.

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| Die zweite Periode: Kampf um das Land und Kampf gegen das Land Die Eroberung des Landes Die Zeit der Wanderung in der Wüste ging zu Ende, und die alte Hoffnung der Eroberung des Landes, in dem Abraham, Isaak und Jakob gewohnt hatten, welche Moses ohne Zweifel immer neu gehegt und gefördert hatte, rückte heran. Aus den Berichten der Bibel, vor allem denen geographischen Charakters, ergibt sich, daß mehrmals der Versuch gemacht worden war, von Süden her das Land zu erobern. Wenn ich sage »von Süden her«, so könnte vielleicht genauer gesagt werden »von Südosten her«; denn der Südwesten war, wie diese Stämme Israels, diese iwrim [wußten], von vornherein dadurch versperrt, daß dort das Land der Philister war. Die Philister hatten ihre Festungen, hatten nach alten Berichten auch ihr stehendes Heer; ein Versuch, von dieser Gegend her, die heute der »Gaza strip« genannt wird, einzudringen, obwohl dort landschaftlich-geographisch keine Hindernisse gewesen wären, weil die Wüste in Ebene überging – von dort her einzudringen, war ihnen nicht möglich. Von Südosten her einzudringen, war versucht worden, aber nach den alten Berichten war das gescheitert. Und so wurde der Versuch gemacht, von Osten her, dort wo nur Hügelland und Ebene war, in das Land einzudringen. Nach den alten Berichten vollzog sich das in zwei Etappen. Es wurde zunächst das Land Gilead, zu dem die iwrim alte Beziehungen hatten, erobert, ein Hügelland, das dem Vordringen keine Terrainschwierigkeiten bot. Und dort ließ sich das Volk eine zeitlang nieder. Die Überschreitung des Jordans, die notwendig war, wenn man von Osten her kam, war am leichtesten im Süden. Wer die Gegend dort kennt, weiß, daß der Jordan, dessen Strömung in dem nördlichen Teil sehr stark ist und dem Überschreiten fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellt, dort langsam fließt, in der Zeit der Trockenheit teilweise austrocknet, so daß ein Überschreiten des Flusses, wenn auch nicht leicht, so doch nicht unüberwindlichen Schwierigkeiten begegnet. In dieser Zeit, in der die Pläne dafür offenbar gefaßt wurden, ist Moses gestorben. Und er ist nach den alten Berichten auf einem der Hügel in der Gegend von Jericho, dem Hügel Nebo, begraben worden. Sein Nachfolger war Josua, von ihm eingesetzt. Und wenn wir die Gestalt des Josua betrachten, muß einiges über die zwölf Stämme, in die nach der alten Erzählung das Volk zerfiel und dement289

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sprechend das Land dann in zwölf Kantone aufgeteilt war, gesagt werden.

Die drei Hauptstämme: Benjamin, Juda, Ephraim

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Es muß aber zunächst, ehe das verstanden wird, schon etwas über die Zeit nach der Eroberung gesagt werden. Wer das Land Palästina kennt, weiß, daß es ein | Bergrücken ist, von Süden nach Norden allmählich ansteigend; zu beiden Seiten hin, nach Westen und nach Osten, ist Ebene. Seit wir etwas von der Geschichte Palästinas wissen, und wir wissen ja manches aus der vorisraelitischen Zeit, war es immer so, daß diejenigen Stämme oder Clans mit ihren Herrschern das Land beherrschten, die das Gebirge hielten. Das Gebirge war schwer zu überwinden; vom Gebirge konnte man leicht in die Ebene hinuntersteigen und mit Beute in die Berge zurückkehren. Die ganze Geschichte in der vorisraelitischen Zeit, soweit wir sie sehen, ist eine Geschichte solcher Raubzüge, die von den Bergrücken nach den Ebenen hinunter unternommen wurden, besonders nach der Ebene in der Mitte, dort wo ein freier Raum zwischen dem Land der Philister und dem Lande der Phönizier war, die beide über moderne Waffen 24 verfügten und mit denen zu kämpfen seine großen Schwierigkeiten gehabt hätte. Sollte ich eine Illustration zum Buche Josua und zu den zwei Büchern der Richter geben, so würde ich mich vielleicht getrauen, ein gutes Buch über die alte Geschichte Schottlands dafür vorzuschlagen, wie etwa die zwei Kapitel in Trevelyans »Geschichte Englands« darüber (»The Ages of the Scots«). Es ist dort das gleiche wie in den Büchern Josua und Richter: die Stämme, die Clans aus den Bergen verbanden sich [zu Streifzügen gegen die der Ebene und zu ihrer Beherrschung]. In der Zeit nach der Eroberung des Landes sehen wir, daß der Gebirgsrücken in den Händen von drei Stämmen war: zunächst der Stamm Benjamin im Süden, dann Juda in der Mitte und Ephraim im Norden. Und es ist eigen: diese drei Stämme sind als die starken und die führenden in den ältesten Urkunden bezeichnet. Eine der ältesten Urkunden, auf deren geschichtliche Bedeutung ich schon hinwies, ist der Segen Jakobs. Dort sind diese Stämme über die anderen hervorgehoben. Von Benjamin ist (Gen 49,27) gesagt: se’ew jitrof, »er ist ein reißender Wolf«, w’la-erew j’chalek schalal, »am Abend teilt er die Beute« – ein kriegerischer Stamm, ein Stamm, der kriegerische Eigenschaften vor allem pflegte. Wir sehen aus dem Buche der Richter (19-20), aus 290

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der Erzählung von der pilegesch, der Frau eines Leviten, die in Gilead geschändet und ermordet wurde, daß diese Menschen aus Benjamin hervorragende Krieger waren, aber Gewaltmenschen auch, und es war damals notwendig, einen Kampf aller Stämme Israels gegen den einen Stamm Benjamin zu führen wegen der Untat, die dort begangen war. Und eine Zeitlang war dieser Stamm aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, aus dem, was das römische Recht connubium et commercium nennt, das Zusammenheiraten und der sonstige Verkehr; erst später wurden Benjaminiten wieder in die Gesamtheit aufgenommen. Diese Benjaminiten sind besonders genannt. Der Name stammt wahrscheinlich, sicherlich erst aus der Zeit, in der die Stämme bereits im Lande angesiedelt waren; denn »Benjamin« ist kein eigentlicher Name, sondern eine geographische Bezeichnung: vielleicht für einen abgetrennten Teil Ephraims. Es heißt, »der Südliche« oder wörtlich »der rechts Wohnende«. Die alte Bezeichnung der Himmels| richtungen ging davon aus, daß man nach Sonnenaufgang blickte, rechts also der Süden war und links der Norden und im Rücken der Westen. Darum heißt »der Südliche« ben j’mini, »der, der zur Rechten wohnt«; das, was nach Osten liegt, heißt »das Vordere«, hakedem, das, was nach Westen zu liegt, »das hintere«, deswegen heißt das Mittelländische Meer hajam ha’acharon, »das hintere Meer«. Der andere Stamm, der besonders hervorgehoben ist, ist der Stamm Juda. Der Segen Jakobs preist (Gen 49,8) diesen Stamm wegen seiner Stärke und Größe: »Juda, dich erkennen deine Brüder an, dir beugen sich die Kinder deiner Mutter«. Und der dritte, der besonders hervorgehoben ist, ist Ephraim, der gepriesen wird in dem Segen, der über Joseph (Gen 49,22) ausgesprochen wird: er ist ben porath josef ben porath ale’ajin, »ein wachsender, fruchtbarer, mächtiger Stamm« – ein Stamm mehr als die meisten anderen Stämme. Wenn ich also jetzt zum Ausgangspunkt zurückkehre: die Zeit, in der das Land erobert war, [zeigt] im Besitz der dominierenden Stellungen, von Süden her gerechnet, Benjamin, Juda, Ephraim. Und diese drei sind, da sie diese dominierenden Stellungen für sich gewannen, sicher in der Eroberung des Landes ganz besonders hervorgetreten. Von Ephraim und Juda können wir es aus einem auch sehen: nach den Berichten im Buche Josua sind die, welche die Leiter des Volkes waren, Josua aus dem Stamme Ephraim und Kaleb aus dem Stamme Juda. Und mit Juda eng verbunden, auch in den alten Berichten, ist immer der Stamm Benjamin. So können wir annehmen, daß diese drei Stämme auch in den Kämpfen um die Eroberung des Landes (z. B. Dtn 1,36.38) die Vorhut und die Hauptmacht 291

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bildeten. Und die Geschichte der ersten Jahrhunderte bewegt sich im wesentlichen um diese drei Stämme Benjamin, Juda, Ephraim: die sind die eigentlich Herrschenden im Lande. In dieser Weise ist das Land erobert worden. Wir können den Weg der Eroberung noch genau verfolgen. Heute ist das schwerer möglich, aber wer, in der Zeit des Mandates noch oder in früherer Zeit, in Israel war und öfters die Straßen von Jericho nach Jerusalem hinaufzog (die zwei Straßen: die alte Römerstraße und diejenige, die später von den Engländern gebaut wurde) – da sieht man, wie dort ein Vormarsch sich vollziehen konnte. Es sind diese mächtigen Berge zwar; an einem der Berge – vielleicht hat jemand es gesehen – das griechische Kloster, zu dem man nur mit Leitern oder mit Stricken hinaufgelangen kann. Aber zwischen diesen Bergen sind Senkungen, durch die ein Heer voranziehen kann. So, durch die geographischen Eindrücke bestätigt, schildert es das Buch Josua. Eine Grenzfestung, Jericho, mußte zwar erobert werden; aber als diese erobert war, nach mehrfachen, zunächst vielleicht vergeblichen Versuchen, war der Weg ins Gebirge offen. Und so wurde das Land allmählich erobert. Es wurde erobert nicht auf einmal, auch nicht in einer Generation, sondern es hat sicher mehrere Generationen erfordert, um die Eroberung des Landes durchzuführen. Aber sie ist allmählich durchgeführt worden. | Wie schon erwähnt, drei Stämme hatten offenbar die Hauptbürde der Kämpfe getragen, und die Geschichte des Volkes in der ersten Zeit ist eine Geschichte dieser drei Stämme. Um etwas zur Illustrierung schon jetzt anzuführen: der Mann, der als der letzte der Richter einen König wählte, Samuel, ein Mann aus dem Stamme Ephraim, wählte einen Mann aus dem Stamme Benjamin, Saul, den Sohn des Kisch. Dieser Mann Samuel ist einer der größten Männer in der alten Geschichte, er lebte so in der Erinnerung fort. Wir werden einzelnes über ihn noch zu besprechen haben, aber das kann schon angeführt werden. Als der Psalm (99,6) die Urzeit schildern wollte (ein Psalm, der sehr spät erst verfaßt worden ist, vielleicht vor dem Babylonischen Exil, vielleicht im Exil, vielleicht erst nach ihm), nennt er drei Männer, Moses, Aaron und Samuel, b’kor’e sch’mo, – Moses und Aaron als die geistigen Führer, die Priester, und dann Samuel – einer derer, die »den Namen Gottes anriefen«. Er war aus dem Stamme Ephraim, aus dem Gebirge Ephraim – denn »Ephraim« war ein Gebirge. Und er hatte die große Objektivität 25 , die diesen Mann immer auszeichnete, daß, als er sah, daß, um die Einheit des Volkes zu sichern, ein Königtum eingesetzt werden müsse, er nicht einen Mann aus seinem Stamm, aus Ephraim, nahm, sondern aus Benja292

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min; Benjamin war, wie gesagt, mit Juda fast eine Einheit. Und als die Wahl sich als ein Fehlschlag erwies und dieser Mann Samuel einen neuen König einsetzen mußte, da nahm er in seiner Objektivität einen Mann aus dem Stamme Juda – wieder nicht aus seinem Stamme –, weil der ein Stamm der Mitte war und, wie Samuel meinte, [das Volk] zusammenhalten konnte und durch seine große Macht zusammenzuhalten auch imstande war. Als dann nach dem Tode Salomos das alte Königtum auseinanderfiel, war das eine Erhebung von Ephraim. Der Stamm Ephraim erhob sich gegen den Stamm Juda, löste sich vom Stamme Juda los. Und wo der Stamm Ephraim war, dort mußten alle die Stämme der Niederung ringsherum sein. Ohne Ephraim konnten sie nicht existieren und gegen Ephraim noch viel weniger, so daß nun zwei Reiche entstanden, ein Reich Juda und ein Reich Ephraim. Es ist das nur vorweggenommen, um zu zeigen, daß die Geschichte der ersten Zeit nominell eine Geschichte von zwölf Stämmen ist, in Wirklichkeit aber eine Geschichte von Benjamin, Juda und Ephraim, die das Gebirge hielten. Aber ehe sich das mehr und mehr herausbildete, hatte jeder Stamm seine einzelne Geschichte – deshalb, weil Nachbarstämme, Nachbarvölker einen Stamm angriffen, und das Zusammengehörigkeitsgefühl war noch nicht so stark und die Verbindung noch nicht so gesichert, daß die Sache eines Stammes von allen zwölf Stämmen als ihre Sache angesehen wurde, sondern der einzelne Stamm und seine Nachbarstämme, die ihm zuerst zu Hilfe kamen, mußten es durchfechten. So fällt die Geschichte in der ersten Zeit etwas auseinander; die Stämme, die in der Wüste zum Volke geworden waren, wurden im Lande wieder zu Stämmen. Und doch ist es bewundernswert, daß die Stämme nicht auseinanderfielen, sondern daß sie ein einheitliches Volksgebilde wurden und blieben. In den alten Berichten ist | es gesagt, daß, ehe das Land erobert wurde, Palästina von sieben Völkern, die sieben Reiche bildeten, bewohnt wurde. Es ist ohne Zweifel so gewesen. Und wenn man sich das vergegenwärtigt, muß man um so mehr es bewundern, daß diese Einheit trotz der Zerlegung in Kantone, trotz der Vereinsamung, die mancher Kanton, mancher Stamm gewiß fühlen mußte, doch erhalten blieb.

Erhaltung der Einheit: die Richter Wenn diese Einheit erhalten blieb, so hatte dies zwei Gründe. Zunächst war immer, schon von der Zeit des Moses her, der ja einen Nachfolger einsetzte, ein Mann als Herrscher oder – vielleicht ist 293

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das Wort »Herrscher« zuviel gesagt – als oberster Mann, erster Mann, erster Entscheidender eingesetzt worden, ein sogenannter Richter, schofet. Dieses Wort bedeutet »Richter«, aber in den semitischen Sprachen auch zugleich das, was im römischen Sprachgebiet mit dem Worte Consul bezeichnet wurde: ein erwähltes Oberhaupt. Die Phönizier setzten jedes Jahr zwei schoftim (oder, wie die Griechen, wenn sie von den Phöniziern erzählen, dieses Wort wiedergeben, zwei »Sopheten«) ein. In Karthago, einer Kolonie der Phönizier, wurde ein »Sophet« jährlich gewählt, in Sagunt in Spanien, auch einer phönizischen Kolonie, wurde auch ein Sophet gewählt. Und so, vielleicht nach dem Beispiel der Phönizier, haben die Stämme einen solchen schofet, ein Oberhaupt, anerkannt. Dieses Oberhaupt war bald aus diesem, bald aus jenem Stamme; aber wenn das erste Oberhaupt, Josua, auch aus dem Stamme Ephraim war, so hat neben ihm ein zweiter schofet – wie es in Sidon und Tyrus, im Lande der Phönizier, auch zwei Sopheten gab –, ein Mann aus dem Stamme Juda, Kaleb, die große Rolle gespielt. Bei der Verteilung des Landes, bei der Festsetzung der Grenzen der Kantone wirkte neben Josua, dem Ephraimiten, dieser Kaleb aus dem Stamme Juda entscheidend mit. Und so ist es geblieben, daß immer wieder, wenn auch Männer aus andern Stämmen zu diesen schoftim gewählt wurden, der Stamm Juda und der Stamm Ephraim [den Vorrang behielten]; und mit dem Stamme Juda ist, wie gesagt, der Stamm Benjamin immer verbunden gewesen, sie konnten geographisch sich nicht trennen, weil das Gebirge eine große Zitadelle bildet, eine Einheit derer, die auf dem Gebirge zusammen wohnten. So also war die Einheit des Volkes durch die Einrichtung des Richters, des Sopheten, gewährleistet.

Das Heiligtum

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Aber es war auch noch ein anderes: das Heiligtum war da, das Heiligtum mit der Bundeslade. Es war da, und es blieb das Heiligtum für lange. Es blieb anerkannt, obwohl neben dem Heiligtum noch andere Heiligtümer eingeführt wurden: im Norden in Dan und im Süden überall waren einzelne Heiligtümer, | von den Leviten verwaltete. Aber der a’ron hakodesch, die Bundeslade, war doch ein Zentrum – ein geistiges Zentrum. Und wenn die Einheit des Landes gewahrt blieb und damit die Einheit des Volkes ihren Ausdruck fand, so ist das ebensosehr wie der Einrichtung des Richtertums diesem einen Heiligtum zuzuschreiben, das Mittelpunkt dessen blieb, was Moses gelehrt und verkündet hatte. 294

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Der Stamm Ephraim betrachtete sich als Erben des Moses. Wenn von Josua (24,15) das Wort überliefert wurde, in einer letzten Rede (die im Grundteil historisch ist), in der er, als er alt geworden war, vom Volke gleichsam Abschied nahm, sagte: »Ich und mein Stamm, mein Haus, wir werden dem Einen Gotte immer dienen«, so hat das sicher einen Hintergrund gehabt; andere Stämme waren darin schwächer. Aber der Stamm Ephraim und ebenso dann der Stamm Kalebs, der Stamm Juda, blieben der Hort der Überlieferung von Moses her. Es ist kein Zufall, daß Saul und David, die Könige aus Ephraim und die Könige aus Benjamin und Juda, uns in der alten Überlieferung als die erscheinen, die die Überlieferung des Moses wahrten. Und als mit der Loslösung des Stammes Ephraim vom Stamme Juda und der Einrichtung zweier Reichsgebiete auch ein anderes Heiligtum im Lande Ephraim errichtet wurde – als Konkurrenz und Gegenstück gegen das Heiligtum des Stammes Juda –, so sehen wir aus der alten Prophetie, [wirkte die] Überlieferung von Moses her im Stamme Ephraim doch weiter, trotz dieser Einrichtung. So war eine Einheit des Volkes da, die im Religiösen und in einer Rechtsgemeinschaft begründet war. Der Kampf um das Land, als Kampf gegen die Stämme und Gruppen, welche in dem Lande bis dahin wohnten, war verhältnismäßig leicht, weil es ein Kampf einer geschlossenen Ganzheit, des durch Moses und seinen Nachfolger Josua fest zusammengeschlossenen israelitischen Volkes, gegen eine Reihe von Stämmen war, die keine Verbindung miteinander hatten, die jeder ein anderes Leben führten, die jeder, was die Bibel immer hervortreten läßt, einen besonderen Namen auch hatten – die Girgasiter, die Jebusiter und wie sie alle hießen. Es war ein Kampf, der natürlich Opfer forderte; aber, aufs ganze gesehen, war es kein schwerer Kampf. Und er war mit einer Reihe von Generationen – vielleicht in drei bis vier Generationen – so beendet, daß von da an keinerlei Kampf im Lande um das Land zu führen war.

Kämpfe mit den Nachbarn Dagegen hat der Kampf mit [den meisten der] Nachbarn nie aufgehört. Im Westen, das hatte ich schon hervorgehoben, waren die Phönizier und die Philister. Die Phönizier waren eines der interessantesten unter den Völkern des Altertums. Sie waren große Erfinder, große Seefahrer, und sie waren Abenteurer: spekulative Kaufleute und vielleicht auch Freibeuter der See. Und sie waren gute Nachbarn. Sie hatten ihr Gesicht nur nach dem Meere hingekehrt, 295

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auf ihre über| seeischen Kolonien in Spanien und Südfrankreich; an dem kleinen Land, das hinter ihnen lag und Palästina hieß, waren sie nicht interessiert. Wir wissen von keinem eigentlichen Kampfe zwischen den Stämmen Israels und den Phöniziern, obwohl Kämpfe dort, von seiten der Phönizier her betrachtet, leicht gewesen wären – es wären Kämpfe gewesen, die in der Ebene sich abspielten. Wenn wir von diesem Volke sprechen, so ist es eines der Rätsel der alten Geschichte, daß [nach ihrer Niederlage durch die Römer] die Phönizier vollkommen verschwinden. Sie sind einfach nicht mehr da. Viele Gelehrte haben sich um dieses Rätsel den Kopf zerbrochen. Es gibt ein sehr gutes Buch eines großen Orientalisten namens [Georg] Rosen (er hat lange in Persien gelebt): »Die Phönizier« 26 . Darin sagt er, die Phönizier seien, im großen ganzen, Juden geworden. Und wenn wir André Levys Buch über die Sprache der Phönizier 27 lesen – Sprache, Stil, Grammatik sind genau wie im Hebräischen; sie hatten ungefähr dieselben Namen wie die Juden; es war fast die gleiche Sprache, ein anderer Dialekt, aber die gleiche Sprache. Und – sie waren die nächsten Nachbarn. Und wissen Sie, der Begründer der stoischen Philosophie, eines der größten Philosophiesysteme des Altertums und des einflußreichsten vielleicht in der Geschichte des modernen Geistes (das Sinnbild des modernen Geistes ist die Renaissance der stoischen Philosophie im 16. und 18. Jahrhundert 28 ), – der Begründer der Stoa war ein Mann aus Zypern, einer alten Kolonie der Phönizier, und sein Name war Zeno, der Sohn des Manasse. War er Jude? Vielleicht war er Jude. Rings um das Land der Philister war nur Ebene, kein Gebirge, das ein Hindernis bildete. Gegen die Philister sind schwere Kämpfe zu führen gewesen, und zumeist erfolglos, so wie wir es wissen: das Volk stand eine Zeitlang unter der Oberhoheit der Philister. Aber die Zeit der Philister hörte auf, so haben wir gesehen, als die Zeit der Kreter aufhörte. Die Bewohner der Insel Kreta, das erste im eigentlichen Sinne des Wortes seefahrende Volk im Mittelmeer, beherrschte in der alten, wie man heute manchmal sagt, prähistorischen Zeit das ganze östliche Mittelmeer. Griechenland war ihnen untertan, Ägypten war in einer Abhängigkeit, die Inseln dazwischen waren Gebiet der Kretenser, dieses Volkes einer hohen technischen Kultur, von denen die Ausgrabungen auf der Insel Kreta, die eigentlich erst seit wenigen Jahrzehnten begonnen haben, Zeugnis ablegen. Aber die Zeit der Kreter hörte auf. Völker ringsumher hatten von ihnen gelernt, und wie so oft: die Schüler wurden stärker als die Lehrer. Und so war Kreta nur eine Insel unter Inseln im östlichen Mittelmeer. Damit 296

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hörte die Zeit der Philister auf, denn die Philister waren eine Kolonie der Kretenser. Die Bibel nennt sie häufig miteinander, wie zu einem Worte verbunden, hakrethi w’haplethi, »Kretenser und Leute aus Philistäa«. Für die Griechen war [Philistäa] das eigentliche Land in diesem Gebiete, das Palästina genannt wird. Dort allein hatten sie einen Hafen, der einen Zugang gewährte, und sie nannten darum das Land »Palästina«, was für sie »Philisterland« bedeutete, während die Phönizier es »Kanaan«, »die Niederung«, nannten, weil | rings um das phönizische Land alles Ebene war, wie das hebräische Wort sagt: sch’felah, ebenes Land ohne Gebirge. So hatte das Volk Israel den Rücken gegen Westen zu im allgemeinen frei. Ägypten wiederum hatte, von der Zeit der sogenannten dritten Dynastie an, den alten Ehrgeiz, sich Teile Asiens zu unterwerfen, aufgegeben. Sie hatten zu den Philistern, als diese noch eine Macht waren, eine gute Beziehung, und wenn die Philister, von denen Ägypten je länger desto weniger etwas fürchtete, dort wohnten, wo sie eben wohnten, so waren sie zufrieden. Aber es ist merkwürdig: wenn man die Geschichte Ägyptens aus sehr alten Zeiten her verfolgt, durch die Jahrtausende hindurch sogar, sieht man immer, daß Ägypten in dem Gebiete, welches heute der Gaza strip heißt, der Streifen um Gaza herum, keine starke andere Macht duldete. In der Zeit, als Ägypten ein hellenistisches Land war, drehte sich der Kampf oft um diesen Gaza strip; im Mittelalter, als Ägypten die dominierende Macht in der islamischen Welt war, war es dasselbe. An dem übrigen Land Palästinas waren sie nicht interessiert, wohl aber an diesem Streifen, von dem der Zugang nach Ägypten offen war. Sie wissen, in der Zeit der Könige, der Knechtung Israels, hatte Ägypten dort zwei große Festungen gebaut, Pithom und Ramses, um den offenen Zugang vom Philisterland her zu sichern. Aber sie waren immer darauf bedacht, diesen Zugang überhaupt zu sichern dadurch, daß dort kein starker Gegner war, der eines Tages ihnen gefährlich werden könnte, indem er von dort aus durch die Ebene dem Meere entlang in Ägypten eindrang. Ein Politiker muß Geschichte kennen, und vielleicht ist es interessant, das was sich in unseren Tagen in diesen Kämpfen um den Gaza strip abspielt, auch im Lichte einer Geschichte zu betrachten, die älter ist als sonst Geschichte – Jahrtausende alt. Aber da Ägypten sich [damals] darin gesichert wußte, hatte es keinerlei Ambitionen für Eroberungen: von Ägypten hat das israelitisch-jüdische Volk nichts zu befürchten gehabt. Und wenn später, wie wir sehen werden, ägyptische Heere in Palästina eindrangen, 297

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so war es nicht, um Palästina zu bezwingen, sondern um zu verhüten, daß aus dem Tal des Zweistromlandes, des Euphrat und Tigris, Assyrien und Babylonien sich in Israel festsetzen und vom Gaza strip her in Ägypten eindringen könnten. Das war der Grund, nicht um Israel, das palästinische Land, zu unterwerfen.

Edom

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Im Süden war [außerdem noch] Edom. Es ist bemerkenswert, daß es niemals Krieg zwischen Israel und Edom gegeben hat. Aus zwei Gründen. Einer war faktischer Art: die Edomiter hausten, wie der Prophet Obadja (1,3) sagt, »in Felsenklüften«. Sie waren Straßenräuber, denen jede Karawane leicht zur Beute wurde; ihre Höhlen selber aber waren unzugänglich, unbezwingbar, niemand konnte sie erreichen. Zweitens aber hatte, wie die Bibel uns erzählt, Moses dem Volke geboten (Dtn 23,8): Ziehe niemals gegen Edom aus, ki achicha hu, »er ist dein Bru-|der«: denn Esau war der erstgeborene Sohn Isaaks. Es war da ein Gefühl der Bruderschaft, der Verwandtschaft, das jeden Krieg gegen Edom ausschloß. Um hier nun etwas zu erwähnen, das schon jetzt behandelt werden muß: als im Herbst des Jahres 586 v. Chr. Jerusalem [von den Babyloniern] erobert wurde, flohen viele Juden nach Edom, in das Bruderland. Dort wurden sie übel behandelt, und tiefer Zorn erwuchs daraus. Es gibt ein Dokument darüber, die eine Rede des Propheten Obadja, in einem Kapitel, eine der schönsten in der Bibel, was Stil und Sprache anlangt. Doch nirgendwo sonst in der Bibel finden wir solch grimmigen Zorn. Der Bruder war zum Verräter geworden, und der Prophet sagte: Das ist eine Sünde, die nie vergeben werden kann, bis die Tage Edoms zu Ende gehen. Und Sie wissen, als in späteren Zeiten die Juden sich von den Römern übel, verräterisch behandelt fühlten, nannten sie sie »Edom«. Das ist die Geschichte Edoms. Im Norden nun waren eigentlich, streng genommen, gar keine Gegner. Es war der Querriegel, der doppelte Riegel von Libanon und Antilibanon: das war, militärisch gesprochen, ein Außenfort, eine Festung. Um so mehr aber ist von Osten immer Kampf um Kampf gekommen – von Osten, wo Moab, Ammon, Aram waren. Moab ist zeitweise stark geworden. Und wenn es dadurch erstarkte, daß es Nachbarstämme der Wüste, Beduinenstämme, sich unterwarf und dienstbar machte, war immer für Israel etwas zu befürchten; für das Nordreich mehr als für das Südreich, weil das Nordreich leichter vom 298

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Jordan her zugänglich war. Wer den Süden Palästinas kennt und die Straße, die jetzt ja eine zweifache ist, von Jerusalem nach Jericho hinunter, in das alte Land Moab hinein, durchwanderte oder durchfahren hat, der sieht, wie schwer es gewesen sein muß, dort Heere vorwärts zu bewegen. Dagegen weiter nach Norden zu, in dem Gebiete von Jericho und stromaufwärts bis zum See Genezareth, dort sind die vielen Furten im Jordan, dort trifft man auf mehr zugängliche Stellen, die ein Einmarschieren von Heeren erlauben. So ist von Moab aus oft die Gefahr gewesen, und eine Zeitlang war das Nordreich, das Reich der Zehn Stämme, in einer gewissen Abhängigkeit von Moab: An den König von Moab mußten Tribute gezahlt werden. Später hat dann das Reich der Zehn Stämme sich unabhängig gemacht. Und Sie wissen, wir haben eine der kostbarsten Urkunden in Stein aus der alten Zeit in der Inschrift auf dem sogenannten Mescha-Stein, der sich heute im Louvre in Paris befindet und der von diesem entscheidenden Kampf zwischen dem Zehnstämmereich und Moab Kunde gibt. Ammon, nördlich von Moab, war immer nur Hilfstruppe für andere, für sich selber kaum ein gefährlicher Feind, wenn überhaupt ein Feind. Aber um so stärker war dann das Gebiet Arams. Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen schon einmal in Damaskus gewesen ist. Wenn man Damaskus betrachtet, versteht man vieles in der Geschichte Arams. Damaskus, eine der allerältesten Städte auf Erden, ist der Mittelpunkt Arams, es wurde ja gern genannt Aram Dameschek, »das Aram von Damaskus«. Eine wunderbare Oase in der Wüste, | ringsumher im wesentlichen Gebiet für Beduinenstämme. Aber Aram selber war fruchtbar, war reich, hatte eine alte Industrie, die bis in unsere Tage hineinreicht: Silberindustrie, Stahlindustrie, Teppichwebereien – eine Industrie, die vielleicht auch auf Jahrtausende zurückgeht. Sie wissen, im Mittelalter wurden die sogenannten Damaszener Klingen in Damaskus hergestellt, die schärfsten der Schwerter aus einem Stahl, den man nirgends in der Welt damals nachmachen konnte. Wenn es Damaskus gelang, andere Oasen im Hinterland zu unterwerfen, die Stämme der Beduinen zu Kriegerstämmen im Dienste von Aram-Damaskus zu machen, dann wurde es gefährlich. Und so sind häufig gefährliche Kriege vom Zehnstämmereich zu führen gewesen, welche von Damaskus her ihren Ausgang nahmen. Andererseits war Damaskus eine große Hilfe, ein großer Nutzen, ohne es zu wollen und wider Willen. Wenn Stämme und Reiche vom Zweistromland, vom Tigris und Euphrat, nach dem Mittelmeer 299

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vordringen wollten, stießen sie zuerst auf Damaskus, und Damaskus mußte besiegt werden, ehe von dort ein Feind an den Grenzen Israels erscheinen konnte. So haben die Assyrer das Zehnstämmereich angreifen und dann bezwingen können erst, als sie vorher Aram unterworfen hatten. Die Griechen nannten Aram »Syrien«. Der Grund ist nicht ganz sichtbar. Sie wußten, daß, geographisch gesehen, Syrien und Assyrien eine Einheit bildeten, und [so] ist [vielleicht] das Wort Syrien als Bezeichnung für Aram-Damaskus entstanden. Um es hier kurz zu erwähnen, weil man spätere Zeiten besser verstehen wird (wir werden später darauf zurückzukommen haben): Damaskus ist später ein Kulturzentrum geworden – ein Land, das außerdem viele Auswanderer in die Länder des Mittelmeers schickte. Der Syrer in Griechenland und in Italien war das, was beispielsweise der Chinese im westlichen Amerika war – der Einwanderer. Dieser Syrer brachte seine Religion mit, die Mysterienreligion von Attis-Adonis, die Griechenland und Italien stark beeinflußte. Er brachte seine Sprache auch mit, und das Aramäische wurde in der Zeit der späten römischen Republik und der römischen Kaiserzeit eine Weltsprache am Mittelmeer: mit Kenntnis des Aramäischen konnte man in dieser ganzen Welt rings um das Mittelmeer vorwärtskommen. Das war also der dritte Nachbar im Osten. Mit denen sind die Kämpfe geführt worden, mit Moab und Aram, und Ammon dabei bald mit Moab bald mit Aram gehend. Und es ist immer staunenswert, wenn man zurückblickt: es ist eine große Kraftleistung, daß trotz der Gegner und Feinde im Osten das Land gehalten wurde, auch der vorgeschobene Teil, der wie eine Halbinsel am eigentlichen Körper Palästinas hängt und der auf drei Seiten von Aram, Moab und Ammon umgeben war, das Land Gilead, das sogenannte Ostjordanland, daß auch das seine Selbständigkeit und seine Zugehörigkeit zum alten Israel bewahrte. Das ist eines der merkwürdigsten Ereignisse in jenen Jahrhunderten. | Aber jedenfalls, das ist, aufs Ganze gesehen, die Linie der Kämpfe um das Land. Man kann sagen, daß in der Zeit von Saul der Kampf um das Land im Lande beendet war 29 , daß von der Zeit Davids an im Westen Ruhe und Sicherheit war und daß in den immer wechselnden, kaum je aufhörenden Kämpfen im Osten das ganze Gebiet des Landes erhalten blieb. So wie das Land in der Zeit der Richter erobert worden war, so blieb es im Besitze des Volkes bis zu der doppelten Katastrophe, der von 721, als das Nordreich, das Reich der Zehn Stämme, von den 300

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Assyrern erobert und dessen Bewohner in das Exil geführt wurden, und dann im Jahre 586, als das gleiche Schicksal dem südlichen Reiche, dem Reiche Juda, durch Babylon bereitet wurde. Die große Krise kam, als die verschiedenen kleinen Gebiete in Mesopotamien, im Zweistromland, sich einigten, zuerst unter Assyrien und dann unter Babylonien, und nun der Drang, den jede Großmacht hat, der Drang nach dem Meere, in Assyrien und Babylon erwachte. Das Meer war damals das Mittelländische Meer. Und diesem Drange zum Meere, von dem Assyrien und dann Babylon nach Westen gelockt oder getrieben wurden, ist das Zehnstämmereich und dann das Reich Juda, das Zweistämmereich, erlegen. Es ist ein Ähnliches, wenn man einen Vergleich ziehen will, wie es die Geschichte Rußlands, vom 17. Jahrhundert an ungefähr, zeigt. Bis dahin war Rußland Binnenland ohne einen Zugang zum Meere, und als es, seit der Zeit des Zaren Iwan, der der Schreckliche genannt wird, erstarkte, begann der Drang zum Meere hin: erst zu dem westlichen Meere, zur Ostsee. Es wurden, im Kampfe mit Schweden, die sogenannten baltischen Gebiete im Osten unterworfen. Und dann der Drang nach dem Mittelmeer hin, der bis in unsere Zeit hineinreicht, [aus dem] erst unter Katharina die südlichen Gebiete des heutigen Rußland nördlich vom Schwarzen Meer, die zur Türkei gehörten, zu Rußland genommen wurden, [während] später der Drang nach Konstantinopel, nach dem ganzen östlichen Mittelmeer, die russische Politik beherrschte. Dies nur als ein Beispiel, um zu erklären, in welcher Weise das Land Israel später der assyrischen und babylonichen Macht erlag. Aber bis dahin wurde, wie gesagt, das Land gehalten, so wie es in dem raschen Ansturm unter Josua unterworfen worden war.

Richter und Könige Die Führer in diesem Kampfe waren die Richter gewesen, die frei gewählten, frei anerkannten Männer oberster Obrigkeit, und dann die Könige, deren erster, Saul, von Samuel gesalbt worden war. Über die Richter und die Könige ist wenig zu sagen, weil ihre Geschichte im wesentlichen eine fortlaufende Geschichte ist, Unterbrechungen nur im Nordreich waren. | Samuel, Sie erinnern sich, der Mann aus Ephraim, hatte einen Mann aus Benjamin, Saul, zum König bestimmt. Es ist in der Bibel nicht gesagt, aber es ist wohl, wenn man sich in das Denken jener Zeit zurückversetzt, wahrscheinlich, daß er den Stamm, der mit Juda verbunden, aber doch nicht Juda war, dazu ausersah, den König zu 301

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geben, um so Süden und Norden miteinander zu vereinigen. Es ist das auch gelungen – so gelungen, daß es sich noch zwei Menschenalter hindurch fortsetzte. Welches der Grund der Gegnerschaft war, die zwischen Saul und Samuel entstanden ist, können wir nicht ganz deutlich sehen. Aber in jedem Falle hat mit dem Tode Sauls auf dem Schlachtfelde, zumal sein ältester Sohn Jonathan dort auch den Tod gefunden hatte, die Dynastie, die Saul zu begründen gedacht hatte, ein Ende gefunden. Und der Mann, der immer mehr in den Vordergrund getreten war, David, wurde nun König – König von Juda, dann aber König des ganzen Reiches. Sein Sohn Salomo, der das Land zu einer Großmacht machen wollte und zu diesem Zwecke Beziehungen mit Ägypten und mit den südarabischen sabäischen Stämmen angeknüpft hatte, hat sein Reich nicht an seinen Nachfolger ganz vererben können, weil der Nachfolger wenig vom Geiste des Vaters Salomo und von der Persönlichkeit des Großvaters David in sich trug. So vollzog sich das wieder, was Samuel hatte zu Ende führen und beseitigen wollen – daß die nördliche Hälfte von der südlichen Hälfte sich trennte. Und so blieb es durch die Jahrhunderte hindurch. Der Eindruck, den David und Salomo gemacht hatten, war so stark, daß in dem Hause des David die Erbnachfolge bis zum Ende gesichert war. Auf den Vater folgte der Sohn – eine stetige Monarchie. Im Nordreich wechselten die Dynastien. Männer von Ehrgeiz oder Männer von Tüchtigkeit verdrängten den legitimen König, und neue Häuser kamen an die Regierung. Aber in all diesem Wechsel blieb auch dort, wie gesagt, die Einheit des Territoriums gewahrt: zwei Reiche, aber in demselben Gebiete, das Josua einst abgesteckt hatte. Der Kampf mit dem Land

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Nun die zweite Hauptlinie: der Kampf mit dem Land, das heißt mit der Religion, den Glaubensformen der alten Bewohner des Landes. Es ist etwas, was die Religionsgeschichte oft zeigt, daß, wenn ein Volk ein anderes Land unterwarf, in älteren Zeiten, ehe es sich die konsolidierte Kirche gab, es von dem unterworfenen Lande her Einflüsse empfing. Beispielsweise: die Kenner Persiens sagen, daß die mohammedanische Religion in Persien, die schiitische Richtung im Islam, nichts sei als die alte persische Religion, über die ein dünner Mantel gelegt ist, welcher Islam heißt. So kann man es in den Zeiten, ehe es die konsolidierte Glaubensorganisation gab, immer wieder verfolgen. Bis ins Mittelalter hinein, ehe die [christliche] Kirche die Brücke festigte, war in | Italien sehr viel von den alten Heiligtümern 302

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[bestehen geblieben]. So war es, als Zentraleuropa für das Christentum gewonnen wurde. So war es im alten Rußland. So war es, als die brahmanische und später die buddhistische Religion entstanden: lange und lange, das heißt nicht nur Generationen, sondern Jahrhunderte hindurch, blieben die alten Glaubensformen. So war es im Lande Israel auch. Die alten B’alim, die Molochs (Baal heißt »Herr«, Moloch »König«), die alten Baumgottheiten, die Astarte wurden weiter verehrt. Um es zu erläutern: in einem Buche über Italien las ich vor Jahrzehnten, daß wenn man von den Hauptplätzen der Bildung abseits kommt, etwa im Gebirge der Abruzzen oder im Innern Siziliens, man dort an den Straßen noch aus der Zeit des alten Rom Merkursäulen finden kann oder Standbilder, vielleicht von Jupiter und Juno, von Mars. Und wenn ein Bauer oder eine Bäuerin vorbeigeht mit den Kindern, dann knien alle nieder und bekreuzigen sich und sprechen ein Gebet, das einem Heiligen gilt; daß es in Wirklichkeit ein Jupiter, ein Merkur usw. ist, das liegt jenseits ihres Denkens. So können wir es uns vorstellen, wie solch alte Bilder, die im Lande waren, immer wieder anlockten – das bewußte Denken oder das unbewußte Fühlen. Wenn man im Buche Deuteronomium, das ja in großen Teilen spätere Zeiten widerspiegelt, liest (7,5): misb’chothehem thithozu umazewotham th’schaberu, »ihre Altäre sollt ihr niederreißen, ihre Standbilder sollt ihr in Stücke schlagen« usw. – das verstehen wir. Jeder alte Altar, der dort war, lockte. Man wünschte, ein Opfer zu bringen, und so brachte man es auf diesen alten Baalsaltären. Oder man wünschte zu beten; man sah eine Bildsäule aus alter Zeit, so kniete man nieder und betete, wie vielleicht die Bäuerin in Kalabrien heute. So streckte der alte Glaube im Lande immer wieder seine Arme aus, um die Menschen dort zu fangen. Es war, worauf ich schon hinwies, ein fester Glaube in der Antike, daß das Land seinen Gott hatte. Man drückt es besser so aus, daß der Gott sein Land hatte: das Land war das Primäre, und das hatte seinen Gott, seinen Baal, den Herrn dieses Landes. Wenn man ein anderes Land eroberte, so nahm man auch die Götter zu eigen, in der Weise, daß man in dem anderen Lande zu den anderen Göttern betete – ein Gedanke, der uns in der Geschichte Davids, als er zu den Philistern flüchtete, begegnet. Wie es z. B. das cuius regio, eius religio [ausdrückt], »wem das Gebiet gehört, dem gehört die Religion«: in der Zeit der Reformation [in Deutschland] meinte man [damit], der Landesherr bestimme den Glauben, den das Volk haben müsse. In einem anderen Sinne war es [so] in der Antike: zu dem Lande gehörte der Gott, der Baal. Wenn man ein anderes Land annektierte, dem 303

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alten [Gebiet] eines Landes angliederte, so wurden die Götter auch mit angegliedert. Von den Römern ist erzählt: als sie [das etruskische] Veji eroberten, traten vor dem entscheidenden Sturme auf die Mauern der Stadt die Priester von Rom vor die Mauern hin und luden die Götter von Veji feierlich ein, nach Rom überzusiedeln; sie würden dort jede Ehre und jeden Vorzug erhalten, Veji nicht allein werde zu Rom gehören, sondern die Götter von Veji | würden nun von Rom auch verehrt werden. Oder es war so, daß, wer in das Land kam, nun dessen Göttern dienen mußte. So begann der Kampf zwischen dem Einen Gotte und den b’alim. Und dieser Kampf hat lange, lange gedauert – der Kampf mit dem Lande viel länger als der Kampf um das Land. Soweit wir sehen können, sind in diesem Kampf Juda und Benjamin die Vorhut gewesen, und in gewissem Maße auch Ephraim; in den anderen Stämmen war es so, daß den b’alim vielfach gedient wurde. Wenn Jeremia in einer seiner Reden (19,3 ff.) sich noch gegen den Molochdienst im Tale Hinnom bei Jerusalem wenden muß und man aus seinen Worten liest, daß er es als ganz gegenwärtig und drohend empfand, da sieht man, wie lange – fünf Jahrhunderte nach der Eroberung des Landes – der Moloch auch noch im Lande herrschte. Die alten Könige der Kanaaniter waren besiegt und waren beseitigt, aber die Könige des Glaubens, der Moloch, der Baal, diese lebten noch lange weiter. Wenn man die alten Berichte zu sich sprechen läßt, hat man oft den Eindruck, es gab bedenkliche Zeiten – Zeiten, in denen die b’alim gesiegt zu haben schienen, diese verschiedenen b’alim, wie sie in den verschiedenen Gebieten des Landes »ihr Land« hatten und darum ihr Recht zu fordern schienen. Es war ohne Zweifel ein connubium, eine eheliche Beziehung zu den Alteingesessenen des Landes; denn diese verschwanden nicht, wurden auch nicht vertrieben, sondern sie wurden amalgamiert. Und mit diesen ehelichen Verbindungen kam die religiöse Verbindung mit den Männern aus den anderen Völkern, mit den Frauen aus den anderen Völkern, die in das israelitische Ganze eintraten. So war es ein Kampf, der immer wieder sich erneuerte, der nie zu Ende war. Wenn wir an dieses wunderbare Buch der Bibel denken, das Buch von Ruth, die aus Moab in das Land Israel kam und dort [bleiben und dem Ewigen dienen wollte], so wirkt das auf uns als eine wundersame Poesie. [Ihr Wort »Dein Gott ist mein Gott …« ist jedoch ein unmittelbar konkreter Ausdruck damaligen Empfindens:] im Lande Moabs konnte [man] zu den Göttern Moabs beten, im Lande Israels zu dem Gotte Israels; wenn sie [»Naëmi und Ruth«] in das andere Volk, das andere Land hinübergingen, kamen sie zu dem anderen 304

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Gotte. So war in vielen [kein ausschließender Gegensatz zwischen der Verehrung des Einen Gottes und dem] Kultus der b’alim, der Götter des Landes. Und der Kultus dieser Götter hatte etwas eigentümlich [Eindrucksvolles]: er steht ja [im Gegensatz] zu der puritanischen Schlichtheit im Kultus des Gottes, der der Eine Gott war, [der in der Wüste] verehrt worden war und nun im Lande verehrt werden sollte. Der Kampf war ein Kampf des Einen Gottes gegen die b’alim, war aber gewissermaßen auch ein Kampf eines Puritanertums, das aus der Wüste kam und nun im Lande seine Schlichtheit, seine Geistigkeit bewahren wollte. Wir wissen aus dem Buche des Propheten Jeremia, daß es seit alter Zeit eine Gruppe im Volke gab, die »Söhne Rechab«, die Rechabiten, denen die ganze Zivilisation des Landes widerstrebte, weil sie hinter der Zivilisation immer die b’alim sahen, die Götter des Landes. Das zeigt uns, wie lange sicherlich dieser Kampf | fortgedauert hatte. Und so müssen wir hinter all den Ereignissen, von denen im Buche Josua, im Buche der Richter, in den zwei Büchern Samuels und auch noch in den Büchern der Könige berichtet ist, immer wieder diesen Kampf erkennen, den der Eine Gott gegen die b’alim, die Molochs im Lande zu führen hatte. Aber auch er hat mit einem Siege geendet, mit einem späten Siege, aber doch einem Siege: die letzte Schlacht sozusagen wurde gewonnen. Man kann sagen, aufs Ganze gesehen, hat erst das babylonische Exil [den Zwiespalt] beseitigt: als man das Land verließ, haben alle die lockenden Arme, mit denen das Land die Menschen zu umfassen suchte, zu locken und zu drohen aufgehört, und als man wiederkam, war es eben ein anderes Land. Das macht diese große Epoche aus, die tausend Jahre etwa vom Auszuge aus Ägypten bis zum Exil von Babylon: dieser Kampf des Einen Gottes gegen die b’alim, gegen die Molochs, die Astarten im Lande. Eines vor allen Dingen ist erreicht worden. In dem Götzendienst, dem Heidentum Vorderasiens und ja auch Indiens, und hineinreichend bis nach Griechenland, war es so, daß das weibliche Prinzip im Kultus und in der Götterverehrung auch immer hervortrat: diese Heiligtümer waren Stätten geschlechtlichen Verkehrs. Der Kultus der weiblichen Gottheit, der Astarte, ist ein besonderes Kapitel in dem phönizischen Gottesdienst und in dem Kultus aller der Völker ringsumher. Das war ein Verlockendes, und hier war ein schwerer Kampf zu führen. Alles zeugt davon, mit welcher Energie der Kampf geführt wurde. In der israelitischen, der hebräischen Sprache gibt es kein Wort für »Göttin«. Es hat sicherlich vorher in dieser Sprache, ganz wie im Phönizischen, der ja dem Hebräischen am ehesten verwandten Sprache, und im Aramäischen, ein Wort für 305

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»Göttin« gegeben. Aber man hat dieses Wort mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Das zeigt, daß dieser Kampf mit Erfolg durchgeführt wurde. Aus der zweiten Hälfte dieser Epoche kennen wir Namen, – Namen der Propheten. Aus der ersten Hälfte kennen wir keine oder nur gelegentliche Namen: Gad, Nathan, Samuel. Aber aus langer Zeit waren eben Männer, die den Kampf für den Einen Gott führten, wie die Richter es waren und dann die Könige gewesen sind. Aber man versteht die Geschichte dieser Könige erst dann, wenn man von den Propheten zu sprechen beginnt. Äußerlich ist es eine Geschichte von Richtern und Königen, innerlich ist es eine Geschichte der Propheten. Und es liegt ein äußerer Grund nicht nur vor, sondern ein Verständnis für das Wesentliche, wenn die Männer, welche die Bücher der Bibel anordneten und immer mehrere Bücher unter einem Gesamttitel vereinigten, die Geschichte der Richter und Könige mit dem Gesamttitel »Frühere Propheten« versehen haben. Es war in der Tat eine Geschichte der Propheten.

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| Die Propheten Wahrsager und Propheten Wir kommen nun zu diesem wichtigsten Kapitel: zu den Propheten. Wer sind diese Propheten gewesen? Ich habe schon darauf hingewiesen, daß, während das Tetragrammaton, das Wort, das den Einen Seienden Gott bezeichnet, wie ein Monolith in der semitischen Welt aufragt – keine andere der semitischen Sprachen und in der Welt sonst hat ein gleiches oder ähnliches Wort –, das Wort nawi, Prophet, dagegen gemeinsemitisch ist: in allen semitischen Sprachen und Dialekten finden wir es. Was das Wort bezeichnet, ist verschieden erklärt worden; aber es scheint, daß die richtigste, die eigentlichste Erklärung und Übersetzung dieses Wortes ist »der Sprecher«. »Hervorsprudeln«, »sprechen«, »mit Enthusiasmus sprechen«, das ist die Grundbedeutung des Verbums, und diese Grundbedeutung – einer, der spricht, nicht um sich zu unterhalten, auch nicht um einen Befehl zu geben, sondern um etwas Bedeutungsvolles zum Ausdruck zu bringen –, »ein Sprecher« ist die eigentliche Bedeutung dieses Wortes »Prophet«. So kann darum, in einer sprachlich sehr interessanten Stelle aus dem zweiten Buch Moses, als Moses gesagt hatte, er könne nicht sprechen, er sei schwerer Zunge und schwerer Lippen, Gott zu ihm sagen (7,1): »Aaron wird dein nawi – ›dein Prophet‹, dein Sprecher – sein«; wie es hier deutlich hervorgeht: du wirst sein wie Gott, der es eingibt – von Gott kommt das rechte Wort. Hier ist es deutlich und bestimmt, was das Wort meint. So hatten die Götter der Völker ringsumher auch ihre Sprecher. Es ist in der Geschichte Elias und sonst von den newi’e baal, den Propheten des Baal, im Gegensatz zu den Propheten des Einen Gottes gesprochen: Sprecher im Namen des Baal dort und Sprecher im Namen des Einen Gottes hier. Der, von dem geglaubt wurde, daß er nicht seine individuelle, seine eigene Meinung zum Ausdruck bringe, sondern [daß] eine höhere Macht in ihm und durch ihn spreche, der war dieser Sprecher. Hiermit hatten sich in der heidnischen Welt andere Erscheinungen verbinden können. Überall in der griechischen, in der römischen Welt und andererseits in den Weiten Asiens und Afrikas finden wir die sogenannten Schamanen, die Zauberpriester, Menschen, die wahnsinnig sind oder rasen, Wahnsinn produzieren. Der Wahnsinnige (ich hatte es schon erwähnt) war als der angesehen, in dem ein Geist wohnt, eine höhere Macht, der infolgedessen tabu sei, 307

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den man nicht anrühren dürfe, von dem ein Gefährliches ausgehe, dessen Wort aber das einer höheren Welt sei, dieses Geistes, der in ihm wohne, und darum die Wahrheit sei. Der Wahnsinnige ist, mit seinem Willen oder ohne seinen Willen, dieser Schamane, dieser Zauberpriester, und das bedeutete: dieser Gewaltherrscher in | seinem Stamme gewesen. Solche Erscheinungen waren überall zu finden: Männer, die von irgend etwas erfüllt zu sein schienen und sprachen und das sagten, was Gesetz für alle sein sollte. In der semitischen Welt finden wir diese verzückten Menschen auch, welche durch künstliche Mittel die Verzückungen hervorrufen. Es gibt ja – die Religionsgeschichte gibt viele Beispiele – einen sogenannten heiligen Rausch. In Indien und im alten Persien vor der Zeit Zarathustras waren die Priester die Berauschten, die, die allein das Recht hatten, berauscht zu sein. Es wurde ein heiliger Trank, das sogenannte Soma, hergestellt. Die Priester hüteten das Geheimnis dieses Rauschtrankes; kein anderer durfte ihn zu sich nehmen, geschweige denn ihn herstellen. Und in diesem Rausch, wenn der Priester ein Verzückter zu sein schien und sprach, dann glaubte man die Stimme von oben zu vernehmen. Wie lange das auch in Palästina sich forterhielt, ersieht man aus der Apostelgeschichte. Dort (2,4) ist erzählt von Menschen, über die, was das griechische Wort glossais lalein, nennt, das Zungensprechen, kam: sie stammelten, sie sprachen unverständliche Worte, und man meinte, der Geist sei über sie gekommen. Aber das ist nur das Charakteristische. In der alten Zeit Israels findet sich schon und findet sich noch in Palästina die Erscheinung des verzückten Menschen, dessen lallendes Wort Kunde aus einer höheren Welt zu sein schien. Wir wissen auch, daß in edlerer Form eine gewisse Begeisterung geweckt wurde durch Musik. Das alles war auch dort oder noch dort. Aber das Staunenswerte ist, wie das alles überwunden wurde – wie überhaupt das das Charakteristische und Interessante in der Geschichte dieser Reiche Juda und Israel ist, was alles überwunden worden ist. Es ist eine Kraftanstrengung geistiger und moralischer Art sondergleichen gewesen. Wenn man sich ein Bild von dem macht, was (worauf schon hingewiesen wurde) alles im Baal- und Astartekult und im Molochkult im Lande blieb, wie das seine Arme ausstreckte und Menschen sich von diesen Armen umfangen ließen, und man dann sieht, wie das überwunden worden ist, dann steht man voller Erstaunen. Und daß das Schamanentum überwunden, daß der Baalsdienst, der Dienst der Astarte, der Dienst der Gestirne besiegt worden sind, ist eine Leistung des Volkes als solchen. Welch 308

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starke Kraft muß in diesem Volke gewesen ein, von der Zeit des Moses her, von der Zeit der Stammväter her, als das Volk noch eine Sippe erst war, wenn es [gelang], das, was im Lande war, [was] mit ihm verbunden schien, [was] die Sinne und auch das Nachdenken anlockte, zu überwinden und beiseite zu stellen. Es war eine Leistung des Volkes. Das eigenartigste Denkmal literarischer Art von diesem Kampfe, von diesem Kraftbeweis ist die Erzählung von der Opferung Isaaks, von der großen Versuchung, die dem Abraham nahte. In der Bibel muß man immer weiterdenken, nachdenken im wörtlichen Sinne des Wortes über das, was gesagt ist; es steht viel zwischen den Worten, zwischen den Sätzen und den Zeilen. Das war damals das Empfinden: was die Menschen im Lande vorher, die mit uns sind, können – | den erstgeborenen Sohn Gott opfern – (wie, noch in der Zeit der Könige, der König Mescha von Moab, als seiner Stadt die Gefahr drohte, daß sie erobert wurde, dem Gotte seinen erstgeborenen Sohn opferte und, wie das Volk meinte, dadurch das Verhängnis abwehrte), – was diese Menschen können, warum sollen wir es nicht können? Warum, so läßt die Erzählung Abraham denken – warum soll ich es nicht können? Und der Sinn der Erzählung ist [nicht] der, daß Abraham seinen Sohn opfern wollte, sondern daß er die Stimme vernahm »Du darfst ihn nicht opfern – lege nicht deine Hand an das Kind!« (Gen 22,12). Das ist ein Beispiel dessen, was geleistet wurde, moralisch, geistig und willensmäßig. Das Volk hat es vollbracht; aber die Kraft, die in diesem Volke ist, ist von den Propheten entbunden worden. Ohne die Kraft in diesem Volke hätten die Propheten ihr Werk nicht zu vollbringen vermocht, und ohne die Propheten wäre die Kraft, die in diesem Volke war, nicht frei geworden. Und wieder kommt nun die Frage: Wer ist der Prophet? Er ist unzweifelhaft ein Sprecher, ein Mann des Wortes. Er ist kein Zauberkünstler, kein Schamane, kein Verzückter, kein Medizinmann. Auf manchen der Propheten liegt eine heilige Nüchternheit. Die römische Religionsgeschichte braucht das Wort von einer heiligen Trunkenheit; bei den Propheten könnte man aber sagen »eine heilige Nüchternheit«. Welch nüchterner Mann ist Hosea, welch nüchterner Mann ist Micha, der noch in seiner Zeit sich gegen den Molochdienst wenden mußte. Sie sind auch nicht Männer des Ehrgeizes: sie wollten für sich nichts erreichen. Wie ehrgeizlos ist Amos, ist Hosea. Wie ehrgeizlos ist Jesaja, ist Jeremia: für sich nichts, aber für die Aufgabe alles. Ein zweites kann angeführt werden: sie wollen nicht Propheten sein. Sie haben nicht danach gestrebt, sie haben nicht danach ge309

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trachtet, sie haben sich dagegen gewehrt. Das ergreifendste Beispiel ist Jeremia (1,6). Als er das Wort Gottes vernimmt, wehrt er sich dagegen, zuerst sagend, er sei zu jung – ki na’ar anochi, »ein junger Mensch bin ich«, dann später, als er gereift war, sich mit seinem ganzen Willen dagegen wendend. Aber er sagt: »Wie ein Feuer war es in mir« – er konnte sich nicht wehren. Die Propheten mußten Propheten sein. Sie rangen dagegen, aber sie mußten sich ergeben; die Berufung war stärker als ihr Widerstreben. Die allmähliche Herausbildung des Prophetentums

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Wer ist nun der Prophet? Noch ein weiteres soll vorausgeschickt werden, ehe die Antwort versucht wird. Ein Psalm, der in späterer Zeit, im Exil oder nach dem Exil, verfaßt wurde, einer der Psalmen, die am Eingang des Sabbats vor dem ma’ariw gesprochen werden – Psalmen, die man in vieler Beziehung »die Psalmen des Rückblicks« nennen kann –, der spricht (99,6) von Moses und Aaron und sagt von ihnen (es ist ja bekannt) »Moses und Aaron unter Seinen Priestern«, wie andere Priester waren, und spricht von Samuel »unter denen, die den Namen | anriefen«. Es ist eigen: Moses ist hier nicht Prophet genannt, sondern neben Aaron gestellt und wie Aaron als kohen, als Priester [bezeichnet], in der alten Bedeutung des Priestertums, daß ein Mann das Volk vertritt und für das Volk das Opfer bringt: der Mann, der für das Volk dastand, das ist Moses neben Aaron. Sie wissen, daß im Pentateuch, im zweiten Buch Moses (24,6), ja auch gesagt ist, daß Moses, der am Anfang der Reihe der Propheten zu stehen scheint, Opfer darbringt. Es ist nicht gesagt, er war ein Prophet, sondern: einer derer, die »den Namen Gottes anriefen«, zu Gott beteten für ihr Volk und Gott verehrten. Dieses Wort, »den Namen Gottes anrufen«, ist vor allem von Abraham gesagt: es ist erzählt, daß Abraham im Lande Kanaan umherzog, hier und dort einen Altar erbaute, wajikra scham b’schem a’donai, »und er rief an den Namen Gottes« (Gen 21,33). Als ein Mann wie Abraham, oder wenigstens in der Linie, die von Abraham ausging, scheint mir Samuel. Was zu beachten ist, ist, daß [überhaupt] in den vier ersten Büchern des Pentateuch das Wort nawi, Prophet, ein sehr seltenes ist. Sie kennen aus dem vierten Buche Moses das Kapitel, das religionswissenschaftlich sehr interessant ist, wie Moses einen Senat einrichten soll, siebzig Männer, die mit ihm die Verwaltung des Volkes teilten, und [wie] da von zwei Männern, Eldad und Medad, gesprochen wird, die im Lager umhergingen und sich als Propheten gebärdeten, und Moses dem Josua, der ihm das erschrocken mitteilte, sagte: 310

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»Wer gäbe, daß das ganze Volk Israel alle Propheten wären!« (Num 11,29). Von Abraham sagt der König der Philister (Gen 20,7): »er ist ein nawi«, ein Prophet. Aber in den ersten vier Büchern Moses ist das Wort ein seltenes und vereinzeltes. Um so häufiger ist es dann im Deuteronomium. Und im Deuteronomium wird auch davon schon gesprochen, woran man den Propheten erkennt. Es gibt da zwei Abschnitte, die einander widersprechen, zum mindesten vielleicht zu widersprechen scheinen. In dem einen (Dtn 18,22) ist gesagt: Wenn ein Prophet auftritt – das heißt, einer auftritt und sagt, er sei der Prophet, einer der Propheten –, und er ein Zeichen gibt und dieses Zeichen wirklich eintrifft, ein wirkliches Zeichen ist – das ist der Prophet. Und der andere Abschnitt (Dtn 13,2 ff.) sagt: Wenn einer auftritt und ein Zeichen ankündigt und das Zeichen eintritt, dieser Mann aber im Namen dieses Zeichens, im Namen des Wunders, das er tut, sagt: »wir wollen den anderen Göttern nachgehen« – er ist kein Prophet, wir sollten ihm das [Handwerk legen]. Damals also muß das Problem [die Menschen] beschäftigt haben: Was ist ein Prophet – ein Prophet in Israel, nicht wie die Propheten unter den Völkern ringsumher? Wenn wir uns nun fragen: Warum ist im Buche Deuteronomium zuerst dieses Problem lebendig hingestellt, und warum ist dort (34,10) von Moses auch besonders hervorgehoben, er ist ein Prophet, »und nicht stand auf ein Prophet wie Moses in Israel« – warum? Es wird Ihnen bekannt sein, daß in der Religionsgeschichte seit etwa achtzig Jahren die These immer wieder vertreten wird, ein Buch, das bei Erneuerungs-|arbeiten des Tempels unter König Josiah aufgefunden wurde – so wie heute die Scrolls in einer Höhle in der Wüste –, welches Gesetze Gottes enthielt und auf alle, die es lasen, einen so tiefen Eindruck machte, daß nun eine Reform des ganzen Lebens begann, dieses Buch sei das Deuteronomium gewesen. Das ist in der biblischen Religionswissenschaft beinahe ein Dogma, ein Glaubenssatz geworden, und wer daran rütteln will, wurde lange Zeit hindurch von der alttestamentlichen Wissenschaft als ein Außenseiter, ein Häretiker oder etwas Ähnliches betrachtet. Aber es gibt keinen Beweis dafür, daß das das Buch Deuteronomium gewesen ist. Nichts kann es wirklich bezeugen. Wenn jemand sich die Mühe nimmt, alles das, was Männer großer Gelehrsamkeit, großen Ansehens, Männer wie Wellhausen, wie Kuenen in Leiden und andere, die diese These hinstellten, zum Beweis bringen – es ist nichts da, nur ein Glaube, der so wie das Dogma Glauben verlangt. Aber eines steht fest: dieses Buch Deuteronomium ist im Penta311

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teuch ein Buch für sich selber, und es reflektiert spätere Zeiten, Zeiten, die wohl Josiah näher stehen als Moses – Zeiten, in denen das Volk über sich selbst nachzudenken begann. Man könnte das Buch Deuteronomium – und es ist eines der schönsten Bücher der Bibel – so charakterisieren: das Volk Israel beginnt, sich selbst zu erkennen, sich selbst zu betrachten, über sich selbst nachzudenken. Und dafür gibt es ein Wort, das ja mehrfach in diesem Buche vorkommt, sch’ma jisrael, »Höre, Israel«, lerne dich selber erkennen, wisse, wer du bist und um wessen willen du da bist! Und da hat man in dieser Zeit auch begonnen, über die Propheten nachzudenken und zu fragen, woran es erkannt wird, daß jemand ein Prophet ist. Und von dieser Zeit an tritt das Wort nawi auch in deutlicher Linie in die Geschichte ein. Vorher wurde einer, der wie ein Prophet war, chose, ein Seher, genannt. Jesaja hat seine ersten Reden überschrieben chason j’schajahu, »das was Jesaia gesehen hat« (1,1). Amos, der erste derer, von denen wir Reden haben, betont emphatisch (7,14) »Ich bin kein nawi und bin kein Jünger eines nawi, sondern Gott hat mich geschickt«. Man sagte also: Gott hat einen berufen, und woran wird es erkannt, daß Gott ihn berufen hat? Das ist die Hauptidee jetzt. [So] hat die besondere Bedeutung des Prophetentums sich allmählich gestaltet, im Kampf gegen das Schamanentum, gegen Mantik und gegen orgiastische Formen menschlicher Prophezeiung. Es ist ein langsames, allmähliches Werden gewesen, wie überhaupt diese erste Epoche in der Geschichte des Volkes durch eine gewisse Langsamkeit ausgezeichnet ist. Ein allmähliches Werden: tausend Jahre sind für manches Volk ihr ganzes Leben gewesen vom Anfang bis zum Ende; hier ist es die Periode des Wachstums, allmählich aber doch stetig und sicher. So ist das Prophetentum auch allmählich erwachsen, bis es das geworden ist, was es eben geworden ist, wobei eine große Kraft aus der Vergangenheit sicherlich mitwirkte: die Kraft, die von der Persönlichkeit des Moses, wie immer sie gewesen sein mag, doch ausgegangen ist. 94

| Religiöse Genies und Sozialrevolutionäre Wenn wir nun diese Voraussetzungen aneinanderreihen, dann wird es uns deutlicher, wer ein Prophet ist. Es wird uns deutlicher in dem doppelten Inhalt, welcher sich im Prophetentum vereinigt. Zunächst: die Propheten sind Menschen, in denen das religiöse Genie lebt. In der Geschichte der Menschheit gibt es ein Wunder, und aus dem Wunder ein anderes Wunder. Das eine Wunder ist die Indivi312

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dualität: unzählige Menschen, und keiner wie der andere; jeder hört mit seinen Ohren, wie nur er sie hat, jeder sieht mit seinen Augen, wie nur er sie hat. Keiner wie der andere: Individuum ineffabile, das unaussprechbare, das undefinierbare Individuum. Und so unter den anderen Wesen: kein Tier wie das andere, keine Pflanze wie die andere, kein Kristall wie das andere, kein Gestirn wie das andere – Individuen. Und aus dem Individuum in der Menschenwelt tritt von Zeit zu Zeit ein Individuum im höchsten Grade, in der Potenz hervor, unter den Individualitäten ein Unvergleichbares im höheren Sinne noch. Das ist das Genie. Die Tatsache dieses Genies ist ebensowenig erklärbar wie die der Individualität. Es ist ein Faktum: kein Mensch ist wie der andere, und wenn sie als Zwillinge geboren werden – keiner wie der andere. Es ist ein Faktum, das anerkannt werden und dem man mit Ehrfurcht nahen muß. Und so, in fast noch höherem Sinne, ist das Genie ein Faktum: es ist da. Es ist nicht sein ganzes Leben hindurch ein Genie, es hat Stunden, Tage, Monate der Genialität. Aber im innersten Kern der Persönlichkeit ist diese Genialität. Sie kann sich mit manchem verbinden. Vor Jahren hatte ich in diesem Kreise hier aus besonderem Anlaß über Goethe gesprochen, und bei Goethe ist das Eigentümliche: es hat wenig Genies gegeben wie ihn, aber auch wenig Philister. Deswegen ist er doch das Genie. Er ist nicht Genie, wenn er aufsteht und wenn er sich niederlegt; aber Genie ist etwas, was da ist und in der Stunde, wenn sie kommt, hervorbricht. Ferner ist das Prophetentum nur so zu verstehen, wie jedes Genie zu verstehen ist: ein Genie kann nicht abgeleitet werden, es bedeutet im Gegenteil einen Bruch. Ein neues Prinzip wird aufgestellt, ein neuer Standort wird eingenommen. Es kann auch nicht vererbt werden. Nicht einmal Persönlichkeit kann vererbt werden, geschweige denn das Genie, sondern es ist aus sich allein zu erklären. Es ist eine Tatsache, daß dieses Genie nur in dieser Zeit, auf diesem Platze erstehen kann. Es ist noch ein anderes um das Genie: daß Zeiten an Genie fruchtbar sind und Zeiten arm an Genie sind. Wenn einige Beispiele angeführt werden sollen: die große Fruchtbarkeit an Genie in Griechenland, als die Reihe der Philosophen, der Dichter, der Künstler dort erstand, [oder] die Zeit, die so fruchtbar an Genie war in der [italienischen] Renaissance, als Denker und Künstler und Dichter dort erstanden. Und so war es in der Zeit des Prophetentums, einer großen Epoche in der asiatischen Welt. Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß damals, als das Prophetentum erstarkte und sich voll313

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endete, in dem ganzen asiatischen Erdteil Genies auftraten, nicht so zahlreich, nicht in einer Reihe fast wie im Lande Israel, | aber doch Genie. Die Zeit der Propheten in Israel ist die, in der Zoroaster [wirkte] und die Männer, die die sogenannten Gathas, das heilige Buch Persiens, verfaßt haben. Es ist die Zeit Gautama Buddhas, der vor 2500 Jahren geboren wurde, und der Männer der Veden, die ihm vorangingen, in Indien, und in China Konfutses und vor ihm Laotses. Und es ist die Zeit, in der an der kleinasiatischen Küste die großen religiösen Denker [lebten], die als die ersten griechischen Philosophen bezeichnet werden, Thales, Anaximander, Heraklit. Es ist, wie wenn damals eine Macht von oben Saatkörner über Asien ausgestreut hätte, und das Genie erwuchs. Das religiöse Genie, das ist der Prophet. Wie der große Dichter das poetische Genie, wie der große Maler und Bildhauer das künstlerische Genie, wie der große Denker das intellektuelle Genie ist, so ist der Prophet das religiöse Genie. Im Genie tritt eine höhere Macht in die Welt ein. Etwas aus einer unerforschlichen Sphäre offenbart sich im Menschen – offenbart sich künstlerisch, offenbart sich geistig und offenbart sich religiös. Und niemals vorher hat in einer Zeit sich so ungeheuer viel an Genie, an religiösem Genie zusammengefügt wie in diesen Jahrhunderten des Prophetentums im alten Israel. Dieses kleine Land, eine oder zwei englische Grafschaften und nicht mehr – Genie auf Genie, von Moses bis zum letzten der Propheten hin. Das ist das erste, das Faktum des religiösen Genies. Alle Erkenntnisse des menschlichen Geistes stammen vom Genie her. Nicht durch Lernen: man lernt vom Genie, aber das Genie ist Genie geworden, wie das lateinische Wort es vom Dichter sagt: poeta non facitur, nascitur, »der Dichter wird nicht gemacht, sondern er wird geboren«, er ist da und man lernt von ihm und durch ihn. So sind diese Männer des religiösen Genies, und was wir an religiöser Erkenntnis besitzen, stammt von diesen Männern her, so wie das, was wir an künstlerischer Einsicht besitzen, von den großen Männern des künstlerischen Genies herkommt. Sie haben das geschaffen, was als Religion Israels, als Judentum dann in weiteren Epochen sich weiterentwickelt, sich umgestaltend weitergelebt hat. Sie haben es geschaffen, und sie hatten keine eigentlichen Nachkommen und konnten keine haben: in sich selbst, in ihrer Persönlichkeit, war ihr Werk beendet. Und es ist staunenswert – ein Beispiel, in der Reihe der Denker, der Dichter, der Künstler bietet da nur Griechenland, als von Kleinasien dorthin der Geist hinüberwanderte –: hier auch war es eine Reihe, von Amos, den wir deutlich vor uns sehen, bis zu dem letzten der Propheten nach dem Exil hin, und vorher von Moses bis Elia in den 314

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Kräften der Vorbereitung. Sie haben die Religion geschaffen, sie sind die religiösen Genies. Sie sind das Genie, das mit der Erkenntnis beginnt. Sie sind es nicht nur für ein Volk, für das, dem das Genie zugehörte, sondern für alle Menschen, für die Menschheit, nicht nur für ihre Zeit, sondern für die Dauer der Zeit. Das ist das erste. Und das andere, das darüber nicht vergessen werden soll, ist: diese Propheten sind soziale Revolutionäre gewesen. Der Gott, den sie verkünden, ist der Gott | der Gerechtigkeit. Das, was sie fordern, ist Recht und Gerechtigkeit; das, wogegen sie sich erheben und wogegen sie unter Einsatz ihres Lebens kämpfen, ist Ungerechtigkeit. In ihnen ist die große Menschheitsforderung, das große soziale Gewissen lebendig. Sie sind Genies, die die Erkenntnis gegeben haben – das große Instrument für sie ist die soziale Gerechtigkeit. Von Anfang an sehen wir es, und bis zum Ende ist es so. Das eine ist [also] das religiös Schöpferische und das andere ist das sozial Schöpferische. Alle soziale Problematik und aller soziale Kampf geht zumindest mit einer seiner stärksten Wurzeln auf das Prophetentum zurück. Wir sehen, was das bedeutet, am bestimmtesten, wenn wir auch hier wieder Vergleiche ziehen. Überall in Völkern der Kultur hat es sogenannte Gesetzgeber gegeben, das heißt Männer, welche Gesetze gaben und soziale Mißstände zu beseitigen versuchten. Wir wissen wenig, fast nichts, über den Hintergrund der Gesetzgebung Hammurabis, des Zeitgenossen des Abraham und Landesgenossen der Familie Abrahams. Aber wenn wir diese Gesetze lesen, wird der deutliche Eindruck gewonnen, daß sie nicht gegeben wurden, um Gesetze zu geben. Große Herrscher haben, unter anderen Ambitionen, bisweilen auch die gehabt, Gesetzgeber zu werden, und sie haben um des Ruhmes willen, der ihnen zukommen sollte, Gesetze geschaffen, und oft sehr gute und ausgezeichnete; man braucht nur an den Code Napoleon zu denken, der nach dem Urteil von Fachkennern eines der besten Gesetzeswerke ist. Aber wenn man Hammurabis Gesetze, die in seinem Reiche am unteren Euphrat galten, zu sich sprechen läßt, dann hat man den deutlichen Eindruck, daß soziale Mißstände dahinter lagen, die beseitigt werden sollten: soziale Mißstände, das heißt Mißstände, die sich daraus ergaben, daß die Güter der Erde in einem Lande allzu verschieden verteilt waren, daß es die gab, welche das römische Wort »Proletarier« nannte, die nur dazu da waren, Kinder zu zeugen, eine proles, eine Nachkommenschaft in die Welt zu schicken, die aber von den Freuden, den Gütern dieser Welt wenig oder gar nichts besaßen. Wenn man an die Gesetzgebung des Solon denkt, mit der seisacht315

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heia, dem Schuldenerlaß, da sieht man deutlich die sozialen Mißstände, die beseitigt werden sollten. Ebenso war es in Rom, wenn man an die secessio in montem sacrum, die Auswanderung der Plebejer aus Rom, und dann an die beiden Gracchen denkt: schwere soziale Mißstände sollten beseitigt werden. So hat überall sich ein solches Bestreben gezeigt. Es gibt ein Buch, das schon jahrzehntealt ist, aber heute, wie es scheint, noch recht lesenswert, von Pöhlmann’s »Der Sozialismus« 30 der Alten Welt, vor allem der griechischen. Man sieht, was an sozialem Unbehagen in den Menschen lebte [und] daß Menschen über ihre Lage nachzudenken begannen. Es ist ja das Ideal der Gewaltherrschaft, derer vor allem, die ein Volk ausnützen, wenn ihr Volk nicht nachdenkt, wenn viele im Volke nicht wissen, wie schlecht es ihnen geht. Ich weiß nicht, ob einer von Ihnen die Reden von Ferdinand Lassalle in den Volksversammlungen gelesen hat (in der Ausgabe von Eduard Bernstein). Da sieht man, wie Lassalle, mit dem feinen psychologischen Verständnis, | das er hatte, immer wieder zu den Arbeitern sagte: »Euer Unglück ist nicht, daß es euch so schlecht geht, sondern euer eigentliches Unglück ist, daß ihr gar nicht wißt, wie schlecht es euch geht« 31 . Wenn das Nachdenken erwachte, dann begann die soziale Forderung sich zu regen. So ist es nicht nur [überall in der Welt, sondern auch im alten] Israel gewesen. [Und doch zeigt ein Vergleich den Unterschied:] Wenn man vieles zu sich sprechen läßt, dann sieht man, daß dort im Prinzip es anders ist. Das, was das Charakteristische der Propheten ist, liegt nicht im Tone, sondern [darin, daß sie] die Gründe zur Erkenntnis [gaben], daß sie die prinzipielle Forderung aufstellten, [daß sie] nicht nur reformieren, sondern sozusagen revolutionieren wollten. Es hat in diesem Lande etwas gegeben, was man, wenn das Wort nicht eng genommen wird, als soziale Erhebungen bezeichnen kann. Und in allen Fällen, von einem allerdings vielleicht abgesehen, waren die Propheten die Führer. Wir wissen, daß in der Zeit Davids, eines Mannes, der, wenn man den alten Berichten glauben darf, von seinem Volke geliebt wird, der seinen Rückhalt am Volke hat, der Prophet Gad, als David eine Volkszählung veranstaltete, sich dagegen auflehnte (II Sam 24,11 ff.; I Chr 21,9 ff.). Dieser Prophet Gad, von dem wir sonst kaum etwas wissen, hat sicher nicht aus seinem eigenen persönlichen Befinden und Empfinden heraus das gesagt und getan, sondern eben als nawi, als Sprecher für das Volk und für Gott; denn des Volkes gerechte Sache ist Gottes Sache. Er hat dem Unbehagen, dem Unwillen des Volkes über diesen Zensus 32 Ausdruck gegeben. Oder wenn der zweite der Propheten aus den Tagen Davids, Na316

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than, vor David hintrat und ihm die Untat vorhielt, die er an Uria begangen, indem er ihn zu Tode brachte, um seine Frau heiraten zu können (II Sam 12), – das war im wesentlichen auch eine soziale Frage. Wir wissen aus den Geschichten des Orients, daß das, was spätere Zeiten das königliche Prärogativ, the royal prerogative, nannten, sich sehr weit auf den Teil des Besitztums erstreckte, den die Frau des Mannes bildete. Wenn unter den Zehn Geboten Gottes steht: »Du sollst kein Auge richten auf die Frau deines Nächsten« – das hat einen starken, deutlichen Hintergrund. Bis in die Zeit des Mittelalters hinein, mit ihrem jus primae noctis, gehen diese Prärogative, welche den kleineren und größeren Herrschern zustanden. Um die Freiheit des Volkes auch handelt es sich in dieser Forderung, die Nathan an den König richtete, das Unrecht des Königs, das er ihm vorhielt. Der König hörte es an und tat Buße. Es war ein Soziales auch, das daraus sprach, die Freiheit des Volkes, Recht auf das Eigentum. Und dann die große secessio in der älteren Geschichte des Volkes, die zur Teilung des Reiches führte, in das Reich der Zitadelle im Süden und das des Rückens, das Reich des Nordens: – sie hat den sozialen Hintergrund. Hat der König das Recht – das er überall im Orient hatte – Zwangsarbeit dem Volke aufzuerlegen, oder nicht? Es ist kein Prophet ausdrücklich genannt, der dahinterstand. Aber wenn man in dem 11. Kapitel des ersten Buches der Könige die Geschichte liest | von der Flucht Jerobeams nach Ägypten und anderes dann, hat man den starken Eindruck: Prophetisches stand auch dahinter, prophetischer Ratschlag und prophetische Worte. In der Erhebung, welche die zweite große Dynastie im Nordreich, das Haus Omri, stürzte, Ahabs wegen, da sehen wir deutlich den Propheten. Als Ahab dem Naboth den Weinberg nahm (I Reg 21) und, um ihn nehmen zu können, ihn vor ein Gericht stellte und verurteilen ließ – eine Art Star Chamber sozusagen einrichtete –, da erhob sich der Prophet. Das ist das Werk des Elia gewesen; und es steckt historische Geltung wohl darin, wenn die Geschichte des Elia damit abschließt, daß er an den, der sein Werk fortsetzen sollte, an Elisa, den Auftrag gibt, diese Dynastie des Omri zu beseitigen. Und dann endlich in der Torah selber! Wenn es nebenbei gesagt werden darf: wer immer der Redaktor der Bücher des Pentateuch war, dieser Redaktor war ein Genie – diese Art, wie er sie angeordnet hat. Wenn also unmittelbar hinter den Zehn Geboten im 21. und 22. Kapitel von Exodus die großen sozialen Gesetze folgen, wenn dann im 25. Kapitel von Leviticus, in einem Kapitel, das herausgehoben wird und als eine Fortsetzung der Zehn Gebote erscheint (in der 317

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Einleitung: »b’har sinai«, am Sinai wurde das gesprochen), [das Sabbatjahr verkündet wird] – das ist soziale Revolution. Und dann das Buch, das um der sozialen Idee willen geschrieben worden ist, das Deuteronomium: es zeigt das deutlich. So kann man die Propheten verstehen nur, wenn man weiß, wie sie für den Einen Gott den Kampf gegen die Kräfte des Landes Kanaan führten, den Kampf dafür, daß Er der ist, der Eine Gott, der das Volk zu Seinem Volke macht. Es ist ebenso ein Kampf für das Recht des Volkes. An Elia, von dem wir keine Reden haben, sehen wir es deutlich. Aber dann die Propheten, deren Persönlichkeit im einzelnen vor uns steht, weil Reden von ihnen erhalten sind, von Amos an, um nur die hauptsächlichen hervorzuheben, Jesaja, Jeremia: der Kampf für das Recht, für Gerechtigkeit. Und Recht bedeutet immer Recht des kleinen Mannes. Menschenrecht ist Recht des anderen; Gerechtigkeit ist das, was dem kleinen Manne hilft. Ich habe in anderem Zusammenhange schon hervorgehoben, wie charakteristisch der neue Standort ist, der eingenommen wird. Gesetze anderer Völker, vor allem das wunderbare römische Recht, sind vom Standpunkt des Besitzenden [aus erlassen] worden: dem Besitzenden soll sein Besitzstand garantiert werden. So ist Geschichte ja auch meist geschrieben worden vom Standpunkte des Siegers: victores leges dederunt, etc. Sie haben die Geschichte, nicht nur die Gesetze gegeben. Hier [»bei den Propheten«] ist zum ersten und einzigen Mal in der Alten Welt nicht nur für Linderungsmittel, für Palliative [plädiert], sondern konsequent, weil es prinzipiell geschieht, der Standpunkt des Schwachen, des Kleinen [vertreten]. Um des Armen, um des Dürftigen, um der Witwe, um der Waise willen ist das alles gefordert, nicht um der Großen, der [Mächtigen] willen. | Dieser soziale Zug charakterisiert die Propheten. Und für sie gab es nichts Soziales, das nicht zugleich sittlich war. Das gilt so sehr, daß man sagen kann: die Sittlichkeit findet vor allem im Sozialen ihren Ausdruck. Das Soziale ist der Gradmesser für die Kraft und, auf der anderen Seite, für die Schwäche des Sittlichen. Überall, von Amos bis zuletzt, ist das immer das Wort: die Gerechtigkeit, das Recht. Und wenn der Mann, der das Deuteronomium geschrieben hat, den Mut besaß, eines der Zehn Gebote umzuändern, wenn er es wagte, in den alten Text, der sich bis zu ihm hin schon lange vererbt hatte von Geschlecht zu Geschlecht, hineinzufügen in das Gebot vom Sabbat (Dtn 5,14): der Sabbat ist gegeben l’maan januach awd’cha wa’amath’cha kamocha, »damit dein Knecht Ruhe habe, er ist wie du« – nicht nur, wie in der alten Form im zweiten Buch Moses gesagt ist, »Ruhen soll dein Knecht, deine Magd und dein Tier, dein 318

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Arbeitstier«, sondern damit, so daß also der Sinn, der Zweck des Gesetzes dadurch ausgedrückt ist »damit dein Knecht ruhe«, kamocha, »er ist wie du« – das ist die soziale Kraft, die in den Propheten wirkte. Und durch dieses Soziale sind sie nicht zum mindesten die Propheten geworden. Für sie war Gott nicht ohne das Gottesgebot denkbar. Und das Gottesgebot war vor allem Gebot der Sittlichkeit. Sie haben damit etwas erreicht, was man vielleicht so ausdrücken kann: sie haben die Religion staatsfrei, unabhängig vom Staat gemacht. Wer die Geschichte der alten Religionen kennt (eine Ausnahme hat das Werk des Gautama Buddha [bedeutet], der auch die Religion staatsfrei gemacht hat), der weiß: Religion in ihrer Betätigung als Kultus, und das war dann die einzige Betätigung, war eine Staatsangelegenheit. Der Staatsbürger war dazu da … Wie die Antike in dieser Hinsicht dachte, dafür ist ein ganz sprechendes Beispiel eine Rede des Lysias. 33 Lysias – Sie werden es wissen – war ein Advokat, ein Verteidiger, ein barrister in Athen, der vor dem Volksgerichtshof für Angeklagte plädierte. Wir besitzen seine Reden, und weniges gibt einen solchen Einblick in das innere Leben Athens, vor allem das, welches die verschiedenen Interessen gegeneinanderstellte, wie diese Reden des Lysias. Eine seiner Reden ist betitelt »Peri tes eladiou«, »Betreffs des Ölbaums«. Der Ölbaum war unter den Schutz der Athene gestellt; Öl war ja ein wichtiges Produkt, nicht das, was heute Öl heißt, sondern das Öl als Nahrungsmittel, und jeder Ölbaum sollte geschützt werden. Infolgedessen durften auch Ölbaumstümpfe nicht ausgerodet werden, sondern man hoffte, daß neue Zweige sich wieder ansetzen würden. Und ein Mann, nicht ein Athener, sondern ein Eingewanderter, war angeklagt worden, daß er einen Ölbaumstumpf, der sich in seinem Gartengebiet befand, ausgerodet hatte. Lysias hat ihn verteidigt. In dieser Verteidigung sagte er: »Es ist ein schweres Unrecht, den Stumpf eines Ölbaums auszuroden. Aber der Mann ist ein Fremder, kein Bürger Athens. Dieses Gesetz ist nur für die Bürger Athens gegeben, und den Bürgern Athens ist Pallas Athene, die Schutzherrin der Ölbäume, die Göttin – der Fremde gehört einer anderen Religion an«. Das ist charakteristisch: wer | dem Staate zugehört, ist an die Vorschriften des staatlichen Kultus gebunden, an die Rechte und die Pflichten, die damit verbunden sind, der Fremde nicht. Die Religion war ein Teil des Staatsgefüges. In dieser Beziehung ist ja die lutherische Reformation eine starke Reaktion gewesen, weil sie die Religion dem Staate überantwortet hat: der Staat ist der Hüter der Religion, Verbrechen gegen die Religion sind Staatsverbrechen. Der spätere Calvinismus hat die Reli319

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gion wieder staatsfrei gemacht; in den Anfängen in Genf war es allerdings nicht so gewesen. Aber im Calvinismus ist es ja so: der Calvinismus steht höher als das Werk Calvins selber. So haben – diese Beispiele sollten nur illustrieren – die Propheten die Religion vom Staate unabhängig gemacht. Um Gottes willen, nicht um des Staates willen, sollte alles das geschehen, was eben das Gebot geworden ist. Vom Staate unabhängig – und so hat in Israel niemals ein Mythos vom Staate entstehen können, eine der gefährlichsten Mythen in der Geschichte der Menschheit. Das ist auch ein Teil des Werkes der Propheten. Ich möchte nur eines noch anfügen, weil in der Darstellung der Geschichte hier oft ein Mißverständnis begangen wird. Es wird oft gesagt, die Propheten seien gegen den Kultus gewesen. In der Zeit eines gewissen übersteigerten Liberalismus war das direkt ein Slogan, »die Propheten gegen den Kultus«. Wer die Reden der Propheten liest und vor allem [Jesaja], der sieht, wie es so nicht gewesen ist. Die Propheten sind nur dagegen gewesen, daß der Kultus ein Deckmantel für Sünden sei, daß sich unter einer kultischen Observanz alle möglichen Unsittlichkeiten verbergen könnten. Dagegen wandten sie sich – nicht gegen den Kultus, sondern gegen den Mißbrauch des Kultus, um ihn zum Deckmantel zu nehmen, unter der strengen Observanz, unter der ja immer sehr viel versteckt wird; das hat es zu allen Zeiten gegeben. Dagegen wandten sich die Propheten, und von den Männern, die Unrecht taten und dafür in den Tempel gingen, sagte Jesaja (1,12): »Wer verlangt das von euch, r’mos chazeraj, daß ihr meine Vorhöfe zertretet« – es ist nicht, wie die übliche Übersetzung es sagt, »meine Vorhöfe betretet«, sondern »zertretet«. Und so hatte Amos, und so hatte Jeremia, gesprochen. Jeremia sagte: In der Wüste, als die Gebote gegeben wurden, sind nicht die Ganzopfer vor allem geboten worden, sondern Gerechtigkeit ist geboten worden. Gegen den Kultus waren sie nicht, nur gegen die Mißbräuche des Kultus, und soziales Unrecht wird ja immer dann am ärgsten, wenn es sich mit der religiösen sogenannten Strenggläubigkeit verbindet. So ist es im Judentum bisweilen gewesen. Die Evangelien zeugen davon; die Geschichte der Entstehung des Chassidismus, fast zwei Jahrtausende später, zeugt auch davon. Aber das ist das Charakteristische: Männer der sozialen Forderung sind die Propheten gewesen. Und man versteht sie ganz erst, wenn man das weiß, wie für sie Religion Erfüllung des göttlichen Gebotes gewesen ist und wie der Inhalt des Gottesgebotes das Sittliche für sie bedeutet. Und das Zeugnis der Echtheit des Sittlichen ist für sie das soziale Gewissen. 320

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| Das unterscheidet die Propheten von den großen Genies, die in Indien, in Persien erstanden sind: – nichts von der sozialen Forderung, nichts von den Geboten der Humanität. Gautama Buddha, der der größte unter ihnen in der Welt, außerhalb Palästinas war, ist der große Resignierende. Er resigniert vor allem dem Unrecht, das auf der Erde ist, [gegenüber]; wie er sagt: Ziehe dich von der Welt zurück, sei einsam, und du wirst im Guten sein. Und Zarathustra, einer der Großen, begnügt sich [damit], sich ins Kosmische hineinzuversetzen: miteinander kämpfen Licht und Finsternis, und der Mensch kann helfen; aber daß das Menschenaufgabe sei, Recht zu begründen und Unrecht zu beseitigen, das hat er nicht erkannt. Das haben auch die großen Griechen nicht erkannt. Beides ist in den Propheten zusammen: sie sind das religiöse Genie und haben die Erkenntnis gegeben, und sie sind die Männer, in denen das Menschheitsgewissen erwachte, in denen das soziale Gewissen erwächst und die nicht resignierten, sich nicht aus der Welt zurückzogen, sondern gegen die Welt ankämpften, beginnend mit dem kleinen Stücke Welt, dem Volk, in dem sie lebten, und in ihrer Ausschau, in ihrer Verheißung die ganze Welt erfassend: die Zeit, wo ›das Recht strömen wird wie ein gewaltiger Strom‹ (Am 5,24), wo Menschen »ihre Schwerter umschmieden werden zu Sicheln« (Jes 1,26), wo Jerusalem genannt werden wird ir hazedek, »Stadt der Gerechtigkeit«, kirja ne’emanah, »Burg der Treue«. Dessengleichen gibt es in der Geschichte der Menschheit nicht. Kein anderes Volk und keine andere Zeit hat Männer hervorgebracht wie diese. Und die Stärke, die bleibende und einzige Kraft des Volkes Israel, des jüdischen Volkes, ist die Kraft, die von den Propheten in ihm fortlebt, die von den Propheten her ihnen eine Kraft geworden ist. Solange etwas von dieser Kraft in diesem Volke sein wird, wird es weiterdauern. Sollte diese Kraft ganz schwinden, dann wären die Tage dieses Volkes gezählt. Aber diese Kraft ist immer wieder zur Kraft geworden. Die Eigenart der Sprache und des Denkens der Propheten In der Reihenfolge des Themas, das uns hier beschäftigt, soll [nun] versucht werden, die Eigenart der Sprache und des Denkens der Propheten darzulegen. Wir haben gesehen, wie in den Propheten zwei Linien zu verfolgen sind. In der ersten treten die Propheten auf als die religiösen Genies, in denen die Erkenntnis erwacht ist, die seitdem als die prophetische Religion in der Menschheit steht und vor der Menschheit 321

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steht – plötzlich oder als Ergebnis eines langen Nachdenkens oder, wie man es auch ausdrücken kann, entweder als Ergebnis eines Ringens im Unterbewußten oder als Ergebnis eines Ringens im Bewußten. Man kann die Propheten danach unterscheiden, wie der Kampf verlief, der sie zur Erkenntnis brachte. Vor Jahrzehnten hat der Leipziger Chemiker Ostwald 34 ein Buch über das Genie veröffentlicht, in welchem er das romantische und das klassische Genie unterschei-|det. Das romantische Genie ist für ihn das, in dem plötzlich die Eingebung erwacht, das klassische das Genie, in welchem durch ein langes Suchen und Mühen und Forschen die Eingebung geweckt ist. Es soll vorerst dahingestellt bleiben, ob es ein plötzliches Erwachen einer Erkenntnis gibt. Was alles sich abspielt in Sphären des Seelischen und Geistigen, die noch nicht zum Bewußtsein kommen, wird immer schwer zu erkennen sein. Wohl kaum ist je etwas plötzlich als Eingebung gekommen; wenn ein Mensch sich nicht lange mit etwas beschäftigt hätte, was mit dem Hauptgegenstand seines Suchens zumindest verbunden oder ihm nahe war, dann wäre nie das, was die plötzliche Eingebung genannt wird, erwacht. Aber ein Richtiges ist daran: daß Menschen sich mit etwas befassen, was neben dem eigentlichen Weg ihres Denkens liegt, und es dann von dort hinübergreift und scheinbar plötzlich eine Erkenntnis geweckt wird. So kann man es auch bei den Propheten verfolgen. Aber um zunächst die Eigenart der Propheten – nicht zu erkennen, das wäre zuviel gesagt, aber zu erkennen zu suchen –, geht man vielleicht am besten von der Eigenart der prophetischen Sprache aus. Sprache bestimmt das Denken, ganz wie das Denken nachher die Sprache bestimmt. Das ist eine Interrelation, die sich nie ganz lösen läßt. In der Psychologie ist gesagt worden, und darin liegt etwas Richtiges, daß Denken ein unbewußtes Sprechen ist. Physiologisch hat man festgestellt, daß, wenn ein Mensch intensiv denkt, die Stimmorgane auch in einer gewissen Bewegung sind. Sprechen und Denken greifen ineinander über, und in manchen Sprachen ist Sprechen und Denken in mancher Beziehung fast ein Wort geworden. Wenn wir nun von der Sprache der Propheten reden, so kann man schwer scheiden, wieweit die Propheten diese Sprache geschaffen haben und wieweit durch diese Sprache der Propheten die hebräische Sprache geschaffen worden ist. Aber diese hebräische Sprache steht als etwas ganz Eigentümliches vor uns, auch innerhalb der semitischen Welt, in der sie ja ihren Platz hat. Die Bibel ist ja fast das einzige Dokument, das wir von der [alt-]hebräischen Sprache besit322

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zen; vielleicht ist sie ja nur der kleine Überrest einer großen Literatur, allein von ihr gerettet und erhalten. Und wenn man diese biblische Sprache mit assyrischen, aramäischen und – soweit wir diese haben – phönizischen Texten vergleicht, dann tritt diese Eigentümlichkeit uns schon hervor: innerhalb der semitischen Welt ist die hebräische Sprache eine besondere Sprache. Aber noch deutlicher wird es, wenn man das Hebräische mit der griechischen Sprache vergleicht. Ich habe ja schon einmal darauf hingewiesen: es ist eine der großen Merkwürdigkeiten, daß die Israeliten und die Griechen so spät voneinander erfahren haben. Zwar kommt das Wort Jawan, Ionia, schon in der alten Völkertafel in der Genesis (10,2) vor, aber mehr als das Wort nicht. Wenn man daran denkt, wie eigentlich Griechenland und Palästina geographisch miteinander verbunden sind durch die Inselbrücke, die von Hellas nach Palästina führt, staunt man um so mehr, daß diese Völker so spät erst voneinander wußten, daß eigentlich | erst Theophrast, der Schüler und Nachfolger des Aristoteles, von diesem merkwürdigen Volke der Juden, philosophoi to genos ontes, dieser »philosophischen Rasse« – so nennt er sie – etwas erwähnt. Aber es gehört zu den Wundern der Geschichte, daß so nahe im Raume, wie Palästina und Griechenland sind, diese zwei großen Genialitäten erwachten, die Propheten, die Geschichtsschreiber bei den Juden und die Dichter, Philosophen und Künstler bei den Griechen. Wenn man die griechische Sprache betrachtet, wie sie vor allem durch die Dichter und die Philosophen entwickelt worden ist, dann sieht man, wie dieser Sprache eigentümlich die Periode ist, die periodos. Die Sprache kreist um den Gedanken, um das, was sie ausdrücken will, herum: Nebensatz an Nebensatz, um allmählich zur Mitte zu gelangen; der Umweg, das Herumgehen um den Gedanken wie in konzentrischen Kreisen (Periode heißt ja eigentlich »das Sichherumbewegen«) ist charakteristisch für den griechischen Stil. Und als dann unter dem Einfluß des Griechischen die römische Sprache sich entwickelte, ist dies auch für diese charakteristisch geworden. Man hat oft den Eindruck (aber dieses Wort darf nicht zu sehr gepreßt werden), daß die Griechen mit der Sprache spielen. Sie haben große Freude an der Sprache. Und so dient die Sprache auch dazu, ein Schauspiel zu gewähren. Das Schauspiel ist ja das für die Griechen Eigentümliche, das Schauspiel für Götter und Menschen. Zu sehen, wie auf Erden Menschen einander begegnen, Völker einander begegnen, wie nachher von oben her, aus der Sphäre der Götter, ein Finger gereicht wird, eine Hand hineingreift und alles anders kommt, als man denkt, wie die Götter mit den Menschen gewisser323

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maßen spielen: dieses große Schauspiel, zum Drama, zur Tragödie vertieft und auch zur Komödie vertieft, denn sie hat auch ihre Tiefe, das ist eigentümlich griechischer Genius. Wenn man an Sokrates denkt, die Memorabilien des Xenophon liest oder das, was wir aus Platos Dialogen von Sokrates erfahren können – er spielt zunächst mit den Menschen. Seine Methode ist auch die »Periode«. Er geht nie direkt auf das Ziel los, sondern um das Ziel herum, von hier, von dort einen Zugang öffnend; so redet er mit den Menschen, um ihnen dann das zu zeigen, was er zeigen will. Für die hebräische Sprache ist das Eigentümliche – und in den Reden der Propheten tritt es besonders an uns heran – dieses Direkte: unmittelbar wird auf das Ziel losgegangen. Die Hauptsache wird im dritten oder vierten Worte gesagt, ohne Nebensätze. Es gibt Nebensätze, gebildet durch Präpositionen, die mit dem Verbum verbunden werden, aber sie spielen keine eigentliche Rolle. Direkt zur Mitte hin stößt immer das Denken vor. Daher diese kurzen Sätze – Sätze, wie sie auch in Griechenland von den Spartanern geprägt wurden, deren Redeweise darum die »lakonische« genannt wurde, um eine bestimmte knappe, direkte Art des Sprechens zu kennzeichnen. Doch hat die lakonische Sprache nicht die griechische Sprache gebildet und hat auch nicht das griechische Denken beeinflußt. Aber diese prophetische direkte Sprache, dieser Versuch des unmittelbaren Hingehens auf das Ziel hat das Denken des israelitischen Volkes, das jüdische Den| ken bestimmt – für Jahrtausende bestimmt. Das ist der erste Unterschied. Dieses Denken der Propheten ist [also] eines, das keinen Umweg kennt. Gewiß haben die Propheten gezweifelt. Aber sie haben gesprochen, nicht um von dem Umweg, der Ringsherum-Bewegung zu erzählen: sie haben zu sprechen begonnen erst, als sie eine Deutlichkeit, eine Unmittelbarkeit mitzuteilen hatten. Das ist das eine. Der andere Unterschied zwischen dem griechischen und dem prophetischen Sprechen ist der, daß das griechische im wesentlichen ein Dialog ist. Es ist natürlich nicht alles in der griechischen Literatur Dialog: aber in ganz eigentümlicher Weise, wie kein anderes Volk, haben die Griechen den Dialog, das Zwiegespräch zwischen Menschen gestaltet, um die mittlere Linie, die Wahrheit zu finden. Einer unterhält sich mit dem anderen. Wenn das Wort »spielen« in einem edlen Sinne gebraucht werden darf, so wie z. B. Huizinga in seinem Buch »Homo Ludens« 35 , »Der spielende Mensch« (den er neben den homo sapiens, den nachdenkenden Menschen, stellte), es genommen hat, [so kann man sagen], der griechische Denker spielt mit einem anderen. Er will ihm seine Blößen, die brüchigen Stellen 324

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in seinem Denken aufzeigen, will ihm zeigen, was an ihm haltlos ist: Er spielt mit ihm. Wenn man z. B. Platos Symposion liest, diese griechischste Schrift aller griechischen, müßte man fast sagen: Wie spielt bloß Sokrates mit den anderen Menschen, und wie spielt dann auch mancher andere mit ihm! Es ist alles dialogisch, einer spricht mit dem anderen. Auch das Drama, die Tragödie wie die Komödie, hat diesen dialogischen Charakter ganz ebenso wie die Philosophie. Es ist ein Zweikampf, in dem die Waffe das Denken, die logische Sprache ist. Und wie im philosophischen Dialog ein Unparteiischer ist, der schließlich entscheidet (in den meisten platonischen Dialogen ist es Sokrates), so tritt im Drama der Chor, der das allgemeine Empfinden zum Ausdruck bringt, gewissermaßen als Schiedsrichter auf, tritt als Unparteiischer zwischen die beiden Kämpfenden – wobei der eine unter Umständen auch ein Gott sein kann –, um sein Urteil zu fällen, um ein Schlußwort zu sprechen: agon, Wettkampf, Wettspiel, und der unparteiische Dritte, der Chor – alles dialogisch. Der Monolog Das prophetische Denken ist im wesentlichen monologisch. Aber dieses Wort muß mit einer gewissen Einschränkung gebraucht werden. Der Prophet spricht mit Gott, und er spricht zu dem Volke. Nicht mit dem Volke, nicht um sich mit dem Volke auseinanderzusetzen – er spricht zu dem Volke. Zwar läßt er manchmal das Volk sprechen. Eine klassische Stelle dafür ist die in Micha, wo der Prophet das Volk sagen läßt (6,6): »Was soll ich denn tun, um Gott zu gefallen? Soll ich mit Myriaden von Opfern kommen? Soll ich mein Kind als Opfer bringen?«, und der Prophet gibt immer die Antwort, um nachher das Letzte der Antwort zu sagen. Das ist aber nur ein kleines Hilfsmittel. Im allgemeinen spricht | der Prophet mit Gott, und wenn ein Mensch mit Gott spricht, ist das im höchsten Sinne des Wortes ein Monolog. Es ist nicht ein Dialog, denn der Gesprächspartner ist nicht gegenwärtig. Der Mensch spricht gewissermaßen mit seinem höheren Ich, mit der Offenbarung Gottes, die in ihm ist. Mit der Offenbarung, die in ihm erwacht ist, setzt er sich auseinander – mit der Offenbarung, zu der er nach langem Widerstreben hingelangt ist oder hingezwungen wurde, mit der spricht er. Also er spricht im höchsten Sinne mit sich selbst. Aber das Volk redet er an und teilt dem Volke gleichsam seinen Monolog mit: was der Monolog in ihm als Ergebnis hatte, die Form, die dieser gefunden hat, das läßt er vor das Volk hintreten. 325

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Es ist sehr interessant und aufschlußreich, nebeneinander einen griechischen klassischen Text und einen biblischen klassischen Text zu lesen, um zu sehen, wie nicht nur der Inhalt verschieden ist, sondern wie der Stil verschieden ist. Der Stil ist das Phänomen, in dem eine Eigenart eines Menschen sich darstellt: Es sind zwei Stilarten. Darum, um es nebenbei zu erwähnen, ist ein starker Beweis dafür, daß das Buch Hiob erst in der hellenistischen Zeit (wohl in ihrem Beginne) geschrieben worden ist, in einer Zeit, wo griechisches Denken bereits in das hebräische, jüdische Denken eindrang, daß dieses Buch ein Dialog ist. Ein Beweis dafür ist ja manches andere: auch der aramäische Charakter der Sprache, wobei über den Ort, wo dieses Buch entstanden ist, eines deutliche Auskunft gibt: die vielen Arabismen in diesem Buch. David Jellin in Jerusalem hat in einem, soweit ich urteilen kann, unwiderleglichen Aufsatz in der Festschrift für Alexander Kohut, den Herausgeber des Aruch, diese Arabismen im Buche Hiob dargelegt [vgl. Anm. 16]. Aber über die Zeit gibt deutlich das Auskunft: erst ein Mann, der mit der griechischen Art des Schreibens bekannt geworden war, konnte ein solch dialogisches Buch schreiben. Und es ist interessant, wenn man das Buch Hiob liest, immer wieder den Monolog mit dem Dialog sich mischen zu sehen. Der Monolog dringt immer wieder durch, indem Hiob spricht: vermeintlich zu seinen Freunden, aber die Freunde verschwinden dann sozusagen bald. Er spricht nur zu sich selber oder zu der Stimme Gottes, die in ihm erwacht war. Das Beispiel ist nur angeführt, um eben zu charakterisieren, wie das der Stil zeigt. Daher die kurzen Sätze auch hier: im Monolog kann man keine langen Sätze bilden – wohl im Dialog, aber nicht im Monolog. Diese kurzen Sätze, rhythmisch aneinander oder auch antithetisch zueinander geordnet, sind die Sprache des Monologes. Prophetische Rede und Gebet

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Um das noch weiter zu kennzeichnen, darf nun auf einiges andere hingewiesen werden. Wenn man die prophetische Rede betrachtet, so sieht man, wie die Rede und das Gebet ineinander übergehen, ganz unmittelbar. Wenn Sie an manche der | Reden des Hosea denken oder an Reden Jeremias vor allem: er kündet dem Volke das, was er zu sagen hat, indem er gewissermaßen mit sich selber spricht und das Ergebnis dieses mit sich selber Sprechens vor das Volk hinführt, und dann beginnt er zu beten. Er spricht zum Volke, und dann sagt er (Jer 17,14): 326

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r’faeni a’donai w’erafe, hoschieni w’iwascheah »Heile mich, o Gott, dann werde ich geheilt sein, hilf mir, o Gott, dann wird mir geholfen sein.« So finden wir es bei allen Propheten. Und es ist begreiflich: das Gebet ist doch auch eine Art Monolog – der eigentlichste, tiefste Monolog des Menschen ist das Gebet. Man hat bisweilen gesagt, aber es scheint doch, nicht ganz mit Recht, das Gebet sei ein Dialog: der Mensch spricht zu Gott. Gewiß, er spricht Gott an, er sagt zu Gott »Du mein Gott«. Aber es ist der Gott, der sich ihm offenbart hat, der Gott, der ihm zur Gewißheit geworden ist, der in ihm ist – mit dem spricht der Mensch, indem er betet. Sich selber meint er doch, wenn er betet. Er spricht in der äußeren Form der Rede zu Gott, aber eben nur wie gesagt, zu dem Gott, der sich ihm offenbart, der ihm zur Hoffnung, zur Zuversicht, zur Gewißheit geworden ist. Von seinen Sorgen spricht der Mensch zu Gott. Keinem Menschen kann er es sagen, es ganz sagen, kein Mensch kann ihn verstehen, kann ihn ganz verstehen. Aber Gott, der sich ihm offenbart hat – Gott versteht ihn. Gott weiß, was im Innersten seines Wesens wohnt und sich regt. Wo Menschen ihn nicht begreifen, wird Gott ihn begreifen oder, wie manche Sprachen das bezeichnende Wort gebildet haben, wird Gott ihn »erhören«, ganz hören, so wie er es meint, ganz hören, so wie er es empfindet. So ist auch das in gewissem Sinne eben nicht ein Dialog, nicht ein Zwiegespräch zwischen Gott und dem Menschen, obwohl der Mensch die Antwort Gottes hört – die innere Gewißheit, die in ihm eingekehrt ist. So kann in den Prophetenreden die Prophetie in das Gebet übergehen, ganz wie umgekehrt in dem Buche der Gebete, den Psalmen, das Gebet in die Prophetie übergeht. Wie oft wird der Psalmist zum Propheten, verkündet er dem Volke, was die Missetat des Volkes ist, spricht er zum Volke von dem, was die Hoffnung und die Zuversicht des Volkes ist, von dem, was dem Volke geboten ist und seine Aufgabe wird – er wird zum Propheten. Eines ist für die Psalmen (und sie gehören, wie gesagt, zu dem prophetischen Stil hin) ja auch kennzeichnend: sie sind Variationen über ein gegebenes Thema, wenn man diesen Ausdruck aus dem musikalischen Gebiet wählen darf. Immer wieder kann man in den Psalmen beobachten, daß ein prophetisches Thema, ein Thema aus der Torah immer neu variiert wird. Wenn ich ein Beispiel anführen darf aus dem Psalm (67,2), der am Ausgang des Sabbats als zweiter vor dem eigentlichen Beginn des Gebets gesprochen wird: e’lohim j’chonenu wiwar’chenu ja’er panau itanu – eine Variation über den Priestersegen »Gott möge uns begnaden und möge uns segnen, und 327

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Sein Antlitz möge uns immer leuchten«. Der Psalm bewegt sich um dieses eine Thema, die verschiedenen Formen dieses dreifachen Priestersegens werden immer wieder aufgeweckt und variiert, so wie | Komponisten Variationen über ein gegebenes Thema vor das Ohr und die Seele des Menschen hinführen. Und dann wird das alles zur Prophetie: joducha amim e’lohim joducha amim kulam, »alle Völker werden Gott danken …« – messianische Prophetie. So kann man es in vielen Psalmen immer wieder erkennen: Prophetie und Gebet gehen ineinander über. Psychologische Analogien Wenn man psychologisch es begreifen will, so könnte man sagen: alle Erkenntnis des Menschen geht aus einem Sichversenken des Menschen in sich selbst hervor. Das gilt auch für die Naturwissenschaft. Eines der interessantesten Gebiete der Psychologie – es ist noch wenig erforscht, aber die moderne Psychologie hat sich ihm zugewandt – ist die Erforschung der Vorgänge im Genie, indem, soweit man es feststellen kann, festzustellen gesucht wird, was in diesem Menschen, in dem ein Schöpferisches ist, eigentlich vorgeht und was das Genie, das Schöpferische im Menschen, von dem Talent unterscheidet, dem nur Entwickelten und Weiterführenden im Menschen. Was geht in ihm vor? Es gibt ein Buch, das sehr instruktiv darin ist, das sich nicht leicht liest, das sind die »Konfessionen«, die »Bekenntnisse« des Augustin – für den, der wunderbaren lateinischen Stil liebt, ein besonderer ästhetischer Genuß auch. Augustin war in die Nähe des Genies gekommen. Vielleicht war er ein Genie. Er hat ja das ganze christliche Denken bis in unsere Tage hinein bestimmt wie kaum ein anderer der Denker des Christentums. Er fragt immer: Was geht eigentlich in mir vor? Und er sagt, etwas übertrieben: Das, was in mir vorgeht, ist, daß irgend etwas über mich kommt und mich erfaßt; nicht meine Selbstsucht oder mein Egoismus, nicht meine Eitelkeit oder mein Bedürfnis zu gelten erfaßt mich, sondern etwas in mir, was gegen allen Vorteil, gegen alle sogenannte Aussicht, gegen alles Streben und Trachten des Menschen ist, eine große Selbstlosigkeit. Das Selbst wird von einer höheren Art und Kraft erfaßt und damit zur Kraft gemacht. Wir haben – um Jahrhunderte zu überspringen – bei Goethe viele Worte, die darüber Aufschluß geben. Er sagt es des öfteren bald so, bald so. Wenn er eines seiner Gedichte geschrieben habe, der Ge328

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dichte, welche bleiben werden (– nicht alles von Goethe wird ja bleiben; man hat nach seinem Tode seinen Schreibtisch ausgekehrt und unter den gesammelten Werken manches auch veröffentlicht, was nicht eigentlich Goethe ist), aber über das, was bleiben wird, da sagt er, er habe es niedergeschrieben, und wenn er am Tage darauf oder Tage danach es las, war es ihm, als wenn nicht er das geschrieben habe, als hätte ein anderer es niedergeschrieben und sich seiner nur als eines Instrumentes bedient. Wir wissen ein Ähnliches von Galileo Galilei, der auch sagt, es sei über ihn gekommen: nicht als ein plötzlicher Einfall, sondern als das letzte Ergebnis eines langen Sinnens und Denkens sei es über ihn gekommen. | Isaac Newton sagt ein Ähnliches. Es wurde zur Anekdote gestaltet: als er eines Tages einen Apfel vom Baum zur Erde niederfallen sah, sei ihm das Gesetz der Schwerkraft klar geworden. Er hatte Jahre und Jahre darüber nachgedacht, und plötzlich war dieses Nachdenken so weit gediehen, daß es zu einer Erkenntnis führte. Das ist das Genie. Und das ist so im Grunde auch wie ein Monolog des Menschen: der Mensch versenkt sich in sich selber, und in ihm wirkt und arbeitet und wellt und wogt es, und eines Tages kommt etwas hervor. Man hat von Beethoven gesagt, er habe die Neunte Symphonie, mit der er ja sein Leben beschloß, niedergeschrieben in einigen Wochen, aber verfaßt habe er sie in fünfzig Jahren. Das ist ein richtiges Wort. Immer hatte es in ihm gearbeitet, er hatte sich in sich hinein vertieft, um zu hören, was in ihm war, und endlich konnte er dem Ausdruck geben. Das ist das Eigentümliche der Propheten auch. Es schien vielleicht manchen Zeitgenossen eine Eingebung der Stunde zu sein. Aber die Jahrzehnte des Propheten sprechen darin – Jahrzehnte eines Ringens um die Erkenntnis und auch eines Ringens gegen die Erkenntnis. Es ist nicht leicht, Erkenntnis zu haben. Sie kennen ja das Wort aus Kohelet (1,18): w’jossif daath jossif mach’ob, »wer Erkenntnis mehrt, mehrt das Leid«; wie die Vulgata es sehr fein übersetzt: qui auget scientiam, auget dolorem. Und Sie kennen ja Schillers Wort von der Frau, die die Zukunft sehen muß: »Meine Blindheit gib mir wieder, pythischer, du arger Gott!« 36 Das zeigt deutlich das, was in den Propheten vorgeht, was ihren Stil geschaffen hat, diesen unmittelbaren Stil. Sie sprechen, wie zu Anfang dieser Darlegung gesagt wurde, nicht weil sie sprechen wollen, sondern weil sie sprechen müssen. Wer gern spricht, ist sicherlich kein Mensch, der einen Wert zu verkünden hat. Sie spre329

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chen, weil sie müssen, nachdem sie lange und lange dagegen sich gewehrt und gekämpft haben. So wird eben auch dann ihre Rede zum Gebet und das Gebet zur unmittelbaren Rede: dieser Monolog, das, was in ihnen vorgeht, sucht seine Worte. Es muß immer wiederholt werden, daß das Wort Monolog hier natürlich nicht gepreßt werden darf. Es soll nur ausdrücken, daß der Mensch, wenn er spricht, nicht zuerst an die Menschen denkt, zu denen er spricht, sondern an die Aufgabe, die ihm gestellt ist, an das, was er mit sich selber ausmachen, um was er mit sich selber ringen muß. Und nur das, was er in diesem Ringen gehört, gesehen und erkannt hat, davon darf er sprechen und darüber darf er sprechen. In diesem weiteren Sinne ist das Wort »Monolog« gemeint. Der Chochmah-Stil

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Nun kommt noch eine andere Form des Stils hinzu, die auch den Stil der Propheten erklären kann, eine Form, die der israelitische Geist ausgebildet hat, aber nicht er allein: die Griechen haben sie, die Chinesen haben sie, Gautama Buddha hatte sie, Zarathustra hatte sie. Es ist der Chochmah-Stil, das heißt: ein | längeres Nachdenken auf eine kürzere Formel gebracht. Man hat ihn später Aphorismus genannt. Aber ein Aphorismus kann leicht in die Nähe des sogenannten Einfalls kommen, dessen, was ein schwer übersetzbares englisches Wort »brain wave« »Gehirnwelle« nennt. Es gibt echte und unechte Aphorismen. Aber jedenfalls, während die prophetische Rede etwas ganz eigentümlich Israelitisch-Jüdisches ist, so ist der Chochmah-Stil dagegen etwas, das vielen Völkern angehört. Die sogenannten Sieben Weisen Griechenlands haben diesen Stil gepflegt, das Orakel in Delphi und die großen Denker und Weisen des mittleren und östlichen Asiens. Und wir finden ihn in der Bibel. Der Chochmah-Stil hat eine pädagogische Aufgabe: man will den Menschen eine Erkenntnis in das Gedächtnis einpflanzen, so daß sie sie im Gedächtnis bewahren können. Man kann nicht eine lange Rede im Gedächtnis bewahren, aber einen kurzen Satz kann man bewahren: [wie etwa jenen,] den das Orakel in Delphi sprach und der für Sokrates zum Führer wurde, »gnothi seauton«, »erkenne dich selbst«. Der Ton auf dem zweiten Worte: fange nicht damit an, den Himmel erkennen zu wollen, erkenne vorerst dich selbst! Und Sokrates hat es befolgt: man hat von ihm gesagt, er habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde heruntergebracht. Das ist ein solcher Chochmah-Satz. Und wir alle ken330

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nen ja unzählige solche Sätze aus der Menschheitsliteratur, die sich dem Denken des Menschen eingeprägt haben. Auch in den Propheten finden wir das: kurze Formulierungen, die sich scharf einprägen. So der Satz, in dem Micha das Eigentümliche der Prophetie des Amos, Hosea und Jesaja zusammenfaßt (6,8): »Recht zu tun, Treue zu lieben und in Demut zu wandeln mit deinem Gotte«. Das ist dieser Chochmah-Satz; er könnte fast in den mischle sch’lomo, den »Sprüchen Salomos«, stehen. Oder wenn Jeremia mahnend, warnend, drohend sein Wort an das Volk gerichtet hatte und er dann schließt (9,22 f.) »Es rühme sich nicht der Weise seiner Weisheit, es rühme sich nicht der Reiche seines Reichtums, und es rühme sich nicht der Starke seiner Stärke, sondern dessen rühme sich, wer sich rühmen mag, einsichtig zu sein und Mich zu erkennen – so ist das Wort des Ewigen«. [Prophetenrede und] dieser Chochmah-Stil, es geht ineinander über. Und so finden wir es auch in den Psalmen, wo Chochmah und Gebet ineinander übergehen, wie auch, wenn man das Wort hier anwenden darf, Philosophie und Chochmah einander berühren und einander dann durchweben. Denken Sie an den 90. Psalm, welcher überschrieben ist: »Gebet Moses, des Knechtes Gottes«. Wo hört hier die Chochmah auf und beginnt das Gebet? Wo endet das Gebet und fängt die Chochmah an? Chochmah-Sätze, die in den Sprüchen Salomos stehen könnten oder in dem Buche des Ben Sirach, gehen in den Psalmen in Gebete über. Oder im 19. Psalm, wo die Glorie Gottes gepriesen wird, »Die Himmel erzählen die Glorie Gottes …«, und dann die zweite Hälfte des Psalmes: »thorath a’donai«, »die Lehre Gottes ist vollkommen« – eines geht in das andere über. So ist alles ein Monolog (um das Wort wieder in seinem weiteren Sinne zu gebrauchen) darin, daß der Mensch sich in sich versenkt hat und dann das, was | in ihm laut geworden, worin er gewissermaßen erhört worden ist, in Worte faßt. Das ist dieser eigentümliche prophetische Stil, der nicht in ein Wort, nicht in eine Formel zu fassen, sondern nur von den verschiedenen Seiten her, in denen er sich erschließt, zu betrachten, der aber doch eine Einheit ist und ein Einmaliges (später ja Nachgeahmtes) in der Geschichte menschlichen Denkens und menschlichen Sprechens. Zukunft in der Gegenwart Und nun kommt ein Drittes noch, das allerdings nicht nur für die hebräische Sprache charakteristisch ist, sondern für die semitischen Sprachen überhaupt, was aber im Hebräischen eine ganz besondere 331

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Prägung gefunden hat. Die Tatsache ist die, daß in der Form des Verbs Futurum und Präteritum, das heißt das, was zu werden beginnt, die Zukunft, und das, was im Werden ist bis zur Gegenwart, das eben Vergangene, das Präteritum, sprachlich gar nicht voneinander zu trennen sind. Wenn man die Bibel in andere Sprachen zu übersetzen versucht, ist man oft im Zweifel darüber: ist hier die richtige Übersetzung ein Präteritum oder ein Futurum? Wie die verhältnismäßig spätere, talmudische Zeit das noch empfand, dafür soll nur ein Beispiel angeführt werden; aber es können andere zugefügt werden. Sie kennen den Satz, der das Lied des Moses und der Kinder Israel am Schilfmeer einleitet (Ex 15,1): as jaschir mosche uw’ne jisrael eth haschirah hasoth, »damals sangen Moses und die Kinder Israel dieses Lied«. Und die Lehrer des Talmuds fragen, was »damals« – as im Hebräischen, once im Englischen – bedeutet: einst in der Vergangenheit, einst in der Zukunft? Ist nicht die richtige Übersetzung [fügen sie hinzu,] »Einst werden singen dieses Lied Moses und die Kinder Israel«? Eine solche Deutung ist nur möglich, wenn das Ohr beides hörte, Futurum und Präteritum. Wenn zum Beispiel gesagt wurde – und in neuerer Zeit hat das Abraham Geiger 37 gesagt, der sicherlich, was man sonst vielleicht gegen ihn sagen könnte, Hebräisch verstand wie keiner seiner Zeitgenossen vielleicht –, das Wort aus der Magna Charta der Völker im Buche Jesajas (2,3) »Einst, am Ende der Tage, wird es sein, daß alle Völker auf den Berg Zion kommen werden und sagen werden mizijon theze thorah«; die übliche Übersetzung ist »von Zion geht die Lehre aus«, aber diese Übersetzung »geht« drückt sich um die Schwierigkeit herum. Darum sagt Geiger mit Recht, soll man übersetzen »von Zion ging die Lehre aus« – nicht als Perfektum, als vollendeter Zustand, sondern als ein fortdauernder Zustand, aber zur Vergangenheit gewandt – oder »von Zion wird die Lehre ausgehen«. Das ist, wie gesagt, [charakteristisch] nicht nur für die hebräische Sprache, sondern für die semitischen Sprachen im ganzen, [wurde] aber hier in der israelitischen Welt durch die prophetische Denkweise – Sprache beeinflußt das Denken und Denken die Sprache – wieder zu eigentümlicher Form geführt. | Der Prophet pflanzt die Zukunft in die Gegenwart ein. Zukunft beginnt jetzt, bei dir, hier in dieser Stunde – das ist das Prophetische doch. Die Propheten sprechen von der messianischen Zeit, aber sie sagen: mache du damit den Anfang. Wenn Johannes der Täufer sagt: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe!«, meint er: tut Buße, fanget damit an, dann wird es kommen. Die Zukunft wird in die Gegenwart eingepflanzt: nicht nur die Gegenwart zur Zukunft hingewandt, 332

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um die Zukunft immer vor sich zu sehen, sondern in die Gegenwart hinein ist die Zukunft gelegt. Gegenwart und Zukunft lassen sich gar nicht scheiden: es beginnt schon. Vielleicht hat es gestern begonnen. Wie Jesaja sagt (9,5): ki jeled julad lanu, »ein Kind ist uns geboren worden«. Vielleicht hat gestern schon diese Zukunft begonnen – sie ist nie etwas Fernes. Es wird gesagt (Jes. 2,2) w’haja b’acha’rith hajamim, »am Ende der Tage«, es wird gesagt (Jes 39,6) hine jamim baim, »Tage kommen«, aber dieses Wort acha’rith hat im Hebräischen nicht nur die Bedeutung »Ende«, sondern ist ein Nebenwort, Parallelwort zu tikwah, Hoffnung. Man könnte sagen »es wird sein in den gehofften Tagen«; es ist das keine wörtliche Übersetzung, aber eine sinngemäße. Es wird sich erfüllen, aber heute beginnt’s und soll es beginnen. Das hebräische Wort jamim baim, »Tage kommen …«, – »kommen« ist im Hebräischen auch etwas, was in der Gegenwart schon einsetzt, nicht erst später einmal seinen Anfang hat. So ist, sprachlich schon, den Propheten eigentümlich diese Idee der Zukunft, die jetzt beginnt – daß die Zukunft in den Boden der Gegenwart hineingepflanzt wird. Vielleicht charakterisiert sich darin das jüdische Denken wie in wenig anderem. Alles beginnt heute schon, Zukunft beginnt heute schon. Man kann, wenn ein Beispiel angeführt werden darf, das vielleicht zunächst abseits zu liegen scheint, aber doch dasselbe charakterisiert, den alten Brauch [erwähnen], daß, wenn die Woche zu Ende geht, einer dem anderen eine gute Woche wünscht – etwas, das schon sehr alt ist, soweit wir die Bräuche zurückverfolgen können. Also die Woche beginnt, jetzt beginnt sie, möge diese Woche eine gute sein. Aber nachdem einer dem anderen eine gute Woche gewünscht hat, beginnt man von dem Propheten Elia zu singen, dem Vorläufer des Messias. Man denkt an morgen, an Sonntag und Montag und Dienstag, und denkt zugleich an Elijahu, an hine jamim baim »die Tage, welche kommen«, an die gehofften Tage. Man kann von dem Jetzt nicht sprechen, ohne von der Zukunft zu sprechen, und man kann an die Zukunft nicht denken, ohne an die Gegenwart zu denken. Das ist dieser eigentümliche Messianismus im Judentum: nicht eine Ferne, die ferne ist, sondern eine Ferne, die uns die Hand reicht, die uns auffordert, die uns führen will. So denken die Propheten, und so sprechen sie. Und wenn man unter diesem Aspekt die Reden der Propheten liest, dann wird einem manches deutlich, was sonst vielleicht der Aufmerksamkeit entgeht. Wenn, um die Wirkung dessen zu charakterisieren, noch etwas angeführt werden darf: ich habe, in anderem Zusammenhang, früher darauf hingewiesen, daß es eine große Wandlung im jüdischen 333

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Denken gibt: die, welche mit dem | Buche Daniel beginnt. Parallel zu dieser Wandlung geht eine Wandlung in der Bedeutung des Wortes olam. Olam bezeichnet in der Bibel ja die Zeit, die unerforschliche Zeit, die wir nicht ergründen können, die endlose Zeit. In der nachbiblischen Zeit kommt ein mal, in dem vielleicht späten Buche Kohelet (3,11), das Wort vor in dem Satz gam eth haolam nathan b’libam, »den olam hat Gott in die Herzen der Menschen gegeben«: in der nachbiblischen Zeit hat es die kosmische Bedeutung »der endlose Raum der Welt«. Und das ist [ein] Symptom einer Wandlung des Denkens, die in dem Buche Daniel einsetzt. Die Propheten denken in einer horizontalen Linie, von jetzt zum Kommenden, wobei das Kommende schon heute einsetzt. Der Verfasser des Buches Daniel denkt in einer vertikalen Linie: eine obere Welt kommt herunter. Sie kommt herunter in siebzig Wochen, sie kommt vielleicht morgen schon, aber sie kommt herunter. Zukunft ist in die Gegenwart eingepflanzt, die kommende Welt in diese Welt hineingepflanzt. Das ist dasselbe, bloß in der vertikalen Linie, wie es bei den Propheten in der horizontalen Linie ist. Das sind diese drei Charakteristika, die sich aus einem Vergleich mit der griechischen Sprache am deutlichsten uns offenbaren: das Direkte, nicht die Periode; dann dieses Monologische: der Mensch, der sich mit sich selber vor allem auseinandersetzt, nicht mit anderen. »Fang’ du selber erst mit dir an«, das ist gewissermaßen die Philosophie dieser Sprache, wenn man dieses Wort gebrauchen darf – nicht dialogisch, sondern monologisch; und endlich diese Idee, daß die Zukunft in der Gegenwart beginnt. So denken und so sprechen die Propheten. Was den Griechen fehlte, obwohl es gelegentlich, ein oder das andere Mal, zum Ausdruck kommt, ist diese Idee der Zukunft und der Enthusiasmus, den sie weckt. Das griechische Volk ist ja, als seine Zeit erfüllt war, geistig rückwärts gegangen aus dem Mangel an Enthusiasmus, aus dem Fehlen der Idee der Zukunft – der Zukunft, die nicht die Utopie der Ferne ist, sondern einen bestimmten Ort, einen bestimmten Platz hat, nämlich den, der sich hier auf dieser Stelle befindet. Das ist diese Eigentümlichkeit. Judentum und Christentum: der offenbarende Gott und der offenbarte Gott Und nun werden wir sehen, wie daraus sich die Eigentümlichkeit der prophetischen Ideen entwickelt. Wenn wir das Wesentliche der 334

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prophetischen Ideen hervorheben sollen, so tritt der Unterschied deutlich hervor, wenn man hier das Judentum mit dem Christentum vergleicht. Christentum ist ja in dem Zusammenkommen von Griechentum und Judentum entstanden. Wenn Adolf von Harnack in seiner Dogmengeschichte 38 vom Gnostizismus, dieser halb heidnischen, halb christlichen Philosophie, sagt, er sei die akute Hellenisierung des Christentums gewesen, hat das sicher sein Richtiges. Aber noch richtiger wohl, so scheint es, wäre zu sagen: das Christentum ist eine Hellenisierung des Judentums. Eine | Hellenisierung: nicht eine Einwirkung des alten klassischen Griechentums, sondern des [hellenistischen] Griechentums, das sich aus dem Synkretismus, aus dem Zusammenkommen von Orient und Okzident entwickelt hat. So kann man das Christentum auch in bezug auf den Stil des Denkens mit dem Judentum vergleichen. Das Charakteristische des Christentums – wie es ja nicht in den Evangelien steht, sondern mit den Briefen des Paulus und dem Evangelium des Johannes beginnt – ist: das Christentum ist der Überzeugung, Gott hat sich den Menschen offenbart in dem Sinne »die Menschen wissen um den ganzen Gott«. Gott ist der offenbarte Gott. Wenn man den Prolog des Johannesevangeliums liest (1,14): »Ho logos eskenosen en hemin«, der Gott »wohnte unter uns« – Gott, der Mensch geworden ist und damit sich eben ganz offenbart hat. Und der ganze Gott hat sich offenbart. Zwar spricht das Christentum auch von dem Deus absconditus, dem verborgenen Gott, »verborgen« deshalb, weil Gott doch jenseits der menschlichen Sphäre ist. Aber: Gott hat sich dem Menschen offenbart. Das Judentum kennt nicht den offenbarten Gott, sondern den offenbarenden Gott. Um Gott ist das Geheimnis. Kein Mensch kann es durchdringen, achen atha el missthather, so sagt Jesaja (45,15). Gott, der sich verbirgt, sich in Geheimnis hüllt, ist Gott. »Du kannst Mein Antlitz nicht schauen«, wie zu Moses gesagt wird (Ex 33,20). Er ist der verborgene Gott, der offenbart: nicht Sich selber, nicht Sich ganz – das bleibt in dieser Welt verhüllt, aber er offenbart etwas. Der offenbarte Gott, daraus ging das Christentum hervor. Der offenbarende Gott, das ist Judentum. Ich weiß nicht, ob hier einige sind, die sich für Spinoza interessiert haben. Es ist eigen, wie in anderer Ausdrucksweise – jede Zeit hat ja ihre Ausdrucksweise – Spinoza ein Ähnliches sagt. Er spricht von den zwei Attributen, das heißt: den beiden Formen, in denen das eine Unendliche, das Ewige, dem Menschen nahetritt, das ist Denken und räumliche Erstreckung, cogitatio et extensio. Er sagt aber immer: es gibt unendlich viele Attribute, die jenseits der Sphäre des Mensch335

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lichen sind und bleiben. Das heißt doch auch: das Eine und Ganze, von dem er spricht, offenbart sich dem Menschen nie völlig. Nun ist die Frage: was offenbart Gott? Das ist es, was die Propheten immer beschäftigt hat. Wir haben einen Satz, in welchem das Problem zusammengefaßt wird. Sie kennen alle den Satz des Propheten Micha (6,8) higid l’cha adam mah tow … »Er hat dir, o Mensch, gesagt, was gut ist: nichts anderes als Recht zu tun, Treue zu lieben und in Demut mit deinem Gott zu wandeln«. Micha lebte in der Zeit nach dem Propheten Jesaja, und er hat zusammenfassen wollen, was die drei Propheten, die er miterlebt hatte, unmittelbar und mittelbar – Amos, Hosea, Jesaja – [darüber] gesagt hatten, was Gott offenbart. Amos hatte gesagt: die Gerechtigkeit ist es. Hosea hatte gesagt: die Treue ist es. (»chessed« bedeutet, wie eine sehr gute Schrift von Nelson Glueck 39 , die vor dreißig Jahren etwa erschienen ist, zeigt, nicht eigentlich »Liebe«, sondern »Treue, Loyalität«, Treue, | die geliebt wird), Treue steht ja im Mittelpunkt des Buches Hosea. Und Jesajas Reden gehen immer auf die Demut zurück – demütig soll der Mensch sein. Dieser Satz »Es ist dir gesagt worden, was gut ist« usw. faßt zusammen, was diese drei Propheten gesagt haben: Gerechtigkeit, Treue der Liebe, Demut. Und darum, so scheint es, dies merkwürdige Wort higid l’cha, »er« oder »man« hat dir gesagt: Wer ist dieser »er« oder »man«? Diese Männer, Amos, Hosea, Jesaja, sie haben das gesagt: higid l’cha. Aber das scheint kein Zweifel zu sein, daß der Satz das zusammenfassen will, was Amos, Hosea und Jesaja sagten, [wozu] dann Jeremia und der zweite Jesaja vor allem weiteres hinzufügten. Das war für sie die Offenbarung: nicht Gott selber, aber das Gebot Gottes. Was das Gebot Gottes ist, das spricht sich aus als Gerechtigkeit, als Treue, als Demut. Wenn man damit wieder vergleicht, was in dem wunderbaren chinesischen Denken – in dessen zwei Strömen, die von Laotse und von Konfutse ausgehen – gesagt wird, was in den zwei Strömen des indischen Denkens, in den Veden und den Lehren des Gautama Buddha, gesagt ist, und im griechischen Denken vor allem, da sieht man den ganzen Unterschied. Und auf diesen Unterschied in der Prägung der Gedanken, nicht nur der Gedanken selber, sondern wie sie geprägt sind, kommt es an. Denn aller Fortschritt des Denkens ist ja eine neue Prägung des Denkens, ein neuer Ausdruck in der Prägung der Ideen, die sich hier als Eigenart des jüdischen Genius zeigt.

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Die Logik der Paradoxie Und nun kommt ein letztes dazu, was vielleicht das Eigentümliche ist, aus dem alles [andere] hervorkommt. Man könnte sagen: die Propheten haben eine eigentümliche Logik geschaffen – die Logik der Paradoxie. Paradox ist etwas, das dem Augenschein, dem Rechnen und Messen und Wägen, dem rationalen Suchen und Forschen widerspricht. Paradoxes ist auch anderen Völkern aufgegangen. Das Buch des größten chinesischen Denkers, Laotse, ist voll der Paradoxie, die Reden Gautama Buddhas und die des Zarathustra sind voll davon. Bei den Griechen hat vor allem Heraklit, ›der Dunkle‹, wie er genannt wurde, die Paradoxie gepflegt, und es ist immer (wenn das nebenbei erwähnt werden darf) eigentümlich, wie die griechischen Denker, die an der Küste Kleinasiens lebten, etwas ganz Besonderes entwikkelt haben, das nicht ganz aus dem griechischen Genius hervor zu erklären ist; und so ist dieser Heraklit unter den Klassikern Griechenlands in mancher Beziehung ein ungriechischer Denker durch diese Paradoxie. Was bedeutet die Paradoxie? Man kommt einer Antwort auf die Frage nach der Logik der Paradoxie – die Paradoxie ist ja, wie Sie wissen, durch Kierkegaard wieder in die Religionsgeschichte hineingeführt worden – am nächsten, wenn man davon ausgeht, daß der Mensch in zwei Bereichen, in zwei Sphären lebt. Das hatte schon Plato ausgesprochen, das hat Kant ausgesprochen, und das haben Den| ker, die zwischen diesen beiden größten der Philosophen [lebten], auch ausgesprochen. [Der Mensch lebt einerseits] in der Sphäre dessen, was man das Universum nennt, von dem er ein Teil ist: die Erde, auf der er eine Partikel, ein kleines Teilchen ist, ist eine Partikel, ein kleines Teilchen, in der Gesamtheit des Kosmos. Man muß immer wieder durchdenken, was das doch eigentlich bedeutet, wie gering, wie verloren, obwohl eingeordnet, die Erde in der Gesamtheit des kosmischen Systems ist, bis zu dessen Enden noch niemand hingelangt ist. Und auf dieser Erde lebt der Mensch. Dieser Mensch sucht in den Kosmos hinauszutreten. Albert Einstein, der ja selten und widerstrebend nur auf Fragen einging, die ins Philosophische hineinreichen, hat mehrmals, mit einer Emphase, die in diesem zurückhaltenden Menschen nicht häufig zum Ausdruck kam, gesagt, das sei das größte Wunder, daß es auf dieser unserer Erde Menschen gibt, welche den ganzen Kosmos zu durchforschen suchen. Das ist in der Tat etwas Außergewöhnliches. Und man muß sich, was in gewissem Sin337

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ne auch eine Paradoxie ist, vergegenwärtigen: ein Mensch, ein Wesen unter Milliarden von Wesen auf dieser Erde, einem Gestirn unter vielleicht Milliarden von Gestirnen, sucht in das Universum einzudringen. Wir leben in einer Welt, die man die Welt des Rationalen nennt. Das große Werkzeug, das der Mensch dafür im Laufe der Generationen seit Jahrtausenden immer weiter entwickelt hat, ist die Mathematik, diese große Kunst, zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen, zu messen, zu wägen, und wieder zu vergleichen und neue Schlüsse zu ziehen – der große Schlüssel, um in die Wissenschaft von der Natur einzudringen. Ohne Mathematik ist keine rationale Wissenschaft möglich, und darum hatte Plato ja mit Recht an das Tor der Akademie schreiben lassen: Medeis ageometrikos eisito, »Keiner darf hier eintreten, der nicht Mathematik kennt.« Die großen Philosophen sind ja vielfach, meistens kann man sagen, von der Mathematik hergekommen, wenn man im Altertum an Pythagoras, Aristoteles, in der neueren Philosophie an Descartes, an Spinoza, an Leibniz, an Kant denkt und wenn man an Hermann Cohen denkt, einen Mann, der uns Juden so nahesteht und der unter seinen wissenschaftlichen Arbeiten eine Schrift über das Prinzip der Infinitesimalmethode veröffentlichte und immer wieder auf die Mathematik zurückkommt. In dieser Sphäre lebt der Mensch. Der kleine, der unmathematische Mensch, mißt und wägt und rechnet und zählt auch. Er zählt und rechnet Vorteile und Nachteile, Aussichten guter oder ungünstiger Art gegeneinander auf. Der Mensch ist das rechnende Wesen. Man hat ja oft versucht, den Menschen zu definieren. Sie wissen, Benjamin Franklin hat das in die Worte gefaßt »Der Mensch ist der homo sapiens«, und er dachte dabei sicher vorerst daran: der Mensch, der rechnen kann. Andere, wie der holländische Historiker Huizinga, haben den Menschen als homo ludens bezeichnet, den Menschen, der das Spiel entwickelt; das Tier spielt auch, der Mensch entwickelt das Spiel. Und man kann auch sagen: der | Mensch ist das einzige Wesen, das von seinen Großeltern und seinen Enkeln weiß. Kein Tier kennt Großmutter und Großvater, kennt Enkelkinder; nur der Mensch weiß es und hat zumindest im Laufe seines Werdens dieses Wissen sich erworben. Aber die allgemeinste Erklärung ist doch wohl die: der Mensch ist das rechnende Wesen, homo sapiens. In dieser Sphäre lebt der Mensch. Und es sind daraus Schlüsse für den Charakter menschlicher Gemeinschaft und menschlicher Gesellschaft gezogen worden, um diese Scheidung, die auf Ferdinand Tönnies 40 zurückgeht und uns im vergangenen Winter beschäftigt 338

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hatte, zum Ausgangspunkt zu nehmen: das heißt, in der natürlichen Verbindung von Menschen miteinander, der Gemeinschaft, und in der hergestellten Verbindung von Menschen miteinander, der Gesellschaft. Wir leben in dieser Welt des Messens, Rechnens, Wägens, Vergleichens, Zusammenstellens, des Addierens und Subtrahierens und Dividierens. Das ist das eine. Aber der Mensch lebt in einer anderen Sphäre auch, an die die Mathematik, so hoch sie entwickelt sein mag, nicht heranführen kann: in der Sphäre dessen, was man die Welt der Ideale, die Welt der Gebote nennen kann. Dort läßt sich keine Mathematik anwenden. Das ist eine andere Form, man muß sagen, der Logik; nicht der mathematischen Logik, sondern einer besonderen Logik. Sie wissen, daß manche Denker – die sogenannten Materialisten – den Versuch gemacht haben, auch auf diese Welt die Methoden der rationalen Logik anzuwenden. Sie haben auch versucht, diese auf die Ethik anzuwenden. Und das Ergebnis war dann immer, daß sie sagten: alle Ethik ist ein Mittel nur, das wilde Tier, das der Mensch von seinem Ursprung her ist, zu zähmen. Wie Hobbes gesagt hat: homo homini lupus 41 , »ein Mensch ist dem anderen wie ein Wolf«, und es kommt darauf an, aus dem Wolf eine Art Hund zu machen, ein zahmes treues Haustier – alles kommt auf die richtige Methode an. Und diese materialistischen Philosophen haben darum immer gesagt: die beste Form der Verwaltung des Staates ist der Despotismus – ein vernünftiger, aufgeklärter Despotismus, der vermag dieses Werk des Zähmens am besten zu vollbringen. Es ist darum kein Zufall, daß Thomas Hobbes ein Vertreter der Autokratie war: der Staat ist der allgebietende allmächtige, der oberhalb der Gesetze steht – und damit der König auch oberhalb der Gesetze. So ist es auch im 19. Jahrhundert gewesen. Und es gibt ein interessantes Buch von Lenin, dem großen bolschewistischen Denker – denn er war als Denker eine Persönlichkeit –, eine reine Erfahrungsphilosophie 42 , worin er den reinen Materialismus lehrt. Und es ist wieder kein Zufall, daß auch er der Vertreter der Autokratie gewesen ist. Man muß den Menschen zähmen, mit Gewalt oder mit Überredung, je nachdem, und dieses Zähmen kann am besten durch ein autokratisches Regiment geschehen. So ist es immer gewesen, wenn man die Methoden des Rationalismus angewandt hat auf diese andere Welt, in der wir leben, auf diese Welt, in der die Liebe, die Treue, die Gerechtigkeit, das Poetische im Menschen ihre Stätte haben. | Im Rationalismus, wenn er diese Welt 339

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bestimmen will, ist der letzte Schluß aller Weisheit ein Wort, das im Mittelalter beliebt war, homo est animal bipes quod vult cogi, »Der Mensch ist ein zweibeiniges Tier, das gezwungen werden will«. Zwingen, zwingen, zwingen, das ist das letzte Wort der Weisheit. Und das hat seine eigene Logik, mathematische Logik – systematisch zwingen. Diese innere Welt aber hat eine andere Logik, und diese andere Logik ist eben die der Paradoxie. Der Sphäre dessen, was man die Welt der Ideale, die Welt der Gebote nennt, die Welt der Selbstlosigkeit, die Welt der Treue, der Güte, der Liebe, der Zuversicht, widerspricht das Rechnen, Zählen, Messen und Vergleichen. Und der Mensch lebt doch in dieser Welt. Er hält an der Selbstlosigkeit fest, obwohl in der Welt des Rechnens und Zählens nur die Selbstsucht die Resultate zu ergeben scheint. Er hält an der Gerechtigkeit fest, obwohl in der Welt draußen nur der Zwang die Ergebnisse zu zeitigen scheint. Er hält an der Güte fest, obwohl draußen die Härte nur zum Ziel zu führen scheint. Er lebt in dieser Welt, die der anderen Welt durchaus widerspricht, und sie ist die eigentliche Welt. Das ist eine Tatsache menschlichen Lebens, menschlichen Sinnens und Denkens. Und es ist darum gesagt worden – das Wort geht auf Kant zurück –, der Mensch lebe als Bürger zweier Welten. Das Eigentümliche des Denkstils der Propheten ist nun, daß sie sagen – man könnte es so ausdrücken –, daß der Mensch der eine Mensch ist, nicht in zwei Welten lebt, und daß der Sinn allen Geschehens, der Sinn des Menschenlebens, der Sinn dessen, daß diese zwei Sphären da sind, der ist, daß die höhere Sphäre – die der Ideale, der Gebote, der Güte, der Treue, der Zuversicht – in die andere Sphäre einzudringen sucht, um sie zu ordnen, zu bestimmen und zu gestalten. Wenn man das ganze Problem des Judentums von Anfang an, von Ägypten her bis zu unseren Tagen, in eine kurze Formel bringen sollte, eine Formel, in der alles, was im Deuteronomium steht und in den Büchern, die ihm vorangingen, was in den Büchern der Propheten enthalten ist, was in den Büchern der Apokryphen und in den apokalyptischen Büchern, was in dem alten Evangelium steht, was in der Agadah enthalten ist, in der Mystik und in der Religionsphilosophie des Mittelalters, dann in dem Ringen um den neuen Ausdruck, der mit Mendelssohn einsetzt, [zusammengefaßt wird] – wenn man also das alles, was in der Ausdrucksform so verschieden, im Grunde aber alles eines ist, in eine kurze Formel bringen soll, so könnte man sagen: das große Problem des Judentums (und der Religion Israels vorher) ist der Eintritt des Seienden, des Unendlichen, des Ewigen in eine Welt des Endlichen, Begrenzten, Vergänglichen, 340

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Menschlichen, der Eintritt einer höheren Welt der Einheit, welche alles umfaßt und umspannt, (und der Vielheit innerhalb der Einheit) in diese Welt, in die wir hineingestellt sind, in der wir leben und von der wir nicht wissen, was sie eigentlich innerhalb der großen Welt bedeutet, so wenig wir wissen, was dieser Planet, auf dem unsere Jahre und Jahrzehnte sich abspielen und Generation auf Generation folgt, inner| halb des großen Kosmos der Millionen und Milliarden von Gestirnen bedeuten mag. Und nun kommt das andere, das Entscheidende dazu: dieses Eindringen der Welt des Unendlichen, Ewigen in diese begrenzte Welt des Vergänglichen, Irdischen vollzieht sich in der Form des Gebotes. Das heißt, in der Form, daß diese andere Sphäre – die der Selbstlosigkeit, der Güte, der Treue, der Zuversicht – geschaffen wird. Im Gebote dringt diese höhere Sphäre in unser Leben ein und schafft diese andere Sphäre unseres Lebens, diesen Sauerteig, diesen Gärungsstoff, dieses Ferment, durch das die Gesamtheit des Lebens gestaltet werden soll. Nicht [also] zwei Sphären, die nebeneinander stehen und nichts Miteinander zu tun haben, zwischen denen der Mensch sich zurechtfinden soll, so daß gesagt wurde – und es ist oft gesagt worden –, die der Selbstlosigkeit, der Güte, der Treue sei nur für die camera pietatis, für das enge Privatleben des Menschen; wenn er in das, was man oft »Leben« nennt, hinaustritt, könne er das nicht mehr anwenden. Die Geschichte zeigt viele Beispiele von Menschen, welche, die härtesten und selbstsüchtigsten in der sogenannten großen Welt draußen, Menschen, die nur rechneten und zählten, in der engen Welt ihres Hauses, ihres Kreises die gütigsten, die selbstlosesten waren. Selbstverständlich kann man nicht Mathematik treiben, nicht eine Maschine entwerfen und nicht ein Haus konstruieren mit Güte und Liebe, obwohl etwas davon auch da sein kann: die Devotion, die Hingebung an die Aufgabe. Aber die Gesamtheit des Lebens soll durch diese andere Sphäre bestimmt werden, so daß im letzten Ende das Leben durch das große Gebot bestimmt wird. Das ist, vom Pentateuch bis in die Philosophie und Theologie des Judentums im letzten Jahrhundert, von einer Generation zur anderen, durch alle die Mannigfaltigkeiten der Verkündigung [hindurch], das, was immer die Menschen, die aus ihrem Judentum heraus nachdachten, beschäftigt hat. Und man versteht das Judentum nur, wenn man eben davon ausgeht, wenn man das vor allem weiß.

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Die Trennung der zwei Reiche: Augustin und Luther

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Man könnte es noch mehr verdeutlichen, indem man zwei andere Formen des Gegensatzes miteinander vergleicht. Ich sagte eben: nicht zwei Reiche werden einander gegenübergestellt, zwischen denen es keine Brücke gibt, sondern das eine Reich soll das andere durchdringen, beeinflussen und bestimmen. Es ist einmal der großartige und verhängnisvolle Versuch gemacht worden – er wirkt ja bis in unsere Zeit fort –, die ganze Welt des Lebens, in die der Mensch hineingestellt ist, in zwei Sphären zu teilen. Derjenige, der diesen Versuch zuerst, in klassischer Weise, gemacht hat, ist Augustin, dessen »Konfessionen« ich vor kurzem erwähnte. In seinem Buche über die »Civitas Dei«, die »Stadt Gottes« (»Stadt« Gottes, nicht »Staat« ist die Übersetzung von civitas), stellt er einander gegenüber das Reich | Gottes, das das Reich der Gnade ist, und die übrigen Sphären des Lebens, in die der Mensch hineingestellt ist, in denen das Rechnen und Zählen und Wägen entscheidet. Beide haben nichts miteinander zu tun. In die Welt des Irdischen, die civitas terrena, wird der Mensch hineingeboren (er wird nicht gefragt, ob er geboren werden will; es haben schon die »Sprüche der Väter« (4,22) gesagt »er wird hineingeboren«), und in die andere wird er durch die göttliche Gnade hineingestellt – durch die göttliche Gnade, die kein Mensch ergründen oder fassen kann. Gott hat es so bestimmt. Die einigen wenigen werden auserwählt. Die anderen sind, wie Augustin sagt, die massa perditionis, die große Masse, die zum Untergang bestimmt ist, zum ewigen Sterben. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Der Mensch, der in der civitas terrena lebt, in der irdischen Sphäre, kann sich nicht in die Sphäre der Gnade erheben, er ist in diese irdische Sphäre hineingebannt. Nur Gott kann ihn herausheben, und durch das Wunder des Sakraments, das die einen erreicht, die anderen nicht erreicht, geschieht es. Die beiden Sphären stehen einander gegenüber, nur das göttliche Wunder der Auserwählung hebt aus der niederen zur höheren empor. Im Judentum ist die Erwählung das große »Wenn«, die Freiheit des Menschen mit einer Möglichkeit verbindend: »Wenn ihr auf Meine Stimme hört, so werdet ihr Mir ein Besitztum sein mehr als die Völker sonst auf Erden« (Ex 19,5). Sie wissen, daß gegen die Lehre des Augustin in seinen Tagen sich der große Widerspruch erhob durch Pelagius. Die Kirche hat gegen Pelagius entschieden und hat Augustin für heilig erklärt. Sie hat immer Angst vor dem ganzen und radikalen Augustin gehabt und hat 342

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im Laufe der Zeit so eine Mittellinie zwischen Pelagius und Augustin zu wählen gesucht, indem sie sagt: der Mensch kann doch etwas dazu tun, daß er in die höhere Welt hineingelangt, und die Gnade kann ihm entgegenkommen, – gratia praeveniens, die »herankommende, entgegenkommende« Gnade, das ist der Ausdruck, den die Kirche dafür gebildet hat. Es ist, wie gesagt, der Kirche, die sehr klug war, vor dem ganzen Augustin angst geworden, und als am Beginn der Neuzeit Jansen, in dem Reich, das heute Holland und Belgien ist, den ganzen Augustin wieder etablieren und Frankreich [dessen Lehre] in der Schule von Port Royal weiterpflegen wollte, hat die Kirche gegen ihn entschieden. Der eigentliche Nachfolger, den Augustin fand – um das zu erwähnen –, ist Luther. Ein Mann mit genialen Zügen, aber er hat das, was Augustin sagte, noch übertrieben. Der Mensch kann nichts tun. Es gibt wenige Schriftsteller, von denen so viel geredet [wird] und die so wenig gelesen werden. Wer Luther wirklich liest, dem wird oft angst und bange vor dieser Härte, fast möchte ich sagen: dieser mathematischen Härte des Denkens. Der Mensch kann nur der Gnade harren, ob er einer der Erwählten sein wird – harren velut paralyticus, wie ein Gelähmter, sicut cadaver, wie ein Toter. Luther hat offenbar manchmal Angst vor sich selber bekommen und hat die theologisch radikalen, lebensfeindlichen Gedanken lateinisch | geschrieben, damit das Volk, das große Volk sie nicht lese. Aber auch in den deutsch geschriebenen Schriften steht mancherlei Erschrekkendes. Die beiden Reiche stehen einander gegenüber. Das Charakteristische des Judentums ist [dagegen], daß eben die höhere Welt in der Form des Gebotes und dessen, was das Gebot in sich schließt, der Güte, der Treue, der Selbstlosigkeit, der Zuversicht, der Versöhnung, in diese irdische Welt eintritt. Nicht zwei Reiche nebeneinander und gegeneinander, sondern ineinandergefügt, insofern als die höhere Welt in die niedere immer eindringt und Menschen ergreift – jeden Menschen ergreifen will. Vielleicht kann man es noch ein wenig verdeutlichen, indem man sagt, diese zwei Welten, die des Kosmos und die der Selbstlosigkeit, sind so geschieden: wenn der Mensch in den Kosmos eindringen will, stellt er Fragen, aber er wird nie gefragt. An keinen Naturforscher, der in das Universum einzudringen sich bemüht, wird eine Frage gestellt vom Universum, vom Kosmos. Es ist eine schweigende Welt, die in ihren Gesetzen redet, in dieser »Harmonie der Sphären«, die diese Gesetze bedeuten, von der Plato und vor ihm Pythago343

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ras sprachen. In der Welt des Gebotes wird der Mensch täglich und stündlich gefragt, und er soll die Antwort geben. Stunde um Stunde ergeht an ihn die Frage, und er soll die Entscheidung treffen – denn eine Antwort, die der Mensch in dieser Sphäre gibt, bedeutet zugleich eine Entscheidung: es ist keine Antwort, die bloß ein Wort ist; es ist eine, die zur Tat werden soll, eine Entscheidung. Aus der Scheidung der zwei Sphären in der augustinisch-christlichen Welt ergibt sich so manches auch für das Gemeinschaftsleben. Wenn die Erwählung außerhalb menschlicher Entscheidung ist, außerhalb menschlicher Freiheit, Tatsache, der gegenüber der Mensch nichts vermag, [und] wenn der Mensch hienieden, falls nicht das Wunder an ihm geschieht, verworfen ist, weil er unter der Erbsünde steht, dann ist es doch so, daß man nicht an die Freiheit des Menschen appellieren kann. Und wenn diese irdische Welt zur Verdammung bestimmt ist, wenn man, in Gemeinschaft oder Gesellschaft, Menschen miteinander verbinden will, die unerlöst, unerwählt sind, wie ja [nach dieser Theologie] mit wenigen Ausnahmen alle es sind, da bleibt nichts übrig als der Zwang. Darum haben die Anhänger des Augustin jeden Despotismus gerechtfertigt, und darum hat jedes Staatswesen und jede Gemeinschaft, die auf dem augustinischen Prinzip sich aufzubauen suchte, immer ein System des Zwanges geschaffen. In dieser Welt der Verdammten und der Verlorenen nützt nur die Gewalt. In ihr gilt wirklich das Wort, das ich anführte, das im Mittelalter ein geflügeltes war, homo est animal bipes quod vult cogi, »der Mensch ist ein zweibeiniges Wesen, das gezwungen werden will«. Und um wieder auf Luther hinzuweisen, so könnte man sagen: es wäre eine interessante, fast statistische Aufgabe, zu zählen, wie oft in seinen Schriften, auch in den deutschen, das Wort »Gewalt« vorkommt. »Gewalt, Gewalt, zwingen, zwingen« sind Lieblingsworte von Luther: »Die Obrigkeit hat Gewalt über euch …« Und als die Bauern sich erhoben – dieser Wendepunkt in der Geschichte Deutsch| lands –, hat Luther sich natürlich gegen die Bauern gewandt und hat jede Gewalt ihnen gegenüber dringend angeraten. Jedoch in Platos »Staat« ist doch auch das Prinzip der Gemeinschaft aufgeklärter Zwang, – das, was man im 18. Jahrhundert den aufgeklärten Despotismus nannte, also Zwang mit Vernunft ausgeübt, nicht mit Roheit, aber mit Bestimmtheit, jedoch mit Vernunft. Es bleibt nichts anderes übrig. Zwang ist etwas, ohne das der Mensch, wie er nun ist, im Zusammenleben mit anderen Menschen nicht gut auskommmen kann. Wo es Gesetze gibt, gibt es auch Strafgesetze. Und wo es ein Strafgesetz344

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buch gibt, dort gibt es auch Zwangsmaßnahmen, bis zu der hin, daß ein Mensch vom Leben dem Tode überliefert wird. Und wo es Erziehung gibt, ist es – oder war es – kaum möglich, für lange Zeit ohne den sogenannten baculus, den Rohrstock, auszukommen – zu zwingen. So steht in den »Sprüchen« das Wort (13,24): »Wer seinen Sohn lieb hat, züchtigt ihn«. Aber der Unterschied ist: ein System des Zwanges, darauf errichtet, daß angenommen wird, daß der Mensch von Natur sündhaft sei und an seine Freiheit nicht appelliert werden kann, ist im Judentum unmöglich. Durch Selbstlosigkeit, durch Güte, durch Treue zu überwinden, das ist das, was die Propheten lehren. Das ist das eigentümlich Jüdische. Es ist nicht immer klar zum Ausdruck gebracht worden; denn keine Geschichte von mehr als drei Jahrtausenden ist eine Geschichte von gesetzter Klarheit. Aber es ist doch immer wieder zu erkennen, es ist immer wieder durchgebrochen und hat die Menschen ergriffen. Hier wird daher also das Volk, wie es ist, dem Volke gegenübergestellt, wie es sein soll, während dort, wo die Anschauungsweise des Augustin regiert – es gab ja Augustinismus sozusagen schon vor Augustin –, dort wird ein Mensch nur anerkannt, wie er eben in dieser irdischen Welt ist. Der Mensch, wie er ist, wird nicht kontrastiert mit dem, wie er sein soll, sondern nur »der Verdammte« und »der Erlöste«. Wenn ich eine kleine, nicht direkt dazugehörige Bemerkung machen darf, so ist dies eine interessante Beobachtung. Zweimal hat sich in der Kirche am stärksten der Kampf gegen Augustin erhoben, das eine Mal durch Pelagius am Ausgang des Altertums, und das andere Mal durch Duns Scotus am Ausgang des Mittelalters. Merkwürdigerweise sind sowohl Pelagius 43 wie Duns Scotus Männer aus Großbritannien gewesen: Engländer und Schotte. Es scheint, daß auf diesem Eiland der Sinn für menschliche Selbständigkeit – denn alle Selbständigkeit und Freiheit kann ja nur aus dem Sittlichen, aus dem Gebote hervorwachsen – schon beinahe eingeboren ist. Aber um zum Eigentlichen zurückzukehren – das ist also das andere, was für den prophetischen Denkstil eigentümlich ist: das Volk, wie es ist, wird immer dem Volke, wie es sein soll, gegenübergestellt. »Ihr seid Sünder« – wie die Haftarah dieser Tage sagte –, »aber Zion wird durch Recht erlöst werden« b’mischpat thipadeh (Jes 1,27), man wird Zion nennen können »die bewährte Burg«, die »Stadt der Gerechtigkeit«. Nicht bloß Gegenwart und Zukunft werden einander | gegenübergestellt, sondern auch der Mensch, wie er ist, dem Menschen, wie er sein soll. Das Gebot, mit allem, was es in sich schließt, tritt in die irdische Sphäre ein, um Menschen zu ergreifen, und Men345

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schen können sich zu [der höheren] erheben. Die zwei Welten stehen miteinander in Verbindung. Daraus ergibt sich diese Paradoxie der prophetischen Denkweise: das, was in der [rationalen] Denkweise undenkbar ist, ist in der prophetischen Denkweise die Wahrheit. Hier in diesem Kreise hatte, als er das letzte Mal unter uns weilte, ein Mann, an den wir alle gern und dankbar zurückdenken, der Kollege Schreiber, aus Rauschnings »Gesprächen mit Hitler« 44 ein Wort zitiert, das Hitler zu ihm sprach: »Gewissen ist eine jüdische Erfindung«. Es ist in der Tat eine jüdische Erfindung. Das Wort »Gewissen«, dianoia im Griechischen, conscientia [im Lateinischen,] ist kein hebräisches Wort; es gibt kein ganz entsprechendes demgegenüber im Hebräischen. Aber was wir eben Gewissen nennen, geht in der Tat auf die Denkweise der Propheten zurück. Sokrates hat ja etwas davon geahnt, als er (wie es ja bekannt ist) sagte, sein Daimonion, irgendein Dämonisches in ihm, sage ihm im entscheidenden Augenblick, was er nicht tun solle (nicht, was er tun solle!): das ist schon etwas, das auch in diese Sphäre hineinreicht. Vielleicht ist das, was hier gemeint ist, am prägnantesten ausgedrückt in dem zweiten Abschnitt des Alenu-Gebetes, welches der große babylonische Lehrer Rab am Anfang des dritten Jahrhunderts für das Neujahrsfest dichtete, worin gesagt wird (es ist merkwürdig, es ist das, wie ich glaube, in den meisten Übersetzungen nicht richtig übersetzt worden): es sei die Aufgabe des Menschen, l’taken olam b’malchuth schadai, »die Welt zu ordnen durch das Reich des Allmächtigen«, das heißt, das Reich des Allmächtigen in diese Welt des Menschen eintreten zu lassen, so daß die Kommende Welt, das Kommende Reich, das Reich Gottes heute und hier bei diesem Menschen beginnt 45 . Das könnte der kürzeste Ausdruck sein für das, was als sittliche psychologische Wurzel des prophetischen Denkens zu erkennen ist. Der Geist der Utopie Jede Sprache, wenn es echte Sprache ist, Sprache, die dem Geiste dient, ist etwas, was immer neu geschaffen werden muß. Wenn eine Sprache nicht mehr neugeschaffen wird, dann hat ihre Geschichte eigentlich aufgehört. Jede Epoche im Judentum hat ihre eigene Sprache geschaffen, und nur solange das Judentum dessen fähig bleiben wird, im neuen Ausdruck dem alten Problem sein Wort zu verleihen, nur so lange wird es eine lebendige Kraft sein. Die Sprache der Propheten ist dadurch eine andere als die der Evangelien oder der Apo346

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kalypsen gar, eine andere als die, welche die verschiedenen Richtungen innerhalb des Judentums in der sogenannten Neuzeit schufen. Dadurch lebt das Judentum. Aber in dieser Sprache, die so verschieden ist in der Art, wie sie das ausdrückt, was sie bewegt, wohnt immer dieses eine alte Problem, will immer dieses Problem seinen Ausdruck finden. Das hält das ganze Judentum zusammen. | Darum ist das Judentum der Epochen fähig. Nur wenn ein Volk der Epochen fähig ist, hat es eine lebendige Geschichte. Wenn es in einer Epoche bleibt, hat seine wesentliche Geschichte aufgehört. Und nur dann ist ein Volk, eine geistige Gemeinschaft der Epochen fähig, wenn sie dem alten Problem neuen Ausdruck zu verschaffen vermag. Die Zahl der Probleme, mit denen der Menschengeist ringt, ist eine sehr begrenzte: nicht mehr als Finger an einer Hand. Aber diesen Problemen ist immer wieder Ausdruck gegeben worden, entweder in dem Gebiete, in dem eines entstanden war, oder – Probleme wandern ja auch – in einem Gebiete, das dieses Problem zu eigen genommen hat. Es sind wenige Probleme, und sie bleiben lebendige Fragen des menschlichen Geistes, solange ihnen der neue Ausdruck gegeben werden kann. So könnte man, wie gesagt, die Geschichte des jüdischen Geistes bezeichnen als das Ringen mit der Frage, wie das Ewige, Unendliche in die menschliche Sphäre eindringt oder einbricht. Man kann dieses Eindringen Schöpfung nennen oder Offenbarung oder Verheißung, es ist immer dasselbe. Der Gedanke zweier Welten, denen leidend oder handelnd der Mensch zugehörig ist, hat nicht nur in Israel den Geist beschäftigt. Aber das Eigentümliche im israelitischen Denken ist, daß diese beiden Sphären in eine Einheit gebracht werden dadurch, daß die niedere Welt sich zur höheren emporheben kann. Aber hierzu kommt noch eines, worin dieses neue Prinzip mehr noch in die menschliche Freiheit hineingestellt wird. Man könnte es nennen: der Geist der Utopie und der Weg zur Verwirklichung der Utopie. Vielleicht erinnern sich einige: In den zwanziger Jahren, in denen in manchen Ländern Europas eine Renaissance des Denkens sich anbahnte, die dann, um das Wort Burckhardts zu gebrauchen, durch »große Simplifikatoren«, durch die, die moralisch und geistig alles über einen Leisten schlagen wollten, zurückgedrängt und vernichtet wurde, hat man sich in den verschiedenen Ländern auch viel mit der Frage der Utopie beschäftigt. Ein Buch von Bloch, »Der Geist der Utopie« 46 , hat damals das Nachdenken beschäftigt. Was liegt dieser Idee zugrunde? Ein Gedanke scheint dem zugrunde zu liegen. Der Mensch ist in der Nähe festgehalten, in die Nähe hineingebannt; in dem festen, meist engen Umkreise, in den er hinein347

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gestellt ist, innerhalb eines Bezirkes vollzieht sich der Gang, der Kreislauf seiner Jahre. Er zieht in die Ferne hinaus mit seinen Träumen – den Träumen der Nacht, in denen ja eine Wahrheit des Tages oft erscheint, und Träumen des Tages, in denen die Träume der Nacht, die nicht zu Ende gelangen konnten, sich fortsetzen. Darum bedarf der Mensch, so wollten diese Denker sagen, eines Zieles der Ferne, von dem er nicht träumt, sondern das ihm zum Ziele wird – einer Utopie. »Utopie«: in der wörtlichen Bedeutung etwas, was nirgends einen Ort hat, keinen fixierten Platz, wo es betrachtet werden kann, sondern was irgendwo in einer Sphäre, des Nachdenkens, des Hoffens, der Imagination aufgebaut wird. Die Menschheit hat von Utopien immer wieder gelebt und hat von den Utopien, wenn es echte, sittliche, seelische Utopien waren, einen Segen empfangen. | Plato ist der große Utopist gewesen, Gautama Buddha einer von ihnen; im Mittelalter sind alle diese Utopien gedichtet worden, und Geister, die in der Enge zu ersticken fürchteten oder von der Enge eine Zeitlang überwältigt waren, haben sich an diesen Utopien aufgerichtet. »Einst wird es sein …«, so wie das Kapitel im Buche Jesaja, welches man überschreiben könnte »Die Magna Charta der Menschheit«, das Kapitel (2) mit »Die Tage werden kommen, da wird der Berg Zion aufgerichtet sein über den Bergen, und Völker werden zu ihm hinströmen …«, – das Vorbild der Utopie, der echten Utopie, das heißt der, die etwas vom Menschen fordert. Das unterscheidet die unechte Utopie von der echten. Die unechte malt in der Ferne ein Bild: betrachte es, erbaue dich an ihm, suche Trost in ihm in trüben Stunden. Die echte Utopie fordert. Sie verlangt: strebe dem nach, suche es zu verwirklichen. Das ist der prophetische Stil: die Utopie als Forderung, als Gebot. Nicht als Gebot an den einzelnen bloß – an den auch, denn die Menschheit kann nie ohne die einzelnen auskommen; als Gebot nicht für ein Volk allein – ein Volk kann ohne die Menschheit nicht auskommen, und die Menschheit nicht ohne einzelne Völker. Sondern eben eine Forderung an alle: der Universalismus der Forderung, der tritt uns hier entgegen. In der Wirklichkeit, der Enge, sind die Grenzen, künstliche und echte, welche einengen und schwer überschritten werden können. Die Utopie hat keine Grenzen. Sie teilt nicht Teile unter der Menschheit auf Erden voneinander ab, nur die falsche Utopie tut das. Sie umfaßt alle, so wie eben das Gebot alle umfaßt. Ein Gebot, das nicht alle umfassen kann, ist kein Gebot. Sie wissen, daß Kant den »kategorischen Imperativ« so definiert hat: »Handle so, daß die Maxime deines Handelns allgemein anwendbar ist«, zum Prinzip für das 348

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Handeln aller gemacht werden kann. Das ist Geist der echten Utopie. Aber die prophetische geht noch weiter: Handle so, daß das, was du tust, auf die Menschheit angewandt werden kann! Das ist es, was die Propheten sagen, das ist es, was in dieser Magna Charta der Menschheit im Buche Jesaja enthalten ist, in dem Satze: »Sie werden ihre Schwerter umschmieden zu Sicheln und ihre Lanzen zu Rebmessern« – alle umfassend, und ebenso alle umfassend als Gebot. Bei dir beginnt die Utopie, jetzt, hier, bei dir beginnt die Ferne, hier in dieser Stunde und an dieser Stelle, jetzt. Fange an: beginne! Der große Prophet in der zweiten Hälfte des Exils, der sogenannte Zweite Jesaja, hat dafür das klassische Wort geprägt (40,3): panu derech, »bahnet den Weg!« Er zeigt die Utopie auf – die echte Utopie. Aber er sagt gleichzeitig: es fängt heute an. Einst wird man sagen …, einst wird das und das sein, aber heute, hier, bei dir beginnt es. »Den Weg bahnen«: das ist das, worin der prophetische Denkstil sich vollendet. Wäre es nur gewesen, daß die prophetische Denkweise von dem Eintreten der höheren Welt in die niedere gesprochen hätte, so daß kein Mensch verloren ist, so daß immer die Möglichkeit bleibt – es wäre schon ein Großes gewesen. Aber die ganze Größe gewinnt es dadurch, daß gesagt wird: | »Bahnet den Weg!« Ein Weg ist da. Der Weg kommt nicht hernieder aus einer höheren Welt. Von euch soll der Weg geschaffen werden, von jedem in seinem Gebiete, in seiner Zeit, unter den Bedingungen, in die er hineingestellt ist. Vielleicht könnte man, um es zu verdeutlichen, es so ausdrücken: der Glaube des Judentums ist der Glaube an die große Möglichkeit, die jedem gegeben ist, jedem einzelnen Menschen, jedem Volke und der Gesamtheit aller Menschen. Die große Möglichkeit: niemandem wird etwas fertig gegeben, auch eine große Gabe ist nur eine Möglichkeit, die der eine, dem sie nahte, nützte, der andere unbenützt herniederfallen ließ. Möglichkeit nur ist dem Menschen gegeben, die Verbindung aufrechtzuerhalten mit einer höheren Welt, mit einem letzten Ziel, dadurch, daß der Weg gebahnt wird. »Die Himmelsöffnung offenhalten« Es ist sehr interessant, ein kleines Buch zu lesen, welches handschriftlich sehr schlecht überliefert ist; wir haben noch keine richtig gute Ausgabe von ihm. Es ist das Buch Bahir 47 , »das Leuchtende« (also etwa derselbe Titel, wie später das Buch Sohar ihn hat, was ja auch »das Strahlende, das Leuchtende« bedeutet). Es wird einem Manne namens Isaak der Blinde zugeschrieben; ha’iwer, der Blinde heißt in der talmudischen Sprache ja der an Licht Reiche – das innere Licht 349

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leuchtet ihm. Er ist der Sohn des Abraham ben David aus Posquières, des großen Gegners des Maimonides in der Halacha und auch der Philosophie, der zu der Mischneh Thorah, dem großen halachischen Gesamtwerke des Maimonides, seine »Bemerkungen«, Hassagoth, geschrieben hat, nicht immer freundlich, aber mit großem Scharfsinn und oft den Punkt treffend. Und es ist interessant, wie dieser harte, scharfe Mann einen so milden Sohn hatte wie dieser Isaak der Blinde. In Südfrankreich, von ihm oder in seinem Kreise, ist dieses Buch Bahir verfaßt worden. Wenn man den Versuch macht, dieses Buch, so wie es war, aus dem Wust der verschiedenen [Lesarten] der Handschriften herauszuarbeiten, dann sieht man, wie dort, im mystischen Denkstil (über den jüdischen mystischen Denkstil hoffe ich hier noch sprechen zu dürfen) eben dieses Problem behandelt wird: das des Hereintretens der höheren Welt in die niedere Welt, und der Bahnung des Weges, damit dieser Eintritt sich vollziehen kann, damit die Ferne in der Nähe beginne, das Seiende im Vergänglichen einen Anfang habe. Und in diesem Buche sagt dieser Mann ein ganz merkwürdiges Wort. Er entwickelt eine Theorie von Sphären, von Kugeln (»Sphäre« bedeutet ja anfänglich »Kugel«), eine Kugel um die andere, immer höhere und höhere. Und er fragt: gibt es einen Weg durch diese Kugeln hindurch, so daß die niederste, die Erde und die Menschheit, die auf ihr wohnt, nicht isoliert, nicht abgeschlossen sind von den höheren Sphären? Und er sagt, in der mystischen Sprache: Es gibt eine Öffnung. Durch diese Öffnung kommt, von ganz oben nach ganz unten, die b’rachah, der Segen oder, wie er es auch nennt, hamela, »das Übervolle«. Die | Obersphäre ist »übervoll«, der Segen will überallhin gelangen. Durch diese Öffnung gelangt dieser Segen, die Fülle dieses mela hinunter. Aber: diese Öffnung muß offengehalten werden. In mystischer Sprache ist das gesagt. Und er fügt noch hinzu: Das ist die eigentliche Aufgabe des jüdischen Volkes, diese Öffnung offen zu halten, daß sie nicht verstopft werde, daß sie sich nicht verenge, daß sie sich nicht eines Tages schließen könnte. Israels Aufgabe ist das, und wenn Israel nicht mehr wäre, so meint dieser Mystiker, dann gäbe es keinen Zugang mehr von der höheren Welt zu dieser niederen, weil niemand da wäre, der diesen Zugang offenhielte. Das ist, in der Sprache einer anderen Zeit, in einem anderen Denkstil ausgedrückt, dasselbe wie das, was der Prophet mit dem Worte meint: »Bahnet den Weg«. Die Möglichkeit ist da, nicht mehr, nicht weniger. Kein tröstlicheres Wort kann gesprochen werden als dieses: die Möglichkeit ist jedem gegeben. Vor dir liegen die Wege – entscheide dich! Die Möglichkeit ist da, aber die Möglichkeit muß er350

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kannt werden. Der Weg ist da: der Weg soll gebahnt werden. Das ist der prophetische Geist: Utopie, obwohl gewissermaßen lokalisiert, da sie einen bestimmten Platz hat, mit Zion, mit Jerusalem verbunden ist, aber doch echte Utopie; denn das Gebot ist mit ihr verbunden, der Weg führt zu ihm hin – kein Weg des Wunders, sondern ein Weg, vor dem der Mensch steht und den der Mensch bahnen soll. Das ist prophetische Denkweise. Und wenn wir das, was in den früheren Wochen und Monaten hier behandelt wurde, vergleichen, [so] sehen wir, wie es sich aneinanderfügt. »Zukunft beginnt in der Gegenwart«: das ist, durch den Geist der hebräischen Sprache gefördert, doch das eine gewesen. Hier beginnt die Zukunft und jetzt in diesem Augenblick, und dieser Augenblick und dieses Jetzt und Hier sind nicht begrenzt, denn die Zukunft beginnt doch hier. Dann: die Rede ohne Perioden, unmittelbar, in den Dingen des Tages und des Jahres. Innerhalb der Enge und Begrenztheit, in die der Mensch gestellt ist, da sind die vielen Umwege, müssen sie vielleicht sein. Es gibt in der Geschichte nicht das, was man im Englischen shortcuts nennt, das Abschneiden des Weges – es gibt mehr Umwege. Geduld ist notwendig. Aber im Entscheidenden gibt es nur den direkten Weg. Über das Moralische, über das Gebot soll der Mensch nicht reflektieren, sondern er soll mit ihm beginnen und dadurch es ernst nehmen. Und dann das andere, was bei den Propheten charakteristisch ist, daß alles in ihnen, in gewissem Sinne, ein Monolog ist. Sie sprechen zu anderen, sie sprechen mit Gott, aber im letzten Ende ist es ein Monolog, weil an das Ich immer die Aufgabe ergeht: ich soll, ich soll beginnen, ich soll den Weg bahnen, einen Weg, der zum Wege hinführt – ich soll. Es ist wie ein ethischer, ein sittlicher, religiöser Monolog. Es muß so sein, weil die Utopie ethische Utopie ist, Utopie des Gebotes, welches in der Nähe beginnt, weil der Mensch zu sich sprechen, von sich etwas verlangen soll, ehe er berechtigt wird, von anderen etwas zu verlangen. Alles kommt so zusammen.

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| Epochen der Wiedergeburt Und das ist die Kraftquelle in der Geschichte – in der Geschichte vorerst des jüdischen Volkes. Diese Geschichte ist ja eine Geschichte der Epochen: der Epochen ist das jüdische Volk fähig gewesen. »Geschichte der Epochen«, das bedeutet Geschichte der Wiedergeburt. Man kann jüdische Geschichte in ihrem Gesamtverlaufe nicht schreiben, wenn man sie nicht als eine Geschichte der Wiedergeburten sieht: Wiedergeburt von Epoche zu Epoche, Wiedergeburt, welche Epochen schuf – Epochen, die den alten Ideen den neuen Ausdruck bereiteten. Durch den Prophetismus ist das im Judentum. Wir sollten das andere, was im Judentum ist, die Halacha, nicht geringschätzen. Das nächste Kapitel, das hier zu behandeln sein wird, ist der Denkstil und der Kompositionsstil der Halacha, der Satzungen, das heißt: des Herkommens, das zur Satzung wird, der Satzung, die zum Herkommen wird. Das hat seine große Bedeutung. Das Judentum hätte vielleicht nicht überleben können, was es alles überlebt hat, hätte es nicht seine Halacha besessen. Wir sollten sie nie geringschätzen. Aber die große Kraftquelle ist der prophetische Geist gewesen. Es gibt, worauf ja schon hingewiesen wurde, eine Geschichte des Judentums in der Kirche. Die junge Kirche hat eine große Leistung vollbracht: sie hat am Alten Testament festgehalten. Die Gnosis und vor allem Marcion hatten das Alte Testament verworfen als die Schöpfung eines niederen Gottes. Es ist das große Vollbringen der jungen Kirche [gewesen], daß sie in diesem entscheidenden Punkte fest blieb. Sie hat am Alten Testament festgehalten; sie hat es kirchlich gedeutet, sie hat es in ihrer Weise ausgelegt, aber sie hat an ihm festgehalten. Und dadurch gibt es auch eine Geschichte des Judentums in der Kirche. Man kann Zeiten in der Geschichte der Kirche feststellen je nach dem Aufsteigen und Fallen dieses alttestamentlichen jüdischen Geistes. So hat auch der Prophetismus in der Kirche weitergewirkt, und er ist immer eine Kraftquelle oder zumindest ein Gärungsstoff, ein Ferment gewesen. Er hat nie aufgehört, im Stillen, in den tiefen Gründen zu wirken, und Christen haben sich daran zurechtgefunden und haben dadurch allein auch einen Weg zum Verständnis des alten Evangeliums gefunden. Das alte Evangelium, nicht zum mindesten die Bergpredigt, ist ja zu vielen Zeiten ein Gegenstand der Verlegenheit in der Kirche gewesen. Man wußte nicht recht, was man mit dieser Bergpredigt anfangen sollte. Man zitierte sie und rezitierte sie, aber man nahm sie nicht ernst. Sie ist bloße Literatur gewesen und geworden. Aber 352

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wenn der Geist des Prophetentums in der Kirche sich regte, da war ein Zugang zum Alten Testament nicht nur, sondern zum Evangelium auch geöffnet, zum Segen für die Kirche. Auch danach könnte man eine Geschichte der Kirche schreiben, wann und wann nicht die Bergpredigt und das alte Evangelium im ganzen ernst genommen wurden, wann und wann nicht es mehr war als bloße religiöse Literatur. | So vor allem kann, wie gesagt, Geschichte des Judentums erkannt und geschrieben werden, nur wenn man diese Wiedergeburt, diese immer sich erneuernden Epochen erkennt. Und diese Wiedergeburten kamen zustande nur dadurch, daß etwas von der Denkweise, von dem Denkstil der Propheten in das Judentum einkehrte – daß nicht Worte zitiert wurden, nicht Worte Text und Thema für irgendwelche Reden bildeten, sondern daß diese Denkweise, wenn auch nur zu einem Stück, Menschen erfaßt hat. Dann kam das Judentum wieder zu sich selbst, dann wurde es wiedergeboren. Und solange es kraft dessen wiedergeboren wird, so lange wird es leben.

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Anmerkungen und Literaturnachweise 1. Plato, Der Staat, Buch 2, 379 ff. 2. Ferdinand Gregorovius (1821-91), Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 8 Bde., Stuttgart 1859-72. 3. Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 2 Bde., München 1923. 4. Mykene: die antike Stadt war ein Zankapfel zwischen Argivern und Spartanern. 5. Theodor Mommsen (1817-1903), Römische Geschichte, 1852-56. 6. Die Gleichsetzungen von iwrim und habiru und von b’ne het und Hettitern ˙ sind bei anderen Gelehrten auf Widerspruch gestoßen. – Als˙ Adjektiv kommt das Wort iwri auch ohne Beziehung auf Ägypter oder Philister vor. 7. Etymologie von Kanaan: die in Leo Baecks letzten Jahren gefundenen Nuzitexte deuten auf eine Herleitung des Wortes als »rote Purpurwolle«, ähnlich wie Phönizien. 8. rofessor Abraham Schalom Yahuda (geb. 1877 oder 1878 in Jerusalem) wirkte von 1905 bis 1913 als Dozent für orientalische Sprachen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Er wurde dann an den neu begründeten Lehrstuhl für orientalsiche Sprachen nach Madrid berufen, doch erkaltete das Interesse der spanischen Regierung daran nach einigen Jahren. Er starb 1951 in New Haven, Connecticut. 9. Leopold Zunz (1794-1886), Die Namen der Juden (1836). 10. aron, die Lade, akkadisch arannu. 11. Dr. Baeck kannte die »Biblischen Studien« seines Freundes Eugen Täubler im Manuskript. Bisher ist nur der erste Band erschienen (Die Epoche der Richter, hg. v. H. J. Zobel, Tübingen 1958), der die zitierten Nachweise noch nicht enthält. Vgl. auch Taeublers Aufsatz Habiru – 2Ibhrim (Alexander Marx Jubilee Volume on the Occasion of his 70th˘ Birthday, 1950, Engl. Section, 581-84). 12. Vgl. Leo Baecks Aufsatz »Der im Dornbusch Wohnende« (in: Aus drei Jahrtausenden, Berlin 1938, 366-368; Neudruck Tübingen 1958, 240-242), worin er auch die Vorgänger dieser Übersetzung anführt. Umberto Cassuto hat in seinem postum erschienen Kommentar zum 2. Buch Mose (Perush al Shmoth, 2. Aufl. Jerusalem 1953) nachgewiesen, daß es den brennenden Dornbusch tatsächlich gibt. Er meint, die nähere Ortsbestimmung des Sinai sei in der Bibel absichtlich unterlassen worden, und bezweifelt den Zusammenhang zwischen Sinai und Sneh, zumal gerade in diesem Abschnitt der Berg mit dem Namen Choreb erscheint. 13. Pierre Loti (Julien Viaud, 1850-1923), Pêcheur d’Islande, Paris 1886; Le Désert, Paris 1895. 14. Alexander v. Humboldt (1769-1859), Kosmos, Stuttgart 1845-1862. 15. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, 670 ff. 16. David Jellin: die zweimalige, scheinbar genaue Quellenangabe für den Aufsatz, »in der Festschrift für Alexander Kohut, den Herausgeber des Aruch«, beruht auf einem Gedächtnisirrtum. Dr. I. Joel, der stellvertretende Direktor der Jerusalemer Nationalbibliothek und Verfasser einer Jellin-Bibliographie, nahm an, es könne sich um den Aufsatz »Forgotten Meanings of Hebrew Roots in the Bible« handeln (Israel Abrahams Memorial Volume, New York 1927, 441-45): der Band wurde von der Alexander Kohut Foundation herausgeben, was den Irrtum erklären mag. 17. Übersetzung des Gottesnamens: vgl. Franz Rosenzweigs Aufsatz ›Der Ewige‹ (Kl. Schr., Berlin 1937, S. 182-198). Die deutsche Form des Wortes stammt aus

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Epochen der jüdischen Geschichte Moses Mendelssohns Bibelübersetzung. 18. Aristoteles Poet. 1451 b. 6 f. 19. William Bradfords Geschichte der Kolonie Plymouth, 1622. 20. Hermann Cohen, der Heilige Geist (1915), Jüd. Schr. (Berlin 1924), 3,170. 21. Kein gesäuertes Brot auf dem Altar: mit Ausnahme der zwei Brote am Fest der Erstlingsfrüchte und des Dankopfers. 22. Eiserne Mauer: vgl. Saul Lieberman,Texts and Studies of the Jewish Theological Seminary of America, Vol. 13, p. 35, New York 1947. 23. Moderne Waffen: die Philister jedenfalls besaßen Streitwagen. 24. Samuels Objektivität in der Wahl des Königs: die Bedrohung durch die Philister muß die Wahl wesentlich mitbeeinflußt haben. 25. Georg Rosen, Juden und Phönizier (neu bearbeitet von F. Rosen und G. Bertram), Berlin 1929. 26. A. M. Levy, Phönizisches Wörterbuch, Breslau 1864. 27. Renaissance der stoischen Philosophie im 16. und 18. Jahrhundert: Dr. Baeck mag für das erstere an den aus Ciceros Res Publica übernommenen Begriff des Naturgesetzes gedacht haben, der seit Hugo Grotius die moderne Staatstheorie entscheidend beeinflußt hat, und für das letztere an Spinoza. 28. Philister: vgl. S. 34 f. 29. Kampf um das Land im Lande beendet: in der Zeit Davids. 30. Robert v. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus, 2 Bde., München 1893, 1901. 31. Ferdinand Lassalle, Reden und Schriften, hrsg. v. E. Bernstein, 3 Bde., Berlin 1892-93; sinngemäß z. B. Lassalles Rede vom 19. Mai 1863, Bd. 2, 588. 32. Zur Beurteilung des Zensus vgl. die Kommentare zu den angegebenen Stellen. 33. Lysias (ca. 459-380 v. Chr.) verfaßte Verteidigungsreden für Angeklagte, ohne sie jedoch selbst vorzutragen. 34. Friedrich Wilhelm Ostwald (1853-1932), Große Männer, Leipzig 1909. 35. Johan Huizinga (1872-1945), Homo Ludens, Harlem 1938 (holländisch), englisch London 1949. 36. Schillers Ballade »Kassandra«, Str. 9 Z. 1, Str. 6 Z. 8. 37. Abraham Geiger zu Jes. 2,3: Dr. Baeck mag die Bemerkung aus der Seminartradition der Berliner »Lehranstalt« gekannt haben; der Index der in Abraham Geigers Werken behandelten Bibelzitate in Ludwig Geigers Biographie enthält die Stelle nicht. 38. Adolf v. Harnack, Grundriß der Dogmengeschichte, Freiburg i. Br. 1889, 2. Aufl. 1893. 39. Nelson Glueck, Der Begriff Chessed in der Bibel, Dissertation Berlin 1927; englischer Neudruck Hebrew Union College Press, 1968. 40. Ferdinand Tönnies (1855-1936), Gemeinschaft und Gesellschaft, 1. Aufl. 1887, 7. Aufl. 1926. 41. Homo homini lupus: Thomas Hobbes (1588-1679), Leviathan. 42. Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924), Materialismus und Empiriokritizismus. 43. Pelagius’ Herkunft steht nicht mit Sicherheit fest; vielleicht war er Ire. 44. Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, 2. A. New York 1940, S. 210. 45. Vgl. Dr. Baecks Aufsatz ›Das Reich Gottes‹ (1928), Aus drei Jahrtausenden, Berlin 1938, S. 362-365; Tübingen 1958, S. 236-239. 46. Ernst Bloch (geb. 1885), Der Geist der Utopie, 1. Aufl. 1918, Berlin 1923. 47. Buch Bahir: in seinem Aufsatz über dieses Buch (Aus drei Jahrtausenden, Berlin 1938, 399; Tübingen 1958, 273) hatte Dr. Baeck die Ausgabe von Scholem (1923) und dessen Artikel darüber in der Encyclopaedia Judaica (3, 969 ff.) vorausgesetzt. Scholem nimmt die Autorschaft Isaaks des Blinden nicht an

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte und betrachtet als sicher lediglich, daß das Buch in der Provence zuerst an die Öffentlichkeit getreten ist. In Major Trends of Jewish Mysticism (2. Aufl., 74) fügt er als eine der östlichen Quellen das Buch Raza Rabba hinzu.

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Epochen der jüdischen Geschichte 131

| Namenregister

Abraham ben David 125 Anaximander 95 Aristoteles 55, 103, 115 Augustin 107, 118-121

Isaak der Blinde 125 Iwan der Schreckliche 84 Jansen, Cornelius 119 Jellin, David 50, 105 Jesus von Nazareth 54 Justin 8

Beethoven, Ludwig van 108 Bloch, Ernst 123 Bradford, William 60 Buddha, Gautama 54, 95, 99, 101, 108, 114, 124 Burckhardt, Jacob 10, 123

Kant, Immanuel 19, 111 f., 115, 117, 124 Karl der Große 23 Karl V. 23 Kierkegaard, Sören 114 Kohut, Alexander 105 Konfutse 95 Kopernikus 27 Kuenen, Abraham 93

Calvin 51, 100 Cassell, R. C. E. 13 Chamberlain, H. St. 8 Cohen, Hermann 67, 115 Darwin, Charles 20 Delitzsch, Friedrich 8 Descartes, René 115 Duns Scotus 121 Einstein, Albert 11, 27, 115 Elisabeth I., Königin von England 23 Franklin, Benjamin 20, 115 Freud, Sigmund 27 Galilei, Galileo 107 Geiger, Abraham 110 Glueck, Nelson 113 Gobineau, J. A. de 8 Goethe, Johann Wolfgang v. 11, 28, 94, 107 Gracchen 96 Gregorovius, Ferdinand 22 Grimme, Hubert 41 Gunkel, Hermann 72 Hammurabi 96 Hegel, Friedrich 9, 25 ff. Heraklit 95, 114 Hitler, Adolf 122 Hobbes, Thomas 116 Hölderlin, Friedrich 19 Homer 17 Horaz 67 Huizinga, Johan 104, 115 Humboldt, Alexander v. 48 f.

Laotse 95, 114 Lassalle, Ferdinand 96 f. Leibniz, G. W. v. 115 Lenin, W. I. 116 Levy, André 80 Livius 49 Loti, Pierre (Julien Viaud) 48 Luther, Martin 11, 51, 100, 119 ff. Lykurg 59 Lysias 99 Maimonides 125 Marx, Karl 9, 25, 27 Mendelssohn, Moses 117 Michelangelo 19 Mohammed 42 Mommsen, Theodor 31 Mozart, Wolfgang Amadeus 19 Napoleon I. 23, 96 Newton, Isaac 108 Niebuhr, Barthold 14, 31 Ostwald, F. W. 101 Pelagius 119, 121 Philipp V., König von Spanien 23 Philo 70 Plato 17, 28, 32, 103 f., 114 f., 120, 124 Pöhlmann, Robert v. 96 Pompeius 70

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte Pythagoras 32, 115, 120 Rab (Juda ha-Nassi) 122 Raffael Santi 19 Rauschning, Hermann 122 Reinhart, R. H. 10 Rembrandt 11, 27 Renan, Ernest 40, 70 Rosen, Georg 80 St. Paul 59, 113 Schiller, Friedrich 108 Schliemann, Heinrich 31 Schreiber, Rabbiner 122 Shakespeare, William 19 Sokrates 28, 53, 103, 109, 122 Solon 59, 96 Sophokles 49 Spengler, Oswald 9, 24 f., 27 f. Spinoza, Benedictus 113

Tacitus 70 Taeubler, Eugen 11, 41 f. Thales 95 Threophrast 103 Tönnies, Ferdinand 116 Toynbee, Arnold 9, 25 f., 28 f. Trevelyan, G. M. 75 Wellhausen, Julius 72 f., 93 Xenophanes 54 Xenophon 103 Yahuda, A. S. 39 Zarathustra s. Zoroaster Zeno 80 Zoroaster 95, 101, 108 Zunz, Leopold 40

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Epochen der jüdischen Geschichte

| Sachregister Aberglauben, Entwicklung zum Symbol 68 f. Ägypten, im Altertum 32 f., 36, 42 f., 62, 81 Alenu-Gebet 122 Ammon 82 f. Amnesie 30 Amulett 68 f. Apokryphen, Ben Sirach 109 Aram (Syrien) 82 f. Aramäisch, Weltsprache am Mittelmeer 83 Astartekult 88 Atlantis 21 Augustinus Civitas Dei 118 f., 120 Konfessionen 107 Nachfolger 119 f. Autokratie Hobbes 116 Lenin 116 Luther 119 f. Babylonier 32, 37 Bibel Bücher: Deuteronomium 86, 92 f., 98 Hiob, arabische Einflüsse in 49 Kohelet 57, 108 Psalmen 108 f. Ruth 87 Sprüche Salomos 89, 109 Apostelgeschichte 90 Johannesevangelium 113 Geographie und Geschichte in 44 Gestalten: Aaron 40, 58, 63 f., 77 f., 89, 91 f. Abraham 37 f., 40, 45 f., 90 ff., 96 Ahab 98 David 79, 84 ff., 97 Eldad und Medad 92 Elieser 45 Esau 42 Gad 88, 97 Isaak 45, 90 f. Jakob 42, 63 ff. Jerobeam 98 Jethro 41, 45, 47 Johannes der Täufer 111

Jonathan 85 Josiah 92 f. Josua 65 f., 74, 76, 78 f.,84, 92 Kaleb 65 f., 76, 78 Korah 64 Laban 45 Lot 38 Mirjam 41, 55, 64 Moses 39, 41 f., 44 f., 50, 52, 54 f., 59, 61, 64 ff., 73 f., 77, 79, 81, 89, 91 ff., 95, 110, 113 Naboth 98 Naëmi 87 Nathan 88, 97 Omri 98 Pinchas 66 Rebekka 45 f. Saba, Königin von 45 Salomon 45, 85 Samuel 77, 84 f., 88, 91 f. Sarah 46 Saul 77, 79, 84 f. Simeon 63 Simson 69 Uria 97 Kühnheiten in 71 Majestät der Natur 48 f. Propheten: Amos 91, 93, 95, 99 f., 101, 109 Elia 52, 95, 98, 111 Elisa 98 Hosea 50, 91, 106, 109, 113 Jeremia 87, 91, 93, 98, 100, 106, 109, 114 Jesaja 54, 91, 98, 100 f., 109 ff., 113 f., 124 Maleachi 54 f. Micha 55, 91, 104, 109, 113 Obadja 82 Stämme: Benjamin 74 ff., 77, 85, 87 Ephraim 64, 74 ff., 77, 85, 87 Juda 64, 74 ff., 87 Levi 61-65, 71, 75 Überrest einer Literatur? 57, 102 Böse Geister 68 Brauch, »gute Woche« zu wünschen 111 Braut 68

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte Brot, ungesäuertes 69 f. Buch Bahir 125 f. Buddha, Gautama 54, 95, 99, 101, 114, 124 Chochmah-Stil bei 108 Bundeslade 63, 67, 72, 78 f. Calvinismus, und Staatsfreiheit der Religion 100 Chaldäer, s. Babylonien griechische Bedeutung »Astrologen« 37 Cherubim 72 China 22 f., 67, 114 Chochmah-Stil, bei Buddha und Zoroaster 108 Propheten 109 Sokrates 109 Code Napoleon 96 Christentum, als Hellenisierung des Judentums 112 als Revolution 26 f. und der offenbarte Gott 113 »cuius regio, eius religio« 86 Delphische Orakel 53 »Dein Gott« 57 f. Dekalog 47, 56, 68 Denken 102, 123 Fortschritt im 114 Despotismus 116, 120 Edom 81 f. Einheit der Welt, bei den Propheten 117 in Griechenland 54 in Indien 54 England 22 f., 121 Erbsünde 120 Erkenntnis, Propheten und religiöse 95, 97 Fortwirken unterworfener Religionen 85, 86 ff. Freiheit des Menschen 120 Gathas (heilige Buch Persiens) 95 »Gaza strip« 34, 74, 81 Gebete 41, 57 Gebote 116 ff., 120 Gedächtnis von Völkern: Geographie 31 f., 38 f.

Recht 31 Gebete 41 Sprache 38 f., 52, 58 Geisteskrankheit 18, 53, 89 Genie 17, 19 f., 27, 94 f., 101 f., 107 f. Geschichte, Beginn der 20 Europas, gesamteuropäisch 23 jüdische 8 ff. als Geschichte steter Revolution 24, 26 f., 42 f., 51, 54, 70 f. Beginn 23, 30, 39 als Kulturgeschichte 40 Krisen 62 Offenbarung 51 Recht statt Schwert 66 Rechtsverfassung 60 f. Geschichtstheorien 9 ff., 19 f., 24 ff. Hegel 25 ff. Marx 25 Spengler 24 f., 27 f. Toynbee 25 f. Gesellschaft und Gemeinschaft 116 Gesetz, als einziges Abbild Gottes 70 Gesetzgebung in Athen und Sparta 58 israelitische, dauernd 59 schafft Nationen 58 f. Gestirnkult 90 Gewaltherrschaft, und Nachdenken 96 f. Gewissen »jüdische Erfindung« 122 Glaube, Wesen des 28 f. Gnostizismus 112 Gott, der verborgene 113 offenbart etwas (Judentum) 113 f. sich (Christentum) 113 Gottesidee, Vergeistigung und Vereinheitlichung 54 name 50 ff., 55, 58 »Ich« als 57 Griechen 21, 29, 48 f., 67, 80, 83, 94 f., 101, 102 f., 112 Haarlocke als Kraftträger 69 Hammurabis Gesetze 96 Harmonie der Sphären 120 Hedschrah 42, 45 Hebräisch

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Epochen der jüdischen Geschichte arabische Formen, Buch Hiob 49 f. aramäische Formen, Buch Hosea 50 chessed 113 f. durch Propheten geschaffen 102 Einflüsse der ägyptischen Sprache 39 f. feminine Endungen 46 heilig 67 Himmelsrichtungen 35 f., 75 f. »Jahweh« 50 ff. kein Wort für »Göttin« 55, 88 Namen 40 olam, Bedeutungen 112 owed 41 Prophet 52 Sinai 46 f. Stiftshütte 72 Vergleich mit Griechisch 102 f., 40und 400, 48 Zukunft in der Gegenwart 111, 121 Heilige Lade s. Bundeslade heiliger Rausch 90 Hettiter 35 f. »Höre, Israel« 93

Mündliche Lehre früher als Bibel 73 offenbarende Gott 113 Problem des 117 f. Juvenilismus 18 Kadesch, Oase 60 Kanaan 35 Kannibalismus 69 Kind 17 Kirche, Geschichte des Judentums in 127 Kompromiß im Leben 25 in Hegels System 26 f. und Revolution 26 f. Kretenser 34 f., 80 »Land und sein Gott« 86

»Ich der Ewige«, einzigartig 56 Ideale, Welt der 116 f. Indien (s. auch Buddha, Gautama) 22 f., 58, 67 Individualität, Wunder der 56, 94 Infantilismus 18 Israelitische Religion, Kern der 54, 58 Iwrim = Söldner 33 f. Abraham als 38 Funde in Boghazköi 34 Iwrith 34 Jericho 45 Juden in England, tercentenary 22 Judentum, Aufgabe, »die Himmelsöffnung offen zu halten« 125 f. Auserwählung »das große Wenn« 119 der Epochen fähig 123 Glaube an die große Möglichkeit 125 in der Kirche, Geschichte 127 kein Mythus vom Staat 100 Messianismus im 111

Magna Charta der Völker (Jes 2,3) 110, 124 Materialisten 116 Mathematik 115 ff. Meer, Drang nach dem Assyrien und Babylonien 84 Rußland seit dem 17. Jhdt. 84 Mensch als Individualität 56 bedarf eines fernen Zieles 123 Beziehung zu Vergangenheit und Zukunft 21 entwickelt Spiel 115 Geist des, und große Probleme 123 lebt in zwei Bereichen 114 ff. »tool-making animal« 20 Unterscheidung vom Tier 20, 115 f. Menschenleben, Sinn des 117 Midjan 40 f., 47 f. Kusch in Midjan 41 Jethro 45 ff. ›minute men‹ 38 Mohammed, Ausscheiden aus seinem Stamm 42 Moab 82 f. Mescha, König von 91 Stein 82 und Buch Ruth 87 Molochkult 86 f., 90 Mykene 31

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Entdeckungen und Epochen der jüdischen Geschichte Naivität der Reife 18 Natur, Majestät der 48 f. Offenbarung am Sinai 58 Opfer des Erstgeborenen 90 f. Paradoxie, bei Buddha, Heraklit, Kant, Kierkegaard, Laotse und Plato 114 Perioden im menschlichen Leben 17 in der Geschichte 29 Periodizität im individuellen Leben 16 f. im Weltall? 15 f. in der Völkergeschichte 20 f., 29 Phantasie 17 f. Philister, als Gegenteil zum Genie 18 im Altertum 34 ff., 75 f., 80 Beziehungen zu Ägypten und Kreta 36, 44 f. Phönizien 44 Festungen der 74 Philosophie 57 Phönizier 75, 79 f. Astartekult 88, 90 Nachkommen Juden geworden? 80 Zeno (Begründer der Stoa)? 80 Richter bei den 78 Plato 17 f., 28, 32, 103 f., 114 f., 120, 124 Plebejer, Auswanderung aus Rom 96 Poesie und Forschung 55 Priestersegen 106 Proletarier 96 Propheten, gemeinsemitisch 52 f., 89 Baals- 89 in primitiven Völkern 53 Wahrsager und 89 israelitische als religiöse Genies 95 »bahnet den Weg!« 124 Entwicklung 91 f. Erbe, der die Kraft Israels 101 Gegenüberstellung von Gegenwart und Zukunft 121 f. Sein und Sollen 121 f. Geist der, in der Kirche 127 gleichzeitig mit Genies in Asien und Griechenland 94 f. haben Judentum geschaffen 95

haben Religion staatsfrei gemacht 99 heilige Nüchternheit 91, 93 Jahrtausend jüdischer 54 Kampf für Recht des Volkes 98 f. Mensch ist einer 117 nicht gegen Kultus 100 sozial und sittlich 99 soziale Revolutionäre 99-101 Sprache und Denken der 101 ff.: Chochmah-Stil 108 f. Geist der Utopie 122 ff. Logik der Paradoxie 114-117 Rede und Gebet 105 f. unmittelbar auf Ziel gerichtet 102 f. Zukunft in der Gegenwart 110 f. sprechen, weil sie müssen 108 und Kants kategorischer Imperativ 124 verkünden Gottes Gebot 53 woran erkennt man? 92 Zuschreibung zu anderen Kulturen 8 Prophezeiung Musik in 90 orgiastische Formen der 93 Rechabiten 87 f. Reich Gottes, beginnt hier und jetzt 122 Religion als Staatsangelegenheit 99 f. lutherische Reformation und 100 Geschichte der, als Sprachgeschichte 51 f. Rembrandt, Malart 27 Römer 22, 49, 86 f., 98 Rußland 23, 84 Schamanen 52 f., 89 f. Schechinah 71 f. Schilfmeer 44 Schuldenerlaß in Solons Gesetzen 96 Segen 125 f. Priester- 106 Senilismus 18 Serbische Rhapsoden 73 Sibirien »vielleicht Rußland von morgen« 23 Sinai, Gesetzestafeln vom 68

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Epochen der jüdischen Geschichte pars pro toto 70 Schutz der 71 Skalpieren der Indianer 69 Sokrates’ Daimonion 122 Soziale Formen, neue in Israel 60 Pilgrim Fathers in Amerika 60 Sozialismus 96 f. »spielen« 104, 116 Spinoza, zwei Attribute des Ewigen 113 »Star Chamber« Ahabs 98 Strafgesetze 121 Strenggläubigkeit und soziales Unrecht 100 Symbol, aus Aberglauben 68 f. Syrer (s. auch Aram) 83 Abraham als 41 tabu 53, 89 Tempelzerstörung, und Mauer zwischen Mensch und Gott 71 Tetragrammaton 49-51, 55 ff., 59, 89

Tier 21, 56, 116 Troja 31 Utopie als universale Forderung 124 als Ziel der Ferne 123 echte und unechte 123 hat keine Grenzen 124 Vertreter der 123 ff. Veden 95 Wiedergeburt im Judentum 29 in Völkern 28 Wüste 47 f., 62, 66 Zehn Gebote s. Dekalog Zoroaster Chochmah-Stil bei 108 und soziale Forderung 101 Zungensprechen 90

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BRÜCKEN ZWISCHEN JUDENTUM, CHRISTENTUM UND ISLAM

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Die Pharisäer*

Baecks Pharisäerstudie ist 1927 zuerst in den Jahresberichten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums erschienen, dann in der Zeit der Verfolgung der jüdischen Gemeinde durch das Hitler-Regime im Jahre 1937 als Bd. 6 der Schocken-Bücherei in erweiterter Fassung wiederveröffentlicht worden. Diese Pharisäerstudie ist ein beeindruckendes Dokument für das synchrone, das diachrone, das apologetische und schließlich normativ aktuelle Verständnis der pharisäischen Richtung und Bewegung in der Darstellung durch Baeck. 1. Baeck versteht die pharisäische Bewegung vor 70, nach 70 und bis in seine eigene Zeit hinein zunächst synchron: als eine kontinuierliche Bewegung über die Epochen und Zeiten hinweg. So beschreibt er nicht abstrakt und distanziert ein vergangenes Phänomen aus rein historischem Interesse, sondern er schreibt zuerst als Rabbiner und Hirte seiner jüdischen Gemeinde, für deren Erneuerung und Stärkung in schwerer Zeit er damit kämpft. Deshalb richtet sich Baecks Pharisäerstudie zunächst an seine jüdischen Gemeinden in Deutschland. Denn, so schreibt Baeck im Vorwort, in Erinnerung an diese zweite Epoche der jüdischen Geschichte »gehen die Bereitschaft zum Erbe, der Wille zum Tage und die Entscheidung zum Kommenden … immer wieder und immer neu ineinander über«. Baeck schreibt die Pharisäerstudie in der vierten Epoche der jüdischen Geschichte, die er als die Epoche der messianischen Hoffnung versteht. Dieses Ineinander der Zeiten und Epochen dokumentiert sich in Baecks synchron wie diachron orientiertem Satz: »Ein theo*

Veröffentlicht in der Publikation der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums Bd. XLIV, 1927, 34-71; in erweiterter Fassung in: Schocken Bücherei Bd. 6, Berlin 1934, 85 – In dieser Fassung wiederabgedruckt in: H. Lamm (Hg.), Paulus, die Pharisäer und das Neue Testament, München, Frankfurt, 1961, 39-98.

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Brücken zwischen Judentum, Christentum und Islam

kratisches Ideal (der pharisäischen Bewegung) ist nicht, oder war damals wenigstens nicht, ohne die messianische Zuversicht« und Hoffnung denkbar. 2. Baeck beschränkt sich aber nicht auf das synchrone Darstellen und Verstehen der pharisäischen Bewegung im Interesse der Gegenwart und für die Stärkung und Orientierung der gegenwärtigen jüdischen Gemeinde. Baeck ist vielmehr in der Tradition der »Wissenschaft des Judentums« entscheidend auch diachron und also historisch-kritisch interessiert. Baecks Pharisäerstudie ist nämlich zugleich das herausragende Dokument eines quellenhistorisch arbeitenden Religionshistorikers, der die Zeit vor 70 und die Zeit nach 70 zwar nicht – wie in der christlichen Geschichtsschreibung über die Pharisäer üblich – trennt, aber doch historisch sorgsam unterscheidet. So greift Baeck für die Zeit vor 70 insbesondere auf Josephus, auf das Neue Testament und – Baeck ist der erste, der dies umfassend tut – entscheidend auf die tannaitischen Midraschim zurück. Das tut Baeck auch über das herausragende Buch hinaus, das er in der Einleitung zu seiner Pharisäerstudie dankbar erwähnt: R. Travers Herfords 1924 (englisch) bzw. 1928 (deutsch) erschienenes Buch »Die Pharisäer«. Dieser quellenmäßige Rückgriff auf die Zeit vor 70 ermöglicht es Baeck, ein nicht nur auf das Halachische und Religionsgesetzliche reduziertes und begrenztes Pharisäerbild zu zeichnen, sondern darüber hinaus die pharisäische Bewegung in ihrer mystisch-kosmologischen, in ihrer weisheitlichen, aber auch messianisch-apokalyptischen, d. h. in ihrer eschatologischen, Dimension zu verstehen und zu würdigen. 3. Die synchron-diachron verfahrende Pharisäerstudie Baecks, diese Wiedergewinnung der eigentlichen Intention der pharisäischen Bewegung als Kriterium und Maßstab auch für die eigene Gegenwart der jüdischen Gemeinden in Deutschland, ist freilich auch apologetisch orientiert: Sie ist es nicht nur gegenüber Harnacks Pharisäermißverständnis bzw. Pharisäerpolemik, die Baeck seit seiner Harnack-Rezension von 1901 unermüdlich zu widerlegen versucht. Sie ist das zugleich in der Situation des Jahres 1934, in der das Judentum ideologisch diffamiert, aus den gesellschaftlichen Institutionen ausgeschlossen und aus rassistischen Gründen aus dem deutschen Volk ausgegliedert wird. Die Pharisäerstudie wird 1934 neu veröffentlicht, ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers, die Baeck sogleich so kommentiert hatte: »Das Ende des deutschen Judentums ist gekommen«. Von dieser apologetisch-polemischen Orientierung zeugen auch die 368

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kontextuellen Sätze der Studie, die man nicht überhören und nicht überlesen sollte, weil sie konkret in das Jahr 1934 hineingesprochen sind: »Die Trümmer auf Zion und die Paläste am Euphrat ergriffen gleich stark und in der gleichen Weise. Sie sprachen beide … und die Antwort konnte für viele nur die eine werden, daß man auch innerlich kapitulieren müsse, kapitulieren auch vor den Göttern und vor Babylon. Die so dachten und danach handelten, hörten früher oder später auf, Juden zu sein«. Aber diese polemische Apologie der pharisäischen Gemeinden des lebendigen Judentums des 20. Jahrhunderts ist eine Nebenabsicht und nicht die eigentliche Intention der Studie. Die Studie ist der zeitbezogene Aufruf zur Orientierung innerhalb der Epoche der Hoffnung, wie Baeck am Schluß im Hinblick auf das Überleben und Wiedererstarken des Judentums nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer schreibt: »Auch über den (römischen) Staat haben sie (die Pharisäer) gesiegt; mit ihrer messianischen Gewißheit gesiegt; er (ver)schwand und sie, nicht nur als Individuen sondern als Gesamtheit sind geblieben«. 4. Im Vorwort erinnert Baeck an die Polarität und Spannung, durch die das Judentum als Religion der Polarität von Geheimnis und Gebot gekennzeichnet ist: an die Polarität von Judentum und Menschheit, von Partikularität und Universalität, an die Polarität von »Sozialem und Messianischem« im Sinne des biblischen Sozialismus und an das spannungsvolle, aber so Geschichte gestaltende, Ineinander »von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«. Die Pharisäerschrift Baecks muß über die im Vorwort von Baeck erwähnte Pharisäermonographie Herfords hinaus zugleich im Kontext der Pharisäerstudien gelesen werden, die vor Baeck aus jüdischer Feder erschienen sind und die sich polemisch gegen das Pharisäerbild von J. Wellhausen bis J. Jeremias und – wie ich hinzufüge – implizit auch gegen das exklusive und exkludierende Pharisäermißverständnis des ThWNT bei Rudolf Meyer (1973) wenden: Ich meine insbesondere die Pharisäer-Arbeiten aus der Wissenschaft des Judentums vor der Harnack-Kontroverse von A. Geiger und H. Graetz und seit der Harnack-Kontroverse diejenigen Studien von J. Eschelbacher, Martin Schreiner, Ismar Ellbogen, J. Z. Lauterbach, J. Klausner und Martin Buber. 5. Leo Baecks Pharisäerstudie aus den Jahren 1927 und 1934 ist historisch nicht überholt, wie besonders die Arbeiten von D. Flusser, »Judaism and the Origins of Christianity« (1988) und R. Deines, »Die Pharisäer« (1997) gezeigt haben. Sie ist aber auch ein bleibender Aufruf der Erinnerung, der Ermutigung, der Hoffnung und Er369

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mahnung zuerst an die Israelgemeinde, dann aber auch eine Mahnung an die Christengemeinde. Sie ist nämlich eine bis heute nötige kritische Anfrage an das christliche Pharisäermißverständnis, das sich antijudaistisch lediglich auf die innerpharisäische Kritik an den fünf Pharisäergruppen aus Berachot IV14b konzentriert und das Judentum unter das Verdikt der »pharisäischen Heuchelei« gestellt hat, anstatt mit Baeck zu sehen: »Wo ein Ideal der (pharisäischen) Heiligkeit aufgestellt wird, dort gibt es die Scheinheiligen auch, die ›Gefärbten‹«, wie Baeck am Ende seiner Studie zu Recht sagt. Die pharisäische Bewegung ist zuletzt auch eine Anfrage an die zivilen Bürgergemeinden in ihren jeweiligen Staaten, ob das Gottesgebot und die an der Würde des Menschen und den Menschenrechten orientierte Ethik der pharisäischen Bewegung über der jeweiligen Staatsraison zu stehen hat. Die pharisäische Bewegung ist damit der stets aktuelle »geistige Versuch, dem Staat nicht in der Staatsraison, sondern im Gottesgesetz seine Maxime zu geben, die Idee des Staates durch das Ideal der Gemeinde zu bestimmen … ihn … als Gottesherrschaft zu gestalten«. Es mag noch daran erinnert werden, daß sich Baeck auch nach der Schoa der Darstellung der pharisäischen Bewegung in »Dieses Volk« weiterhin gewidmet hat und sich nicht nur sein ganzes Leben hindurch, sondern auch zuletzt mit seiner Grabinschrift »aus dem Geschlecht der Rabbiner« in die Reihe der Pharisäer und in die Gemeinde der pharisäischen Bewegung im jüdischen Volk und für das Ganze des jüdischen Volkes gestellt hat.

Das Wort »Pharisäer« ist seit altem ein vielgenanntes und vielberufenes, aber ein wenig verstandenes. Für die Erkenntnis eines wichtigen Abschnittes der jüdischen Religionsgeschichte, der Zeit besonders auch, aus der heraus allein die Ursprünge des Christentums begriffen werden können, ist es aber entscheidend, daß der Sinn dieses Namens und damit die Bedeutung und Stellung der Menschen, die ihn trugen, richtig erfaßt wird. Seit einem Jahrhundert bemüht sich die Forschung immer wieder hierum. Das rein Sprachliche des Namens ist allerdings eindeutig und klar; das Wort »Pharisäer«, das auf die griechische Wiedergabe des hebräischen Wortes »peruschim« bzw. des aramäischen »perischin« zurückgeht, bedeutet »Getrennte«, »Abgesonderte«. Aber hiernach setzen dann alsbald die Fragen und Schwierigkeiten ein. Denn wie jedes Zeitwort ist auch das, welches dieser Bezeichnung zugrun370

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de liegt, seiner mannigfachen und verschiedenartigen Beziehungen fähig: Wovon und wodurch waren diese Menschen, welche die Abgesonderten, die Getrennten hießen, getrennt und abgesondert, und warum und seit wann waren sie es? Eine Fülle von Antworten hat sich aus diesen Fragen immer wieder ergeben. In den biblischen Büchern Esra und Nehemia ist von denen erzählt, die aus dem babylonischen Exil zurückkehrten, und von den Besten unter ihnen ist gesagt, daß sie »die von den Völkern des Landes und von deren Unreinheiten Geschiedenen – nibdalim – waren«. Hierin hat man den Ursprung und den Gehalt unseres Wortes finden wollen. In den Büchern der Makkabäer, die den Kampf zwischen der griechischen Denkart und Lebensweise und der jüdischen darstellen, ist berichtet, wie sich damals die »Frommen« von denen trennten, die in ihrem Judentum weniger streng bestimmt waren als sie. Auch hieran hat man inhaltlich und zeitlich unser Wort anknüpfen wollen. Wieder andere gehen von den politischen Auseinandersetzungen aus, die unter den makkabäischen Königen Zwiespalte in das jüdische Volk trugen, und wollen von daher die »Absonderung« herleiten. Und auch darüber schließlich gehen die Meinungen auseinander, ob der Namen anfänglich von Gegnern beigelegt oder alsbald von denen, die ihn trugen, gewählt war. Wenn eine befriedigende Antwort – und das Verständnis einer bedeutungsvollen Zeit ist, wie gesagt, von ihr bedingt – nicht erreicht worden ist, so liegt der Grund vor allem in einem. Es sind nicht alle geschichtlichen Quellen erkannt oder berücksichtigt worden, aus denen sich die entscheidenden Beziehungen und Aufschlüsse ergeben. Man hat die erwähnten biblischen und nachbiblischen Bücher beachtet. Man hat dann besonders die Darlegungen des Flavius Josephus geprüft, der in seinen zwei großen Werken, den »Jüdischen Altertümern«, die die Geschichte Israels bis zu dem großen Aufstande gegen Rom schildern, und dem »Jüdischen Kriege«, der diesen Aufstand selber (66-70) darstellt, ausführlich von den Pharisäern wie von ihren Gegnern, den Sadduzäern, und ihren geistigen Nachbarn, den Essenern, spricht. Ebenso sind die Worte des Neuen Testaments, die sich mit ihnen auseinandersetzen, herangezogen worden und schließlich auch Sätze der Mischna und der sie ergänzenden Tosephta, dieser ersten Bücher der auf die Bibel folgenden und sich an sie anschließenden gesetzlichen Traditionen. Dagegen sind die tannaitischen Midraschim – das sind die biblischen Auslegungen und Sinngebungen der Tannaiten, der ersten Generationen der Gesetzlehrer – im großen und ganzen außer Betracht geblieben. Und gerade sie, die hier zudem durch Sätze aus anderen Niederschriften der 371

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Haggada, der alten Erklärung und Predigt von der Heiligen Schrift, bestätigt werden, sind durch den Wert und die Zuverlässigkeit ihrer Überlieferungen für das Denken und die Sprache der Zeit von bestimmender Wichtigkeit. Sie weisen denn auch einen deutlichen Weg zum Verständnis des Namens »Pharisäer« auf. In ihnen zeigt sich hier zunächst eines. Im Siphra, dem alten Midrasch der Schule Akibas zum dritten Buche Mosis, der uns einen Überlieferungsstoff bietet, der zum Teil so alt ist und noch älter als die Schriften des Josephus, ist das Wort parusch »abgesondert« eine erläuternde Wiedergabe des biblischen Wortes kadosch »heilig«. Der bekannte Satz »ihr sollt heilig sein« wird so übertragen in den Satz: »ihr sollt peruschim sein«. Auch wo die Heiligkeit von Gott ausgesagt ist, wird dieses neue Wort gebraucht. Es wird gesagt, daß Gott spreche: »Wie ich parusch bin, so sollt ihr peruschim sein.« Diese Sätze sind ohne Nennung des Autors tradiert, sie sind anonyme Haggada, und das weist in der Regel auf einen frühen Ursprung hin. Aus ihnen ergibt sich unverkennbar, daß unser Wort »peruschim« damals die Eigenschaft und Forderung der Heiligkeit ausdrückte. Es konnte daher auch zur Benennung einer Gemeinschaft von Juden werden, um für sie oder an ihnen – denn die Möglichkeit, daß zunächst Gegner es ironisch gebraucht haben, ist hierdurch nicht ausgeschlossen – das Ideal des Heiligen als Persönlichkeits- und als Volksideal zu bezeichnen, in dem sie den Sinn ihrer Gemeinschaft, das Ziel ihrer Richtung sahen. Wenn derart die Eigenschaft »peruschim« für die Eigenschaft »heilige« gesetzt ist, so tritt sie damit in einen bestimmten, geschichtlichen Zusammenhang. Denn die Benennung »die Heiligen« ist ein seit der makkabäischen Zeit gebrauchter Ehrenname für die »Gemeinde« des Judentums. Das Buch Daniel hat dieses Wort, das bis dahin, auch noch im Buche Secharja und in den Sprüchen des Josua ben Sirach wie auch noch im Buche Daniel selbst, die Heerscharen des Himmels bezeichnet hatte, der Gemeinde der Juden, die ihrem Gotte treu blieb, rühmend beigelegt. Diese Bedeutung hat es, wie Sätze aus dem ersten Makkabäerbuch, dem Buche Tobit und der Weisheit Salomos zeigen, in der folgenden Zeit bewahrt. Im neutestamentlichen Schrifttum, und besonders in den paulinischen Briefen, wird es dann, dem gemäß, daß die neue Gemeinschaft gern die Ehrennamen der alten für sich in Anspruch nimmt, der Name der christlichen Gemeinde. Dem Sinne nach ist es in allen diesen Stellen gleichbedeutend mit dem Worte Gemeinde, ecclesia; der Satz z. B. aus der Apostelgeschichte, von der Wundertat des Petrus an der Tabita: »Er rief die Heiligen herbei«, bedeutet nichts anderes als: Er rief die Gemeinde herbei. Die »Heiligen« sind die »Gemeinde«, die eccle372

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sia, die schon das Buch Sirach den »Völkern«, den Heiden gegenübergestellt hatte. Die Heiligkeit, die das Wesenszeichen der peruschim, der »Gemeinde« ist, stellt sich uns in den alten Zeugnissen auch in der Tat als ein solcher Gegensatz dar. Sie ist hier diese Geschiedenheit von den Völkern, und insofern bietet sich ein innerer Zusammenhang mit den »nibdalim« der Bücher und Nehemia. Im ersten Makkabäerbuche erscheint diese Geschiedenheit als der Grundsatz der »Gemeinde«, und ihre Gegner sehen darin den Quell alles Unheils: »In jenen Tagen gingen aus Israel gesetzlose Buben aus und beredeten viele, indem sie sagten: ›Laßt uns gehen und einen Bund mit den Völkern schließen, die um uns sind; denn seitdem wir uns ihnen abgesondert, haben uns viele Leiden getroffen!‹« Und ebenso finden wir es in den tannaitischen Midraschim; auch hier ist diese Absonderung, die den peruschim ihren Namen gibt, die von den »Völkern«. So fügt die Mechilta, die Überlieferungsschrift zum zweiten Buche Mosis, aus der Schule des Rabbi Ismael, des Freundes und wissenschaftlichen Gegners des Rabbi Akiba, zu dem Satze »Ihr sollt mir ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk sein« erläuternd hinzu: »heilig und geheiligt, und das will sagen: abgesondert, peruschim, von den Völkern und ihren Greueln«. Ebenso ist im Siphra zu dem Gebote: »Ihr sollt euch heiligen und heilig sein« bemerkt: »das meint zuerst die Heiligung, die in der Absonderung von den Heiden besteht«. Ebendort wird an den bereits erwähnten Satz, »wie ich parusch bin, so sollt ihr peruschim sein«, der weitere angeschlossen: »Wenn ihr von den Völkern gesondert seid, so spricht der Ewige, dann gehört ihr zu mir; wenn nicht, so gehört ihr dem Nebukadnezar, dem König von Babel, und seinen Genossen an.« Und ein gleiches ist in der Mechilta des Simon ben Jochai, des Schülers Akibas, überliefert: »Nur, wenn ihr euch von den Völkern scheidet, seid ihr mein.« Es ist selbstverständlich, daß auch damals dem Begriffe der Heiligkeit nicht nur der Inhalt der Exklusivität gegeben worden ist; zu dieser mehr negativen Bestimmung trat immer und sogleich auch eine positivere. So ist im Siphra neben den Satz: »ihr sollt euch heiligen und heilig sein – das meint zuerst die Heiligung, die in der Absonderung von den Heiden besteht«, alsbald der andere gesetzt: »ihr sollt heilig sein – das bedeutet die Heiligung, die in der Übung aller Gebote besteht«. Ebenso im Siphre, dem tannaitischen Midrasch zum vierten und fünften Buche Mosis: »Ihr sollt eurem Gott heilig sein – dies meint die Heiligung durch die Übung aller Gebote«. Und wieder, nur erweiternd und begründend, in der Mechilta des Rabbi Simon: 373

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»Ein heiliges Volk bist du dem Ewigen, deinem Gotte, darunter ist die Heiligung durch die Gebote verstanden; denn wenn Gott Israel ein weiteres Gebot gibt, so gibt er ihm weitere Heiligung.« Aber es ist ein Unterschied zwischen der Eigenschaft, die mit diesem Worte »heilig« von dem Einzelnen gefordert wurde, und dem bestimmten Namen, der in diesem Worte gegeben wurde. Er war der Gemeinschaft beigelegt und meinte vor allem jenes andere, die Absonderung von den Völkern. Durch sie wird die Gemeinschaft zur Gemeinde der »Heiligen«, der peruschim, also zur eigentlichen »Gemeinde«. So ergibt sich, daß in dem Namen »Pharisäer« das bezeichnet ist, was der »Gemeinde« des Judentums damals als Gebot ihrer Selbsterhaltung erschien, die Heiligkeit der Exklusivität, und daß diese Exklusivität die gegenüber den »Völkern« ist. Als Forderung und Aufgabe ist so im Grunde das darin enthalten, was durch den Gedanken der Auserwählung als geschichtliche Tatsache hingestellt war. Aber es scheint, daß doch in unserem Worte ein weiteres auch mitspricht. Das Gebot der Absonderung und der durch sie bedingten Heiligkeit gilt nämlich grundsätzlich zwar für alle, also auch für die Diaspora; so rühmt es Josephus, daß die Diadochen, die Nachfolger Alexanders des Großen, den Juden Alexandrias ein eigenes Stadtviertel absonderten, »damit sie ihre Lebensweise reiner führen könnten, indem die Fremden sich weniger mit ihnen vermischten«. Aber das Gebiet der eigentlichen Absonderung sollte doch Pälästina, das Heilige Land, damals sein. Seinem Bezirke war ganz vornehmlich eine Heiligkeit zugeschrieben, ihm konnte sich die größere Bestimmtheit aller dieser Vorschriften noch zuwenden. Eine alte Überlieferung gewinnt in diesem Zusammenhang ihre ganze Bedeutung: »Jose ben Joeser aus Zereda und Jose ben Jochanan aus Jerusalem haben verordnet, daß das Land der Völker als unrein gelte.« Und im Namen des Jose ben Chalaphta, des Vaters der jüdischen Chronologie, eines jüngeren Zeitgenossen Akibas, wird durch seinen Sohn Ismael dasselbe, allerdings mit einer anderen Zeitangabe tradiert: »Achtzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels hat man verordnet, daß das Land der Völker als unrein gelte.« Wenn zwischen den beiden Zeitbestimmungen auch ein Widerspruch besteht, da jene beiden Männer in den »Kapiteln von den Vätern« unter den alten Sopherim, den ersten Schriftgelehrten, genannt sind und so wohl etwa anderthalb Jahrhunderte vor diesem anderen Datum gelebt haben, der Inhalt der Tradition steht doch fest. Auch sie zeigt uns als das Ziel und Bereich der Absonderung das Heilige Land, so daß also Pharisäer im eigentlichen Sinne die Gemeinden 374

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Palästinas wären. Hiermit würde es übereinstimmen, daß Josephus wie auch das Neue Testament von Pharisäern spricht, nur wo es sich um Juden Palästinas handelt. In der Verbindung hiermit könnte auch eine, wohl auf frühe Zeit zurückgehende, Bezeichnung, die uns im talmudischen Schrifttum erhalten ist, ihre Erklärung finden. Alte Überlieferungen werden hier bisweilen auf die »heilige Gemeinde in Jerusalem« zurückgeführt. Spätere talmudische Lehrer haben nach Deutungen für diesen Namen gesucht, aber keine wirkliche Erklärung für ihn gegeben. Sie könnte sich daraus erschließen, daß innerhalb Palästinas, des Gebietes der Heiligkeit, Jerusalem wieder ein engerer, bestimmterer Bezirk der »Heiligkeit«, der »Absonderung« war und die »Gemeinde« Jerusalems demgemäß in diesem engeren Sinne als die »heilige Gemeinde« gelten konnte. Dem würde auch eine Benennung, welche das Neue Testament bietet, entsprechen. Das Wort »die Heiligen« erscheint hier nämlich in doppelter Bedeutung, zunächst in der umfassenderen, daß sie, wie schon erwähnt, alle christlichen Gemeinden umschließt, sodann aber, in den paulinischen Briefen, wohl in dieser begrenzteren, daß sie nur die christliche Gemeinde Jerusalems meint. Allerdings würden die Sätze, in denen das Wort hier in diesem engeren Sinne gebraucht wird, es auch zulassen, an die christlichen Gemeinden Palästinas überhaupt zu denken, so daß jedenfalls auch hier die Bewohner des Heiligen Landes, ähnlich wie es mit Bezug auf die Pharisäer gesagt war, die »Heiligen« im besonderen Sinne hießen. Der Name Pharisäer gewinnt so seine genaueren Umrisse. Wenn das, was er bezeichnet, jetzt zu der erwähnten Überlieferung in Beziehung gesetzt wird, die davon spricht, daß die Länder der Völker für unrein erklärt wurden, so kann er auch eine geschichtliche Einordnung erfahren. Sie wird zudem noch kennzeichnender, wenn die Doppeltheit der Überlieferung auf ein zweifaches Vorkommnis zurückgeführt wird, darauf also, daß zweimal eine solche Verordnung erlassen worden ist. Das erstemal wäre dieselbe demnach in der Zeit des Jose ben Joeser und des Jose ben Jochanan ergangen, d. h. in der Zeit, in der die Politik der Hasmonäerfürsten über die Grenzen Palästinas hinauszuschauen und hinauszuschreiten begonnen hatte. Damit stimmt es auch überein, daß in der Darstellung des Josephus Name und Meinung der Pharisäer uns zum ersten Male in der Zeit des Hasmonäerfürsten Jonathan und danach wieder, was auch durch eine talmudische Tradition im wesentlichen bestätigt wird, in der seines zweiten Nachfolgers, des Johannes Hyrkanos entgegentreten, in dieser Zeit, in die auch eine ausdrückliche Datierung 375

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des palästinensischen Talmuds unsere beiden Lehrer ansetzt. Damals war infolge der Erweiterung des Gebietes des jüdischen Reiches, vielleicht auch infolge der Anwerbung eines Söldnerheeres die Frage der Trennung von den »Völkern« dringend geworden. Ebenso fügt es sich hiermit zusammen, daß Josephus die Pharisäer dann ferner in der Zeit des Herodes hervortreten läßt, also in der Zeit, achtzig Jahre vor der Zerstörung des Tempels, in welche jene zweite Verordnung über die Länder der Völker fällt. Damals war durch die neue Ausdehnung des Landes das Problem der Absonderung von neuem zur Sorge geworden. Und darum ist es wiederum kein Zufälliges oder Gelegentliches im Nebeneinander der Erzählung, wenn Josephus zum letzten Male die Pharisäer dort in seine Geschichte einweist, wo er die Umwandelung des jüdischen Landes in eine römische Provinz schildert, das Ereignis also, das jener selben Frage die ganz besondere Schärfe gab. Das Pharisäertum bedeutet demnach eine Bewegung, die auf die Absonderung von den Völkern und die dadurch gegebene Heiligkeit hinzielte und die hervortrat oder sich erneuerte, wenn die Politik oder das Geschick des Landes zu entgegengesetzten Wegen hinzuleiten schien. Sie ist also aus ähnlichen Gründen hervorgegangen wie die der »Chassidim«, der »Asidäer«, der »Frommen«, von denen die Makkabäerbücher sprechen. Aber während diese für die Freiheit der Religion, die durch einen Fremdherrscher und seine Genossen aus dem eigenen Volke bedroht wurde, zu den Waffen gegriffen hatten, hat sich das Pharisäertum gegen eine Beeinträchtigung dessen, was als Ideal jüdischer Gemeinschaft erschien, gerichtet. Die Religion selbst war nicht mehr in Gefahr, auch in der Zeit der letzten Hasmonäerfürsten nicht und auch nicht in der des Herodes und der römischen Prokuratoren. Nur der strengen Wahrung der jüdischen Gemeinde in ihrer Reinheit und Geschlossenheit galten der Kampf und die Mühe; das trennende und schützende Gehege, das die Religion umgeben sollte, den »sejag lattora« galt es zu errichten und zu verteidigen. Nicht mit Unrecht hat das Pharisäertum, als es die Geschichte seiner Tradition darlegen wollte, diese entscheidende Aufgabe an seinen Anfang gesetzt: »Moseh hat die Thora vom Sinai empfangen und sie dem Josua überliefert und Josua dann den Alten und die Alten den Propheten, und die Propheten haben sie den Männern der Großen Gemeinde überliefert. Diese sprachen ein Dreifaches aus: Seid überlegt im Recht und stellet viele Schüler hin und machet einen Zaun um die Thora – sejag lattora!« Weniger also um eine Partei, wie moderne Geschichtsschreibung es oft will, und nicht auch eigentlich um eine Schule oder Sekte, wie 376

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Josephus seinen griechischen und römischen Lesern zuliebe sagte, – obwohl jede Bewegung auch ihr Parteimäßiges und ihr Schulmäßiges hat – sondern eben um eine Bewegung im jüdischen Volke handelt es sich hier. Wie der Name, den sie trägt, der der peruschim, so gewinnt auch alles, was sich nach der einen oder anderen Richtung aus ihr ergab, daran seine Erklärung. Sie konnte, und mußte vielleicht bisweilen, wie in den Zeiten des Königs Alexander Jannai und später der römischen Verwaltung zum Zelotentum werden, das die Absonderung mit der Gewalt durchsetzen wollte. Sie konnte und mußte bisweilen, in Zeiten des Unglücks, zum Asketentum werden, das sich durch die Energie der Entsagung die Exklusivität bereiten wollte. Sie konnte und mußte dann auch zum Essenertum werden, das die Absonderung ganz besitzen wollte in der Trennung, welche die Einsamkeit gab. Zu dem Problem des Namens tritt das der Stellung der Pharisäer im Volksganzen. Auch hier bieten sich zwei Quellen, die Zeugnisse des Josephus und die der Tannaiten. Die Sätze der Evangelien, die von den Pharisäern reden, sind nicht historisch zu bewerten. In ihnen wird unser Wort nicht in seiner geschichtlichen Bedeutung gebraucht, sondern dient dem Zwecke spottenden, absprechenden Angriffs. Nicht von den »Heiligen« wird hier gesprochen, sondern von Scheinheiligen, nicht von den »Frommen«, sondern von Frömmlern. Aber auch gegenüber dem, was Josephus schreibt, ist, wie schon erwähnt, zu berücksichtigen, für wen er schreiben will. Da er dem gebildeten, philosophisch interessierten Römer und Griechen die verschiedenen Richtungen im jüdischen Volke schildern will, sucht er sie dadurch verständlicher oder interessanter zu machen, daß er sie in den Bereich der allgemeinen Weltanschauung verlegt, zu den Fragen also hinführt, welche den Römer und Griechen damals beschäftigten. Wenn die Pharisäer, die er darstellt, erkannt werden sollen, muß ihnen der Philosophenmantel abgenommen werden, den er ihnen angelegt hat. Und ein Ähnliches ist gegenüber den Sätzen des Talmuds zu beachten. Für ihn tritt das Halachische, das Religionsgesetzliche, in den Vordergrund, auch in den der geschichtlichen Besonderheit. Alle entscheidenden Persönlichkeiten und Richtungen des Judentums sollten damit befaßt sein, so daß z. B. selbst in die Geschichte Abrahams halachische Fragen hineingefügt werden. So ist es begreiflich, daß für den Talmud auch die Gegensätze zwischen den Pharisäern und ihren Gegnern ganz vornehmlich halachischer Art sind. Wenn das, was tatsächlich trennte, festgestellt werden soll, muß von einem Zwiefachen ausgegangen werden. Das erstere ist folgen377

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des: Am einprägsamsten schied eines die Pharisäer von ihren Gegnern, den Sadduzäern, eines, wovon einmal Josephus ohne jede Absichtlichkeit der Schilderung, ohne also auf den griechischen und römischen Leser hinzuzielen, berichtet. Er erzählt hier, wie sich der Gegensatz zwischen den beiden zum ersten Male im Politischen, in einem Kampfe um die Macht auswirkte, und er sagt hierbei: »Die Pharisäer lehren das Volk auf Grund von Tradition manche Satzungen, die in dem Gesetze des Moses nicht aufgezeichnet sind. Und eben deshalb verwirft dieselben die Partei der Sadduzäer; sie erklärt, es sei geboten, jene geschriebenen als Satzungen anzuerkennen, jedoch die, die auf Grund einer Lehre der Väter gelehrt würden, nicht zu üben.« Dementsprechend erzählt denn Josephus ebendort, daß Johannes Hyrkanos, als er sich von den Pharisäern abwandte und sich den Sadduzäern anschloß, »die von ihnen im Volke eingeführten Satzungen aufhob und die, welche sie beobachteten, bestrafte«. Hier ist also ausdrücklich als der Gegensatz zwischen Pharisäern und Sadduzäern, als das, um wieder Josephus sprechen zu lassen, »in betreff dessen sich ihnen große Streitfragen und Unterschiede ergaben«, die Frage der Geltung der nicht in den Worten der Thora enthaltenen, überlieferten Satzungen hingestellt, also der Geltung dessen, was die hebräischen Quellen als »die Worte der Sopherim« oder »die Worte der Weisen« bezeichnen. An denen, die diese Satzungen lehrten, hebt Josephus dann des weiteren in gelegentlichen, absichtslosen Sätzen ein Bestimmtes hervor. Er sagt von ihnen, daß »sie eine hohe Ansicht von der genauen Erforschung des von den Vätern ererbten Gesetzes hatten«, daß »sie die Gesetze genauer erklärten«, daß sie »als die galten, die durch eine Genauigkeit in den von den Vätern überkommenen Satzungen vor den andern ausgezeichnet sind«, »als die, die mit Genauigkeit die Satzungen darlegen«. Ein Ähnliches rühmt, in der Apostelgeschichte, Paulus von sich, er sei »zu den Füßen Gamliels unterwiesen worden gemäß einer Genauigkeit des von den Vätern ererbten Gesetzes«. Charakteristisch ist es, daß an allen diesen Stellen dasselbe Wort »Genauigkeit«, »akribeia«, in seinen mannigfaltigen Formen gebraucht wird. Es entspricht, in dem, was es zum Ausdruck bringen will, ungefähr dem hebräischen »darasch« und »midrasch« bzw. »lamad« und »talmud« in der Bedeutung, die diese Begriffe in jener Zeit hatten. Die, welche diese Satzungen lehrten, waren in der Tat Männer dieser »Genauigkeit«, dieser »akribeia«, dieses »midrasch«; sie haben dem Worte und vor allem dem Gesetze der Bibel seine ganze Genauigkeit, seinen ganzen Sinn zu geben gesucht. Sie sind die Träger der »mündlichen Thora«, die sich jetzt 378

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an die »niedergeschriebene Thora«, sie erläuternd und fortführend, anschließt. Die Genauigkeit, die ihnen anvertraut war, dieses Suchen der letzten Bedeutung und der letzten Satzung, sollte hier das Buch immer neu erschließen, es zu jeder Gegenwart hinstellen. Schon an Esra war es mit unserem Terminus »darasch« und mit Wendungen, die fast denen des Josephus entsprechen, gerühmt worden, daß er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die »Thora des Ewigen zu erforschen und zu befolgen und in Israel Satzung und Recht zu lehren«. Und es ist kein Zufall, daß zuerst von ihm dies ausgesagt wird. Mit ihm hebt in Palästina eine Entwicklung an, die sich in Babylon schon vorbereitet und auch durchgesetzt hatte. Seit dem Babylonischen Exil tritt neben den Opferdienst, der in seiner historischen Bedeutung bleibt, zunächst in Babylon und danach in Palästina, der neue Gottesdienst, den das Gebet, die Vorlesung aus der Heiligen Schrift und, als ein durch sie notwendig Gegebenes, die Erklärung der Schrift bereiten. Die Synagoge, die ihn bietet, tritt neben den Tempel, die Stätte des Opfers. In der Zeit, da der zweite Tempel noch stand, galt er schon als ein so Selbstverständliches, als etwas, was so wenig aus dem Leben des Volkes fortgedacht werden konnte, daß man ihn in seinem Wesentlichen bis zu den Anfängen der israelitischen Religion zurückführte. Nicht nur in der östlichen und westlichen Diaspora, sondern auch in Palästina vor allem, dem Lande des Tempels, befanden sich neben diesem alten Mittelpunkte des Kultus die zahlreichen Häuser, welche Plätze dieses neuen Kultus waren. Wie ein Zusammengehöriges hatte der Dichter des vierundsiebzigsten Psalms, der wohl aus den Tagen des Makkabäerkampfes stammt, das »Heiligtum Gottes, die Wohnung seines Namens« und die »Gottesstätten der Versammlung im Lande« nebeneinander genannt. Es war ein Nebeneinander, das in ruhigen Zeiten ein solches bleiben konnte, um so mehr, da der Tempel ein Wesentliches des Neuen, das Gebet, in seinen Kultus aufgenommen hatte. Aber früher oder später mußte es zum Gegeneinander werden. Denn einmal mußte sich die Frage doch einstellen, wo denn der eigentliche religiöse Heimplatz des Volkes wäre, wo also der Gottesdienst seine eigentliche Stätte hätte, ob im Tempel oder in den Synagogen. Und auch das ist begreiflich, daß bei der entscheidenden Bedeutung, welche der Bibel zukam, in dieser Auseinandersetzung alle auf sie ihren Anspruch gründen wollten. Die tannaitische Überlieferung zeigt es deutlich. Die Frage wird hier des öfteren erörtert, welches der Gottesdienst, der wahre Gottesdienst, die »aboda« ist. Und es wird darauf 379

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hier die Antwort gegeben, daß der »Dienst Gottes« nicht das Opfer sei, also nicht das, was der Tempel gewährt, sondern das, wofür sich die Synagoge darbietet, das Gebet und die Erklärung der Schrift. Besonders dieses letztere, das also, was Josephus betont, wird hervorgehoben. Alle die Sätze, die es dartun, anonyme Haggada, stammen offenbar aus der Zeit, wo noch der Tempel den Synagogen gegenüberstand. Wir kennen mannigfache Aussprüche auch aus den Generationen nach seiner Zerstörung, besonders aus dem Munde von Jochanan ben Sakkai und seinen Schülern. In ihnen spricht der Wunsch, zu beruhigen, es zu sagen, daß die Stelle, die der Opferdienst besessen habe, nun doch nicht leer geworden und das, was er geschenkt habe, nicht verloren sei, daß jetzt Gebet, Wohltun und Umkehr an seiner Statt da seien. Gerade der Vergleich mit diesen Worten zeigt den Unterschied. Dort soll gegenüber einem Geschehenen, einem Schicksal der Trost gewährt werden; hier in diesen unseren, anderen Sätzen wird unverkennbar gegenüber einem Bestehenden um die Erkenntnis davon gekämpft, wo das Höhere zu finden sei. Vor allem ist es, wie gesagt, die Beschäftigung mit der Lehre, die als der höhere, wahre Gottesdienst hingestellt wird. Zu den Worten aus dem Abschnitte des Deuteronomiums, der zu dem zweiten Teile des Sch’ma-Gebetes geworden ist und auch zur Morgenandacht der Priester im Tempel gehörte, »zu lieben den Ewigen, euren Gott und ihm zu dienen mit ganzem Herzen und ganzer Seele« wird im Siphre bemerkt: »Ihm zu dienen – das meint die Beschäftigung mit der Lehre … ; wie der Dienst am Altar Gottesdienst genannt ist, ganz so die Beschäftigung mit der Lehre«. Und begründend wird hinzugefügt, daß sie das erste Gebot von Gott sei, das, welches dem ersten Menschen, vor allem Opferdienst und allem Dienst im Heiligtum, gegeben worden wäre. In ähnlicher Weise wird in einem anderen Satze der Gottesdienst durch die Thora vor dem Gottesdienst im Tempel gestellt: »Ihm, dem Ewigen, sollt ihr dienen«, das bedeutet: »Durch seine Lehre diene ihm und durch sein Heiligtum«. Noch bestimmter ist ein Wort, das durch die Schule des Rabbi Akiba im Siphre zum vierten Buche Mosis überliefert worden ist. Um den Satz der Thora zu erklären, daß die Leviten »die Obhut über das Stiftszelt haben sollen für allen Dienst im Stiftszelt«, wird hier gesagt: »Die Obhut über das Stiftszelt, das meint die Lehrsätze, und aller Dienst, alle aboda im Stiftszelte, das meint die Beschäftigung mit der Lehre«. Der Widerspruch gegen den Opferdienst ist nicht zu verkennen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhange ein Satz, der freilich wohl erst aus der Zeit nach der Zerstörung des Tempels stammt und der in beiden Me380

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chiltas erhalten ist. Es ist dort alles das aufgezählt, wofür Israel zum Märtyrer geworden ist und was darum bei ihm dauernden Bestand hat, und danach das, wofür Israel nicht zum Märtyrer geworden ist und was darum bei ihm keinen dauernden Bestand hat. Und unter dem ersteren wird die Beschäftigung mit der Lehre genannt, dagegen unter dem letzteren der Tempel. Auch hier ist nicht zu übersehen, wie er als Stätte des Gottesdienstes zum mindesten in den Hintergrund getreten ist. In ähnlicher Art wird dem Opferdienst das Gebet, das andere also, was den Gottesdienst der Synagoge ausmacht, entgegengestellt. Zu jenen bereits erwähnten Worten des Deuteronomiums »zu lieben den Ewigen, euren Gott, und ihm zu dienen mit ganzem Herzen und ganzer Seele« wird auch dieses andere überliefert: »ihm zu dienen, das meint das Gebet; denn wenn es hier gesagt ist: ›zu dienen mit ganzem Herzen‹, was anderes kann dieser Dienst mit dem Herzen sein als das Gebet! Wie der Dienst am Altar Dienst Gottes, aboda, genannt wird, so wird das Gebet Dienst Gottes genannt«. Dementsprechend überträgt das palästinische Targum die Worte: »ihm, dem Ewigen, sollt ihr dienen« (Dtn 13,5) in die Worte: »vor ihm sollt ihr beten«. Hiermit kommt auch eine Erklärung überein, die im Talmud erhalten ist, die den Satz (Ex 23,25) »ihr sollt dem Ewigen, eurem Gotte, dienen« dahin erläutert: »das meint das Lesen des Sch’ma und die Tephilla, das Hauptgebet«. Auf eine frühe Zeit geht wohl auch eine Überlieferung zurück, die der palästinische Talmud von Rabbi Menahem aus Gallaja herleitet: »Zu dem, der vor den Thoraschrein hintritt, um die Tephilla vorzubeten, sage man nicht: komme und bete, sondern komme und tritt heran: verrichte unser Opfer, verrichte, was uns not tut, führe unseren Kampf, erflehe Versöhnung für uns.« Auch hier, in allen diesen Sätzen, ist es zu erkennen, wie nicht nur neben, sondern gegen den Opferdienst ein anderes, hier das Gebet, gesetzt ist und wie für diese seine Stellung der entscheidende Beweis, der aus der Bibel, beigebracht wird. Dem entspricht es durchaus, wenn die Mischna eine Reihe von Bestimmungen aufweist, die zum mindesten nicht freundlich gegen die besonderen Rechte des Priestertums erscheinen – manche Ansprüche, die den Priestern zustehen könnten, werden hier dem Volke zuerkannt –, wenn des ferneren aus tannaitischer Zeit uns harte Worte gegen die vornehmen Priesterfamilien und ihre Forderungen überliefert sind oder wenn mit Bezug auf den Priestersegen betont wird, daß »der Segen nicht von den Priestern abhängt«, daß »die Priester nicht sagen dürfen: wir segnen Israel«. Und dagegen spricht wiederum auch nicht die Tatsache, daß unter den Pharisäern in der 381

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Zeit des Tempels Männer vornan standen, die dem Priesterstande zugehörten, wie der erwähnte Jose ben Joeser, der »Fromme in der Priesterschaft«, wie Chananja, der, wohl letzte, »Vorsteher der Priester«, und vielleicht auch Jochanan ben Sakkai. Ein innerer Widerspruch ist hierin ebensowenig zu finden wie etwa darin, daß im alten Rom in dem Kampf der Patrizier und Plebejer Männer des Patriziats die Plebejer zum Siege geführt haben. Als weiteres Kennzeichen dessen, was die Pharisäer dem Volke gewährten und was sie ihm bedeuteten, ergäbe sich demnach dies: Neben oder auch über den Gottesdienst im Tempel, dessen Verrichtung den Priestern vorbehalten war, haben sie mit klarer, fordernder Bestimmtheit den Gottesdienst gestellt, den das ganze Volk in seinen Synagogen durch das Gebet und die Beschäftigung mit der Bibel selbständig zu eigen gewinnen konnte. Insofern dürfen sie als die Volkspartei, die der Sonderstellung und dem Adel der Priester entgegen war, bezeichnet werden. Als entschiedenster Gegner mußte ihnen demgemäß die Priesteraristokratie der Zadokiten, der Sadduzäer, gegenüberstehen. Fast noch mehr als durch diesen Anspruch, der das alte Privileg des Gottesdienstes antastete, wurde die Stellung der Priester in einem weiteren beeinträchtigt. Die Männer der Synagoge haben nämlich nach und nach für sich es gefordert und erworben, das Gesetz zu verwalten. Im Deuteronomium war das Rechtsprechen in erster Reihe dem Priester zuerkannt, ganz wie das dritte Buch Mosis, das »Priestergesetz«, ihm die Entscheidung über rein und unrein zuwies. Er tritt uns denn auch in der Zeit vor dem Exil wie der ersten nach ihm als der entgegen, dem die Thora anvertraut ist, »von dessen Mund man Thora sucht«. Noch in Esra sehen wir den Priester vor uns, der die Thora lehrt und auf sie verpflichtet. Aber er zeigt uns doch auch schon ein anderes, ein Neues, das erst durch das babylonische Exil bewirkt worden war. Hier im Exil war den Priestern der erste und eigentliche Bezirk ihres Amtes, die Verwaltung des Opferdienstes, verschlossen. Ihnen konnte so aus ihrem alten Rechte hier nur eines bleiben, die Hut und Darreichung der Thora. So tritt uns hier diese neue Erscheinung entgegen, die des Mannes, dessen eigene Aufgabe und dessen höchster Beruf es ist, sich der Thora zu widmen und sie zu belehren. In der Person Esras gewinnt dies zuerst die historische Gestalt. Er ist der Priester und wird so auch genannt, aber die wesentliche Bezeichnung für ihn, die, welche ihn bestimmen soll, ist die des »Sopher«, des »grammateus«, des Mannes des Buches. Dieses Wort, das seit altem den schriftkundigen Beamten benennt, erlangt nun die neue Bedeutung: »Schriftkundiger der Thora des Moses«, »Schriftkundiger der Worte der Gebote des 382

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Ewigen und seiner Satzungen an Israel«. Wie rasch sich dieses Neue durchgesetzt hat, wird daran ersichtlich, daß es uns im Buche Sirach bereits als ein Bekanntes entgegentritt; hier wird schon ganz allgemein von diesem Sopher und von seinem Können, der »misparut«, der »grammateia«, der Schriftgelehrtheit geredet. Das erste und zweite Makkabäerbuch sprechen dann bereits von »den Schriftgelehrten«. Auch das Wort Lehrhaus, Beth Hammidrasch, und das Wort Jeschiwa, Kreis der Lernenden, finden wir im Buche Sirach; die vormakkabäische Zeit besaß so alles dieses schon. Auf dem Boden Palästinas hat jetzt dies alles aber ein anderes noch sein müssen, als es zunächst in Babylon gewesen war. Denn hier war der Tempel wieder errichtet, war der Opferdienst wieder durchgeführt worden. Damit hatten die Priester das ursprüngliche Gebiet ihrer Befugnis und ihres Vorzugs zurückgewonnen. Es war nur natürlich, daß hinter dieser wiedererlangten Aufgabe jene andere, die Darlegung der Thora, zurücktrat; des öfteren stand wohl vor dem Volke der Priester ohne das genaue Wissen von der Thora. Es ist ebenso begreiflich, daß das Gebiet, welches mehr und mehr viele der Priester verlassen hatten, nun von anderen, von Nichtpriestern in Besitz genommen und dann auch ausdrücklich beansprucht wurde. So beginnt denn das Wort »Schriftgelehrter« jetzt nicht nur und nicht vor allem den Priester zu bezeichnen, sondern einen anderen, der neben ihm oder ihm gegenüber den eigenen Platz hat. Die Entwicklung ist deutlich zu verfolgen. Während im Buche Sirach noch gesagt werden konnte, daß Gott dem Priesterstande »seine Gebote anvertraut und Befugnis über Satzung und Recht gegeben, damit er sein Volk Satzung lehrte und Recht die Kinder Israel« (45,17), sagt schon das zweite Makkabäerbuch, daß »Gott allen das Erbe, das Königtum, die Priesterschaft und die Heiligung überliefert hat« (2,17). Und mit ähnlichen, noch prägnanteren Worten, spricht dieses selbe die tannaitische Überlieferung aus. Hier wird das biblische Wort vom »Anteil und Erbe« des Priesterstandes (Num 18,20) also erläutert: »Drei Kronen sind: die Krone der Thora, die Krone der Priesterschaft, die Krone des Königtums … Die Krone der Thora ist vor jedermann hingelegt, und wer sie erworben hat, der steht vor Gott da, als hätten die drei vor ihm gelegen, und er habe sie alle erworben.« Der Zugang zur Verwaltung des Rechts, der zuerst nur dem Priester geöffnet war, ist derart allen im Volke aufgetan. Nicht weil er Priester ist, sondern nur wenn er Schriftgelehrter ist, hat der Priester die Anerkennung als Richter. Der Schriftgelehrte ersetzt den Priester und verdrängt ihn, so daß schließlich die Tannaiten vermöge ihrer 383

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Interpretation das alte biblische Richteramt des Priesters fast aufheben; sie erklären, daß ein Gerichtshof auch ohne Priester und Leviten ordnungsmäßig besetzt ist. Es ist, wenn auch nicht historisch, so doch inhaltlich durchaus richtig, wenn jener einleitende Satz der »Kapitel von den Vätern« die Reihe der Schriftgelehrten zu Nachfolgern und Erben des Hohenpriesters Simon, des Gerechten, in der Tradition der Thora werden läßt. Und es ist wie die Vollendung dieses Weges, wenn dann später das Wort des Deuteronomiums, das von dem Gehorsam gegen die richtenden Priester vor allem spricht: »Du sollst von dem Worte, das sie dir verkünden, weder rechts noch links abweichen« (Dtn 17,11), zur Forderung gewesen ist, alles von den SchriftgelehrtenVorgeschriebene anzuerkennen. Als Letztes und Abschließendes, was die Literatur aus jener Zeit uns erkennen läßt, ergibt sich so, daß die pharisäische Richtung in Schriftgelehrten ihre Führer und die Männer ihrer Entwicklung hatte. Damit ist nicht gesagt, daß nur sie Schriftgelehrte hatte, daß also alle Schriftgelehrten Pharisäer waren. Es ist kein Zweifel, daß Zeiten des Kampfes zwischen Pharisäern und Sadduzäern zugleich Zeiten geistiger Auseinandersetzung waren und daß zum mindesten dann auch bei den Sadduzäern ihre eigenen Schriftgelehrten standen. Ebenso forderte von ihnen auch schon die richterliche Tätigkeit, wenn sie sich ihr widmen wollten oder durften, die Kenntnis des biblischen Rechts und die Fähigkeit, es auszulegen. Wichtiger jedoch und charakteristischer mußte die Schriftgelehrsamkeit für die Pharisäer sein. Ihnen konnte die Autorität, konnte die Stellung und Bedeutung, die dem Priester bereits durch seine Herkunft und sein Amt verliehen war, nur durch ihr Wissen und ihr Lehren gewährt sein. Ihnen gilt das, was Josephus im Schlußworte seiner »Jüdischen Altertümer«, indem er zugleich das Eigene des Schriftgelehrten dartun will, von seinem Volke rühmt: »Nur denen erkennen sie Weisheit zu, die ein klares Wissen von den Satzungen besitzen und den ganzen Sinn der heiligen Schriften zu erklären vermögen.« Die Pharisäer haben denn auch, mehr als die anderen, ihre Führerpersönlichkeiten vor allem im Bereiche des Geistigen besessen. Wenn neben allen den Namen, die hier von die Kunde bieten, Namen von sadduzäischen Schriftgelehrten kaum auf uns gelangt sind, so kann es nicht nur daran liegen, daß die Tradition aus dieser ganzen Zeit schließlich in dem Bereiche der pharisäischen Gelehrten geblieben ist. Zwar sie allein, soweit wir sehen, haben den Stammbaum der Überlieferung aufgestellt; sie haben es getan, schon um an der ununterbrochenen Folge ihrer Lehrer die Rechtmäßigkeit, die Legitimität ihrer Lehre zu erweisen. Aber auch die Namen von 384

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Schriftgelehrten, die freilich sehr wenigen, die Josephus angibt, sind nur die von Männern, von denen wir wissen, daß sie Pharisäer waren; sadduzäische Schriftgelehrte nennt auch er nicht. Der Grund, weshalb nur jene uns bekannt sind, wird so nur der sein, daß die Schriftgelehrsamkeit, wie sie aus dem Pharisäertum notwendig hervortrat, so auch im wesentlichen dessen Besitz geblieben ist. Auch sie ist daher, wenn schon nicht ein Sondereigentum, so doch ein besonderes Kennzeichen dieser Richtung. In alle dem, was so das alte Schrifttum mannigfach zeigt, tritt die pharisäische Richtung als ein ganz deutlicher und als ein bestimmender Weg in der Entwicklung des jüdischen Volkes hervor. Ihr Beginn, der ihr die Bahn endgültig gewiesen hat, gehört dem babylonischen Exile zu; von ihm aus nimmt sie ihren Ausgang, von ihm empfängt sie den Charakter, den Grund und den Sinn. In der jüdischen Geschichte bedeutet dieses Exil nämlich die erste große Auslese, eine entscheidende Aussonderung, die nur die »Brauchbarsten« übrig ließ. Hier sind die Wenigen viel geworden, denn nur die wenigen Starken konnten bleiben. Für die Vielen waren der Untergang des Staates und die Zerstörung des Tempels zu einer eindringlichen Predigt davon geworden, daß die Götter der Sieger auch gesiegt hätten. Wenn dann die Wunder der babylonischen Welt sie umgaben, mußten sie wiederum sich überwunden dünken; es mußte ihnen erscheinen, als bedeuteten die Menschen und die Lebenswelten dieses Neuen mehr als sie selbst und als die alten frommen Formen ihres Daseins. Die Trümmer auf Zion und die Paläste am Euphrat ergriffen gleich stark und in der gleichen Weise. Sie sprachen beide das nämliche, und die Antwort darauf konnte für viele nur die eine werden, daß man auch innerlich kapitulieren müsse, kapitulieren auch vor den Göttern und vor Babylon. Die so dachten und danach handelten, hörten früher oder später auf, Juden zu sein. Aber die, welche übrigblieben, weil sie treu bleiben wollten, diese Wenigen gegenüber den Vielen, waren dafür Menschen, die nun allem Wandel der Zeit gewachsen waren; ihnen gehörte etwas von der prophetischen Kraft zu, immer und überall im Eigenen zu beharren. Nur die Menschen besaßen dies, die der Besonderheit ihrer Religion und der Auserwähltheit ihres Lebens so gewiß waren, daß diese Gewißheit es stets vermochte, ihrem Dasein eine unbeugsame Kraft zu geben, ihrer Zukunft eine unabänderliche Bürgschaft zu sein. Durch das große Gebot der Entscheidung zwischen Israel und Babel sind damals die Menschen gebildet worden, deren Enkel mit Esra den Weg der Trennung gehen konnten, deren Nachkommen die Schlachten der Makkabäer zu schlagen und den 385

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ausdauernden Kampf gegen Rom zu führen imstande waren. Aus ihrer Art und ihrem Wesen sind die Menschen auch hervorgegangen, welche zu Zeloten, wie die, welche zu Essenern geworden sind. Die Auslese der Geschichte vollzog sich damals. Auslese und Aussonderung führen im Geschichtlichen die, welche sie erfahren und bestehen und damit ihrer selbst bewußt werden, immer zu einer Absonderung. Die Notwendigkeit und ihr Gebot werden in den Willen aufgenommen. Die Erkenntnis der Eigenart wird eine Entscheidung zur Sonderart. So hat es sich im babylonischen Exil vollzogen. Als diese Menschen begriffen, daß ihr Leben und wohl auch das der nächsten Generationen hier münden werde, wurde es ein Erfordernis der idealen Selbsterhaltung, daß sie sich ihr eigenes Gebiet zu schaffen suchten, um in ihm das eigene Leben zu haben. Inmitten alles dessen, womit die babylonische Kultur anzog, mußten sie sich diesen Bereich, diese Gemeinde gestalten. Nur in einem Umkreise des Geschiedenen konnten sie innerlich gesichert bleiben, konnten sie sich erhalten als die, die sie sein sollten, damit sie in Babylon seien und doch im Judentum, damit sie das erfüllten, was der Prophet Jeremia den Exilierten feierlich verkünden hieß: »Trachtet nach dem Frieden der Stadt, dahin ich euch habe fortführen lassen, und betet für sie zum Ewigen, denn in ihrem Frieden wird euch Frieden sein«, und dennoch in der »Gemeinde« ihr Leben hätten. Aller Wille zu sich selbst, aller Weg zu einem Erwarteten gewann hiervon seine Aufgabe. Alle Zukunftshoffnung hing davon ab, daß man die Welt des Judentums umgrenzte und dadurch wahrte, daß man um ihretwillen inmitten der neuen Welt entschlossen war, in einer Gemeinde, fast könnte man sagen, wie auf einer Insel zu leben. Die Getrenntheit, gewissermaßen die Verinselung, die Isolierung mußte zum Grundsatz gemacht werden. Mit um so stärkerer Kraft konnte dies geschehen, weil hierin jetzt alles Trachten und Mühen, wofern es nicht nur dem Ich dienen sollte, sein deutliches Ziel fand. Alles, was im alten Lande sonst Energien angelockt und angespannt hatte, alles Verlangen nach Geltung, alles staatliche Interesse, alles Politische und Parteimäßige fehlte hier. Der Wille, der sich bisher so oft nach außen hin fortgegeben hatte, war nun, wenn er über den Bezirk des einzelnen hinaus zu gelangen trachtete, nach innen gelenkt. In der religiösen Eigenart hatte er sein Feld, so oft er über den engen Tag und seine Sorgen hinauszudringen suchte. An die Stelle jedes Strebens nach Macht trat der Wille zur Kraft, die Intensivierung. Zum ersten Male in der Geschichte hat sich hier eine eigentliche 386

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Gemeinde der Religion gebildet. Eine Gemeinschaft bestand hier ohne die Grundlage des ererbten Bodens, ohne den staatlichen Rückhalt, losgelöst von dem, was sonst die Gegebenheit des Zusammenlebens ist und auch ihr es bisher gewesen war, in eine große, wundersame Welt hineingestellt, und doch von der lebendigen Gewißheit der Aufgabe erfüllt, eine Gemeinschaft für sich bleiben zu sollen. Zum ersten Male haben sich hier Menschen außerhalb ihres Landes im Namen der Religion konstituiert. Wohl blieb das Stammesbewußtsein mit der Fülle seiner Erinnerungen und bewies sich als ein Band, welches zusammenfügte, wohl haben die Hoffnungen auf eine Wiedergeburt des Volkes und eine Erneuerung des Staates alle Gedanken von dem Kommenden in die Idee von der Gesamtheit eingeordnet. Aber stärker wirksam als alles das, was so die Vergangenheit gab und die Zukunft zeigte, wurde in diesem Überrest, der die Katastrophe äußerlich überstanden und innerlich überwunden hatte, doch das, was unmittelbar die Gegenwart zusammenhielt, dieses Bewußtsein, um der Religion willen und durch sie unterschieden zu sein und zusammenzugehören. Schon die prophetischen Reden der Zeit, welche jene Erinnerungen und Hoffnungen künden, lassen uns auch dieses Nahe erkennen. Eine Gemeinde des Glaubens ist hier geworden und innerhalb ihrer die Gemeinden; dieselben Worte – eda, kahal, kenesset, zibbur – benannten die Gesamtheit wie die Einzelgebilde. Sie gab das, was bisher und überall sonst nur durch staatliche und politische Verbundenheit gewährt war. Wie jene Aussonderung durch die Auslese, so ist diese in ihr zusammengefügte Gemeinde des Judentums Grundlage, Antrieb und Ziel des Pharisäertums. Von der Gemeinde geht die Bewegung aus, und zu ihr strebt sie immer hin. Der Universalismus, wie ihn die Propheten, vor allem der zweite große Prophet des Exils, der sogenannte zweite Jesaja, verkündet haben, ist dadurch nicht beeinträchtigt worden. Im Gegenteil, auf dem festen Boden, den man sich jetzt bereitet hatte, gewann man den sicheren Standort für ihn und den weiten Horizont. Gerade die Gemeinde und ihre Gemeinden sind der Ausgang für die Mission und sind das Anziehende für die Proselyten gewesen. Die Gemeinde der »Absonderung« ist die Gemeinde der Ausbreitung geworden. Gedanke und Bewußtsein des Universalismus sind in ihr noch zu besonderem Ausdruck gebracht worden dadurch, daß die Idee der Chochma, der Weisheit, hier ihre Gestaltung und Sinngebung, ihren Midrasch erhalten hat. Sie ist alter biblischer Besitz, und schon in der Bibel bezeichnet sie nicht nur das Wissen und Wollen des Guten und Rechten, diese wahre Gottesfurcht, sondern sie erscheint hier 387

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bereits, im achten Kapitel der Sprüche Salomos, als eine Kraft der Weltenschöpfung, als die Vernunft, vermöge deren das All entstanden ist. Gerade diese Bedeutung hat jetzt die Geister erfaßt, und sie hat auch der Bibel ein Neues, das in ihr gefunden werden konnte, gegeben. Denn die Bibel, die Thora, wird jetzt mit der Chochma oft in eins gesetzt. Schon für Josua ben Sirach war dies ein wichtiger Gedanke gewesen, und ist es seitdem ein häufiger Midrasch geblieben: die Thora ist die Chochma, die Chochma ist die Thora. Damit wird das »Buch« zu etwas, was mehr ist als ein Buch; es wird zu einer kosmischen Kraft, von der alle Gestaltung und Formung ihren Ursprung hat. Es wird zu dem, was dann im jüdischalexandrinischen Schrifttum der Logos, der von Ewigkeit her gedachte schöpferische Gedanke Gottes ist. Und auch die Gemeinde dieses Buches wird damit in eine andere Welt emporgehoben; sie wird zu etwas, was von Urbeginn an bestand. Wie in das Denken der »Abgesonderten« die kosmische Weite, der Universalismus der Unendlichkeit eintritt, so auch gewissermaßen in den Raum der Gemeinde. Die Gemeinde hat ihren Platz auf Erden, aber ihre ideelle, fast mystische Erstreckung ins Kosmische. Sie gehört dem Kosmischen ebenso und fast noch mehr zu als der Erde. Darin hat auch ein ganz Eigentümliches des Pharisäertums, der eschatologische Messianismus seinen Grund. Die Lehre vom Messias und von den »kommenden Tagen« war ein altes Gut von den Propheten her; sie war, wie es jetzt zum frommen Worte wird, der »Trost Israels«. Aber sie gewinnt nun die neuen Züge. Schon im Buche Daniel wird es erkennbar, wie sich zu der Spannung zwischen Jetzt und Einst, die für die prophetische Idee vom Messias bestimmend gewesen war, nun die zwischen Hienieden und Droben, zwischen Diesseits und Jenseits fügt. Die beiden Begriffe »diese Welt« und die »kommende Welt« beginnen jetzt das Denken zu beschäftigen. Dieser »kommenden Welt«, der wahren, seienden gehört der Messias an; wenn er hienieden erscheint, wird sie herniedergebracht sein, so daß Diesseits und Jenseits eines werden. Auch der Messias wird so wie die Chochma, wie die Thora, wie der Logos, wie die Gemeinde ein kosmisches Wesen, ein kosmisches Prinzip, vom Anfang an bei Gott, um zum Tage der Erfüllung herniederzusteigen. Mehr und mehr erhält die Lehre vom Messias dadurch die eschatologischen Linien; sie wird zu einer oft wunderlichen, seltsamen Lehre von der Endzeit, von den letzten Dingen. Die hoffende, bangende Frage des Weltenendes ergreift die Gemüter. Ein Kosmisches gelangt damit begreiflicherweise auch in die Sehnsucht hinein, mit der die Gemeinde an diesen Tagen des Einst ihren unmittelbaren, 388

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erlebenden Anteil haben will. Die Vorstellung von einer Auferstehung formt ihre Bilder. Aber das Entscheidende blieben die starken Gedanken von dem kommenden Tag und der kommenden Welt. Aus ihnen sprach ein tiefes seelisches Bedürfnis. Die Idee des Pharisäertums erforderte ihre Rechtfertigung auch vom Jenseits her. Die Absonderung konnte ihren Sinn nicht in sich selbst haben; sie durfte nur ein gebotener Weg zu einem Weltenziel sein, gleichsam ein Weg von dieser Welt zu der kommenden Welt hin. Ein tiefes Verlangen nach dem Letzten – vor allem Josephus bezeugt es – mußte die Pharisäer zu allen Zeiten erfüllen. Sowohl die Absonderung wie die Schriftdeutung erhielt in ihm den Zug zum weiten Unendlichen, Universellen. Neben dieses Kosmische hat sich dann aber hier in eigentümlicher Weise, wieder in der Lehre von der Chochma, ein Humanes gestellt. Denn auch das ist die Chochma, und das bedeutete sie in ihrem Anfänglichen: eine Weisheit, die nicht nur dem Volke der Offenbarung, sondern ebenso »den Völkern« zukommt. In den biblischen Büchern, die ihr gelten, den Sprüchen Salomos, Hiob, Kohelet, spricht sie darum nicht zum Juden nur; sie spricht zum Menschen. Neben jenem Gedanken, der sie mit der Thora in eins setzen will, geht darum immer dieser andere einher, der sie zum Anteil des Menschen macht, mag auch das Buch Hiob die letzte Antwort die offenbarte sein lassen, sie also Gott vorbehalten. Der Name »Mensch« gewinnt hier seine Betonung. Es ist bedeutsam, daß innerhalb des pharisäischen Judentums die Meinung vertreten worden ist, Hiob, dieser Mann, »gerade, rechtschaffen, gottesfürchtig und vom Bösen weichend«, diese Person des Dramas zwischen Gott und dem Ankläger, dem »Satan«, sei ein Nichtjude gewesen. In der Bibel lag schon manches in dieser Richtung; Bileam, der Aramäer, ist der Mann, dem Gott sich kundtut, Kyros, der Perserkönig, ist der »Hirt« des Ewigen, sein »Gesalbter«. Aber zu der entscheidenden Bahn hat dieser andere Begriff der Chochma geführt, dieser ethische, wie er sich neben dem kosmischen weiter entwickelt hat: Weisheit ist die Weisheit des Menschen. Über einen Nichtjuden konnte darum dieser dankbare Segensspruch gesprochen werden: »Gepriesen seist du, Ewiger, der von seiner Weisheit an Menschen gegeben hat.« Die Männer der Absonderung haben es also gelehrt, und auch damit haben sie der Mission einen Weg bereitet. Auch der jüdisch-hellenistische Humanismus hat von dieser Chochma seinen Ausgang genommen. Bezeichnend ist, daß sie damals in Palästina bisweilen – vielleicht um die ethische Chochma von der kosmischen zu scheiden – derech erez, »Weg der Erde«, Weg der Menschheit ge389

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nannt worden ist. Von diesem Wege hat ein späterer Lehrer, sicherlich nach alter Überlieferung, gesagt, daß »er der Weg zur Thora, zu diesem Baume des Lebens ist«. Die Gemeinde der Absonderung konnte so gerade von ihrer Eigenart her die Verbindung mit dem Humanen wahren. In all dieser Weite hatte die Gemeinde zugleich ihr ganz Sichtbares. Sie hat sich schon früh in ihren Gotteshäusern den erkennbaren Platz und den Mittelpunkt bereitet. In dieser Stätte des religiösen Dienstes war allen den Ihren die Zusammengehörigkeit und auch die Geschiedenheit zum Ausdruck gebracht. Durch das Gotteshaus hat die Gemeinde sich gestaltet. Sie hat damit den Untergang des Tempels innerlich, geistig überwinden können, und sie ist dadurch, wie es allem geistigen Überwinden zuteil wird, zu einem Höheren geführt worden. Sie hat sich hier den neuen, den opferlosen Gottesdienst bereitet, sie hat ihr neues Gotteshaus als ein »Haus des Gebetes« erbaut; dieses Wort läßt uns der große Prophet aus der zweiten Generation des Exils zuerst vernehmen. An die Stelle des einen Tempels traten die vielen Synagogen. Eine neue Form des Gotteshauses, die sich dann die Welt erobert hat, ist hiermit geschaffen worden. Wie sehr die Gemeinde und dieses ihr Haus zu einem wurden, zeigt sich daran schon, daß einerseits das Gotteshaus »Haus der Gemeinde«, »beth hakknesset«, heißen durfte und andererseits ein und dasselbe Wort, das Wort »Synagoge«, einst sowohl sie selbst wie auch dieses ihr Haus benannt hat. Durch dieses Neue ist es auch erst möglich geworden, daß die Gemeinde sich in die Gemeinden zerlegte, daß sich also in dem großen Ganzen die kleineren Gebiete mit ihrem besonderen Mittelpunkte bilden konnten, daß so eine organische Gliederung der Gesamtheit erfolgte. Um so stärker vermochte hier dann jeder Einzelne erfaßt werden; er war auch in einen engeren Kreis religiöser Gemeinschaft hineingestellt und mit dessen besonderem Platze immer lebendig verbunden. Während der Tempel nur dem ganzen Volke und nur mittelbar ein Besitztum gewesen war, gehörte die Synagoge jedem in ihm ganz unmittelbar. Gegenüber dem aristokratischen Tempel hat die Synagoge ihr Demokratisches. Jene Intensivierung, die durch die Auslese gebracht worden war, wurde hierdurch erhalten; sie blieb ein Stetiges. Die Bewegung des Pharisäertums ist erst dadurch ermöglicht worden. Sie hatte an der Synagoge ihren Ausgangspunkt und ihren Rückhalt, sie hat ihre Kraft von daher immer geholt. Das Haus des neuen Gottesdienstes gewinnt zugleich seinen Tag. Der Sabbat als »Zeichen zwischen Gott und den Kindern Israels« erhält seine weitere Bedeutung. Er wird der Tag des Gottesdienstes, 390

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und die Synagoge kann das »Haus des Sabbats« auch genannt werden. Und er wird damit zum Tage des »Buches«, wie sie zum Hause des »Buches« nun wird. Die Heilige Schrift wird Sabbat um Sabbat im Gotteshause verlesen; auch darin war eine Form geprägt, die sich dann, über das Judentum hinaus, in den Zeiten fort und fort gestaltet hat. Die heiligen Schriften sind jetzt zur Schrift des Volkes geworden, zum Besitztum jedes Einzelnen. Auch darin vollzieht sich eine demokratisierende Bewegung. Als Buch des Gottesdienstes ist die Bibel kein bloßes Priestereigentum mehr und auch kein bloßes Buch. Wie der Dienst des Gebetes ist der Dienst des Buches allen anvertraut; auch hier ist jeder der Priester. Die Thora, welche vorher Thora der Priester gewesen war, ist jetzt die Thora des Volkes. Sie ist nun, wie die griechische Bibel das Wort aus dem Segen des Moses überträgt, »das Erbe für die Gemeinden, die Synagogen Jakobs«. Durch die Synagoge und ihr Buch ist das besondere Recht des Priestertums ganz eigentlich beseitigt worden. Es war allerdings ein hoher Preis, der gezahlt werden mußte. Denn wenn das Buch zum Buche des Volkes und das Volk damit zum Volke des Buches wurde, dann war nicht nur das Priestertum, sondern doch auch die Prophetie, welche dieses Buch geschaffen und ihr Eigenstes in dasselbe hineingelegt hatte, fortan ganz wesentlich ihres eigenen Platzes, ihrer einstigen Bedeutung enthoben. Sie war jetzt im Grunde überflüssig geworden. Die religiöse Wahrheit entsprang nun diesem Buche; dieses Buch hatte die Obhut über die Reinheit der Quelle. Und wenn dem so war, dann mußte hinter ihm die Prophetie zurücktreten und schließlich hinter ihm schwinden. Es ist kennzeichnend, daß das Wort »darasch«, das in der Bibel der Ausdruck für das Befragen und Suchen Gottes gewesen war, jetzt der eigentliche Ausdruck für die Befragung und Erforschung der Schrift geworden ist. Die religiöse Persönlichkeit erhält jetzt ihre Geltung nicht mehr oder wenigstens nicht nur durch sich selbst, durch ihre religiöse Kraft, sondern durch ihre Beziehung zu diesem Buche. Das Buch gab jetzt die Beglaubigung. Ein Wort im jerusalemischen Talmud sagt dies deutlich: »Prophet und Schriftgelehrter sind Gesandte Gottes; der Prophet bedarf des Siegelzeichens von Gott, des Zeichens und Wunders, der Schriftgelehrte bedarf dessen nicht, denn er beweist sich durch die Thora.« Dieses Wort stellt den Gang und das Ergebnis der Entwicklung richtig dar. Der Prophet wird durch den Schriftgelehrten abgelöst. Durch die Autorität der Schrift erhält der, der sie lehrt, seine bestimmte Autorität. Es ist dem durchaus entsprechend, wenn das Evangelium seinen Messias nicht nur durch die Wunder, die es von ihm berichtet, bezeugt sein läßt, sondern vor al391

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lem durch das Wort des Buches. »Gemäß der Schrift«, »damit erfüllt werde, was geschrieben steht«, das ist hier immer der letzte Beweis. Die Anfänge dieser Entwicklung reichen allerdings schon in eine frühe Zeit, schon in den Beginn des Exils hin. Es ist nicht nur eine Verschiedenheit des Bildes, sondern ein Unterschied, der eine Entwicklung bezeichnet, wenn Jesaja um seine Sendung erfährt, indem er seine Lippen mit glühender Kohle berührt fühlt und die Botschaft Gottes hört: »Wen soll ich schicken, wer wird für uns gehen?«, wenn auch Jeremia diese Gewißheit ebenso empfängt: »Der Ewige streckte seine Hand aus und ließ sie meinen Mund berühren, und der Ewige sprach zu mir: siehe, ich habe meine Worte in deinen Mund gelegt; siehe, ich habe dich heute über die Völker und über die Reiche entboten«, wenn dann aber Jecheskel an den Wassern Babels seine Berufung also erlebt: »Ich sah eine Hand zu mir ausgestreckt, und siehe, in ihr die Rolle eines Buches, … und er sprach zu mir: Sohn eines Menschen, was da vor dir ist, iß; iß diese Rolle, und geh, sprich zum Hause Israel.« Die Hand, die dem Jesaja, dem Jeremia die Lippen berührt, das Wort in den Mund gelegt hatte, reicht nun dem Jecheskel das Buch. Es ist, wie wenn hier sich in dem Manne des Wortes schon etwas von dem Manne des Buches, in dem Propheten etwas von dem Sopher, dem Schriftgelehrten, kündete. In Jecheskel ist der Prophet noch der Bestimmendere gewesen; in Esra, der unzweifelhaft auch seine prophetischen Züge hat – das Targum hat ihm die prophetischen Reden des Maleachi zugeschrieben –, tritt der Mann der Schrift stärker hervor. Der freie religiöse Antrieb ist durch diese Entwicklung allerdings nicht gehemmt oder gar aufgehoben worden. Er hat auch fernerhin, wenn schon in anderer Weise, seinen Weg gehabt. Dort, wo der Prophet gewesen, stand jetzt doch nicht nur der Schriftgelehrte, sondern auch der Psalmist und der Dichter des Gebetes. Und vor allem, eine starke religiöse Selbstgewißheit, etwas von dem, was in den Propheten gelebt hatte, konnte jetzt wie in der Gemeinde so in dem Individuum lebendig werden. Schon davon her war ein Eigenes, Eigentümliches gewährt, daß sich die Gemeinde auf dem Individuum und den Leistungen seines Persönlichen aufbaute. Während der Tempel ein Gegebenes, eine von Gott erwählte Stätte war und so etwas bedeuten sollte, was nicht Menschen geschaffen hatten, war die Synagoge ganz eigentlich das Werk von Menschen; sie war von persönlichem Willen und persönlichem Wirken abhängig. Während der alte Kultus Sache des Volkes war, ist der neue Gottesdienst Sache jedes Einzelnen. Das Individuum gewann durch die Synagoge seinen Platz. 392

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Dieser Wert jedes Einzelnen erhielt nun aber seine außerordentliche Betonung, fast eine Vollendung dadurch, daß jeder Einzelne die Thora zu eigen gewinnen konnte. Jeder Einzelne konnte sie in seinem »Munde und Herzen« wissen, so daß er im Namen des Gottesbuches und damit gewissermaßen im Namen Gottes sprechen durfte. Das Wort des Deuteronomiums »nicht im Himmel ist das Gebot« gewann jetzt sein ganzes Pathos. Der Mensch konnte sich und sein Wissen um die Wahrheit nun selbst dem, was als ein Wunder vor ihn hintrat, gegenüberstellen. Seine Erkenntnis konnte nun mehr gelten als eine Bat Kol, eine Stimme von oben. Das Wort Gottes ist in dem Buche, und es fordert und behält gegenüber allem sein Recht. Das »hier stehe ich, ich kann nicht anders« hat von daher seinen stärksten Ausdruck gewonnen. Das Martyrium, an dem diese ganze Zeit so reich ist, besitzt darin eine seiner Wurzeln; auch die Gewißheit von den Worten des Zeugnisses hat die Glaubenszeugen geschaffen. Aber es war hier noch ein Weiteres, wovon der Einzelne eine religiöse Kraft empfing. Ihm war das Buch, das ganze Buch übergeben, und damit war auch das ganze Gebot ihm anvertraut. An einen jeden wandte sich das große, stete Fordernde der Bibel, ihr großes, stets »Du sollst«; ihm war das Gesamte der religiösen Pflicht zugeeignet. Damals ist das Gebot dem Juden zum Besitztume des Lebens geworden. Der starke Ernst, mit dem die Bibel den Willen ergreift, so daß der Mensch nun wissen muß, daß er von Gott geschaffen und in der Hand Gottes ist und daß er doch zur Wahl der Pflicht, zur ganzen Erfüllung vor Gott gesteht, dieser Ernst des Lebens ist jetzt zum Wesenszuge der Gemeinde geworden. Was Josephus von den Pharisäern sagt, daß sie an die göttliche Fügung und doch auch an die Freiheit menschlicher Entscheidung glauben, und was später Rabbi Akiba in den Satz faßt: »Alles ist bestimmt, aber die Freiheit ist gegeben« – es ist nichts anderes als die große Paradoxie, in der die Bibel lebt, daß vor das Geschöpf, das Gebilde Gottes, doch das Gebot, das nie ganz erfüllte, aber immer fordernde gestellt ist. So haben die Pharisäer das Buch begreifen gelehrt. Nur wenn auch dies alles in den Blick genommen wird, kann das Pharisäertum in seinen Voraussetzungen und seiner Eigentümlichkeit verstanden werden. Von einem her empfing das Wort des Buches ein ganz Besonderes noch. Die Bibel gewann nämlich jetzt einen sakralen Charakter dadurch auch, daß die Sprache des Tages in Babylon und ebenso dann in Palästina eine andere, die aramäische, wurde, und das Hebräische, die Sprache der Bibel, so die »Sprache des Heiligen« werden konnte. Auch dies trug dazu bei, daß die Bibel die Heilige Schrift ge393

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worden ist. Die Distanz des Sakralen, diese Heiligkeit, die hierin gegeben ist, war ihr jetzt gewährt; sie war nun schon dadurch über alles Profane erhoben. Und auch denen, die sie besaßen, war etwas davon verliehen. Ein Eigentümliches, fast etwas Sakrales, ein Absonderndes schien ihnen ebenfalls durch diese Besonderheit der Sprache gegeben zu sein. Neben der Sprache, welche sie mit den anderen ringsherum verband, hatten sie diese, welche von ihnen schied. Auch das hat dazu beigetragen, daß sie eine »Gemeinde« waren. Aber vor allen war dadurch nun auch wieder die Wissenschaft vom Buche verlangt; ihr war der notwendige Weg gewiesen. Denn wenn die Bibel das Buch für das Volk sein sollte, dann mußte sie zu seiner Sprache hingebracht, zu seinem Verständnis hingeführt werden. Das Erfordernis der Übersetzung stellte sich ein, und alle Übersetzung ist eine Kommentierung; sie mußte es hier vor allem sein, wo der Inhalt zumeist so weit vom Alltäglichen war. Die Schrift begann des Schriftgelehrten zu bedürfen. In der Übersetzung, dem Targum, ist bereits der Midrasch; Halacha wie Haggada, beide sind in ihr schon vorhanden. Aufgabe und Mittel einer steten Erneuerung traten hiermit zur Bibel hin; Targum und Midrasch haben es verhütet, daß sie im Sakralen erstarrte. Sie sollte zur Sprache der Menschen hingeleitet werden, und sie hat daher immer wieder innerlich erfaßt, immer wieder erworben werden müssen. Ihr Inhalt konnte nie ein Fertiges, ein Abgeschlossenes sein. Ein erstes Erfordernis der »mündlichen Lehre« war so dadurch schon gegeben, daß die Sprache der Bibel die andere als die des Tages war. Jene »Genauigkeit«, wie sie dann dem Pharisäertum zukam, hat hier einen Anfang. Es ist eine neue Formung, welche derart das Judentum durch die Loslösung von seinem alten Boden, durch die neuen Lebensbedingungen und Lebensaufgaben, in die das Exil es hineinstellte, erfahren hat. Alles, worin das Pharisäertum seine Eigentümlichkeit erweist, hat in diesem Neuen seine Voraussetzungen und gewinnt von ihm aus seine Richtung. Aber seine eigentliche historische Erscheinung, seine stete Gegenwärtigkeit besitzt es, wie schon gezeigt, erst in Palästina. In Babylon hatte jene neue Gestaltung sich, soweit wir zu erkennen vermögen, ohne wesentlichen Kampf, nur aus der inneren Logik hervor, vollzogen. Hier ist sie darum ja auch in ihrem Eigenen sehr bald wieder stehengeblieben; sie ist lange hin arm an hervortretenden Männern gewesen. Sie ist hier arm auch an Haggada, an diesem lebendigen Zeugnisse geistigen Kampfes. In Palästina dagegen stellte sich der Konflikt mit seinem Gebote der Auseinandersetzung sehr bald ein. Das Land der Väter wurde immer wie394

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der ein Schlachtfeld im Ringen der Geister wie ja auch in dem Streiten, in dem das Blut vergossen ward. Durch diesen, sich immer wiederholenden, Konflikt, der zum Kriege mehrmals geworden ist, ist das Pharisäertum gebildet worden, in ihm hat es sich entwickelt. In ihm hat es die wirksame Energie seiner Grundsätze, die Folgerichtigkeit und Beharrlichkeit seines Denkens gewonnen, in ihm die Mannigfaltigkeit seiner Ideen und seinen Reichtum an Persönlichkeiten erhalten. Das eigentliche Pharisäertum gehört zu Palästina und seiner besonderen Geschichte. Was Palästina vorerst fügte, war freilich weniger der Konflikt als die Fortsetzung jener Auslese, die nur das Standhafte und Feste übrig ließ. Sie hat sich immer neu vollzogen. Zunächst geschah es, als die aus dem Exil Heimkehrenden ihre Wohnsitze, die sie sich bereiteten, von den »Völkern der Länder« umfaßt und sich in die Verbindung mit diesen hineingestellt sahen. Da jeder Weg zu ihnen hin ein Aufgehen unter ihnen werden mußte, galt es, um der Besonderheit willen gegen sie zu sein, jedes Bündnis, welcher Art immer, abzuweisen und, wo es erfolgt war, zu lösen. Die erste Auslese im neuen Palästina war das Werk zweier starker Persönlichkeiten, des Esra und des Nehemia, die es als ihre Aufgabe erkannt hatten, den Geist der Gemeinde nach Palästina zu führen und ihn dort durchzusetzen. Damals sind die Juden des Landes zu »Nibdalim«, zu Abgesonderten gemacht worden. Die andere Auslese vollzog sich in der neuen Epoche, als durch den Siegeszug Alexanders Vorderasien und Ägypten, zwischen deren Erstreckung Palästina lag, zu einer hellenistischen Welt geworden waren. Bisher war das Antlitz Palästinas nach Osten gekehrt; es wurde jetzt nach dem Mittelmeere hin gewendet. Der Hellenismus lenkte die Blicke, die Gedanken und schließlich die Menschen zu sich hin. Im Makkabäerkrieg, in seinem geistigen, seelischen Ringen vor allem, ist der große Entscheidungskampf um das Eigene mit dieser neuen Welt geführt worden. Er hat die weitere Auslese bewirkt. Auch er hat wieder Menschen der Absonderung geschaffen, die entschlossen und fähig waren, ihre eigene Welt festzuhalten und auszubauen. Diese makkabäische Zeit hat äußerlich wie innerlich am stärksten gewirkt, in ihr ist das eigentliche Pharisäertum zuerst historisch in die Erscheinung getreten. Aber andauernder noch hat sich die Auslese fortgesetzt, als die entarteten Enkel der Makkabäer den inneren Streit in das Land brachten und als Rom dann in die Geschichte Judäas eindrang und dessen Geschöpfe und danach dessen Beamte die Herrscher im Lande wurden. Der Kampf um das Eigene des Daseins ist damals zu einem stetigen geworden; die Beständigkeit der Ener395

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gie war verlangt. Sie hat die Richtung des Pharisäertums auch zu einer zwiefachen Nebenrichtung geführt, die neben dem Hauptwege einherging. Die eine war die der Zeloten. Sie wollten den Kampf mit dem Schwerte führen, wie die Makkabäer einst; sie waren im Motiv, wenn auch nicht im Erfolg, deren Nachfolger. Die andere war die der Essener. Sie wollten den Kampf bestehen, indem sie jedem Gewaltherrscher seine Stätte überließen und fernab in den Steppen am Rande des Landes wohnten. Stimmungen, die von der Gestalt des Propheten Elia ausgingen, Überlieferungen und Gedanken von den alten Rechabiten her, die ein Haus nicht bauten, Saat nicht säten, einen Rebgarten nicht pflanzten, in Zelten wohnten alle ihre Tage (Jer 35), Gedanken, die im Volke wohl nie ganz geschwunden sind, Gedanken und Stimmungen der Gegnerschaft gegen die Stadt und ihre Gebilde, Empfindungen der Sehnsucht nach der Natur und ihrer Unmittelbarkeit, nach dem freien Zelte, das den Vätern, als sie Gott »in der Wüste nachgingen«, in den Tagen der Offenbarung, ihr Haus gewesen war, schwangen darin mit. Es hat sicherlich auch nicht an Auseinandersetzungen gefehlt, in denen die Außerordentlichen hüben und drüben es den Gemäßigten vorhielten, daß sie mit dem Ideale nicht genug Ernst machten. Aber sie alle waren und blieben doch in derselben, der pharisäischen Richtung; durch die Forderung einer »Absonderung« wollten sie alle das Gebiet des Eigenen sichern. Die Auslese und der Wille zu ihr, die Absonderung, treten hier wie dort bestimmend hervor. Zu der Auslese kam aber, wie gesagt, der Konflikt. Es war zunächst der mit den Priestern und ihren Rechten und ihren Traditionen, der Konflikt zwischen Synagoge und Tempel. In Babylon hatte sich ein solcher Zwiespalt nicht auftun können, denn dort stand den Synagogen innerhalb der Gemeinde nichts gegenüber. Dort waren die Priester, die dort lebten, Personen, doch kein Stand und Amt. Aber hier, in Palästina, war neben den Synagogen und über ihnen der neue Tempel, den die Heimgekehrten erbaut hatten, und seine Priester waren vornan im Volke. Sie waren in den Tagen, in denen nach dem Exil das neue Gemeinwesen in Palästina errichtet wurde, Baumeister und Helfer gewesen; sie waren in den Tagen, in denen später gegen Griechlingstum und Fremdherrschergewalt der Kampf geführt werden mußte, Wegbereiter und Helden geworden. Josua ben Jozadak, der Führer der Heimkehrenden, und Secharja, ihr Prophet, und dann Esra, der Schöpfer der neuen Gemeinde, sie alle waren ja aus dem Priestergeschlecht, und ihm gehörten ja ebenso die Makkabäer zu, die den neuen, den freien Staat dann erstritten. Auf dem Boden Palästinas hatten die Priester ihren Platz, den nicht nur 396

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ein Erbe und ein Amt ihnen gewährt, sondern geschichtliche Leistungen ihnen gegeben hatten. Der Konflikt konnte so nicht ausbleiben. Die zwei Formen des Gottesdienstes konnten nicht einfach nebeneinander sein. Es war zwar der eigentümliche Versuch gemacht worden, sie beide in eine grundsätzliche Verbindung zu bringen, im Gottesdienste das Volk neben die Priester zu stellen. Schon in einer frühen Zeit des zweiten Tempels war die Einrichtung der sogenannten Standgemeinden – maamadot – getroffen worden. Die Bezirke des Heiligen Landes entsandten, wöchentlich abwechselnd, Abordnungen nach Jerusalem, die das Volk bei dem Opferdienst vertraten, um ihn deutlich als Leistung der Gesamtheit erscheinen zu lassen. Und viermal täglich hielten dann diese dort, und ebenso daheim die Zurückgebliebenen, einen Gottesdienst durch Gebet und Schriftvorlesung ab. Allein auch ungewollt vollzog es sich doch, und es war wie eine innere Logik, daß der eine Gottesdienst die Bedeutung des anderen zurückzudrängen suchte, vor und über ihm sein wollte. Wenn die Pharisäer den Tempel auch anerkannten, denn ihn schrieb ja das »Buch« vor, und mit ihm war die Geschichte verknüpft, von der dieses erzählte, wenn sie für seine Verteidigung auch Reihe in Reihe mit den Priestern standen, der Gegensatz konnte nie ausbleiben. Er mußte sich immer wieder daraus ergeben, daß sie beide, Tempel und Synagoge, ihre Stätte im Lande hatten und ihre allgemeine Geltung forderten. Als die Männer der Synagoge stehen die Pharisäer den Männern des Tempels, den Sadduzäern, gegenüber. Einen starken Bundesgenossen hatten allerdings diese Letzteren. Vom Tempel und von seinem Opfer sprach die Bibel, sprach besonders das Buch, das in ihr am meisten kanonisch war, die Thora, von den Gebeten sprach sie nicht. Das Gebet der Synagoge war so nicht »biblisch«, nur das Opfer war es. Auf das Wort der Schrift konnten sich die Priester berufen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß gerade hiervon im Pharisäertum jenes Erfordernis eines Hinausgehens über das Wort, einer Sinngebung und Erläuterung der Bibel, einen wichtigen Anstoß erfahren hat. Der Gottesdienst der Synagoge hat sich durch den Midrasch, durch die »mündliche Lehre« erst erweisen müssen; er mußte durch ihn, wie bereits aufgezeigt, es darlegen, daß Gebet und Verkündigung der Schrift in Wahrheit die Aboda, der Gottesdienst seien. Auch dadurch gehören Synagoge und mündliche Lehre zusammen. Aber auch das ist begreiflich, wie sich der Konflikt dadurch vertiefen mußte. Der Gegensatz, der im Gottesdienstlichen bestand, mußte in die Art und Weise des Verständnisses der Bibel, in die gesamte Begründung der Religion hinuntergreifen. 397

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Hierzu trat ein weiteres. Richtete die Idee der Absonderung, wie es durch das Pharisäertum geschah, an alle ihr Gebot, dann war fortan für eine eigene priesterliche Absonderung kein Raum mehr gelassen. Diese pharisäische Idee hatte im Judentum zudem ihr Klassisches. In ihr war im Grunde nur die alte Forderung aufgenommen, welche, im zweiten Buche Mosis, die Offenbarung am Sinai einleitet: »Ihr sollt mir ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk sein!« (19,6) – oder wie das Targum übersetzt: »Ihr sollt meinem Namen Könige, Priester und ein heiliges Volk sein!« Mit diesem Gedanken von dem Priestertum aller, dem das Pharisäertum jetzt seinen ganzen verbindlichen Sinn und Anspruch geben wollte, vertrug sich in der Tat kein priesterliches Sonderrecht. Ein Buch, das die Befreiung des Tempels und die Taten von Männern aus dem Priestergeschlecht preist, aber auch von dem erwachenden pharisäischen Geiste schon bewegt ist, das zweite Makkabäerbuch spricht denn auch in einem feierlichen Sendschreiben, mit dem es beginnt, den Gedanken dieses Bibelsatzes deutlicher noch aus: »Gott ist es, der sein Volk gerettet hat, er, der allen das Erbe gegeben: das Königtum und die Priesterschaft und die Heiligung, wie er es durch die Thora verkündet hat« (2,17). Und dieser Ausdruck »Heiligung« ist der nämliche wie der, welcher dann in das Wort »peruschim« übertragen worden ist. Wenn derart die »Heiligung« allen zugesprochen wird, so ist damit deutlich gesagt, daß eben nicht nur die Priester peruschim sein sollten, sondern daß alle im Volk hierzu bestimmt seien. Das Pharisäertum, die perischut, die anfänglich eine priesterliche Verpflichtung nur war, war hier dem ganzen Volke zugewiesen. Man hat damit auch Ernst gemacht. Vorschriften der Reinheit und Speisevorschriften, die an den Priester allein gerichtet waren, hat man zur Satzung für das Volk werden lassen – auch hierin wieder, in diesem Pharisäertum neben und gegenüber den Priestern, hat die »mündliche Lehre«, die erläuternd und begründend im Alten schon das Neue entdeckte, eine Aufgabe und ein Gebiet erhalten. Nicht nur ein Priesterrecht war gefordert, sondern priesterliche Erschwerung war auch übernommen. Priestertum und Heiligung waren darin auch vom Volke für sich herangeholt, und viel von dem, was die Männer des Tempels vom Volke abhob, war damit niedergelegt. Auch das bedeutete einen Widerstreit gegen den Priesteradel, das Sadduzäertum. Synagoge und Tempel waren hier wiederum gegeneinander gestellt. Das Wesentliche oder zum mindesten das stets Gegenwärtige des Gegensatzes von Pharisäern und Sadduzäern hat deshalb auch aufgehört, als der Tempel mit seinem Priesterdienst nicht mehr da war. 398

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Seine ganze Schärfe hatte dieser Gegensatz begreiflicherweise in den Zeiten gehabt, in denen das priesterliche Privileg und die Bedeutung des Tempels als Mittel und Hilfen der Macht hatten dienen müssen. Als die hellenistischen Hohenpriester, danach die aus den letzten Generationen der Hasmonäer, dann die, welche die Werkzeuge des Herodes und der römischen Statthalter waren oder sein sollten, aus eigenem oder übertragenem Recht ihres Amtes walteten, als sie und alle ihre Genossen im Tempel schalten durften, mußte der Gegensatz zu ernster Gegnerschaft und bisweilen zu offener Feindschaft werden. Um so stärker mußte dann das, was die Synagoge als das Ihre hütete und wahrte, von liebevollem Eifer umfangen sein. In ihr hatten die Pharisäer ganz ihr Eigentum. Sie sind von ihr geschaffen worden, und sie haben es ihr gedankt durch die Treue, mit der sie zu ihr hielten. Sie haben es bewirkt, daß, als der Tempel, der zweite nun wieder, zerstört worden war, auch in Palästina kein Bruch und keine Leere entstanden. Mit einer fast revolutionären Entschiedenheit haben sie das Recht, die Geltung und die Würde der Synagoge noch weiter erstreckt, so daß sie Gütern des Tempels die Aufnahme gewähren konnte. Die Synagoge sollte nun auch der Tempel sein; nur das Opfer, dessen Stätte er gewesen war, aber nichts anderes sollte ihr fehlen. Es ist in der Tat wie ein Revolutionäres, daß alsbald, nachdem der Tempel in Flammen aufgegangen war, einer der Führer des Pharisäertums, Jochanan ben Sakkai, nicht nur gedanklich, sondern ausführend, kraft des Rechtes zur Verordnung, zur Takkana, Wesentliches von dem, was dem Tempel zugestanden hatte, auf die Synagoge und ihre Inhalte übertrug. Es ist wie ein Revolutionäres, daß der Versöhnungstag, der vermöge der eindeutigen biblischen Bestimmung ein Tag des Tempels, des Hohenpriesters und seines Opferdienstes war, nun ein Tag der Synagoge und ihrer Männer wurde; es war, wie wenn ein wesentliches Stück einer bestimmten Satzung der »Priesterthora«, des dritten Buches Mosis, die dort als »Satzung für immer« bezeichnet ist, aus ihrem deutlichen Bezirke herausgenommen und verpflanzt worden wäre. Es ist wie ein Revolutionäres, daß ein Pharisäer der folgenden Generation, Simon ben Jochai, die »Schechina«, das »Wohnen« Gottes, das fast ein jedes Buch der Bibel mit dem Tempel verknüpft hatte, mit der Synagoge und dem Lehrhause verband, und nun erklärt wurde, daß, wo immer Juden zur Andacht und zur Thora versammelt seien, wo immer sie eine Gemeinde bildeten, der Ewige dort unter ihnen sei, der Ewige dort »wohne«, wie er im Tempel gewohnt hatte; es war, als würde gleichsam der ewige Gott selbst von seiner Gemeinde, aus der alten Stätte seines Tempels fort, 399

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in ihr Haus geführt. Aber so umwälzend das alles im Grundsätzlichen war, es war doch, auch in seinem letzten, nur eine fast selbstverständliche Schlußfolge. Die vorangegangene Zeit hatte es schon vorbereitet, sie hatte die eigentlichen Antworten bereits gegeben, zu denen sich diese letzten nun fügen konnten. Auch das eine braucht hierfür nur als besonderes Beispiel hingewiesen zu werden, daß schon in der Zeit, da der Tempel stand, der Priestersegen in den Gottesdienst der Synagoge hereingeholt worden ist. Nur äußerlich betrachtet, vollendet erst der Fall des Tempels den Sieg des Pharisäertums. Der Sieg über den Tempel war tatsächlich schon vorher ein endgültiger. Aber es ist ein Eigenartiges: der Tempel in Trümmern wird schließlich einflußreicher als der Tempel in seinem Bestand. In der Zeit, wo er vor den Augen war, konnte immer wieder ein Gegensatz gegen ihn hervortreten. Als seine Wirklichkeit dann auch dem Blikke der Erinnerung mehr und mehr entschwand, durfte er sich gleichsam wieder aufrichten; er wird nun nach und nach zu einem Sinnbilde der Vergangenheit und damit auch sehr bald zu einem Traume von der Zukunft. Es entsteht allmählich eine Romantik des Opferdienstes, und in den Gebetsformeln findet sie ihren Ausdruck. Der Generation, die den Untergang des Tempels erlebte, hatte Jochanan ben Sakkai noch gesagt, daß Israel eine Sühne habe, die so viel bedeute wie das Opfer; denn es habe das Wohltun. Nach Jahrzehnten, zur Zeit Hadrians, erklärte in gleicher Weise Rabbi Jonathan, daß die Beschäftigung mit der Lehre soviel gelte wie ein Opfer, daß sie das Opfer sei, das überall dargebracht werden könne. Ein Jahrhundert danach sagte ebenso der führende Lehrer, Jochanan ben Nappacha, und ähnlich sein Genosse, Simon ben Lakisch, wer sich mit der Thora befasse, sei denen gleich zu erachten, die sich mit dem Opferdienst befaßt hätten, er sei einer von denen, »die dem Ewigen dienen, die im Hause des Ewigen stehen«, und ein babylonischer Lehrer der Zeit hatte hinzugefügt, wer der Thora beflissen sei, der bedürfe der Opfer nicht. Aber allmählich wird der Ton ein anderer, schon Johanan ben Nappacha hatte ihn gelegentlich angegeben. Es wird jetzt, in einschränkendem Worte, der gerühmt, der sich mit den Vorschriften des Opferdienstes beschäftigt, und er allein wird gepriesen als einer, der denen gleich gelte, welche einst die Opfer dargebracht haben. Jedoch dies alles ist spätere Romantik. Man hatte ferner im Kreise der Pharisäer sehr bald es eingeschärft, peinlich die alten Vorschriften über die Abgaben zu wahren, die den Priestern und ihren Helfern, den Leviten, zukamen. Man erkannte als »chaber«, d. i. als Mitglied der Gemeinde, der »Bruderschaft«, des 400

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»cheber« – das entsprechende griechische Wort »adelphotes« besitzt auch das neutestamentliche Schrifttum –, nur den an, der es auch mit diesen Bestimmungen genau nahm; die sich ihnen entzogen, wurden nicht als zur Gemeinde gehörig angesehen und mit absprechendem Ausdruck als »Volk des Landes«, »am haarez«, bezeichnet. Die Männer, die dem Tempel gedient hatten, und ihre Nachkommen sollten nicht dessen beraubt sein, was ihnen als ein Unterhaltserbe zugestanden hatte. Aber das war ein Akt der Treue, und er galt weniger dem Tempel selbst als vielmehr den Menschen, die an ihm den persönlichen Anteil gehabt hatten. Den Tempel hat die Synagoge der Pharisäer nicht bloß im Äußerlichen der Zeit überdauert, sondern im Geschichtlichen des Gedankens überwunden. Der Konflikt war jedoch nicht allein der mit ihm. Auch ein anderer trug sich im Pharisäertum aus, der zwischen der Gemeinde und dem Staate. Er kam nicht davon her, daß das Opfer der staatliche Kultus war und Gebet und Schriftvorlesung der Kultus der Gemeinde waren. Der Grund des Konflikts ist hier ein tieferer. Überall, wo eine Gemeinde mit ihrer Entschiedenheit in den Staat hineingestellt ist, erfährt sie früher oder später einen Gegensatz zu ihm. Sie will ein idealer, unsichtbarer Staat sein und kehrt sich damit, auch ungewollt, gegen den sichtbaren Staat mit seinen Mängeln und seiner Politik. In neuerer Zeit läßt, zum Beispiel, die Geschichte der englischen Kongregationalisten und Presbyterianer dies deutlich sehen. Zunächst allerdings war dieser Gegensatz in Palästina noch nicht vorhanden gewesen. Das neue Gemeinwesen im Lande der Väter entbehrte vorerst der staatlichen, politischen Selbständigkeit; es war unter der Oberhoheit von Großmächten. Man war so in einem Staate, aber war doch, trotz aller gefügten und geschlossenen Gemeinschaft, kein Staat; man erlebte keine staatlichen Probleme und Nöte, man konnte und durfte sich als Gemeinde nur fühlen. Zudem wurde der fremde Staat, sein Befehlen und Bedrücken, nicht in zu Vielem und zu Häufigem erfahren; man wußte sich in ihm zumeist mehr geborgen als beengt. Das persische Reich, dem das neue Palästina für die ersten beiden Jahrhunderte zugehörte, und ebenso dann, im folgenden Jahrhundert, das ägyptische Reich der Ptolemäer traten unmittelbar nur wenig und selten in das Leben des jüdischen Landes ein. Dies änderte sich unter den syrischen Seleuciden, die danach für eine kurze Zeit das kleine Land an sich rissen und auf ihm lasteten, und es wurde grundsätzlich anders in der Epoche der Hasmonäer, dem Jahrhunderte der Selbständigkeit. Man hatte nun den eigenen Staat, den Staat, an dem man den persönlichen, frohen oder 401

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schmerzlichen Anteil hatte und für den man eine Verantwortung trug. Und dieser Staat stand unter Priestern; der Hohepriester war der Herrscher, die vornehmen Priestergeschlechter, die Sadduzäerfamilien, waren meist der Kreis seines Vertrauens und der staatlichen Ämter. Der Gegensatz gegen die Priester mußte jetzt einen neuen Akzent erhalten, den des Gegensatzes gegen das Priesterregime. Der Konflikt mit diesem Staate mußte früher oder später ausbrechen, um so heftiger, je weniger der Herrscher, diese Personifikation des sichtbaren Staates, dem Ideale entsprach. Er wurde ein dauernder Zwiespalt, als dann ein nur äußerlich dem Volke und der Religion Verbundener, Herodes aus dem idumäischen Nachbarvolke, den die klug erworbene Gunst der Römer zum Herrscher gemacht hatte, und danach die Römer selbst mit ihren Prokuratoren Gebieter und Zwingherren über das Land geworden waren. Ihnen allen gegenüber hat sich gewiß die Gemeinde schon früh organisiert. In den »Kapiteln von den Vätern«, in denen das Pharisäertum, als es gesiegt hatte, Alter und Stetigkeit seiner Geschichte aufzeigen wollte, sind an den letzten der »Großen Gemeinde«, Simon den Gerechten, und an den, der von ihm »die Überlieferung empfing«, Antigonos aus Socho, fünf Paare als weitere Träger der Überlieferung angeschlossen: Jose ben Joeser und Jose ben Jochanan, Josua ben Perachja und Nittai aus Arbel, Jehuda ben Tabbai und Simon ben Schetach, Schemaja und Abtalion, von denen beiden auch Josephus erzählt, und zuletzt Hillel und Schammai. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Männer jeweils die Häupter der Gemeinde gewesen sind. Der Mann, mit dem diese Reihe abschließt, Hillel, war zur Zeit des Herodes aus Babylon gekommen, ein zweiter Esra, und hatte der Thora neuen Sinn und neuen Inhalt, neuen Midrasch geben gelehrt. In seiner Familie, die auf den König David ihren Ursprung zurückführte, hat sich dann die Gemeinde, gegen das Haus des Herodes, ihre eigene Dynastie geschaffen. Hillel galt als der Fürst der Gemeinde; es ist wohl kaum ein Zweifel, daß sie in ihm den geheimen Gegenkönig gegen Herodes haben wollte, einen Legitimen gegenüber dem Usurpator. Sicherlich ist denn auch ein geschichtlicher Kern in der talmudischen Erzählung, daß Jochanan ben Sakkai vor dem Falle Jerusalem darauf bedacht war, den Sproß der Familie, den künftigen Fürsten, Gamliel, den späten Enkel des gleichnamigen Lehrers des Apostels Paulus, rechtzeitig zu retten. Es ist verständlich, daß das Pharisäertum, wieviel mehr es auch war als eine bloße Vereinigung, doch als eine Gemeinschaft, die im Volke stand, nach einem Einfluß im Staate getrachtet hat. Die alten Berichte lassen erkennen, daß dieses Streben vornehmlich 402

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auf eine Geltung in der obersten Gerichts- und Verwaltungsbehörde, dem Synhedrium, ging. Die politischen Kämpfe zwischen Pharisäern und Sadduzäern hatten jedenfalls das auch zum Ziel. Auch Gegensätze, die sich in der Theorie und der Praxis des Gesetzes ausbildeten, hatten hier eine Richtung. Allein es war nicht nur das, nicht eine bloße Frage von Geltung und Einfluß. Es handelte sich um ein Ernsteres und Tieferes; denn das Pharisäertum war eben mehr als eine Organisation, es bedeutete in Wahrheit eine heroische Forderung. Und jede heroische Forderung, in der sich eine Gemeinde zusammenfindet, geht über den Staat hinaus. Für diese Menschen wurde der Kampf für Gott und sein Gebot oft zu einem Kampfe gegen das Gebot des Staates; ein Vergleich mit Erscheinungen aus näherliegender Zeit, vor allem mit denen des Puritanertums, verdeutlicht es wieder. Der Staat wird immer durch die Staatsräson bestimmt, sie ist, wie es ein Historiker unserer Tage, Friedrich Meinecke erklärt, »die Maxime staatlichen Handelns, das Bewegungsgesetz des Staates«. Und das Pharisäertum ist der heldenhafte geistige Versuch, dem Staate nicht in der Staatsräson, sondern im Gottesgesetze seine Maxime zu geben, die Idee des Staates durch das Ideal der Gemeinde zu bestimmen, ihn, wie Josephus es richtig bezeichnet hat, als »Theokratie«, als Gottes Herrschaft zu gestalten. Daher auch die gewaltige Erwartung, der messianische Glaube in diesen Menschen. Je heroischer die Anforderung, desto stärker die Sehnsucht, der Enthusiasmus. Ein theokratisches Ideal ist nicht, oder war damals wenigstens nicht, ohne die messianische Zuversicht denkbar. Die Spannung, der Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit war zu groß, als daß eine andere als diese heroische Lösung möglich erschienen wäre. Den idealen Staat konnte der Messias allein heraufführen; seiner galt es gewiß zu bleiben, ihm seine Gemeinde zu rüsten, die Gemeinde der »Abgesonderten«, der peruschim. Dieser messianische Enthusiasmus schied, wie die alten Berichte erkennen lassen, von den Sadduzäern, die mit der Staatsräson das Kompromiß geschlossen hatten. Die Pharisäer haben nicht immer das Schwert ziehen wollen, nur einige unter ihnen waren diese Zeloten; aber jenes Kompromiß haben sie immer unbeugsam abgelehnt, sie haben den »Dämon« der Staatsräson sich hinwegheben heißen. Und ihre Sehnsucht war um so inniger, da ihnen, mochten sie auch in dem Staate nicht immer ihr Staatswesen sehen können, dieses Land doch ihr Land war und sein Boden ihnen ein heiliger Boden, den sie zu einem Gebiete der Reinheit, der »Absonderung« machen wollten. Auch über den Staat haben sie gesiegt, mit ihrer 403

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Gewißheit gesiegt; er schwand, und sie, nicht nur als Individuen, sondern als Gesamtheit sind geblieben. Das ist das Pharisäertum. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß so manche Menschen in ihm, so oft gerade von seiner Eigenart her, ihre wesentlichen Mängel hatten. Überall, wo die »Gemeinde« gegen den Staat steht, oder auch gegen die Kirche, die ja auch wie ein sichtbarer Staat ist, bildet sich leicht ein Konventikeltum, entwickelt sich bisweilen eine Atmosphäre des Eingeschlossenen und Stickigen. Man kennt dort auch ein Machen von Religiosität, das an die Stelle des religiösen Handelns tritt; die Religion wird bisweilen Gegenstand eines Betriebes, fast eines Sports. Auch das Judentum weiß davon, aus alten und aus neuen Tagen. Wo ein Ideal der Heiligkeit aufgestellt wird, dort gibt es die Scheinheiligen auch, die »Gefärbten«, wie das Wort des hasmonäischen Königs, das der Talmud überliefert hat, sie nennt. Wenn die Religion gelehrt werden soll, damit sie dem Volke zum Besitztum werde, dann kann die Religion auch zur bloßen Beschäftigung mit der Religion werden, und auch die Kleinlichkeit und ihre Dialektik wirken sich dann nicht selten aus. Sicherlich hat es das alles im Pharisäertum gegeben. Wenn wir es nicht von vornherein wüßten, der Talmud, nicht nur das Evangelium erzählt es uns. Aber das Pharisäertum ist das nicht. Sein Wesen ist ein anderes. In ihm ist der großartige Versuch gemacht worden, die Religion ganz zur Religion des Lebens zu machen, des Lebens des Einzelnen und der Gesamtheit, damit die Religion nicht nur neben dem Menschen, neben der Gemeinschaft, neben dem Staate hergehe. Mit dem Gedanken der Heiligkeit ist hier Ernst gemacht worden, unbedingter Ernst mit der Forderung, jeden Tag, auch den Alltag, zur Idee hinzuführen, mit der Forderung, in der die Pharisäer ihre Aufgabe und ihr Recht fanden: »ihr sollt euch heiligen und heilig sein« – »ihr sollt peruschim sein!« Der heroische Versuch ist hier unternommen worden, dem Gottesreiche den Boden zu bereiten. Der Name gehört einer Vergangenheit an; was er in seinem Gebote, das er enthält, bezeichnen wollte, ist ideale Wirklichkeit geblieben.

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Belegstellen Flavius Josephus, Jüdischer Krieg II, 8, 14 Was nun die genannten Gruppen betrifft, so ist die der Pharisäer die älteste unter allen dreien – Pharisäern, Sadduzäern, Essenern. Sie gelten für die, die mit Genauigkeit das Gesetz erklären. Sie machen alles von Gott und dem Schicksal abhängig und lehren, daß Rechtund Unrechttun zwar größtenteils den Menschen freistehe, daß aber bei jeder Handlung auch eine Mitwirkung des Schicksals stattfinde. Die Seelen sind nach ihrer Ansicht alle unsterblich, aber nur die der Guten gehen nach dem Tode in einen anderen Leib über, während die der Bösen ewiger Strafe anheimfallen. Die Sadduzäer hingegen, die zweite der obengenannten Gruppen, leugnen das Schicksal völlig und behaupten, Gott habe mit dem Tun und Lassen der Menschen gar nichts zu schaffen; vielmehr seien gute wie böse Handlungen gänzlich dem freien Willen anheimgestellt, und nach eigenem Gutdünken trete ein jeder auf die eine oder andere Seite. Weiterhin leugnen sie auch die Fortdauer der Seele sowie die Strafen und Belohnungen in der Unterwelt. Während aber die Pharisäer gegeneinander gütig sind und zum Wohle der Gesamtheit die Eintracht hochhalten, ist das Benehmen der Sadduzäer auch gegeneinander weit unfreundlicher, so daß sie mit ihren Gesinnungsgenossen so kalt wie mit Fernstehenden verkehren. Das ist es, was ich über die philosophischen Schulen der Juden bemerken wollte. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, XIII, 10, 5 u. 6 Einst hatte Hyrkanus die Pharisäer zum Mahle geladen und bewirtete sie prächtig, und als er sie vergnügt sah, erklärte er ihnen, sie wüßten doch wohl, daß er gerecht sein und alles tun wolle, was Gott angenehm sei, wie ja das auch die Pharisäer lehrten. Er bitte sie also, falls sie ihn sündigen und vom rechten Wege abirren sähen, ihn zu belehren und zu bessern. Sie aber stellten seiner Tugend das beste Zeugnis aus und lobten ihn, worüber er sich sehr freute. Nur einer von den Gästen, mit Namen Eleasar, ein schlechter und streitsüchtiger Mensch, sagte: »Weil du denn die Wahrheit hören willst, so merke auf meine Worte. Willst du gerecht sein, so entsage der hohepriesterlichen Würde und begnüge dich damit, des Volkes Fürst zu sein.« Da nun Hyrkanus den Grund zu erfahren wünschte, weshalb er die hohepriesterliche Würde ablegen sollte, entgegnete Eleasar: »Weil wir von älteren Leuten hören, daß deine Mutter unter der Regierung 405

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des Antiochus Epiphanes gefangen gewesen ist.« Diese Behauptung war indes falsch, weshalb sowohl Hyrkanus wie alle Pharisäer heftig gegen Eleasar aufgebracht wurden. Nun gab es bei der Gruppe der Sadduzäer, deren entscheidende Ansichten denen der Pharisäer entgegengesetzt sind, einen gewissen Jonathan, der des Hyrkanus vertrauter Freund war und der ihm nun auseinandersetzte, Eleasar habe mit seiner Schmähung nur im Sinne aller Pharisäer gesprochen. Das werde sogleich offenkundig werden, wenn er sie frage, welche Strafe Eleasar für seine Behauptung verdient habe. Als nun Hyrkanus sich bei den Pharisäern erkundigte, welche Strafe sie Eleasar zuerkennten, und ihnen erklärte, er sei überzeugt, daß sie mit jener Schmähung nichts zu tun und demgemäß dem Eleasar schon die gebührende Strafe auferlegt hätten, antworteten sie, er verdiene, gegeißelt und gefesselt zu werden. Eine Lästerung nämlich schien ihnen noch nicht den Tod zu verdienen, wie ja die Pharisäer im allgemeinen mild im Bestrafen sind. Hierüber aber geriet Hyrkanus in solchen Zorn, daß er nun wirklich glaubte, der Mensch habe seine Schmähung mit ihrer Zustimmung ausgestoßen. Jonathan tat dann noch das Seinige, um ihn aufzureizen, und brachte es wirklich dahin, daß Hyrkanus sich an die Sadduzäer anschloß, sich von den Pharisäern lossagte und die von ihnen dem Volke gegebenen Vorschriften nicht nur für ungültig erklärt, sondern auch gegen die, welche sie befolgten, mit Strafen einschritt. Infolgedessen richtete sich der Haß des Volkes gegen ihn und seine Söhne, wie ich gleich näher ausführen werde. Für jetzt will ich nur noch bemerken, daß die Pharisäer dem Volke durch mündliche Überlieferung viele Satzungen aufbewahrt haben, welche in die Gesetzgebung des Moses nicht aufgenommen sind. Diese Satzungen nun verwirft die Gruppe der Sadduzäer und behauptet, das allein sei maßgebend, was geschrieben stehe, während die mündliche Überlieferung der Vorfahren keine Gültigkeit habe. Über diesen Punkt entstanden oft heftige Streitigkeiten, wobei die Sadduzäer nur die Reichen, die Pharisäer aber die große Menge des Volkes auf ihrer Seite hatten. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer XVII, 2, 4 Unter den Juden nun gab es eine Gruppe, deren Angehörige die genaue Kenntnis des von den Vätern überkommenen Gesetzes sehr hoch hielten; da ihnen das göttliche Wohlgefallen zugeschrieben wurde, hingen ihnen die Frauen an. Das waren die Pharisäer, welche den Königen den stärksten Widerstand zu leisten vermochten und ebenso zur Klugheit wie zu offenem Kampfe fähig waren. Als 406

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das ganze jüdische Volk dem Caesar und seinem König Treue schwur, hatten sie, an Zahl über sechstausend, sich dessen geweigert, und als sie deshalb von Herodes mit einer Geldstrafe belegt worden waren, bezahlte des Pheroras Gattin dieselbe für sie. Aus Erkenntlichkeit für diesen Dienst sagten sie, weil sie im Rufe standen, göttliche Weissagungsgabe zu besitzen, ihr voraus, Herodes und dessen Nachkommen würden nach Gottes Ratschluß die Herrschaft verlieren, die dann an sie, Pheroras und ihre Kinder, fallen werde. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer XVIII, 1, 3 Die Pharisäer leben enthaltsam und kennen keine Verweichlichung. Was vernünftige Überlegung als gut erscheinen läßt, dem folgen sie und halten es überhaupt für ihre Pflicht, den Vorschriften der Vernunft nachzukommen. Die Alten ehren sie und maßen sich nicht an, den Anordnungen derselben zu widersprechen. Wenn sie behaupten, alles geschehe nach einem bestimmten Schicksal, so wollen sie damit dem menschlichen Willen nicht das Vermögen absprechen, sich selbst zu bestimmen, sondern lehren, es habe Gott gefallen, die Macht des Schicksals und die menschliche Vernunft zusammenwirken zu lassen, so daß jeder sich nach seiner Entscheidung dem Laster oder der Tugend zuwenden könne. Sie glauben auch, daß die Seelen unsterblich sind und daß dieselben, je nachdem der Mensch tugendhaft oder lasterhaft gewesen, unter der Erde Lohn oder Strafe erhalten, so daß die Lasterhaften in ewiger Kerkerhaft schmachten müßten, während die Tugendhaften die Macht erhielten, ins Leben zurückzukehren. Wegen alles dessen besitzen sie beim Volke einen solchen Einfluß, daß sämtliche gottesdienstliche Verrichtungen, Gebete wie Opfer, nur nach ihrer Anleitung dargebracht werden. Ein solches Zeugnis der Vortrefflichkeit legen alle im Lande für sie ab, weil man überzeugt ist, daß sie in Wort und Tat nur das Beste wollen. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer XIII, 5, 9 Um diese Zeit waren bei den Juden drei Schulen, die über das menschliche Tun verschiedene Lehren aufstellten; die eine hieß die der Pharisäer, die zweite die der Sadduzäer, die dritte die der Essener. Die Pharisäer erklären, daß manches, aber nicht alles, ein Werk des Geschickes sei, manches aber durch freien Willen geschehe oder unterbleibe. Die Essener dagegen lehren, alles stehe unter der Macht des Geschickes, und nichts komme bei den Menschen vor, was nicht 407

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von ihm bestimmt sei. Die Sadduzäer endlich verwerfen das Geschick und meinen, es gebe weder ein Geschick, noch richte sich das Menschenleben danach; sie schreiben alles dem Willen zu, so daß wir ebenso die Urheber unseres Glückes seien als auch uns das Unglück durch unseren Unverstand zuzögen. Mischna Jadajim IV, 6 ff. Die Sadduzäer (Zaddukim) sprachen zu den Pharisäern (Peruschim): Wir müssen euch Peruschim tadeln, daß ihr behauptet, die heiligen Schriften verunreinigten die Hände, aber die Bücher des Homeros verunreinigten die Hände nicht. Hierauf erwiderte Rabban Jochanan ben Sakkai: Ist dies etwa das einzige dieser Art, was man den Peruschim vorwerfen kann? Sie sagen auch: Die Knochen eines Esels sind rein und die des Hohenpriesters Jochanan unrein. Darauf erwiderten jene: Wegen der Liebe erklärt man die Gebeine für unrein, damit nicht etwa jemand aus den Knochen seines Vaters oder seiner Mutter Löffel mache. Hierauf versetzte er: Nun, so ist es auch bei den heiligen Schriften; wegen der Liebe erklärt man, daß die Berührung verunreinigt. Die Bücher des Homeros werden so nicht geliebt, darum verunreinigen sie nicht die Hände. Die Zaddukim sprachen ferner: Wir müssen euch Peruschim tadeln, daß ihr die Strömung für rein erklärt. Die Peruschim erwiderten: Wir müssen euch Zaddukim tadeln, daß ihr dennoch einen aus dem Begräbnisplatze kommenden Kanal für rein erklärt. – Die Zaddukim sprachen ferner: Wir müssen euch Peruschim tadeln, daß ihr sagt: Wenn mein Ochs oder Esel Schaden anrichtet, bin ich Ersatz schuldig, und wenn mein Knecht oder meine Magd Schaden anrichtet, bin ich nicht haftbar. Wenn ich für Ochs oder Esel, für die ich keine gesetzlichen Pflichten habe, Ersatz zahlen muß, wie sollte ich nicht für das, was mein Knecht und meine Magd tun, für die ich doch gesetzliche Pflichten habe, Ersatz schuldig sein? Sie erwiderten: Was von Ochs und Esel gilt, die keinen Verstand haben, kann nicht ebenso von Knecht und Magd gelten, die Verstand haben. Denn sonst könnten sie, wenn ich mit ihnen in Streit geräte, eines anderen Feld anzünden und mich zu Zahlungen verpflichten. Ein galiläischer Ketzer sagte einmal: Ich tadle euch Peruschim, daß ihr in den Scheidebrief den Namen des Herrschers zusammen mit dem des Moses schreibt. Darauf erwiderten die Peruschim: Wir müssen dich tadeln, galiläischer Ketzer; auch ihr schreibt doch den Namen des Herrschers und den Namen Gottes auf ein Blatt und noch dazu jenen oben und diesen unten; denn so steht doch auch für euch 408

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geschrieben (Ex 5,2): Pharao sprach: Wer ist der Ewige, daß ich ihm gehorchen und Israel entlassen sollte? Mischna Sota III, 4 Rabbi Josua pflegte zu sagen: »Ein törichter Frommer, ein kluger Gottloser, eine pharisäische Frau und Kasteiungen von Pharisäern (peruschim) verderben die Welt.« Babylonischer Talmud, Sota 22 b Der König Jannai sprach zu seiner Frau: »Fürchte dich nicht vor den Peruschim und nicht vor denen, die nicht Peruschim sind, sondern nur vor den Gefärbten, die den Peruschim gleich scheinen, deren Werke wie das Werk des Simri sind, und die Lohn verlangen wie Pinchas (Num 25,6–15).« Jerusalemischer Talmud, Berachot IX, 14 b Sieben Pharisäer (peruschim) gibt es: den Schulter-Pharisäer, der vor aller Welt seine Frömmigkeit zur Schau trägt, den Nachlese-Pharisäer, der immer noch ein Gebot erfüllen zu müssen meint, den Ausgleich-Pharisäer, der gute und böse Handlungen verrechnet, indem er Sünden begeht und danach Gebote erfüllt, den SparsamkeitsPharisäer, der damit prahlt, sich alles abzusparen, um gute Werke zu verrichten, den Schuld-Pharisäer, der die Leute auffordert, ihm die von ihm begangenen Sünden anzugeben; aber dann den Pharisäer, der das Gute in der Furcht vor Gott tut wie Hiob, und den Pharisäer, der das Gute aus Liebe zu Gott tut wie Abraham. Evangelium nach Matthäus 22,34-40 Als aber die Pharisäer hörten, daß er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, versammelten sie sich, und ein Schriftgelehrter aus ihrer Mitte fragte ihn, um ihn auf die Probe zu stellen: »Meister, welches Gebot ist ›groß‹ in der Thora?« Er aber sprach zu ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Vermögen. Dies ist die erste und große Gebot. An zweiter Stelle, ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt die ganze Thora und die Propheten.«

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Evangelium nach Matthäus 23,1-7 Damals sprach Jesus zu dem Volk und seinen Jüngern folgendermaßen: »Auf den Lehrstuhl des Moses haben sich die Schriftgelehrten und Pharisäer gesetzt; alles nun, was sie euch sagen, das sollt ihr tun und halten. Nach ihren Werken aber sollt ihr nicht tun; denn sie sagen zwar, aber tun nicht. Dagegen binden sie schwere Lasten und legen sie auf die Schultern der Menschen, sie selbst aber wollen nicht ihren Finger rühren, um sie von der Stelle zu bewegen. All ihre Werke tun sie mit der Absicht, sich den Menschen zur Schau zu stellen: sie machen ihre Gebetsriemen breit und ihre Gewandquasten lang. Sie lieben den Vorsitz und die Ehrenplätze bei den Gastmählern und in den Gemeindeversammlungen und die Begrüßungen auf dem Markt und lassen sich gerne von den Menschen ›Meister‹ nennen.« Apostelgeschichte 23,6-9 Als Paulus merkte, daß der eine Teil den Sadduzäern, der andere den Pharisäern angehörte, rief er laut im Synhedrion: »Ihr Brüder, ich bin ein Pharisäer, der Sohne eines Pharisäers, wegen der Hoffnung und der Auferstehung der Toten werde ich angeklagt.« Als er das sagte, entstand ein Zwist zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern, und die Versammlung spaltete sich. Denn die Sadduzäer sagen, es gebe keine Auferstehung noch auch einen Boten oder einen Geist, die Pharisäer bekennen sich aber zu beidem. So entstand großes Geschrei, und die Schriftgelehrten der Gruppe der Pharisäer erhoben sich, stritten und sprachen: »Nichts Böses finden wir an diesem Manne. Ob nicht ein Geist oder ein Bote zu ihm gesprochen hat? Wir wollen nicht gegen Gott streiten! Die Belegstellen aus den tannaitischen Midraschin sind in den Text aufgenommen.

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Dieser Text ist einer der wichtigsten aus der Zeit, in der Leo Baeck in Cincinnati lehrte. Das Referat bietet eine Tour de force für die amerikanische Jüdische Wissenschaft, die hier einem Lehrer begegnete, der die jüdischen und christlichen Quellen aus der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels so genau wie wenige andere kannte. Leo Baeck analysiert eine Predigt des Amoras Yitzchak Nappaha, am Schabbat des Hanukkah-Festes. Sichtbar wird, in welch sensibler Weise das Judentum des 3. und 4. Jahrhunderts sich mit der antijüdischen Polemik des Christentums auseinandersetzt.

The opening chapter of the Pesikta de Rabbi Kahana contains a sermon worthy of consideration by ˙all who are interested in the history and especially in the anti-Christian polemics of the Haggadah. 1 Thus far that sermon has failed to receive due attention. Ours, therefore, shall be the attempt to trace the background of the sermon and to determine its historical setting. This will afford us the opportunity of noting some characteristics of the preaching developed by the Amoraim of the third and the fourth centuries. It will, in addition, serve the present writer as the occasion for resuming some former studies in this field. 2 The sermon in question was preached on the Sabbath of Hanukkah by R. Yizhak Nappaha, 3 an Amora who lived at the end˙ of the ˙ of the fourth century. Christian Era, and ˙ ˙beginning third and at the numerous of whose sermons have survived. The sermon we are considering is typically Amoraic. It exhibits characteristics noticeable likewise in Amoraic treatments of the Halakah. Just as the Amoraic Halakah invokes not only passages from *

Entnommen aus: Hebrew Union College Annual, Vol. XXIII, Part I, Cincinnati 1950/51, 549-560.

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the Bible but also the utterances of the Tannaim, so does the Amoraic Haggadah, of which Yizhak Nappaha’s sermon is an example. In Ha˙ and principle are the same. ˙˙ ˙ lakah as in Haggadah, method, aim, The Tannaim in their earlier days had explicated what the Bible says (djkm), what the Bible teaches (dmlm). 4 Their method entered into the structure of Gemara and sermon alike. Gemara and sermon equally employ the logic unfolded in post-Biblical times and based on analogy and association. 5 Those were the rules which, having generated the Midrash, were in turn expanded by the Midrash. Following the prevalent usage, 6 our sermon cites two texts, one taken from the particular Pesikta, this special lesson, for the Sabbath of Hanukkah (Num 7,1), the ˙other from a non-Pentateuchal book, ˙ of Songs, (Cant 3,11): Song Go forth, O ye daughters of Zion, And gaze upon king Solomon, Even upon the crown wherewith his mother hath crowned him on the day of his espousals, And in the day of the gladness of his heart.

That the sermon on Hanukkah combine with the Pesikta that pas˙ by older sage from the Song of ˙Songs, 7 was a requirement laid down authorities. That use of several texts one of which came from the Pentateuch and a second or third from the non-Pentateuchal books of the Bible, the so-called Kabbalah, was due not altogether to homiletical fancy. The practice envisaged a definite goal. The object was to show the thouroughgoing consistency of the Bible throughout all of its parts. A passage from the Kabbalah was to elucidate a passage from the Pentateuch. 8 This principle had, since the days of the Tannaim, governed Haggadah and sermon and sometimes even prayer. 9 As R. Joshua b. Levi had phrased it: »Written in the Pentateuch, repeated in the Prophets, and stated a third time in the Hagiographa.« 10 One realizes what was at stake when one recalls an old tradition that certain apostates had once maintained: »Prophets and Hagiographa are not Torah and we believe not in them.« 11 The unity of the Bible and the canonicity of its books were at stake. Particularly in question was the Song of Songs. 12 The Song of Songs had met with serious challenge. To banish those objections required the prestige of a R. Akiba amplified by that of still older authorities. Akiba had resolved the issue by pronouncing the Song of Songs »Holy of Holies among the Holy Writings«. This daring remark was sufficiently sanctioned to be placed in the Mishnah. 13 412

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By way of vindicating this claim, the Song of Songs was minutely interpreted as an allegoric dialogue between God and Israel. This interpretation obtained general acceptance despite the dissenting interpretation preferred at times by such a distinguished Amora as R. Johanan bar Nappaha. 14 With Akiba, the »beloved« in the book is God and the »bride« is ˙the community of Israel. The word Shelomo, which occurs no fewer than seven times, came to be unterstood not as a proper noun designating King Solomon but as an appellative for the Deity, emphasizing that God is the King of peace, the Lord of Shalom, the Shelomo par excellence. 15 This may have been an extraordinary explanation of Shelomo, 16 but it achieved its object of buttressing the allegorical interpretation which had procured the book’s canonization. »Daughters of Zion« in the text became now an appellative meaning the people Israel: »children distinctive (wjnjfrm) by reason of sacred duties«. 17 It was held that these features pointed to the time when the Canticles were first sung. That time was the period between the revelation at Mount Sinai and the rearing of the Tabernacle. 18 Rabbi Yizhak’s sermon is based upon this explanation. Yizhak can ˙ ˙ ˙ »The crown upon wherewith God, the Shelomo, ˙ ˙ ˙ the now expound: King of peace 19 was crowned was the Tabernacle, duly erected, anointed, and dedicated.« The day of the Sinaic revelation was »the day of espousal«, and »the day of gladness in his heart« was the day on which the Tabernacle stood ready. Thus an identical theme is discerned in the text which speaks of the crown and in the text that tells about the Tent of Meeting. As already stated, R. Yizhak adopts the ˙ ˙ ˙strengthens interpretation advanced by the scholl of Akiba, 20 and that conclusion with an argument of his own, namely, that the Shelomo of the Song of Songs cannot be Solomon, the human monarch. Yizhak observes: »We have searched the entire Scripture and no˙ ˙ ˙ do we find that Bath-Sheba made a crown for Solomon, her where son. The crown is the Tabernacle encircled with ›blue and purple and scarlet‹ (Ex 26,1).« For R. Yizhak, that was conclusive. ˙ ˙ ˙ at this juncture, a fatal weakA delicate point, however, obtrudes ness in that Tannaitic explanation which had saved the Song of Songs for the Bible. If Shelomo means God, then the text recognizes a mother of God! 21 How inexpressibly shocking! As one reads this sermon, one senses the alarm that must have seized the Jewish teachers who became aware of that inference. This helps us understand why R. Johanan differed with the Tannaim, and why he refused to accept the ˙notion that King Shelomo in the Song of Songs is God. Yizhak Nappaha’s Hanukkah sermon sought to cope with that dif˙˙ ˙ ˙ 413

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ficulty. To this end, R. Yizhak draws upon various Tannaim as well ˙ ˙ R.˙ Johanan himself, and hereby we grasp as upon a traditionalist like ˙ sermon continues: R. Johanan 22 the sermon’s historical import. The reports that R. Simeon b. Yohai asked R. Eleazar, the son of R. Jose b. ˙ Halafta: ›Hast thou perchance heard something from thy father concerning »the crown wherewith his mother hath crowned him (Cant. 3.11)«? ‘R. Eleazar answered: »Yea.« ‘R. Simeon asked: »What heardest thou?« ‘R. Eleazar replied: »What these words relate resembles the case of a king who had an only daughter whom he boundlessly loved. He went so far as to call her ›my sister‹. Nor did he stop short of calling her ›my mother‹. Thus, at first God so loved Israel as to call her ›daughter‹, as it is said: ›Hearken, O daughter, and consider, and incline thine ear‹ (Ps 45,11). Such was His love that He did not refrain calling her ›sister‹, as it is said, ›Open unto me, my sister, my love, my dove, my undefiled‹ (Cant 5,2). He even went so far as to call her ›mother‹, as it is said, ›Attend unto Me, O My people, and give ear unto Me. O my mother‹ (Jes 51,4). Read not jmfal ›my nation‹ but jmal ›O my mother‹.« 23 »Then R. Simeon b. Yohai arose and kissed R. Eleazar upon the ˙ brow and asserted: ›Had I come into the world 24 for no other purpose than this, it would have been sufficient.‹« The anxious concern which marks this statement with its earnest introduction and its ardent conclusion indicates that more is involved than a piece of exegesis. The overwhelming gratitude points to something weightier than just a clever explanation. The vigorous phrase with which the statement ends implies something momentous. 25 Some basic difficulty is here confronted. A harrowing dilemma is here faced. It those great teachers of exalted authority, originators of Halakah and Haggadah, were right in declaring the Song of Songs to have been divinely inspired and if they were right in identifying Shelomo with the Almighty, then something most astounding would have to be conceded, namely, that God has a mother and that this mother had bestowed a crown upon her son! Unqualified repudiation of such a thought was the alternative, but that alternative would impugn the authority of Israel’s great teachers. It would be suspecting them of error. What a rending dilemma! This accounts for Simeon b. Yohai’s anguished question and for the ˙ relief conferred by Eleazar’s answer in the course of that conversation between the two friends who had once journeyed together on the long hard way to Rome. 414

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One must keep in mind the historical situation of the time when Simeon b. Yohai asked that question as well as of the time when Yizhak ˙ Nappaha preached. Simeon had seen the first triumphs of˙ ˙the˙ ˙ Church. He had witnessed the collapse of the Bar Kokba insurrection. He had experienced the restrictions imposed on Jewish land and Jews by Hadrian. Jewish mission to the Gentiles had ceased. The Church had claimed the Jewish heritage as its own. With much ecclesiastical fanfare, Jews and Judaism had been branded as rejected of God. Those were the days when ties between Judaism and Christianity had become severed and when, Hellenistic Christianity prevailing, there was assigned to the Mother of Christ a place of her own. She was no longer only a Jewish woman who had miraculously borne »Jesus who was called Christ«. The three synoptic gospels rarely spoke of her. The Gospel of Mark mentions her but casually and with scant regard (3,31 ff.). Matthew, in addition to stating what is reported in Mark, tells the story of Jesus’ birth but, of his mother, there ensues no clear cut picture. Luke relates nothing beyond this except what is contained in the Magnificat of his first chapter, but the Magnificat is poetry and belongs to a later period. 26 In the Pauline epistles, the mother of Jesus is completely ignored and likewise, except for the briefest possible mention, in the Book of Acts (1,14). It is only the Gospel of John (2,1 ff.; 19,25 ff.), 27 a product of a later generation, that begins to accord Mary some distinction. A different conception is now that of Justin and of Ireneus, 28 Simeon b. Yohai’s contemporaries. Here, and even more in popular Christian belief, 29 the Mother of Jesus becomes the Virgin, the mother of God, she whose son is the King of glory. No longer a character in a story, she is now an article of dogma. When commenting on the verse about »his mother« in the Song of Songs, R. Simeon and R. Eleazar were grappling with an actual onerous question. Also Rabbi Yizhak was challenged by that question and even to a greater extent. In˙ ˙the˙ days of R. Yizhak, the worship of the Virgin had ˙ ˙ ˙ was steadily increasing. It is become established and its popularity true that the worship of the Virgin did not receive official sanction until the Synod of Ephesus (431) which proclaimed Mary the Mother of God and condemned, as a heretic, Nestorius who opposed that worship and insisted on calling Mary not »Theotokos«, Mother of God but only »Christotokos«, Mother of the Messiah. That worship, however, had gained a foothold a century earlier and had even aquired a special festival, the Feast of the Annunciation. 30 The resultant controversies had agitated many minds. In debates between 415

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Jewish scholars and Christian scholars, it may well have been a thorny point whether the Song of Songs, which the Church also interpreted allegorically, does or does not tell how the Mother of God had crowned her Son. Be it remembered that the Haggadic method was not exclusively Jewish. That method was also utilized, and sometimes with great skill, by the apologists of the Church 31 to whom that device had come from Greek as well as from Jewish sources. The Stoic philosophers, those intermediaries between the East and the West, had to a considerable extent, resorted to similar expedients when reconciling their theology and philosophy with the religion of the masses. Haggadah was the common ground and inevitably the battle ground between Christians and Jews. The school established in Caesarea by Origen, a kind of Christian Beth Hamidrasch on Palestinian soil, became a center for the elaboration of the Christian Haggadah needed in apologetics and polemies. The Jewish opposition to this school may have been embodied in the academy conducted, also in Caesarea, by Hoshaya and Abbahu. Between the method of the Jewish Haggadah and that of the Christian Haggadah, there was no distinction. As aptly stated by R. Judah b. Shalom, »The scales balance«. 32 Christian beliefs, no less than Jewish beliefs, can be championed by that means. Some Jewish teachers were aware of the hazard. Apprehensions were voiced both in the days of R. Eleazar and in the days of R. Yiz˙ hak. R. Zeira, a contemporary of R. Yizhak deprecated the Haggadah ˙as a ˙ device of Christian propaganda, 33˙ while ˙ ˙ R. Eleazar ben Azariah had, long before this, cautioned none other than R. Akiba to be on guard against that menace. 34 Particularly dangerous would be that allegorizing which had given the Song of Songs a niche in the Bible. It was not a far cry from this to the »Epistle to the Hebrews« with its Platonic allegorization which rated the Torah as but a »shadow« of something better (10,1). Nor was it exceedingly far from the »Epistle of Barnabas« which ousts Judaism from the Bible completely. Yet, despite all of this jeopardy, the Haggadah could not be discarded. There was no other basis of debate with the Christians or with Gentiles who possessed Biblical knowledge. And in the days when the Church had invaded Jewish territory, first spiritually and then politically, such debate was inescapable. Moreover, the Jewish men of learning were prepared to stand their ground, fully convinced that theirs was the sounder cause. Attention should also be directed to the date on which the sermon of Yizhak Nappaha was delivered. The Sabbath of Hanukkah almost ˙ ˙ ˙ with a ˙day which had been solemnized by ˙ the Church and coincided 416

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which was beginning to be observed as the natal day of Christ. Among the several dates which had been assumed to mark the birth of Christ, 35 the 25th of December had, during the last decades of the third century, become more and more acceptable and had been adopted by the Church as a festival, first in Rome, then in the Orient. It consequently happened that, in the days of R. Yizhak, this solemni˙ ˙ a contention zation as well as the worship of the Virgin could ˙mark between the Rabbis and the Christians. Both practices could not but arouse the notice of the Jews and provoke Jewish sermons. Because of the proximity of dates, 36 Hanukkah ˙ would naturally invite such discussion. It is more than coincidence that most of the Hanukkah sermons transmitted by our Pesikta deal with Christianity.˙ The first two 37 sermons in the collection, ˙both of them preached by R. Judah b. R. Simon 38 and both treating the subject of the Shekinah, are obviously cognizant of the Church’s claim to be the only abode of the Shekinah. 39 Likewise, the fourth sermon, the one immediately following that of R. Yizhak, 40 takes as its text, along˙ words from Prov 30,4: ˙ ˙ the side of Num 7,1 from the day’s pericope, »Who hath ascended up into heaven and descended?« – an obvious thrust at Christian dogma. 41 Thus can we trace our sermon’s historical background and implication. That the thesis undergirding this sermon, namely, R. José’s explanation of Cant. 3,11 received not only acceptance 42 but also wide acclaim is indicated by the Shir Hakabod, that popular mediaeval hymn which takes as self-evident that »For grace and glory, for beauty and for Splendor, His people have crowned Him with a crown« etip etjp fl fvma. Anmerkungen 1. Pesikta de-Rab Kahana, ed. S. Buber, ed. 2, Wilna, 1925, pp. 2b-4b (ed. 1, Lyck, 1868,˙ pp. 2b-5a), and the parallels there. – The compiler of our Pesikta has inserted three alien passages: a) p. 2b, line 7, 3b, line 6; b) p. 4a, line 5,˙ 4b, line 5; c) p. 4b, line 7. The first and third interpolations are marked by a“d; the second, though without this mark, is clearly distinguished by the fact that it follows quite another line than our sermon; it gives a part of two sermons of Rabbi Levi, the contemporary of the author of our sermon, the one handed down by Simeon of Siknin, the other by Berekiah. 2. L. Baeck, Zwei Beispiele midraschischer Predigt, MGWJ 69 (1925), 258 ff. and Aus drei Jahrtausenden (1938), 157 ff.; Gerechte und Engel, ibid., 336 ff. 3. The name of the author is not given at the beginning of the sermon. It was a frequent practice of Midrashic redaction to mention the preacher’s name for the first time at some later point or to repeat it at some later point. The name of Yizhak appears not until p. 3b, line 6. ˙ ˙ meaning ˙ 4. On the of these terms and the term »Midrash« cf. W. Bacher, Agada

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Brücken zwischen Judentum, Christentum und Islam der Tannaiten I2 , 461 ff. and Die exegetische Terminologie der Jüdischen Traditionsliteratur I, 30 ff. 5. Cp. L. Baeck, Aus drei Jahrtausenden, 251 f. and The Pharisees and Other Essays, 65. 6. Cp. W. Bacher, Die Prooemien der alten jüdischen Homilie, 9 ff. 7. Cant. Rab. on 1,2: xnbt ejtvbdf xfjtjqa aha “t tma :vflk wfjb jejfl ehjvq xfevj xfdbp Said R. Aha »The Rabbis made Cant. 3,9–11 texts explaining Num. 7,1.« 8. See elbsb˙ utfqm Mekilta on 12,6; 12,39 and passim, cp. Bacher, Terminologie I, 155 f. and 165 f. The principle was not applied to matters Halakie. Thus analogies from the non-Pentateuchal books were not used in the interpretation of Pentateuchal laws. See Hag. 10b, B.K. 2b, Nid. 23a, with regard to elbs jtbdm etfv jtbd. In the Jewish˙ Middle Ages likewise, interpretation was restricted when applied to matters legal. 9. Bacher, Prooemien, 13 f. A characteristic example of the principle is the Midrash Aggadath Bereshit. 10. Meg. 31a and Ab. Zara 19b. Cp. the phrase, wjbftkbf wjajbnb etfvb fnjpm Gen. R. 48(11), 51(2) and passim. 11. Tanhuma eat 1; cp. Midrash on Ps 78,1. 12. With˙ regard to Proverbs and Ecclesiastes see Abot de Rabbi Nathan 1. With regard to Esther see Meg. 7a. With regard to Ezekiel see Shab. 13b. With regard to the song of Songs see Cant. Rab. 1,11. 13. Yad. III, 5; Cp. Cant. Rab. on 1,1. 14. Cant. Rab. ibid.; cp. note 19. 15. Sifra on 9,24. The manner in which Sifra presents this interpretation shows that at the time, i. e. in the second half of the second century, this explanation had already won wide acceptance. It should be noted that treating proper names as appellatives was a familiar Midrashic usage. 16. It is interesting to observe how early the Church, welcoming this kind of interpretation, identified the »beloved« with Christ and the »bride« with the Church, as reported already in Justin’s Dialogue With Trypho, first half of the second century. See ch. 34: »I am going to quote another Psalm, dictated to David by the Holy Spirit, which you erroneously think refers to your king Solomon, but which in reality refers to our Christ … And when the Psalm (72,1) says: ›Give to the king thy judgment, O God‹, you claim that the words were spoken to Solomon because he was a king, whereas the words clearly proclaim that they were spoken of the Eternal King, that is, Christ.« (Saint Justin Martyr by Thomas B. Falls, 197 f.) Note the same in chapter 64. Cp. Midrash Ps 72,1. 17. Cp. Ex. Rab. ch. 52, end; Num. Rab. ch. 14, and Lam. Rab. I. 18. In the Seder Olam, ch. 15, Cant 3,9 is interpreted as referring to the completion of the Temple of Solomon. To the Tabernacle, the Seder Olam (ch. 7) applies Cant 4,6-5,1. 19. He opposes here, without naming him, his teacher, Johanan who hat taught that where, in the Song of Songs, the word »King« alone is used, God is meant, and where the word »King Solomon« is used, King Solomon is really meant. See Cant. Rab. 1,1 at the end. 20. See Sifra on 9,24. 21. It is astonishing that neither Bacher in his classic books on the Haggadah nor Solomon Bucher in his valuable commentary have marked this point. 22. This is the correct version, see Buber’s commentary. Johanan is a bearer of traditions concerning Simeon ben Yohai. 23. Our Masoretic text does not have this Kolibƒ?ƒ. See Buber’s commentary, note

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Haggadah and Christian Doctrine 72 and David Kimhi on Jes 51,4; also the interpretation of Prov 11,26 by Sime˙ 92a, (Gen 25,13) wjal xja xjmaj wfalm wfalf “nu xjtbfp ala. It is ˙ on the Just in Sanh. very probable that this interpretation follows that of José. This Simeon the Just was a Palestinian Amora of the third century, a contemporary of Johanan. See Bacher, Ergänzungen und Berichtigungen zur Agada der babyl. Amoraeer, 9. 24. It seems that the phrase jvab al fla is an abridgement of: wlfpl jvab al fla. Cp. Rosh Hashana I, 2. 25. Cp. the narrative about Johanan ben Zakkai and Eleazer ben ‘Arak, in Tos. Hag. II, 1 and in Yer. Hag. 77a. ˙ Baeck, Aus drei Jahrtausenden, ˙ 26. L. 273 f. 27. Cp. Maurice Goguel, La maissonec du Christianisme (1946), 138–141. 28. Justin, Dialogue With Trypho, ch. 100 and 120; cp. ch. 36 and 85. Irenaeus, Adversus haereses III, 22, 4 and V, 19, 1. See also Tertullian, De carne Christi 7. 29. See Goguel, l. c., 141 n. 1. 30. See Zoeckler in A. Hauck, Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche XII3 , 315 f. 31. See L. Ginzberg, Die Haggada bei den Kirchenvätern und die Apokryphische Literatur, MSWG 42, 537 ff. and 43, 17 ff. and in Studies in Memory of A. L. Freidus. 32. Pesikta rabbati ch. V, ed. M. Friedmann, 14b and Tanhuma, ed. Buber, I, 44b ˙ 58b. and II, 33. Yer. Ma’as. III, 10 (51a). Cp. Bacher, Agada der palästinensischen Amoräer III, 502, n. 6, and L. Baeck, Aus drei Jahrtausenden, 177, n. 2. Note the characteristic jqfd lu edch Sifre on Num 15,30 and Sanh. 99b. 34. Cp. L. Baeck, l. c., 182 ff.: »Der alte Widerspruch gegen die Haggadah«. 35. See Hermann Usener, Religionsgeschichtliche Untersuchungen I2 , ed. H. Lietzmann, and Arnold Meyer, Entstehung und Entwicklung des Weihnachtsfestes2 . Those dates were 6th of January, 28th of March, 19th of April, 20th of May, 17th of November, 25th of December. 36. Apparently the fixation had nothing to do with the date of Hanukkah. The Dies Solis Invicti, »The Day of the Invincible Sun«, which fell˙ on December 25th was most likely the determining factor. 37. P. 1a-1b and 1b-2b. We have here two different sermons of Rabbi Judah ben Simeon. 38. See Buber notes 3 an 32. 39. See L. Baeck, MGWJ 69 (1925), 271 ff. Attention may be called to the studied counterpoise between R. Levi’s explanations, inserted in our sermon, and chapter 9 in the Epistle to the Hebrews. 40. P 2bf. It appears to be a sermon of R. Ze‘ira. 41. Cp. the characteristic word of Abbahu, Yer. Ta’an. II, 1, ends (65b below): »If anyone tell thee: ›I have ascended into heaven …‹« 42. It has its place in the Sifra on 9,24. See also the identification of wa and emae supposed by R. Meir, Cant. r on 1,6.

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Baecks Paulus-Aufsatz aus dem Jahre 1952 stellt den Abschluß eines langen Weges dar, den Baeck schließlich mit Paulus, aber zuvor noch mehr gegen ihn gegangen ist, genauer: gegen die christliche PaulusDeutung gehen mußte. Drei Etappen sind hier zu unterscheiden: 1. Der antijüdisch-kirchliche Glaube des Paulus (1901-1905) (gegen die Paulus-Deutung Harnacks) Die frühen Aussagen Baecks zu Paulus seit seiner Harnack-Rezension (1901) bis in die erste Auflage des »Wesen des Judentums« (1905) sind kritisch an dem Paulus Bild A. von Harnacks orientiert, indem sie das höchst problematische Paulus-Bild Harnacks im wesentlichen übernehmen und Paulus deshalb als antijüdisch kritisieren. Harnack faßte im »Wesen des Christentums« (1900) sein Paulus-Verständnis in den folgenden Thesen zusammen: Paulus »ist es gewesen, der das Evangelium sicher als etwas Neues beurteilt hat, das die Gesetzesreligion (des Judentums) aufhebt«. Paulus habe die Tora für ungültig erklärt und der jüdischen Religion die Behauptung entgegengesetzt: »Christus ist des Gesetzes Ende« (Röm 10,4). Paulus »hat in dieser Überzeugung das Evangelium mit vollem Bewußtsein in die Völkerwelt getragen und vom Judentum (weg) auf den griechisch-römischen Boden hinübergestellt … Die Zeit des Judentums ist jetzt vorbei«. Der »Bruch mit der Synagoge« sei eine Folge des paulinischen Evangeliums: »Der Zusammenhang mit diesem (jüdischen) Volke war nun … durchschnitten«. Harnack zieht schließlich das Fazit: »Paulus ist es gewesen, der die christliche Religion aus dem Judentum herausgeführt hat«. Dadurch hat Paulus das »Evangelium, ohne seine wesentlichen … Züge zu ver-

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Entnommen aus: Journal of Jewish Studies, Band III, London 1952, 93-110.

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letzen(!), in die universale (Welt-)Religion (des Christentums) verwandelt«. Man wird nur zu gut verstehen, wenn Baeck zunächst auf diese Paulusdeutung entschieden apologetisch reagiert. Baeck sieht deshalb in Paulus den Verfälscher des Judentums mit verhängnisvollen Folgen in der Kirchengeschichte: »Allerdings zeigt die Kirchengeschichte durch viele Beispiele, wie die Neigung sehr oft vorhanden war, die Lehre von Gott an den Platz des Sittengesetzes, den Glaubenssatz an die Stelle der Pflichtgebote zu setzen – ein Ergebnis der Paulinischen An-Archia« (Harnack-Rezension 1901). 2. Der hellenistisch-sakramentale Glaube des Paulus (1922-1938) (gegen das deutsch-lutherische Paulusbild) Die zweite Etappe der Paulusdeutung von Baeck ist zeitlich durch seinen Aufsatz »Geheimnis und Gebot« (1921/22) einerseits und durch den Abschnitt zu Paulus im »Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte« (1938) andererseits gerahmt. In diesem Zeitraum publiziert Baeck grundlegende Beiträge, die jeweils eine dezidiert kritische Stellungnahme zu Paulus enthalten: In seinem Aufsatz »Die romantische Religion» (1922) polemisiert Baeck sowohl gegen einen sich auf Paulus berufenden Katholizismus, der sich sakramental der Erlösung vergewissert, als auch gegen einen an Schleiermachers Paulus-Bild orientierten Protestantismus, der das Christentum romantisch als Religion schlechthinniger Abhängigkeit interpretiert und darüber das alttestamentliche Gebot und die ToraTreue im Judentum aus den Augen verliert bzw. diffamiert. In seinem Aufsatz über die »Bedeutung der jüdischen Mystik für unsere Zeit« (1923) entfaltet Baeck den urjüdischen Zusammenhang von Mystik und Gebot, die Polarität von Geheimnis und Gebot, die Paulus in unjüdischer Weise aufgegeben habe. In seinem Aufsatz »Das Judentum in der Kirche« (1925) lautet Baecks These im Blick auf Paulus: »Wenn die Erlösung geschehen war, wenn sie gegenwärtig war durch Glaube und Taufe, dann mußte das Gesetz aufgehört haben; (umgekehrt) wenn das Gesetz noch in Kraft blieb, dann war bewiesen, daß die erhoffte Zeit, die Zeit der (messianischen) Erfüllung, noch nicht da war. Entweder Gesetz oder Erlösung!«. So verrät Paulus nach Baeck die messianische Idee und Hoffnung im Judentum zugunsten einer katholisch-sakramental verwalteten und protestantisch im Glauben sola fide vermittelten Erlösung.

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3. Der jüdisch-hellenistische Glaube des Paulus (1952-1956) (Baecks Suche nach dem jüdischen Paulus) A. H. Friedlander schreibt zum Paulus-Bild des späteren Baeck: »Erst in seinen allerletzten Essays über Paulus, als die Polemik sich … zu der existentiellen Begegnung zwischen den Glaubensrichtungen verlagert hatte …, ging Baeck so weit, den jüdischen Paulus zu bestätigen, der an der Mission und Aufgabe des Judentums teilhatte«. Gemeint ist damit die letzte Etappe der Paulusdeutung von Leo Baeck, die sich Baeck nach der Schoa in neuer Weise erarbeitet und die in die Zeit von 1952 bis 1956 fällt: Baeck schreibt im Jahre 1952 den hier in deutscher Übersetzung abgedruckten, ursprünglich in englischer Sprache verfaßten Aufsatz »The Face of Paul». In diesem Aufsatz – und das ist etwas Neues auf dem Weg Baecks mit Paulus – wird Paulus erstmals grundsätzlich als Jude verstanden und gewürdigt. Das geschieht sofort zu Anfang des ersten Teiles, in welchem Baeck die Frage nach der Bekehrung oder Berufung des Paulus diskutiert: »Man spricht gewöhnlich von der Bekehrung des Paulus. Aber dieser Ausdruck ist unzureichend«. Gegenüber dem hellenistischgriechischen Verständnis von Bekehrung unterstreicht Baeck jetzt den jüdischen Charakter von Vision und Berufung des Paulus: »Eine Vision hatte ihn ergriffen, und für den Juden, der er war und nie aufhörte zu sein (!), für den Juden, dessen geistliche, intellektuelle und moralische Welt die Bibel war, mußte seine Vision den Ruf bedeuten, den Ruf zu einem neuen Wege … ›Du sollst gehen‹ … Nur der Jude war sich immer dessen bewußt, daß eine Offenbarung eine Sendung enthält, daß die sofortige Bereitschaft, den Weg zu gehen, das erste Zeugnis und Zeichen des (jüdischen) Glaubens ist. Paulus wußte nun, daß ihm das Apostelamt im Namen des Messias zugefallen war«. Baeck versucht also, Paulus zunächst vom jüdischen Hintergrund her zu verstehen und schildert die jüdische Welt des Paulus im Rahmen des frühen prophetischen und des späten apokalyptischen Judentums. Erst von diesem jüdischen Hintergrund her kommend tritt Paulus in die hellenistische Welt hinein: Paulus »war nicht, wie oft (auch früher von Baeck selber!) gesagt worden ist, selbst ein ›Hellenist‹, seine Haltung der hellenistischen Welt gegenüber war vielmehr die gleiche wie die gewisser palästinensischer Lehrer«. Erst dann tritt zu dem ursprünglich Jüdischen, d. h. zu den prophetisch-messianischen, den apokalyptisch-messianischen Traditionen und zu der weisheitlichhellenistischen Tradition aus dem Bereich des Judentums bei Paulus die mystisch-sakramentale Dimension des hellenistischen Denkens 422

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Der Glaube des Paulus

hinzu: das Sakrament als Weg und die Auferstehung als Erfüllung, wie Baeck im zweiten Teil seines Paulus-Aufsatzes nachweisen möchte. Aber auch dann hat Paulus – so Baeck – bei seinem Übergang in die Welt der hellenistischen Mysterienreligion die jüdische Welt nicht verlassen. Deshalb kommt Baeck zum Schluß seines Paulus-Aufsatzes von 1952 auf diesen jüdischen Hintergrund erneut zurück: a. Die mit dem Kommen des Messias gegebene Gesetzesfreiheit? Baeck versucht, die paulinische Lehre von der Gesetzesfreiheit durch Christus (Röm 10,4) von innerjüdischen Voraussetzungen her zu verstehen. Es gehörte nach Baeck zur älteren jüdischen Tradition, daß die Weltgeschichte sich in drei Epochen abspielt: die Zeit des Chaos, die Zeit der Tora und die Zeit des Messias. Damit war die entscheidende Frage, ob die Zeit der Tora abgelaufen sei, weil die Zeit des Messias gekommen war, eine zutiefst innerjüdische Frage, die von Paulus – Baeck zufolge – jüdisch so beantwortet wurde: Das Kommen der Messiaszeit ist das Ende der Tora und damit das Ende der Zeit des Gesetzes. »Und wenn umgekehrt das Gesetz, die Tora, noch Gültigkeit behält, so ist damit gesagt, daß der Messias noch nicht erschienen ist. Das war die Alternative, die Frage, die entschieden werden mußte. Es war kein hellenistisches, sondern ein jüdisches Problem, denn es folgte zwingend aus der Lehre der Epochen«. b. Die Völkermission als der Weg des Paulus aus dem Judentum heraus? Die These Harnacks im »Wesen des Christentums« lautete, daß Paulus durch seinen Weg in die Völkerwelt »die christliche Religion aus dem Judentum herausgeführt hat«. Harnack hat dabei den Mut und die Kraft des Paulus gerühmt, die dazu nötig war, »um die neue Religion ihrem mütterlichen Boden zu entreißen und auf einen ganz neuen (Boden) zu verpflanzen«. Baeck selbst bezeichnete seinerseits das Judentum als Mutter des Christentums. Indem Paulus den Zusammenhang mit dem jüdischen Volk durchschnitt, hat er – so Harnack – das Evangelium von seiner jüdischen Schale entkleidet, »in die universale Religion verwandelt und den Grund der großen Kirche gelegt …, indem die ursprüngliche (jüdische) Beschränkung wegfiel«. Demgegenüber heißt es nun bei Baeck im Schlußteil seines PaulusAufsatzes von 1952: »Man kann auch nicht behaupten, daß Paulus von dem echten jüdischen Glauben abgewichen sei, weil er sein Apostelamt unter den Heiden betonte. Nicht nur die Geschichte berichtet über die damalige Ausdehnung der jüdischen Mission. Darüberhinaus schließen jüdische Philosophie, Theologie und Geschichtsauffassung 423

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immer die ›Nichtjuden‹ mit ein. Die Begriffe ›Jüdisches Volk‹ und ›Nichtjuden‹ gehören zusammen. Es konnte keine Erfüllung geben ohne beide … Das ›Kommen‹ des Messias und das ›Kommen‹ der Heiden sind (nach Jes 2,2-4) miteinander verbunden. Das ist jüdischer Glaube, und dies war der Glaube des Paulus«. Deshalb versteht Baeck nicht nur die Sendung und Mission des Paulus an die Völker von der ursprünglichen Missionsaufgabe des Judentums her, sondern er betont grundsätzlich, daß der jüdische Weg des Paulus zu den Völkern keine Trennung des Juden Paulus vom Judentum oder vom jüdischen Volk bedeuten konnte, im Gegenteil: »Paulus hat nie daran gedacht, das jüdische Volk zu verwerfen oder zu verachten. Es war sein Volk, dem er nicht untreu werden konnte, ohne seinem eigenen Glauben untreu zu werden, das er nicht aufgeben konnte, ohne Hoffnung und Liebe aufzugeben … Paulus konnte sich nicht einmal vorstellen, daß Gott sein (jüdisches) Volk verstoßen haben könnte. Das elfte Kapitel im Römerbrief ist erschütternd. Es offenbart die Aufrichtigkeit dieses Mannes, die Tiefe seines im jüdischen Volk wurzelnden Gefühls«. 4. Mit Baeck über Baecks Paulus-Deutung hinausgehen (Paulus im Kontext des Judentums) Auch die Ausführungen Baecks zu Paulus in »Dieses Volk. Jüdische Existenz« (1955/57), in »Epochen der jüdischen Geschichte« (1956) und auch seine allerletzte Stellungnahme zu Paulus in seinem Vortrag »Judentum, Christentum und Islam« (1956) bestätigen diesen Neuansatz im Paulusbild bei Baeck nach der Schoa. Die neue Paulusdeutung Baecks gehörte somit auch in den Kontext der Wiederbegegnung Baecks mit dem Deutschland nach 1945. Baeck wollte und konnte nicht den Juden Paulus der mißbräuchlich deutsch-christlichen und deutsch-lutherischen Interpretation überlassen, die sich in den Jahren 1933-1945 so verhängnisvoll ausgewirkt und die der gesellschaftlichpolitischen Trennung vom Judentum mit ihren verhängnisvollen und tödlichen Folgen theologisch und kirchlich vorgearbeitet hatte. R. Mayer urteilt deshalb über das Paulus-Bild des späten Baeck sachgerecht: »Damit sind alle früheren schweren Vorwürfe (Baecks) gegen Paulus gefallen. Das Zerrbild ist durch ein glaubwürdiges und lebendiges Bild ersetzt worden. Paulus ist (von Baeck nun) als ein Jude gesehen, der vom Pharisäertum herkam und noch in dem, was über das Judentum hinausführte, zuletzt nichts anderes als Jude sein wollte … Ein entscheidender Schritt für das jüdische Verständnis des Paulus (ist damit) getan«. Dennoch bleibt es nur ein erster – wenn auch entscheidender – 424

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Schritt, dem mit Baeck und über Baeck hinaus weitere Schritte folgen müssen. Wie sehr wir mit Baeck und zugleich über Baeck hinaus den Weg zu einer neuen Paulus-Interpretation im Kontext des Judentums suchen müssen, hat nicht zuletzt der Leo-Baeck-Schüler R. R. Geis in Briefen an Helmut Gollwitzer aus dem Jahre 1964 lebendig zum Ausdruck gebracht: »Fragen über Fragen; ach, wenn doch nur mal einer käme, um mir den Paulus zu erklären! … (Mein Zettelkasten) hat immer noch eine sehr empfindliche Lücke: Paulus! … Für Paulus passen mir alle jüdischen Melodien nicht, ob Klausner oder Baeck, ob Schoeps und Buber. Das alles wird ja Paulus nicht gerecht, aber der eigene Zugang hat sich eben noch nicht aufgetan. Auf der anderen Seite hilft mir die christliche Theologie auch nicht weiter, weil die ja nie in den Blick bekommt, was ich suche: den Juden Paulus«. Diesen Blick auf den Juden Paulus gegen ein Meer von antijüdischer und antijudaistischer Paulusdeutung anfangsweise und ansatzweise getan zu haben, ist das bleibende Verdienst der in seinen beiden ersten Etappen (1901-1905, 1922-1938) primär polemischen, in der dritten Etappe (1952-1956) letztendlich doch jüdischen Paulusdeutung von Leo Baeck.

Es gibt wenige große historische Persönlichkeiten, die in ebenso hohem Grade Einblick in ihren Charakter gewähren wie Paulus. Es ist die hervorstechende Eigenschaft, ja das unterscheidende Merkmal derjenigen paulinischen Briefe, die zweifellos echt sind, daß sie im wesentlichen Bekenntnisse sind. Paulus enthüllt sich in ihnen, und er tut es mit großer Offenheit und einer bemerkenswerten Gabe der Selbsterkenntnis. Er konnte seinen Glauben nicht predigen, ohne sein eigenes Herz zu erforschen und zu offenbaren. Es gab bei ihm keinen Abstand zwischen seiner Person und seiner Sache, sein Ich war jeden Augenblick gegenwärtig; seine Rede war oft erregt bis zur Leidenschaft. Was er einer Gemeinde sendet, ist nicht eine »Epistel«, sondern ein »Brief«. 1 In Deissmanns Worten: ein »Ich« schreibt einem »Du«. Es ist von einiger Bedeutung, daß wir eine Beschreibung seiner äußeren Erscheinung haben. Der Anblick eines Menschen erleichtert es uns manchmal, eine Meinung von ihm zu bilden. In den »Akten des Paulus und der Thekla« wird Paulus beschrieben als ein »kleiner Mann, krummbeinig mit kahlem Kopf, einer großen Nase und in der Mitte zusammengewachsenen Augenbrauen – von würdiger Haltung und voller Güte.« 2 Die Akten des Paulus und der The425

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kla wurden mehr als 100 Jahre nach Pauli Tod geschrieben; aber es scheint, daß sein Bild aus einer zuverlässigen Tradition stammt. Es ist ganz gewiß nicht ausgedacht, um zu schmeicheln. Die Absicht hinter diesem Portrait des Paulus ist offensichtlich die Betonung der Seltsamkeit (atopia), die einst als Attribut des Sokrates hervorgehoben wurde. Einige Züge in diesem frühchristlichen Bild des Paulus mögen von diesem Motiv bestimmt worden sein. 3 Aber die Hauptquelle für unsere Kenntnis des Paulus sind seine echten Briefe. Vier Briefe müssen auf jeden Fall als authentisch anerkannt werden: der Römerbrief, die beiden Korintherbriefe (mit Ausnahme des Abschnittes 6,14–7,1 im zweiten Brief, der wahrscheinlich ein späterer Zusatz ist) und der Brief an die Galater. Sie zeigen denselben Stil und Rhythmus, dessen erste Spuren wir in den Büchern Esra und Nehemia und dann deutlicher im Buch Daniel erkennen können. Diese drei biblischen Bücher scheinen bei den Juden einen gewissen Einfluß auf Stil, Wortwahl, Beweismethode und Lehre gehabt zu haben. Zu beachten ist ferner, daß das Wort »ekklesia« sich in den echten Briefen des Paulus auf einzelne Gemeinden bezieht, und nicht, wie in anderen ihm zugeschriebenen Briefen, auf den mystischen Leib der Gläubigen. 4 Die vier Briefe zusammen vermitteln uns ein klares Bild vom Glauben des Paulus. Verglichen mit den echten Briefen, ist der Quellenwert der Apostelgeschichte in jeder Hinsicht zweitrangig (mit den Aposteln sind hier Petrus und Paulus gemeint). Sie wurde in der zweiten Generation nach Paulus geschrieben, offenbar von demselben Autor wie das dritte Evangelium. Abgesehen von einzelnen Beweisen, die man für diese Behauptung anführen könnte, kann der Leser die Identität im Charakter des Schreibers beider Werke nicht übersehen. Der Autor bemüht sich zu zeigen, daß er ein gebildeter Mann ist. Er ist bestrebt darzulegen, daß er mit historischen, örtlichen und persönlichen Details wohlvertraut ist. Er verfügt auch über eine gewisse literarische Fertigkeit und Gewandtheit und ist wohlbewandert in der Sprache der Septuaginta und darüber hinaus in der Umgangssprache griechischer Religion. Er hat auch eine künstlerische, sogar dichterische Begabung, die er genießt und die ihn verführt. Er ist geneigt, auszumalen und zu verschönern und Situationen aufzubauen; er hat Freude an Reden und Gebeten. Zudem hat er eine Liebe zum Wunderbaren, Ungewöhnlichen, Übergroßen, wie er es in den Ereignissen erblickt und in seiner Erzählung beschreibt. Die Geschichten, die er erzählt, sind voll von Wundern und Vorbedeutungen, auch Zufällen, so daß sein Bericht eher eine Reihe von Einzelepisoden als eine fortlaufende, zusammenhängende Geschichte darstellt. 426

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Ohne Zweifel erfindet er (nach antikem Brauch) Einzelheiten. Eduard Norden hat dafür in seiner klassischen Abhandlung »Agnostos Theos« 5 den Beweis geliefert. Im ganzen muß man sagen, daß das dritte Evangelium und die Apostelgeschichte uns eher historische Belletristik als Geschichte bieten. Dahinter steht eine liebenswürdige Persönlichkeit, ein anziehender Schriftsteller, aber keine Autorität, auf die man sich stützen kann. Die Apostelgeschichte ist nützlich, aber nur, wenn ihr Inhalt durch die Briefe bestätigt wird. Dies sind unsere Quellen. Welchen Einblick in den Glauben des Paulus bieten sie uns? Das erste, was wir sehen, ist ein zentrales Erlebnis, um das sich alles dreht. Der Punkt, von dem alles abhängt, auf den alles im Leben des Paulus zurückweist, in dem sein Glaube sein Leben wurde, ist die Vision, die ihn überwältigte, als er eines Tages den Messias sah und seine Stimme hörte. Diese Vision wurde sofort und blieb die zentrale Tatsache im Leben des Paulus. Über ein solches Erlebnis läßt sich nicht diskutieren. 6 Man muß damit anfangen, um Paulus zu verstehen, seine Persönlichkeit sowohl als sein Bekenntnis. Eine Vision hatte ihn ergriffen, und für den Juden, der er war und nie aufhörte zu sein, für den Juden, dessen geistliche, intellektuelle und moralische Welt die Bibel war, mußte seine Vision den Ruf bedeuten, den Ruf zu einem neuen Wege; niemals mehr durfte er dem alten folgen. Ein Grieche, der eine solche Vision erlebt hätte, würde darüber nachgedacht, gegrübelt oder geredet und geschrieben haben; er würde nicht den jüdischen Befehl gehört haben: »Geh« – »Du sollst gehen«. Der Grieche hatte keinen Gott, der ihn für sich in Anspruch nahm und ihn als seinen Boten aussandte. Nur der Jude war sich immer dessen bewußt, daß eine Offenbarung eine Sendung enthält, daß die sofortige Bereitschaft, den Weg zu gehen, das erste Zeugnis und Zeichen des Glaubens ist. Paulus wußte nun, daß ihm das Apostelamt im Namen des Messias zugefallen war. Der letzte Jude in der jungen Kirche war ihr letzter Apostel. Mit der griechischen Erbfolge begann ein neues Kapitel in der Geschichte der Kirche. Man spricht gewöhnlich von Pauli Bekehrung. Aber dieser Ausdruck ist unzureichend. Was im Leben des Paulus geschah, war keine Bekehrung im üblichen Sinne des Wortes, sondern eher eine Revolution, eine Verwandlung. Was Paulus uns von der Veränderung in seinem Innern erzählt, zeigt deutlich das Plötzliche. Es war eine Krisis des Augenblicks. Niemand hatte ihn beeinflußt oder gelehrt; es war kein Helfer, kein Mittler da. Paulus stand auf sich selbst in diesem Ereignis der Vision. Und so konnte und mußte das Handeln auf Erden, das daraus folgte, allein seine Sache sein. So war sein er427

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ster Schritt nicht zu den Menschen, sondern in die Wüste, jenem Ort der einsamen Entscheidung, an den sich Männer des jüdischen Volkes oft zurückgezogen hatten, um über den Weg nachzudenken, der vor ihnen lag. »Alsobald fuhr ich zu und besprach mich nicht darüber mit Fleisch und Blut, kam auch nicht gen Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog hin nach Arabien (der Wüste) …« 7 (Gal 1,16 f.). Die Verwandlung des Paulus war nicht jene subita conversio ad docilitatem, die Calvin erlebte und von der er in der Vorrede zu seinem Kommentar zu den Psalmen spricht, – jene »plötzliche Bekehrung zu einer Bereitschaft des Lernens«. Paulus hatte nichts weiter zu lernen; die Vision hatte ihm alles gesagt. Er hatte eher vieles zu vergessen. Ein neues Prinzip war aufgestellt, ein neuer Standpunkt eingenommen. Es kam aus einer Welt, in die man nicht durch die Bereitschaft zum Lernen Eintritt gewann. Man mußte annehmen oder ablehnen, sofort und für immer. Vielleicht kann hier ein Wort von Kierkegaard, obwohl bizarr in seiner Ausdrucksweise, zur Erläuterung dienen: Der Ruf zum Apostelamt ist ein paradoxes Ereignis, weil er immer von jenseits des Selbst kommt. 8 Eine Parallele, die uns helfen mag, solch »paradoxe Tatsache« zu verstehen, ist die »Krisis« im Leben des Mohammed. Wenn Paulus von seinem neuen Leben spricht, betont er gleichzeitig zweierlei: die »Offenbarung« und die »Sendung«. Im Grunde bedeuten sie ihm dasselbe. Er hat seine Autorität und sein Amt von keinem Menschen empfangen. Er hat das Bewußtsein, daß ihm das Zeichen von Oben aufgedrückt worden ist. Nicht durch Einsetzung, sondern durch göttliche Berufung wurde er Apostel. Alle vier Briefe haben einen ähnlichen Anfang: »Paulus, ein Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert, zu predigen das Evangelium Gottes« (Röm 1,1); »Paulus, berufen zum Apostel Jesu Christi durch den Willen Gottes« (I Kor 1,1); »Paulus ein Apostel Jesu Christi durch den Willen Gottes« (II Kor 1,1); »Paulus, ein Apostel (nicht von Menschen, auch nicht durch Menschen, sondern durch Jesum Christum und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat von den Toten« (Gal 1,1). Er betont diesen Punkt wieder und wieder: »Ich tue euch aber kund, liebe Brüder, daß das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht menschlich ist. Denn ich habe es von keinem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi.« (Gal 1,11-12). Diese Worte sind keine bloßen Einleitungsformeln, sie sind die Grundlage seines Glaubens. Es ist merkwürdig, mit welcher keuschen Zurückhaltung, wenn man so sagen darf, Paulus von dem Ereignis seiner Berufung er428

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zählt: »Da es aber Gott wohl gefiel, der mich von meiner Mutter Leibe an hat ausgesondert und berufen durch seine Gnade, daß er seinen Sohn offenbarte in mir, daß ich ihn durchs Evangelium verkündigen sollte unter den Heiden …« (Gal 1,15 f.). Und mit noch größerer Zurückhaltung schreibt er an die Korinther: »… habe ich nicht unsern Herrn Jesus Christus gesehen?« (I Kor 9,1 und 15,8) 9 . Er sagt nicht mehr und nicht weniger. Es blieb dem Schreiber der Apostelgeschichte überlassen, uns mehr zu erzählen in einer ins einzelne gehenden Geschichte, die als poetisches Werk mit Recht zu den größten Schätzen der Menschheit gezählt wird (22,6 ff.). Paulus selbst erwähnt diese Ereignisse nicht, wenn er von seiner Vision redet. Wenn derartiges sich ereignet hätte, würde er es gesagt haben. 10 Man möchte glauben, daß gerade in dieser Einfachheit des Ausdrucks die Wahrheit liegt und daß es die ganze Wahrheit ist. Wie wir schon oben sagten, blieb für Paulus diese Vision der Mittelpunkt von Glauben und Leben. Das Persönliche hatte einen Hintergrund in dem messianischen Denken und Fühlen, das die Masse des jüdischen Volkes, besonders in Palästina, in Bann hielt. Zweifellos ist Paulus anfangs sehr tatkräftig denen entgegengetreten, die glaubten, daß der Messias in ihren eigenen Tagen gekommen sei, daß Jesus von Nazareth der Christus sei. Sie hatten gesehen und gehört, wie er geheilt, gepredigt und getröstet hatte, bis die Römer ihn kreuzigten, weil er als König der Juden begrüßt worden war. Sie waren überzeugt, daß er kurz darauf, am dritten Tage, nach dem Worte des Propheten, von den Toten auferstanden sei und daß er an dem vorbestimmten, von ihnen erwarteten Tage in der Fülle seiner Herrlichkeit wiedererscheinen werde. Paulus erzählt, wie heftig er gegen die Gemeinde der Gläubigen kämpfte: »… wie ich über die Maßen die Gemeinde Gottes verfolgte und sie verstörte.« (Gal 1,13 und 23) oder in wörtlicher Übersetzung des griechischen Textes: »Über die Maßen habe ich die Kirche Gottes gequält und hart bedrängt.« 11 Aber all dies war nur ein vorbereitendes Stadium in der inneren Entwicklung des Paulus, die mit der Vision einsetzte. Hier treffen wir auf den wesentlichsten Faktor, von dem alles andere ausgeht. In seiner Vision sah Paulus den Christus; seitdem war sein Glaube christo-zentrisch. Nicht Gott hatte ihn erweckt, zu ihm gesprochen und ihn gerufen, sondern Christus. Wenn Paulus sich der großen Stunde erinnert, sagt er: »Habe ich nicht unsern Herrn Jesus Christus gesehen?« (I Kor 9,1). Man erkennt sofort den besonderen Charakter und die Tragweite der Vision, wenn man sie vergleicht mit Jesajas »Ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen« (6,5) oder wenn man bedenkt, daß die alten Pro429

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pheten alle berufen waren, Boten Gottes zu sein, während es bei Paulus heißt »berufen zum Apostel Jesu Christi …« (I Kor 1,1). Das Werk der Propheten war theozentrisch, das Werk des Paulus christozentrisch. Darauf liegt der Nachdruck im Römerbrief: »… Jesus Christus, unser Herr, durch welchen wir haben empfangen Gnade und Apostelamt …« (1,4 f.). Hier wird ein Wendepunkt in der Geschichte der Religion, in der Entwicklung des Monotheismus sichtbar. Die alte theozentrische Religion des Judentums wird ersetzt durch das neue christozentrische Bekenntnis. Der Glaube an Gott, den Einen, ist zurückgetreten hinter den Glauben an den Christus. Hier ist der Scheideweg der Religionen. Zwar würden die Gläubigen nicht des Messias gedenken, ohne sich Gottes bewußt zu sein; sie würden ihr Gemüt nicht zum Sohn erheben, ohne zugleich den Vater zu erkennen. Aber so ist der Geist des Menschen beschaffen, daß ein älterer Glaube durch einen neuen beeinträchtigt wird, und der neue Glaube bestimmt den Weg in die Zukunft. Was später geschah oder hervortrat, war schon am Anfang angelegt. Gott wurde sozusagen in den Hintergrund gerückt. Er wurde der Deus absconditus, umgeben von dunklem, furchtbarem Geheimnis. Das helle Licht, die Herrlichkeit umstrahlt jetzt den Christus. Sein ist die ewige Handlung; Gott verharrt als das ewige Sein. Sein sind die großen Attribute des Heilandes, des Erlösers; er heißt jetzt der Herr, Kyrios 12 – das ist derselbe Name, mit dem die Septuaginta das Tetragrammaton übersetzt hatte, das »Ich bin 13 , der ich bin«, oder, wie es in der Septuaginta heißt: »Ich bin der, der ist.« Übrigens hatte die messianische Idee selber schon seit längerer Zeit eine Umwandlung erfahren, die größere Beachtung verdient als ihr gewöhnlich zuteil wird. Da war einerseits das Bild, das die Propheten gezeichnet hatten. Der Messias ist der »Sohn Davids«, »das Kind, das uns geboren, der Sohn, der uns gegeben wurde«, auf dem »der Geist des Herrn ruhen wird«. Eines Tages wird er geboren werden, um der wahre König zu sein, um die Stämme Israels zu erlösen und der Menschheit den Weg der Religion zu weisen. Vor seinem Erscheinen wird Gott »Elias den Propheten senden«, um seinen Weg zu bereiten. Hoffnung und Denken bewegen sich hier in der Dimension der Geschichte, der Weltgeschichte sowohl als der jüdischen Geschichte: es ist gewissermaßen eine Horizontale. Sie beginnt mit dem ersten Tage und dem ersten Wort der Bibel, dem erhabenen beres’hit, »im Anfang«, und geht bis zum letzten Tage der Erfüllung, zum erhabenen biblischen be-’aharit, »und es soll kom˙ zieht von der »arche« men im ’aharit, den letzten Tagen …«, die Linie ˙ 430

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zum »eschaton«. An einem Tage wurde die Welt erschaffen, und an einem Tage wird die Welt erfüllt sein, und die Geschichte zwischen den beiden »Tagen« ist wie ein Gewölbebogen, der den Weg des menschlichen Erdenlaufs bezeichnet. Andererseits gab es einen zweiten Messiasbegriff. Er stammte aus dem Buch Daniel, einem der wirkungsvollsten Bücher der Bibel. 14 Hier wird der Messias nicht geboren, noch ist er »ein Reis aus der Wurzel Jesse«. Er stammt aus einem ganz anderen Gebiet, aus der Präexistenz. Aus dieser Sphäre wird er herniedersteigen »in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit«. 15 Hier ist keine Beziehung mehr zwischen dem ersten und dem letzten Tage, sondern zwischen der »unteren Welt« und der »oberen Welt«, der ‘olam hazzeh und dem ‘olam habba, der gegenwärtigen Welt und der Welt, die kommen wird. Hoffnung, Sehnsucht und Glauben sind nicht auf die »kommenden Tage« gerichtet, auf die yamim ba‘im der Propheten, sondern auf dieses ‘olam habba, diese »kommende Welt«, die sich in der »Vision« dargeboten hatte. Die Linie ist hier nicht mehr horizontal, sondern vertikal, von der Höhe zur Tiefe und von der Tiefe zur Höhe, und die Spannung 16 besteht jetzt zwischen den beiden Welten. Für den Vorläufer, den Elias, ist jetzt kein Raum mehr; einen Platz für ihn gab es nur im alten prophetischen Weltbild. Es ist zu beachten, daß der Gegensatz zwischen »Unten« und »Oben« auch für die alexandrinisch-griechische Philosophie charakteristisch ist. Das Buch Daniel wurde geschrieben, als Palästina ein Jahrhundert lang ein Teil des ptolemäischen Königreichs Ägypten gewesen war und unter dem geistigen Einfluß seines Hellenismus gestanden hatte. Sogar später, als eine Grenze das jüdische Palästina von Ägypten trennte, war es eher eine politische als eine kulturelle Grenze. Auf dem Gebiet des Geistes bestand ein dauernder Austausch. 17 Wir wissen nicht, ob der neue Messiasbegriff, der im Buch Daniel erscheint, aus Palästina oder Ägypten stammt. Auf jeden Fall paßt diese neue Form der messianischen Idee auffallend gut zur Grundidee der alexandrinischen Philosophie. Der Messianismus aus der Höhe hatte einen mächtigen Bundesgenossen gefunden, der aber auch zugleich ein kühner Verführer sein konnte. Die beiden Messiasbegriffe lebten in der jüdischen Welt nebeneinander. Innerhalb der Grenzen seiner religiösen Lebensart besaß das jüdische Volk eine einzigartige Weitherzigkeit. Der Urteilsspruch im Streit der Schulen des Hillel und des Schammai: »beides sind Worte des lebendigen Gottes« entsprach dem Empfinden des Volkes. Der horizontale Messianismus fand Anklang bei den Menschen, denen 431

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es am Herzen lag, aus eigenen Kräften das Königreich Gottes auf Erden zu verwirklichen; sie hörten auf die Worte der Propheten. Die, welche ungeduldig verlangten, das Königreich Gottes hier und jetzt zu empfangen, fühlten sich von dem vertikalen Messianismus angezogen; sie sehnten sich glühend danach, die Vision zu schauen und in ihr aufzugehen. Zwei Formen des Gedankens vom Gottesreich entfalteten sich, aber es war keine starre Grenze zwischen ihnen. Im Evangelium sehen wir beide Formen, die prophetische und die apokalyptische. Der Messias ist der Sohn Davids; er stammt von Jesse. »Und da Jesus von dannen fürbaß ging, folgten ihm zwei Blinde nach, die schrieen und sprachen: ›Ach, du Sohn Davids, erbarme dich unser!‹«; »Und alles Volk … sprach: ›Ist dieser nicht Davids Sohn?‹« In Jerusalem schreit die Menge »Hosianna dem Sohn Davids« (Mt 9,27; 12,23; 21,9 und ihre Parallelen). Aber wir finden auch Sätze aus einer Apokalypse, die in das Evangelium eingefügt sind, wo ihm gesagt wird, daß er »komme in den Wolken des Himmels«. 18 Außerdem können wir eine entschiedene Opposition gegen den »Sohn Davids« erkennen. Alle drei synoptischen Evangelien enthalten eine Rede, die die Ablehnung dieses Begriffes bezeugt: »Und Jesus antwortete und sprach, da er lehrte im Tempel: ›Wie sagen die Schriftgelehrten, Christus sei Davids Sohn? Er aber, David, spricht durch den heiligen Geist: der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis daß ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße. Da heißt ihn ja David seinen Herrn, woher ist er denn sein Sohn?« 19 Die Frage war tatsächlich: »Sohn Davids« oder »des Menschen Sohn, der sitzet zur Rechten des Vaters«. 20 Es kann kein Zweifel darüber bestehen, zu welcher von diesen beiden Ideen sich Paulus bekannte. Ihm war die Vision zuteil geworden, und die Vision enthüllte das »Oben«, das Himmlische. Zwar sagt die Einleitung zum Römerbrief (1,3): »… von seinem Sohn, der geboren ist von dem Samen Davids nach dem Fleisch.« Aber die Einleitung zu anderen Briefen, obwohl sonst im Ausdruck ähnlich, enthalten diese Worte nicht, noch finden sie sich in den Briefen selbst. Sie klingen eher wie das Zitat einer in den Gemeinden üblichen Formel. 21 Für Paulus ist der Messias nur der »Sohn Gottes«. Das ist der volle Inhalt des messianischen Gedankens. Was Jesus sagte und tat, sein Predigen und seine Wunder, ist vergleichsweise weniger bedeutsam. Er kam nur in diese Welt, um zu sterben und aufzuerstehen. Die Auferstehung ist die Botschaft, sonst nichts. »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich« (I Kor 15,14 und 17). Das ist die einzige Tradition, die Paulus erwähnt. Zweimal sagt er: »Ich habe es von dem 432

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Herrn empfangen, das ich euch gegeben habe«, 22 und von den beiden Sätzen, die dieser Aussage folgen, bezieht sich der erste auf die Vorbereitung zur Auferstehung – auf das Abendmahl – und der zweite auf die Auferstehung selbst. Das ist das einzige Thema. Hier beginnt schon der Zwiespalt zwischen Paulus und den Jüngern, der in der Kirche fortlebte: der Zwiespalt zwischen denen, die die imitatio Christi verlangten, und denen, die in erster Linie den »Glauben« lehrten. 23 Aber der Geist des Paulus umfaßte viele Dinge. Solange der wesentliche Glaubenssatz anerkannt wurde, erlaubte er eine gewisse Freiheit des Ausdrucks. 24 Er war sich der Vollständigkeit seiner Vision bewußt, aber auch der Unvollkommenheit seiner Fähigkeit, sie in Worte zu fassen. »Denn unser Urteilen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk« (I Kor 13,9). 25 Deshalb lehnte er weder die Ekstase noch das Zungenreden noch das Prophezeien ab. Sein Geist konnte viele Dinge umfassen 26 , seine schöpferische Anlage wirkte sich mehr in der Analogie als in der Analyse aus. Hier muß ein weiterer Punkt erwähnt werden. Die messianische Idee, wie sie von Paulus verstanden wurde, forderte ihrer Natur nach zu »Analogien« und »Beziehungen« heraus. Paulus war in Tarsus 27 aufgewachsen, einer Stadt des Hellenismus, mit all seinen Philosophien, Überzeugungen, Verkündigungen und Kulten. Wenn auch manches davon dem Juden falsch erscheinen mußte, so war doch auch etwas daran, was ihn nicht so fremd anmutete. Es gab eine einfache und kurze Antwort auf die verschiedenen Formen antiken Heidentums: sie waren alle eitel und nichtig. Aber der hellenistischen Gedankenwelt gegenüber waren die Gefühle eines Juden irgendwo komplizierter. Etwas daran erinnerte ihn hier an jüdisches Denken, vor allem das der jüdischen Weisheitsschulen. Kein Jude konnte diese Seiten des »Hellenismus« ablehnen, ohne einen Teil seiner selbst aufzugeben. Man war bereit, hellenistischen Lehrern die »Weisheit« zuzuschreiben, von der die Bibel spricht. Wenn ein Jude einen solchen Lehrer traf, mußte er Gott loben, weil er einem Menschen etwas von seiner Weisheit geschenkt hatte. 28 Obwohl die heidnischen Lehrer nicht die ganze Fülle der Thora besaßen, so besaßen sie doch diese »Weisheit«, dieses »hokhmah«. Und man muß auch nicht vergessen, daß für den Juden die »Weisheit« eine geistige, ethische und kosmische Macht 29 war; sie bedeutete ihm viel. Er durfte auch hoffen, die Besten unter den Heiden zu gewinnen und ihnen zu zeigen, daß sie schon auf der rechten Bahn seien und nun auch dem wahren Endziel zusteuern sollten: dem jüdischen Glauben. So kamen viele Bekehrungen zustande. Für Paulus 433

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bedeutete hellenistisches Denken zugleich Anregung und Hoffnung. Er war nicht, wie oft gesagt worden ist, selbst ein »Hellenist«, seine Haltung der hellenistischen Welt gegenüber war vielmehr die gleiche wie die gewisser palästinensischer Lehrer. Man kann seine Beziehung zum hellenistischen Denken leicht nachweisen. Er bedient sich der griechischen, insbesondere der stoischen, philosophischen Terminologie, wenn er von einer natürlichen Erkenntnis Gottes spricht (Röm 1,18 ff.) oder von Christus als der »Weisheit Gottes« (I Kor 1,24) oder wenn er von Gott sagt »denn in ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge« (Röm 11,36 und I Kor 8,6); er braucht die Ausdrücke »Gewissen« (Röm 2,15 etc.), »nicht geziemend« (Röm 1,28), »Natur« (I Kor 11,14), »die Elemente der Welt« (Gal 1,4). Mit diesem Sprachgebrauch hält sich Paulus innerhalb der Grenzen des Judentums. 30 Aber aus der gleichen hellenistischen Gedankenwelt, wenn auch aus einer anderen Schicht, kamen andere Bilder und Stimmen zu Paulus – Bilder und Stimmen, die noch der jüdischen Messiaslehre verwandt erscheinen, aber die tatsächlich andersartig sind. Durch sie ließ sich Paulus weit aus den Grenzen des Judentums heraustragen. Die andere Schicht hellenistischen Denkens waren die farbenreichen Mysterienkulte und die zweideutigen Mysterienlehren, die zu einem siegreichen Glauben wurden, da sie zugleich auf geistig anspruchsvolle und auf schlichte Menschen wirkten. In Tarsus blühten solche Gemeinschaften. Jeder dieser vielgestaltigen Kulte und Lehren hatte seine Besonderheiten. Aber im wesentlichen waren sie sich alle gleich und brachten die gleiche Botschaft. Sie waren vielfältig an Zahl, aber ohne Unterschied im Wesen. Sie redeten alle von einem Heiland, Erlöser, Herrn, einem Gotte, der durch seinen Tod und seine Auferstehung den Tod selbst besiegt hatte und jetzt das wirkliche, ewige Leben denen schenken konnte, die sich durch Sakramente ihm verbanden: durch Taufe, Salbungen, geweihte Gegenstände. Zwei Glaubensartikel waren allen diesen Lehrern gemeinsam: Sakrament und Auferstehung; der erste, der unumgängliche »Weg«; der zweite, die Erfüllung. Das Sakrament war somit etwas durchaus Wesentliches. Nur das Sakrament konnte dem Menschen die Pforte zum übernatürlichen Reich öffnen – ihn sterben lassen, wiedererwecken und ihm das Leben in der Gottheit geben, die den Tod besiegt hatte. Dazu kam die Erfahrung des unmittelbar Gegenwärtigen. Nach der Weihe gab es kein allmähliches Fortschreiten, kein Warten und Wachen; der Heiland kam nicht zurück, er erschien nicht ein zweites Mal, um Erlösung zu bringen. Hier und jetzt und sofort wurde die Erlösung vollendet. Die Erfüllung war nicht 434

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nur ein »Versprechen«, keine »Erwartung«, sie war ganz persönliche und dauernde »Gegenwart«. Dieser Glaube und sein Ausdruck ist dem ähnlich, was Paulus in seinen Briefen verkündet. Die Ähnlichkeit darf nicht übersehen werden. Aber, als zu Beginn dieses Jahrhunderts 31 von bedeutenden Gelehrten die Aufmerksamkeit zum ersten Mal auf diese Übereinstimmung gelenkt wurde, kam man zu Folgerungen, die durch den Tatbestand nicht gerechtfertigt wurden. Man beschrieb Paulus als den Gründer einer neuen Art von Mysterienreligion, mit dem das letzte, allumfassende Kapitel in der Geschichte dieser geheimnisvollen Bekenntnisse und Kulte begonnen habe. Später kam die natürliche Reaktion. Man unterschätzte nun die Beziehung des Paulus zu den Mysterienkulten und ging so weit, sie als unerheblich anzusehen. Das Richtige wurde zusammen mit dem Falschen verworfen. Eine sorgfältige Untersuchung aller Seiten des Problems führt zur Schlußfolgerung, daß man Ähnlichkeiten zwischen der Lehre des Paulus und den Mysterienkulten nicht leugnen kann, – Ähnlichkeiten, die auf einen Einfluß hinweisen. Paulus war ein Jude aus Tarsus, kein Syrer, Perser oder Ägypter aus Tarsus. Sein Glaube war jüdischer Messianismus, wie er durch das Buch Daniel bestimmt worden war und durch die Bücher, die von hier ihren Ursprung nahmen. Sein Ausgangspunkt war die Vision, die ihm zuteil geworden war und die ihm die Überzeugung gab, daß Jesus der Christus sei. In ihm lebte die Tradition des jüdischen Volkes. Aber durch die Mysterienkulte und Bekenntnisse bekam seine Vision und die Erkenntnis, die sie ihm vermittelte, eine neue Bedeutung, eine größere Fülle und eine zusätzliche Glaubensgewißheit. Was in der Sphäre der »Weisheit« sich vollzogen hatte, das erste Einsammeln der Heiden, erschien dem Paulus als eine Aufgabe, die nun in dem großen Reich der Mysterienreligionen zu lösen war. In der Sphäre der »Weisheit« wurde der eine Gott gepredigt, wie er sich dem jüdischen Volk offenbart hatte, der Eine, von dem alle Weisheit ausgeht und neben dem es niemanden gibt. In der neuen Sphäre galt die Verkündigung auch der »Weisheit«, aber mehr als der »Weisheit« 32 , sie galt der »göttlichen Kraft« (I Kor 1,24), dem Messias, Jesus Christus, der sich zuerst den Juden gezeigt hatte. Er war in Wirklichkeit der einzige Heiland, von dem alle Erlösung ausgeht und neben dem es keinen anderen gibt, keinen Attis, keinen Osiris, keinen Mithras. »So haben wir doch nur einen Gott … und einen Herrn, Jesus Christus« (I Kor 8,6). 33 Der eine Gott und der eine Erlöser muß sowohl dem weltsicheren Griechen gepredigt werden, für den es nur eine »Narrheit«, eine »Torheit« sein kann, und dem nach 435

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Innen gewandten Juden, für den es die »Verführung«, die »Falle« sein muß 34 . Dies war für Paulus die letzte Antwort, die alles umfaßte: Philosophie und Mystik, und so der ganzen Menschheit die ganze Wahrheit gab – »Weisheit« verbunden mit »Kraft«, oder, wie Paulus es in Daniels Worten sagt: »Christus, göttliche Kraft und göttliche Weisheit« (Dan 2,20; I Kor 1,24). Es würde müßig sein, darüber nachzudenken, wie sich im Geist des Paulus die einzelnen Fäden zu einem Gewebe verbanden, was zuerst kam und was folgte, wo und wann sie zusammen trafen. Aber das Gewebe selbst ist offenbar, man kann es deutlich sehen: nur wenn man das erkennt, kann man die beiden charakteristischen Merkmale in der Predigt und Lehre des Paulus unterscheiden: die Bedeutung, die er der Taufe einerseits und andererseits den »Tagen des Messias« beilegt. Die Taufe, wie Paulus sie predigt, ist etwas ganz anderes als die Taufe, die seit alter Zeit ein heiliger Ritus im Judentum war und die besonders zur Zeit des Paulus in den Kreisen der Essener, der »tobhle s‘haharin« der Hemerobaptisten 35 , geübt wurde, und auch etwas anderes als die Taufe Johannes des Täufers. Diese war die Abwaschung einer Verunreinigung durch Untertauchen in reinem Wasser. Das Wasser selbst war ohne Bedeutung, es war nichts als Wasser. Es war wie das Wasser, das zur Reinigung von Gefäßen diente, die rituell unrein geworden waren. Und der Mensch, der sich befleckt hatte, reinigte sich auch selbst durch diese Taufe, es war seine eigene Handlung. Kein anderer leistete sie ihm; er wurde nicht von einem anderen Manne getauft. Die hebräischen und aramäischen Worte für taufen, »tabhol, tebhal«, werden, wenn sie sich auf Menschen beziehen, ausschließlich als intransitive Verben gebraucht. 36 Die Leute, die zu Johannes dem Täufer kamen, wurden nicht von ihm getauft; sie tauften sich selbst 37 , sie wurden sozusagen Täufer wie er. In den Mysterienkulten war die Taufe etwas ganz anderes. Es war kein ritueller Brauch, sondern ein magisches Sakrament, ja ein magisches Ereignis. Der Mensch mußte getauft werden, er wurde das Objekt einer Handlung, die an ihm vollzogen werden mußte 38 , und die Taufe wirkte an ihm ex opere operato. Auch wurde er nicht gereinigt, sondern verwandelt. Durch die Kraft der Taufe wurde er aus diesem Leben herausgehoben und in ein anderes hinaufgetragen, in das wahre, dauernde Leben, das stärker ist als der Tod. Er wurde mit der Gottheit vereinigt, um mit ihr des gleichen Seins teilhaftig zu werden. Charizomene¯ so¯teria, »Erlösung durch Gnade«, wurde sein Teil. Wenn wir lesen, was Paulus über die Taufe sagt, wenn er davon spricht als »getauft in Jesum Christum«, »getauft in seinen Tod«, »mit 436

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ihm begraben«, um »in seiner Auferstehung ihm gleich zu sein« (Röm 6,3), oder als »Christum anziehen« (Gal 3,27), sogar als »alle in einen Leib getauft werden« (I Kor 12,13) – wenn wir all dies begreifen, so finden wir, außer den Worten selbst, nichts von dem darin, was die jüdischen Lehrer oder Johannes der Täufer oder die Jünger Jesu unter Taufe verstanden haben. Andererseits ist es fast unvermeidlich, die wesentlichen Züge der »Taufe« in den Mysterienreligionen wiederzuerkennen. Das Wort, das Paulus braucht, ist ein jüdisches Wort, aber der Inhalt weist auf jene andere Sphäre hin 39 , mit der er sehr wohl vertraut war. Die Annahme, daß Paulus durch die Analogien, die sich darboten, eingefangen wurde, ist kaum zu vermeiden. Er fühlte, daß in den Mysterienreligionen die Heiden nahe an die eigene Botschaft kamen, in der er vom Erlöser, vom Tode des Herrn am Kreuz und von seinem Auferstehen sprach, die den Gläubigen das ewige Leben verleiht. Er sah die Heiden auf derselben Straße voranschreiten. Seine Aufgabe war nun, ihnen ihr wahres Ziel zu weisen, genau wie es früher auf dem Felde der »Weisheit« geschehen war: Christus, der zugleich »Gottes Kraft und Weisheit« war. In späteren Tagen, als das Christentum an Geltung dem Heidentum gegenüber gewachsen war, erkannte Tertullian die auffallende Ähnlichkeit zwischen der christlichen Taufe und dem Einführungsritus der Mysterienreligionen. In seiner Abhandlung über die Taufe behauptet Tertullian, der Teufel habe die christliche Taufe nachgeahmt aus dem Wunsche heraus, es »Gott gleich zu tun«, indem er »die Taufhandlung bei seinen eigenen Untertanen ausübte« und sich anmaßte »zu reinigen«, »freizusprechen« und »Sünden hinweg zu waschen«. 40 Die Ähnlichkeit war so groß, daß keine andere Erklärung möglich schien als Satans Bosheit. Die Tatsache war wirklich schwer zu ertragen und doch nicht zu leugnen. Das Problem des Gottesreichs, eine Idee von großer Tragweite, stand auch in enger Beziehung zur paulinischen Taufe. In Glauben und Lehre 41 , des Paulus ist das »Reich Gottes« weder ein häufiger noch ein charakteristischer Ausdruck. 42 Auf jeden Fall wird etwas anderes darunter verstanden als im Judentum, wo es sich auf die »kommenden Tage« bezog, die der Gläubige erwartete und auf die er sich vorbereitete. Paulus predigte nicht das Warten auf ein zukünftiges Zeitalter. Mit dem auferstandenen Christus verkündigte er das gegenwärtige Reich Gottes. Der Mensch sollte durch die Kraft des Sakramentes auferstehen, um in Christus zu leben. »Wie denn die Predigt von Christo in euch kräftig geworden ist, also daß ihr keinen Mangel habt an irgend einer Gabe und wartet nur auf die Offenbarung unseres 437

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Herrn Jesu Christi« (I Kor 1,6 ff.). Das Reich ist für Paulus Gegenwart und erfüllte Erwartung. Der letzte Tag des Gerichts wird nur besiegeln, was schon vollendet ist. 43 Der Gläubige lebt mitten in den Tagen der Verheißung, in den Tagen des Messias. Hier liegt der Kern und die Kraft seines Glaubens. Das Wort »jetzt« bei Paulus wird erläutert durch die folgenden Sätze: »Nun ist aber ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart« (Röm 3,21); »nachdem wir durch sein Blut gerecht geworden sind« (Röm 5,9); »Christus, durch welchen wir nun die Versöhnung empfangen haben« (Röm 5,11); »Es sei das Gegenwärtige oder das Zukünftige – alles ist euer« (I Kor 3,22). Hier scheidet sich wieder sein Weg von dem der Jünger Jesu; und, während Paulus den alten Wortschatz beibehält, gibt er ihm eine neue Bedeutung. Paulus hatte noch ein anderes schwerwiegendes Problem zu lösen. Zu seiner Zeit gehörte es zur Lehre des Judentums, daß sich der gesamte Lauf der Geschichte in drei aufeinanderfolgenden Epochen abspielt. So heißt es nach einer alten Tradition, auf die eine feierliche Einleitungsformel »Es wurde in der Schule des Elias 44 gelehrt« hinweist: »Es gibt drei Epochen: zweitausend Jahre des Chaos, tohu wabohu; zweitausend Jahre des Gesetzes (Thora), beginnend mit der Offenbarung am Berg Sinai; zweitausend Jahre des messianischen Reiches« 45 , und danach am Ende »die Welt, die nur Sabbath ist, die Ruhe im ewigen Leben«. 46 Der Thora gehört also keine Dauer, sondern nur eine »Periode«. Wenn die »Tage des Messias« beginnen, gehen die Tage der Thora zu ihrem Ende 47 . Und wenn umgekehrt das Gesetz, die Thora, noch ihre Gültigkeit behält, so ist damit gesagt, daß der Messias noch nicht erschienen ist. Das war die Alternative, die Frage, die entschieden werden mußte. Es war kein hellenistisches, sondern ein jüdisches Problem, denn es folgte zwingend aus der Lehre der Epochen. Immer wieder hat dieses Problem im Lauf der Jahrhunderte jüdische Gemüter beschäftigt. Es gab mehrere Systeme, nach denen die Epochen gekennzeichnet wurden, aber der Grundgedanke blieb immer, daß die »Perioden« einander ablösen und daß die Epoche der Thora zu Ende gehen und ein über die Thora hinausgehendes Zeitalter folgen werde. Diese Vorstellung herrschte sowohl vor als nach der Zeit des Paulus. Simeon ben Eleazar 48 , ein Schüler des Mëir (zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts) interpretierte bezeichnenderweise die Worte des Predigers Salomonis 12,1 (»ehe denn … die Jahre herzutreten, da du wirst sagen: sie gefallen mir nicht«) in folgender Weise: »die Jahre kommen, in denen du sagen wirst: ich habe keinen Willen 49 , keine Wahl«; und er erklärt, daß sich dies auf die Tage des Mes438

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sias bezieht, »denn in ihnen wird es weder Verdienst noch Schuld geben«. Die Parallele zum Satz des Paulus: »Alle Dinge stehen mir von Gesetzes wegen frei (I Kor 6,12)« ist offensichtlich. Paulus konnte nur so sprechen, weil er überzeugt war, daß die Tage des Messias hereingebrochen waren. Die grundlegende Frage, die sich dem Paulus stellte, hieß: in welcher Periode leben wir, in der der Thora oder in der des Messias? War das Erscheinen Jesu Christi nur der Anfang, wenn auch ein schicksalsvoller Anfang, oder war es schon das Ende? Oder in den Worten des Matthäus: Ist »alles erfüllt« und das Gesetz »schon überwunden«, oder ist noch nicht alles erfüllt und »es wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz«? 50 Jetzt ist es klar, warum Paulus nicht das »Gesetz« bekämpfte, sondern seine Gültigkeit in der »Gegenwart«, und warum er diesen Kampf mit der ganzen Entschlossenheit seines Glaubens und seines Willens kämpfte. Es ging nicht um das »Gesetz«, sondern um den Messias, seine tatsächliche Gegenwart. Der ganze Glaube des Paulus stand bei diesem Kampf auf dem Spiel. Wenn wirklich durch Gottes Ratschluß dem Paulus und der Gemeinde der Gläubigen Erlösung zuteil geworden war, dann folgte, daß das Gesetz von Rechts wegen aufgehört hatte zu bestehen. Wollte man es in Kraft lassen, so leugnete man die Botschaft der Erfüllung und Vollendung. Die Trennungslinie war klar: wer immer behauptete, daß das Gesetz noch bindend sei, war ein Ungläubiger, er glaubte nicht an die Gegenwart Christi. Die Wahl hieß: »Gesetz« oder »Erlösung«. Wir dürfen deshalb nicht sagen, Paulus habe das Gesetz verworfen oder verurteilt – hätte er das getan, so hätte er damit die Grundlage seines Glaubens zerbrochen. Im Gegenteil, ihm ist »das Gesetz heilig und das Gebot heilig, recht und gut (Röm 7,12)«, er konnte wirklich sagen: »Wir richten das Gesetz auf« (Röm 3,31). Das ist kein Widerspruch, wie einige Gelehrte angenommen haben. Im Gegenteil, es zeigt die Folgerichtigkeit in seinem Denken. Er mußte von beidem reden: vom Gesetz und von Christus. Er konnte nicht das eine sagen ohne das andere. Es ist dieselbe Beziehung wie zwischen Weg und Ziel oder zwischen dem, was »geschrieben steht« und dem, was »erfüllt ist«. Beide zusammen beweisen die Wahrheit und offenbaren göttliche Verordnung und Schickung. Indem Paulus die neue »Epoche«, die »Tage jenseits des Gesetzes«, predigte, trat er – und das muß betont werden – nicht aus dem Bereich jüdischer Weltansicht heraus. Er war fest überzeugt, daß er innerhalb der jüdischen Sphäre war und blieb. Was ihn von den anderen trennte, war sozusagen nicht die »quaestio juris«, sondern die 439

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»quaestio facti«. Daß eines Tages ein neues Weltalter anbrechen würde, bestritt niemand; es war der gemeinsame Glaube des jüdischen Volkes. Es war auch ein Glaube, den das jüdische Volk nie entbehren und ohne den es nicht sein konnte. Was den Paulus vom jüdischen Volke unterschied, war eine Tatsachenfrage – ob der Messias sich endgültig offenbart habe, ob sein Reich wirklich gekommen sei. Paulus hat nie daran gedacht, das jüdische Volk zu verwerfen oder zu verachten. Es war sein Volk, dem er nicht untreu werden konnte, ohne seinem eigenen Glauben untreu zu werden, das er nicht aufgeben konnte, ohne Hoffnung und Liebe aufzugeben. In seinen eigenen Worten heißt das: »So sage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne!« (Röm 11,1). Die letzte Phrase dieses Satzes, das griechische »me¯ genoito« entspricht völlig dem me¯damo¯s – keineswegs –, das in der Septuaginta für das hebräische »chalila« gebraucht wird. Seinem Sinn in dieser paulinischen Briefgruppe kommen wir näher, wenn wir dafür das im aramäischen Targum Jonathan oft gebrauchte: »chulin hu lc´ha«, »es würde eine Entheiligung sein«, setzen 51 . Paulus konnte sich nicht einmal vorstellen, daß Gott sein Volk verstoßen haben könnte. 52 Das elfte Kapitel im Römerbrief ist erschütternd. Es offenbart die Aufrichtigkeit dieses Mannes, die Tiefe seines im jüdischen Volke wurzelnden Gefühls. Aber gleichzeitig kann man hier sehen, wie bei Paulus die Gedanken zusammenhängen. Gott kann niemals völlig erkannt werden. Er ist der Deus absconditus. Dennoch hat er sich der Menschheit gezeigt, indem er sich dem jüdischen Volke offenbart – eine Offenbarung, die zugleich eine Erlösung ist; die beiden Begriffe sind deshalb eng miteinander verbunden. »Den Juden … sind vertraut die Aussprüche (ta logia) Gottes« (Röm 3,2). »Denn ihr sollt nicht unwissend sein, liebe Brüder, über dieses Geheimnis« (Röm 11,25). Das Wort Geheimnis (myste¯rion), das in hellenistischer Zeit in die hebräische Sprache überging und ein hebräisches Wort wurde, bedeutet hier etwas mehr als man heute unter »Geheimnis« versteht. Es meint das Ereignis, wodurch der »unbekannte Gott« »erkennbar« wird, wodurch das göttliche Geheimnis irgendwie und irgendwo sichtbar wird. Der Ton liegt in diesem Zusammenhang sowohl auf dem »unbekannt« als auf dem »erkennbar« 53 . Zum Beispiel heißt es in der talmudischen Literatur, daß der Prophet in Gottes »Mysterium« steht, 54 und das »mündliche Gesetz« sowohl als die Beschneidung 55 werden als »Mysterium« bezeichnet. Das jüdische Volk spielt im Glauben des Paulus eine wesentliche Rolle, weil es ein Teil der göttlichen Offenbarung ist und zu der Sphäre des »Mysteriums« gehört. Man kann auch nicht behaupten, daß Paulus von dem echten 440

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Der Glaube des Paulus

jüdischen Glauben abgewichen sei, weil er sein Apostelamt unter den Heiden betonte. Nicht nur die Geschichte berichtet über die damalige Ausdehnung der jüdischen Mission und ihrer Weitherzigkeit gegenüber den »Gottesfürchtigen«. Darüberhinaus schließen jüdische Philosophie, Theologie und Geschichtsauffassung immer die »Nichtjuden« mit ein. Die Begriffe »Jüdisches Volk« und »Nichtjuden« gehören zusammen. Es konnte keine Erfüllung geben ohne beide. Die Magna Charta der messianischen Rechte im zweiten Kapitel des Buches Jesaja stellt Juden und Nichtjuden Seite an Seite. Das »Kommen« des Messias und das »Kommen« der Heiden sind miteinander verbunden. Das ist jüdischer Glaube, und dies war der Glaube des Paulus. Er sehnte sich danach, daß seine Botschaft zuerst bei seinem jüdischen Volke Aufnahme finden sollte. Als dies nicht geschah – die Juden wollten weiter hoffen und warten (Geduld in der Erwartung war Paulus gerade nicht gegeben), – ging Paulus zu den Heiden, indem er sowohl ihre »Weisheit« anerkannte, wie es schon die Juden getan hatten, aber auch ihre »Wirkungskraft« in der Welt, die die Juden verworfen hatten. Das jüdische Volk aber blieb ein Bestandteil seines messianischen, »christlichen« Glaubens. Das elfte Kapitel des Römerbriefs zeigt das sehr deutlich. Dies ist der Glaube des Paulus in all seiner Eigentümlichkeit. Aber er war auch ein Theologe. Und zwar nicht »nebenher«, ein Theologe, wie es gesagt 56 und oft wiederholt worden ist, sondern aus seiner ganzen Natur und seinem Leben heraus, man könnte fast sagen: aus seinem Volkstum heraus. Als ein Jude war die Bibel sein Leben, und als jüdischer Gelehrter mußte er sein Tun und Reden vor der Bibel rechtfertigen. Er mußte die Bibel auslegen, die Bedeutung ihrer Worte klarlegen. Nur durch diese Bibelauslegung konnte er seine Predigt rechtfertigen, das heißt: er mußte auch ein Theologe sein. Es ist ein Grundsatz des Judentums, daß Wahrheit in und durch die Bibel gefunden werden muß. Das Buch der »Offenbarung« muß durch den Lehrer immer neu offenbart werden. Denn jeder Satz und jede Geschichte in diesem Buch bieten nicht nur einen Bericht; alles in der Schrift hat auch eine tiefe Bedeutung. Die Bibel beschreibt nicht nur, was war und jetzt nicht mehr ist. Sie hebt etwas heraus aus der Vergangenheit, das immer da ist und sich wieder und wieder verwirklicht. Eine besondere Art der Logik ist entwickelt worden: eine Methode des Bedeutungsuchens durch Assoziation von Worten. Die Heilige Schrift wurde zum Kosmos, in dem jede Einzelheit an ihrem Ort zugleich eine Bedeutung im Zusammenhang des Ganzen hatte. Jede Einzelheit muß mit anderen Einzelhei441

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ten zusammen gesehen werden; ist sie doch ein Glied im großen System der Offenbarung Gottes. Jedes Ding deutet auf etwas anderes hin und bedeutet etwas, das jetzt gegenwärtig ist. Es kommt zum Akt des Wiedererkennens: »Er ist der, von dem gesprochen wurde« (Mt 3,3). Man kann es als Denken in Analogien bezeichnen. Aristoteles hat das Gesetz der Analogie erklärt und gerechtfertigt: Ho theos kai he¯ physis ouden mato¯n poiousi, »Gott und Natur tun nichts ohne Zweck«. Ähnlich könnte man hier sagen: Dies ist Gottes Wort, und Gott sagt nichts ohne Zweck. 57 Dies war die Methode des Paulus, die Art seiner Theologie. Die Analogie herrscht in seinem Denken und Folgern. Als er mit den Mysterienreligionen bekannt wurde, mag ein Akt des Wiedererkennens, wie er zu dieser Methode gehörte, seine Stellungnahme entschieden oder wenigstens beeinflußt haben. Die paulinische Theologie stammt aus dieser Methode, und das ist aufschlußreich sowohl für seinen eigenen Geist als für die Breite und Vielgestaltigkeit der jüdischen Welt, aus der er erwachsen war. Das Werk des Paulus hat auch das Judentum beeinflußt, obgleich sein Name in der talmudischen Literatur nicht erwähnt wird. Sein Kampf gegen das Gesetz, und mehr noch der seiner Nachfolger, stärkte durch seine Herausforderung das Bekenntnis zur Gesetzesreligion im jüdischen Raum. Der einzige Satz in der talmudischen Literatur, der sich offenbar auf Paulus bezieht, ohne ihn mit Namen zu nennen, spricht von ihm als dem Manne, »dessen Weg vermessen und fremdartig ist« (Sprüche 21,8), und erklärt, daß »dieser Mann … sich der Beschneidung und den Geboten entfremdete«. 58 Dieser Satz findet sich in einer Predigt zum jüdischen Pfingsten, »dem Tage, an dem unsere Thora gegeben wurde«, und diese Predigt wurde dem Midrasch zum Buch Ruth eingefügt, das an diesem Festtag verlesen wird. In dem Midrasch folgt unmittelbar darauf eine zweite Predigt, die dasselbe Thema hat wie Kapitel 11 im Römerbrief: Gott »kann sein Volk nicht verstoßen«. Der jüdische Prediger sagt: »Es ist als ob Gott spräche: ›sie für ein anderes Volk verstoßen – das kann ich nicht. Ich kann sie nur mit Trübsal heimsuchen.‹« 59 Dieses »Mysterium« blieb der Kern des jüdischen Glaubens. Die Idee des leidenden Messias und die Idee des leidenden Volkes flossen nahezu in eine Idee zusammen. Anmerkungen 1. Morton Scott Enslin, Christian Beginnings, 213. 2. Ed. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, 2. Aufl., 198.

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Der Glaube des Paulus 3. In der christlichen apologetischen Literatur wird manchmal auf Sokrates Bezug genommen. Iustinus Martyr. z. B. vergleicht das Evangelium mit Xenophons Memorabilia. Die Tatsache, daß der heidnische Philosoph Celsus Sokrates mit Christus vergleicht, ist ebenfalls bedeutsam. Vgl. A. v. Harnack, Reden und Aufsätze, I, 27 ff. 4. Der Ausdruck findet sich in der letzteren Bedeutung im Brief an die Epheser (1,22; 3,10; 3,21; 5,23–32) und es ist bemerkenswert, daß die Offenbarung Johannis und die echten Paulusbriefe darin übereinstimmen, daß sie den Ausdruck im Sinne der ersten Definition verwenden. 5. Nordens Buch (1. Aufl. 1913; 2. Aufl. 1926) gab Anlaß zu einer umfangreichen Literatur. Trotz vieler kritischer Versuche sind seine Hauptpunkte nie widerlegt worden. Aus neuer Literatur über das N.T., wie z. B. A. M. Hunters anregendem Buch Interpreting the New Testament, 1900–1950 (1951), könnte man entnehmen, daß Nordens so bedeutsames Werk jetzt in Vergessenheit geraten ist. Vgl. auch Ad. Deissmann, Paulus, 2. Aufl., 226 ff. 6. Einige gute Bemerkungen über den allgemeinen Charakter dieser Vision finden sich in C. G. Jungs Psychologische Typen, 4. Aufl., 82 ff. 7. Das Wort Arabia (irrtümlich für Araba) ist nicht der geographische Name des Landes Arabien, sondern eine Bezeichnung für die Wüste. Das hebräische Wort arawa = Wüste ist in die griechische Sprache der Septuaginta übergegangen; vgl. Dtn 2,8; 3,19; 4,49; Jos 3,16 et passim, und andererseits Dtn 1,1 et passim. In Gal 4,25 wird Arabia als nomen proprium gebraucht. 8. Zit. nach der englischen Ausgabe von Karl Barths Kommentar zum Römerbrief 1.1 (1933). Zu dem geistigen Hintergrund dieses Satzes vgl. E. L. Allens eindringliches Buch Kierkegaard, His Life and Thought, 1935, 148 ff. 9. Man kann II Kor 4,6 kaum, wie es manchmal geschieht, als Hinweis auf die Vision ansehen. 10. Siehe R. Bultmann in Religion in Geschichte und Gegenwart, IV (1930), 1022 und auch E. Buonaiuti, »Christus und Paulus« in Eranos-Jahrbuch (1940-41), 259 f. 11. Das griechische Wort »diokein« scheint hier das Aequivalent für das aramäische jeni zu sein = verfolgen, beschimpfen, der übliche Ausdruck für böswilliges und gehässiges Diskutieren; und »porthein« scheint zu bedeuten: hart bedrängen (vgl. Herodot I, 162), wie das lateinische oppugnare. Wieder ist es lehrreich, den kurzen Satz bei Paulus mit den Superlativen in der Apostelgeschichte zu vergleichen (9,1 ff.; 22,1 f.; 26,9 ff.), ganz abgesehen von den historischen Irrtümern in dieser. 12. Man bemerke den entscheidenden Unterschied zwischen den paulinischen Briefen und der Offenbarung Johannis in bezug auf den Gehalt des Wortes »der Herr«. Ähnlich ist die Verschiedenheit zwischen dem paulinischen Ausdruck »der Herr« und »dem Menschensohn sitzend zur Rechten der Kraft« (Mt 26,54). Siehe hierzu W. Bousset, Kyrios Christos, 2. Aufl. 1921, 14; 37. 13. Man vergleiche den paulinischen Ausdruck »Kyrios« mit dem undeklinierbaren Substantiv »ho øn« (abgeleitet von Exodus 3,14), wie es der Autor der Offenbarung Johannis verwendet. 14. Wilhelm Baldensperger war der erste, der in seinem Werk Das spätere Judentum als Vorstufe des Christentums (1909) auf den Wendepunkt hinwies, den das Buch Daniel darstellt. Baldensperger war ein Elsässer wie Albert Schweitzer, der ihm in Stil und Methode ähnlich ist. Er ist jetzt vergessen – zum Schaden der neutestamentlichen Studien. 15. Mt 24,30 und 26,64 und ihre Parallelen sind Stücke aus einer alten Apokalypse, die in das Evangelium eingefügt worden sind.

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Brücken zwischen Judentum, Christentum und Islam 16. Vgl. Leo Baeck, Aus drei Jahrtausenden (Neudruck 1958), 193 ff.; ders., »Die Pharisäer« in diesem Band. 17. Ebendort. 18. Siehe oben, Anm. 15. 19. Mk 12,35 ff.; Mt 12,42 ff.; Lk 20,41 ff. Vincent Taylor bringt in seinem ausgezeichneten Commentary on Mark (1952), 490 ff., alle die verschiedenen Interpretationen dieser Verse, aber er scheint den wesentlichen Punkt übersehen zu haben. Hier, in dieser Rede, sehen wir den ersten Schritt zum Kyrios Christos. 20. Mt 26,64. Zum Ausdruck »Menschensohn« siehe L. Baeck, Aus drei Jahrtausenden (1958), 187–198. 21. Vgl. II Tim 2,8. 22. I Kor 11,23 und 15,3; vgl. II Thess 2,15. 23. Der Ausdruck »imitatio Christi« stammt von einem paulinischen Wort, I Kor 11,1 in der Fassung der lateinischen Bibel: Imitatores mei estote, sicut et ego Christi. Aber dieses Wort bezieht sich nicht auf die menschliche Persönlichkeit Jesu, nicht auf die Bergpredigt, auf Güte und moralisches Heldentum, sondern auf den Christus der paulinischen Lehre. Es bedeutet etwa dasselbe wie I Kor 15,11. 24. I Kor 14,37 f. Ziel des ganzen Kapitels ist, die Unwichtigkeit irrationaler Ausdrucksmittel in der religiösen Rede zu zeigen. 25. Das Wort »gignoskein« bedeutet hier anscheinend nicht, wie die Authorized Version sagt, »Wissen«, sondern eher »Urteilen«, iudicare. 26. Ob er eine Lehre von der Endzeit zuließ, darf bezweifelt werden. I Kor 15,2328 scheint eine Einfügung zu sein. Der Zusammenhang ist offensichtlich unterbrochen. Vers 29 ist die Fortsetzung von Vers 22. Das Wort »epei«, mit dem Vers 29 beginnt, würde sinnlos sein, wenn es auf Vers 28 folgte; aber sein Sinn ist klar, wenn es als Fortsetzung von Vers 22 angesehen wird. Außerdem steht der Glaube des Paulus seiner Struktur nach im Gegensatz zur Eschatologie. 27. Die Behauptung des Hieronymus, die Eltern des Paulus seien von Giskala in Palästina nach Tarsus gekommen, und er selbst sei dort geboren, mag eine alte Tradition sein. Das Wort »gegennemenos« in Apostelgeschichte 22,3 kann sowohl »geboren« wie »aufgewachsen« bedeuten. 28. B. Berakhot, 58a. 29. Vgl. Baeck, »Zwei Beispiele midraschischer Predigt« in Aus drei Jahrtausenden (1958), 162 ff. und in diesem Band »Die Pharisäer«. Man kann in der jüdischen Literatur der hellenistischen Zeit zwei Schulen unterscheiden. In der älteren werden »Weisheit« und Thora gleichgesetzt, vgl. Sir 24,8-11 und 23; Henoch 62; I Bar 3,38 ff. (»Weisheit« entspricht auch dem »Logos« der Stoiker, vgl. Weish 7,24). In der jüngeren Schule werden die beiden Begriffe getrennt gehalten. Der Thora wird ein besonders hoher Rang zugewiesen (vgl. Josephus, Ant XX 11,2), sie wird für präexistent erklärt (vgl. Sifre über Dtn 2,10; BerR 1,5). Das ganze Material ist jetzt gut bei W. D. Davies in seinem schönen Buch Paul and Rabbinic Judaism, 150 ff. vorgelegt. 30. Wie sehr man jüdisches und hellenistisches Denken miteinander in Einklang zu bringen suchte, kann man daran erkennen, daß eine alte aramäische Fassung, das sogenannte Targum Yerushalmi, die ersten Worte der Genesis übersetzt: »b’chochma bara«, welche Hieronymus (Quaest. hebr. in Gen.) übersetzt mit »in filio creavit«. Dem Ausdruck »hokhmah« entspricht »derekh eretz«, »die Lebensweise der Menschheit«, vgl. G. Klein, Der älteste christliche Katechismus, 61 ff. 31. Es ist bemerkenswert, daß der große Philologe Isaac Casaubonus in seinen

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Der Glaube des Paulus Exercitationes de rebus sacris, Genf 1655, die Ähnlichkeiten zwischen Paulus und den Mysterienkulten hervorgehoben hat. 32. Die Absicht von I Kor 1,18-28 ist zu zeigen, daß »Weisheit« allein nicht das Letzte ist, sondern daß sie erst durch die Anerkennung des Christus und der Auferstehung zur Wahrheit vordringt. Paulus will die »Weisheit« nicht verwerfen oder vernachlässigen, aber er versucht in der »Kraft Gottes« ihr wahres Korrelat aufzuzeigen. Vgl. Mk 6,2, wo »sophia« und »dynamis« zusammen genannt werden. 33. Zu »viele Herren« (I Kor 8,5) vgl. K. und S. Lake, Introduction to the N.T., 237 ff. 34. Die Bedeutung von »skandalon« in neutestamentlicher Sprache ist: Verführung, Verführer; Satan und auch Balaam sind skandalon (Apk 2,14). 35. Wir wissen nicht, ob die »tobhle shaharin« (Berakhot 22a) oder, wie der Tal˙ shaharith« (Berakhot 6c) eine Gruppe mud Yerushalmi sie nennt, die »tobhle ˙ der Essener waren oder eine selbständige Sekte, oder endlich ob dies ein anderer Name für die Essener selbst ist. Wir wissen auch nicht sicher, ob Johannes der Täufer bedeutet »Johannes der Essener«. 36. Nur in bezug auf Sachen werden sie transitiv gebraucht. 37. Es versteht sich, daß der siegreiche Paulinismus die endgültige Fassung der synoptischen Evangelien beeinflußt hat. So bekam das Wort »baptizein« eine neue Bedeutung. Eine Fassung von Lk 3,7, wo es »enopion autou« heißt, zeigt noch den ursprünglichen Gebrauch. Bei griechischen Schriftstellern bedeutet »baptizein« untergetaucht werden, d. h. ungefähr dasselbe wie im Hebräischen und Aramäischen: tewel. 38. Bemerkenswert ist, daß Aristoteles bei der Erklärung des Charakters der Mysterienkulte es für eine besondere Eigentümlichkeit hält, daß sie ein »paschein« bedeuten, das heißt, daß die Eingeweihten passive Objekte einer Handlung sind [Aristotelisches Fragment zitiert bei Synesios (Migne, Patr. Graec. Bd. 66, 1136 A)]. 39. Wenn Paulus an die Korinther schreibt: »Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu predigen« (I Kor 1,17), so zeigt das vielleicht ein gewisses Widerstreben in ihm. Aber man kann diese Worte auch anders verstehen, nämlich, daß Paulus es als seine erste Aufgabe ansah, über seine Vision zu predigen. 40. De baptismo, ch. V., vgl. auch Lk 22,31. 41. Siehe R. H. Charles, Eschatology, 390 ff. 42. Siehe Röm 14,17; I Kor 4,20; 6,9 und 10; 15,50; Gal 5,21. Alle diese Sätze scheinen altüberlieferte und allgemein bekannte Spruchworte zu sein. I Kor 15,24 ist, wie schon erwähnt, ein Abschnitt aus einer Apokalypse, der in den Text des Briefes eingefügt worden ist. 43. Vgl. I Kor 1,8 und II Kor 1,13 f. 44. Es scheint, daß auf dem Gebiet der Haggadah der Ausdruck tana d’be elijahu dieselbe Bedeutung hat wie halacha l’mosche missinai auf dem Gebiet der Halakha. Vgl. W. Bacher, Tradition und Tradenten, 25 ff. und 233 f. 45. B. Sanhedrin 97a und Pesiqta Rabbati 4a = vgl. Yer. Megillah 70d. 46. Tamid VII, 4. Die ganze Frage des »Messianischen Zeitalters« ist erörtert bei G. F. Moore, Judaism, II, 323 ff. 47. Hier kann auch der Ausdruck torah chadaschah »die neue Thora (Lev. Rabba XIII) erwähnt werden. Vgl. Yalqut zu Jesaja 26,2; Niddah 61b, Pesachim 50a. Die neue Thora ersetzt unsere Thora. 48. B. Shabbath 151b und Yalqut zu Ecclesiastes 12,1; in beiden Abschnitten wird Simeon ben Eleazar als Autor genannt. Im Midrasch zu Ecclesiastes 12,1 ist der Autor Hiyya ben Nehemiah.

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Brücken zwischen Judentum, Christentum und Islam 49. Simeon ben Eleazar braucht hafez nicht im Sinne von »Vergnügen«, sondern in seinem ursprünglichen Sinn: »Wille, Entschluß«. 50. In diesem Satz (Mt 5,18) liegt der Nachdruck auf den letzten Worten: »bis daß es alles geschehe.« 51. Siehe Septuaginta und TJon zu Gen 18,25 und I Sam 2,30. 52. Ist es bloßer Zufall, daß der Ausdruck me genoito nur im Römerbrief, dem I. Korintherbrief und dem Galaterbrief vorkommt, die sich alle besonders mit dem jüdischen Volke beschäftigen? 53. Daher scheint es nicht ganz richtig, wenn Karl Barth bei der Erklärung von Röm. 11.25 sagt, das Wort mysterion entspräche unserem »paradox«; obgleich das Problem des Paradoxen hier auch von größter Wichtigkeit ist. 54. Exod. Rabba XVIII. 55. Tanhuma zu Gen 17,2, hg. v. S. Buber, 40a. 56. Dean Inge in seinem klassischen Aufsatz über St. Paulus (Outspoken Essays, First series). 57. Vgl. Leo Baeck, Die Pharisäer in diesem Band. 58. Ruth Rabba, Petiha, III; scheassah azmazmo ser l’mizwah wser lmilah. Der Satz ‘Aboth III, 15 bei Eleazar von Modiim spiegelt eine andere Periode wider. Vgl. W. Bacher, Agada der Tannaiten I, 190. 59. Ruth Rabba, Petiha, IV; l’hachlifan b’umah acheret eni jachol hareni m’jassran b’jissurin.

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Baecks Aufsatz aus dem Jahre 1954 »Einige vom jüdischen Standpunkt aus gestellte Fragen an das Christentum« ist zum ersten Mal in dem von G. Hedenquist herausgegebenen Sammelband, The Church and the Jewish People, London 1954, veröffentlicht worden. Zwei Möglichkeiten gibt es Baeck zufolge, das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum zu gestalten: einmal das Hinüber- und Herüberrufen über einen unüberbrückbaren Abgrund und Spalt hinweg, zum anderen das wechselseitige Fragen und Antworten im Wissen darum, daß man auf einem gemeinsamen Fundament steht. Baeck spricht nur im letzteren Fall von »konstruktiven Fragen« auf dem Boden eines beiden, Juden und Christen, gemeinsamen Grundes. Daß Baeck sich für diese letztere Möglichkeit entscheidet, ist nach der Schoa überraschend und in keiner Weise selbstverständlich. 1. Der gemeinsame Grund Dabei setzt der Juden und Christen gemeinsame »Grund« eine innere Differenzierung und Asymmetrie voraus, die nicht übersehen werden darf: Das Besondere der Erwählung des Judentums (Abraham-Bund und Sinai-Bund) hat nämlich nach Baeck von Haus aus eine universale Bedeutung und Bestimmung, die sich im Schöpfungs- und NoahBund (Gen 8-17) und eschatologisch in der Teilnahme aller Völker an dem Bund Gottes mit Israel (Jes 2,1-5) ausdrücken. Diese universale Bestimmung der besonderen Erwählung Israels darf aber nicht als Preisgabe des Besonderen Israels zugunsten des Allgemein-Menschlichen mißverstanden werden. Von daher formuliert Baeck in seinem Aufsatz von 1954 eine erste *

Aus: The Curch and the Jewish People, herausgegeben von Göte Hedenquist, Edinburgh Press 1954.

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Frage an das Christentum, die als eine Frage der Unterscheidung in einer Beziehung vom einen gemeinsamen Grund her gemeint ist: Geht es im Dialog zwischen Judentum und Christentum um eine echte Begegnung des Glaubens auf gemeinsamem Grund? Oder setzt die Kirche das verhängnisvolle Bündnis mit weltlicher Macht aus ihrer Geschichte fort, um sich von daher als bessere und überlegene Religion gegenüber dem Judentum zu präsentieren? Baecks entscheidendes Urteil lautet lapidar: »Auf die Länge der Zeit korrumpiert (das Bündnis mit der) Gewalt die Religion von innen her«. 2. Der gemeinsame Ausblick Von dem gemeinsamen Grund her fragt Baeck nach der gemeinsamen Hoffnung von Judentum und Christentum. Es geht nach Baeck um die für die jüdische Existenz entscheidende Ausrichtung auf die messianische Hoffnung, auf das Reich Gottes und die durch das göttliche Gebot ausgesprochene Weisung der Wegbereitung für das Kommen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit. Von dieser gemeinsamen messianischen Hoffnung her stellt Baeck in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1954 eine zweite Frage, die im jüdischchristlichen Dialog als Grundfrage präsent bleiben muß: Hat nicht die Kirche in ihrer Geschichte die Hoffnung auf das Kommen des messianischen Reiches Gottes und die durch die göttlichen Gebote gewiesene Wegbereitung durch die realisierte Eschatologie im Imperium Konstantins, durch die sakramentale Usurpation des Reiches Gottes in der Kirche und die damit einhergehende Ausschließung und Brandmarkung des Judentums ersetzt? Und hat nicht die Kirche während ihrer langen Geschichte Aufbrüche und historische Bemühungen für eine menschliche Befreiung und Emanzipation als jüdischen Wahn, als judaica vanitas diffamiert? 3. Die je eigene Sendung Nach dem gemeinsamen Grund (gemeint ist der ungekündigte Bund Gottes mit Israel und die Teilnahme der Völker an diesem ungekündigten Bund Gottes mit Israel) und nach dem gemeinsamen Ausblick (gemeint ist die messianische Hoffnung und Wegbereitung auf das Kommen des Reiches Gottes) kommt Baeck auf die je eigene Sendung von Judentum und Christentum zu sprechen. Dabei ist Baeck klar: Weder das Judentum noch das Christentum können und dürfen auf ihre je eigene Sendung an die Welt verzichten. Würde dies geschehen, so wäre das die jeweilige Preisgabe der »Verpflichtung« zu der je eigenen Sendung durch Gott. Denn der Verzicht auf die je eigene Sendung an die Welt würde nach Baeck nicht Stärke, sondern eher »Schwäche« und 448

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eine problematische »Konzentration auf sich selbst« verraten. Und auch das ist bei Baeck festgehalten: Nur von dieser je eigenen Sendung an die Welt her können Juden und Christen auch echte und wechselseitige Zeugen Gottes voreinander sein. Die dritte Frage hat Baeck deshalb so formuliert: Ist die Kirche – unbeschadet der Verpflichtung zu der je ihr eigenen und vom Judentum also unterschiedenen Sendung – lediglich bereit, die Methoden der Judenmission zu ändern, aber der Sache der »Judenmission« sich weiter verpflichtet zu fühlen? Oder ist die Kirche wirklich und ernsthaft willens, eine grundsätzliche Absage an das heidenchristliche Programm der Judenmission nach der Schoa zu vollziehen? 4. Die Anerkennung jüdischer Existenz Baeck kennzeichnet in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1954 nach dem gemeinsamen Grund, der gemeinsamen Hoffnung, der je eigenen Sendungsaufgabe von Juden und Christen schließlich die Anerkennung des Wesens des Judentums und jüdischer Existenz seitens des Christentums als den »entscheidenden Punkt«, der im Dialog zwischen Judentum und Christentum auf der Tagesordnung stehen muß und stehen wird: Es ist »die fortdauernde Aktualität und die bleibende Bedeutsamkeit und Bedeutung des jüdischen Glaubens, Liebens und Hoffens«. Baeck meint den besonderen Platz, die besondere Aufgabe und die besondere Berufung und Erwählung des Judentums durch Gott als eine nicht vergangene oder erst zukünftige, sondern als eine durch die Geschichte »von Generation zu Generation« sich durchhaltende und erneuernde Wirklichkeit. Weil es sich hier um den entscheidenden Punkt handelt, hat Baeck die anstehende vierte Frage, die das Judentum von daher an das Christentum zu stellen hat, vier-fach gestellt: Ist die Kirche bereit, die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes anzuerkennen und die Absage an die Substitutionstheorie, derzufolge die Kirche als das neue Israel das Judentum ersetzt hat, glaubwürdig auszusprechen und zu leben? Tut sie das, indem sie positiv die besondere Leidensgeschichte des jüdischen Volkes als eine Zeugengeschichte für die Heiligung des Namens Gottes und also nicht als Ausdruck der Verwerfung, sondern der geistlichen Kraft und Stärke des Judentums zu verstehen und zu würdigen lernt? Ist die Kirche bereit, nicht nur die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, sondern auch »seine Geschichte der Erneuerungen» durch die Epochen und Jahrtausende hindurch als Ausweis der Wiedergeburt und geistlichen Kraft des Judentums zu sehen? Ist die Kirche bereit, anzuerkennen und daraus die Konsequenzen zu 449

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ziehen, daß die Schriften Israels, die Hebräische Bibel, die gemeinsame Grundlage von Judentum und Christentum sind? Daß das Christentum ohne die Hebräische Bibel pagan würde und weder eine christliche Gemeinde noch eine Rechtsgemeinde in besonderer Verantwortung für den Rechtsstaat ohne die Schriften Israels, die Hebräische Bibel, hätte werden können? Ist die Kirche bereit anzuerkennen, daß sie, sofern es in ihr zur echten gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber der Bürgergemeinde und den jeweiligen zivilen Gesellschaften wirklich gekommen ist, nicht zuletzt von der Kraft und Lebendigkeit der Schriften Israels gezehrt hat und genährt worden ist? Ist die Kirche bereit, die Schriften Israels nicht nur als das Alte Testament anzuerkennen, sondern sie zugleich als die entscheidende Grundlage auch des Neuen Testaments zu sehen, ohne welche das Neue Testament sprachlos und hoffnungslos werden würde? Und ist die Kirche darüber hinaus willens, dankbar zu sehen und anzuerkennen, daß das Neue Testament ohne die Überlieferungen, Hoffnungen und Gewißheiten des damaligen zeitgenössischen Judentums nicht verstanden werden kann? Und ist die Kirche sich schließlich bewußt, daß sie ohne den lebendigen Kontakt nicht nur zum zeitgenössischen Judentum des Neuen Testaments damals, sondern erst recht ohne die lebendige Begegnung mit dem zeitgenössischen Judentum heute nicht nur die Schriften Israels, ihr Altes Testament, sondern auch das Neue Testament in seiner Bedeutung und Aktualität für heute verfehlen muß und verfehlen wird? Der Kraft und Wucht der Fragen Baecks, aber auch ihrer Spiritualität und Autorität wird sich so leicht niemand entziehen können. Antworten auf diese Fragen werden in der Zukunft erfolgen müssen und nicht zuletzt auch in der Praxis zu geben sein. Es mag hier angemerkt werden, daß Baeck nicht nur im Jahre 1954 diese grundlegenden Anfragen an das Christentum, sondern daß er ein Jahr zuvor entsprechende Anfragen auch an das Judentum und seine Sendung an die Völkerwelt formuliert hat: auf einer Rede der Konferenz der Weltvereinigung für progressives Judentum in London unter dem Titel »Our Religious Approach to World Problems« (1953).

Is Judaism entitled, or even bound, to ask Christianity questions, its peculiar Jewish questions, and to claim answers, the genuinely Christian answers – and, of course, to expect the truly Christian questions too? History, past and present, affirms the right to do so. We have had nineteen centuries of Christian history, emanating from, and ever anew confronted with, Judaism. And in these centu450

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Some Questions to the Christian Church from the Jewish Point of View

ries Jewish history time and again has encountered, and been encompassed by, Christianity. Inescapably they were, and remain, interrelated. Moreover, at bottom, Judaism in itself poses a question, a perennial one, to Christianity; and Christianity in itself poses a question, a permanent one, to Judaism. They are a problem each to the other. Neither is really able to vindicate itself without having truly heard the other. Yet, for all that, when throughout the centuries have Judaism and Christianity looked each other full in the face? When did they frankly, honestly converse – frankly, wishing and daring to speak of the soul of the faith, the very heart of the belief; honestly, with that sympathy which is essential to human understanding? Usually, if there was some discussion, Christianity from the first assumed that it had the final answer, and Judaism shunned, or was afraid of, approaching the final questions. There was scarcely any true debating. And the usual, and inevitable, result of any talk was an increase in the feeling, on the Christian side, of being uncompromisingly rejected by the Jew, and, on the Jewish side, of being forcibly summoned and violently accused by the Christian – let alone the fact of the restrictions and burdens imposed on the Jew by, or on behalf of, the Church. It would not serve any purpose here to enlarge on this. What matters, and should concern both Judaism and Christianity today, is the present way and the present duty, the problem of the actual approach. Certainly, »there is a time to keep silence, and a time to speak‹. But now, it seems, is the season for speaking. On us today, it seems, is laid a solemn obligation that the Jewish and Christian faiths meet openly – faiths indeed, not only boards or writers or orators. It may turn out one day a sin of omission if they carelessly or timidly or presumptuously shrink from asking and answering the right questions. But if they gain mutual comprehension, the task could prove one day ›even a blessing in the midst of the land« – and may in the long run also help in uprooting this antitheism which so successfully goes under the name of antisemitism. Today our way is already prepared. Everywhere many a soul has opened, self-confidence and self-righteousness have been shaken. There is some self-preoccupation, but a growing interest in the other point of view. People who apparently wished to see the courses diverging now welcome a junction here and there. Moreover, with modern transport, distances on earth diminish, and we are all becoming near neighbours, unable to evade or avoid one another. Will451

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ing or not, we learn about one another, share our fears and hopes. There seem to be universal fears and hopes. To some people this can at first mean a painful embarrassment, but it points at such opportunities, such possibilities as can be like messengers sent out by Providence. We should not ignore or disregard them. We should venture on asking questions. It is, however, essential that these should be genuine questions, asked in the hope of eliciting honest answers. If two men were convinced that a chasm was unbridgeable, they would do no good standing on opposite sides and calling across to one another. If, however, they were convinced that a bridge could and should be built, they would ask one another constructive questions, their best qualities would be brought to the fore, and they would be drawn together by the common task. So with bridging our spiritual division, faith that it can be done draws us together and inspires sincere questioning; and we shall not forget that there is common ground supporting us both. The assumption of, indeed the belief in, common ground is indispensable here both psychologically and logically. If the one or the other disclaim or dissemble it, any engaging in questions must remain aimless and fruitless, or could even become prejudicial. He who, standing on the common ground, is prepared to ask his questions is fully aware, and supposes the other likewise to be, that between them there are differences that denote unequivocal and unimpeachable distinctions. He does not want them to be repressed or concealed or belittled on either side. But he is certain, and trusts the other side to be certain, that even these differences have their deepest roots in and owe their very existence to this common ground. Unless he is conscious of this, he will not really understand the differences either. And now, which are these questions that Judaism is in such a spirit allowed, and even obliged, to ask the Church? They will not be designed to challenge dogma or articles of faith: the other’s creed is his sanctuary that cannot be queried or disputed here. The subject of our questions is not the »what« but the »how«; that is to say, not the belief in itself, in its contents, but so to speak the conduct of the belief – not what the belief wants to say, but how it is saying it. Every religion claims its place and asserts its task in the world. It also wishes to strengthen this place and to confirm this task. It cannot dispense with it. Our problem is not this incontestable effort of every religion, but is quite a different one. It is the problem of the manner and the style. There is a well-known French saying, »Le style c’est l’homme«. »The style is the man«, and one could emphatically add: the religion, too. 452

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This is, therefore, the first question here: What is the manner, the style, of the Church when in its indisputable striving for its place and task in the world, it meets with others, in our case with the Jewish religion and the Jewish sphere? Does it take the truly religious course, that which is directed by a genuine pious feeling? Or does there, more or less distinctly, appear here another motive, another sentiment and desire? One could put it also thus: Is the approach, or perhaps even an attack, made here out of a sincere belief or only in the interest of a belief? History explains what is meant by this. In former days, as the Jew sees it, the Churches represented political rather than religious bodies and systems. They seemed to marshal themselves against him, intent on domination. He looked upon them as part of the trying circumstances with which he constantly had to come to terms. The perennial religious problem, with all that it embraced, receded far into the background, where only some conspicuous points were incidentally perceived. Not a religious agent, not a pious hopefulness, but this hard force and heavy influence exerted by the Churches impressed themselves upon the Jew time and again – let alone the fact that the Churches used to sit in judgment on the Jew like God’s counsellors and to pass on him final sentences, at best to display a kind of condescension. Days have changed, and manners change, but this question is still alive: When the call of the Church addresses itself to others, to dissenting people like the Jews, and invites them in the name of the Church, whose voice is really heard: the voice of the messenger of the religion or that of an envoy of a régime? – of the faith only, or of an authority? Within the Church itself it is an old problem whether or how far religion can be combined with worldly power. In course of time such power had fallen to the lot of the Churches. Often without, or perhaps against, their wish it had become a fact, a historic one; never was that problem solved. They who are possessed of power are ever anew threatened by it. Though power seems at first to serve them for a good purpose, it often tends to master them for its own ends. Paradoxically, the proper fight against this power has to be fought out, not by those who are powerless, but by the powerful one himself. To Judaism it grew to be a heavenly dispensation that it was never mighty on earth – only in the fables of the multitude; its real and singular strength lies in its patience and vision. The Church, time and again, was on trial: power tried to prevail over it. Power may be characteristic of political or economic or social or military formations, 453

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and they may glory in it. But it is contradictory to the character of the community of faith, since it is contradictory to the principle of faith. The Church is led into temptation here. It is the tempter who says: »All this power will I give thee.« The word of the Lord is this other one: »Not by might, nor by power, but by my spirit, saith the Lord of Hosts.« In the long run power will corrupt religion from within. Therefore, from the Jewish point of view, this is a basic question: When different religions, say Christianity and Judaism – and the two cannot evade each other today – come to face one another, or if they should one day purposefully convene, will it be like a meeting of the Great Powers, invested with authority and vetoes, and a small country? Or are they to converse and work with each other as equals because, and for the sake of, a common purpose – equals not in a social but a spiritual sense – and thus neither diverted nor confused by any majority-complex on the one side or any minority-complex on the other? In the latter case, hopes and desires will then meet; and as both have from the beginning been conscious here of the common ground, so they will now be aware of some common outlook. Without this wide outlook on to that common ground, any meeting, however important, would be an isolated event leading nowhere. Moreover, in the religious sphere, especially from the Jewish point of view, any question, while starting from the past and the present, has its full truth only when aiming at the days to come. It is not as a point of debate but in the interests of mutual trust that these genuine questions are asked here. Such questions never come from one who is satisfied with his own understandig, content to let things take their course – who thinks he has all the answers firmly bearing him out. Only he who really thirsts after the days of the divine promise is afflicted with the desire to question. This thirst is a constantly active force in the innermost feelings of the religious man. And he is fervently confident that one day all people will be stirred by it, that God »will send this thirst in the land«. From the Jewish angle it has sometimes seemed as if the Church was on the side of, or at least sympathized with, the satisfied, and that only in the Jew was there this constant craving of the soul, and that only he could plead the cause of those who thus thirsted. There seemed also to be a reason for it. In the Jewish view the idea of, and belief in, the Kingdom of God as realized and presented by the Church emphasized the miraculous heavenly interposition rather than the constant obligation laid on man to choose and take the stand laid down in the divine commandment. It seemed to the Jew that the 454

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Church laid more stress on its early history than on what is to be done today and tomorrow to promote the aims and fulfilment of true human history. Matters of fact, general and Jewish matters, came forward and did, in themselves, pose questions to the Church. Yet has not the Church, as a whole, extensively or intensively, played an unimportant part the historic painful endeavours for human liberation and emancipation? Was it not comparatively late in the day that what others achieved by great exertions and sacrifices was finally somehow acknowledged by the whole of the Church? And here a special question raises its voice: What, on the whole, was the attitude here, the attitude of mind and action, adopted by the Church when peoples started to right the wrong that for so long had been done to Judaism and to the Jew? It will do even more good to turn towards the future and to the problems that may arise there. Debating and reproaching, indeed, will hardly be of use, nor provide a remedy. Only the consciousness of the common outlook will make for a growing awareness of the common way, or at least of a common direction. Of course, sometimes the views or the terms will differ here, and not only matters of method, but those of principle will be the points in question. But just the frank agreeing on differences will prove to be a help and even a means of approach. It will more and more be seen that there can scarcely be a more excellent possibility of honestly coming together, and of really understanding one another, than through this awareness of, not only the common ground, but also a common outlook. One problem should be touched upon here, the problem of the missionary task, and the way it manifests itself and is carried out. No religion that is conscious of its title, mindful of its vocation, and always certain of having that true future that will vindicate its belief, can resign from this task. And no religion can justly assign this task to itself alone and deny it to another. There may be times or even epochs when somewhere, perhaps everywhere, a religion is faced with doors barred and bolted: as were, for instance, Christianity in the days of the early persecution, or later in the realms of firmly established Islamic domination, and Judaism almost everywhere throughout the long centuries of the Middle Ages and after. But never can genuine religions renounce the obligation of the mission entrusted to them: it is part of their very being as religions, part of their duty to mankind; nor can they neglect its demands without renouncing their very being and stifling their human character. To be indifferent to this task would here signify some inner weakness and in455

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dolence or even a self-centredness contradictory to the religious way. Therefore – and this also deserves attention – no community of faith has the right to take offence at the other’s missionary work or purpose, whatever be the province the other is turning to. There can be no monopolies here, nor reserved regions. But, for the sake of religious purity, one supposition must be confirmed: and from the Jewish angle this implies a question to Christianity. Namely, when in the course of that task people, believers or unbelievers, are invited or approached, who is to address them, who is to step forth and give witness? Will it be only those moved by the soul of religion, pure faith, and love and trust? Or will there appear also, and perhaps soon take the lead, counsellors of earthly powers and of dominant prejudices, advocates of promising influences and profitable relations? In former days there was a kind of ecclesiastical imperialism and colonialism, the men of war often laying the foundations. To the Church it meant a recovery and even a renascence when, in recent times, such courses were blocked almost everywhere, though it sometimes seems that here and there some part of the old method has survived, although greatly changed. Not only did allurements display their charm to attract the irresolute and help him in being directed to the easy way, but also a gentle pressure could be employed now and then in order to assist him who still seemed to waver. There were, and on occasion are, many and manifold occurrences, tragic and comic, that make a curious chapter in the history of what is called religion. And, on the other hand – and this is a further question, which should not be eluded – what of the man who was reclaimed and received? Was he converted or only deserting? Did he with conviction desire to embrace this faith, to profess it uprightly and bravely? Certainly, everyone should hold this man in esteem. Or was he only, or chiefly, desirous of enjoying some advantages now, of graining entry to certain circles? Everyone surely should hold such a man in contempt. In any case it is the dignity of religion, something therefore common to all to whom religion means the inner reality, which is at stake here. This dignity must essentially be the hallmark of any relations between Christianity and Judaism; between the two there will be noble relations or no real relations at all. It will also characterize, and give true meaning to, all the questions asked here. For the sake of this dignity one problem is to be kept in view always. It is the one problem which, obviously, comprehends all the 456

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others, the past, the present, and those which are to be. It concerns the crucial point, this decisive point of the lasting actuality and the permanent significance and importance of the Jewish faith, and love, and hope. It appears to the Jew that, in consequence of misinterpretations or misrepresentations (and they are supposed to be quite honest) of some phrases in the Gospel, the Church did and does proclaim, as it were, an act of attainder against the Jewish religion and those who profess it. One heard, or thought one heard, the Church preach and teach, openly or by insinuation, that any further existence of Judaism is, so to speak, without legitimacy and means a mere arrogation of right, in obstinate defiance of a divine sentence. It was allowed that, in bygone days, prior to the commencement of the new era, Judaism had its singular place and its especial task, its legal title before God and history. But, at a given time, when the great day came that was predestined to mark the turn of all days, that right lapsed, or was forfeited. Since then – such was the inference drawn or implied here – this Jewish people, this people of the Jewish religion, means merely a shadow of history, the dark shadow cast by the past upon the present. It has no real, no living history. It is but a bearer of a religion which has now no present task, no proper aim, and no right to a future of its own. The picture of Judaism and the Jewish people thus formed seems to show a nation that for many centuries has uneasily and without purpose wandered over the earth, devoid of a fulfilment, destitute of a completion. Led astray by inane thoughts and beliefs, loaded with a burdensome law, it is waiting for what never will arrive – a strange people of a queer frame of mind. A residue of a formerly significant people, it will perhaps be preserved till the day comes for it to bear witness against itself. In such a manner the Jew and his faith were again and again depicted – let alone the fables that used to go the round of the Church. According to the epochs and the fashion of the day, some aspects could vary here, but the main features were well established. There could be no greater barrier to mutual understanding, or even to honest and heartfelt discussion. It must impede both the Jew and the Christian, the one no less than the other. Such a portrayal can do more harm than any fact, and than any problem. Of course, everyday life gives rise to rules and its own philosophy. In every day’s encounters and affairs the Christian comes across the Jew, and accepts this as a reality that, like other things in life, may or may not prove pleasant. But he does not ask whether history gives 457

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him the right to call himself a Jew. He will accept him as such in spite of what the Church has preached and taught. In their respective religious characters also the Christian meets the Jew, perhaps for some common endeavour involving religion. Here again he does not demand that the Jew produce credentials given by history proving that his religion is still an actuality. Daily life often involves convenient evasions; it moves about the peripheries rather than towards the centre. But our object here is quite different. It is not that of daily life and its conveniences, but it is concerned with the generation to come and the hope to be realized. Its concern is those long-standing problems which, today and tomorrow, inescapably engage the honest mind, Christian as well as Jewish, problems dominating Jewish life throughout the centuries. Our object, therefore, is to seek religious truth, as far as man on earth is capable of attaining it, by means of a veracity that is prepared to keep to the centre and to strive to ask the right questions and to elicit sincere answers to them. From this point of view, one question must come foremost: Is the Church really intent on seeing the Jewish religion as it really is, and has come to be in virtue of a singular history? Will the Church recognize this full life that is and has been the essence of Judaism, and that so far as man is capable of foreseeing will remain so from generation to generation? Those who are able and sincerely willing to consider the facts and frankly acknowledge them will soon be aware that, if anyone, the Jew has always seen the way clear before him. It was a hard way mostly, and it demanded sacrifices, but it was his way, his own distinctive way, and never was he doubtful that it was shown to him by God. His place was often insecure, but never was he uncertain about the line he had to follow. Perhaps this was the difference between him and men of other nations: that they had an assured place and he had this certainty of the way. He was on the way, indeed, advancing, as creative genius always must, from hope to hope, from prospect to prospect. The realization of the way meant to him more than mere possession. More than any other, he therefore must be considered as the author of true history. He is to be thus regarded, indeed, because the process of his history was chiefly a spiritual, a religious one. His proper struggle for existence was the struggle for his religious existence, for his spiritual property. There he found the full cogency and thus the entire reality of his life. From this sphere came the sources of his strength, which seemed, and may seem, to be inexhaustible and to make him uncon458

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querable. He was apportioned not a static repose, but a dynamic force which alone enabled him to pursue the way, to »go from strength to strength« while resisting assault and temptation. Every form of spiritual life, so long as it remains spiritual endeavour, every religion, so long as it remains religious effort, knows its days of trial. These very days are the essence of their history. Christianity could, and can, experience them. But no one has had to endure such almost incessant trials as Judaism, and in this sense none has so much true history. Here another fact should also be appreciated by the Church in order to set a just value on Judaism. Such history is mainly a history of renascences. They are the test and the proof of inner vitality. There are periods of self-satisfaction, when this inherent force is suppressed by many external influences; and in periods of fatigue it can lie dormant. But if there really is this vital power, sooner or later it will come forth, opening men’s eyes and leading them to examine both themselves and the changes taking place in the world. It will regenerate the spirit, and people will be conscious and capable of the old task that now has to be performed in a new way to meet the needs of the changed times. The renascences are the testimonies to the vitality of a faith, and thereby a guarantee of its endurance and ability to meet the needs of days to come. Christianity can point to many a wonderful rebirth and is entitled to take pride in each of them. They are the essence of Christian history. But may they not also be regarded as an inheritance – and not the only one – from the Jewish religion, like that power to withstand trials which is also such a heritage? For the history of Judaism, first and foremost, is characterized, not only by trials steadily endured, but also by renascences and revivals. Rebirth after rebirth, renewed vigour meeting the challenge of a new day, impress upon this history a special significance and give it its own peculiar traits. Thus it has never been a history of easeful days. There were the travails of the rebirth and the anxieties of the revival. There were the painful compunctions also, and the spiritual and moral conflicts, the crucial divergences in outlook. But, as the storm that had so often blown from without had been weathered, so was the storm that arose within. History kept to its firm course again. Spiritual life was inspired anew, with fresh fullness and vigour. The Church also has experienced this, sometimes in a remarkable manner. Therefore it may well be able to bring understanding and sympathy to the appreciation of this momentous drama of Jewish history, perhaps the most momentous in the record of mankind. There could be no greater 459

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contribution to the fruitful exchange of questions and answers, the promotion of mutual understanding. A historic fact, an important one, can help here to open the way to this understanding. The creed, and indeed the history, of the Church were in a great measure determined by its claiming the Hebrew Bible. From the beginning the Church firmly took possession of it, not only keeping it and giving it new interpretation, but also holding to it and shielding it. The title of the Old Testament had very soon to be fought for against many an adversary, from both within and without. This was the first real trial the Church had to go through and, by withstanding it, it reaffirmed and reassured itself. Moreover, as the Synagogue had translated its Bible into Greek and thus made it a great missionary force sent out to the Greek world, so the Church, by rendering it, together with the New Testament, into Latin, gave it to the Western world that was to gain predominance in Europe. All this did not merely mean following a given course. It likewise signified going out to meet a true need. It was by virtue of the Old Testament that the Church was able to aim at being the »Civitas Dei«, the City of God, and the »communio sanctorum«, the Communion of the Saints, and at the same time strive to penetrate the sphere of the state and to lay stress upon »natural law«. One could ponder on whether without the Old Testament the Church had ever lived to see true history. A study of »Marcionism« in past and present days affords instructive information bearing on this reflection. Moreover, another point deserves consideration, a point concerning the New Testament. For this question, too, arises here: What would be the frame and substance of the New Testament, especially of the Gospel, without the Old Testament contained in it: that is to say, if one subtracted from it the Old Testament quotations, direct and indirect? And supposing one tried to subtract also all that, intentionally or unintentionally, clearly expresses words and thoughts, feelings, hopes and certainties of the Jew in that very land and in those very days? Perhaps it would be worthwhile to try to envisage the result. Did the Church – and this is here the question to the Church from the Jewish point of view – always show willingness and readiness to acknowledge these plain facts, to become fully conscious of what they mean, and to confess to their significance? Has there not been, and is there not apparent now, some laxity and indifference in this regard, at best a sort of so-called neutrality, sometimes a condescension? Of course, this is not a problem with respect to the Old Testament itself or to Judaism as such. It is a problem that concerns only 460

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the Church. And there it is a very critical problem; there are wellremembered incidents that illustrate it. The Church only can fight its way through it. But, if Judaism is allowed to make observations, and to put its questions to the Church, this surely will be one of them, and not the last nor the least. The problem the Church is brought up against here is even a deeper one. By virtue of the Bible and of the Jewish heritage as a whole, there are in the Church forceful Jewish elements. They could never be uprooted, nor be repressed for long. They proved to be a strong ferment in the Church, a leaven that permeated and agitated its spiritual life. Epochs were evolved thereby. In a great measure the history of the doctrines that have been striven for within the Church is, one might say, a history of Judaism within the Church. All this is a part of the Jewish drama in the world. Insufficient attention is paid to this phenomenon. But the more the Church becomes aware of it, the more it will become cognizant both of essential elements of its own life and of the unique significance of the survival of the Jewish religion. On the other side, Judaism itself while considering the matter will grow more conscious of its proper peculiarity. On the whole, both sides will truly benefit by considering all these questions. While questioning Christianity, Judaism must pass on to questions that, in all honesty, it has to put to itself. And Christianity will, vice versa, experience the same compulsion. On both sides new thoughts, new problems will arise and press for new consideration, and each of the two religions will enrich and inspire itself as well as the other. As there has been at least some consciousness first of a common ground and then of a common outlook, there will now grow up an awareness of common problems also. What has to be presented here is the range of the questions that, from the Jewish point of view, Christianity is to be asked. Judaism is given the right to put these questions, and it is a duty to do so. But it stands to reason that in the same way Christianity is entitled, and morally and religiously obliged, from its specific standpoint to put questions to Judaism. It seems as if formerly there had been too many answers designed only to close the questions, in order that then the one could turn his back upon the other. There were, so it seems, too few questions of the right kind. Such questions call for sincere answers and connote a desire to meditate on these, in order to meet again and honestly question each other anew. We are, it must be repeated, in need of such questionings. They, and only they, could bring an approach that would lead to a real coming together. Quite an especial blessing will grow from this soil. Self-commu461

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nion and self-examination will be instigated and encouraged by this questioning as well as by this answering. Inner voices will be heard. To each other Judaism and Christianity will be admonition and warning: Christianity becoming Judaism’s conscience, and Judaism Christianity’s. That common ground, that common outlook, that common problem which they come to be aware of will call them to make a joint approach. And then the two will be able to take their stand together, not against one another but side by side, before the Almighty’s tribunal, the judgment-seat before which Jew and Christian alike know that man is summoned every day.

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Rede von Ehren-Grossprsident Rabbiner Dr. Leo Baeck Anlsslich der Installation der Districts-Gross-Loge Kontinental-Europa XIX in Basel (4. September 1955)*

1843 im Einwanderungsland Amerika gegründet, verfolgte die B’nai B’rith Loge das Ziel, die Integration des Judentums in die neu sich formende amerikanische Kultur zu ermöglichen. Juden sollten Amerikaner werden und Juden bleiben können. 1882 kam die Loge nach Deutschland. Ihr reges Leben ging mit dem deutschen Judentum unter. Wenn Leo Baeck hier anläßlich der Gründung der Groß-Loge Kontinental-Europa spricht, so knüpft er nicht nur an die Leitungsfunktion an, die er vor der Schoa innerhalb der Loge in Deutschland inne hatte und macht sichtbar, wie sehr B’nai B’rith ein Teil seiner eigenen Geschichte und Identität ist. Er formuliert auch die Aufgabe, die der Organisation im neu entstehenden Europa zukommt. Er tut dies, indem er eine sehr persönlich gefärbte Geschichte erzählt: Über einen befreundeten Adeligen, der selbst wiederum mit Gandhi befreundet gewesen sei, habe der große Inder Baeck empfohlen: »Mein Rat an die deutschen Juden würde sein, daß sie an einem Tag, zur selben Stunde, Selbstmord begehen. Dann würde das europäische Gewissen erwachen.« Baeck hält dagegen: Nicht sterben ist die Pflicht des Juden, sondern überleben, überleben, damit das eigene Gewissen erhalten bleibt und sprechen kann.

Diese Stunde, in der nun der 19. Distrikt unseres Ordens, der Distrikt Kontinental-Europa in seine Rechte eingesetzt wird, hat eine fast geschichtliche Bedeutung. Ja noch mehr: eine Bedeutsamkeit kommt *

Als Heft publiziert.

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ihr zu. Denn diese Stunde weist nicht nur auf sich selber hin, sondern über sich hinaus. Was besagt diese Stunde? Als 1882 die Idee unseres Ordens nach Europa hinübergelangte, begann diese Idee eine neue Form zu gewinnen. Ideen, Ideale können nicht wie eine Ware oder ein Patent importiert und exportiert werden, sie können nur in einen Boden eingepflanzt werden, und aus diesem Boden muß die Idee ihre Kraft hervorholen. Aus diesem Boden hervor muß sie sich entwickeln. In Amerika war unser Orden 1843 gegründet worden. Ein Problem hat jüdische Menschen dort beschäftigt, das Problem, sich in einer neuen Welt als Juden zurecht zu finden. Ein Jude hat es schwerer, sich zurecht zu finden, als andere, denn er trägt eine Geschichte von Jahrtausenden in sich. Amerika war Jahrhunderte hindurch ein Einwanderungsgebiet gewesen, wie vorher nie in der Geschichte ein Land gewesen ist. Vielleicht wird in einem neuen Jahrhundert Afrika ein solches Einwanderungsgebiet werden, wenn – worauf jetzt schon Zeichen hindeuten – die Millionen des überfüllten Indien und die Millionen des überfüllten China nach dem unterbevölkerten Afrika hineinströmen werden. In der zurückliegenden Zeit war nun Amerika dieses Einwanderungsgebiet. Seit den Tagen der »pilgrim fathers« waren immer wieder Menschen aus allen Bezirken Europas hinübergekommen. Und als die Vereinigten Staaten erstanden und eine neue Form der Freiheit schufen, nahm die Zahl der Einwanderer zu. Zumal als im neunzehnten Jahrhundert politische Reaktionen und wirtschaftliche Schwierigkeiten viele Länder heimsuchten, strömten Menschen nach dem freien und sich weitenden Amerika. Das große Problem, das sich dort erhob, war das der »americanisation«: die Aufgabe, die Einwanderer aufzunehmen, sie nicht als Fremde zu betrachten, sondern von Beginn an als »New americans« anzusehen, sie also mit aller ihrer Eigenart zu vollen Rechten aufzunehmen und doch zugleich darauf zu achten, daß die amerikanische Art und das amerikanische Wesen nicht aufgegeben und nicht beeinträchtigt werde. Man hat Amerika den großen melting pot genannt, der es vermochte, die Menschen, welche hereinkamen, bei aller ihrer Besonderheit und ihrer Eigenart, die sie bewahren wollten, doch zu Amerikanern zu machen, zu Menschen der Ideale, die einst William Penn und Lord Baltimore, die das Wagnis der neuen Kolonien unternahmen, und die dann später die Männer des Wagnisses der Verfassung – George Washington, Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, und dann Männer wie Abraham Lincoln, der Mann des Wagnisses der 464

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Rede anlässlich der Installation der Districts-Gross-Loge

Emanzipation, als Amerikanertum in die Seelen zu pflanzen versucht haben. Dieser große Versuch ist gelungen. Wenn heute die Männer aus den Tagen der Begründung und der Revolution und aus den Tagen Lincolns wieder durch ihr Land ziehen könnten, würden sie trotz allem und allem sagen können: der Geist Amerikas ist geblieben. Das war die große Aufgabe, welche gestellt war und erfüllt wurde. Diese Aufgabe hörte auf, als Amerika aufhörte, das Einwanderungsland zu sein. Man könnte sagen, an dem Tage, an welchem von jedem, der den Boden Amerikas betreten wollte, Paß und Visum verlangt wurde, diesem Tage, der eine geschichtliche große Aufgabe und damit eine Epoche beendet. Es ist das große Verdienst Woodrow Wilson’s gewesen, daß er sein Land vor eine neue Aufgabe hinführte: Arbeit im Völkerbund. Zuerst zurückgewiesen, ist sie dann zur Hingebung an die Idee der vereinigten Nationen geworden, der Amerika heute seine Kraft und seinen Idealismus schenkt. Es ist immer ein gefährlicher Moment, wenn ein Mensch oder eine Gruppe oder eine Partei oder ein Volk oder Land die Aufgabe einbüßt. Es kann so sein, weil die Aufgabe erfüllt worden ist – und das ist eine Glorie. Es kommt nun darauf an, die neue Aufgabe zu finden. Ein Beispiel: In England hat die liberale Partei, die durch zwei Jahrhunderte die Mehrheit der Wähler immer wieder für sich gewann, fast zu existieren aufgehört. Aus einem ehrenvollen, ja ruhmreichen Grunde, ist es so, denn alles, wofür sie gekämpft hat, ist nun verwirklicht. Erfüllt war, was je erhofft und erwartet worden war. Sie hat aufgehört aus einem tragischen Grund, weil nicht rechtzeitig die neue Aufgabe gefunden wurde, der sie jetzt dienen konnte. Amerika, dem Einwanderungslande ward eine besondere Aufgabe durch die jüdische Einwanderung auch noch gestellt. Der Jude lässt sich wie gesagt nicht leicht einfügen. Er trägt Jahrtausende in sich. Er blickt in die Welt mit Augen, die Jahrhunderte älter sind als die der Menschen rings umher, und auch seine Ohren sind um Jahrhunderte älter. Er ist nicht leicht einzugliedern. Juden in einem großen Land wie Amerika einzuordnen, ihnen überall das Amerikanische zu geben und das Jüdische zugleich zu wahren, das war das Gebot. Dies haben die Männer erkannt, welche sich als die ersten B’nai B’rith zusammentaten. Sie wollten Amerikaner sein, dankbar für das, was Amerika ihnen gegeben hatte und immer wieder gab, aber sie wollten B’nai B’rith sein, Kinder des Bundes, Juden im edelsten Sinne des Wortes. Sie schlossen sich zusammen, um sich gegenseitig zu stützen, darin zu stärken, daß sie das Große und Wunder465

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bare der neuen Heimat begriffen, und dann sich beizustehen, daß sie in ihren jüdischen Idealen festblieben. Sie schlossen sich zusammen unter dem Motto, das wir alle kennen: W. B. und E., Wohlwollen, Brüderlichkeit und Einigkeit. Sie wollten sich zunächst nur zusammenfinden, sich gegenseitig stützen. Der Jude ist Individualist, ein Individualist auch im Patriotismus. Das ist eine Größe und eine Stärke. Als Individualist hat er ein starkes Heimatempfinden. Der edelste Patriotismus wächst aus diesem Heimatgefühl. Für Individualisten, wie wir Juden, ist es fast ein Lebenserfordernis, sich mit anderen zusammenzutun, mit Gleichgesinnten nicht nur, sondern mit Andersdenkenden auch. Auf dem Boden Amerikas fanden sich Juden aus den verschiedensten Heimatfeldern, aus dem Deutschland Badens und Württembergs, aus Bayern, aus Preußen, die Juden von der Elbe, die von der Oder, die aus dem alten Österreich, aus Böhmen, Mähren, der Slowakei, aus Ungarn, aus den Gebieten Polens und Litauens, die aus Rumänien und aus den Gebieten ringsumher. Sie wollten sich zusammenfinden in brüderlicher Liebe, kraft Wohlwollens, um in Eintracht zu leben. Wohlwollen ist der Anfang, Brüderlichkeit der Weg, Einigkeit das Ziel.

Um ihrer selbst willen und immer um des andern willen haben sich diese Menschen dort zusammengeschlossen, um sich gegenseitig eine Gewißheit zu geben. Und nun trafen auf sie die Wogen der Einwanderer, nicht mehr Gruppen nur, sondern Woge um Woge. Zuerst um die Mitte des letzten Jahrhunderts waren es die aus den mittleren, aus den westlichen Ländern Europas und dann vom Ende des Jahrhunderts an in breiten Wogen die östlichen Aschkenasim, die ihre deutsche Sprache mitgenommen und zur jiddischen wundersam gestaltet hatten. Sie strömten in das Land ein, und die große Aufgabe, die der B’nai B’rith sich bald stellte, war, diese Einwanderer aufzunehmen, so, daß sie Amerikaner wurden, daß das Ideal Amerikas, eines William Penn, George Washington, Abraham Lincoln auch in ihnen Leben gewann und zugleich das alte jüdische Leben mit seiner Kraft, mit seinen Idealen, mit seiner Poesie, in ihnen bleibe. In Wohlwollen sollte es geschehen, nicht mit dem Empfinden eines Protektors oder Patrons, sondern mit dem Wollen, sich in den andern hineinzudenken und hineinzufühlen, nicht über den Neuankömmling sich erhaben zu fühlen, weil die eigenen Eltern fünfzig Jahre früher hergekommen 466

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waren, und in Eintracht, um gemeinsam jüdisch-amerikanische Gemeinschaft zu erleben und zu pflegen. Als Amerika aufhörte ein Einwanderungsland zu sein, standen auch die B’nai B’rith dort vor einem Problem. Die Aufgabe bestand nicht mehr in ihrer alten Bedeutung und Kraft. Die Einwanderung hatte als Woge der Einwanderung aufgehört, nur einzelne Einwanderer kamen. Es ist die große Leistung der B’nai B’rith, daß sie sich bald eine neue Aufgabe stellten, die ihren Ausdruck fand in der Hillel-Foundation, in der Pflege der Religion unter der studierenden Jugend und dann in dem Kampf für die Wahrheit über Judentum und Juden. 1882 war der Orden nach Deutschland und dann nach andern Ländern Europas gekommen. Logen der B’nai B’rith wurden hier gegründet. Die Idee des Ordens wurde in neuen Boden eingepflanzt. Sie konnte nicht dieselbe Form haben wie in Amerika, das wäre importierte Ware gewesen. Das Prinzip, das Motto, die Idee war die gleiche, aber sie wurde zu neuer Form entwickelt. Die Idee fand in Deutschland und andern Ländern des mittleren, des westlichen und östlichen Europas ein so bereitetes Feld. Eine Generation hindurch hatten Juden in Europa geglaubt, und sie durften es glauben, daß alles, was höchstes Ideal des B’nai B’rith ist, schon bald das Besitztum aller Menschen in Europa sein werde. Sie glaubten sich vor der Pforte einer messianischen Zeit zu befinden. Und eines Tages mußten sie erkennen, wie lang der Weg noch war. Wir haben ein eindrucksvolles Zeugnis hievon: die Briefe, die der Schwarzwalddichter Berthold Auerbach an seinen Vetter Jakob Auerbach fast fünfzig Jahre hindurch schrieb. Dort sieht man den Traum und das Erwachen. Man erlebte mit dem neuen Erstehen des Antisemitismus, daß dies so vielen nur ein leeres Gebilde war. Es ist erschütternd, in den Briefen von Berthold Auerbach das alles zu sich sprechen zu lassen. So erwachte in Menschen, die in den jüdischen Gemeinden Führer waren, die Frage, ob man nicht anders ansetzen müsse, ob die Arbeit für Wohlwollen, Bruderliebe und Eintracht nicht zunächst bei Juden begonnen werden sollte. Alle Arbeit für Juden ist zuerst eine Arbeit an Juden, sie muß von innen anfangen, vom Jüdischen her. Dafür sind hier unsere Logen gegründet worden. Sie wollten zunächst an sich selber es aufzeigen, was Wohlwollen, Brüderlichkeit und Eintracht sind. Aus zwei Gründen war diese Arbeit in Europa besonders erfolgreich. Europa war in jener Zeit – und ist es noch in unseren Tagen – in einer Periode des Überganges. In einer solchen Periode wird Parteileidenschaft stärker als in ruhigen Tagen. Auch unter Juden 467

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brach damals überall in Europa ein bitterer Parteieifer hervor, etwas im Grunde so Unjüdisches. Aber kein Mensch kann so unjüdisch sein, wie leider oft ein Jude es ist. Darum war es so bedeutungsvoll, unsere Logen zu gründen, Juden zu zeigen, was Wohlwollen, Brüderlichkeit und Eintracht ist. Man stand nicht vor dem Problem, Einwanderer aufzunehmen. Einwanderung in Wellen gab es in diesen Ländern nicht. Die besondere amerikanische Aufgabe war in Europa nicht gestellt. Europa hatte seine eigene Aufgabe. Und auch aus einem andern Grunde war die Arbeit so wichtig. In Zeiten des Überganges zeigt es sich oft, daß Juden entweder zwei Schritte ihrer Zeit voraus sind oder drei Schritte hinter ihrer Zeit zurückbleiben. Die Spanne und Spannung zwischen denen, die voran gehen, und denen, die zurückbleiben, ist in Zeiten des Überganges unter uns Juden viel größer als irgendwo sonst. Auch das wurde nun ein Gebot, sich zusammen zu finden, in einer schweren Aufgabe sich zusammen zu schließen, damit in ihr die, die einige Schritte voraus waren, und die, die zurückstanden, sich in ihr begegnen, sich gegenseitig etwas geben konnten, und so gegenseitige Geduld gelehrt und der Wunsch geweckt wurde, im Sittlichen und Geistigen, im Jüdischen voranzugehen. Das war die Hoffnung der B’nai B’rith in Europa. Diese Hoffnung haben unsere Logen verwirklicht. Wer ihre Geschichte zu sich sprechen lässt und Menschen hier und dort sich vergegenwärtigt, der wird es gewiß erkennen, welche große Aufgabe erfüllt wurde, wenn Männer wie ein Hermann Cohen u. a. m. so sehr von der Liebe zur Idee der B’nai B’rith erfaßt waren und nun lernten und lehrten mit den einfacheren Menschen im Empfangen und Geben zusammenzustehen, damit ein Ideal ein Leben gewinne. Das ist die große Aufgabe gewesen. Das Prinzip ist dasselbe wie das der B’nai B’rith in Amerika und doch ein eigenes im Sinne der Besonderheit, so wie nur eine Idee wächst, wenn sie in neuen fruchtbaren Boden gepflanzt wird. Das ist die Geschichte dieses Ordens in Europa. Vor zwei Jahrzehnten hörten die mehr als hundert Logen auf dem Kontinent, in Deutschland, in Österreich, Polen, der Tschechoslowakei und den Balkanstaaten auf. Der große und erfolgreiche Distrikt in Europa, der deutsche, hat damals die Forderung, daß er selbst sich auflöse, abgelehnt. Sie endeten und wir müssen dankbar sein, daß die Logen der Peripherie, vor allem die Schweizer-Logen, das Banner aufrecht erhielten. Es ist auch wie ein Akt der Dankbarkeit, fast ein Symbol, daß die Leitung des neuen Distrikts hier in der Schweiz ist. Und nun ist dieser Distrikt »Europäischer Kontinent« geschaffen 468

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worden. Das will sagen, eine europäische Aufgabe ist erkannt und gestellt. Die Aufgabe ist nicht die, den ersten Schritt dahin zu tun, wie vielleicht einige meinen, den Schritt dahin, daß eines Tages vielleicht, wenn einige Juden in Island leben, ein Distrikt Island gegründet wird. Nur als Distrikt Kontinental-Europa in seiner Einheit und Geschlossenheit wird die Logen-Idee in Europa weiterleben können. Jedes Land behält seine Besonderheit. Es ist ein fruchtbares Wort von Lord Balfour, als er das Westminster Statut darlegte, durch welches das englische Empire sich die neue Verfassung gab: Menschliche Gemeinschaft und menschliche gemeinsame Leistung beruht auf diversity in unity and unity in diversity – Einheit in der Verschiedenheit und Verschiedenheit in der Einheit. Das ist die Größe Englands, und das ist die Größe der Vereinigten Staaten von Amerika, und das ist auch die Größe der Schweiz: Kantone und schweizerische Konföderation. Die Konföderation und die Kantone, beides ist notwendig. Das ist auch der neue Distrikt: Verschiedenheit innerhalb der Einheit – nicht Uniformität. Uniformität ist immer das geistige Ende. Verschiedenheit in der Einheit, aber Einheit in der Verschiedenheit! Nicht Eigenbrödelei! Europa ist ein kleines Gebiet auf dem Globus. Der Name in der Bedeutung, die er heute hat, ist ein verhältnismäßig junger Name. Bis ins 17. Jahrhundert hieß dieser Erdteil: die Christenheit. Erst als diese sich spaltete, wurde der Name Europa ein Begriff. Aber dieser Erdteil hat doch seine Einheit und auch seine jüdische Einheit. Der europäische Jude ist ein Jude eigener Art, wertvoller Art. Der neue Distrikt ist eine Wirklichkeit, und jede Wirklichkeit ist eine Aufgabe. Die Juden Europas in ihrer wertvollen Eigenart lebendig und fruchtbar zu erhalten, um des ganzen jüdischen Volkes willen, das ist eine geschichtliche Pflicht. Wir haben heute den Staat Israel. Wir haben etwa fünf Millionen Juden in den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber keine Gruppe von Juden darf abgeschrieben werden. Ein Jude ist Jude, ein Glied des Ganzen, wie immer er lebt, und soll erhalten sein. Wir Juden sollen leben trotz allen und allem, das ist ein Gebot. Wenn etwas Persönliches erwähnt werden darf: Vor Jahren sprach ich wieder einen Freund von mir, einen Mann aus altem deutschen Adel, der lange in Indien lebte und mit Gandhi bekannt und befreundet wurde und der auch Grüße von ihm überbrachte. Dieser Mann mußte dann auf Weisung der deutschen Regierung Indien verlassen. Als er sich von Gandhi verabschiedete und nach etwas Besonderem fragte, das er mir übermitteln könnte, da sagte Gandhi: »Mein Rat an die deutschen Juden würde sein, daß sie an 469

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einem Tage zur selben Stunde Selbstmord begehen. Dann würde das europäische Gewissen erwachen.« Der Freund hat nicht gewagt, dies damals zu überbringen. Er hätte es mitteilen können. Wir Juden wissen: es ist ein Gebot von Gott, zu leben. »Nicht die Toten preisen Dich, oh Gott!« Das Gewissen Europa zu wecken, ist eine große Aufgabe. Eine klare Zeit bricht an, wenn die öffentliche Meinung ein öffentliches Gewissen wird. Aber unsere erste Aufgabe ist, unser eigenes Gewissen lebendig zu erhalten, am Leben zu bleiben, damit das Gewissen sprechen kann. Das ist die Aufgabe unserer Logen in Europa: das jüdische Gewissen in Europa zu sein, daß ein jüdisches Gewissen in den Ländern nicht verstumme, daß Menschen da sind, die dem Gewissen das Wort geben. Das ist die große Pflicht der B’nai B’rith. Dazu gehört allerdings menschliche Stärke. Ein schwacher Jude ist eine contradictio in adjecto, ein Widerspruch in sich. Wenn er schwach wird, hört er auf, innerlich Jude zu sein. Solange er wahrhaft ein Jude ist, wird er nie innerlich zerbrechen. Wir Juden haben, seit wir leben – und wir leben dadurch –, zwei große Eigenschaften: Geduld und Vision. Uns eignet die Einheit von diesen beiden. Geduld ohne Vision wäre blind. Vision ohne Geduld wäre leer. Beides ist notwendig. Geduld ohne Vision könnte zum Fatalismus werden und Vision ohne Geduld zur Träumerei und Phantasterei. Vision und Geduld, das erhält in uns die Spannkraft des Willens zum Leben und den Willen zur Aufgabe. Dem dienen wir B’nai B’rith, dienen dem mit Wohlwollen, ohne Rechthaberei und Überhebung. In brüderlicher Liebe, in gegenseitigem Verständnis, ohne Eigenbrödelei, ohne Parteisüchtelei, um der Eintracht mit der großen jüdischen Gemeinschaft willen, der wir durch unsere Gemeinschaft dienen. Dies ist die Aufgabe. Ohne eine Aufgabe kann keine Gemeinschaft leben. Die neue Großloge muß ihre Aufgabe finden, um durch sie zu erstarken. Männer und Frauen verschiedener Art aus den Ländern Europas sind in unserem District zusammen. In der Schweiz tagen wir, hier in Basel. Es ist die Kraft der Schweizer, daß sie Individualisten sind und doch Schweizer, Schweizer und doch Europäer. Die Schweizer Universitäten sind seit langem europäische Universitäten. In Basel wirkten die Buxtorfs, die das Hebräische lehrten, Franz Overbeck, Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche, alles europäische Männer. B’nai B’rith aus allen Ländern zu sein und B’nai B’rith des europäischen Distriktes, das ist hier die Bestimmung. Mit Vision und Geduld wird sie erfüllt sein. Und wenn auf diesen Tag einst, so hoffen wir, Männer und Frauen zurückblicken, sie werden dann sagen dürfen: 470

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Eine Aufgabe ist erfaßt und erfüllt worden in Geduld und mit Vision. Es war und blieb Arbeit für wahres jüdisches Leben, eine geschichtliche Stunde, als dieser District gegründet wurde. Möge der Allgütige diese Stunde segnen.

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Judentum, Christentum und Islam Rede, gehalten von Ehren-Grosspräsident Dr. Leo Baeck Anlässlich der Studientagung der Districts-GrossLoge Kontinental-Europa XIX in Bruxelles (22. April 1956)*

In seinem Vortrag »Judentum, Christentum und Islam«, den Baeck am 22. April 1956 aus Anlaß der Studientagung der Districts-Groß-Loge Kontinental-Europa XIX in Brüssel gehalten hat, hat Baeck ein halbes Jahr vor seinem Tod die tragenden Pfeiler für den Brückenbau des Gemeinsamen zwischen Judentum, Christentum und Islam benannt und das gemeinsame Erbe zwischen Juden, Christen und Muslimen testamentarisch zusammengefaßt. Wir haben es hier mit Baecks messianischer Vision von einem gemeinsamen Weg von Judentum, Christentum und Islam zu tun. Es handelt sich um Konturen des Weges für die zweite Hälfte der vierten Epoche jüdischer Geschichte (15002500). Baeck zeichnet und rekapituliert zunächst die Umrisse der messianischen Hoffnung des Judentums und des ursprünglichen Evangeliums Jesu, wie er es in seiner Schrift »Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte« im Jahre 1938 entfaltet hat, wobei Paulus als der Schöpfer des Christentums zu verstehen ist, wie der PaulusAufsatz von Baeck aus dem Jahre 1952 zeigt. Bevor Baeck das Gemeinsame zwischen Judentum und Christentum aufzeigt, wendet er sich zunächst dem Unterscheidenden und Trennenden zwischen Judentum und Christentum zu: Im Judentum ist das Entscheidende der Weg, im Christentum ist es der Platz. Während das Judentum den Weg von Geschlecht zu Geschlecht geht, versteht Baeck das Christentum statisch vom Platz her. Der Mensch hat nur seinen Platz in Offenbarung, Prädestination, Sa*

Als Heft veröffentlicht.

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krament und Erlösung. Angesichts der von Baeck genannten Punkte des Unterscheidenden, ja Trennenden ist nicht primär zu fragen, ob das biblisch-neutestamentlich stimmt, sondern ob das christentumsgeschichtlich und wirkungsgeschichtlich von Baeck richtig gesehen ist. Nachdem Baeck das Judentum und Christentum Trennende beschrieben hat, nennt er fünf Punkte, in denen das Einende und also die Brücke zwischen Judentum und Christentum sichtbar werden: 1. Die Juden und Christen gemeinsame Bibel: »Das Christentum müßte seine Geschichte verwerfen, wenn es das Judentum verwerfen wollte … In der Kirche ist Jüdisches, und wenn Juden und Christen in früheren und neueren Tagen den Weg zueinander suchten, … war es immer kraft dieses Jüdischen in der Bibel«. Der Juden und Christen gemeinsame aaronitische Segen gehört ebenfalls zu dem Verbindenden: »Wenn der Segen der Kirche gesprochen wird, ist es derselbe Segen, der in der Synagoge gesprochen wird, der Priestersegen, der in der Synagoge gesprochen wird«. 2. Die Juden und Christen gemeinsame messianische Hoffnung: »Und das andere ist die Hoffnung; in der Kirche … lebt die Hoffnung auf die Wiederkehr des Messias, so daß nur das eine Wörtchen wieder den Unterschied (zwischen Christentum und Judentum) bildet. Die Hoffnung auf die kommende Zeit ist in der Kirche auch lebendig«. Der jüdische Religionsphilosoph H. J. Schoeps hat in seinem Paulusbuch aus dem Jahre 1959 die Einheit und Unterschiedenheit in der messianischen Hoffnung, wie sie Baeck hier 1956 formuliert, als Hoffnung auf das Kommen und das Wiederkommen des Messias seinerseits wie folgt formuliert: »Der Messianismus Israels zielt auf das Kommende, die Eschatologie der Weltvölkerkirche auf die Wiederkunft des Gekommenen. Beide eint die gemeinsame Erwartung, daß das entscheidende Ereignis erst noch kommen wird – als das Ziel der Wege Gottes, die er in Israel und in der Kirche mit der Menschheit geht«. 3. Das Juden und Christen gemeinsame Gebot der Nächstenliebe: »Und dann ein Gebot, das die Kirche auch aufgenommen hat, das Gebot des Wohltuens, das Gebot der Nächstenliebe … Darin einen sich Judentum und Christentum«. 4. Das Juden und Christen gemeinsame Bekenntnis zur Einheit Gottes: Und schließlich einen sich Judentum und Christentum »in der Einheit Gottes. Die Kirche lehrt die Dreieinigkeit, den trinitarischen Glauben, aber sie betont doch immer zugleich die Einheit in der Dreieinigkeit. Mit dem Judentum fühlt die Kirche sich verbunden im Gegensatz zum Heidentum«. Mit dem letzten Punkt hat Baeck der christlichen Theologie eine wichtige Aufgabe zugewiesen, näm473

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lich die Trinitätslehre als Auslegung des zwischen Juden und Christen gemeinsamen Bekenntnisses zur Einheit Gottes zu interpretieren und so neu die Heiligung des NAMENs, JHWHs, zu buchstabieren und zu verwirklichen. Das erste Gebot bleibt auch in allem christlichen Erzählen und Reden von Gott und in allem Nachdenken über Gott das entscheidende und erste theologische Axiom. Nachdem Baeck von dem Trennenden und Verbindenden in Judentum und Christentum gesprochen hat, kommt er kürzer auf das Trennende und Verbindende in Judentum und Islam zu sprechen, wobei das Verbindende überwiegt: 1. Baeck betont zunächst das von Abraham abstammende IsmaelVolk, »das sich als Brudervolk der Juden oft betrachtet hat, … das von Ismael, dem Sohne Abrahams, herkommt, wie das jüdische Volk von Isaak, dem Sohne Abrahams«. 2. Mohammed wird von Baeck verstanden als ein Mann von Glaubenskraft, wobei Baeck Mohammed in einer gewissen Parallele zu Abraham und zu Paulus schildert. Wie Abraham schied Mohammed aus seinem Stamm aus und verkündete den einen Gott, wobei Baeck – wie damals üblich – in überholter Weise noch von den »Mohammedanern« anstatt von Muslimen spricht. 3. Der Glaube an den einen Gott, das Gebot des Wohltuens und der Kampf gegen die Sklaverei eint Judentum und Islam. 4. Der Islam wird schließlich von Baeck als eine missionarisch-ökumenische Weltreligion verstanden, die von Nordafrika bis nach Indonesien vorgedrungen ist und das Land Israel umrahmt. Damit tritt für Baeck am Schluß eine entscheidende Frage ins Zentrum, die Frage nach Erez Israel: »Nun tritt vor uns Juden ein Problem hin, das Problem unseres Landes Israel. Wenn man Geschichte betrachten will, darf man nicht auf die (enge) Landkarte hinblicken, man muß den Globus betrachten. Wer sie mit dem Globus betrachtet, der sieht diese mohammedanische (muslimische) Welt«. Fast ganz Afrika, ganz Vorderasien sind von der muslimischen Ökumene bestimmt. Von daher faßt Baeck seine Vision für das 21. Jahrhundert wie folgt zusammen: »Und wenn man das so alles auf dem Globus sieht, und nun umringt, umfaßt, umfangen von dieser mohammedanischen (muslimischen) Welt das Land Israel: da wird die Frage lebendig: was trennt und was verbindet … Alles hängt davon ab, daß so, wie es einst im Mittelalter zum Segen für beide geworden war, ein Weg vom Islam zum Judentum, von der arabischen zur israelitischen Welt, (umgekehrt aber auch) ein Weg von Israel und seiner Religion zur ara474

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bischen Welt und ihrer Religion gefunden werde. Das vermöge dessen, daß der Unterschied erkannt und das Einigende begriffen wird, die beiden einander sehen und begreifen lernen«. Baeck schließt seinen Vortrag mit einer messianischen Hoffnung und einem Plädoyer für die Wegbereitung auf das Kommen der messianischen Welt Gottes: Wird das Christentum von einer Platz- wieder zu einer Weg-Religion, zu einer Religion auf dem Weg in der Gemeinsamkeit mit dem Judentum werden, wird es einen Weg vom Islam zum Judentum und auch umgekehrt vom Judentum zum Islam geben und werden diese Wege in Zukunft wirklich begangen werden, »dann werden gute Tage kommen. Menschen und Völker und Bekenntnisse werden geschieden bleiben, werden in ihrer Besonderheit weiterleben, aber sie werden wissen, daß sie zusammengehören, Teile der einen Menschheit sind, zusammenleben sollen auf dieser unserer Erde, einander sehend und einander verstehend, und, wenn es Not tut, einander helfend«. Baecks messianische Vision vom gemeinsamen Weg von Judentum, Christentum und Islam für die zweite Hälfte der vierten Epoche jüdischer Geschichte (1500-2500) ist eine große Vision für das 21. Jahrhundert. Sie wird nicht nur für das Überleben der drei abrahamitischen Religionen und der drei von Abraham und Sarah herkommenden Ökumenen, sondern auch für das Überleben der Menschheit in der großen Weltökumene des einen Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erde, von entscheidender Bedeutung sein.

Seit fast zweitausend Jahren ist jüdische Geschichte zu einem grossen und wesentlichen Teile Geschichte innerhalb einer christlichen Welt, und seit mehr als einem Jahrtausend ist diese Geschichte auch zu einem andern Teile Geschichte innerhalb einer mohammedanischen Welt. Jüdische Geschichte kann so nicht begriffen werden, ohne diese christliche Welt und diese mohammedanische Welt zu verstehen. Es ist ein Eigenes, wenn man die Jahrhunderte und die Jahrtausende rückwärts blickt: das jüdische Volk ist seit Altem eines der grossen, kolonisatorischen Völker, eines der grossen Wanderungsvölker. Eine grosse kolonisatorische Kraft und ebenso ein starker Wanderungswille haben in diesem Volke immer gelebt. Aber es ist eigen: eine Grenze war immer eingezeichnet und ist kaum je überschritten worden, und diese Grenze ist durch das grosse Gebirgsmassiv bezeichnet, welches die Mitte Asiens bestimmt, und im Himalaja ihre höchste Erhebung findet. Hinter dieser Gebirgskette 475

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sind zwei grosse Kulturwelten, weite, bedeutungsvolle, inhaltreiche Kulturen, die Welt Indiens und die Welt Chinas. Aber diese Grenze ist bis auf einige wenige einzelne Wanderer vom jüdischen Volke nie überschritten worden. Als die westliche Welt entdeckt wurde, die Welt Nord- und Südamerikas, und dann die Welt Australiens, zogen Juden dorthin: nach den nördlichen und auch nach den südlichen äquatorialen Gebieten; aber diese Grenze, die der Himalaja bezeichnet, ist von Juden niemals, bis auf einzelne Wanderer, überschritten worden. Es ist ein Faktum der Geschichte, und dieses Faktum bedeutet zugleich eben das, daß jüdische Geschichte seit langem in einer christlichen und in einer mohammedanischen Welt Ereignisse, Erlebnisse, Geschicke und auch Tragödien besessen hat. So ist es für jeden Juden, nicht nur für die jüdische Gesamtheit, sondern für jeden Einzelnen, fast etwas Notwendiges, Christentum und auch Islam, die mohammedanische Religion, zu verstehen. Verstehen, das bedeutet, das Unterscheidende und das Gemeinsame erkennen. Keiner versteht einen andern, wenn er nicht begreift, was den andern von ihm unterscheidet, was im andern eben anders ist, daß er ein anderer ist. Aber dieses alles, das Begreifen des Unterscheidenden, erhält seinen Wert erst dadurch, daß man hinter dem Unterscheidenden, unter ihm und über ihm, das Verbindende, das Gemeinsame erkennt. So ist es ein richtig gewähltes Thema. Judentum und Christentum, Judentum und Islam, ce qui uni et ce qui sépare. Beides gehört zusammen: Blick für das Unterscheidende und Blick für das Verbindende. Dann erst sieht man den andern wahrhaft. Was unterscheidet nun Judentum und Christentum? Man kann eine Antwort darauf nur geben, wenn man in wenigen kurzen Strichen die Entwicklung des Christentums darzustellen sucht. Im Namen Christentum ist das Wort im Griechischen »christos«, im Lateinischen »christus« enthalten, das die Übersetzung des hebräischen Wortes »maschiach«, des Wortes »Messias« ist. Das will sagen, vom Messiasglauben hat das Christentum seinen Ausgang genommen. In der Zeit, bevor das Christentum entstand, und auch in der Zeit nach ihm war im jüdischen Volke in Palästina und auch in den weiten Gebieten östlich und westlich Palästinas, in denen jüdische Gemeinden bestanden, eine Spannung, eine innere Gespanntheit könnte man sagen, eine Spannung, die daraus hervorging, daß Menschen fühlten und glaubten, eine Umwandlung der Zeiten bereite sich vor. Eine Zeit geht zu Ende, und eine Zeit, die man ahnte und fühlte oder zu fühlen meinte, bereite sich vor. In solcher Zeit ist im Judentum immer die alte Verheissung lebendig geworden, welche die Prophe476

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ten ausgesprochen hatten: es wird ein Mann kommen, als der Erlöser, als der Befreier, als der wahre König der Juden, als der Gesalbte seines Volkes, er werde seinem Volke Frieden und Glück bringen und dieser Friede, dieses Heil, dieses Glück werde sich ausdehnen und ausbreiten von Volk zu Volk, und die ganze Menschheit werde in diesem Frieden, in diesem Heil, in dieser Gnade geeint sein. Wenn man auf einen Erlöser wartet, dann kommt er, denn dann entsteht in manchen Menschen der Glaube, dieser oder dieser könnte wohl der Verheißene sein, der König, der Gesalbte, auf den man wartete und den man erwartete, und in einem Menschen selbst kann dieser Gedanke erwachen: Ich könnte es sein, ich bin der, der verheißen worden ist. So sind damals, vor etwa zweitausend Jahren, im jüdischen Volke hier und dort, Männer erstanden, welche glaubten, sie seien der, der verheissen worden ist. Wir wissen durch den jüdischen Historiker jener Zeit, Flavius Josephus, von solchen Männern, einem Manne Juda aus Galiläa, Theudas aus Kalonitis und andern. Sie sind gekommen, manche haben an sie geglaubt, sie haben schließlich leicht an sich selber geglaubt, und dann sind sie dahingegangen. Dahingegangen durch die Hand der Römer, denn Palästina war damals römische Provinz. Römische Statthalter residierten im Lande, und die Aufgabe dieser Statthalter war vor allem, Ordnung, Ruhe im Lande zu halten. Einer, der ein König der Juden sein wollte, ein Messias, der war für die Römer ein Aufrührer, ein Rebell, und so sind diese Männer, von denen Flavius Josephus erzählt, am Kreuze gestorben. An das Kreuz schlagen war nach römischem Verwaltungsrecht die Strafe für die Rebellen. Von keinem dieser Männer weiß die Geschichte viel zu erzählen. Mit ihrem Tode hörte ihre Geschichte auf. Nur von einem erzählt die Geschichte, ja, mit seinem Tode fing seine Geschichte erst ganz eigentlich an. Und sie dauert bis in unsere Tage und wird, soweit Menschen es sagen können, noch manches Geschlecht um Geschlecht und Geschlecht um Geschlecht weiterdauern. Dieser Mann war Josua aus Nazareth, Josua, oder wie die Griechen diesen Namen aussprachen: J-E-S-U-S, Jesus. Er war, in einer alten Überlieferung der Familie war es so gesagt, aus dem Hause Davids, aus dem Stamme Isais, und das Wort des Propheten Jesaja schien sich so zu erfüllen: »Es wird ein Spross aufkeimen aus dem Stamme Isais.« Er war, nach allem, was wir wissen und hören, ein Mann von großer Eigenart, ein Mann, in dem sich Weisheit des Denkens, Kraft des Hoffens und eine Anmut des Wesens miteinander vereinten. Sein Leben war kurz. Menschen rings um ihn glaubten, er sei der Verheissene. 477

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Kurz vor ihm war ein Mann im jüdischen Volke aufgetreten, Jochanan, oder wie die Griechen diesen Namen aussprachen, Joannes, Johannes, der Essäer, oder auch Johannes der Täufer genannt. In ihm war die Spannung der kommenden Zeit stärker als in andern noch, und er zog umher im Lande, vor allem im Süden des Landes, in den unteren Jordan, und rief aus: Tuet Buße, kehret um, das Reich Gottes ist nahe. Ihm schloss sich Jesus an. Und Johannes sah in Jesus den, der das Werk fortsetzen würde. Johannes starb den Märtyrertod. Er hatte die Frau eines der Machthaber im Lande beleidigt und ihren Mann gekränkt, und so wurde ihm der Tod bereitet. Nun lenkten alle Blicke sich auf Jesus. Worte, die er sprach, gingen von Mund zu Mund, der Zauber seines Wesens erfasste viele, heilte Leidende, und man erzählte von alledem. Sein Name wurde vielen im Lande bekannt. Er zog von Stadt zu Stadt, im Norden, in Galiläa, zog dann nach dem Süden, nach der Provinz Judäa, und alle blickten auf ihn. Seine Anhänger begannen an ihn zu glauben, und als einer seiner Jünger, einer derer, die sich ihm angeschlossen hatten, Simon Kaiphas, mit dem griechischen Namen Petrus genannt, zu ihm sagte: »Du bist der Sohn Davids, der Messias«, da widersprach er nicht. So breitete sich die Kunde im Lande aus: Der Sohn Davids, der König, der Messias, ist gekommen. Für den Messias, den König gab es nur einen Weg: den Weg nach Jerusalem. So zog denn Jesus mit denen, die ihm nah waren – es war die Zeit vor dem Pessachfeste, wo nach altem Brauche Juden in der Wallfahrt nach Jerusalem zogen, um dort das Pessachopfer darzubringen –, so zog er nach Jerusalem. Und als er Jerusalem betrat, riefen die Menschen vor ihm aus: »Hosiannah, Hosiannah, hilf, oh Gott, unserem König, dem Sohne Davids«. In Jerusalem war in der Zeit der Wallfahrt der römische Statthalter mit allen denen, die ihm Kunde von allem, was in der Stadt geschah, brachten. So wusste er bald, was geschehen war. Ein neuer Messias war unter den Juden erstanden, das Volk hatte ihn in Jerusalem begrüßt. Und so vollzog sich das Schicksal. Jesus wurde verhaftet, und in kurzem Verfahren wurde er zur Hinrichtung bestimmt. So wie Juda aus Galiläa, wie Theudas, wurde er ans Kreuz geschlagen. Auf das Kreuz wurde der Grund der Hinrichtung geschrieben, in römischen, lateinischen Worten: »Jesus Nazarenus, Rex Judaeorum«, – Jesus aus Nazareth, König der Juden. Das will sagen, weil er König der Juden sein wollte, ist er ans Kreuz geschlagen worden. Wenn eine Nebenbemerkung gestattet ist: In späterer Zeit, als die Kirche, die Anhänger Jesu sich zwei Generationen nach ihm zusammenschlossen und Wert darauf legten, Rom nahezukommen, zu 478

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Rom in Freundschaft hinzugelangen, suchte man Rom zu entlasten und die Juden zu belasten. So wurde gesagte, jüdische Richter haben Jesus verurteilt. Wer das Verfahren römischen und jüdischen Rechtes und wer die Strafen, die römisches und jüdisches Recht verhängen, kennt, weiß, daß das Verfahren gegen Jesus in allen Punkten ganz dem römischen Rechte entsprach und dem jüdischen Rechte widersprach. Das jüdische Recht kennt auch keine Kreuzigungsstrafe. Dem römischen Recht war sie die Strafe für den Aufrührer. So war auch Jesus dahingegangen. Am ersten Tage des Pessachfestes, um den Juden einen besonderen Schimpf anzutun, war er von den Römern hingerichtet worden. Er war dahingegangen. Aber der Glaube an ihn blieb in seinen Anhängern. Und wieder wurde prophetisches Wort lebendig, das Wort des alten Propheten Hosea, der von dem Befreier des Volkes spricht: am dritten Tage wird Gott ihn wieder erstehen lassen. Und so glauben die Anhänger Jesu, am dritten Tage nach seinem Tode sei er auferstanden, zum Himmel emporgestiegen. Nun begann die eigentliche Zeit des Glaubens. Der Glaube war Glaube an die Auferstehung, der Glaube, daß Jesus am dritten Tage aus dem Grabe auferstanden sei. Dieser Glaube vereinte sie alle. Wenn sie zusammenkamen, sprachen sie von ihm, gedachten seiner, wiederholten Worte, die er gesprochen hatte, erzählten von seinen Taten. Das letzte Zusammensein mit den Seinen war am Sederabend gewesen; in der Nacht nach dem Sederabend hatten ihn die Römer verhaftet und am Tage darauf hingerichtet. Wenn Menschen zusammenkamen, wenn Kiddusch gemacht wurde und der Segen über das Brot, Mauzi, gesprochen wurde, dann gedachten sie seiner, erzählten, wie er am Sederabend den Segen, die Brochoh, über Wein und Brot gesprochen und was er gesprochen habe. So lebte es weiter, und alle die, die an ihn glaubten, waren Juden und blieben Juden. Sie fühlten sich als Juden, man könnte fast sagen, als strenggläubige Juden. Unter den Juden war dieser Mann gewesen, ein Jude und nur das hat er sein wollen, ein König der Juden zu sein, das war für ihn verheissen worden. Es gab unter den Juden manche Gruppen, manche Gruppen des Glaubens. Die Funde der Rollen in einer Höhle in der Nähe des Toten Meeres, die vor einigen Jahren entdeckt wurden, zeigen, wieviele solcher Richtungen und Gruppen es unter den Juden gab. Und der Unterschied zwischen diesen Anhängern Jesu und den andern Juden war einer: der Unterschied, der in dem einen Worte w i e d e r ausgedrückt werden kann. Alle Juden sonst glaubten in aller Inbrunst, aus einer Spannung des Gemütes, der Messias werde kom479

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men, eines Tages, vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht eines andern Tages, er werde kommen, und die Anhänger Jesu glaubten, er werde w i e d e r kommen. Er sei gewesen, er hätte unter ihnen gelebt, zu ihnen gesprochen, ihnen geholfen, sie getröstet; und er sei auferstanden, und wenn der Tag erfüllt sei, werde er wiederkommen, in der Glorie des Himmels, zu dem er auferstiegen sei. Dieses eine Wort w i e d e r war der Unterschied und blieb der Unterschied, bis der Mann aufstand, der der eigentliche Schöpfer dessen ist, was heute und seit Jahrhunderten Christentum heißt: der Jude Saul – oder wie er mit seinem lateinischen-römischen Namen hieß: Paulus – aus Tarsus in Kleinasien. Dieser Mann Paulus – Saul aus Tarsus – ist eine der stärksten und eine der größten Erscheinungen der Geschichte. In ihm war eine Idee erwachsen, und die Idee hielt ihn fest und ließ ihn nicht los. Er lebte in griechischer Umgebung. Kleinasien war in jener Zeit griechisch. Und unter den Griechen und in weiten Teilen des römischen Volkes und des ägyptischen, des syrischen Volkes, war damals ein Glaube lebendig, ein Mysterienglaube, ein alter Glaube, der schon in athenischem Gebiete, in Eleusis, seine Stätte hatte, überall in dieser Welt, rings um das Mittelmeer und östlich des Mittelmeeres, der Glaube an einen auferstandenen Gott. Dieser Mann, dieser auferstandene Gott, dieser Gott-Mensch, hieß in den einen Bezirken Attis, in anderen Adonis, in dem andern Osiris, in dem andern Serapis, aber es war immer daßelbe: der Glaube an ein göttliches Wesen, das auf Erden gewesen, das jung gestorben, in die Erde gelegt und aus der Erde auferstanden sei. Und wer mit diesem Wesen sich verbinde, der werde der Sterblichkeit entzogen, über die Sterblichkeit erhoben, erlösendes, ewiges Leben werde ihm zuteil. In Tarsus war einer der Mittelpunkte dieses Mysterienglaubens. Wir wissen über diesen Mysterienglauben genau Bescheid. Wir haben noch Berichte zeitgenössischer Schriftsteller über Wesen und Bräuche und Riten dieses Glaubens. Wir wissen z. B., wie in Italien sich in der Zeit vor Jesus, vor Paulus, dieser Glaube seinen Ausdruck schaffte. Eine Grube, ein Grab wurde gegraben. In diese Grube, in dieses Grab wurde das Bild des Gottes, des Adonis, gelegt. Es wurde Öl und Wein hineingegossen als Opfergaben, und dann wurden die Novizen, die in den Kreis der Mysterien eintreten wollten, in dieses Grab hineingelegt, eine dünne Schicht Erde wurde darüber gebreitet, und dann wurden sie herausgehoben, und der Priester – er hieß Papos, Papst – und die Gläubigen alle riefen: »Renatus, renatus«, er ist wiedergeboren, er ist wiedergeboren. 480

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Das sah Paulus um sich, in seiner Heimat Tarsus, und es schien ihm, als begegnete sich dies mit einer Idee, welche Juden und Griechen damals erfüllte, mit der Idee, daß die jüdische Welt und die heidnische Welt sich finden würden. Wir haben viele literarische Denkmale jener Zeit, aus jüdischen Kreisen, aus griechischen, die diesem Glauben Ausdruck geben. Und nun war es Paulus, als sei ihm das Auge geöffnet worden. Er hatte von Jesus gehört, er war nach Palästina gegangen, um dort in der Schule des Rabbi Jochanan jüdische Lehre zu studieren, er hörte von Jesus, und nun glaubte er zu sehen: Nicht Attis, nicht Adonis, nicht Osiris, nicht Mithra, und wie die Namen alle hießen, ist dieser Gott, der jung gestorben und aus dem Grabe aufgestiegen ist, und der die, die sich mit ihm vereinigen, im Brauche, im Ritus, im Sakrament verbinden, mit ewigem Leben und Erlösung begabe, nicht Mithra, nicht Adonis, nicht Attis ist es, sondern Jesus aus Nazareth, der König der Juden, der am Kreuze gestorben und am dritten Tage auferstanden ist und eines Tages w i e d e r kehren werde. Diese Idee ergriff Paulus. Er war ein Mann von innerer Reinheit, von einem seltenen Enthusiasmus, und ein – fast möchte man sagen – fanatischer Jude. In den Briefen, die er geschrieben, die von ihm erhalten sind, ist Zeugnis von dem gegeben. Im Brief an die Römer ist das 11. Kapitel ein Bekenntnis zum jüdischen Volke, ein Bekenntnis für immer, das dieser Mann Paulus aussprach, so heiß und ergriffen, wie wenige vor ihm und wenige nach ihm. Aber in ihm war das nun sein Glaube geworden, und dieser Glaube ließ ihn nicht los. Für diesen Glauben setzte er sein Leben ein: Heidenwelt und jüdische Welt zu vereinen in dem Glauben an den Gott, der jung gestorben und auferstanden ist, und der die, die sich mit ihm verbinden, zur Erlösung, zum ewigen Leben führe, zu diesem Gotte, der nicht Attis, nicht Adonis hieß, sondern Jesus Christus, Jesus der Messias, Jesus der König der Juden. Damit beginnt das Christentum, und das ist Christentum. Für jedes Wort, das Jesus gesprochen, gibt es eine Parallele in Worten anderer jüdischer Lehrer jener Zeit. Für das Schicksal, das er erlitten hat, gibt es ein gleiches, damals und später. Das alte Evangelium, das von Jesus erzählt, ist ein jüdisches Buch und gehört in das Judentum fast hinein. Mit Paulus beginnt ein anderes, beginnt die christliche Kirche. Und ein Ereignis kam ihr zu Hilfe. Im Jahre 70 wurde der jüdische Aufstand gegen Rom niedergeworfen, der Tempel zerstört, verbrannt. Wie ein Sinnbild, wie eine Botschaft von oben erschien es, und die Christen sagten: jetzt hat Gott das Zeichen gesandt, daß die 481

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alte Zeit aufhöre und die neue Zeit beginne, die Zeit Jesu Christi. Das ist der Anfang des Christentums. Nun erhebt sich die Frage: was unterscheidet Judentum und Christentum. In einige wenige Sätze kann man diesen Unterschied zusammenfügen. Zuerst – dieses Wort klingt erst etwas theologisch zunächst oder philosophisch, aber es zeigt das Eigentliche und kann leicht erläutert werden –, im Judentum ist Gott der offenbarende Gott, im Christentum ist der offenbarte Gott. Was will das bedeuten? Für Paulus hat in Jesus Gott sich offenbart, er ist Gott, der zur Erde niedergekommen ist. Und der Mann, der das Werk des Paulus fortsetzte, mit einer antijüdischen Richtung, der Verfasser des vierten Evangeliums, der Evangelist Johannes, sagt: das Wort, griechisch logos, bezeichnet Gott und Gottes Kraft, Gott wurde Mensch und wohnte unter uns. Gott wurde Mensch und wohnte unter uns, das will sagen, Gott hat in diesem Jesus sich offenbart, in ihm, der Gott war und Mensch wurde, so daß Gott sich in ihm sichtbar, greifbar, hörbar, fassbar, ganz offenbarte. Das Judentum sagt, Gott ist der offenbarende Gott, das ewige Geheimnis ist um Gott, das ewige Geheimnis, das alles trägt, mit dem Bilde im letzten Buche Moses: die brachia sempiterna, die ewigen Arme umfangen alles. Gott offenbart sich, offenbart sich im Menschen, durch das Genie, durch den großen Künstler, den großen Dichter, den frommen, wahrhaft frommen Menschen, offenbart sich in der Natur, offenbart sich in der Geschichte, er offenbart sich aber nie ganz. Er ist nie der offenbarte Gott, das Geheimnis ist um ihn. Er offenbart sich immer von neuem, diesem mehr, jenem weniger, er ist der offenbarende Gott, er offenbart Wahrheit und Weisheit und Erkenntnis und Frömmigkeit. Und hieraus ergibt sich der zweite Unterschied: Paulus und die, die nach ihm kamen, sagen: Das, was Gott offenbart, ist die Erlösung, die Gnade. Das Judentum sagt, Gott offenbart Gebot und Gnade. Kein Gebot ohne die Gnade, keine Gnade ohne das Gebot. Paulus hatte das schon ausgesprochen, und er hatte darum gesagt, die Zeit des Gebotes ist zu Ende gegangen, die Zeit des Gesetzes ist überwunden, die Zeit der Gnade beginnt nun. Gnade und kein Gebot ist das Entscheidende im Christentum. Für das Judentum gibt es keine Gnade ohne die Treue gegen das Gebot, ohne die Erfüllung des Guten. Daraus ergibt sich der dritte Unterschied: Im Judentum entscheidet sich der Mensch für Gott. Man könnte sagen, er wählt Gott. Im Christentum ist es umgekehrt: Gott wählt einige Menschen aus, er erwählt einige Menschen, in der sogenannten Prädestination. Der 482

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Mann, der im Christentum der größte Denker nach Paulus war, Augustinus aus Hippo in Nordafrika sagte: Gott erwählt Einige aus, und die andern sind massa perditionis, die große Menge, die zum Untergang, zur Verderbnis bestimmt ist. Einige wenige auserwählt, und die andern verloren, die andern dem Verderben bestimmt, massa perditionis. Und so, das ist der weitere Unterschied, kann der Mensch an sich nichts tun – so lehrt das Christentum. Das Judentum sagt, der Mensch muß Gott wählen. Der Mensch soll sich für Gott entscheiden. Das Wort, das in der Thora häufig vorkommt, wenn von Verderben und Erlösung gesprochen wurde, das Wort »uwacharta«, du sollst wählen, du sollst dich entscheiden, dich für Gott entscheiden, für das Gute, für das Gebot entscheiden. Im Christentum kann der Mensch an sich zu seiner Befreiung und Erlösung nichts beitragen. Luther, der die Gedanken des Augustin wieder aufnahm, hat in seiner Neigung zur Übertreibung, die er überall hatte, es so ausgedrückt: der Mensch kann auf das Heil nur warten, ob Gott ihn erwählt, warten »sicuti cadaver«, wie Luther sagt, wie ein Toter, »venum paralyticum«, wie ein Gelähmter, selber kann er nichts tun. Und im Judentum ist alles das Tun. Das Wort, das das Volk nach der Offenbarung am Sinai sprach und das ein klassisches Wort dann im Judentum geblieben ist, als das Volk sagte »naasse wenischma«, wir wollen tun, und dann werden wir verstehen, das ist das jüdische Wort. Tun, durch das Tun, durch die Treue gegen das Gebot, durch das Gute, kommt das Heil zum Menschen. Keine Gnade ohne das Gebot. Im Christentum sind Gebot und Gnade zwei verschiedene Welten; Gebot die niedere Welt, die Gnade die höhere Welt. Und so kann man diesen Unterschied auch in zwei Worte fassen: Im Christentum ist das Entscheidende Erlösung, im Judentum ist das Entscheidende Versöhnung. Erlösung ist etwas, was einmalig und endgültig dem Menschen zuteil wird. Er ist von Gott auserwählt, er ist erlöst. Das ist, wie die Kirche das ausdrückte, »character indelebilis«, ein unzerstörbares Gepräge. Im Judentum ist die Versöhnung, die der Mensch immer wieder erringen muß, der Mensch, der fehlbare, irrende Mensch immer von neuem zu Eigen gewinnen muss und zu Eigen gewinnen kann. Keiner ist verloren, keiner ist von Gott verworfen, es gibt keine massa perditionis, keine Menge der Verworfenen, jeder kann Gott nahe sein. Jeder kann sich Versöhnung bereiten. Versöhnung ist ein offenes Tor, ein Tor, das immer offen bleibt, durch das jeder eintreten kann. Erlösung ist ein Tor, das einmal für einen aufgemacht wird und für die vielen verschlos483

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sen bleibt. Wer durch dieses Tor eingelassen worden ist, ist ein Erlöster. Und damit hängt ein anderes zusammen. Ein Erbe der alten Mysterienreligionen ist das sogenannte Sakrament, der heilige Brauch, durch den der Mensch sich mit dem Gott verbindet. Und die katholische Kirche lehrt das Wunder, in dem sich die Menschwerdung Gottes immer von neuem vollzieht, Brot ist Leib und Wein ist Blut Christi. Wirklich und ganz, wie Luther sagte, nicht, wie Zwingli meinte, nur eine Andeutung, nur ein Symbol. Das Sakrament ist das Entscheidende. Durch das Sakrament wird der Mensch ein Geheiligter. Heiligkeit strömt in ihn ein. Dem Sakrament braucht er nur gläubig beizuwohnen. Im Glauben an das Sakrament hat er teil am Sakrament. Wenn der Priester es auch allein geniesst, der Gläubige, der daran glaubt, hat seinen Teil dabei. Im Judentum wird der Mensch geheiligt durch das, was er tut. Wie ein Wort des Talmud sagt: Was du tust, bringt dich zu Gott nahe, und was du tust, kann dich von Gott entfernen. So könnte man epigrammatisch zusammengefasst es sagen: im Christentum ist der P l a t z das Entscheidende und im Judentum der Weg. Im Christentum der Platz. Dort, wo die Erlösten sind, kraft der Erwählung, kraft des Sakramentes, hat der Mensch seinen Platz der Erlösung. Das Judentum lehrt, daß vor jedem Menschen der Weg ist, der Weg von Geschlecht zu Geschlecht. Immer neu soll der Mensch beginnen, kann er beginnen, eines ist jedem Menschen gegeben: die Möglichkeit. Keiner ist verlassen, keiner verworfen, keiner verloren, der Weg liegt vor jedem. Jeder kann ihn gehen. Das sind die Unterschiede. Und nun, das Einende; das Einende ist eines vor allem: unsere Bibel, oder, wie die Kirche sie nennt, der alte Bund, das alte Testament. Das lateinische Wort Testament bedeutet nicht Letzten Willen, wie in unserem Sprachgebrauch, sondern »Bund«, Bündnis, Zeugnis. In der christlichen Bibel ist unsere Bibel. Es ist das eine der großen Leistungen der Kirche in ihrer ersten, schweren Zeit gewesen. Es gab damals viele in der Kirche, vor allem in Kleinasien auch, wo die ersten großen Gemeinden der Kirche entstanden, einen Mann vor allem, Marcion, welche das alte Testament verwarfen. Nichts, was als Zitat aus dem alten Testament im Evangelium steht, sollte in dem Evangelium bleiben. Das Evangelium sollte gereinigt werden. Aber die Kirche blieb dem ersten Ursprunge treu. Das ist eine der großen Leistungen der Kirche. Sie hat das alte Testament vor dem neuen Testament in die Bibel aufgenommen. Und sie hat am alten 484

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Testament trotz allem und allem immer festgehalten. Und damit kam ein Ferment, ein Sauerteig, in die Kirche hinein. Das alte Testament war dieser Gärungsstoff. Man könnte eine Geschichte der Kirche schreiben, ja, das ist eine einzigartige, eine wirkliche Geschichte der Kirche, die geschrieben werden kann unter dem Titel: »Das Judentum in der Kirche«. Immer wieder sind diese Gedanken unserer Bibel, die Forderung der Tat, die Versöhnung, der Weg, in der Kirche lebendig geblieben. Das eint. Das Christentum müßte seine Geschichte verwerfen, wenn es das Judentum verwerfen wollte. Und das Judentum müßte einen Teil, einen wichtigen Teil seiner Geschichte verwerfen, wenn es diese Geschichte des Judentums in der Kirche verleugnen wollte. In der Kirche ist jüdisches, und wenn Juden und Christen in früheren und neuen Tagen den Weg zueinander suchten, sich zu verbinden suchten, war es immer kraft dieses Jüdischen in der Bibel. Die Psalmen sind die Gebete auch der Kirche, und wenn der Segen der Kirche gesprochen wird, ist es derselbe Segen, der in der Synagoge gesprochen wird, der Priestersegen aus dem vierten Buch Moses: »Der Herr segne dich und behüte dich«. Das ist das erste Verbindende. Und das andere ist die Hoffnung; in der Kirche nicht immer offiziell anerkannt, aber doch immer lebendig geworden, lebt die Hoffnung auf die Wiederkehr des Messias, so daß nur das eine Wörtchen w i e d e r den Unterschied bildet. Die Hoffnung auf die kommende Zeit ist in der Kirche auch lebendig. Und dann ein Gebot, das die Kirche auch aufgenommen hat, das Gebot des Wohltuns, das Gebot der Nächstenliebe aus dem dritten Buche Moses, aus dem 19. Kapitel. Nächstenliebe und Wohltun. Darin einen sich Judentum und Christentum. Und dann in der Einheit Gottes. Die Kirche lehrt die Dreieinigkeit, den trinitarischen Glauben, aber sie betont doch immer zugleich die Einheit in der Dreieinigkeit. Mit dem Judentum fühlt die Kirche sich verbunden in dem Gegensatz zum Heidentum. Und endlich und vor allem die großen Männer der Vergangenheit. Sie sind große Männer des Judentums und große Männer des Christentums. Wer die Sixtinische Kapelle betritt, sieht dort die Bilder der Propheten, die Bilder der jüdischen Sibyllinen; das ist die Sixtinische Kapelle am Sitze des Papstes. Jüdische Männer sind dort an der Wand. Solange die Kirche an dem alten Testament, an unserer Bibel festhält, ist das Einigende gegeben. Es werden sich immer Juden und Christen zusammenfinden können im Bewußtsein dessen, was sie unterscheidet und im Bewußt485

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sein dessen, was sie eint. So allein sehen Menschen einander, im Einenden und Trennenden. So allein können Judentum und Christentum sich sehen. Nicht das Trennende übersehen oder verschweigen, aber auch nicht das Einende übersehen und verschweigen. Beides zusammen, um zu begreifen, um zu verstehen. Und nun, der I s l a m . Er hat eine kürzere Geschichte. Der Islam ist nicht von einem Manne, der ein Jude war und, solange er lebte, ein Jude nur sein wollte, gestiftet worden, von einem Manne vielmehr aus einem Volke, das sich als Brudervolk der Juden oft betrachtet hat, aus dem arabischen Volke, das von Ismael, dem Sohne Abrahams, herkommt, wie das jüdische Volk von Isaak, dem Sohne Abrahams. Was ist das Eigene, und was ist die begründende Geschichte im Islam? Christentum nennt sich nach dem Messias. Der Islam nennt sich nach Mohammed, dem Propheten. Mohammed war einer der eigensten und der kühnsten Menschen, die es je gegeben hat, ein Mann von einer Kraft des Glaubens, welche, wie er selber einmal sagt, Berge versetzen kann, einer Kraft des Glaubens an sich und an seine Aufgabe ohnegleichen. Er ist ein Kind des arabischen Volkes, und seine Idee war zunächst im Glauben, wie er ihn lehrte, das ganze arabische Volk zu einen. Bis dahin bestand die Bevölkerung der arabischen Halbinsel aus arabischen Stämmen, die dauernd einander bekriegten und bekämpften. Nur einmal im Jahre an einer Stätte kamen sie zusammen, um sich zu finden, in Mekka, an der Kaaba, einem Meteorstein, der von der Höhe herabgefallen war und in dem man einen Wunderstein sah. In Mekka war Mohammed geboren, und von Mekka zog er fort, weil er dort das Werk der Einigung nicht vollziehen konnte; er schied aus seinem Stamme aus. Das ist die sogenannte Hedschra, mit der die Zeitrechnung der Mohammedaner beginnt, sie bezeichnet die Flucht aus Mekka, sein Ausscheiden aus dem Stamme von Mekka, und nun kämpfte er mit dem Schwerte, um das arabische Volk in seinem Glauben zu einen, in dem Glauben, der in das eine Wort von ihm zusammengefasst wurde: Allah ist Allah, Gott ist Gott, Gott ist der Eine. Er kannte die Juden, kannte die Geschichte des Judentums. Mehr in den Legenden freilich als in den geschichtlichen Tatsachen. Er kannte auch das Christentum. In der Stadt, nach der er von Mekka aus sich begab, in Yatrip, das dann später Medinah, Medinah nâbichu, die Stadt des Propheten, genannt wurde, war eine große jüdische Gemeinde, und auf sie setzte Mohammed sein großes Vertrau486

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en. Dieses Vertrauen wurde nicht erwidert, und so wandte er sich auch gegen die Juden. Er hat gegen sie auch Krieg geführt. Aber in allem war das Gedeihen und der Erfolg bei ihm. Er einte sein Volk in dem Glauben an den einen Gott, in dem Glauben, den sein Volk mit dem Worte erwiderte: und Mohammed ist sein Prophet. Allah ist Allah und Mohammed ist rasuli l’Yahu, der Gesandte Gottes, der Prophet. Das ist mohammedanischer Glaube. Es ist ein einfacher Glaube. Wer dies Wort des Bekenntnisses ausspricht, der wird als Mohammedaner aufgenommen und anerkannt. Nichts anderes wird von ihm verlangt. Und das einte dann die Völker. Nach dem Tode Mohammeds haben seine Nachfolger, die Kalifen, sein Werk fortgesetzt, das Werk, zu einen, und sie einten in demselben Glauben ganz Vorderasien. Eine Welt, eine Welt des Glaubens, zusammengehalten durch den einen Ruf: Allah ist Allah und Mohammed ist sein Prophet, das stand so. Und bis nach Spanien, Nordafrika zu unterwerfen, drang der Glaube vor, ein Weltglaube und eine Weltmacht neben dem Christentum. Was trennt Islam und Judentum? Es ist weniges. Die großen Denker des Mittelalters, Jehuda Halevi, Maimonides, haben es immer ausgesprochen, wie wenig eigentlich trennt. Für die Juden ist Mohammed nicht der letzte und entscheidende der Propheten, er hat sich nie Messias genannt, sondern nur Prophet, aber der Glaube an den einen Gott eint, und der Islam hat auch das Gebot aufgenommen: er fordert Wohltun. Er hat auch eines gebracht, was die Kirche nie so hatte, die wahre Demokratie. Im Islam, wo der Islam gilt, dort gibt es keine Standesunterschiede, dort ist einer wie der andere, einer neben den andern gestellt. Er hat die Sklaverei weiter geduldet, aber diese Sklaven wurden gut behandelt. Dinge, wie sie aus der Geschichte in Afrika und Amerika zu berichten waren, sind im Islam nie etwas gewesen, was zu berichten war. Er hat die Kultur dort, wohin er drang, gehoben. Und auch das eint mit dem Judentum. So ist es begreiflich, daß im Mittelalter Juden und Mohammedaner, einander gebend und voneinander empfangend, nebeneinander friedlich im Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit gelebt haben. Und wie ist es heute? Es ist wenig bekannt, daß der Islam seit mehr als einem halben Jahrhundert die einzige Religion ist, welche große missionarische Kraft entfaltet. Die christliche Mission steht, aufs Ganze gesehen, still. Die mohammedanische Religion hat eine Kraft sondergleichen entfaltet, sie ist nach Indien und China, nach den Inseln südlich von Indien und China, nach dem Gebiete, das heute Indonesien heißt, vorgedrungen, und vor allem, sie hat ganz Afrika er487

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obert. Afrika ist heute zu mehr als drei Vierteln mohammedanisch. Der mohammedanische Erdteil ist Afrika, das erwacht ist, nicht zumindesten vermöge des Islams erwacht ist. Nun tritt vor uns Juden ein Problem hin, das Problem unseres Landes Israel. Wenn man Geschichte betrachten will, darf man nicht nur auf die Landkarte hinblicken. Man muß den Globus betrachten. Wer sie mit dem Globus betrachtet, der sieht diese mohammedanische Welt, fast ganz Afrika, ganz Vorderasien; in Persien sind die sogenannten Schiiten, die durch eine Frage, wer der rechte Nachfolger Mohammeds ist, von den andern geschieden sind, aber Mohammedaner doch; der ganze Nordwesten Indiens, das, was heute Pakistan heißt, und ein grosser Teil von Kaschmir ist mohammedanisch, fast ganz Indonesien mohammedanisch, in China fast 40 Millionen Mohammedaner, im Süden Rußlands Millionen Mohammedaner, und die Religion dringt weiter vorwärts. Sie hat sich mit dem, was ein Kind der großen französischen Revolution war, dem Nationalitätengedanken, verbunden. Und wenn man das so alles auf dem Globus sieht, und nun umringt, umfaßt, umfangen von dieser mohammedanischen Welt das Land Israel: da wird die Frage lebendig: was trennt und was verbindet, ce qui uni et ce qui sépare. Es ist eine Frage, in der das Religiöse in das Geschichtliche hineintritt. Alles hängt davon ab, daß so, wie es einst im Mittelalter zum Segen für beide geworden war, ein Weg vom Islam zum Judentum, von der arabischen zur israelitischen Welt, ein Weg von Israel und seiner Religion zur arabischen Welt und ihrer Religion gefunden werde. Das vermöge dessen, daß der Unterschied erkannt und das Einigende begriffen wird, die beiden einander sehen und begreifen lernen. Die Zukunft ist für uns verhüllt, aber die Zukunft dort hängt davon ab, daß dieser Weg gefunden wird. Wir können nur hoffend beten und betend hoffen, daß dieser Weg gefunden werde. Wir kommen zum Anfang zurück. Menschen und Gemeinschaften, Völker und Religionen sollen einander verstehen. Sie sollen nicht gleich werden, und sie können nicht gleich werden. Sie sollen aber einander verstehen. Verstehen bedeutet zugleich, voreinander Respekt haben, und vor dem andern kann nur der Respekt haben, der vor sich selber Respekt hat. Auf jüdischer Seite hängt viel, vielleicht alles davon ab, daß wir es lernen, in dem Besten, das wir suchen, vor uns selber Respekt zu hegen. Dann werden wir lernen, vor den andern echten Respekt zu haben, vor dem, was im andern groß ist. Im Christentum ist vieles groß. Jahrhundert um Jahrhundert hat es Menschen getröstet, erhoben, hat es Wohltun und Hingebung gepflegt, hat Hoffnung in ihnen aufrecht erhalten. 488

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Im Islam ist vieles gross. Völker, die in der Barbarei und in Niedrigkeit lebten, hat er in eine höhere Sphäre erhoben, hat ihnen ein neues Leben geschenkt. Wir Juden sollten das begreifen. Wir sollten Respekt hegen, und wir werden dann die Hoffnung hegen, daß dadurch, daß wir vor uns Respekt haben, die andern es lernen, vor uns Respekt zu hegen und zu sehen, wie wir sind. Dann werden gute Tage kommen. Menschen und Völker und Bekenntnisse werden geschieden bleiben, werden in ihrer Besonderheit weiter leben, aber sie werden wissen, daß sie zusammen gehören, Teile der einen Menschheit sind, zusammenleben sollen auf dieser unserer Erde, einander sehend und einander verstehend, und, wenn es Not tut, einander helfend.

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Changes in Jewish Outlook*

Diese 1947 im Druck erschienene Rede hielt Baeck am 15. Dezember 1946 vor Mitgliedern der Jewish Historical Society of England. Wie man an der Einleitung und am Nachwort leicht erkennt, sprach Baeck zu einem Publikum, das ihn ehrte und achtete. Dr. Salamans Vorwort beklagt den Verfall der jüdischen Wissenschaft in England, die Zerstörung des europäischen Judentums und gibt der Freude Ausdruck, den überlebenden Autor von »Das Wesen des Judentums« begrüßen zu können. In seiner Rede durchschreitet Baeck die Epochen der jüdischen Geschichte der letzten zweitausend Jahre. Er wiederholt vieles, das uns aus seinen früheren deutschen Schriften bekannt ist und das später in seinen deutschen Vorlesungen in London (»Epochen der jüdischen Geschichte«) wiederholt wird. Israel, in seiner Jugend und Weiterentwicklung, wird hier durch die Epochen begleitet, und es ist spannend zu beobachten, wie Baeck die biblischen Rechabiten bei Whitman, Rousseau und Tolstoi wieder auferstehen läßt. Ein großes Panorama der jüdischen Geschichte wird hier entwickelt. Das Schlußwort des Präsidenten der Jewish Historical Society of England zeigt die gebührende Anerkennung für den Lehrer, der aus der Hölle des KZs kam und wieder Gottes Zeuge wurde. *

Publiziert als: Changes in Jewish Outlook. Arthur Davis Memorial Lectures, Frederick Muller Ltd, London 1947. Dem Text ist folgende Notiz vorangestellt: The Arthur Davis Memorial Lecture was founded in 1917, under the auspices of the Jewish Historical Society of England, by his collaborators in the translation of »The Service of the Synagogue«, with the object of fostering Hebraic thought and learning in honour of an unworldly scholar. The Lecture is given annually, as far as practicable in the anniversary week of his death, and the lectureship is open to men and women of any race or creed, who are to have absolute liberty in the treatment of their subject. The present lecture, the fifteenth of the series, was delivered on December 15th, 1946, with Dr. R. N. Salaman, F.R.S., in the chair.

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Foreword by Dr. R. N. Salaman, F.R.S. We meet today, not only to greet an honoured guest, but to inaugurate a new, a second series of the Arthur Davis Memorial Lectures. As in the past, so today, the Trustees have reached a happy and welcome agreement with the Jewish Historical Society, whereby the latter has the advantage of welcoming our distinguished lecturers as their own, and we, that of meeting under the shelter of the Society’s prestige. And may I say a word here on this matter? In my younger days, the Jewish Community could boast of a number of societies devoted to the intellectual side of its life, foremost of which, of course, was the Jewish Historical Society. Today, the Jewish Historical Society stands alone. And, incredible as it may seem, there are, even among the leaders of Anglo-Jewry, those who either fail to support it, or who are so divorced from the Jewish spirit of respect for learning, that they treat it as if it were some importunate charity, and try to assuage its appeals with an offer of a moiety of the prescribed subscription. I am an old man now and I may have no further opportunity of expressing what is so deeply imbedded in my heart, that even at the risk of taxing your patience, I must tell you that I sincerely believe that Anglo-Jewry cannot survive indefinitely on its philanthropic achievements alone, though Heaven knows that they were never in so much demand as today. Unless we also tend the gifts of the spirit, the treasures and the trophies of the mind, we as a community will die of inanition. Surely »Without vision, the people perish.« Today we meet to hear the fifteenth lecture of the series of Arthur Davis Memorial Lectures which were founded to perpetuate the memory of that modest scholar and true gentleman, Arthur Davis. Our lecturers have been drawn from the highest ranks of scholarship, both Jewish and Gentile. Among them, Sir Flinders Petrie, Israel Abrahams, Leonard Woolley, Travers Herford, Samuel Alexander, Claude Montefiore, Israel Zangwill, and Herbert Loewe. The post of Chairman has been filled by distinguished statesmen and scholars such as Viscount Haldane, Lloyd George, Philip Sassoon, Prof. F. C. Burkitt, Lord Samuel, Quiller-Couch, Dr. M. Gaster, and Dr. Hertz. If now it has fallen to me to fill this post, it is only because of the fact that I am the last survivor of the original founders, and a son-in-law of the man whose memory we delight to honour. In regular succession the lectures followed on each other from 1918 to 1931, when they came to an end. It is easier to account for 494

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the hiatus which is now to be closed, than for the actual stoppage of the series. The Arthur Davis Lectures invariably made a heavy demand on their authors. Scholarship and a genuinely Jewish interest were essential, but in addition it was necessary to ensure a presentation which, by its charm and simplicity, would appeal to Anglo-Jewish audiences often more critical than learned. We did not always succeed, but that was our endeavour then, as it will continue to be in the future. When the list of subjects dealt with by our lecturers is reviewed, it will not escape notice that the majority of our fourteen lecturers dealt with the more or less distant past: »What the World Owes to the Pharisees«; »The Status of the Jews in Egypt«; »Rachel Morpurgo«; »Mediaeval Hebrew Poetry«. As a link between past, present and future, we may recall S. Alexander’s »Spinoza and Time«. The nearest points at which our lecturers directly approached the present was when Guedalla spoke to us of the legendary Zionistic tendencies of Napoleon, and Norman Bentwich of the life and teaching of that great Jewish scholar, Solomon Schechter. Thus the past was faithfully dealt with; nor did the future altogether escape attention, as witness Edwyn Bevan’s »The Hope of a World to Come«. It was the present which our lecturers so studiously avoided. It seemed as if it were too clouded, and our faith in ourselves too low, to inspire even the elect, whether of the Jewish or the Gentile world, to dilate on its features. One exception there was, and that was the first lecture of the series, when Israel Zangwill explained what in the modern world the Jews themselves meant by the term »Chosen Peoples«. With that touch of prophetic spirit which never deserted him, he urged how essential it was to combat the false interpretation which this term had acquired among the Christian nations. Fifteen fateful years have passed, and the Jewry which our Arthur Davis Lecturer addresses today is a very different one from that to which his predecessors spoke. But to return to the business of this afternoon’s gathering. The Arthur Davis Memorial Lectures came to an end in 1931, at the time when waves of doubt and disillusionment were sweeping across the civilised world. The spiritual atmosphere in which the nations lived was befogged by fear, doped by hopeful thinking and tense with compromise; its emotional counterpart was no less threatening. Already that harbinger of evil, antisemitism, was abroad; an unfailing sign that the Christian world had once more lost its bearings. It has been said that the true value of a civilisation may be gauged by the treat495

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ment of its women folk. It would be even truer to use its treatment of the Jews as a criterion of its development. As Baeck has written: »From Israel’s lot men may judge how far they have yet to go until the days of the Messiah.« Inspired by a degenerate paronaic, a storm of outrage, robbery and murder broke over Germany and spread throughout Europe with irresistible strength. This, the most terrible episode, not only in Jewish, but in all human history, has yet to find its historian. No enviable task will it be even to attempt the assessment of the loss and suffering incurred by the Jewries of the Old World, and the still greater loss which that destruction must inevitably exert on future world civilisation. It will tell of myriads of humble heroes who, left helpless by the flight of nearly all their religious and social leaders, went through seven years of agony unavailingly to their deaths. A ghastly picture which it would be too painful even to think of, were it not relieved, nay illuminated and transfigured, by the deeds of those few stalwarts, who remained with their people to lead, to guide and to succour them in their passage through Hitler’s inferno. Of this handful of men, the leader, the inspirer and the devoted servant, was Leo Baeck, our guest and lecturer today. But Baeck was a famous figure in World Jewry long before the curse of Hitler fell. As a teacher, his association as Lecturer in Midrash and Homiletics in the Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, besides his many contributions to Jewish Science, bear witness. As an interpreter of Judaism he has created a monument, known throughout Jewry and indeed far beyond. I speak of course of Baeck’s Essence of Judaism, published in 1905 and revised and translated into English in 1936. My copy of his work belonged to that learned if perverse missionary, Lukyn Williams, and its margins are filled with scholarly notes. It would be an impertinence on my part to attempt to interpret its message, but one thing I may be permitted to state. Baeck’s masterpiece is pregnant with an idea that runs like a thread through all. It is that Judaism is essentially progressive, in contrast to other world faiths. While the most important development of other great religions ends at their beginning, in Israel the Master is followed by a train of Masters – progress, orderly development, are of the very essence of its life, material and spiritual. As the recognised religious leader of Jewry, first at Düsseldorf and then in Berlin, and ultimately of all Germany, for the Nazis recognised him and treated him as President of the Reichsvereinigung der Juden, it was natural that to him and his small but devoted band of followers, among whom I am proud to remember my cousin, Wilfred Israel, the eyes of all Jewry were turned. The people of this country, 496

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no less than the remnant in Germany, looked to Baeck for guidance in relief and for strength in suffering. Nor were they disappointed. For years these few, under Baeck’s leadership, kept the Nazis at bay; in vain did they try to penetrate the shield of their leader’s transcendant honesty and courage. It would seem as if Baeck’s heroism had found its inspiration in the saying of Hillel: »If I am here, then everyone is here.« When at last, at the end of January 1943, Baeck was imprisoned in Terezin, the Nazis were still powerless to subdue him, though in that camp he lost nearly all his nearest relatives, including some who were deported thence to the death camps. Without a doubt Baeck inspired a certain feeling of awe among his Nazi warders. Writing at the time of his liberation, Baeck had said »Although I never bent, sometimes even taking risks and being threatened with arrest, those in power, strangely enough, always treated me with a certain respect and even acquiesced in my refusing to yield to their demands«. Was it, after all, so strange? We, at least, can understand their grudging homage. It is to such a Master that I invite your most attentive listening. I call on Dr. Leo Baeck for his lecture – Changes in Jewish Outlook.

Changes in Jewish Outlook Every nation, even if it is surrounded by deserts or lives on an island, knows about other nations and, willingly or unwillingly, its gaze is ever again drawn towards them. A people’s history, internal as well as external, is influenced by the direction of its gaze and the extent of its vision. And a people too has its individual eyes, a strong or weak sight, and the particular direction of its gaze. Some examples from ancient, from medieval and from modern history may elucidate this. The struggle between Octavianus and Antony was not only a conflict between two rivals fighting for supremacy, but two powerful trends in Rome’s spirit and Rome’s policy here came to a decisive clash, the one pointing to the West and the other primarily to the East. And if, more than four hundred years later, after the death of Theodosius, the great Roman Empire was split into a West-Roman and an East-Roman Empire, that was not merely an Estate-Settlement, but rather the judiciously peaceful settlement of separation between those two trends that had been conflicting with one another for five centuries, since the days of Marius and Sulla, of Pompey, Crassus and Caesar. Another example: the history of the Empire which, in the Middle Ages, meant to be, as »the 497

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Holy Roman Empire«, the successor of the ancient »Imperium Romanum«, is characterised in its periods and changes, in that some of its Emperors directed their gaze southward towards Italy, and others eastward, to the – as yet unshaped – world of the Slav peoples. And lastly an example from more recent history: Peter the Great of Russia brought about a change in the life and the being of his people, by striving forcibly to divert its gaze, which, up to that time, had been riveted within the confines of its country or directed only to its closest neighbours, towards the West. Since then the history of Russia has been determined by the fact that at times it looked or was to look towards the West and at other times towards the East. The question so frequently confronting us to-day, is where this giant, now grown to full stature in the course of two centuries, will look in future, towards the West or towards the East. Those are examples that support the fact, which in many changing forms we encounter everywhere, that periods of external and internal history find their expression according to where a people wishes to direct its gaze and how far it is able to see. This observation, so frequently corroborated, may be a guide also through the centuries of Jewish history. In which direction then did the People of Israel gaze first? It must be borne in mind that actually it was and remained its individual peculiarity that, so to speak, on principle it gazed, or at least was to gaze, all around. That was a historical principle, based on its religion. Religion here demanded a theocentric point of view; that is to say, man was to learn always to see and to judge from the divine point of view. And to see from the divine point of view, that means: to gaze upon the whole world. That is why in the Bible the words »all nations« are a frequent, a constant phrase which has no parallel in ancient literature. This phrase indeed represents a principle. To what extent the demand that it embodied was put into effect outwardly depended on how far at any time the historical horizon reached. We possess a testimony showing that in very ancient times already it had a comparatively great extension. That testimony is the tenth chapter of the Book of Genesis, which probably is of a very early date, the socalled table of nations. There the nations of whom an Israelite of that time could and should know are listed. They are all the nations of the Near East up to the frontiers of India, those of North Eastern Africa, and those of the island world in the Eastern Mediterranean – indeed a wide horizon. It is within that orbit that the People of Israel in its youth looked 498

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around, least, indeed, at that time towards the West, towards the world of the Greeks, though the name of the Ionians and those of some of their colonies appear in the table of nations. On the other hand there were two regions which ever and again drew Israel’s gaze towards itself: the lowlands of the Nile and those between the Euphrates and the Tigris, that is to say the Egyptian and the Babylonian spheres of culture, the one the native land of geometrical, the other that of arithmetical genius. It was not only that recollections attracted contemplation because the Father of the People, Abraham, had come from one of these two countries, and in the other the People had experienced a period of serfdom. There was also a power of attraction operating here, the attraction of culture; these two countries, the wonderlands of early antiquity, for centuries engaged the mind and the fancy also of the People of Israel, so strongly indeed that the prophets felt a danger was involved that the people might be diverted from the principle of regarding everything from the divine point of view. It was their culture which enticed, and thereby induced the struggle which stirred men’s minds to decide what was foremost to be sought and striven for. Was it culture with its splendour and its art, its edifices and images, or the human being with his human task and his human right, with the justice and the love that he should carry into reality? It was the struggle to decide where one’s gaze should be directed, towards Egypt and Babylon, or towards Mount Sinai. This spiritual division went so deep, that a group within the People, though a small one, closely allied to the prophets, the Rechabites – from whom the road leads to John the Baptist – was prepared to reject all culture and to prefer a hard life in the desert, in the tents. In that group already came to the surface thoughts and feelings which, in the eighteenth century, Rousseau, and in the nineteenth, Walt Whitman and Tolstoy, expressed – that in all the progress of civilisation and the splendour of culture man loses what is best in him, his humanity; that culture spoils man and wears him out. It was a struggle for the goal towards which to turn one’s gaze. In the end the prophets were victorious and thus the Jewish spirit, and thereby the Jewish people, have been preserved. But for a long period of time the Jew had often looked toward Egypt and Babylon. Yet the life of these empires and their strong influence came to an end. They were conquered and became mere provinces of a new empire, of the Persian Empire, provinces with a provincial mind. The Jewish spirit now found itself within another orbit. Setting aside China, the Persian Empire is the first world empire of which history speaks – a world empire in its huge expanse, from the ranges of Hi499

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malaya to the desert of Sahara, from the Black Sea to the Indian Ocean, and a world empire above all in that it created a centralised administration as well as the means of communication to govern this large territory. In that world empire the Palestinian Community of the Jews had its place, and quite a particular place. Palestine had, if the comparison may be made, dominion status – the dominion status previous to the Statute of Westminster. It was a State and yet not a State, having no army and no foreign policy, but a government and a senate of its own; it was dependent abroad and independent at home. Above all, the Jewish people was now fully independent mentally and religiously; it was the work of the prophets over centuries that had made them so. Wherever they turned their gaze, it was the gaze of a self-assured personality, they looked out from a firm spiritual background. But now the eye had its given orbit. In a world empire the glance is, as it were, absorbed within the empire itself; even within that it has its wide range, and though gazing out towards the remote distance, it always rests on this empire. What is within is so vast that there is almost nothing without; what is outside is scarcely experienced, it is so far away. In a world empire therefore there is room for isolationism. Thus the two centuries during which the Jewish people and its state formed a part of the Persian world-empire were a period in which the Jewish mind was able to withdraw into itself. There was indeed a new spiritual power which was bound to attract attention: the religion of the dominating people in this world-empire, the momentous religion of Zoroaster. Some of its features secured the regard of the Jewish people. This Persian religion for a period influenced modes of thought among them which later survived especially in Christianity. But on the whole that period was, so to speak, one of a splendid isolation. There was doubtlessly something good in that; it brought a relaxation after the continuous mental tension which the inward struggle with Egypt and Babylon had demanded, and it was at the same time a period in which it gathered new strength; but perhaps this isolation also involved a certain constriction. Yet, the Jewish spirit and the Jewish people were soon again rudely awakened from this state of quietude. For the Persian world-empire had an existence only of about two hundred years. It was vanquished in a rapid and sweeping conquest by Alexander the Great who joined it to the Grecian countries, and in speedy and persistent conquest Hellenism also soon acquired spiritual possession. There is only one other example of such an external and internal conquest: the complete defeat and permeation of the same territories by the 500

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powers of Islam a thousand years later. Though, in the subsequent wars between the generals of Alexander the Great, this second world empire was split up into three great kingdoms – the Perso-Syrian, the Egyptian and the Macedonian – yet it remained spiritually one realm: the realm of the Greek language, of Hellenistic culture. It was within that influence that the Jewish people and the Jewish spirit were now placed, and this came to be a turning point in their history; it was the beginning of a new and quite a different chapter of their history. The people’s gaze, hitherto fixed on itself and on the East, was, in this turn of the times now rapidly, almost suddenly, directed towards the West. This stands out impressively even in an outward feature: it is now that the great Jewish colonisation movement starts, the settlement spreading over the West. It is frequently forgotten that at that time the Jewish people became one of the great colonising nations. What is generally called the birth of the Diaspora, was in reality a mighty movement of colonisation. The Jewish communities which at that time were founded all around the Mediterranean and also the Black Sea, and subsequently up and down the rivers, are in truth colonies of the mother country, sprung up and developed just like those of the Phoenicians and the Greeks in ancient times and those of the English, the Scots and the Dutch in later days. Those Jewish colonies were denominated by the same word kataokffla, with which the Greeks had termed their own settlements. Now the Jewish gaze was turned westward and now begins the Jewish history of the West, the history of the colonies both contemporary with and subsequent to the history of the mother-country. But it was not only a colonisation in space, not only a spreading of settlements that happened here; at the same time and linked with it there begins now a spiritual colonisation, and herein the changed direction of the outlook finds an even more powerful expression. Jewish thought, too, sallies out towards the West, carried abroad by means of the Greek language. Within the first hundred years following the turn of the times, i. e. the third century B.C., the Greek language became a language, in some districts the language, of the Jews. In that same century the translation of the Bible into Greek – which is the first translation of any complete book – was started and continued. It has been justly said that that translation was the first Jewish missionary sent out into the world. And soon Jewish thought began to be expressed also directly in the Greek language and in the forms of Greek literature. Colonisation also in the realm of the spirit of religion begins and constantly spreads further. That was possible only because a certain relationship was often 501

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felt to exist. Egyptian and Babylonian culture had roused contemplation and had indeed sometimes exercised an appeal, yet very soon they had been decisively rejected and soon one regarded them with contempt. The attitude was different towards this Grecian world that now came into the sphere of vision and made the eye turn towards it. It was regarded, so to say, with a good conscience; and, as is also important if one is to understand the Jewish attitude, that feeling of relationship was frequently a mutual one. The Jews, who then also for the first time came into the Greek sphere of vision, roused their vivid interest. It is indeed an attractive chapter of history that speaks of the first acquaintance of the Greeks with the Jews. Late, only about the year 300 B.C., did the Greeks come to know the Jews, extraordinarily late, it might seem; yet, it must be remembered that the Greeks had not come to know even of the Romans more than a few decades earlier, when the Romans seized the Greek colony of Capua. So little did nations in those times know of one another, unless the chance of war brought them face to face. It was only the conquests of Alexander that caused the Greeks to hear of the Jews. Disciples of Aristotle conveyed the first knowledge to them. The disciple and friend of Aristotle who succeeded him in conducting his, the Peripatetic, school, Theophrastus, refers with admiration to the Jews’ worship of a spiritual God and he, epigrammatically, calls them yilsoyoi t gffno@, »a philosophical race«. Then another, a younger disciple of Aristotle, Clearchus, says the same with a remarkable comparison. He as well as – and perhaps referring to – his contemporary, the historian Megasthenes, who, at the beginning of the third century, had been the ambassador of King Seleucus Nicator of Syria to the court of the Maharajah Chandragupta and had written a book about India, both compare the Jews with the Brahmins, saying that the Jews were in the great Syrian Empire what the Brahmins were in India, and, so Megasthenes adds, outside Greece philosophy existed only among two peoples: the Brahmins and the Jews. Thus it remained during the following centuries. But one more example may be quoted, from a time about four hundred years later, because it lends the most powerful expression to what those men had said. The stoic Numenius calls Plato, the master of masters, a Moses, speaking Athenian Greek: Mwus»@ ⁄ttikfflzwn. Indeed on both sides a relationship was felt in those times; what appealed to the Jews in the Greeks, the spiritual, appealed to the Greeks in the Jews. Thus, the Jewish spirit had been able to turn its vision, that had so long been directed eastward, to the West. The spirit and the will were all the more capable of doing so, as, thanks to the victory of the pro502

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phetic ideas and to the period of isolation, they had become aware and assured of themselves, had gained their inward strength and certainty. They knew where they might gaze and what they might accept, and they knew where they should turn away and what they should reject. In that they often showed an infallible instinct. Once it seemed as if this direction of their gaze was to be checked and diverted, when Antiochus Epiphanes, the King of Syria, and his helpers attempted to compel the Jews to accept that which, for the sake of their spirit and their religion, they were bound to reject. In a heroic struggle that led to victory, the right of the Jew to be himself, his right of identity was established, just as so often in later times this right was maintained in a heroic struggle of suffering. But how little at the time, despite that serious conflict, the outlook was changed, appears even from this one fact: of the two books which after the victory told of that fight, the two books of the Maccabees, the one was written in Greek and the other was soon translated into Greek – which translation only has come down to us. The gaze remained directed towards the West, during the Hellenistic period as well as later, when Rome had taken over the heritage of Hellenism. On the other side, too, there occurred incidents and interludes. Greek and Roman wit sometimes found or even sought occasion to sharpen itself on some odd outward Jewish appearance; Roman sense of power and pride, to which all bowed except the Jews, sometimes gave vent to its disapproval – one need only refer to Tacitus. Offended culture-vanity in Egypt aired its anger in the streets. But all the more significantly does the attitude of respect that the Jews met even in the political sphere stand out. It may suffice to point to the almost exceptional position which was accorded to them by minds as self-assured, statesmen as certain of their purpose as Caesar and Augustus. But that epoch, too, ended. It was a fruitful epoch which had persisted for almost five centuries. It is toward the middle of the second century that the change comes about. The trend of Jewish mind and volition begins to turn away from the West, first in the mother-country and then in the colonies. The Greek language now becomes an alien tongue in Palestine; Greek science recedes into the distance and, above all, the work of spiritual, of religious colonisation, almost suddenly ceases. It was a historical event that had this profound effect. The mother-country and a part of the colonies had risen against the Roman pressure in a second struggle for liberation, the so-called rebellion of Bar-Kochba, after the first war of liberation, two generations before, had collapsed. A part of Rome’s countermeasures in the 503

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colonial area had consisted in measures organised against the Jews there. Then, the rebellion having ultimately been suppressed by force of arms, bloody vengeance had been wrought, and continued for years in severe coercive laws, the so-called Edicts of Hadrian. The spiritual effect was a deep-reaching one. It was like a heavy awakening from a dream. What had stood before their gaze in the past years seemed now to the Jews to have been but a fallaciously dazzling surface, from beneath which, so they felt, its true nature now began to reveal itself. Now they believed they saw the reality. The consequence was a turning away from and a solemn rejection of the world towards which they had so long looked. They wanted to turn back after having gone astray. Thus again, and more decidedly than ever before, a different period began, again a period of spiritual separation and isolation. Towards the East alone the gaze is now directed. Towards the East – for there was the only great Power that had so far halted the forcefully advancing might of Rome, the Parthian Empire, which itself, at that time, inwardly turned away more and more from the West. Perhaps from there the victory over Rome might come! And towards the East moreover led the old bridge, that was now widened and reinforced, for there, in that Empire, was the oldest and proudest Jewish colony. It had had its origin in the fact that, in 586 B.C. the Jews had been driven in exile to Babylon. Thus it had been a settlement of forced exiles, but, when Cyrus, in 537, had conquered Babylon, it had become a free colony. From there, then, in the 6th and 5th centuries, the mother land had been resettled and rebuilt, from that colony Ezra and Nehemiah had come; under the colony’s protection the mother-country had again acquired its independence; the mothercountry had become as it were a daughter of the colony. This old colony had, in the course of time, acquired considerable rights of political autonomy; it, so to say, held equal rank with the mother land. Now that the Jewish gaze turned away from the West, this early Babylonian settlement naturally gained more and more importance. Besides, starting in the fourth century, Jewish life in Palestine became more and more curtailed under the powerful pressure of the Church, now backed by the might of the State, of Rome. And ultimately, in order not to succumb under the pressure, it had to give way to it. Thus the centre of gravity more and more shifted to the old colony, to Babylon. Palestine by and by ceased to exercise its functions; the supreme Jewish Court of Justice, the supreme authority also for the colonies, had to cease operating; the high schools, the leading authority for the colonies too, had to close their doors. Pales504

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tine could no longer be what it so long had been for the colonies; the colonies everywhere were now like colonies without a mothercountry. So now the proud old colony, which moreover was outside the reach of Rome’s power, took up the mantle that seemed to have fallen to the ground; it assumed the task and, for more than five centuries, replaced the mother land for the other colonies. The judges in Babylon and the teachers at the Babylon high schools took over and held the place that the judges and the teachers in Palestine had occupied. It is more than a mere literary fact. It is like a symbol that now a Babylonian Talmud was placed by the side of the Palestinian one, which had been completed in the fifth century. In the course of the following centuries the Palestinian Talmud was almost forgotten, the Babylonian Talmud became the Talmud. A new epoch began in the western colonies too. Passing away from the Grecian and the Roman-Christian world the vision was directed eastward. Thus the gaze into that far distance was connected with the separation and isolation for which the Jewish genius had decided. Thus the breadth of horizon remained and enlarged. Bari in Italy, Toledo in Spain, Worms in Germany, Troyes in the Champagne – they were all spiritually linked with the schools in Babylon. In remote Jewish communities a sabbath prayer was offered for the constituted authorities in Babylon. It had been something like a historic presentiment, something of an instinct, when the Jewish spirit thus turned its gaze eastward. For the Grecian spirit, Greek philosophy too, then wended its way to the East. Its last home, the philosophical school at Athens, was, in 529, closed by the church-minded emperor Justinian – it had been in existence for more than nine hundred years. Its teachers wandered east, and the Greek scientific books especially found their way there – to that country which was now the spiritual centre of the Jews. These books awoke to a new life, when there, in the seventh century, a new world-culture shaped itself in a new world-empire. Islam had conquered the Parthian Empire and the Asiatic and African territories of the Roman Empire and had pressed on as far as Spain. A new great empire had been created, extending from India to the Atlantic Ocean. And though the unity of this empire also fell to pieces, as once had that of the empire of Alexander the Great, yet here too one empire, a world-empire, persisted, because here too a culture was created, that by taking over the heritage of Greek science created a distinctive culture of its own. The Arabic language now came to be what the Greek language had previously been; it became a world language, and it became a language of science and philosophy. Again 505

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it was like a sign of a new epoch that the Bible was translated into the Arabic tongue. A peculiar destiny seemed to be at work. This new culture had its first and proper place in the very country, the Babylonian, in which the Jewish schools, by which at the time Jewish spiritual life was far and wide decisively influenced, flourished; it was from there that Greek science and philosophy started on their new life in the Arabic language, and it was there, and spreading from there, that they came anew into the possession also of the Jews. The goal to which the gaze of the Mahometan world and that of the Jewish world were directed was the same. Arabic was the language in which the one as well as the other wrote their works of science and philosophy, and very soon there grew to be a mutual understanding; they stood side by side in mutual respect. The Hellenistic epoch here repeated itself. Though the gaze of the Jews had first been turned towards the West and was now turned towards the East, the attraction, then and now, was in its essence the same. The content of the culture to which the Jews now opened their minds was the same as of yore; the spiritual links were the same. There may have been only this difference, that in the meanwhile the self-certainty with which the Jewish spirit faced anything new had gained in strength and vitality. This epoch in Jewish history is generally called the Spanish and rightly so, because it was on the soil of Spain that the new culture bore its finest fruit. But this epoch had a yet wider orbit; it was one of Jewish life within a great cultural territory. Almost everywhere the Jewish spiritual outlook held the same direction. It was a new and yet an old epoch, one of the most vigorous in Jewish history. This period came to its end with the fifteenth century. It ended, not because the universal Arabian Empire, by the loss of its bastions in Sicily and subsequently in Spain, was deprived of two pillars of its political importance, but because its cultural vigour withered. The spirit of an Ibn Sina, a Gazzaleh, an Ibn Roshd, these men whose names we encounter again and again in Jewish works of the time, no longer had a progeny. The breadth of vision that had given this culture its strength succumbed to the narrowness and meanness which it had often before had to combat. Fanaticism and petty arrogance held the path against the Jews, often more hardly than in Christian countries. Little was now left that stood out, little that could appeal. The Jews too lost their foothold in Spain, but even earlier – and this is here the decisive factor – they had lost that great world of culture in which they had previously been able to share. 506

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Once more an epoch had come to an end; again there began a period of separation and isolation, a period in which the Jewish genius withdrew within itself. In the great Christian world this had already happened much earlier. There, some advances had indeed been made, in the times of Charlemagne and his successor, when threads were spun from that world and towards it; but they were soon forcibly torn asunder. And during the Middle Ages, the Jewish spirit found so little there, to which it might have looked, and so much, from which it had to turn away. It is an interesting phenomenon: Jewish philosophy of the Middle Ages exercised a strong influence on the Philosophy of the Church, on Scholasticism, from Albertus Magnus to Duns Scotus and Meister Eckhart; but no influence could be received from outside. There was no common cultural domain, no common outlook. Thus within the world of the Church the Jewish isolation began early, and it was inwardly consolidated when the same development started within the Mahometan world. This isolation was interrupted only by the Renaissance which – and this is a momentous historical fact – maintained a certain continuity in England and Holland and, in a measure, in Italy and France, but represented a short episode only in those countries Germany and Poland, where the great mass of the Jews lived. Broadly viewed, the long period until the eighteenth century was an epoch of separation; the Jews could mean something only by themselves to themselves within themselves. It was an isolation; but again one must not forget that it embraced a wide realm. Spain and Portugal, and England and France earlier, were indeed lost, but in Eastern Europe large new territories had been added. In the 12th century a new great movement of Jewish colonisation had started; setting out from Germany Jews had settled in all the countries between the Elbe and the Dwina, between the Danube and the Dnieper. And all these territories, old and new, from the Atlantic to Persia, were connected in the spiritual sphere. What was thought and written in the one penetrated, often with astonishing rapidity, to the other. That alone sufficed, once again, to bring movement and stir into the spiritual life. And already also quite a new world loomed on the horizon; Jewish colonists had gone forth to South and North America. It was an isolation, yet an ample isolation. There, in this Jewish world, four continents then met. It was a period in which spiritual powers gathered and then rose to pour out in a vigorous stream into a new era. That new era came, and it is that in which we live. This new era – and that too is a momentous historical fact, that explains many phenomena – struck out 507

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its path on this island, which likewise is a domain of isolation and yet of breadth, more than a century earlier than on the Continent. But ultimately it penetrated everywhere. Once more could the Jews have their share in a great world of culture, could again gaze out upon a world; again a new great task was thereby set before them. Their outlook was mainly directed to the West, and yet, soon after, as by a miracle, at the same time to the East; again the motherland was colonised by its colonies. Again West and East met in our history. These are our times, and history cannot yet pass judgment regarding them. But one thing may yet be said in conclusion. In our history, as has become apparent, there are ever again the same forces at work, though in changing forms; and these forces are ever again, though in changing forms, influenced by the world around us. There is a law of gravity and attraction also in history. Jewish history, therefore, can be grasped only in its connection with forces active in the world; it can be understood only in connection with world history. But in all this mutual interplay of forces, in this polarity of isolation and vision, in which this People in the course of time has never lost itself nor lost its horizon, there seems indeed to speak some higher power, a power that led and guided and, of this we thus feel assured, will lead and will guide. And so these sober expositions, which are intended to point to a way of history, may be concluded with a word of poetry which, according to Aristotle, »is more philosophical yet and more incisive than historical research« – with a word from the song which »Moses and the children of Israel sang unto the Lord«: »Thou in thy mercy hast led forth the people which thou hast redeemed.« Despite trials and tribulations, torment and torture, it is this that this history recounts more than does any other history. It is nevertheless the last and everlasting word of each epoch. This despite all the tragedy, in the changing course of time and outlook, is the eternal poetry of our history. Mr. Albert M. Hyamson, President of the Jewish Historical Society of England, in proposing a vote of thanks to the Lecturer and Chairman, said: It is customary on these occasions to say a few words regarding Arthur Davis, our benefactor, who has been well and truthfully described as a »gentle scholarly engineer, who devoted his leisure to the study of Hebrew, and wrote a learned work on the Hebrew Accents«. Arthur Davis was born in Derby just a hundred years ago and brought up there. There was then no Jewish community in that town and no opportunities for Hebrew or Jewish studies. The boy had not even an inherited interest in these subjects. But he developed such 508

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an interest himself until it became a passion for him. In this sphere he was entirely self-taught. Yet he rose to the level of an accepted Hebrew scholar. His studies in Hebrew were however merely a side issue, a hobby as it were, for his working profession was that of engineer and that was necessarily over many years his main interest in life. Arthur Davis’ memorial is his edition, with an English translation, of the Machzor, the idea for which he conceived. He edited and produced it in co-operation with Herbert Adler and he was assisted in many of the poetic translations by his two talented daughters. This work provided our endowment, for Arthur Davis always declined to accept his share of the royalties and they now supply the income of the Arthur Davis Memorial Trust – the fostering of Hebraic Thought and Learning in honour of an unworldly scholar. I now turn to my immediate theme – Dr. Leo Baeck. Dr. Baeck is an honoured guest whom not only our Society, but also Anglo-Jewry and the wider public who have the good fortune to know of him, are happy to have among us. He has been previously welcomed on other platforms in this country and we today are happy to welcome him again. In Jewish history he will stand out as one of the heroes of the concentration camps, one who put his duty and devotion to his own people and his community before his own welfare and safety, who himself passed through the fire and who, we are happy to note, passed through it relatively unscathed. Formerly a rabbi and teacher in Berlin, he is now far more than that – a leader in German Jewry and an inspiration to the Jews of the World. We have had from him today a brilliant and thought-provoking address. He has combined in it the inspiration both of Jewish history and of Jewish culture, which are in reality one. We thank him for it. I now turn to our Chairman today, who is also the Chairman of the Arthur Davis Trustees. He is one of our oldest members – oldest in both senses – whom we have with us far too infrequently nowadays. He was President of the Jewish Historical Society a quarter of a century ago and a member of the Council I don’t know how long before that. With one exception he is our senior Vice-president. More a scientist than a historian, Dr. Salaman took the opportunity when President to connect our special work with his. How well he did it is recorded in our Transactions and is fixed in the memory of many of us. We thank him for the undoubted inconvenience to which he has put himself by coming to London and presiding so ably this afternoon. 509

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Die Sendung des Judentums in die Welt

Professor Norman Bentwich seconded the vote. I deem it a great privilege, he said, to second the vote of thanks to Rabbi Baeck, not only for the lecture which he has given us this afternoon, but for all he has done and all that he has meant for Judaism from the time the Hitler persecution began. I have known him well since 1933, and I have learned to revere him as a modern prophet. The spiritual leadership he gave to German Jewry, the courage and the dignity with which he shared the fate of those who were sent to the internment camps, and the inspiration he gave first to German Jewry in its years of trial and then to those in the camps, have been to us all a source of pride as well as of comfort. We may say of him that he saved himself by the strength of his spirit, and saved thousands of others by his example. I was reading the other day some reflections on world history by that living master of the art and science of history, Professor Arnold Toynbee. There I found a thought which seems to me peculiarly appropriate to our time and to Dr. Baeck: »In the divine plan«, he writes, »the learning that comes through suffering caused by the failure of civilisation may be the sovereign means of progress. The Hebrew prophets were the children of a civilisation in disintegration. Abraham was an exile from a civilisation in disintegration. Will some spiritual enlightenment be kindled in the Displaced Persons who are the counterpart in our day of the Jewish exiles to whom so much was revealed in exile by the waters of Babylon?« I think that we may say with confidence that a spiritual enlightenment has been kindled by Dr. Baeck, the Displaced Person, who has lectured to us today. That light illuminates even this rather benighted part of the Jewish people. We welcome his message and thank him. I have known Redcliffe Salaman longer than I have known Dr. Baeck. My recollection indeed goes back to the days of my childhood, when the man in whose honour we have met today, Arthur Davis, the father of his first wife, used to guide me in the service at the St. John’s Wood Synagogue. He is a veteran among our youth, ageing perhaps in years, but ever youthful in mind, ever ready to take the lead in a movement for the well-being of our people. He is the only one among us, I believe, who has attended every Arthur Davis lecture; and it is peculiarly appropriate that he should be in the chair on this most auspicious revival of the lectureship after the long interruption of the War. We thank him, as we thank Dr. Baeck, not only for his part in to-day’s gathering, but for all he has been to AngloJewry and to the Jewish people throughout his life of service. And long may he continue in that service.

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Why Jews in the World? A Reaffirmation of Faith in Israel’s Destiny*

Dieser Text – zuerst publiziert in »Commentary«, einer beliebten und bei Intellektuellen sehr anerkannten Zeitschrift – bietet eine mahnende und zugleich ermunternde Botschaft an das amerikanische Judentum und eine orientierende Information weit über die jüdische Gemeinde Amerikas hinaus.

Why are Jews and Judaism in the world? No one would dare to say that either is a comfortable thing for the world. Nor, perhaps, would any Jew say that the Jews are a comfortable thing for themselves. Neither the Jewish religion nor the Jewish heritage is an easy one. And there can be no easy Judaism. It was the Reform movement’s mistake to have tried at times to supply Jews with a Judaism that was too unexacting, too comfortable, with a Judaism that reminded itself of its own nature as infrequently as possible. And some of our

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Publiziert in: Commentary 3 (1947) 501-507. Der Text hat im Original folgende Anmerkung zum Autor: Leo S. Baeck, chief rabbi of Berlin and a distinguished modern scholar, served his people in pre-Hitler Germany, during the Nazi regime, and in the concentration camps. Since the liberation he has become known throughout Europe and in America as one of the great spiritual personalities to have emerged from the war. In the Theresienstadt camp he set an example of moral courage, wisdom, and unflinching faith that was a rock of strength to his congregation of thirty-five thousand in the face of Nazi brutality and the always-present threat of death. Dr. Baeck, at 74, lives today in London, occupied in writing on the religious meaning of Jewish experience. One of the first fruits of these creative labors is this essay, with its challenging reaffirmation of faith in the unique moral role of Jews in the world of today, as in the past. Dr. Baeck is the author of a number of books, including The Hebrew Religion (New York, 1930), Die Pharisäer (Berlin, 1934), and The Essence of Judaism (London, 1936); another volume is to be published soon by Schocken Books.

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friends also made the mistake of looking for a quiet and unassertive Judaism that made itself noticed as little as possible. But the question why Jews were in the world could not be suppressed, and continued to arise, inside oneself or outside, softly or loudly. Why indeed are they in the world? One thing is agreed on concerning the Jews: that they are a gifted race, of a peculiar and original nature. As Theophrastus, the friend and successor of Aristotle, said, they are a »philosophical race«. A genuine giftedness, especially for philosophy, is never a comfortable thing, either for those endowed with it and fated some day to become aware of it, or for those whose habits of life and thought it disturbs. As the Book of Ecclesiastes says, »he that increaseth knowledge increaseth sorrow«. This is wherein genuine giftedness differs from superficial giftedness; the latter remains pleasant and disturbs no one, but the former comes from the depths and reaches into the depths, unsettling complacency. To have things easy means all too often curbing giftedness or closing one’s mind to it. Here we have the beginning of our answer. Jews and Judaism are in the world by virtue of the right granted by giftedness and by virtue of the duty giftedness imposes. The term »world«, the »world of man«, demands a certain qualification. Jews and Judaism ever since they entered history have lived only in one half of the world. As far as we can look back, the world of man has always been divided into two parts, historically and culturally, by a line running northward and southward across the highest mountains on earth, the Himalayas. One part was and is the world that has Jews, and the other part is the world without Jews. On the whole, the world with Jews is west of this north-south line. (There are exceptions, but they hardly matter here.) Jews and Judaism have had their place in this world now for three thousand years. It took the Jews a thousand years to become conscious and sure of themselves – to come to themselves, as it were – and, in the two thousand years since, they have penetrated deeper and deeper into the Western world, though they have had mentally to contend with this world again and again, and this world has had mentally to contend with them. The world with Jews differs from the world without Jews precisely in the fact that it has had and still has to contend with them mentally. But is this the only difference between the two worlds? Another factor that has contributed largely to the shaping of our 512

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Why Jews in the World?

Western world is Greek culture, without which that world cannot be imagined. But it is a historical fact deserving of much meditation that living Greek culture should have repeatedly prepared the way and place for Jewish ideas. This was the case under the Hellenistic Roman empire and it was also the case at the time of the humanistic Renaissance – and sometimes one feels that it may be the case again in the future. In view of this connection between Greek culture and Jewish ideas, it may not be too much to say therefore that the one and essential reason for the difference between the Western and Eastern worlds is indeed the presence of Jews and Judaism in the one, and their absence in the other. It is of the essence of Jewish thought and commandment that they have a wider and deeper human and social reach than have other ways of thought and commandment. Wherever they penetrate, whether directly or indirectly, they stir up a ferment and an excitement in the souls of men and in the forms of the community, causing more violent inner upheavals than other ideas do. Something emanates from them that rouses inner conflicts, and these lead of necessity to a clarification, not only – as do other ideas – of the mind, but also of the soul; they affect not only politics, but every other problem of the community. One cannot approach Jewish ideas merely to look and pass on; one is compelled to take an attitude towards them. A certain dynamism entered the world with them, a lasting ferment that constantly generates something new in the soul and the community, a holy discontent and disappointment which are yet never discontented and disappointed enough to turn away from the world and give up the struggle, but which rather again and again return to the world in the effort to shape it and make it better and nobler by the force of new ideas. To see what all this means, one has only to take a look at that world which has been without Jews. True, here and there in this other world things similar to Judaism are seen. The law taught by the old Chinese philosophy and laid down in the constitution founded upon it seems reminiscent of Jewish law: thus, some have compared Confucius to Moses. But it is just the similarities between the two that show how great the differences are. The aim of Chinese law was to make sure that the world it governed remained always as it was, and indeed China, under that law, did remain for ages what it had been. But Jewish law is a living, unappeasable urge towards a way that leads onward and onward. It has also been pointed out that Indian thought is focused on the 513

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Die Sendung des Judentums in die Welt

question of the ultimate meaning of everything, the question of the one existence, which is the same question of questions that has from the beginning occupied and never ceased to occupy the Jewish spirit. The Greek historian Megasthenes, who had lived in India for a number of years, compared the Jews to the Brahmins as well as to the Greeks. But again what seems proximity reveals even greater distance. Indian thought held that the one being is only being and nothing else, mere being that rests within itself, being without relation to the world. Therefore one must abandon and relinquish the world in order to attain to being. Hence India was permitted for long ages to remain as it was in the world, and no one was disturbed by caste, slavery, or the idolatry on all sides. But for Jewish thought the one being always implies at the same time a commandment, a demand. Speaking in every hour its distinct word to man, it does not permit him to deny, reject, or relinquish the world, to ignore what is faulty or evil. It demands that he grapple with the world in order to make it better. It says: this, here, now – this is the reality of the ideal commandment. Thus one sees how different are the two worlds of West and East: throughout the centuries the one lacked the dynamism that penetrated the other, the dynamism that originated in Judaism and the Jews. And that is why both the latter are in the world – for the sake of dynamism, or, to put it more distinctly for the sake of ethical dynamism. It was through Judaism that ethical dynamism entered the world. Judaism first experienced that great unconditional »thou shalt« which the one God speaks. This »thou shalt« arises from the very foundation of reality, and it presents reality to man, the full and fundamental reality. One can and may doubt everything – and what is there that has not been doubted in Judaism? – except »thou shalt«. Everything may be questioned – and what is there that has not been questioned in Judaism, or submitted to varying interpretations? – except »thou shalt«. The one God is known and understood in the »thou shalt«; when the »thou shalt« is denied and rejected God is denied and rejected. And because the great »thou shalt« contains the reality, it also contains the great hope: thus hope itself becomes a commandment, hope too becomes an unconditional, categorical postulation. Thou shalt hope! Revelation, ethical task, and promise are here one. This is the revelation, the »logos« of God, the totality of the commandment, the 514

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Why Jews in the World?

Torah, which, according to ancient simile, was »before the creation of the world«. Precisely here can we see where Greek and Jewish thought are related and where divorced. For Greek thought the logos is reason and its logical, ideational expression; for Jewish thought the logos is reason and its logical, ethical expression. For Greek thought logic remains within itself and is only logic, while ethics stands alongside it as something different. For Jewish thought logic alone and for itself is meaningless: the stronger logic is ethics. For Greek thought the creation of the world is merely cosmological, ethically indifferent; for Jewish thought creation and commandment have the same origin, so that the ethical cannot be without the world and the world cannot be without the ethical. Greek thought is devoid of the absolute certainty of the commandment and of the enthusiasm arising from it; for Jewish thought the commandment is the reality of life, the truth of reality, and all passion and all pathos flow together in the realization of the commandment. Judaism stands and falls with the great »I am the Eternal – thou shalt.« The one God says to man »thou shalt«. Double morality, double law, the double way are equal to polytheism, idolatry. The foundation is in the one God, fully in him and in nothing else but him, and no utility, no power, no politics, no convenience, may claim to be that foundation. In the »thou shalt« man experiences most intensely who he is, and comes to know most vividly his own personality, his individual self, and the peculiarity or uniqueness of his own life. This is the deepest root of the Jewish religion: the individuality, the personality, the identity is bound up with the foundation of all being and all commandment. That is why this religion can never be a mere matter that is administered – neither a matter of state, as it was deemed in former times, nor a private matter, as was held later on, in the justifiable struggle against state religion. This religion cannot be something next to something else, for it expresses the substance and essence of man and of the individual. What is at stake in this religion is the self, the I, the ever-growing self, which has the certainty of possessing not simply a sequence of days but an individual life of its own. The great »thou shalt« which the one God speaks to everyone makes man truly man, makes his life truly the life. At the time when the books of the Bible were being put together in one book, one of these books – probably the last written – was included after some wavering and hesitation. It was a small book meant to tell the Greek-minded of the sceptical Hellenistic period what Judaism was, and it tried to do that from their Greek point of 515

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Die Sendung des Judentums in die Welt

view and in the way of Greek thinking of those times. For the writer, Judaism meant the same thing as true humanity. Sentence by sentence he tries to show that the Greek point of view and way of thinking provide no certainty, no foundation for reality, that they permit everything that arises and exists and passes, everything considered useful, powerful, beautiful, wise, and valid, to be subjected to doubt, so that the ultimate outcome is senselessness, the senselessness of having man called man without being man in reality. And then, after having put a question mark after each of two hundred sentences and drawn away the basis of everything any of these sentences maintained, the writer adds just one more, one last sentence, a quite short one – to be said, in the jesting phrase of the Talmud, »in the short time a man can stand on one leg!« That sentence tells that which after all the doubts and disillusionment now stands up all the stronger, on all the firmer foundation, that which alone has foundation and sense and is secure against all doubt: »The conclusion, in which we shall understand all, is: fear the one God and keep his commandments, for this is the whole of man.« The whole man is the man who has »the whole heart, the whole soul, the whole might«, the man wholly himself, with an individuality, a personality. There is only one individuality, the one that is creative, and the man who fulfills God’s commandment is creative, for he makes reality real, creates reality. And everyone is endowed with this genius, this creative power, this possibility of creating reality. And this too is the freedom vested in everyone, for there is only one fundamental freedom – ethical freedom, the freedom that creates reality. There is no freedom by gift – only the possibility of such freedom is given, only this creative, ethical freedom, this fulfillment of the individuality. Without it political and civic freedom would lack all foundation. And it is in this fundamental thing, in the demand that individuality and freedom be acquired and proven, that Judaism pre-eminently expresses its peculiarity – even more, its formative principle. Why are Jews and Judaism in the world? We can now answer at greater length. They are in the world as witnesses and standardbearers of the great »thou shalt« which the one God speaks to men so that men may fulfill it and thus have individuality and freedom arise in them, and because of which life becomes a reality to them and a real community unites them. Individuality and community – or, what is the same, ethical freedom in the individual and in the community – belong together. For man can achieve individuality neither through egoism nor anchoretism, 516

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Why Jews in the World?

but only through work for others. And a plurality of human beings, even if living together in the same place, can become a community not by uniformity but only by bringing their individualities together. Where individualities are suppressed the community itself is destroyed, and only compulsion can keep it together thereafter – compulsion which is something artificial, unreal, inorganic. Only ethical freedom and individuality are reality and bring about development. To create such reality on earth and prepare a place for it, to found a world of such freedom, of such a community of individualities, that has been the great Jewish hope. This hope, like every genuine hope, is at the same time a task. The language of Judaism has shaped a specific phrase for it: to establish the Kingdom of God on earth, or, as the old prayer puts it, to »bring about a world through the Kingdom of God«. It was for a man, it was said, to create a place for God on earth. God made the earth, but now man was to make it a realm of God. This is a tremendous challenge. The full infinity of the commandment – and this infinity begins anew with every man – finds its expression here. It was this infinity that frightened and shook Paul. He stood affrighted before the commandment which is infinite and therefore can never be fulfilled by temporal man; he stood affrighted before the demand for a Kingdom on earth of the infinite God, something which man, being finite, cannot accomplish. Paul’s longing for a salvation that would lead man to a perfection, a goal, shrank from this demand. Hence he fled into the complete miracle, the miracle of salvation. Hence he taught that all »thou shalts« were in vain, that man by himself could not create freedom and community and could not prepare the place for God; he taught that all these things could only be a gift, a gift of divine grace, and this gift, salvation itself, could be bestowed only on him who fully believed in this grace, in this salvation, and in the savior who brought it. Thus Judaism and the old Gospel were relinquished, the infinite task set before man was rejected. The words, »with all thine heart, with all thy soul, with all thy might«, were to mean no more the way of the deed, but the way of faith. Verily, the ways parted here. For Judaism the commandment that man fulfills, the deed of piety he performs, is the decisive thing. Here faith is the certainty that grows out of this decision. And this decision in favor of reality, in favor of the truth of life, is the decision for justice and love, as is solemnly stressed again and again. Justice and love are the expression and proof of freedom and they create individuality and community. And they are the way that leads to the fellow man. Here the fellow man was discovered, so to speak. 517

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Justice is the discovery and the acknowledgment flowing from it that the other has his life and therefore the right to his life, just as I myself have. Love is the discovery and the acknowledgment flowing from it that the other has his soul and therefore the right to his soul, just as I myself have. Both terms have here acquired a new, purely human content. It was like sunrise in the history of mankind when this new light arose. Here justice is not merely allegiance to the law set down by the powerful or the majority simply because they have power – it is above all allegiance to that which is due him who is powerless and which he may claim precisely because he is powerless. In the same way love is here lifted into a yet higher sphere, lifted above the realm of legitimate sensuality and that of mere friendship – it means hearing the soul of the other, listening to its revelation. Justice and love are here the one that the one God demands: that truth and unity be in man and truth and unity be among men, and that thus the truth and oneness of God be acknowledged. Such justice and such love are the divine service. Why are Jews and Judaism in the world? The answer now takes its conclusive form. They are in the world so that mankind in its diversity may not forget what unity and truth are, may not forget that justice and love alone prepare the way, may not forget its task and goal, which is to establish the Kingdom of God. Why are Judaism and Jews in the world? They are in the world as witnesses – and here every witness becomes a herald, and every herald a pioneer. They are in the world as witnesses, heralds, and pioneers of the one God. Because they are all these, the Jews and Judaism had and have as their duty to stand up and oppose many things in the present, even if they are the only ones to do so. And thus they have taken on themselves the destiny and task of being different, even if they are the only ones to be different. And for this they have often been bitterly resented, for they have troubled many a uniformity, disturbed many a symmetry. When paganism lay spread over the world in all its multifarious uniformity all the nations had their part in it – except only the Jews. When Rome, having taken over Greek culture, had established its imperial world of culture, all the many nations within its reach were ready in the end to enter wholly into it – except only the Jews. When the Church created its ever-expanding and all-embracing world, all countries were ready, sooner or later, to become its provinces – except only the Jews. And it has been the same in many another sphere. The Jews were and remained the exception. What would the world be without Jews and Judaism? Most prob518

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Why Jews in the World?

ably, almost surely, a world with less brain-racking and a more appeased conscience, but a world that contained no exception – and the world is alive also because of its exceptions. It is neither easy nor convenient to be the exception, and thereby the first in so many cases to receive the thrust. It is hard to stand in opposition until the very last day before the Kingdom of God is established in the world. Two things were necessary to the Jews to enable them to persist in this role, two qualities that the Jews possessed and seem, indeed, to have created: ethical imagination and historical patience. There are many kinds of imagination possessed by many people, and there is also the artistic imagination, which some few possess. But the ethical imagination is something peculiar to itself. It shapes the picture of the »thou shalt«, the one picture of the inseparable individuality and community, the one picture of the inseparable ethical and social task, the picture of that humanity which can alone be the goal, and the picture of the way leading to this goal. It is the imagination filled with the great vision. Because Jews possessed that imagination, historical patience, too, became theirs. There is a patience that will endure all efforts and disappointments; this is a passive patience. And then there is a patience that is ready to begin from the beginning all over again; this is an active patience. Both kinds think of tomorrow. But historical patience, which also endures and begins all over again, is something else and something more. It thinks always of the ultimate and therefore in terms of centuries; its word is the word coined by Jewish genius: »from generation to generation«. It is the patience of the endless way. This imagination and patience could be born only from a great certainty about what is real, whole, and lasting, only from the certainty of the one God and of his commandment and his promise. What would the world be without Jews and Judaism? Perhaps, or surely, a world that often believed that it had already attained the goal, and often congratulated itself on the progress it had made – but for all that a world without the great vision and without the great will to the way. And it is by these two that the world lives. It is not easy, and sometime it is perhaps the hardest thing on earth, to be the eternal exception, to hold fast always to historical patience and ethical imagination. Sometimes Jews have hidden themselves from this role, sometimes they have fled from before it. Also, Jews have sometimes placed themselves before Judaism, covering it, standing in its way. There have been quite a number of Jews 519

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who shunned the questions put by Judaism, and there have been such as shunned the answers it gave. It is not easy to fill the requirements and duties of Jewish identity, to show this faithfulness to oneself and to the thousands of years of the past, as well as to the days to come. It is not easy always to live one’s present out in permanent Judaism and always to have one’s Judaism permanent in the present. But for a long time the Jews have had two inner sureties to make them certain of the place of history and the future. One is their longing for a place of their own on earth, and this longing for the land of their fathers has remained in their hearts with its poetry and its obligations. Now the old longing has returned anew to become history, historic reality. The other surety has consisted in the customs and statutes that grew up around the Jew’s life, this »hedge around the Torah« to guarantee his will to preserve his identity. This »hedge« has had its changing fortunes. Sometimes it prevented those inside it from looking out at the world, and sometimes it prevented those outside it from seeing Judaism. Those assigned to guard it forgot sometimes that a hedge has to be pruned from time to time in order to stay alive. And it was sometimes forgotten by both great and small that the hedge is not an end in itself but is there only that Jews may be Jews in this world. On the other hand, others have come to think the hedge superfluous, its usefulness outlived. Yet, until the last days are fulfilled, Jews will not be able to dispense with it. It is there for the sake of the Jews and Judaism, it helps keep them in the world for the world’s sake. Yes, for the world’s sake may they persist in the world from generation to generation. One might almost say, to vary the epigram of a man who understood a great many things but little of Jews and Judaism, that if the Jews and Judaism were not on earth one would have had to invent them.

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The Law in Judaism*

Diese Broschüre, herausgegeben von der Association of Synagogues in Great Britain (ASGB), beleuchtet Leo Baecks Einfluß auf die jüdische Reformbewegung in England. Man muß berücksichtigen, daß die adjektivischen Bestimmungen »reform-« und »liberal« in Großbritannien nicht dasselbe bedeuteten wie in Deutschland. »Reform-« kennzeichnet eine eher konservative Gruppe jüdischer Gemeinden, »liberal« den radikalen Flügel des progressiven Judentums. Beide Gruppen waren Mitglieder der World Union of Progressive Judaism (WUPJ) und so miteinander verbunden. Leo Baeck, Präsident der WUPJ und die große überlebende Stimme des fortschrittlichen Judentums in Europa, wurde in England geachtet und geehrt. Die ASGB vertrat das Reformjudentum in England, und die Union of Liberal and Progressive Synagogues (ULPS) war die Vereinigung des Liberalen Judentums. Baeck konnte beide Flügel dieses jetzt wachsenden, progressiven Judentums ansprechen. Er fühlte sich in beiden Gruppen zu Hause. Die Leiter des Liberalen Judentums – C. G. Montefiore, Lily Montagu und Israel Mattuck – standen in engster Freundschaft mit ihm. Baeck hatte auch Verbindungen zu den christlichen Gelehrten in London, die seine Lehre und besonders seine Kenntnisse ihrer eigenen Tradition bewunderten. Hier, in dieser kleinen Schrift für die Reformgemeinden, baut Baeck eine Brükke zwischen beiden Lagern innerhalb des englischen progressiven Judentums, spricht aber auch zu den christlichen Denkern in der Nachkriegszeit.

In Judaism the term Law is used in a twofold sense, a general and a particular one. In order to understand, and appreciate the signifi*

Entnommen aus: Association of Synagogues in Great Britain, Pamphlet No. 4, December 1950.

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Die Sendung des Judentums in die Welt

cance of what is so often loosely termed Jewish Law, it is necessary first to distinguish between the two senses.

Jewish Law in the Universal Sense In its universal sense, the word Law signifies the revelation of God to man. This law is manifest to mankind through the universe, as well as in human experience, through the laws which operate in the world, demonstrating that which is in being, and through the laws which operate in man, showing that which is to be. It is a basic idea in Judaism that there exist these indestructible laws, which emanate from the One God. They are indeed the one Law, and constitute the indestructible bond between God and the world, and between God and humanity. As the Bible puts it, they are the covenant between the Creator and all that He has created, or, as the Aramaic version expresses it, that which is for ever established. God has made the covenant with heaven and earth, and with kol b’ne adam, all mankind. And he has made the covenant with Israel, so that this people should be »the covenant of the nations«. Through all the temporal sphere of coming into being and passing away, there exists that which abides: the Laws of God. Our Bible resounds with the praise of the Law; and some distinction between the Old and the New Testament may here be discerned. The Law is the great revelation of God; by virtue of the Law there exists that fundamental unity of what is and what is to be, of universe and command, of nature and the way. The two spheres are joined together in song. The psalm begins: »The heavens declare the glory of God; and the firmament sheweth his handywork.« And then it goes on: »The Law of the Lord is perfect, converting the soul; the testimony of the Lord is sure, making wise the simple.« The men of the Bible were struck by the majesty of the Law. They had, and expressed, the deep sense of that reality which Kant in his famous phrase called »the starry heaven above and the moral law within«. In Judaism this is the Law in its general meaning.

Jewish Law in the Particular Sense In Judaism however, the word Law is understood also and perhaps usually, to have a ritual significance – the so-called ceremonial law. This not very felicitous term was first used by Joseph Albo in the 522

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The Law in Judaism

fifteenth century, in his philosophical book Ikkarim, »Principles«. When one speaks of the Law in Judaism, one is inclined to think of a book – a book which is so frequently mentioned, but so seldom known – the Shulchan Aruch. In general one is apt to think of those manifold statutes, forms, customs and institutions which, from of old, twine around Jewish life, as, for instance, the dietary or the sabbatical regulations.

Ceremonies – Their Value and Their Limitations In order to understand the meaning and the place of these ceremonial laws in Judaism, one must first realize they were always clearly distinguished from the essential religious duties and tasks. Observing them was never counted a »good deed«; only religious, moral action was so called. That is why the confessions on the Day of Atonement are not, nor were they ever, concerned with the violation of any of these ritual or ceremonial precepts. Only transgressions of the strict ethical laws – and these it is to be noted in all their ramifications – are here tabulated as sins. The others are not even indicated. What they signify is indeed most characteristically expressed by an old phrase; the »hedge round the Torah«. The first verse of the »Sayings of the Fathers« admonishes us: »Make a hedge round the Torah«. This term clearly indicates their significance. They are to protect the Torah, the Law, from erosion or incursion. They are to keep away all that would impair the soil from which religious feeling and action can draw their nourishment. They are to prevent the impoverishment of the daily reality of the Jewish faith. One could say that they are the first line of defence which, in the midst of a world of profanity and uncleanness, would safeguard the religious ground. Therefore some old teachers ventured to say that in the days of the Messiah, that is, when the world within and without will have become a realm of true piety, this hedge will no longer be required.

The Ceremonial Law in Modern Times It is obvious that the hedge round the Torah came to be also a hedge round the Jew, and led to his separation and even isolation from other people. This result seemed natural in times when the nations deliberately repelled the Jew. It was, so to speak, the Jew’s answer to that exclusion, his own proud reply to the rejection. When the 523

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chance of freedom appeared, and he was admitted into the larger community, the Jew no longer held it necessary to retain the whole hedge, or sometimes even any hedge round the Torah. All those statues and customs had to diminish in strength and in range. Thus in the nineteenth century the problem of the »law« arose, and the attitude toward it began to change, and indeed to split the congregation. Today we all face the question: what, if any, is the significance of this »law« for us? To answer the question, one must first realize that these »laws«, in their true meaning, are not without significance for religion. They have their relation to, and their value in the religious sphere. They can and should be the constant reminder of, and aid to, the faithful life. Throughout long centuries they proved to be just that. Everywhere in the Jewish community they sanctified the earthly, consecrated the workaday, hallowed the trivial. Every evening, morning and noon, the beginning and the end of every action had its prayer and worship. The atmosphere of the House of God spread over the whole of existence. Always and everywhere man was reminded that he stands before God, that there is a Divine Law – the Law in the universal sense. Here we see the key to the answer. We need to be conscious of God’s presence, of a devotional atmosphere that continually should flow into our life. Our existence can only too easily become empty. Or, we may put it another way. Any edification which our life has achieved must be defended ever anew against the depression and dullness of existence. Man’s life is a struggle between poetry and prose: all day long prose tries to displace poetry, and the dignity of our life is ever endangered. Against this peril those laws are directed, and are able to lend assistance. They may well be a »hedge« to guard us from the prevalence of prose. Examples from daily living spring to mind. What a difference between merely getting into and out of bed in the evenings and in the mornings, and retiring and rising with prayer! What a difference between merely eating meals, and asking a blessing before and saying grace after food! The one is poetry; the other is prose. Or, we could say, the one way is the way of a life that has acquired a style; the other is of a life devoid of style.

Poetry in Life In our day, more than ever, life stands in the need of style, rhythm, poetry. To supply this need, nothing could serve us better and in a 524

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The Law in Judaism

more pure and constant way than laws, assuring us of moments which day by day confront us with God, and day by day make us conscious of the sublime command of the Divine Law. Throughout the centuries all those statutes and customs served this need; they gave Jewish life its rhythm, its style, its continuity in a sphere of poetry; they taught the House of Israel how to react, in the dignified, in the religious manner, to the events and circumstances of human life. In those old days with all their hardships, how much was achieved! Should we, in our days, by virtue of our very freedom, be deprived of similar benefit? We are aware that conditions and circumstances, and likewise outlooks and prospects have changed. We cannot, nor do we wish to, go back to a period that is past. We cannot completely observe the old »laws« of the Shulchan Aruch. No one in Europe today have the title to assert that he does so. But shall we therefore have to forego dignity, propriety, and moral elevation? The way is clear. We can discern the direction in which we shall proceed, with the same assuredness as former generations, for the sake of our life and of our personality. We too can and should bring the enduring poetry of our Judaism into our lives, and first and foremost into our working-days. We too can possess the sphere of devotion, of vision, the places and the way of the spirit; we also can have our »law«. Maybe we can have it in an improved, developed or reformed manner. Reforming means restoring, reintegrating. Our life shall have its religious style, its »law«! Judaism is the religion of the law, in that universal, but also in this particular sense. Our religion shows that vast harmony which, through the Law, is revealed in the world, and is to be manifested in human life.

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The Psychological Root of the Law*

Baeck sprach öfter von den drei »erkorenen« Völkern, in denen die Wurzeln des Gesetzes sich in verschiedener Weise zeigen. Für die Griechen war das Gesetz, nomos, eine schaffende, formende Kraft im Leben. Die Römer erkannten das Gesetz als lex, als koordinierende Struktur, in der Menschen und Länder geordnet leben konnten. Israel hatte das Gesetz als eine hukkah, als Offenbarung von Gott empfangen. Das Ewige und Unendliche bewegte sich jetzt im Vergänglichen, garantierte Dauer und ermöglichte Veränderung. Vereinten sich diese Definitionen im Leben?

It is an old theory, or at least a working hypothesis in philosophy and ethics, to take man as living in two spheres. According to the general character of any period and domain these two provinces were given their distinct denotation. The Greeks usually called them necessity and free will; the Christian thinkers, nature and grace; the Kantians, that which is and that which is to be. In another approach one may put it so. Man finds himself placed into the two realms. Inside the one he is never asked nor given the possibility of asking a question. As it is said by the rabbis: »Without thy will thou hast been formed, without thy will thou hast been born, without thy will thou dost exist.« Inside the other, day by day, he is questioned and summoned to answer. Facing the fact, or the assumption, or the supposition of these different spheres we are together confronted with an historical actuality, strange, yet significant. For when denoting the principles or the rules apparently discovered in the one sphere, and established or hoped for in the other sphere, the languages of those peoples that *

Wingate Lecture gehalten an der Hebrew University London, London 1951.

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The Psychological Root of the Law

have become teachers to humanity employed one and the same term, »law«. And this cannot but mark some linguistic coincidence. In each language is manifested an inner logic, or at least an interrelation of speaking and reasoning, sometimes an interplay also, or even an interference between both. Therefore a logical or a psychological meaning could, or must, underlie this fact, that the three classic languages did all apply this one word »law« to the mathematical, the physical, the cosmical as well as to the moral, the social, the historical, the institutional. And what may this meaning be? Certainly, the word does not in each of these tongues indicate the same contents. Languages differ from one another, so to speak, philosophically also. To the Greek the law first meant a creative power, a formative agent, something functional. To the Roman it first was something organic and co-ordinated, something constructive, making of human relations a clear and stable edifice. To the Jew it was a manifestation, the entering of the Eternal, Infinite and Absolute into all the regions of the finite and transitory and conditioned. Three words, three tongues, three philosophies! And one could delineate a history of civilisation tracing the import and influence of each of these connotations with the different periods and provinces of history. All the more one must lay stress on the fact that those three words: Nomos, Lex, Hukkah, came to be interchangeable from the time that they came to be rendered into each other’s language. What was common in them seemed to be larger and weightier than what was different. Thus from even a deeper ground arises the twofold question. First, why did the distinct and strongly marked genius of each of these peoples, though definitely experiencing two different spheres, nevertheless use the same word and coin the same term to signify principles and rules that were, or should be, valid in either sphere? And secondly, why did those distinct and strongly marked peoples, when they had got in touch with one another, and became familiar with each other’s tongue, recognise their own term and their own word, however different, in the other’s term and word? Is there – and so the twofold question could first be approached – a definition covering both the disparate ideas of those nations and the two realms equally acknowledged and embraced by these ideas? It seems that such a definition, at least a preliminary one, could run as follows. Law is a continual appearance or manifestation or performance, acting under existing conditions, which indicates, or may indicate, a constant course that operates here, and therefore proves something lasting and permanent within, or behind, the 527

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changing and variable, and thereby also ensures or promises a constant sequence and regularity in future recurrences. One could give it also in words which are distinctive of the religious style and view. Law is the continuing and lasting element in virtue of which creation remains creation, and revelation remains revelation, and the covenant remains the covenant. The pivot on which the general definition turns is the factor of the permanent and enduring, which acts either within or behind the happenings and the doings. Significantly the Aramaic language, a world-wide and influential tongue in antiquity, termed the law: »kayama«, that is, the enduring, the lasting. Indeed the problem of the law may be reduced to this comprehensive question, whether there is, or can be, anything lasting and enduring, being permanent by virtue of a proper, inherent power, or made permanent by the strength of a power it is endowed with: whether there is, or can be achieved, something that by this permanence will also bring about permanency, or interfere with and regulate the changeable. This way, it seems, one could approach that twofold problem, why different peoples came to form and develop and keep, and to acknowledge with one another, a general idea of law. In other words, where is to be found the psychological root of this human fact? The point in question, therefore, is not the basic reality of what is called law, either in the physical and metaphysical or in the moral and social sphere. The point is, why and how such a general idea would grow up in human kind? One could illustrate this point by an example from the field of science. There we must distinguish between the question whether the world is explicable, and the question why, time and again, human mind takes the world to be explicable. So here we must proceed from the distinction between the physical or metaphysical or social reality of laws and man’s assumption of such a reality. From a theory of cognition the approach must be made both here and there. To know why we know, or generally suppose, something lasting, this is the problem. We can see, indeed, when and how a sense of something constant takes its origin and develops in the human mind. It is in the period of the radical transformation of body and mind, which we call puberty, that such a feeling of permanencies begins to grow up within our soul. With that process of transformation, often turbulent and painful, man becomes, bodily and mentally, aware of an ego, of a self, that is to say, of a source of power and resistance centred in him, of something that endures and persists in the midst of changes. He may also come to be strongly conscious of this and then consciously to be ob528

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stinate and stubborn – and not only naturally and naïvely, as is the child. This sense of the permanent grows, particularly when resistant to rejections, to be a will to the proper permanent, to the proper rule, so to speak, to being a law-giver of his own, and perhaps of another’s circle. Moreover, with the range of his body growing larger and bigger, he begins to comprehend what is near and what is far, what can and what cannot be grasped; the sense of space develops. And with the compass of his mind growing larger and stronger, he learns to seize a past and a future, to perceive what has happened and what may happen; the sense of time evolves. And here also man becomes aware of something continuous: of a spot of his own, this regularity in space, of an ease of his own, this regularity in time. He tries and is able to bring about a permanency, to settle into rules he has arranged. Again he becomes a legislator. By these experiences and the crisis which they signify, by man’s opposing to himself and making him his own subject, the most potent of human capacities, the intellect, evolves from the soul. By being disposed now to reluctance, and being alive now to the measurement in space and time, the adolescent is induced to differentiate and to discriminate, to reflect, to examine and to judge, to put apart and to doubt and to analyse. Intellect is the great force of indirectness, just as a child’s instinct was the wonderful force of directness; (that instinct which may survive in woman’s soul and in the artist’s spirit). Mathematics is the true way of this indirectness, the genuine method of the intellect. Strictly speaking, it does not give anything, at least not in the beginning, it is the wonderful mediating agent, the productive mediator in science. Such it is on the strength of the intellect. Upon this intellect, this proper fruit of puberty, most perceptions and impressions now break. Firm or faint, resolute or vacillating, intellect stands between the individual and the world. No longer are the outer things each time given immediate entrance. By the intellect they are somehow compelled to stop, to show cause and to prove their character. Intellect is the effective power of interception, of a directing indirectness, which more and more proves able to repeat, to bring about steadiness, and thus to mark ways or even to set goals. To other people’s minds these ways and goals will appear right or wrong, reasonable or unreasonable. But to this individual man’s intellect they become the method and the rule, the constant course in turning round the impressions which the outer world causes to press forward upon man. Bye and bye they give him a knowledge and appreciation of something lasting. 529

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Stress must be laid here upon one point. This interception, which is characteristic of the intellectual power, effects recurrent pauses in the run of the events, and by means of these intervals, time and place are given for reflection and resistance. More and more centres of resistance and reflection can take form. Along the ways from the stimulus up to the reaction, from the impression to the doing, along all the attractions and repulsions, the pause interferes. By means of this interval, the proper opportunity is offered to the intellect, the opportunity for what is inherent in intellect, for what is called critique and reason. It is for such continuance as stands consideration and comparison, for this confrontation of the intellect with himself and his experiences, and with the intellect and the experiences of other people which the man has met. The interval means the recurrent possibility of man’s thinking over himself and thereby over the things and events around. In the fact of the pause human intellect is demonstrated, in the character given to the pause human reason, or unreason, will be proved. The character of the rule, of the constant will be shown. Since every interval means the opportunity for a new thought, in course of time within the human mind a store of thoughts may gather, and among them some ideas also. The ideas are thoughts that attain, or aspire, to an autonomy, or autarky, and therefore come, or want, to lead thoughts. Man now has, and becomes conscious of, those two worlds in which he exists, the inner and the outer world, or, as one could also term them: the world on this side and the world on the other side of the interval, on this or that side of the line of interception and resistance. And somehow the self also thereby comes to be twofold. The one sphere is that of the multitude of the so-called facts and realities, and the other is that constituted and determined by the store of the thoughts, and of the feelings and wishes, the problems and doubts, the fears and hopes and dreams, and the many precepts, thou shalt and thou shalt not, which are all connected with and springing from the thoughts. Man’s task, which he scarely can evade, is to bring about some stable relation, and perhaps also a symmetry, between the two. In doing so, he finds and acknowledges constancies, these modes and rhythms of individual life, these systematic practices that became the rules and customs of life, and developed into the laws. They are rooted in the significance of the interval. The interval itself is neutral. It is, to use this term of psychology, an »intentional disposition«. It is the mere opportunity that was given for something and is likely to be repeated in order to become a rule. 530

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In this respect the pause can prove to be barren or fertile, destructive or constructive. Accordingly, the law in itself, such as the pure law of mathematics, is indifferent. The constant in itself does not mean any value. But the manifold applications to the human provinces – and the provinces are distinct – give it merit, in the same manner as its applicability is the proof of the mathematical law, one could even say, is its content. Here the fruitfulness or the sterility will be seen, here it will be shown if the constancy is worthwhile. But constancy cannot be dispensed with; a law without a permanency would be a contradiction in terms. It is of the character of the trivial that it changes and wants to change, and therefore it has only its fashions. It is a questionable time when the fashion acts as law, or the law appears as fashion. It is part of the character of evil that it strongly proclaims permanency. Yet from the start it must begin to destroy itself. Not all that seems to endure is great, but in all that truly is great the constancy, the character of the lasting, is inherent. Everything great expresses a law, it springs from the productive pause, the creative interval. After himself, after the experiences of his ego, experiences obtained in the two spheres, man has modelled a construction of the State and imageƒ?ƒ of the universe. The history of civilisation and history of philosophy demonstrate how man’s experiences within himself, this picture that the realms of his self seemed to show him, were the first creation, and how only from here a picture of the community and of the cosmos was built up. Thus, inevitably, when and wherever he began to meditate and to philosophise on the world around, he could, and he must, apply here the knowledge, and also the terms, attained in the region of his particular life. It was only on the strength of revolution – and human history is a history of the many permanencies and the few revolutions – that man learned no longer to model his gods after himself, but to recognise himself as being in the likeness of the one God. Similarly it was a revolution when in astronomy the geocentric point of view was replaced by a heliocentric. And now, when man in such a manner mused upon community and the world, an experience similar to that interception, that interval, that pause was offered to him. Some constancy, some order in the existence of a clan, of a tribe, of any community begins with the boundary-mark; history also began so. For in the boundary-mark that which is to be permanent, the rule, the law, became visible and understandable. A first mathematical order and a first moral order – terminus stat adversus cupiditates – were starting. The limit means 531

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the great »thou shalt not«, and efficient ethics rests best upon the »thou shalt not«. The »thou shalt« is only the consequence. One may speak of the productive limit, of the creative boundary, as one can speak of the productive pause, of the creative interval. They correspond and are conformable to each other. There is a like character in both. All that is called law grew up from the same root.

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Jewish Mysticism*

Baeck selbst kann kaum als »Mystiker« charakterisiert werden. Zu nüchtern, zu sehr Schüler Hermann Cohens, nähert er sich wie G. Scholem der Mystik als Wissenschaftler und gerade darum erschließend. Der Text macht die hohe Achtung deutlich, die Baeck für die mystischen Bewegungen des Judentums hat. Sichtbar wird aber auch, wie sehr Baecks Verständnis jüdischer Mystik geprägt ist durch sein Verständnis des Gesetzes. Jüdische Mystik vollendet sich nicht in der unio mit Gott, sondern in der communio, die sich ereignet, wenn Gottes Gebot gehört und erfüllt wird. Wie Ben Sira sagt: »Was ist der Glaube? Gott zu gehorchen.«

Mysticism – this must be borne in mind from the outset – has no definite contents, but is a mode of thought, feeling, or will. Mysticism is a way which the human soul goes and on which it believes to come to results that could not be obtained on any other way. One could say, in terms of philosophy: mysticism is not a system, but a method; and in terms of theology: it does not possess any articles of faith, but only a faith. There is great variety in mysticism, variety ensuing already from the fact that here feeling, there thought and there again volition predominantly finds expression, i. e. that mysticism may be emotional or speculative or volitional. But all mysticism, however it may present itself, has one root, the main and principal one in common. It exists in the conviction and of the conviction that temporal man on earth is able, or that there is something within him which is able, to penetrate to, or to be penetrated with, something eternal and infinite,

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Entnommen aus: Journal of Jewish Studies 2.1 (1950) 3-16.

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and to be wholly united therewith, and, for moments or for hours or for always, to live therewith. All mysticism is thus founded on the assuredness that the distance between the earthly world and an eternal world can be transcended and overcome, that ultimately therefore there is no real separation, no real antagonism between this world and beyond. In this conviction that the difference between the earthbound man and a free, infinite, eternal power can be eliminated, mysticism possesses its one and all. To prove the possibility of this is the task that mysticism sets itself. The proof which it offers is the personal one: men have had the immediate experience of this and they tell us about it. It is this immediateness that is most important to mysticism; its aim and fulfilment are the »unio mystica«, the »mystical union« in the precise meaning of this term. Mysticism must therefore be distinguished from the belief in mysteries. Mysteries lack this immediateness. It is characteristic of mysteries that they are bound up with something instrumental, some object, be it a magic substance or the performance of a holy rite, without which a union of mortal man with the eternal being is not attainable. Mysticism, on the other hand, knows only the human being and the eternal being, nothing can be between them, nothing material or palpable can stand as the necessary mediator. That is the peculiarity of mysticism, but within that it has, as aforesaid, its remarkable variety. The one and permanent object to which man should penetrate, may be a personal being, or may be the n ka½ p”n, the »one and all«, the eternal substance or eternal nature. It may be the one God, or the one saviour, or the infinite nothing that is behind everything. Mysticism may be theistic, pantheistic and also atheistic. The one as well as the other can be, and has been, mysticism. The only decisive thing is that there is for man the way to this one and ultimate object. As to the nature of that way, we again find a multitude of different forms. The way can be one of piety or of speculation or of meditation. Man can be led along that way by training his thought or his feeling or his will, or by eliminating his thought or feeling or will. Mysticism can be detachment from the world, yug¼ mnou pr@ mnon, or it can acknowledge the world, and wish to have God descend to the world. It can be Agnosticism or Gnosticism, it can possess a »doctrina« or a »docta ignorantia«. It can be a mysticism of speech and of song, or a mysticism of sparing words and of silence. It can demand the law or the liberation from the law, it can attribute or dispute personality to man. It can demand that he withdraw into himself in meditation, or 534

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that he stand forth in self-expression, it can, as it were, be an inhaling one, or an exhaling one. In the great history of mysticism all that has had its place. There is actually no mysticism as such and no mystic as such. Just as religion exists only in the individual religions, so mysticism exists only in the various forms of mysticism. It can arise out of every religion, every piety, every belief and every non-belief, out of every trend of thought, every philosophy, out of every realm of art, and it has arisen out of almost all. What is common to it becomes evident only from all its diverse forms. Only in those diverse forms do we encounter mysticism as a human reality, as a historic fact. There is a mysticism of Taoism, of Hinduism, of Buddhism, of Judaism, of Christianity, of Islam, of Platonism and the Stoa, of the Philosophy of Identity and of the Philosophy of History, of humanism and of nationalism. Common to them all is the conviction of being able to penetrate to the ultimate. But this conviction receives its character, its form and its expression from the religion, the philosophy, the manner and way of thought, of feeling, of volition within which it develops. That starting point, that soil from which mysticism derives in each case, decides the course and to a great measure also the goal. The peculiarity of Jewish Mysticism can therefore be understood only, if its precondition, that is, the peculiarity of Jewish religion, is understood. In this religion there is a force that can keep mysticism at a distance, but also a force that can lead to it. The great importance which the commandment here has, can stand against mysticism. Piety here is first and foremost the fulfilment of the divine commandment. All awe of God, all love to God is founded on it, all faith in God is derived from it. A word of Ben Sira, at a period, when one already began to ponder about religion, says: »Faith is, to do His will« (Hebrew Text, 15, 15). In Jewish religious literature of all centuries it is always stressed that before religious understanding there stands religious deed, that thinking rightly is dependent on doing rightly. A favourite quotation in this connection is the sentence from Exodus 24,7: »All that the Lord has spoken, let us do and hear« – putting first the doing and then the hearing. Thus the commandment stands foremost, and the commandment does not take man up to God that he be united with God, but places man facing God that he may listen to Him and serve Him. Action itself, which is demanded, is moreover, something un-mystical. It links man up with a definite place, it holds him fast on this Earth; on this soil on which he is set, he has to fulfil it, here he has to hearken to what is spoken to him by God. Therein doubtlessly 535

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lies the strength of this religion, and this is doubtlessly an unmystical strength. There is however also a force in this religion which had to lead to mysticism and has indeed ever again led to it. Behind the commandment there always stands God. Man who fulfils the commandment, fulfils the will of God, enters into God’s will, receives God’s will into himself. A sentence from »The Chapters of the Fathers«, often repeated and often varied, declares: »Make His will yours and He will make your will His.« Here mysticism could always take up and has always taken up its cue. Moreover, he who fulfils God’s commandment, »walks in the ways of God«, he »finds« God and is »with God«. And he who loves God, and for love and with love does what God has commanded, surely is united with God, for all love unites. Here too the gate opened to mysticism. And further this religion is distinguished by its theocentric character; all is viewed as from God, all thinking should be thinking as from God, all true knowledge is a knowledge issuing from the one God. From there too would mysticism find its way. The conception of holiness has led in the same direction. Man is to become holy, as God is holy. This was the idea above all through which Judaism had been revolutionary. In the other ancient religions – and traces of this are still visible also in the older parts of the Bible – the Holy was that from which man was to keep at a distance, it was to be only in seclusion, in the »templum«, the »fanum«, it was »taboo«. It was a revolutionary step in the history of religion, when the Holy was made something ethical and thereby made to be something which man is to make his own, when it was spoken: »Ye shalt be holy, for I, the Lord your God, am holy« (Lev 19,2) – or as the old explanation from the first century puts it: »Just as I am holy, so shall ye be holy.« »Just as God«: this surely could also mean and promise the »unio mystica«. It is from here that the Jewish mysticism of holiness started. The approach to mysticism was at that time opened widest by the fact that the old Bible had soon become to be something new. In every clearly defined religion a creative period, in which it was born, or later experienced its renaissance, is followed by a period of pondering about the religion: although this pondering too may, of course, be something creative, it may be a creative response. In that period – evident in Judaism in the second century B.C. – every sentence, every word of the Bible began to mean more than was expressed by the mere word. The Bible became a book of hidden meanings and thus a new book. The feeling for the genius of the Bible 536

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revealed itself here. For this is what distinguishes genius from mere talent: the word of genius ever speaks more than it pronounces literally, even more perhaps than its author had meant to say; the word of talent says no more than just what it says. One might also put it in this way: the Bible became and remained a book full of poetry, that is to say, a book having not only the palpable foreground, but also a deep mysterious background, a book which does not only speak of any individual human being but of the human being, which does not only relate an individual occurrence, but has in mind what ever recurs, what is ever again experienced in life. From every sentence, every word, every rhythm of the Bible one sensed this poetic quality, this genius of expression; nothing in it, so one felt, was meant to be merely prosaic. All mysticism indeed has a source in the poetic. Everywhere one searched for, and found, a hidden meaning, the truth that issues from the mystery. In this way one came to mysticism. It is not a mere occurrence that the two men who most emphatically demanded meditation on ƒ»what is written«, Akiba ben Joseph and Simon ben Johai, were regarded the fathers of mysticism. ˙ For this very reason, that Judaism had its holy book and that the Jewish and would ever again penetrate into its depth, the fountain of mysticism sprang up ever again. For this reason books on mysticism could, later on, take the form of sermons on biblical sentences or of commentaries to books of the Bible; the commentary meant to conduct the spring into its bed. All this was most significantly expressed in a sentence of the »Zohar«, a book in which, in middle period of the Middle Ages, all teachings of Jewish mysticism were embraced: »The mystery is the soul of the Bible, and God is the soul of the soul.« Thus a mysticism, conscious of itself, arose in Judaism at an early date. The philosophy of Philo and the »Wisdom of Solomon« are left aside here, for the mysticism contained in them had not derived only from Jewish, but also from Greek thought. Only that mysticism shall be dealt with here, which wholly sprang from the soil of Judaism, even though here and there it was open to external influence. From the outset and in all its long development mysticism meant to prove two ways the »unio mystica«. These two ways are spoken of in an old anonymous sermon on the text of Exodus 19,20, preserved in the »Midrash« this book; it probably goes back as far as the first century. It says as follows: »The Psalm (115,16) tells us: ›The heaven, even the heavens are the Lord’s, but the earth has He given to the children of men.‹ That held good to up the time of revelation. But when God revealed himself on Mount Sinai, something quite new, something epoch-making came into existence. God then gave and 537

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ordained that what is below will ascend to what is above and what is above will descend to what is below. Therefore it has here, in the story of the revelation, been spoken thus: ›The Lord came down upon Mount Sinai, on the and of the mountain, and the Lord called Moses up to the top of the mountain, and Moses went up.‹« These are the two ways leading to the »unio mystica«: God descends to the sphere of man, man ascends to the sphere of God. It is in both these directions, which, however, can also pass over into one another, that the manyfold Jewish mysticism presents itself. The first mentioned way may also be termed the mysticism of the »Shekhinah«, that is to say, of the »dwelling« of God, of His presence on earth. This concept of the »Shekhinah« which is also met in the Revelation (21,3) and in the Gospel of John (1,14) and in some respects also corresponds to the term of plffirwma (Eph 1,23; Kol 1,19; 2,9), had already acquired a historic significance in Judaism. Old biblical conception had seen the place of the Shekhinah in the Tabernacle and later in the Temple. When the Temple was destroyed, the question arose, where the Shekhinah then was. We may hear the answer to it in a song of that time, which says: »Now the sanctuary is denied to me, but my heart possesses the houses of prayer and the houses of learning« (Midrash Cant. 5,2). In this answer the generation after the destruction, obliged to submit to the hard fact that the Temple would not so soon be restored, included also the Shekhinah: »Wherever there is a congregation, there is the Shekhinah.« The word of the Psalm (82,1): »God standeth in the congregation of God« became the text of a mystical sermon. And its theme remained constant in all times of mysticism. The Synagogue and the house of learning rose into the mystic sphere, they became the mystical abode: where they are, there is the Shekhinah, there can man be in the immediate presence of God. Thence this way of mysticism proceeded, on the one hand inwards to the individual, on the other hand outwards to the community, the People. Man himself, the single individual – thus it was said – can be equal to the congregation, and this is a favourite idea of all mysticism. A teacher of that time said: »Where anyone sits, deeply sunk into God’s teachings, there is the Shekhinah« (Abot 3,7), and he had the courage to apply to the individual the word that the Holy Scripture, in the opinion of older teachers, attributed to the sanctuary: »Even there, where I record my name, I will come unto thee and I will bless thee« (Ex 20,24). But no less is the idea upheld that the place and power of mysticism already belonged to the community, to the Jewish People as such. Israel is not only seen as »communio 538

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sanctorum« but as »communio mystica« – as a mystical communion; »Where Israel is, there is the Shekhinah.« The saying was even ventured: »If Israel goes into exile, then the Shekhinah, as it were, goes into exile too.« This doctrine has also had its theory. It was based above all on the term »Zimzum«, the »contraction« of the divine being. What is special – so it is said – does not detract from what is general, the comprehensive. The comprehensive and general »dwells« with all its power in the special; it, as it were, contracts itself therein. The old metaphor for this is : »the ocean remains what it is also when it fills wholly with its waves and its power a cave on its shore« (PesK 2b). Thus is the one God, whose glory fills the world and who embraces the world. An old saying of the Talmud, to which later mysticism likes to refer, says: »God is the abiding of the world, but the world is not His abiding« (Gen. R. 68), thus, too, is the all-embracing God, when His Shekhinah dwells in the sanctuary, or in the Jewish People, or in individual man. These thoughts originate especially with Simon ben Johai, who lived at the time of the Bar-Kochba rising – often are times˙ of catastrophe, times of mysticism. He is also the author of the idea of the Sabbath as the mystical time. He said: on the Sabbath the soul of the Jew is fully liberated, it widens, it becomes »a greater soul«, a »neshamah yeterah«, it is enabled by the Sabbath to receive into itself the divine world that descends, it is enabled to enter into the »unio mystica«. This idea, and, indeed, pre-eminently, was maintained in all later centuries. In ever new pictures did Jewish mysticism describe the dwelling place of God which the Sabbath creates, in ever new songs did it sing of the fulness of the soul which the Sabbath inspires, of the royalty with which it can endow even the humblest. The idea of the Shekhinah and the idea of the Sabbath belong together in Jewish mysticism. But – and this has remained characteristic of Jewish mysticism – inseparable from those two ideas is the idea of the commandment. Jewish mysticism remained ethical. Only to him who fulfils God’s commandments, so it teaches, is the »unio mystica« granted. Whilst outside Judaism mysticism so often means liberation from the will, means to liberate man from his Self, and therefore it is so often indifferent to man’s doing and thus becomes even a-moral and anti-moral, Jewish mysticism affirms the will and the deed, affirms distinctive life and personality. It is the mysticism of the creative human being. Thus God remains for it the personal commanding God. Whilst elsewhere mysticism easily becomes pantheistic or arrives at an Acos539

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mism, Jewish mysticism clings to the God of the Bible, to the God of Creation and revelation, of the Commandment and the promise. It does not teach an absorption and evanescence in God, but an affirmation of, and an integration in, God’s will. Therefore the ideas of the Shekhinah and of the Commandment are here most closely bound up with one another. Only the man of the Commandment can be the man of the Shekhinah, only the pious, the righteous, is fully capable of the »unio mystica«. And this idea is carried to its extreme. If none is just, then the world might be, as it were, without God, devoid of the Shekhinah. The distance between God and the world of man is, so to speak, dependent on man’s doing. The life of the righteous brings God near; the deeds of the evil-doer repel God, remove Him from the world of man. This idea is extended into a mysticism of history. History is the history of the presence or remoteness of God, it is the history of the abode that is given or denied to God on Earth. A sermon of the second century, the subject of which was subsequently often resumed, may illustrate this. It takes its text from the Song of Songs, which was very early interpreted in a mystical sense as a dialogue between God and the community of Israel – God the lover, Israel the spouse. The text is the sentence: »I am come into my garden, my sister, my spouse (5,1).« These words were taken to have been spoken by God when Israel at Mount Sinai had accepted the Law and then erected the Tabernacle. Now it was that God again descended to Earth. Once before had God been on Earth, at the beginning of the days of the first human pair. Adam and Eve had been in the immediateness of God, in the realm of the Shekhinah. When they committed their sin, God was thereby deprived of His dwelling place on earth. God retired to the first Heaven. When subsequently Cain sinned, God retired to the second Heaven. And thus the sins worked on, those of the generation of the Deluge, those of the generation of the Tower of Babel, those of the following generations, until at last God was removed to the farthest, to the seventh Heaven, infinitely far away from Man’s Earth. But then, when the pious men came, Abraham, Isaac, Jacob, and Moses and the People of Israel who embraced the word of God, God was from generation to generation brought again nearer to Earth – from Heaven to Heaven – until at last the Shekhinah could dwell again on Earth, and now God spoke: »I am come into my garden, my sister, my spouse« (PesK 1a). This remained one of the fundamental ideas of Jewish mysticism: The righteous man is the destiny of the world; the task and fulfilment of his life is to bring God to Earth, to give God his dwelling it the world of man. Piety and Shekhinah belong together. 540

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Side by side with this mysticism of God’s descent to man goes that other of man’s ascent to God. Whilst the former could appeal to wider circles, the latter was esoteric. It was this especially that was later called »Qabbalah«, »tradition«, at first handed down only orally and only to the few. The code of the old religious law, the Mishna, which was sanctioned about the year 200, says that about some matters in this mysticism one should only speak in the presence of two and about its ultimate things only in the presence of one, and only if »he is a sage, who understands of himself«, that is to say, if he is one for whom a hint is sufficient. (Hag 2,1.) This mysticism was often looked upon with strong misgivings. The Talmud contains an old story about four great teachers who lived in the first decades of the second century: »Four men entered the ›Pardes‹ (paradise) – i. e. the mystical realm of the immediateness of God – Ben Zoma, Ben Azzai, Aher and Akiba. Ben Zoma beheld and died, Ben Azzai beheld and was˙deranged, Aher – his real name was Elisha ben Abuyah, but subsequently he was˙ called Aher, ›another‹, namely an apostate – hewed off saplings (which is to˙ say, he caused entanglement and apostasy among youth); Akiba entered in peace and went out in peace.« It was also said of this mysticism that it detracted from, and profaned, the glory of God (the dxa); and it was said about those who turned to it that »it would have been better if they had not come into the world«. The apprehensions felt regarding this mysticism may have also been due to the fact that it had early been linked up with thoughts of Plato and Philo about the ascent of the soul. A characteristic example is a sermon of the third century on the text of Genesis 15,5: »The Lord brought Abraham forth abroad«, Abraham here appears as the first of the mystics; he was lifted up »abroad«, that is to say, above the dome of the Heavens, so that he saw the course of the stars below him and he thereby, as it is expressed in that passage, became the first of the Prophets. All this is described in words and pictures similar to those in which Plato’s Phaedros presented the ascension of the soul. In similar manner this mysticism was frequently also linked up with speculative and theosophical thought of the time, wherein it found a main theme in the first chapter of the Book of Ezekiel. It was meant to lead up to the throne, the »merkabah«, to »the appearance of the likeness of the glory of the Lord« (1,18), to introduce into the »hekhalot«, the heavenly halls. In the fifth and sixth centuries this mysticism manifested itself in many writings, in which abstruse elements mingled with poetical, and speculations with hymns of prayer. These are in part documents of ecstasies and visions, of what men in their raptures and transpor541

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tations had actually heard and beheld, but in part also, obviously, mere literature, sometimes in a most affected manner. Already a sentence in the Tosephta – a work parallel to, and not much later than, the Mishna – says: »Many preached about the ›Merkabah‹, and yet they had never heheld it« (Tos. Meg. 228,1). There existed even a certain technique of ecstasy, a »yoga«. The Gaon Hai, who was the head of the School in Pumbedita about the year 1000, reports: »There are ways to behold the Merkabah and the Hekhalot. He who strives after that shall fast during a series of days, then lay his head between his knees and intonate chants that are exactly prescribed. Then he will behold the interior and the heavenly halls as if he were passing from one hall into another and behold all that is therein« (Tesh. Geon. No. 99; ed. Lyck). Genuine and spurious elements often became mingled. Jewish mysticism also combined with a natural philosophy and began to elaborate a fixed terminology. It produced the »Sefer Yez˙irah«, »the Book of the Creation«, probably written in the sixth century in Palestine or its neighbourhood. Its author is unknown (all the old mystical works appeared anonymously); its philosophy and terminology are considerably influenced by Proclus, the last of the great Neoplatonics who exercised a strong influence also on Dionysius Areopagita and through him on Christian mysticism of the Middle Ages. The »Book of Creation« attempts to translate conceptions and terms of Proclus’ philosophy into Biblical language and Biblical pictures. But the most essential elements of this book have their root in the Jewish mysticism preceding it. It is a »Book of Creation« also in the sense that it wants to be the book of the creative man. Thus it shaped the mysticism of cosmic man and thereby exercised a profound influence on the following centuries. It became one of the classic books of Jewish mysticism. The fundamental idea of the book is that man can penetrate to the mystery of creation. For the primary elements through which the Universe was brought into existence by God, are the ten »Sefirot«, the original figures, original letters, original components – this word »Sefira« cannot be adequately translated, for in its sound and structure the Hebrew words for »numeral« and for »writing« as well as the word for »sphere« taken from the Greek mingle together; ambiguity is a frequent trait of mystical diction. The »Sefirot« are the supreme principles. By means of these, and of the letters and numerals – the Hebrew language has the same script-sign for both letters and numerals – the creation was performed, the constant influence of the Deity on the world was set to work and the issue of the many from 542

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the One became possible. Thus, the rule of the triad became established in the Universe, according to which everything proceeds from the cause and ultimaltely returns to it. The multifarious issues both from, and ends in, the Unity. Then – and this is the specifically mystical trait – an approach to God and the cosmos is pointed out to man. In the Sefirot, in the numerals which are at the same time letters, the elementary ways, the laws of nature, find their expression, for the Universe is built of these creative and permanent words. He who knows their structure can therefore penetrate to God, to the core and centre of all. He becomes a cosmic being. One man once had this power: Abraham. He had it – and therein this mysticism too preserves its ethical stamp – because he was the righteous, the pious, because he had embraced God’s command, His covenant. He who becomes like Abraham will have the same power. Through this doctrine of the cosmic pious man and through the doctrine of the Sefirot, the »Book of Creation« exercised a strong influence over a long period in Jewish mysticism. But its doctrine of the letters-numerals found also followers and imitators: through it much that is superficial, bizarre and trifling, much of what is generally called »cabbalistic«, entered the field of Jewish mysticism. An equally momentous place was won by the book »Bahir«, the »Bright Light« (Hi 37,21). Its author, too, is unknown; it appears for the first time in the circle of the mystics in Provence during the thirteenth century. It deals, in obscure sentences and mysterious metaphors, with a sublime subject, the reconciliation and salvation of the world. Its starting point is the thought that there is no radical or final evil in the world. Matter and evil – the book follows here the conception of Plotinus – is only the ultimate recession from the spirit and the good; they can therefore be overcome by a return to the origin. On this foundation quite a peculiar and independent structure is raised. Evil – so the book teaches in conformity with an older Jewish theory – is what is not yet good, what exists in order to be made good by man. It is an integrating part of creation; God has put good and evil – as it is said with a word of Ecclesiastes (7,14) – »the one over against the other«. The principle of the world is the blessing, the »berakhah«, identical with the eternal glory, the original light, with Wisdom and the Torah. He who desires to come close to God must enter into the »berakhah«; he is able to do it, for the blessing is permanent, never interrupted, never ceasing. Our book calls it – a word that since has become a standing term – the »male«, the »full«, the »superabundance«. The world, despite its deficiencies, is preserved by this 543

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overflowing blessing, this everlasting formative source of existence. With this blessing the »Shekhinah« enters into the world. Thus the connection is established between the divine world of existence and perfection and the earthly world of defectiveness. Man’s task begins here: he was created in order to effect, to maintain and broaden this connection. He who truly fulfils God’s commandments, who achieves to become an image of God – like Abraham – can accomplish this, he possesses everything in the end. God »hath set the world in his heart« (Eccl. 3,11), the two worlds are united through him, he has »acquired« God, he is in the »unio mystica«. He makes evil become good. This grandiose cosmic optimism is combined in the book Bahir with the old Israel-mysticism. In Israel God’s commandments have their home: it is the people descending from Abraham, who was a »whole« man, the people to whom the heritage of the whole revelation belongs. Its mission is to create God’s presence, »shekhinah« in the world. On Israel’s destiny the destiny of the world depends. Should this people become a people of sinners, the world would perish; this people’s piety and devotion assure the world’s continuance. Israel therefore will never be abandoned by God, for else God would abandon his world. Israel will ever remain for the sake of fulfilling its task to render perfect this imperfect world. Cosmos, history and religion meet here. History is raised to the cosmic realm; the cosmos is revealed in the domain of history, and both of them are encompassed by the sphere of religion. The dualism of the Gnostics proclaiming the absolutism of evil is thus in a significant manner warded off in Jewish mysticism. The third classical book of Jewish mysticism, also anonymous, is »Sefer Hassidim«, »a book of the pious«. In it the mystical teaching of »the Hasside Ashkenaz« (Germany) is presented. Its most eminent personalities are Jehuda, »the pious« of Regensburg, who lived in the second half of the twelfth century, and his pupil Eleasar of Worms. It is probable that their thoughts above all are contained in this book. This mysticism too arose out of a time of catastrophe, the time of the persecutions connected with the crusades – the crusaders killed Eleasar’s wife and his two daughters. It has its root not in cosmology but in psychology. It is foremost a mysticism of prayer and ascetics and of the power which, by means of both, the spirit gains over the body. Before all thought and above all thought – so this mysticism teaches – stands devoutness, devoutness in prayer and devoutness in action – in Hebrew the word »kavvanah« means both. God Himself cannot be known; yet man can penetrate to God’s Glory, 544

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and become united in God; the »kavvanah« leads him thereunto, for from it sprouts the love of God. »The root of all is the heart.« The inner »unity in man« leads to the unity with God and thereby brings about unity, moral order, and harmony in the world. This mysticism, if one may so define it, is moral mysticism. To purify oneself and thereby others, is the task set by it, to ennoble the character is its goal. It is pre-eminently a mysticism of daily life. Man is here placed by God’s side; he is to become God’s helper, day by day; by a selfless devotion to the fear, the worship, and the love of God he ever anew takes part in forming likeness unto God. The word of the Bible: »let us make man in our image, after our likeness« (Gen 1,26), this word – thus we are taught here – means in its plural form: God and man together create the true man, the man who is God’s image. He who thus becomes God’s helper is in the »unio mystica«. The »Book of the Pious« has decisively influenced the development of Jewish mysticism. Its simple and yet at the same time profound morality has left a lasting impression. This book contains, indeed, other features too, like the belief in spirits and other superstitions wherein it conforms with the spirit of its time, and these beliefs have also found their followers. But the main element contained in it is that of the mysticism of man helping God, which found its continuation in the Hassidism of the eighteenth century. ˙ mentioned works new thoughts were added to the oldIn the three er mystical ideas and welded together in a comprehensive doctrine. Although some of its features were further elaborated, and the connection with the Jewish philosophy of the Middle Ages bore its fruit, and the doctrine of the ten Sefiroth (by means of which the divine power descends to man and man can ascend to the deity) was developed and their character as moral forces distinctly emphasized – yet what was substantial and common to all mysticism had already been laid down in the older literature. Thus the attempt could be made to unite all that up to that time had been expressed in writings and perhaps also in oral tradition and to give to it a decisive new expression. The work in which this was carried out, is the book »Zohar«, i. e. »Brightness« (Ez 8,2; Dan 12,3) – the title evidently purporting to resemble that of the book Bahir – and this book became the canonical book of Jewish mysticism for centuries. Its influence on Jewish thought, feeling, and hopes has been considerable. The »Zohar« appeared anonymously towards the end of the thirteenth century. It originated from the circle of Spanish mystics, who especially cultivated mystical contemplation; its editor was probably 545

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Mosheh ben Shemtob, of Leon in Castille (about 1250–1305). The book contains sermons and commentaries on the Pentateuch interspersed with excerpts from other works. It is like the book Bahir, written partly in the form of ⁄poria, which was peculiar to late antiquity and remained in favour also afterwards, that is to say, in the form of fictitious questions and discussions. These sermons and commentaries are ascribed, as in the book Bahir, to teachers of the second century, especially to Simon ben Johai. In order to keep up ˙ the fiction, the language purports to be Palestinian of the second century, i. e. Aramaic, from which, moreover, something strange and mysterious seems to emanate. What the sentences say is mysterious too, and full of allusions; one could read much out of, and much into, them. Often lack of thought or superficiality could be concealed in the mystical symbolism no less than a wealth of meaning. Alongside with pieces of great poetic power there are dry and barren passages. Everything is found in the Bible; the »soul« of the Bible must be penetrated in order to attain »the soul of the soul«, God. In the »soul of the Bible« is revealed the truth of all life; in it each cosmos becomes manifest, the depth opened and the harmony of the spheres heard. Every biblical word and each word-combination, accent or combination of accents, speak of the last mystery, in which the last truth lies. Owing to its style the Zohar is one of the most extraordinary books, often defying all attempts to translate it. The Zohar is a new book only in its form and style; its contents essentially reproduce what is older. But almost everything in it has an individual tone and often a novel mark, and much in it is the expression of genuine ecstasy and vision. But it shows also some special features. Into the doctrine of the ten Sefirot the doctrine of the ascending sequence of worlds is inserted; worlds influencing each other: the world of »action« and the worlds of »formation« ascending through the world of »creation« to the world of the immediate »effluence of the divine light«. The creative, moral forces – so it is taught here – are opposed, also in a gradation of ten, by the destructive dark forces, the worlds of the »shell« which encompass man. But here too the dualism is overcome; for here too man stands forth as a creative personality, able to transform evil into good. Whilst every sin of man strengthens the dark and evil forces, every good deed takes something away from their power and strengthens the realm of light. Thus the soul of man often wanders between the dark and the bright Sefirot; this view was joined with the concept of metempsychosis which had already made its appearance in the book Bahir. Experiences of the time – it was the period of Jewish distress in France 546

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and England – sometimes seem to find their expression in the »Zohar«. Two subsequent catastrophes caused a further development of mysticism. The first was the expulsion of Jews from Spain and Portugal in the last decade of the fifteenth century. With the Iberian Jews their moods and thoughts wandered from the West to the East. From these a new form of mysticism sprung up which had its centre in Safed in Upper Galilee. Here again we find men of ecstasy and of vision, here again a mystical discipline was taught and learnt – a mysticism attained by meditation and prayer. The theologian of this circle was Mosheh Cordovero (1522–1574), its strong personality Isaak Luria, also called Isaak Ashkenazi, i. e. the »German«, who died young and was revered as a Saint (1535–1572); and its ablest writer was Jesaja Horowitz (1570–1630) who, in his book »Shene luhot ha˘ berit« (The two tablets of the covenant), produced the mystical household book, similar to the »Sefer Hassidim«, for those genera˙ tions. Peculiar to the mysticism of Safed is its apocalyptical-messianic character the mystical-messianic agitation stirred up by Sabbatai Zwi (1626–1676) derived from there. The men of this mysticism were convinced to be standing at the turn of the epochs and they desired to prepare the community for the anticipated coming of the Messiah. Some of them also believed that by a mystical cosmic power they could, by themselves, hasten his coming: not before all souls in Israel had left the world of the »Shells« and approached closer to God would the day of the Messiah come. An essential part of this preparation was the true celebration of the Sabbath. The old idea of the Sabbath as the mystical day led here to far reaching issues; the Sabbath almost became the object of mystical cult. In a similar way the old mysticism of the land was here further developed: only on the soil of the land of Israel would mysticism find its ultimate fulfilment; the way to the land of Israel was the way to the complete nearness of God. It was in accordance with this apocalyptical trend that a mysticism of history took hold of the spirits. Periods of history were conceived to be at the same time cosmic periods: periods of the world’s process governed by the rhythmical law of »egressus« and »regressus« (»histalqut« and »hitpashtut«), of »going forth« and »returning to the centre«. This mysticism, in which excitement and quietude remarkably mingled, soon spread from Safed everywhere, especially to Italy, Germany, and Poland. The last great period of Jewish mysticism, Hassidism, is linked up with it in time as well as in thought. It was ˙ 547

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born too from the mood of a time – of a catastrophe. The Jews of the country, in which it arose, the Ukraine, had been stricken down by the revolt of the Cossacks (1649–1651), which was directed against the Polish rulers and the Catholic clergy, but the victims of which, more than anybody else, were the Jews. The question of a new life agitated many a mind. Hassidism meant to offer that new life. ˙ of Miedzyboz (1699–1760), called Israel Its founder was Israel »Baal-Shem«, that is: »the man who knows how to invoke the divine name.« He was a man of a natural religious genius, of a genuine simple power. What he said attained its significance by the manner in which he said it and by the fact that he had said it. His mysticism, similar to that of Isaak Luria, is in the first instance one of mystical personality. He found disciples who believed in him; they wrote down his words and continued his work. He lived in the ideas and conceptions of the mysticism before him, but it all became new through him. He had his visions too; he believed in the »mystery of the ascent of the soul to God« (aliyat hanneshamah) and he believed that he heard words spoken to him there. But first of all he believed in the new life which mystical knowledge was to start. He wanted to create pious Jews, Hassidim. His fundamental ˙idea is that of an incessant continuation of creation and revelation. Therefore – so he taught – God is in everything that exists; nothing is without God, nothing is outside His oneness. Nothing, therefore, is profane, nothing and nobody is quite evil; in all beings there is something of the divine. It is the task of the pious, the »Hassid«, to recognize the Creator in the creature, or – as he ex˙ it – »in the presence of any being to gaze upon the countepressed nance of God who is present in all beings«. If man is capable of that, he becomes capable of the highest, of the »unifying«; he is then able to »unite« God on high and the divine in the beings below and to perform the work of salvation. In order to recognize the Creator in the creation man must first attain the »unio mystica«. The gate to it is opened by prayer and by that devoutness in which all thoughts, all feelings, all desires are centred upon, and »united« in, the one God. In prayer everything separating man from God sinks into nothing. Prayer bestows on man the three great possessions: humility, joy and devoutness. Joy above all is emphasized here: there is none other but a joyous piety. The man who fully achieves this is the truly pious; he is the »Zad˙ diq«, the »righteous«. Wherever he is, there is revelation, there is Shekhinah; law and commandment and love have become incarnated in him. Only where he is – and where he is is the centre – can a com548

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munity be. The old word »Zaddiq« in the passage of Proverbs (10,25): ˙ »The righteous is the foundation of the world,« received now the meaning of the »mystical personality«. The Zaddiq bears all, in him ˙ him, is also nearer to lies the connection with God. Who is near to God. Hassidism possessed in this conception of the Zaddiq a strong ˙ power,˙ especially for fostering the growth of pious communities, but owing to this same idea it often also decayed. Not every one who was called a Zaddiq was a Zaddiq. In some who were thus styled there ˙ was more˙ mystical semblance than mystical truth. Hassidism stood ˙ and fell with the mystical personality. Hassidism is so far the last mystical movement in Judaism. It was a ˙ popular movement, as no previous form of mysticism had been; it spoke the language of the people as none had done before, and it found its way to the heart of the plain and simple man. In the territories where the masses of Jews lived great numbers took it up, and one generation after another remained faithful to it. With its personalities and its teaching, with its joyous and festive disposition, its inclination for true and animated song, with its mysticism of the fellow-men and the fellow-creature, of the nearness of God and the Messianic time it has given much to many and has in the grave days bestowed upon them an inner happiness and assurance. Through the thinker Zalman Schnerson (1747-1812) it subsequently became linked up with philosophy in a peculiar mystical system. After him there were still some single mystics with ideas of their own, the last of whom was Elijah Benamozegh of Leghorn (1823-1900) who in a very impressive manner built up a mysticism of Israel on a mysticism of mankind. But these thinkers stood isolated with their ideas. Jewish scholars of the past century mostly questioned mysticism. They witnessed a decline of Hassidism, they saw much of it that was ˙ shallow surface, and they were also influenced by the rationalistic trend of the times. Not till the present century has the understanding of the peculiarity and significance of Jewish mysticism become again more alive. There is no doubt that much can be found in this mysticism that is mere speculation, and much that consists of mere words without a definite content, much too that may lead to credulity or superstition, and much that appears as mere trifling. So far the critical attitude of the nineteenth century was justified. But looking at the whole of this mysticism and into its depth, a different picture reveals itself. This mysticism, as we see it, has given to Judaism a great deal. It has always kept alive the sense of the mysterious, the non-rational; it has always aroused the sense of the infinite 549

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and eternal, and thereby ever stimulated piety and prayer; it has preserved religion from spending itself in the world below. It has helped to unite the commandment of each hour with the whole of individual life and of all human life, with the whole of the world – the world both of the distinct and of the hidden; and yet at the same time it has required that this commandment be fulfilled in all positiveness and on the spot, that neither its hour be deferred nor its place be shifted. It has always wanted to keep alive the sense of the seriousness of the Holy Scripture, of the seriousness of all holiness, and filled with intensity the challenge to man to create the abode on earth for the Kingdom of God. It has endeavoured to lift the wide realm of statutes and customs into a spiritual sphere and imbue the daily round with spiritual meaning; it spiritualized the Sabbath and it emphasized that a life without the Sabbath is a life without the best of the soul. It implanted the messianic idea and the messianic demand into the life of every individual and thereby linked the remote future with the present hour, it united the messianic idea with the commandment and with the Sabbath and made them all blossom into the great confidence, the great »thou shalt hope!«, the messianic patience and the patient messianism. It has contributed in giving the Jew in all narrowness the breadth of horizon and in all pressure the loftiness of thought. It has helped to lead man towards a world of light – light, brightness, ray, are the favourite words of this mysticism, longing and fulfilment speak in them. And this mysticism has contributed its part also to the great world of religion. In it notes have been sounded which could be heard nowhere else, notes in which true hope, true conviction, true piety reveal themselves. Its voice is still well worth being listened to.

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Mit diesem Text ehrt Baeck nicht nur Mordecai Kaplan, er bietet zugleich Einblick in seine Grundüberzeugungen bezüglich eines Wissenschaftsbereiches, der ihn stets interessierte und eine wichtige Quelle seines Denkens war: der vergleichenden Religionswissenschaft. Baeck zeigt hier wiederum, wie das Spezifische und Besondere so gedacht und festgehalten werden kann, daß es nicht gegen das Andere, Fremde ausgespielt oder in Stellung gebracht werden muß. Grundsätze der Humanität.

The comparative study of religions originates in a recent period. Throughout the Middle Ages and after, the point of view in all matters regarding religion was essentially dogmatic – that is to say, a classification was made and judgment was passed, almost always with reference to three decisive dogmatic assumptions: »believing«, »unbelieving« and »heretical«. It was only in the last century that scholars began to view and to compare religions from a non-dogmatic, a scientific standpoint, say from an ethical, sociological or psychological point of view, and to try to discover a principle of methodical arrangement of the manifold religions. Indeed, already in the eighteenth century, a non-dogmatic outlook had begun to emerge. In those days, when the horizon had enlarged more and more, when educated people began to concern themselves with exotic frames of mind, when European writers were fond of introducing a fictitious gentleman, generally from Persia, India, or China, in order that he might probe into the civilization and culture of Europe, people began, moreover, to become enthusiastic about re-

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Entnommen aus der Festschrift für Mordecai Kaplan, New York 1953, 1-7.

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mote fields of religion. There was also a comforting evasion involved. One disliked one’s own religious inheritance and also the faith of one’s neighbour and yet, at the same time, one did not wish to have the appearance of following no religion. Consequently, one delighted in a religion, fortunately so far removed from the scene that it could not make immediate demands on anyone there in Europe. Nevertheless, this unbelieving affection for distant spiritual life pioneered well in arousing interest; it paved the way to scholarly work, to a scientific aim, and very soon indeed, in the first third of the nineteenth century, one of the greatest philosophers, Hegel – a father in philosophy with children most unlike one another – constructed an ascending system of the different manifold religions, culminating in one form of religion which he called absolute religion, and which was to be the universal religion. And his children – the reactionaries as well as the radicals – did the same. They also built up systems of religions, arrangements of the manifoldness of religions, and they also proclaimed their own »absolute religion«. However, they brought about a deep interest in comparing different religions and, in the following generations, the science of the comparative history of religions – a really scientific work – developed. This science had, in those days, two centers: the one in Oxford formed by Frederick Max Müller, who gave the science a broad outlook, gave it, so to speak, an »empire trend«, and the other center at Leyden in Holland, established by Abraham Kuenen. In Holland – the land which, about the end of the seventeenth century, the great French critic Pierre Bayle called l’arche des fugitifs, »the ark of the refugees« – where for a long time a man who, for religious reasons, had fled his own country, could take asylum and think independently, in one Ark with other independent people, all able to learn to »agree to differ«. It was this Abraham Kuenen who, in his Hibbert Lectures of 1882, made the two terms »national« and »universal« religion the instruments of his research, terms to be used to characterize historic religions and to mark an essential trait. He was not the first who made use of these denotations but, since his time and through his work they have become scientific implements in the knowledge of comparative religions. What does this term »national« mean in connection with religion? What is a »national« religion? Every religion at first was a national religion in the sense that every religion grew up and developed first within the compass of a distinct region, within the sphere of a people. 552

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Thus, everywhere religion was »national« religion, religion domiciled on a specific ground, in the territory of a race or a nation. Religion also has its original geography. Only when the boundaries of a people were enlarged, when, for instance, the kings of Central Egypt began to conquer the North of Egypt, when the kings of Babylon and, later, the kings of Persia began to subdue other lands, did religion also pass the bounds of the territory in which it had grown up. The most striking example is the history of the Greek religion since the days of Alexander the Great. When Alexander the Great conquered the Near East and then Old Persia and a part of India, and when he conquered Egypt, the Greek religion, too, crossed the boundaries. In the empire, the Greek religion became an empire religion, that is to say it became a broad manner of worship, a general kind of doctrine in all the lands conquered by Alexander the Great and ruled over by his successors. But an empire-religion is not yet a universal religion; it is merely national religion expanded. The only substantial consequence would be the so-called syncretism, that is the coalescence of different forms of adoration, mythology and mysticism within that large realm. Syncretism, however, does not signify »universal« religion. But perhaps there is, for our purposes, a more fruitful conception of the term »national«. »National« could mean the specific character shown by some nation, i. e. the specific manner of thinking, feeling and hoping to this or that nation. A »national« religion would then mean a religion showing this distinct mentality, this peculiar frame of mind. But should this definition be accepted? First one must note that every religion does throughout and everywhere reflect, every one, without exception, this national element. That is to say, any religion national or universal, may be extended over many territories, but in each territory it now reveals the character of this territory as well. To give an example: the Roman Catholic Church is a firm empire of religion, comprising many, many countries, but in every country Roman Catholicism shows the specific traits of that country. In many a respect Spanish Catholicism differs from English Catholicism, French Catholicism from German or Austrian Catholicism and, on the same continent, Catholicism in the United States differs from Roman Catholicism in Mexico. The dogma is one and the same, the doctrines and the system are the same but, nevertheless, the whole of Roman Catholicism is, so to speak, a composition of distinctive national forms and shapes of Catholic religion. In the same way Mexico is unlike the United States, Spain is unlike Germany or England, 553

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so Roman Catholicism in Spain and Spanish America is unlike Catholicism in other countries. And in the same manner, Scotch Calvinism is different from Swiss Calvinism, Buddhism in Ceylon is different from Buddhism in Japan, Islam in Central Arabia is different from Islam in Syria. This applies to Judaism also. Orthodox Judaism in old Russia, and Orthodox Judaism in Britain or in America are quite dissimilar. Judaism also shows this compound, this composite of different national Judaisms. Always the religions comprising people in many lands are composed of a compound of distinguishable national religions, sharing in one and the same creed and worship but, nevertheless, being national in many a respect. Therefore it is not possible to make use of this concept »national« to denote only one group of religions. All religions somehow show the national trend, the trait, the character of the territory, of the people in whose midst they are established or domiciled. The blood of the country circulates in any religious body. All religions show it. Therefore, it seems that this term »national« is not a correct and suitable term for the classification of religions. Now what would be a true arrangement, a true method of classification? It seems that perhaps one could arrive at an answer without starting off from the terms »nation« and »national«, but rather from the term »the State«. Culture and civilization begin with, and seem to be conditioned on, the existence of the State. When Aristotle attempted to define the human being, he therefore said that the human being is a political being, a zoon politikon – that is to say that man as he is in this world can develop only in the framework of a State, can really live only within the construction of a State. Man, so he thought, is destined to live within the structure of a State. Is Aristotle right? Most people will affirm it. Some may add: perhaps when the days of the Messiah come, men will no longer be »political« beings, in Aristotle’s sense of the word. But until those days, human history, – this series of evolutions and revolutions, developments and endeavours of mankind – cannot apparently be considered without the State. The history of human thought shows that very diverse judgment had been passed on the State. In England, some centuries ago, Thomas Hobbes called the State »the Leviathan«. the big fish that swallows and devours all the little fishes. In Russia, Tolstoi asserted that the State cannot but do wrong, indeed the State is the very embodiment of wrong-doing, because the State, by its very nature, is unable to act in any other way. In the Roman world, Augustine regarded the 554

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State as a typical evil, but, in this world of original sin, a necessary and indispensable one. There are as many and various answers as there are philosophers contemplating the State. Yet, for all that, most people will, like Plato, think that the State means a great possibility, or perhaps the only possibility, of bringing about the common welfare. And history seemingly proves it. Here we see the point of view from which a classification of religions can be achieved. Perhaps the State is not »the Leviathan«, not the »indispensable evil«, not the »wrong-doing body«. But, in any event, the State is and must be, in its sphere – and we all exist in this sphere – a kind of last resort, last instance, last answer. And here religion and State can and must confront one another. He who knows the history of the two peoples who were representative of spiritual endeavour in the ancient world, the Greeks and the Israelites, becomes aware that the history of religious thought both then and now signifies a struggle between reason of State and demand of religion. A few examples as to Greece: The tragedy of Sophocles’ Antigone could have the title »Man between the deity and the State«. The State or God – this is the problem here. The trial of Socrates could be called »the trial of State versus religion«, reason of State versus religious conscience. Or he who reads Plato’s books on the State, the stern book The Republic or the compromising book The Laws, hears the voice of the same problem. When the Stoic philosopher, Chrysippus, wished to replace Aristotle’s definition of the human being as a political being, with his definition of man as the zoon koinonikon, the universal being, he sounds the same opposition to the State. Or when Augustine wrote his book »The City of God«, Civitas Dei, he wished to contrast its truth with the civitas terrena, »the earthly city«, the State. We are faced with the same question within the history of Israel. Only a few words are necessary here. The second part of our Bible, which is superscribed Nebiim – Prophets – could also be superscribed »Prophets versus State«. Similarly does that movement which is so often mistaken and misunderstood, the movement of Pharisaism, or Jewish methodism, show in a great measure the same trend, »religion versus reason of State«. There should be no mistake: the Prophets and the Pharisees, and similarly the Greek philosophers, did not reject their State, nor did they proclaim rebellion, they did not preach disloyalty. On the contrary, they were the most loyal citizens. They wanted to help the State, and they prayed for its place and peace. They wished to be faithful servants of the State. But they were aware that the history of 555

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mankind is a struggle between ideas and interests and, should the State take the side of interests – and generally it did so – the prophets, the philosophers, the religious people, the thinking people, must oppose this way. One could say that religion, true religion, has to be the ferment in the body of the State, the leaven in the history of nations. That involves something more than a difference in method or in policy. The State is based on the principle: »wait and see«, the principle of religion is »here and now«. The State always thinks provisorily; religion wants to think definitively. The State must abhor frequent change; religion must always look for the next step, the advance towards the establishment of the Kingdom of God. The State must mostly do with remaining the same as it is, remaining so at least for a long time. Among a Greek people, the Lokrians, there was the ingenious rule that he who wished to move for altering the constitution of the State, had to do it with a good rope around his neck, from which he would be hanged if his motion was not carried. A strange usage, but, it seems fraught with meaning. Religion’s principle is quite another one. Always it must prepare, and has to prepare, the world for change, in order to be better, in order to approach nearer to the Kingdom of God. The State mostly has, true religion never has, a good conscience. Here we see the difference between religions, and it is a difference in principle: in the principle of what is the supreme and the steady and the last resort and instance, whether a religion abides by the reason of State, this demon of the State, as a historian called it, or the divine reason, the one and universal commandment of God. Here the ways of religions part. There were, and are, religions, or periods in the life of religions, where religion has acknowledged the interest of the State submitting to, or compromising on, the reason of State, and was silent or even silencing when facing wrong. Such religion is, or was at that time, not a universal religion, but merely a political one, solely a territorial one, a national one. Only when resort is made constantly to that which belongs to the command of God, be it to side with or to oppose and resist hereby the State, only then a religion is and remains a universal, a genuinely human religion. The universal and the political – this is the distinction. Again there should not be any mistake. Religion is not against the State. Setting itself against the State, it is backing the State, the right State against the State doing wrong. Nor is there a real question whether or not a religious body may be subventioned by the State. There could be a disestablished church which is a political one, and 556

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there could be an established church which is universal. Nor is the point how great the number of people who adhere to a faith or confession. Not the quantity, but the quality matters here. There can be a creed professed by the very many in many a land, without it being universal, and there can be a religion the followers of which are the few, yet it is truly a universal religion. This is a real division extending through the world of religions. On the one hand is the religion of which every last decision is determined to proclaim the one will of God; that is the universal religion. On the other hand is the faith which in crucial hours tries to evade God, wavering between His clear command and the biased interest of the State or some State within the State; this is a political religion and thus merely a national and territorial one. Elijah, in his time, had already put this alternative before his people. And now we can also understand the character of our Jewish religion. Our Jewish religion entered into the world as a spiritual revolution. That is to say, as a strong new principle: the principle of never compromising, of steadfastly opposing the multifarious devices. It is the principle of the One God, whom man is to love with the whole of his heart, with the whole of his soul and with the whole of his might, so that for him God remains the last answer, the last instance, the last resort. As long as Judaism remains thus it will be a universal religion in the lasting history of mankind. Today Judaism must again stand this test, and in the manner of ancient days rather than in the way of more recent centuries. Now on the old holy soil there is the State of Israel. Where there is a State, there may appear the head of that demon of State interest, of the reason of State. Thus it shall be shown whether there too, and there foremost, Judaism proves to be universal religion. Contemplating in this way universal religion we should never lose sight of our religion’s character. We can aim at religion but in a religious manner – this is, or should be, Jewish religiousness. There is a deep significance in how both the old Greek and the old Aramaic versions of the Bible render the verse Deut. 16:20 that usually is translated: »Justice, Justice shalt thou follow.« They render it: »Righteously shalt thou follow the right.« Even this depends upon man and man’s way, upon his genuine individuality, his creative personality. Religious truth can never be accepted; somehow it must be created by man. There will be as much justice as there are just men, as much piety as there are pious men; we require individualities that are ready to create all this. There will be as much universality as there are men who are, and remain, universal in their thinking, hoping 557

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and believing. Universal religion is conditioned upon personalities through whom universal religion becomes a human actuality. This is one of Dr. Kaplan’s finest achievements. He made himself a universal personality.