210 60 1MB
German Pages 374 Year 2019
Herausgegeben von Albert H. Friedlander (London) † Bertold Klappert (Wuppertal), Werner Licharz (Frankfurt a.M.), Michael A. Meyer (Cincinnati/Ohio), im Auftrag des Leo Baeck Instituts, New York Die Herausgeber danken Marianne C. Dreyfus, James N. Dreyfus und Richard B. Dreyfus für die Erlaubnis, Leo Baecks Werke wieder im Druck erscheinen zu lassen.
Band 1 Das Wesen des Judentums Band 2 Dieses Volk Band 3 Wege im Judentum Band 4 Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte Band 5 Schriften aus der Nachkriegszeit Band 6 Briefe, Reden, Persönliches
Gütersloher Verlagshaus
Band 2
Dieses Volk Jüdische Existenz Herausgegeben von Albert H. Friedlander (†) und Bertold Klappert
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 1996 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Umschlagfoto: Leo Baeck Institut, New York Satz: Weserdruckerei Rolf Oesselmann GmbH, Stolzenau ISBN 978-3-641-24843-7 www.gtvh.de
DEM LEBEN UND ANDENKEN MEINER FRAU!
»... dieses Volk, das Ich Mir gebildet habe, Meinen Ruhm wird es künden.« (Jesaja 43,21)
5
Inhalt
Vorwort der Herausgeber .............................................................
9
Der Midrasch aus Theresienstadt und das Testament Leo Baecks Albert H. Friedlander und Bertold Klappert .............................
10
ERSTES BUCH
I. II. III. IV.
Vorwort zum ersten Buch ................................................... Der Bund .............................................................................. Der Auszug ........................................................................... Die Offenbarung .................................................................. Wüste und Boden .................................................................
33 35 54 79 119
ZWEITES BUCH
I.. II. III. IV. V.
Vorwort zum zweiten Buch ................................................. Wachstum und Wiedergeburt ............................................. Der Weg und der Trost ........................................................ Beten und Lernen ................................................................ Das Reich Gottes .................................................................. Die Hoffnung ........................................................................
7
155 157 189 217 238 275
8
Vorwort
Dieses Volk ist das letzte Werk aus der Feder von Leo Baecks. Zugleich ist es eines seiner theologisch spannendsten Schriften. Baeck begann 1940 mit der Arbeit zu diesem Buch, arbeitete weiter im Konzentrationslager daran, während der Befreiung und auch noch danach. Diese lange Entstehungszeit macht aus diesem Buch ein aktuelles existentielles Zeugnis dieser Zeit. Mit diesem Buch wollen, wir, die Herausgeber, die Leo Baeck Werke beginnen. Mit dem letzten Werk anzufangen war dabei nicht nur eine programatische Entscheidung. Dieses Volk ist seit langem vergriffen und wird nun wieder einem interessierten Leserinnenund Leserkreis zugeführt werden. Diese Neuausgabe und der damit verbundene Start der Werkausgabe von Leo Baecks Schriften wäre nicht möglich gewesen, ohne die Unterstützung des Leo Baeck Institutes und des Gütersloher Verlagshauses. Wir, die Herausgeber, möchten uns herzlich bedanken bei all denen, deren Hilfe für uns wichtig war. Wir danken Jochen Denker und Anne Gidion aus Wuppertal, Dr. Angela Standhartinger und Dagmar Kasperczyk, den Mitarbeiterinnen der Martin-BuberStiftungsgastprofessur am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt a.M. Dieser erste Band der neuen Werkausgabe hätte schließlich nicht erscheinen können, ohne die freundliche Lizenzgabe der Europäischen Verlagsantalt, bei der dieses Buch vor mehr als 40 Jahren erschienen ist. Albert H. Friedlander Bertold Klappert
Werner Licharz Michael A. Meyer
9
Der Midrasch aus Theresienstadt und das Testament des Leo Baeck
I.
40 Jahre nach dem Tod Leo Baecks begegnen wir diesem wichtigen Lehrer des europäischen Judentums überall in der Welt. Das Leo Baeck Institut in New York, London und Jerusalem; das Leo Baeck College in London; die Leo Baeck B’nai Brith Logen in vielen Ländern; die Leo Baeck Schule in Haifa; die Synagogen, Heime, und Lehrhallen, die seinen Namen tragen, das alles zeugt von ihm und von seinem Einfluß. Baeck bleibt das Paradigma des deutschen Judentums im 20. Jahrhundert. Wir haben uns entschlossen, Dieses Volk in der Werkausgabe als erstes erscheinen zu lassen, selbst wenn es als Band 2 der Werkausgabe veröffentlicht wird: Erstens, weil dieses längst vergriffene und fast unbekannte Buch die neuen Leser unmittelbar in die Lehre und in das Leben Baecks einführt. Zweitens, weil es ein Testament des deutschen Judentums ist, in dem sich das Wesen und die Existenz dieses Judentums noch einmal manifestiert. Da wir diesen Band auch als Einführungsband in das Gesamtwerk Leo Baecks verstehen, erscheint es uns als angemessen, einige Momente im Leben und Werk dieser bedeutenden Gestalt des deutschen Judentums zu skizzieren. Leo Baeck (1873 - 1956) stammte aus einer rabbinischen Familie. Sein Vater Samuel Bäck, der Rabbiner in Leos Geburtsstadt Lissa (in Posen), war sein erster Lehrer. Leo Baeck wuchs so in eine Welt des Talmuds und der Tradition hinein. Dies wird auch in seinen Schriften deutlich, wo er besonders im Midrasch, der mehr poetischen, dichtenden Behandlung der Bibel, seine großen Fähigkeiten zeigen konnte. Auch seine Arbeit auf dem Gebiet der Mystik fand Anerkennung. Durch die Ausbildung als Rabbiner im Breslauer Rabbi-
10
nerseminar und anschließend in der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin wurde ihm das liberale Reformjudentum nahegebracht. Seine Dissertation über Spinoza an der Berliner Universität, unter dem Einfluß Wilhelm Diltheys, belegt die intensive Beziehung dieses großen jüdischen Gelehrten zur europäischen Kultur. Baecks erstes Meisterwerk, Das Wesen des Judentums (1905), war eine direkte Antwort auf Adolf von Harnacks Wesen des Christentums (1900). Obgleich er das Buch Harnacks nicht erwähnte, ist und blieb Baecks Einleitung in das Judentum gegen die Harnacksche Bestimmung des Christentums profiliert. Später, in einem anderen Text, sprach Baeck von der romantischen Religion, die im Christentum sichtbar werde, im Vergleich zu der klassischen Religion, die für ihn das Judentum repäsentierte. Bis heute gilt Das Wesen des Judentums (1905) als eine der besten Darstellungen des Judentums. Es war Baecks erstes Buch. Sein letztes Buch, Dieses Volk: Jüdische Existenz, I. Buch 1955, II. Buch 1957 ist als ein Testament zu verstehen, aber auch als die Vollendung dieses Anfangs. Baeck wurde in der schwersten Zeit des jüdischen Lebens in Deutschland, im Jahre 1933, zum Leiter der deutschen Juden gewählt. Er war der liberale Gemeinderabbiner Berlins und Präsident verschiedener jüdischer Vereine und Gruppen. Trotzdem hätte man sicher weit berühmtere Menschen wählen können: Nobelpreisträger, Politiker, Diplomaten; aber man wußte, daß die moralische Autorität dieses Rabbiners wichtiger war. Und so kämpfte Baeck für seine Gemeinde – die Juden Deutschlands – und weigerte sich, zu fliehen. Noch im August 1939 brachte er eine Gruppe Kinder nach London; und er beeilte sich, nach Deutschland zurückzukommen, ehe die Grenzen möglicherweise geschlossen werden konnten. Heute, nach der Öffnung der Archive der SS, finden wir die Dokumente des schrecklichen Versuchs dieser kriminellen Regierung, das Judentum vollständig auszulöschen und sich damit auch noch zu rühmen: Das Prager Museum z.B., sollte nach den Plänen der SS die zerstörte Welt der Juden zum Ruhm der Nazis dokumentieren. Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland (1933), in die Baeck von den Gemeinden gewählt wurde, wurde unter großem Druck von »oben« in eine Reichsvereinigung (1938) umgenannt und hierarchisch strukturiert; aber Baeck blieb standhaft. Auch seine Schule, die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, wurde von den Nazis bis 1942 offen gehalten. Herbert Strauss, einer der letzten Schüler Baecks, schrieb: »Die Vermutung liegt nahe, daß die Hochschule mit dem jüdischen Schulsystem offen gehalten wurde, um jene gespenstische Politik
11
der Scheinnormalität zu verfolgen, die die jüdische Gemeinschaft bis zu ihrer Vernichtung über ihr Schicksal täuschen sollte.«1 Auch Baecks wissenschaftliche Arbeit wurde von der Gestapo überprüft; zu welchem Zweck ist unbekannt. Daß Baeck sich davon nicht beirren ließ, dem Judentum und sich selbst treu blieb, beweist jede seiner Schriften – und auch sein Leben. Anfang 1943 wurde er von der Gestapo verschleppt und in das Konzentrationslager/Ghetto Theresienstadt gebracht, wo er eigentlich umkommen sollte. Damit kommen wir zu Baecks »Testament«: Dieses Volk.2 Als Leo Baeck nach Theresienstadt kam, befanden sich ungefähr 47.000 Juden im Lager. Die Hälfte von ihnen war unter sechzig Jahre alt, die übrigen waren älter und zum Teil sehr geschwächt. Der Gefangene Baeck erhielt die Nummer 187984. Er wurde einer Arbeitsgruppe zugeteilt, mußte einen Wagen durch das Lager ziehen und Abfälle einsammeln. Nach seinem siebzigsten Geburtstag wur1. Herbert A. Strauss »Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, Berlin; 1936-1942« in: Julius Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Judentums: Anfänge der Judaistik in Europa, Darmstadt 1992, 40. 2. Baeck berichtet, daß die ersten Seiten nicht im Lager geschrieben wurden, aber auch in einer gefährlichen, schwierigen Zeit. Und in der Tat existiert ein getipptes Manuskript im Archiv des LBI, das von Dr. Hans Hasse von Veltheim in der folgenden Weise überschrieben wurde: »Dies ist die letzte Arbeit, das letzte Manuskript, welches Dr. Leo Baeck von 1941 bis Januar 1943 schrieb. Weil ich den Verfasser über 20 Jahre kenne, übernahm ich gerne den Auftrag, das Manuskript aufzubewahren.« Viel von diesem ersten Text ist in das Buch eingegangen. Aber selbst in den ersten Kapiteln finden sich so viele Veränderungen und Zusätze, daß daraus schon im KZ ein neues Buch wurde. Der erste Absatz bleibt fast derselbe, aber danach geht der Text im Lager seinen eigenen Weg. Zur Illustration sei eine Passage zitiert: »Jedes Volk, in seiner Jugend zumal, will die Kunde von seinem Anfang besitzen, es erzählt und dichtet von ihm. Aber ein Einmaliges unter allen ist, daß ein Volk seinen Ursprung, seinen Grund im Grunde des Alls gefunden hat, daß ein aus dem Bereiche des Ewigen Kommendes, die Offenbarung des Einen sein Auftrag zu ihm von seiner Geburt und seinem Werden redet, ihm die Bedingungen und das Ziel seiner Geschichte verkündet. Unter allen hat allein das israelitische Volk es in seiner Frühe so erlebt und für die Dauer bewahrt.« Die Zusätze und Veränderungen in diesem Text sind von Bedeutung. Zum Beispiel: »manch ein Volk will den Göttern und Helden entstammen« könnte sich auf dieser Zeit der wiedergefundenen germanischen Mythen beziehen. Aus dem ›Ursprung‹ wird jetzt der ›besondere Ursprung‹ gegeben, ein Partikularismus der dann auch den Universalismus des ›Grundes des Alls‹ umfaßt. Ohne alle Veränderungen nennen zu müssen, wird bereits hier klar, daß der Theresienstadt-Text, auch durch die Umgebung bestimmt, etwas ganz Außerordentliches wird. Probleme wirft auch die in den verschiedenen Phasen des Textes benutzte Begrifflichkeit auf. Im KZ schreibt Baeck einmal »der Gott der Rache«. Im zweiten Buch wird daraus »der Gott der Vergeltung« vielleicht eine besseres Formulierung. Dennoch, da »Rache« die Wortwahl im KZ war, mußte es so bleiben, als Zeugnis der Nacht. Midrasch als geistiger Widerstand zeigt sich als aus dieser Zeit geboren.
12
de er von dieser Arbeit ›befreit‹. Später übernahm er die Verantwortung für die sozialen Dienste im Lager. Im Blick auf seine Stellung sollte er zum Ehrenpräsident des Ältestenrates ernannt werden. Aber solch ein Amt wollte er jetzt nicht mehr. Es gab andere, die solche Aufgaben auf sich nahmen. Er wollte jetzt mehr Seelsorger sein, Kranke besuchen, einfach wieder ein Rabbiner sein. Baeck betrachtete alle im Lager als seine Gemeinde. Nach seiner Befreiung 1945, schrieb er auch über das Leben im Lager. Er betrachtete die Leidenden und erkannte in ihnen die »jüdische Seele«: »Einer der eigentümlichen Züge des jüdischen Wesens und des jüdischen Genies ist die Verbindung von Phantasie und Geduld. ...(D)ie lebende Vereinigung beider, die gegenseitige Durchdringung von Spannkraft und Vision ist ein Charakteristisches der jüdischen Seele. Es liegt darin einer der Gründe dafür, daß dieses Volk immer weitergelebt hat und immer weiterleben kann.«3 »Phantasie und Geduld« beschreibt die Widerstandskraft der Gefangenen, das Innere, welches sich gegen die düstere Umwelt behaupten mußte. Aber was für eine Welt war Theresienstadt? Was war das erste, das der empfand, der dort eintrat? Wenn er durch das Festungstor zwischen den Bastionen und Wällen hineingetrieben war, dann war ein Tor des Schicksals, vielleicht für immer, hinter ihm zugetan. Er war eingeschlossen. Und drinnen war er noch besonders abgeschlossen; ein Teil der Festungsstadt, der bessere und gesündere, war als Gebiet der SS abgetrennt. In einem Raume, der vorher in militärischer Enge kaum 3 000 Menschen hätte beherbergen sollen, waren hier oft fast 45 000; zusammengepfercht. Aber den Straßen war, wenn die Sonne schien, der dicke Staub, den die hohen Wälle nicht hinausließen, und wenn der Regen oder der Schnee gefallen war, der tiefe, zähe Schmutz, der täglich zu wachsen schien. Und von überall her kam das Ungeziefer, das große Heer der Kriechenden, Springenden, Fliegenden, das gegen das große Heer der Gehenden, Sitzenden, Liegenden auszog, der Krieg dieser kleinen hungrigen Tiere gegen die hungernden Menschen – ein stündlicher Kampf bei Tag und bei Nacht. Monat um Monat, vielleicht Jahr um Jahr, sollte das nun die Welt sein. (ibid). Später, in einem Geleitwort zu H. G. Adlers Theresientstadt: 19411945, beschrieb Baeck dieses teuflische Experiment, welches immer mehr Menschen dem Hungern und Sterben preisgab, damit jede Anständigkeit verkümmern sollte. Man hoffte, Juden aus verschie3. Zitiert aus Baecks Artikel, »Leben in einem Lager« aus dem Jahre 1946, jetzt im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York.
13
denen Kulturen, Ländern und Sprachen gegeneinander hetzen zu können. Namen wurden durch Nummern verdrängt: »Das war der geistige Kampf, den jedermann führen mußte, in sich selbst und in seinem Nächsten einen Menschen und nicht nur eine Transportnummer zu sehen. Dies war der Kampf um den Namen, um den eigenen und um den des Nächsten, der Kampf um Individualität, um sein eigenes und des Nächsten geheimes Wesen. Vieles, vielleicht alles, hing davon ab, ob man diese Prüfung bestand, daß das Individuum im Menschen als Individuum lebendig blieb; und das Individuum in seinem Nächsten weiterhin erkannte.«4 Adler und andere zuverlässige Zeugen haben glaubhaft berichtet, wie dieser geistige Widerstand Leo Baecks eine »Leuchte in der Dunkelheit« war. Baeck wurde auch angegriffen. Die Tatsache, daß er auch ein Pastor für die Christen im KZ war (nur eine jüdische Großmutter genügte, um einem unglücklichen Christen Eintritt in Therensienstadt zu verschaffen), wurde von einigen Rabbinern kritisiert. Manches blieb bis heute strittig. Als Baecks Verdacht, daß die Transporte nach Osten zum Tode führten, bestätigt wurde, hätte er dies nicht im ganzen Lager verbreiten sollen? Aber wie sicher war die Nachricht? Baeck selbst schrieb später: »Alle Hoffnungen zu zerstören, würde zur Verzweiflung und zum Tod in Theresienstadt führen.« Albert H. Friedlander führte ein langes Gespräch mit Paul Tillich über dieses Dilemma. Tillich war der Meinung, daß man die ganze existentielle Wahrheit immer sagen sollte: zu einem Krebskranken oder in einer KZ-Situation. Doch dann sagte er auch (genau wie man es in rabbinischen Texten findet), daß man keinen richten kann, wenn man nicht einmal in dessen besonderer Situation war. Tillich kannte und erkannte Baeck als einen Menschen von absoluter Integrität. Und so konnte er Baecks Handeln in dieser Situation höchstens als einen Denkfehler, aber nie als etwas Ummoralisches sehen. Menschen, die die Situation im KZ von außen beurteilen wollen, müssen sich erst klar machen, daß die Nazis und Wächter im KZ die Verbrecher waren, und dürfen nicht die Gefangenen anklagen. Gehen wir Baecks Leben in Theresienstadt weiter nach. Es vermittelt uns die Erkenntnis, daß hier ein außerordentlicher geistiger Widerstand geleistet wurde. Baeck war unermüdlich in seiner Arbeit als Pastor, aber auch als Lehrer. Immer drängten sich Hunderte in eine kleine, dunkle Baracke, wo er Vorträge über die unterschiedlichsten Themen hielt: Geschichte, Philosophie, das Judentum. Un4. H. G. Adlers Theresientstadt: 1941-1945, Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tübingen 21955, VII.
14
ermüdlich sprach Baeck aus einer tiefen Gelehrsamkeit, um den Gefangenen zu beweisen, daß sie noch immer denkende Menschen waren, und daß es dem Feind nicht gelungen war, sie völlig zu unterdrücken. Die wirklichen ›Untermenschen‹ lebten in den SS-Häusern. Und es war wichtig, daß die Juden den Unterschied sehen konnten. Er sprach auch zu den Kindern. Ruth Klüger beschreibt in ihrer wichtigen Autobiographie einen Besuch Leo Baecks: »Leo Baeck redete zu uns auf dem Dachboden. Wir saßen zusammengedrängt und hörten den berühmten Berliner Rabbiner. Er erklärte uns, wie man die biblische Geschichte von der Schöpfung der Welt in sieben Tagen nicht verwerfen müsse, weil die moderne Wissenschaft von Millionen Jahren weiß. Relativität der Zeit. Gottes Tag ist nicht wie unsere Tage und hat nicht etwa nur 24 Stunden. In der Reihenfolge hingegen stimme die Überlieferung genau mit der Wissenschaft überein: Erst schuf Gott die anorganische Welt, dann die Lebewesen, zuletzt den Menschen. Ich war ganz bei der Sache, berührt erstens von der festlichen Stimmung, wie wir eng unter den nackten Balken saßen, und zweitens von diesen so schlicht und eindringlich vorgetragenen Ideen. Er gab uns unser Erbe zurück, die Bibel im Geiste der Aufklärung, man konnte beides haben, den alten Mythos, die neue Wissenschaft. Ich war hingerissen, das Leben würde noch schön werden.«5 Und ab und zu, in den Stunden der Nacht, schrieb Baeck über die jüdische Existenz, über dieses Volk. Als die wenigen Überlebenden 1945 befreit wurden, wollte man Baeck sofort nach London zu seiner Familie bringen. Viele von seiner Theresienstädter »Gemeinde« waren todkrank, und eine Typhusepidemie wütete im Lager. Baeck blieb da, um weiter der Pastor und Seelsorger zu sein. Danach kam er nach London, um wieder ein Lehrer für seine größere Gemeinde – die Juden in der Welt – zu werden. Baeck schrieb neue wissenschaftliche Texte, lehrte am Hebrew Union College in Amerika, hielt wichtige Vorträge in vielen Ländern. Dennoch wurde dieses kleine Buch aus Theresienstadt die eigentliche Vollendung seiner Lehre. Der Weg vom Wesen des Judentums (1905) zu Dieses Volk: Jüdische Existenz zeigte, wie sich Wesen und Existenz zusammenfinden. Man darf Baeck nicht als einen »Existentialisten« begreifen. Dennoch muß man in diesem Text etwas sehen, welches die Bestätigung des jüdischen Lebens in seiner schwersten Zeit erkennen läßt. Wie die Texte im L.B.I.-Archiv deutlich machen, brachte Baeck einen Teil des Textes bereits mit nach Theresienstadt, wo er immer weiter Veränderungen unterworfen wurde. Auch der 5. R. Klüger Weiter leben. Eine Jugend, München 1994, 101.
15
handschriftliche Text des zweiten Buches, vollendet im Jahr 1956, zeigt die geistige Arbeit eines Lehrers, der nie zum Ende kommt, und der auch ›zwischen den Zeilen‹ gelesen werden muß. Daß Baeck 1905 Harnack nicht erwähnt, ist verständlich; daß die Hölle des Konzentrationslagers nicht in Dieses Volk auftaucht, steht allerdings auf einem anderen Blatt. In seinem Vorwort spricht Baeck über die dunkle Zeit, in der dieses Buch geschrieben wurde. Und wenn er sagt, daß dieses vor den Menschen sprechen soll, um ein Zeugnis abzulegen, spricht er schon die Christen an. Aber im eigentlichen Text herrscht das große Schweigen. Baecks Schüler, Ernst Ludwig Ehrlich, formuliert Baecks Schweigen in folgender Weise: »Ein Nein wird sichtbar, das, wie alles, was von Baeck ausging, urjüdisch ist: das Schweigen über das Christentum in seinem Buch »Dieses Volk«. Im rabbinischen Judentum ist das Schweigen die wirksamste Polemik.«6 Sicher hat Ehrlich recht: das Buch bleibt eine Frage an ein Christentum, welches zu dieser Zeit versagt hatte. Dennoch bringt dieses Buch Juden und Christen zusammen in dem einen Bund, den Gott mit den Völkern der Welt machte. Von unserer Seite gesehen, bringt das Leiden in der Welt des 20. Jahrhunderts Juden und Christen zusammen. Und dieses Testament aus Theresienstadt, zusammen mit dem zweiten Buch, unmittelbar danach in der Freiheit geschrieben, spricht zu den Mitmenschen, die auch, wie das jüdische Volk, auf eine messianische Zeit warten. Dieses Buch war die letzte Schrift aus der Feder Leo Baecks. Das zweite Buch, 1956 beendet, wurde noch in den Fahnen von Baeck kurz vor seinem Tode redigiert. Der handgeschriebene Text im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York dokumentiert, wie Baeck noch immer Änderungen bis zur letzten Minute an diesem Text vornahm. Ein charakteristisches Beispiel bietet gleich der Anfang des Textes: »Das Volk der Erwartung« wird erweitert zu: »Das Volk der großen Erinnerung und der großen Erwartung«, so wie es jetzt im Text steht. ›Kosmos‹ wird in ›Ordnung‹ verwandelt, und so geht es weiter, auf fast jeder Seite des »fertigen« Textes, der damals in London geschrieben wurde. Genau dies wird aber noch wichtiger im ersten Buch, welches zum großen Teil im KZ/Getto Theresienstadt geschrieben wurde. In der dunkelsten Nacht des jüdischen Volkes und der Welt erscheint ein Hoffnungsbuch, welches die Menschheit anspricht. Wie Baeck in seinem Vorwort sagte, wurden die Zettel dieses Manuskriptes herumgeschleppt und überlebten das Leiden in Theresienstadt. 6. E. L. Ehrlich, in Freiburger Rundbriefe XXV (1973), 75.
16
II. Damit kommen wir zu einer theologischen Einführung in Leo Baecks Midrasch aus Theresienstadt, zu dem Anfang und zum Ende von Dieses Volk. Bildet nämlich der Anfang (Buch I, Kap. I) so etwas wie einen Vorgriff auf das Ganze, so bildet der Schlußabschnitt so etwas wie die Summe des Ganzen. Im Blick auf den letzten Abschnitt von Buch II sprechen wir vom »Testament Leo Baecks«. Kapitel I von Buch I und dieser Schlußabschnitt von Buch II sind, obwohl sie zeitlich mehr als 10 Jahre auseinanderliegen, dennoch durch Baecks spätere Überarbeitung formal kunstvoll miteinander verwoben und sachlich wechselseitig aufeinander bezogen. Sie bieten deshalb eine gute Einführung in das Ganze der beiden Bücher von Dieses Volk.
1. Der Bund und das existentielle Band Baeck hat in seinen frühen Publikationen vom »Wesen des Judentums« gesprochen, dann aber den Begriff des Wesens durch den der Existenz erweitert. Deshalb lautet der Untertitel »Jüdische Existenz«. Das ist von erheblicher sachlicher Bedeutung. Der bleibend geschlossene Bund »Der ewige Bund ist geschlossen«. Dieses Thema bestimmt nicht nur die Überschrift von Buch I, Kap. I »Der Bund« und taucht nicht nur am Ende von Buch II im »Testament Baecks« wieder auf, sondern ist so etwas wie das durchgehende Fundament des Ganzen. Baecks Theologie jüdischer Existenz ist eine Theologie des Bundes Gottes mit Israel und der ganzen Menschheit. Baeck geht es um die Erzählung dieses »Bundes des Ursprungs (I, 62/70)7 mit Israel im Dienst der ganzen Menschheit gegenüber einer nunmehr fast zwei Jahrtausende währenden christlichen Theologie des gekündigten Bundes von Justin bis zur Theologie der »Deutschen Christen«, und sogar nach Auschwitz steht Baecks Satz des Bekenntnisses und Bekennens, der zugleich ein Satz des Widerspruchs und Widersprechens ist: »Der ewige, unendliche Bund ist geschlossen« (I, 22/43). Und gegenüber einer verbrecherischen NS-Politik, die im Rahmen einer Theologie von Rasse, 7. Von den Seitenzahlen bezieht sich jeweils die erste auf die Orginalausgabe, die zweite auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe.
17
Blut und Boden die Ausmerzung eines großen Teils des jüdischen Volkes in die blutige Tat umsetzte, steht Baecks Satz des Bekenntnisses und Bekennens, der zugleich ein Satz des Widerspruchs und Widersprechens ist: »Der Bund zwischen Gott und ihm (diesem Volk), zwischen ihm und Gott ist geschlossen« (I, 23/43). Der Bund und die existentielle Bindung Die tiefe persönliche und existentielle Dimension der Rahmenabschnitte, ist wohl kaum zu übersehen, obwohl, was viele – wie ich freilich meine viel zu oft – betonen, das Persönliche bei Baeck bewußt in den Hintergrund tritt, aber als existentielle Tiefendimension immer präsent ist und überall mitschwingt: So eröffnet »der Bund« (Buch I, Kap. I), das Band Baecks, das ihn auf Leben und Tod mit seinem jüdischen Volk verbindet, einen Blick auf seine existentielle Entscheidung, nicht in England zu bleiben oder nach Amerika ins Exil zu gehen, sondern verbunden mit und an der Seite seines jüdischen Volkes die Treue Gottes zu seinem Bund mit Israel real und existentiell zu spiegeln und zu bezeugen. Der Bund ist bleibend geschlossen. Übrigens besteht eine Parallele zu Dietrich Bonhoeffers Weg, der sich ebenfalls weigerte, eine Professur in Amerika anzunehmen und der über England, wo ein Teil seiner Familie lebte, dann den Weg nach Deutschland zurückfand, um die Mitverantwortung und Schuld für den Verbrechensweg seines deutschen Volkes zu übernehmen. So verweist der »Auszug« (Buch I, Kap. II) auf den Exodus des Judentums aus Deutschland, den Baeck mit organisiert hat, und steht schließlich auch für die »Befreiung« aus dem KZ Theresienstadt (II, 7/155), die Baeck, der zwei seiner Schwestern in Theresienstadt verlor, widerfuhr. Eine Befreiung buchstäblich an der Exekution vorbei, die man von Berlin aus noch angeordnet hatte, die dann aber nicht mehr – infolge der Befreiung durch die allierten Truppen – zur Ausführung gelangte. Der neue Pharao, Hitler, hatte sich inzwischen der Verantwortung seiner menschlichen Richter entzogen und selbst vernichtet. So sind auch die Kapitel »Die Offenbarung« (Buch I, Kap. III) und »Wüste und Boden« (Buch I, Kap. IV) nicht nur existentiell verstehbar, weil sie noch in Theresienstadt verfaßt wurden, sondern auch durch die Art und Weise der existentiellen Darstellung des Hiob, des Jeremia und des Elijah höchst bemerkenswert: Lehnt Hiob – wie Baeck bereits im Gebet zum Versöhnungstag 1935 ergreifend formuliert hat – es ab, »vor Menschen und ihren Vorwürfen sich zu Bo-
18
den zu werfen« (I, 126/114), so weist Jeremia auf Israel als den Augapfel Gottes hin (Jer 2,1-3): »Alle, die Israel antasten, versündigen sich, Böses kommt zu ihnen« (I, 138/121). Elijah schließlich hört nur noch die »Stimme des leisen Schweigens« (I, 141/123), eine abgründige Beschreibung der Gottesfinsternis in Theresienstadt, die aber schon nach der Verabschiedung der Rassengesetze in Nürnberg von Baeck wie folgt beschrieben worden war: »Schweigend, durch Augenblicke des Schweigens vor unserem Gotte, wollen wir dem, was unsere Seele erfüllt, Ausdruck geben. Eindringlicher als alle Worte es vermöchten, wird dieses Schweigen der Andacht sprechen«8. Auch das Kapitel über »Wüste und Boden« (Buch I, Kap. IV) läßt die Situation Baecks und seines jüdischen Volkes in der Zeit des Dunkels der Nacht und der Gottesfinsternis durchscheinen: Das Kapitel beschreibt den buchstäblich und aktuell-gegenwärtig zu verstehenden Kampf um das Land und den Kampf mit dem Land so die Unterscheidung Baecks in seiner Vortragsreihe »Epochen jüdischer Geschichte«9 in Auseinandersetzung mit einer Ideologie des Blutes, der Rasse und des Bodens, die in der Zeit des KZ-Aufenthaltes von Baeck ihrem Höhepunkt und zugleich ihrer Selbstvernichtung entgegeneilte. Das Kapitel beschreibt die Selbstvergewisserung und die Bergung des jüdischen Volkes in den »Armen der Ewigkeit« Gottes (Dtn 33,22) und den Kampf gegen die polypenartigen Arme von Blut und Boden (I, 133ff/119ff), die nach dem Judentum greifen, um es buchstäblich zu vereinnahmen, zu erdrücken und so zu vernichten.
2. Die Epochen jüdischer Geschichte Der Aufriß von Buch I und also die Kapitelfolge »Der Bund« (Kap. I), »Der Auszug« (Kap. II), »Die Offenbarung« (Kap. III) und »Wüste und Boden« (Kap. IV) sind von Baeck nicht freihändig entworfen, sondern sind biblisch orientiert und biblisch inspiriert. Baeck weist zu Beginn des Kapitel über »Wüste und Boden«, das ursprünglich »Wüste und das Land der Vater« hieß, auf Ex 6,5-8 hin: »Ich gedenke Meines Bundes. Darum sage den Kindern Israel: ICH bin der, der ist. Ich werde euch herausführen aus den Lasten Ägyptens hervor, euch aus ihrer Knechtung retten, euch befreien mit ausgestreck8. Leo Baeck, »Gebet zum Versöhnungstag 1935« in Werner Licharz (Hg.), Leo Baeck – Lehrer und Helfer in schwerer Zeit, Frankfurt a. M. 1983, 45f. 9. Vgl. Hans I Bach (Hg.), Leo Baeck, Epochen jüdischer Geschichte (Studia Delitzschiana 16), Stuttgart, Berlin Köln Mainz 1975, 74ff, 85ff.
19
tem Arme und großem Gericht. Ich werde euch mir zum Volke nehmen und werde euch zum Gotte sein, und ihr werdet erkennen, daß ICH der, der ist, euer Gott, es bin, der euch herausgeführt aus den Lasten Ägyptens hervor. ICH werde euch in das Land bringen, das ICH zugesagt habe, dem Abraham, Isaak und Jakob zu geben; ICH werde es euch zum Erbe geben. ICH bin der, der ist« (Ex 6,5-8). ICH gedenke Meines Bundes: dem entspricht »Der Bund« (Kap. I), ICH werde euch hinausführen aus Ägypten: dem entspricht »Der Auszug« (Kap. II). ICH werde euch mir zum Volke nehmen, und ihr werdet erkennen, daß ICH euer Gott bin: dem entspricht »Die Offenbarung« (Kap. III). ICH werde euch in das Land bringen: dem entspricht »Wüste und Boden« (Kap. IV). «Bund, Befreiung, Offenbarung und Land, sie stehen hier beieinander« (I, 135/119). Die vier Epochen jüdischer Geschichte Der Aufriß von Buch I und II insgesamt ist an den Epochen jüdischer Geschichte orientiert, wie Baeck sie des öfteren skizziert und zuletzt in seiner Vortragsreihe »Epochen jüdischer Geschichte« aus dem Jahre 1956 in London, dazu in seiner Vorlesungsreihe Von Mendelssohn bis Rosenzweig (1956)10 aus demselben Jahr in Münster ausführlich begründet hat. Baeck rechnet mit vier großen Epochen oder Jahrtausenden jüdischer Geschichte, die wiederum jeweils durch verschiedene Perioden untergliedert sind. 1. Die erste Epoche ist die der Revolution und Neugeburt (Buch I), d.h. die Epoche des Werdens des Volkes Israel von 1500 bis 500 vor der allgemeinen Zeitrechnung. Baeck benutzt nicht das Jahr 586, das Jahr der Deportation Israels nach Babylon, sondern das Jahr 536, das Jahr des Kyros-Ediktes, das nach Baeck die Zäsur und das Ende des ersten Jahrtausends markiert. In Fortführung des Themas von Buch I schildert Buch II zunächst in Kapitel I »die letzte Periode des Jahrtausends (= Epoche) des Wachstums« (II, 28/169), indem Baeck anhand des Doppelbuches der Chronik die Geschichte Israels »als Suczession der Generationen und die Geschichte dieses Volkes als aus der Menschheitsgeschichte hervorkommend« charakterisiert (II, 28f/169). Die Hauptherausfor-
10. Baeck, Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig. Typen jüdischen Selbstverständnisses in den letzten beiden Jahrhunderten. Franz Delitzsch-Vorlesungen gehalten am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster am 14. und 15.6.1956. Mit einem Vorwort und Worten zur Eröffnung der Franz Delitzsch-Vorlesungen 1955 von K. H. Rengstorf, Stuttgart 1958.
20
derung am Ende dieses Jahrtausends des Wachstums (1500 - 500 v.) besteht dabei nach Baeck in der Begegnung mit dem persischen Dualismus: »Eine entscheidende Probe hatte diese Glaubenskraft (dieses Volkes) ... zu bestehen gehabt, als ihr in der letzten Periode des Jahrtausends des Wachstums jene Lehre von der Macht neben Gott in ihrer eindrucksvollsten Form in dem persischen Dualismus gegenübertrat« (II, 40/177f). Buch II schildert sodann am Ende von Kapitel I den Übergang in das nächste Jahrtausend durch die an Deuterojesaja orientierten Stichworte der Neu- und Wiedergeburt und der Wegbereitung (II, 47ff/182ff) und kennzeichnet dieses zweite Jahrtausend als »Jahrtausend der Erziehung« (II, 48/183) bzw. als Epoche »der Erziehung und Verfassung« (II, 52/186). Die Überschrift von Kapitel I in Buch II »Wachstum und Wiedergeburt« beschreibt also mit dem Terminus Wachstum zusammenfassend die erste und mit dem Stichwort Wiedergeburt einführend die zweite Epoche jüdischer Geschichte. So hat Baeck auch in »Epochen jüdischer Geschichte« nach der grundlegenden Epoche des ersten Jahrtausends von »Epochen der Wiedergeburt« gesprochen.11 2. Die zweite Epoche der Wiedergeburt, die durch den Zeitraum 500 vor bis 500 nach begrenzt und inhaltlich durch »Erziehung und Verfassung« (II, 52/186; II, 62/191) charakterisiert wird, ist gerahmt von der großen Versammlung in der persischen Zeit, hat ihr Zentrum in der pharisäischen Bewegung und findet ihren Abschluß in der Verschriftlichung der »Tora des Mündlichen«, bis hin zum Abschluß des palästinensischen und babylonischen Talmud (Buch II, Kap. II und III). Signifikant ist dabei, daß die Periode Jesu Christi in die Mitte der Zeit dieser zweiten Epoche des Judentums fällt und auch von Baeck selber aus ihr heraus verstanden wird, und zwar in seiner Schrift »Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte« (1938).12 Das ist nicht nur gegen ein heidenchristliches Mißverständnis der nachexilischen Zeit als »Spätjudentum« und Periode der »Vergesetzlichung« und Dekadenz des Judentums gesagt. Das ist auch gegen die heidenchristliche These vom »Ende der Geschichte Israels« seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. formuliert. Das ist nicht
11. Bach (Hg.), Leo Baeck, Epochen jüdischer Geschichte, a.a.O., 6. 12. Leo Baeck, Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, Berlin 1938. Wiederabdruck in dem Sammelband, Aus drei Jahrtausenden. Wissenschaftliche Untersuchungen und Abhandlungen zur Geschichte des jüdischen Glaubens, Berlin 1938, 236-312 Im Nachdruck des letztgenannten Sammelbandes von 1958 fehlt diese Arbeit.
21
zuletzt gegen die heidenchristliche Diffamierung des Talmud als gesetzliche Selbstghettoisierung des Judentums geschrieben. Nein: Das zweite Jahrtausend ist die große Epoche der Wieder- und Neugeburt des Jüdischen Volkes. Und die Lokalisierung der Zeit Jesu in die Zeit der pharisäischen Bewegung und d.h. in die mittlere Periode der zweiten Epoche der jüdischen Geschichte bedeutet nach Baeck zugleich kritisch gegenüber der heidenchristlichen Christentumsgeschichte: »Seit er (Jesus) gewesen, gibt es keine Zeiten, die ohne ihn gewesen sind, an die nicht die Epoche (ergänze: die auf Jesus folgende Epoche des Christentums) herankommt, die von ihm den Ausgang nehmen will«.13 3. Die dritte Epoche bzw. das dritte Jahrtausend wird von Baeck als die Zeit der Entscheidung verstanden. Als eine Zeit, in der sich das Judentum zwischen den verschiedenen Imperien und Antithesen für das eine Reich Gottes, das ein Reich der Gerechtigkeit und Freiheit ist, zu entscheiden hat. Diese Epoche nimmt das aus dem zweiten Jahrtausend stammende Thema der Daniel-Apokalyptik, des Widerstandes und Widerstehens gegen die Reiche von unten und das Thema der Beharrung der Gerechten (I,17/39f; II,133f/238f) – »Weltgeschichte ist die geduldige Gerechtigkeit« (I, 52/63) – auf. Sie umfaßt die Zeit von 500 bis 1500 unserer Zeitrechnung und findet mit der grausamen und folgenreichen Vertreibung der jüdischen Gemeinschaft aus Spanien und Portugal am Ende des 15. Jahrhunderts ihr abruptes Ende. Diese Epoche wird von Baeck weltgeschichtlich als die Zeit der Auseinandersetzung des jüdischen Volkes mit dem römischen Imperium (Jakob und Esau), sodann als die Zeit der Begegnung und des Ringens des jüdischen Volkes mit dem christlich-konstantinischen und dem islamischen Glaubensimperium dargestellt (Buch II, Kap. IV: Das Reich Gottes). Dabei ist das 3. Jahrtausend jüdischer Existenz nicht pejorativ als dunkles Mittelalter nach dem beliebten Geschichtsschema »Altertum-Mittelalter-Neuzeit« mißzuverstehen, sondern positiv als große schöpferische Phase besonders der Sephardim im Westen, aber auch der Aschkenasim im Osten zu würdigen. Der Epoche der Kulturfrömmigkeit der Systembauer im Westen mit Maimonides als Höhepunkt steht im Osten die Frömmigkeitskultur der Mystiker mit den Chassidim als Höhepunkt gegenüber und zur Seite, wobei die Hauptlast dieser dritten Epoche stellvertretend für das ganze Volk auf den Schultern der Sephardim im Westen liegt. 13. Baeck, »Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte« zitiert nach: Aus drei Jahrtausenden, Berlin1938, 161.
22
Damit wird im 3. Jahrtausend durch das jüdische Volk entdeckt, was für das 4. Jahrtausend bestimmend werden wird: die doppelte Dimension des Reiches Gottes. Reich Gottes zielt zunächst auf die stetige, an der Tora und Halacha orientierte Wegbereitung in Richtung auf das Kommen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit. Das meint: »Die Welt zu ordnen durch das Reich des Allmächtigen« (Alenu). Das geschieht im olam ha sä (die kommende Welt – das Reich Gottes). Reich Gottes provoziert sodann die Sehnsucht nach der Erfüllung des Rechtes in einem Reich des Rechtes und der Gerechtigkeit (II, 134/238f). Das ist der olam ha ba (diese Welt). Deshalb heißt olam ha sä, etwas von der kommenden Freiheit und Gerechtigkeit in dieser Welt schon zu erarbeiten und an der Gestalt und Gestaltung dieser Welt mitzuarbeiten. Dies repräsentiert die Kulturfrömmigkeit der sephardischen Chachamim und Philosophen unter dem Islam. Olam ha ba heißt demgegenüber, nach der kommenden Freiheit des Rechtes und der Gerechtigkeit des Reiches Gottes zu streben und die Orientierung am messianischen Reich Gottes nicht aus den Augen zu verlieren. Dies repräsentiert die Frömmigkeitskultur der aschkenasischen Mystiker und Chassidim. So existiert ›dieses Volk‹ in diesem 3. Jahrtausend innerhalb der durch die doppelte Dimension des Reiches Gottes gegebenen doppelten Existenzmöglichkeit von Sephardim und Aschkenasim. »Der Weg war ein Weg zum Gottesreich (olam ha ba) und damit doch schon zugleich ein Weg in ihm (olam ha sä II, 183/273). Baeck beschließt die Darstellung des »Endes dieses 3. Jahrtausends« (II, 180/271) mit einem Midrasch über das Ester-Buch und zum Purim-Tag: In Erinnerung an die Vertreibung der Sephardim aus Spanien will die Ester-Rolle auf ein Zweifaches und in jüdischer Geschichte stets Aktuelles hinweisen: »Daran zunächst, daß noch lange hin Lüge und Eitelkeit ... gegen dieses Volk den Finger ausstrecken und den Mund auftun werden« (II, 181/272). Baeck hat dabei wieder die NS-Zeit vor Augen. »Das andere, woran das Buch Ester erinnert, ist in dem Satz gesagt: »Und alle Diener des Königs ... beugten das Knie ... vor Haman. ... Und Mordechai beugte nicht das Knie und bückte sich nicht« (3,2)« (II,182/272f). Baeck als Repräsentant dieses Volkes und dieses jüdische Volk hatten auch vor Haman/Hitler die Knie nicht gebeugt; er blieb Gott und sich selbst treu. Wie sehr die beiden am Ester-Buch hervorgehobenen Momente – die Verleumdung durch die Völker und der dem Judentum gebotene aufrechte Gang – in der NS-Zeit anwendbar sind, vermag Baecks Gebet zum Versöhnungstag 1935 erneut zu zeigen, da in ihm die beiden Momente wiederkehren: Gegen die Lüge und Verleumdung
23
heißt es: Wir »sprechen ... es mit dem Gefühl des Abscheus aus, daß wir die Lüge, die sich gegen uns wendet, die Verleumdung, die sich gegen unsere Religion und ihre Zeugnisse kehrt, tief unter unseren Füßen sehen«. Und zur Weigerung, die Knie vor Haman/Hitler zu beugen, heißt es: »Wir stehen vor unserem Gott ... ihm beugen wir uns, und wir sind aufrecht vor den Menschen. Ihm dienen wir, und wir bleiben fest in allem Wechsel des Geschehens«.14 4. Die vierte Epoche wird von Baeck als das Jahrtausend der »Hoffnung« (Buch II, Kap. V) bezeichnet, das die Zeit von 1500 bis 2500 roh umfaßt und also weit in das nächste Jahrtausend allgemeiner Zeitrechnung hineinreicht. Diese vierte Epoche umgreift den großen Zeit- und Geschichtsraum, in welchem ›dieses Volk‹ sich als Volk für die Menschheit insofern erweist, als es in dieser Epoche nicht nur zur Begegnung des spezifisch Jüdischen mit dem AllgemeinMenschheitlichen kommt, sondern insofern nun die Aschkenasim einen umfassenden Beitrag für die gesamte Menschheit leisten: auf den Gebieten der Wissenschaft von der Geschichte und vom Judentum (Leopold Zunz, Heinrich Graetz, Zacharias Frankel) (II, 274ff/ 336ff), auf den Feldern der Religionsphilosophie und der Religion des Judentums (Ludwig Steinheim, Samuel Hirsch, Abraham Geiger, Hermann Cohen) (II, 285ff/344), in den Bereichen des Kampfes um menschliche und soziale Gerechtigkeit (Moses Hess, Karl Marx, Ferdinand Lasalle) (II, 293ff/350f) und auf dem Terrain der zionistischen Befreiungsbewegung (Theodor Herzl), die nach Baeck als eine nationale Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes auch im Dienst der Völker zu stehen hat (II, 296ff/352ff). Noch bevor Baeck die Neugeburt des Judentums auf den vier genannten Feldern der Wissenschaft von der Geschichte, der Religionsphilosophie, der sozialen Gerechtigkeit und der zionistischen Bewegung beschreibt (II, 273-299/336-354f), greift er im Abschnitt über den Chassidismus (II, 233ff/307) und über die jüdische Aufklärung (II, 240ff/308ff) vor auf vier geistige Revolutionen innerhalb der wichtigen Periode zwischen 1850 und 1950: »Die Leistung, die ... von den Aschkenasim hier vollbracht wurde, ist eine große, fast möchte man sagen, eine gewaltige. Wer zurückblickt, steht mit einem Staunen davor. Vier geistige Revolutionen sah ein nun abgeschlossenes Jahrhundert – Revolutionen, das besagt: Anfänge von einen neuen Standpunkt her, mit neuen Prinzipien, die eine neue Richtung fordern. Nacheinander auf dem Gebiete der Biologie [Darwin], der Soziologie [Marx], der Psychologie [Freud], der 14. Zitate aus Baeck, Gebet am Versöhnungstag 1935, in Licharz, a.a.O 45f.
24
Physik [Einstein] setzten sie ein, tiefgreifend und weitgreifend, und drei von ihnen, die drei letzteren, gehen auf Männer des aschkenasischen Teiles dieses Volkes zurück« (II, 246/316). Werden am Beginn der vierten Epoche (16. Jahrhundert) der Humanismus, die Renaissance und Reformation besonders in ihrem reformierten Flügel von Baeck positiv vermerkt, so fallen etwa in die Mitte dieser vierten Epoche der messianischen Hoffnung (20. Jahrhundert) das Dunkel und die Stimme des göttlichen Schweigens von Theresienstadt und das Dunkel der Nacht von Auschwitz, aber auch die Errichtung und der Aufbau des Staates Israel als eines staatlichen Gemeinwesens zum Schutze des jüdischen Volkes und – wie Baeck nach 1948 in vielen Vorträgen betont hat – im Dienste der ganzen Menschheit. Theresienstadt und Auschwitz als Dunkel und Nacht in der Mitte dieser vierten Epoche einerseits, dennoch auch diese schrecklichen Ereignisse innerhalb der Epoche der messianischen Hoffnung andererseits: das charakterisiert das Abgründige der Existenz ›dieses Volk‹ zwischen der Nacht und dem »Ende der Nacht« (Albert H. Friedlander). Was besagt das Zugleich von Nacht und Hoffnung? Die Lokalisierung der Ereignisse des Schreckens innerhalb der Epoche der messianischen Hoffnung ist das immer wieder auftauchende »und dennoch« Baecks, d.h. Baecks Bekenntnis zur Hoffnung gegen das Nichts und gegen die, sich über das Recht und die Gerechtigkeit des Reiches Gottes hinwegsetzende, sich absolut setzende Gewalt staatlicher Macht. So droht durch die Mitte dieser Epoche, durch den kurzen Zeitabschnitt von Theresienstadt bis Auschwitz, diese Epoche »der Hoffnung« (Buch II, Kap. V) von 1500 bis 2500 n. zu zerreißen, ja vorzeitig beendet zu werden. Zugleich aber steht jenseits der Shoah Baecks Frage, ob die Errichtung des Staates Israel und die Entstehung eines neuen jüdischen Zentrums in Amerika (II, 299f/354f) Zeichen des »dennoch« aus dem Dunkel der Nacht heraus sind, die wahrgenommen werden sollten und im Dienst der ganzen Menschheit verstanden werden müssen. So kämpfte Baeck in den letzten Jahren seines Lebens über die nötige Konsolidierung des Staates Israel und des Judentums hinaus um das Sich-Öffnen und Sich-Verantwortlichwissen und Handeln des Judentums im Dienst der einen und ganzen Menschheit. Sind doch in dem einen Bund, in dem ›dieses Volk‹ auf Erden steht, zugleich alle Völker eingeschlossen.
25
3. Das Volk des Bundes für die Menschheit Zum Ganzen der beiden Bücher von ›dieses Volk‹ seien in aller Vorsicht und in gebotener Kürze folgende inhaltliche Momente hervorgehoben: Das Volk ursprünglicher Existenz Dieses Volk Israel ist nach Baeck ein Volk ursprünglicher Existenz, ein Volk aus metaphysischem Grund und Ursprung: »Jedes Volk, in seiner Jugend zumal, will die Kunde von seinem Anfang besitzen, es erzählt und dichtet von ihm« (I, 11/35), so lautet der erste Satz von Buch I. Dabei unterscheidet Baeck zwischen dem Anfang und dem Ursprung, er will also im Buch I Kap. I noch nicht von dem Anfang des Auszugs aus Ägypten (Buch I, Kap. II »Der Auszug«), sondern vom bleibenden Ursprung und Grund des Ganzen erzählen (Buch I, Kap. I »Der Bund«). Dabei unterscheidet sich Israel fundamental von den Völkern seiner Umwelt. Diese versuchen, den Ursprung mythologisch zu identifizieren und aus der Geschichte heraus in einen mythologischen Anfang zu verlagern, indem sie z.B. die Entstehung der Menschen aus Göttern und Halbgöttern, ja aus dem Blut und den Eingeweiden der Götter erzählen: »Manch ein Volk will den Göttern und Helden entstammen« (I, 11/35). Die Überlieferung von Genesis 6 erinnert an die mythologische Tradition von Halbgöttern aus der Verbindung von »Göttersöhnen, die sahen, daß die Töchter der Menschen schön waren und sie nahten sich zu den Frauen, welche sie wollten« (Gen 6,2). Baecks Beurteilung dieser mythologischen Versuche der Ableitung eines Volkes aus der Abstammung von Göttern und Helden lautet bündig: »Das Mythische bleibt immer an diese Erde gebunden, es vergrößert nur das Irdische oder übersteigt das Menschliche« (I, 27/46). Dem gegenüber ist ›dieses Volk‹ als Volk des Anfangs aus dem geschichtlichen Exodus heraus zugleich ein Volk des Ursprungs, d.h. des ursprünglichen göttlichen Grundes der Erwählung: »Aber ein Einmaliges unter allen (Völkern) ist, daß ein Volk seinen besonderen Ursprung, seinen Grund in dem einen (!) Ursprung, in dem Grunde des Alls gefunden hat. Ein aus dem Bereiche des Ewigen ... Kommendes, die Offenbarung des Einen, der hinter allem Vielfältigen ist, teilte hier den Auftrag des Lebens zu ... Unter allen Völkern hat allein das israelitische Volk es in seiner Frühe so erlebt und für die Dauer bewahrt« (I, 11/35).
26
Das Volk der Erwählung und des Bundes Das jüdische Volk ist das Volk der Erwählung, das Gott sich gebildet und geformt hat, damit es den Ruhm und die Ehre des NAMENS in der Völkerwelt verkündigt. Baeck hat als biblisches Motto für das Buch I den Vers Jes. 43,21 gewählt. Ein Motto, das nicht nur die Erwählung ›dieses Volkes‹ in den Dienst seines Gottes und in den Dienst der Menschheit stellt. Es ist nicht zufällig ein Motto aus Deuterojesaja, von dem Propheten des Exils (II, 189/276f), der diesem Volk im Übergang vom 1. zum 2. Jahrtausend den »Trost« ankündigt (Buch II, Kap. II) und für die messianische Wegbereitung als Prophet des Trostes und der Hoffnung steht (II, 44/180f; II, 178/269f u.ö.). Der Prophet des Exils (II, 189/276f) hat für Baeck auch existentiell eine nicht zu überschätzende Bedeutung: Der Midrasch von Theresienstadt ist die Stimme der Hoffnung Leo Baecks, des großen Lehrers Israels aus dem Exil und im Exil. Wie ist dieses Volk der bleibenden Erwählung des näheren zu charakterisieren? Hier fällt nun gewichtig und das ganze Weitere bestimmend der Terminus Bund. Als Volk der Erwählung durch Gott, das seinerseits Gott erwählt (Dtn 26,17-18), ist dieses Volk geschaffen und erwählt zum Bund für die Völker: »Ich mache dich zu einem Bunde der Völker« (Jes 42,6; 49,8). Mehreres ist hier hervorzuheben: Baeck bringt erneut die Stimme Deuterojesajas, des Propheten aus dem Exil, zu Gehör: Dort, wo Israel auf dem Tiefpunkt seiner Existenz in Deportation und Exil angelangt ist, spricht dieser Prophet das Wort von Israel als dem Volk für die Menschheit, als dem Bund für die Menschheit. Sodann: Die Partikularität des Bundes Gottes mit Israel wird nicht nur festgehalten, sondern auf das Nachdrücklichste und Eindrücklichste betont und unterstrichen: Er, der ist, steht zu seinem Volk gerade im Exil und nicht zuletzt auch in dem Exil, das ihm der Nationalsozialismus bereitet hat. Weiter: Unbeschadet der Partikularität des Erwähltseins durch Gott und unbeschadet der Situation der Erniedrigung im Exil bleibt dieses Volk auf die Menschheit bezogen. Der sich durch die beiden Bücher hindurchziehende Grundsatz Baecks lautet: »In einem Bunde, der alle Völker in sich schließt, ihnen allen gilt, steht dieses Volk auf Erden« (I, 17/39). Schließlich: Auch dieser Spitzensatz und Grund-Satz Baecks ist aus seiner Abgrenzung heraus zu verstehen. Gegenüber einer christlichen Theologie der doppelten Erwählung, derzufolge Gott zuerst Israel erwählt, dann aber an der Stelle Israels die Kirche aus allen Völkern erwählt hat, bekennt Baeck die eine Erwählung, die Erwählung zu dem »einen Bunde, der alle Völker in sich schließt« (I, 17/39). Und
27
gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie (»am deutschen Wesen soll die Welt genesen«) betont Baeck die bleibende Erwählung und den einen Bund gegen eine Ideologie der Erwählung des deutschen Volkes gegen und anstelle des jüdischen Volkes. Es gibt keine doppelte Erwählung und keine zwei Bünde, wie Baeck auch gegenüber Rosenzweig festhält, sondern es gibt nur eine Erwählung und einen Bund. Aber dieser eine Bund ist offen für die Menschheit. Das Volk des Bundes für die Menschheit Das Testament Leo Baecks (II, 309-326/361-373) reflektiert am Ende des Ganzen erneut die grundlegende Verhältnisbestimmung von Israel und der Völkerwelt. Im Spätwerk Baecks immer unübersehbarer und so auch in seinem Testamente hier wird das Besondere der Israelerwählung und Jüdischer Existenz auf das Universale der Menschheit und auf das Anthropologische des Menschen bezogen, nicht aber darin aufgehoben. Die von Baeck nie preisgegebene Verhältnisbestimmung von Israel und der Menschheit hat er in seinem wegweisenden Aufsatz Individuum Ineffabile15 so entfaltet, daß er den Weg vom Anthropologisch- und Kosmologisch-Allgemeinen zum Besonderen der Israelerwählung und des Israelbundes geht, aber schon im Anfang dieses Ziel vor Augen hat bzw. schon in der Art und Weise des Einsatzes beim Anthropologisch-Allgemeinen vom Ziel des Besonderen des Israelbundes her argumentiert. Diesen Weg geht Baeck nun erneut in seiner testamentarischen Gesamtwürdigung am Ende von Dieses Volk. Ausgangspunkt bildet hier – wie in seinem Aufsatz Individuum Ineffabile – der Mensch und sein Geheimnis: »In einer Deutlichkeit, um die das Geheimnis ist, leben wir – wir Menschen auf dieser Erde« (II, 320/369). Baeck schildert nacheinander das Geheimnis und Wunder a) des denkenden (II, 320f/369), b) des künstlerischen (II, 321f/370f) und c) des sittlichen (II, 322-324/370-372) Menschen. Ziel und Orientierungspunkt dieses anthropologischen Ausgangs vom Geheimnis und Wunder des Menschen, des Individuum Ineffabile, ist aber Israel, das Volk des Geheimnisses und der Erwählung. Deshalb fährt Baeck fort: »Aber um dieses Volk ist mehr des Geheimnisses noch ... – Geheimnis aus dem ewigen Geheimnis hervor ... Nur einer, dessen Seele sich dem großen Geheimnis geöffnet hat, daß in allem waltet ..., wird begreifen können, um wessentwillen dieses Volk dasein soll und da ist« (II, 324/372). 15. Baeck, »Individuum Ineffabile« in Eranos - Jahrbuch 15: Der Mensch (1947), 385-436.
28
Das Geheimnis, daß in allem gegenwärtig ist, in und an diesem Volk tritt es besonders hervor. Deshalb ist ›dieses Volk‹ erwählt für die Menschheit. Deshalb ist der Bund dieses Volkes zugleich ein Bund für die Menschheit. Wie kunstvoll das Ganze der beiden Bände von ›dieses Volk‹ formal miteinander verwoben und inhaltlich aufeinander bezogen ist, vermag ein Blick auf die Schlußsätze des Ganzen, die zugleich die Schlußsätze von »Baecks Testament« am Ende von Buch II sind, verdeutlichen: Das Leitthema vom Anfang des Buches I, Kap. I, das Thema des niemals gekündigten Bundes Gottes mit Israel und der bleibenden Erwählung Dieses Volkes, taucht unüberhörbar, wenn auch in charakteristischer Variation am Ende wieder auf. Buch I steht unter dem Leitmotto aus Deuterojesaja 43,21: ».... dieses Volk, das ICH Mir gebildet habe, Meinen Ruhm wird es verkündigen«. Im Midrasch zu diesem biblischen Leitmotto hatte Baeck zu Anfang von Buch I formuliert: Der Bund Gottes mit Israel ist auch ein Bund mit der ganzen Menschheit (I, 17/39f). Im Schlußabschnitt seines Testaments wird der funktionale Sinn und die teleologische Bedeutung der Erwählung und des Bundes Gottes mit Israel zugunsten von Menschheit und Welt hervorgehoben: »Es ist ... der Bund Gottes mit der Menschheit und darum mit diesem Volk in ihr« (II, 326/373). Aber die Funktion, die dieses Volk der Erwählung des Bundes hat, hebt – entgegen einer beliebten heidenchristlichen Funktionalisierung Israels und seiner Aufhebung in das Menschheitlich-Allgemeine – das Besondere des Bundes und der Erwählung Israels nicht auf. Im Gegenteil! Baeck spielt auf den in Buch I und II immer wieder zitierten und auch verschieden übersetzten Text aus dem Propheten Jeremia an, der, anders als Baeck es tut – seines Gewichtes wegen vollständig wiedergegeben werden sollte: »So wahr Mein Bund mit Tag und Nacht ist, so wahr ICH die Satzungen an Himmel und Erde festgesetzt habe, so wahr werde ICH den Samen Jakobs und Davids, Meines Knechtes, nicht verwerfen. ICH werde ihre Gefangenschaft wenden lassen, so daß sie zurückkehren. ICH erbarme Mich ihrer« (Jer. 33, 25f). Wie das biblische Leitmotto und Leitthema von Buch I, die bleibende Erwählung Israels und der niemals gekündigte Bund Gottes mit ›diesem Volk‹ im Dienst der einen Menschheit, so taucht auch das biblische Leitmotto von Buch II nicht zufällig im Schlußabschnitt von Baecks Testament wieder auf. Buch II hat als Leitmotto einen Vers aus dem Lied des Mose: »...bis hindurchgeschritten sein wird Dein Volk, ... das Du zu eigen genommen hast« (Ex 15,21). Baeck
29
hat des öfteren darauf aufmerksam gemacht, daß in der Form des Verbs im Hebräischen Zukunft und Vergangenheit, »das, was zu werden beginnt, die Zukunft, und das ... Vergangene, das Präteritum, sprachlich gar nicht voneinander zu trennen sind« (Epochen jüdischer Geschichte 110). Von daher hat Baeck in Dieses Volk das Lied des Mose zugleich futurisch übersetzt und somit als Verheißung und Hoffnung verstanden. Sein testamentarischer Schlußabschnitt zum Ganzen schließt deshalb mit dem zukünftigen Verständnis des Liedes des Mose: »Und die Zuversicht, wenn sie zurückblickte und hinausschaute ..., sagte dann: »Einst haben sie so zu Ihm, der ist, gesungen, und so werden sie einst singen zu Ihm, der ist« (II, 326/373)16. Jetzt kommt dieser Text zu einer neuen Zeit, einer neuer Generation. Wieder gehört und wieder gelesen bringt es uns zur neuen Hoffnung als Erben dieses kostbaren Geschenks aus Theresienstadt. Albert H. Friedlander und Bertold Klappert
Eine kurze Bibliographie zur Einführung in Leben und Werk Leonard Baker Hirt der Verfolgten: Leo Baeck im Dritten Reich; Stuttgart, 1982. Die einzige, den gesamten Lebensweg umspannende Biographie Baecks. Baker erhielt den Pulitzerpreis für diesen Text (Amerikanisch: Days of Sorrow and Pain: Leo Baeck and the Jews of Berlin; New York and London 1978). Albert H. Friedlander Leo Baeck: Leben und Lehre; Stuttgart 1973 (Gütersloh 41996). Die einzige Darstellung des Gesamtwerks Leo Baecks mit vielen werkgeschichtlich bedeutsamen biographischen Hinweisen. Walter Homolka, Jüdische Identität in der modernen Welt: Leo Baeck und der deutsche Protestantismus; Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 1994. Ein Versuch, dem Gespräch zwischen Christentum und Judentum aus dem Werk Leo Baecks heraus neue Impulse zu geben. Bertold Klappert, Brücken zwischen Judentum und Christentum. L. Baecks kritische Fragen an das Christentum, in: A. Friedlander, Leo Baeck: Leben und Lehre, Gütersloh 31990, 285-309. Der Text bündelt noch einmal die Bedeutung des Baeckschen Œuvres für die christliche Theologie. Werner Licharz (Hg.), Leo Baeck – Lehrer und Helfer in schwerer Zeit (Arnoldshainer Texte 20), Frankfurt a. M. 1983. Eine Sammlung von Aufsätzen, die in Leben und Werk Leo Baecks einführen. Theodore Wiener, The Writings of Leo Baeck, A Bibliography (Studies in Bibliography and Booklore I/3), Cincinnati 1954. Beinahe vollständige Bibliographie der Baeck‘schen Schriften bis 1954.
16. Bach (Hg.), Leo Baeck, Epochen jüdischer Geschichte, a.a.O. 110.
30
ERSTES BUCH
32
Vorwort zum ersten Buch
In dunkler Zeit ist dieses Buch geschrieben worden. Damals, als dem jüdischen Leben die Vernichtung angesagt und weithin zugefügt wurde, war in dem, der dann diese Seiten niedergeschrieben hat, das Verlangen erwacht, sich selbst Rechenschaft zu geben, Rechenschaft von diesem jüdischen Leben, diesem jüdischen Volke. Die ersten Kapitel sind innerhalb der alten Wohnstätte aufgezeichnet worden, die folgenden danach im Lager der Verschleppten, wann immer ein leeres Blatt sich fand und eine stille Stunde sich auftat. Als die Befreiung kam, war das Bündel der Blätter, das immer wieder versteckte, zu einem ganz persönlichen Besitztum geworden. Selbst auch erzählte es vom Wunder des Überlebens. Doch die Geschehnisse wurden zur Geschichte, die Erlebnisse zum Geiste. Die Gegenwart rief und fragte, und alle die Tage sollten antworten. So schien es, als sollte dieses Buch nun doch vor den Menschen auch sprechen, um ein Zeugnis abzulegen. So möge es denn seinen Weg zu ihnen nehmen! L. Baeck
33
34
I. Der Bund
Jedes Volk, in seiner Jugend zumal, will die Kunde von seinem Anfang besitzen, es erzählt und dichtet von ihm. Manch ein Volk will den Göttern und Helden entstammen. Aber ein Einmaliges unter allen ist, daß ein Volk seinen besonderen Ursprung, seinen Grund in dem einen Ursprunge, in dem Grunde des Alls gefunden hat. Ein aus dem Bereiche des Ewigen und Unendlichen Kommendes, die Offenbarung des Einen, der hinter allem Vielfältigen ist, teilte hier den Auftrag des Lebens zu. Die jenseitige Welt redete hier von dem Beginne und dem Werden des Volkes und verkündete ihm die Bedingung und das Ziel seiner Geschichte. Unter allen Völkern hat allein das israelitische Volk es in seiner Frühe so erlebt und für die Dauer bewahrt. Ihm war zum Mittelpunkt für alles, was es erfahren hatte und was es vor sich schaute, zum Maße darum für alles Tun und alles Erstreben Gott, der Eine und Ewige, der Schaffende und Gebietende geworden. In ihm besaß es die Erklärung seines besonderen Lebens. Das Wort, welches er zu ihm gesprochen, die Forderung, welche er ihm gestellt hatte, war so diesem Volke mehr und mehr zur steten, zur einzigen Antwort geworden, so oft es im Gange der Zeiten nach seinem Beginne und Wege, nach der Bedeutung seines eigentümlichen Geschic|kes fragen wollte und fragen mußte. Diesem Volke ist sein Anfang so zur Idee geworden. Gewissermaßen als ein Volk aus der Bahn des Jenseits hervor, als ein Volk metaphysischer Existenz stand es vor sich selber da – ein Volk, geworden kraft einer Offenbarung Gottes und für eine Offenbarung Gottes. Seit Menschen nachdenken, seit sie so für das, was sie erfahren und beobachten, Gründe und Zusammenhänge suchen – und Philosophie und Religion sind hieraus hervorgegangen –, haben sie bald dunkler, bald klarer erfaßt, wie sich menschliches Leben in zwei Sphären bewegt. So vieles erschloß sich ihnen von außen her, in ihrem Tasten, Sehen und Hören, und reihte sich in ihrem Messen, Wägen
35
11
12
13
und Rechnen zusammen. So vieles wiederum eröffnete sich von innen her, in ihrem Empfinden und Begehren, und fügte sich zusammen in Zweifeln, Gewißheiten und Entscheidungen. Bald blickten Menschen hinaus, bald horchten sie in sich hinein. Geistige Entwicklungen führen hier durch die Jahrhunderte hindurch. Wege, Verbindungen und Richtungen sind in beiden Bereichen erkannt worden: in jenem ersteren sowohl, in dem das Messen, Wägen und Berechnen, das Rationale also, eine Bestimmtheit bringt, wie auch in diesem zweiten, in dem etwas ganz anderes, ein Unmeßbares, Unwägbares, Unberechenbares, ein Nichtrationales also, die Bahn zeigt. Menschen, welche nachdenken, sind bald fähiger, in die eine, bald fähiger, in die andere Sphäre einzudringen. Auch Begabungen von Völkern scheiden sich darin. Es ist der charakteristische Genius, in dem das israelitische Volk seine Eigentümlichkeit erwarb, daß hier auf immer neuen Wegen versucht und auch vermocht worden ist, die zwei Sphären sowohl in ihrer besonderen Tatsächlichkeit wie vor allem in der Beziehung, die zwischen ihnen ist, zu begreifen. Der israelitische Geist hat immer die Einheit der gesamten Wirklichkeit erfassen wollen. Für ihn ist alle Wirklichkeit, ob sie in der einen oder anderen | Sphäre sich erschließt, Ausdruck eines großen Einen; sie kommt von dem einen Gotte her, sie ist von ihm geschaffen worden, und sie offenbart ihn. Es gibt nur den einen Gott. Und darum gibt es nur die eine Ordnung, wie mannigfaltig immer ihre Erscheinungen sein und wie gegensätzlich sie sich oft darbieten mögen. Natürliches und Seelisches, Äußeres und Inneres dürfen, wenn sie erkannt werden sollen, nicht voneinander getrennt werden; sie entspringen dem Einen. Sie sind seine Schöpfung, seine Offenbarung. Das Rationale und das Nichtrationale widersprechen darum hier einander nicht, sondern sie gehören zusammen. Erst zusammen sind sie die Einheit. Das Rationale kann hier nicht ohne das Nichtrationale verstanden werden und das Nichtrationale nicht ohne das Rationale. Denn das Nichtrationale ist die Wurzel des Rationalen, die Voraussetzung seiner Existenz und seiner Gültigkeit. Und das Rationale ist ein Ausdruck des Nichtrationalen, eine Form, in der dieses hervortritt und sich darbietet. Ein Nichtrationales, das für sich selbst nur gelten sollte, bliebe gestaltlos, entwicklungsleer, und ein Rationales, das auf sich selbst beschränkt wäre, bliebe ohne den festen Grund, ohne die tiefe Bürgschaft. So ist es hier immer erkannt worden, wenn sich auch Art und Weise, in der es sich aussprechen konnte, erst im weiteren Gange der Zeiten bestimmter ausbildete, um dann aber sich immer neue Form zu bereiten.
36
Ganz besonders an seiner Geschichte hat dieses Volk es so begriffen. Es hat sie dadurch innerlich zu eigen gewonnen. Seine Geschichte ist ihm ein Deutliches: deutlicher Weg, deutlicher Auftrag, deutliches Gebot, aber sie kommt aus der Welt des Geheimnisses hervor, aus der großen Einheit, aus dem tiefen Grunde alles dessen, was ist. Hierin hat dieses Volk die Form seines seelischen Daseins erhalten. So wenig an äußerer Sicherheit, an Umhegtheit der Tage ihm zumeist geschenkt war, so viel hat es dafür an innerer | Sicherheit, an Gewißheit immer besessen. Daß es in dem Einen und Ewigen die Wurzel des Wesens habe, daß daraus Wert und Sinn seines Lebens hervorwachse, dies war ihm zu der großen Gewißheit geworden. Ein Jenseitiges trug ihm sein Diesseits, das Seiende sein Werdendes. Eben darum hat es oft denen allen, die nur aus dem Irdischen ihre Kraft holen wollen, als wurzellos gegolten, und als gottlos, »atheistisch« bisweilen denen, denen die Höhe ihrer Mächte und Götter aus dieser Erde aufgerichtet ist. Diesem Volke trat seine Geschichte, und über sie hinaus alle Geschichte, aus letzten Gründen hervor. Geschichtliche Bewußtheit war ihm vorerst Wissen von dem einen Gotte und war ihm damit zugleich ein Wissen auch von allem Ersten und Ganzen aller Menschen, von der Menschheit. Was es im Eigenen erlebte, wurde ihm so zugleich zum Zeugnis und zur Weisung weit über die eigenen Grenzen hinaus. Geschichtslos konnte es daher dort erscheinen, wo Völker sich in die Selbstbetrachtung gebannt hatten und ihr Boden und ihr Umkreis allein ihnen sagen sollten, was Geschichte ist. Für die Religion dieses Volkes, in der sein Genius gewachsen ist, in der allein es darum leben kann – ohne sie wäre es versunken und verklungen –, ist auch das eigentümlich, daß die menschliche Existenz in den Bereich der Aufgabe und der Wahl der Menschen emporgehoben wird. Alles, was dem Menschen gegeben ist, wird damit zum Gebote; alles, was er erhalten hat, meint zugleich ein »Du sollst«. Das Wort »Leben« gewann so einen anderen Gehalt als anderswo meist. Und wie die individuelle Lebensführung, so wurde auch die Art des Lebens des Volkes, dem der Einzelne zugehörte, zu einer persönlichen Entscheidung. Von jedem ist auch sie gefordert. In beide, in sein besonderes Leben wie in das Gesamtleben, ward der Mensch hineingeboren. Ohne seinen Willen, ohne sein Zutun war er in sie hineingestellt. Aber damit, daß er, dieser Mensch mit seinem Willen und seinem Tun, mit dem Selbst, das ihm Gott verliehen hat, nun in | ihnen steht, werden sie für ihn zu seiner Aufgabe. Sie sind nun die von Gott ihm gewiesene Bestimmung. Indem er geboren ward, wurden sie sein Platz, und nun, da er lebt, sind sie die Bahn, die er be-
37
14
15
16
tritt, sein Weg, den Gott ihm gebietet. Wege Gottes sollen gleichsam von diesem Platze ausgehen. Auch Volkstum wird daher zum Auftrage von Gott. Durch die Erfüllung des Gottesgebotes soll ein Volk wahrhaft ein Volk werden. Es soll sich selber zum Volke machen. Das wurde hier ganz erfahren und aufgezeigt. Die Idee des Anfangs und die Idee der Berufung durch Gott verbanden sich. Diesem Volke wurde eine Richtung gewiesen. Von dem Ewigen, dem Einen war es erwählt worden, und den Ewigen, den Einen soll es immer neu erwählen. Seine Existenz, seine Geschichte konnte es nur als Sendung begreifen. Ein Satz ist daher diesem Volke wie eine Überschrift, wie ein Motto für seinen Lebensbeginn: »Ihn, der ist, hast du heute sagen lassen, daß Er dir zum Gotte sein wird ..., und Er, der ist, hat dich heute sagen lassen, daß du Ihm zum Volke, das Ihm gehört, sein wirst« (Deut. 26,17-18). So hatte Mose, der »Knecht dessen, der ist«, dieser Mann, der als Erster an diesem Volk gemeißelt hatte, zu ihm gesprochen. Ein prophetischer Dichter hat dann den zärtlichen persönlichen Ausdruck gefunden. Er läßt Gott zum Volke also reden: »Ich verlobe dich Mir für ewig, Ich verlobe dich Mir mit Gerechtigkeit und Recht und mit Liebe und Innigkeit, Ich verlobe dich Mir mit Treue, und du erkennst nun den, der ist« (Hos. 2,21). Zur Einheit, die untrennbar bleibt, ist das beides dem Volke geworden: das Wissen von Gott und das Wissen um sich selbst. So hat dieses Volk, mochte es sich in hellen oder in dunklen Tagen erleben, immer das erfahren sollen, was über ihm ist und vor ihm war. Es erahnte »die Arme der Ewigkeit« (Deut. 33,27), die brachia sempiterna. Den Stil des Bedeutsamen, den großen Zug hat damit seine Geschichte erhalten. Sie ist eine | Geschichte von Jahrtausenden schon, und begreiflicherweise hat sie unterschiedene Tage und verschiedene Menschen. Bisweilen, und hier und dort, waren die Tage klein, waren die Menschen winzig. Auch das Wort von der Verderbnis des Besten, welche die schlimmste ist, corruptio optimi pessima, hat sich mit mancher Zeile in diese Geschichte eingeschrieben. Aber wer das Ganze zu schauen vermag, der wird hier doch, fast könnte man sagen, einer Erhabenheit gewiß; die große Linie, die Linie einer letzten Treue gegen den Ewigen und sein Wort bleibt offenbar. Über jedem dieser vielen Jahrhunderte, wie immer eines von ihnen gewesen sein mag, über allen den Wegen, auch den Abwegen und den Umwegen, leuchtet doch eine Idee, diese Idee, die über dem Anfang strahlte, ein Volk vor Gott sein zu sollen. Ein Glanz, der von oben kommt, erreicht hier noch den Geringen unter den Tagen und den Kümmerlichen unter den Menschen. Sie sind anders
38
doch noch, als sie der Welt oft erscheinen, anders, als die Klugen dieser Erde sie erblicken. Ein Volk ist hier, mit allen seinen Zeiten und Geschlechtern, das nicht nur da ist, sondern etwas bedeutet, in dessen Existenz daher schon ein geschichtlicher Wert wohnt. Als dies allein, als ein Volk der Bedeutung, konnte und kann dieses Volk da sein. So allein kann es vor Gott und vor sich selber bestehen. Es darf seine Geschichte nur vom Standpunkte Gottes her betrachten. Ein Volk mit Bezug auf Gott soll es sein, nicht nur ein Volk mit Bezug auf andere Völker. Sein alter Geschichtsschreiber aus der Zeit, da seine Eigenart zum ersten Male vor die Blicke der großen Welt geführt wurde, Flavius Josephus, hat für diese innere Besonderheit, um sie zu verdeutlichen, den Namen »Theokratie« gebildet. Hinter diesem eigentümlichen neuen Worte steht eine Einsicht: in dem Gebote Gottes hat dieses Volk seine Verfassung, das heißt: es soll ein Volk sein, das Gott zugeeignet ist und das in allem Werden und Wandel, in allem Auf und Nieder in der Bezie|hung zu dem Einen, Seienden bleibt. Es soll so nicht nur ein Volk einer Geschichte, sondern Volk der Geschichte sein. Und damit, daß es das sein will, wird es zugleich zum Volke der Menschheit. Wie es sich ohne Gott nie denken darf noch kann, so auch nicht ohne die ganze Menschheit. Auch Gesamtgeschichte und eigene Geschichte wachsen hier zusammen. Einer der Propheten hatte so das Wort des Ewigen gekündet: »Ich mache dich zu einem Bunde der Völker« (Jes. 42,6; 49,8). In einem Bunde, der alle Völker in sich schließt, ihnen allen gilt, steht dieses Volk auf Erden. Sein Weg hat es durch Tage und bisweilen durch Zeiten geführt, und wohl auch führen müssen, in denen es ihm zu seiner Geschichte wurde, daß es die Menschheit suchte und nicht fand. Eine fremde Welt stand ihm gegenüber, bitter und hart, kalt und grausam, eine Welt des Unrechts, des Unverstandes, des Frevels. Eine sittliche Kluft, ein seelischer Abgrund schien sich aufgetan zu haben, es stand allein da. Wenn es um sich blickte, sah es nirgends eine Stätte, wo die Menschheit war. Um der Menschheit willen mußte es sich von den vielen Völkern geschieden fühlen. Dem Verfasser des Buches Daniel, dem Vater der Apokalypsen, erschienen einst alle die großen Reiche, die Herren der Macht und der Kultur, im Bilde von wilden Tieren, und nur sein Volk sah er in menschlichem Bilde. Dachte dieses Volk in solchen Tagen an die Zukunft der Menschheit, dann konnte es nur, ja dann mußte es zu seiner eigenen Zukunft hinschauen: war ihm seine Zukunft nicht gewährt, so war auch der Menschheit keine Zukunft gegeben. Und wenn es nach einem Wege ausblickte, der zuletzt zu Tagen der Menschheit hinführen
39
17
18
19
würde, dann mußte der Gedanke des Gerichtes in ihm erwachen, der Gedanke der ahndenden, ewigen Gerechtigkeit, die allein der Menschheit den Platz schaffen wird. Um der Menschheit willen mußte dieser Gedanke lebendig werden. Denn nur wenn das Strafgericht Gottes sie alle | traf, diese Herren und Knechte des Frevels überall, dann würden die Länder dort wieder rein werden und frei und weit, so daß die Menschheit dort nun leben könnte. Es ist ein Zorn, ein glühender Zorn oft, der hier spricht, aber in ihm suchen die Menschheitssehnsucht und das Menschheitsgewissen ihren Ausdruck. Es ist darin mehr Menschlichkeit als in manch süßem Sange vom Menschen. Der Geist eines Menschheitsvolkes ringt hier. Der Ruf »zum Bunde der Völker« hat hier die Seele ergriffen.
Das Wort »Bund«, hebräisch »berit«, das uns hier entgegentritt, ist ein betontes und beständiges in der Heiligen Schrift dieses Volkes. Mit diesem Buche, das dann zum Menschheitsbuche, zur Bibel, geworden ist, hat dieses Wort seinen Platz unter den Menschheitsworten gewonnen. Als in der Zeit nach Alexander dem Großen, damals, als in der alten Welt Osten und Westen sich finden wollten, die Bibel ins Griechische übersetzt wurde, ist dieses Wort mit einem griechischen Ausdruck wiedergegeben worden, welcher im wesentlichen der Rechtssprache zugehörte. So konnte das Wort hier nur zu leicht, und sehr bald ist das in der christlichen griechischen Welt auch geschehen, zu einem juristisch-theologischen Begriffe werden, zu einem Begriffe mit allem seinem Förmlichen und bisweilen Künstlichen. Aber in der Bibel ist das Wort ein ursprüngliches, lebendiges Wort, voll des sprießenden, keimenden Sinnes. Durch die Religion dieses Volkes war auch in seiner Sprache eine ganz eigentümliche Kraft entwickelt worden, sie vermochte in alten Worten neuen, lebendigen Inhalt zu entfalten; sie ist hier eine Sprache der Religion und des Menschentums geworden. In ihr ist auch das Wort »Bund« weit über seinen Anfang hinausgewachsen. Dieses Wort hatte schon in den Inschriften alter arabischer | Stämme, der Sabäer und Minäer, auch das Verhältnis des Stammes zu seiner Gottheit, einen Vertrag zwischen ihnen, der beide binde, ganz allgemein bezeichnet. Nun ist es in der biblischen Sprache zu der Sphäre einer neuen, ja ganz anderen Bedeutung erhoben worden. Es ist hier zu einem charakteristisch religiösen Worte geworden, zu einem dieser Worte, in denen die Idee von dem großen Zusammenhange, der großen Einheit von allem, dieser Einheit auch von Geheimnis und Bestimmtheit sich auszusprechen sucht. Die von Gott
40
gegebene Ordnung, in der sich Diesseits und Jenseits, Nähe und Ferne, gleichsam Erde und Himmel verbinden, sollte hier den Ausdruck gewinnen. Ein Bund ist diese Ordnung gleichsam, denn der Mensch ist mit seinem freien Willen und zu seiner Entscheidung in sie hineingestellt, um sie zur Ordnung seines eigenen Bereiches zu machen. Die Poesie hat hier selbst das kühnere Gleichnis noch gewagt, daß es gewissermaßen eine Entscheidung der Natur auch gewesen sei, diese Ordnung anzuerkennen und anzunehmen (Hos. 2,20). Welches immer der sprachliche Ursprung dieses Wortes »berit« sein mag, in der Bibel ist es schließlich, vermöge der religiösen Kraft, die in das Wort eintrat, zum Ausdruck dieser Ordnung, dieses Geltenden und Verpflichtenden geworden. Es ist der Ausdruck dessen, was feststehen soll, weil Gott es in die Wesen und Formen, die er geschaffen hat, hineingelegt, es so zur Bedingung der Einheit und des Zusammenhangs, zur Voraussetzung der Wirklichkeit gemacht hat. Daher hat der Psalm unserem Worte seine Parallele geben können in dem Satze: »Das Wort, das Er, der ist, für die Tausende der Geschlechter geboten hat«, und dann kurz in dem Worte »Gesetz« (Ps. 105,8-10). Daher hat dann später die alte aramäische Bibelübersetzung, die stets mehr den inneren Gehalt als die Tracht [das äußere Gewand] des Wortes wiedergeben wollte, es übertragen: »Kajama«, d.h. »das Aufgerichtete«, »das Festgesetzte«, »das Beständige«, »das | Seiende«, das also, was über allem Wandel, allem Kommen und Gehen ist. An das, was unser Wort meint, kommt am ehesten noch das Wort »Gesetz« heran. Oder es könnte auch gesagt werden: dem Begriffe des Gesetzes, wie er in anderen Sprachen auch entwickelt worden ist, ist hier ein stärkerer und umfassenderer Sinn, ein mehr dynamischer Gehalt gegeben. Ein Vergleich kann es verdeutlichen. In der griechischen Sprache bezeichnete das Wort »Gesetz«, »nomos«, etwas Funktionelles innerhalb eines Gesamten, eine wirksame Kraft der Formung und Gestaltung. Dem Römer wieder besagte das Gesetz, die lex, eher etwas Organisches, Konstruktives, die große Koordination, das sichere Gebäude menschlicher Beziehungen. Hier dagegen umschließt die Idee des Gesetzes, wie sie das Wort »berit« befaßt, zugleich die Idee der lebendigen Schöpfung durch den Einen, der lebendigen Offenbarung des Einen, diese Idee des Eintritts des Jenseits ins Diesseits. In dem einen Worte klingt hier dies alles zusammen: Gesetz, Schöpfung, Offenbarung. Gesetz ist das, worin und wodurch das, was geschaffen, das, was offenbart worden ist, diese Schöpfung und diese Offenbarung bleiben. Gesetz ist die
41
20
21
dauernd wirkende Ordnung von Schöpfung und Offenbarung. In ihm finden Schöpfung und Offenbarung ihren immer neuen und doch immer gleichen Ausdruck. Grund und Erscheinung haben in ihm ihren Zusammenhang. Gesetz ist also das, worin und wodurch das Wechselnde und das Bleibende, das Sichtbare, Hörbare und das Unsichtbare, Unhörbare, das Rationale und das Nichtrationale eins sind. In der Welt der Natur tritt es uns entgegen als der große Kosmos, der da ist, und in der Welt des Menschentums tritt es uns entgegen als ein Kosmos, der, immer wieder, erst werden soll. Gesetz, Schöpfung, Offenbarung, sie sind dasselbe, sie sind der »Bund« Gottes. Einst meinte das Wort den Vertrag; aus dem Vertrage ist das Gesetz, in dem | Schöpfung und Offenbarung sprechen, geworden. Über und unter allem, was kommt und geht, vor ihm und nach ihm, ist das, was ist und bleibt: der Bund des Einen. Daß dieses Eine lebt, daß es ewig und überall waltet, das ist diesem Volke zu einem Glauben geworden. Immer wieder ist es dessen gewiß geworden: alles ist von Einem her und zu Einem hin, es besteht ein Gesetz, das der eine Gott aufgerichtet hat. Er hat es aufgerichtet in der Welt und in der Menschheit. Es besteht der Bund, der Bund des einen Gottes, mit dem All und mit den Geschlechtern der Menschen; nichts ist außer dem Bunde, nichts ohne ihn. Und es besteht, das war hier die besondere Gewißheit noch inmitten dieser umfassenden Gewißheit, das Gesetz dieses Volkes, dieses Volkes, welches von dem einen Gott zum Gesetze hin gerufen ward, damit das Gesetz Gottes ihm zu seinem Leben und zu seiner Zukunft werde – dieser Bund Gottes mit ihm und seiner Geschichte inmitten des Bundes mit der Welt und dem, was sie füllt. Propheten haben das hier erlebt. Von ihnen ist es ausgegangen und ist zum Erlebnis ihres Volkes geworden und zu einem Erlebnis danach in Völkern auf Erden. In der Sphäre des Menschlichen zuerst, und von ihr aus dann weiter, hat es sich erschlossen: in allem lebt als sein Grund und seine Bestimmung ein Einziges, Eines, ein Verborgenes, Unergründliches, Unendliches, Ewiges. Es ist das Allumfassende, so daß niemand und nichts neben diesem Einen, außerhalb seiner sein kann. Nie darf daher einer meinen, daß er für sich oder im Eigenen nur wäre, nie darf einer glauben, daß er enthoben oder entlassen sei. Immer ist er in diesem Einen, bei diesem Einen, ihm verbunden und doch auch ihm gegenüber, gleichsam immer von ihm umfaßt und von ihm gesehen und gehört, nie ihm entgehend, nie ihm ausgewichen, niemals imstande, nur von sich aus den Weg zu haben oder auf sich selber nur sich zu beziehen. Immer ist er ergriffen und erkannt und festgehalten. Und allezeit
42
und | überall, so wurde es hier ebenfalls erfahren, ist er damit in eine ewige Gewißheit hineingefügt, gleichsam in »Arme der Ewigkeit«. Niemals ist er darum verlassen und niemals verloren, nirgends vereinsamt, nirgends für immer verworfen, keinem sonst je ganz überliefert, keinem sonst ganz anheimgegeben, sondern immer ist er von dem Einen, Unergründlichen getragen, immer in ihm geborgen, immer von ihm behütet. Und zu jeder Stunde und von jeder Stätte her, so war es diese lebendige Erfahrung, können wir Menschen darum nach der Nähe und Kraft dieses Unfaßbaren, Ewigen, Einen hinstreben, können wir danach emportrachten, mit ihm vereint zu sein, können wir zu ihm hin uns sehnen und ihm vertrauen. Dieses ewige Ich, das zu uns spricht, dieses Ich allen Ichs, von welchem alles ausgeht, welches alles erschafft, alles bestimmt, alles erschaut, alles vernimmt, ist für jeden zugleich das bleibende Du, ein Du allen Dus. Zu ihm kann ein jeder hinblicken und hinrufen, an ihm jeder sich aufrichten, zu ihm jeder sein Sorgen und Bangen hintragen. Der ewige, unendliche Bund ist geschlossen. Hiermit hat ein Weiteres seine Deutlichkeit gewonnen. Denn dem, der es ganz erfährt, wie er geworden, gehalten, hingeführt ist, wird damit ein anderes auch offenbar. Er erfährt, wie mit alledem zugleich eine Forderung an ihn herantritt, eine Forderung, die nicht mehr abgelenkt werden kann. Die Richtung ist ihm gewiesen. Allenthalben ist ihm eine Aufgabe gesetzt und damit eine Verheißung gewährt. Aus dem Verborgenen, Fernen, Jenseitigen, aus dem Einzigen, Einen, aus dem ewigen, unendlichen Ich, so ist es hier erlebt worden, tritt ganz nahe, ganz deutlich an jeden Menschen das unabweisbare »Du sollst« heran. Er wird das Du, von dem Einen so genannt. Zu jedem, wo immer er sei, spricht gebietend, und damit zugleich zusagend, das Wort des einen Gottes. Das Gebot, so ist hier erkannt worden, steht vor dem Menschen. Es ist immer dasselbe Gebot, weil es das Gebot Gottes | ist, und ist doch immer ein neues, weil es das Gebot jeder neuen Stunde ist. Der Mensch soll es erfüllen; vor ihm erstreckt sich eine Bestimmung. Er ist, solange er lebt, auf dem Wege, solange er lebt, liegt der Weg vor ihm. Am Ende des Weges erst kann das Vollbringen stehen. Der Mensch kann nur danach ausschauen, denn er ist der endliche Mensch. Aber das ist das große Und Dennoch, seine Antwort auf das menschliche Leben: wo immer ein Mensch auf dem rechten Wege geht, ist ein Vollbrachtes schon sein; denn er, der Mensch, erfüllt hier ein Gebot Gottes. Gott fordert von ihm, und ihm ist damit das Größte schon gegeben. Gott hat ihn erwartet, ihm ist damit das Größte schon zugesagt.
43
22
23
24
Es ist wie eine Paradoxie: durch den Menschen kann Gottes Wille verwirklicht werden. Was des Ewigen ewiger Wille ist, kann und soll des sterblichen Menschen Wille sein. Das Verlangte ist so das Verheißene, das Gebot zugleich der zugesagte Besitz. Durch die Erfüllung des Gebotes wird der Mensch Ich von Gottes Ich, Ich von Gottes Gnaden. Aus dem Individuum wird er zur Persönlichkeit, wird er ein Berufener. Wie das Wort der Bibel dies auszudrücken sucht: er ist – und jedes »Du bist« ist auch ein »Du sollst« – »Ebenbild Gottes«, »Ebenbild« dessen, der das ewige, unendliche Ich ist. Der Mensch ist durch Gott ein Ich – ein jeder soll es so sein –, ein Eigener, ein Besonderer inmitten der Welt. Er ist es, weil er einer ist, zu dem Gott sein Du spricht, einer, den Gott aufruft und anredet. Gott sagt zu ihm: Du, und macht ihn damit zum Ich. Vom ewigen unendlichen Ich her, durch das »Du sollst«, tritt ein Eigenstes in sein Leben ein, wird er seines Ichs bewußt. Er kann nun zu Gott auch sprechen, ihm sagen: Du bist mein Gott. Der Bund zwischen Gott und ihm, zwischen ihm und Gott ist geschlossen. Das Gesetz wird wirklich, dadurch daß der Mensch es verwirklicht. Er hat Teil nun am Gesetze, am Bunde Gottes. | Das ist hier in der Phantasie zugleich und im Willen erfaßt worden, in dieser Vision der Entscheidung, dieser sittlichen Phantasie, die diesem Volke mitgegeben ward – von ihm ist sie in die Welt ausgegangen. Weil hier solche Erfahrung lebte und aus ihr ein geschichtlicher Entschluß erwuchs, besitzt dieses Volk inmitten des Ichseinmüssens die Deutlichkeit seines Anfangs und den deutlichen Weg. Es hat immer neu gelernt, um den Bund zu wissen. Dieses Ganze und Eine und Entscheidende hat es lebendig stets erfahren. Immer hat es daran festgehalten, daß alle letzte Bedingung und Bindung, alle wahre Forderung und Gewißheit in einer metaphysischen Realität, in einer Welt, die vor allem Irdischen ist, ihre Wurzel hat. Es hat dieses Jenseits, diesen Bereich des Ewigen und Unendlichen, erfaßt, weil es zu begreifen vermochte, wie das Jenseits als die Schöpfung und die Offenbarung des Einen in das Diesseits eintritt, wie es als der Grund, der alles trägt, als die Weisung, die alles bestimmt, in all dem Wechselnden und Wandelnden lebt. Ein Bleibendes, so wurde hier erfahren, ist in allem, ein Maß für alle ist gegeben, ein Gesetz in alles hineingelegt. Ein Bund besteht. Dieser Bund ist der Bund Gottes mit dem All : das All ist geworden und wird, weil Gott »es geschaffen, damit es wirke« (Gen. 2,3). Dieser Bund ist sein Bund mit Noah und seinen Nachkommen: Noah allein, weil er »ein gerechter Mann, ein Ganzer in seinen Geschlechtern war und mit Gott wandelte« (Gen. 6,9), ging aus dem Untergang
44
einer Welt hervor, die verderbt war und die vernichtet wurde, um einer neuen Welt Platz zu machen. Dieser Bund ist in der neuen Menschheit der Bund mit dem Vater dieses Volkes, Abraham, und mit seinen Nachkommen: Zu Abraham hatte Gott gesprochen: »Geh fort aus deinem Lande und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Hause deines Vaters ... sei ein Segen ... und gesegnet sollen in dir werden alle Sippen des Erdbodens« (Gen. | 12,1-3), ihn hatte Gott »erkannt, damit er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm anbefehle, daß sie den Weg dessen, der ist, wahren, zu tun Gerechtigkeit und Recht« (Gen. 18,19). Logisch und theologisch ist der Bund mit der Welt und dem Menschengeschlecht der erste, in der Erfahrung, psychologisch hat der Bund mit diesem Volke am Beginn gestanden. An sich selber hat dieses Volk den Sinn des Menschtums und des Weltalls erlebt. Diesen Bund, dieses Gesetz will die Bibel aufzeigen. Sie ist ganz eigentlich das Buch vom Bunde. In dem Verständnis hierfür hat der Glaube, der in einer Wende der Zeiten aus dem Glauben dieses Volkes hervorging und sich dann von ihm loslöste, sein Buch, das ihm sein Zeugnis sein sollte, das Buch vom »Neuen Bunde« genannt. Satz um Satz, in immer neuer Poesie, hat die Idee vom Bunde, vom Gesetze ihren Ausdruck gefunden. Das Gesetz der Welt und der Menschheit, der neuen nach der Sintflut, steht am Anfang. Gott sprach zu Noah und seinen Söhnen mit ihm: »Und Ich, Ich stelle Meinen Bund auf mit euch und eurem Samen nach euch, und mit allem Atmenden, Lebenden, das mit euch ist von Vögeln und Herden und allem Gewild der Erde mit euch... nicht soll nochmals eine Flut sein, die Erde zu vernichten.« Und Gott sprach: »Das ist das Zeichen des Bundes, den Ich, zwischen Mir und euch und allem Atmenden, Lebenden, das mit euch ist, für ewige Geschlechter gebe: Meinen Bogen habe ich in das Gewölk gegeben, er werde zum Zeichen des Bundes zwischen Mir und der Erde« (Gen. 9,8-13). Das Gesetz für Abraham und die von ihm herkommen folgt danach: »Er, der ist, erschien dem Abraham und sprach zu ihm: Ich bin Gott, der Allmächtige, gehe vor Meinem Antlitz einher, und sei ganz. Ich gebe Meinen Bund, zwischen Mir und dir, und Ich mehre dich sehr und sehr ... Ich stelle Meinen | Bund auf, zwischen Mir und dir und deinem Samen nach dir für seine Geschlechter, zum ewigen Bunde, daß Ich zum Gotte sei dir und deinem Samen nach dir ... Und am Fleisch eurer Vorhaut sollt ihr beschnitten werden, und das soll zum Zeichen des Bundes werden, zwischen Mir und euch« (Gen. 17,1-11).
45
25
26
27
Das Gesetz, worin Lebensbedingung und Lebensrichtung dieses Volkes bestimmt wird, hat alsdann sein Wort: »Nun denn, wenn ihr auf Meine Stimme hört und Meinen Bund wahrt, so werdet ihr Mir ein Besitztum sein, mehr als alle Völker, wenn auch Mein ist die ganze Erde; ihr, ihr sollt Mir ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk sein« (Ex. 19,5-6). Dieses selbe Gesetz wird danach bezeugt und verbürgt: »Er, der ist, sprach zu Moses: Schreibe Mir diese Worte nieder, denn so wie die Worte sprechen, stifte Ich mit dir einen Bund und mit Israel ... Und er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, das Zehnwort« (Ex. 34,27-28). Und darein gefügt, steht das Gesetz vom Rhythmus da, durch welchen Woche um Woche in der Seele dieses Volkes Schöpfung und Satzung eins werden wollen, das Gesetz des Sabbats: »Wahren sollen die Kinder Israels den Sabbat, um den Sabbat zu bereiten, für ihre Geschlechter als ewigen Bund. Zwischen Mir und den Kindern Israels ist er ein Zeichen für ewig« (Ex. 31,16-17). Das Gesetz vom Wege zur Zukunft verbindet danach Beginn und Ziel. Es verbindet dieses Volk mit der Menschheit, so daß der Bund mit ihm zum Bunde mit den Völkern allen wird. Mit dem gleichen Worte hebt es an wie vorher das Gesetz der Welt, mit jenem Worte »Und Ich« – alles, was besagt werden kann, will es in sich schließen: dieses Und, hinter dem kein weiteres Und mehr sein kann, dieses Ich, das als Grund und Beweis, als Anfang und Schluß für alles dasteht. Also ergeht das Wort an dieses Volk: »Und Ich, dies ist Mein Bund mit ihnen« – mit den Völkern nämlich von West und Ost –, »spricht Er, der ist: Mein Geist, der auf dir ist, und Meine | Worte, die ich in deinen Mund gelegt, sie sollen nicht weichen von deinem Munde und von dem Munde deines Samens, spricht Er, der ist, von jetzt bis in Ewigkeit« (Jes. 59,21). In dem Geiste, der in diesem Volke sein soll, ist der Bund mit den Völkern, ist der Tag der Menschheit gegründet. Was von diesem Volke gefordert wird, Beginn war es einst und Ziel ist es nun. Auch Schöpfung und Zukunft sind hier eins geworden: »So spricht Er, der ist: so wahr Mein Bund mit Tag und Nacht ist, so wahr Ich die Satzungen von Himmel und Erde festgesetzt habe, so wahr werde Ich den Samen Jakobs und Davids, Meines Knechtes, nicht verwerfen, aus seinem Samen Verwalter zu nehmen für den Samen Abrahams, Isaaks und Jakobs. Ich lasse eine Wiederkehr kehren [Ich werde Teshuva schaffen], Ich erbarme mich ihrer« (Jer. 33,25-26). »So wie die Wasser Noahs steht das vor Mir; wie Ich geschworen, daß nicht die Wasser Noahs nochmals über die Erde hingehen, so habe Ich geschworen, nicht über dich zu grollen, noch dich zu bedrohen. Denn mögen
46
die Berge weichen, und die Hügel wanken, Meine Liebe weicht nicht von dir, und der Bund Meines Friedens wankt nicht, so spricht, der sich dein erbarmt, Er, der ist« (Jes. 54,9-10). Mannigfaltig ziehen sich Sätze wie diese durch die Bibel hindurch, durch dieses Buch vom Bunde, vom Gesetze. Eine neue Poesie, eine Poesie vom Bunde, vom Gesetze ist in ihnen geschaffen worden; sie kündet von dem, was menschlich und irdisch ist, und doch immer zugleich von dem, was über das Menschliche und Irdische hinausreicht. Um von dem, was hinausreicht, zu sprechen, bedarf sie nicht der Mythen, noch auch gelangt sie zu ihnen hin. Das Mythische bleibt immer an diese Erde gebunden, es vergrößert nur das Irdische oder übersteigert das Menschliche. Diese Poesie ist anders, ja sie ist der Widerspruch dazu, denn sie zieht über den diesseitigen Bezirk hinaus. Jedoch verliert sie ihn nicht; sie umfaßt ihn und zugleich das Jenseits. Sie umfaßt Geschichte und Ahnung, Aufgabe und Geheimnis, das | Sichtbare und das Unsichtbare, gleichsam Erde und Himmel. Sie umfaßt alles, weil sie den Zusammenhang von dem allen erfaßt, weil sie von der Einheit weiß, die sich in allem offenbart. Nur in der Poesie, in dieser Poesie vom Gesetze, vom Bunde, konnte das alles sich aussprechen. In solcher Poesie hat die Religion ihre seelische Kraft und ihre bezwingende Weite gewonnen. Ohne sie hätte die Einheit Gottes, in der hier der Grund, der alles trägt, verkündet wurde, oft ein bloßer Begriff, eine kahle Doktrin werden können. Das Wort von dem einen Gotte ist hier zu einer Dynamik geworden, weil Diesseits und Jenseits, Nähe und Ferne hier eines werden, weil der eine Gott, welcher redet, der Gott des Bundes ist, dieses Gesetzes, das alles umfaßt. Er ist der Gott aller Welt und jedes Menschen – der Gott der Einheit, welche ist, und der Einheit, welche werden soll. Eine erhabene Erkenntnis spricht hier. Hier hat zum ersten Male die Erhabenheit ihren ganzen Ausdruck gefunden. Der Bund, dieses Bleibende, ist aufgerichtet. Er ist gegeben, daß durch ihn die Schöpfung bleibe, und er ist geboten, daß durch ihn der Mensch in der Schöpfung bleibe. Weil der Bund ist, darum bleibt Schöpferkraft, Offenbarungskraft in der Welt und im Menschen. Der eine Bund, das eine Gesetz des einen Gottes besteht. Natur und Sittlichkeit haben so einen Ursprung, eine Wurzel, sie kommen aus einem hervor. Beide zusammen sind sie Bund, Gesetz des einen Gottes.
Der Mensch ist hier vor Gott hingeführt. Jeder einzelne Mensch ist daher gemeint. Jeder eine tritt hier neben den anderen. Keiner steht
47
28
29
30
unter einem anderen, keiner über einem anderen. Mit solchem Worte hat Moses begonnen, als er von seinem Volke den letzten Abschied nehmen mußte. »Ihr steht alle heute vor Ihm, der ist, eurem Gotte: eure Häupter, eure | Stämme, eure Ältesten und eure Beamten, ein jeder Mann in Israel, eure Kinder, eure Frauen, und dein Fremdling, der in deinem Lager ist, von dem, der dein Holz sammelt, bis zu dem, der dein Wasser schöpft, daß du eintretest in den Bund dessen, der ist, deines Gottes, und in Seinen Eid, den Er, der ist, dein Gott, mit dir heute schließt« (Deut. 29,9-11). Von Gott ist zu dem Menschen gesprochen. Dem Menschen ist aufgetragen und ihm ist zugesagt, daß er den Bund, das Gesetz wahre und verwirkliche, damit der Bund durch ihn bestehe. Von Gott reicht der Bund zum Menschen hin. Vom Menschen kann er nur, und soll er, aufgenommen sein. Von Gott ist er eingezeichnet, und der Mensch »tritt in ihn hinein«. Am Menschen, durch den Menschen wird er zum Gebote, zum bestimmenden Wesen des Daseins. Zwischen Gott und dem Menschen ist er geschlossen, – der Bund, das Gesetz. Das Gesetz ist von Gott, aber es wird Stunde um Stunde zur Aufgabe des Menschen. In der Welt des Sichtbaren zeigt es eine Gebundenheit, eine Notwendigkeit, im Menschen wird es zur Möglichkeit, zu einem Wege, zu einer Freiheit. Es verwirklicht sich in der Menschenwelt dadurch, daß der Mensch da ist, der es erfüllt und wahrt und sichert. Ihm, dem Menschen, in seinem Bereich ist der Bund, das Gesetz, anvertraut, dieses Gesetz, das die Welt bestimmt und erhält. Er ist Verpflichteter des Gesetzes und zugleich sein Meister. Durch den Bund, das Gesetz, besteht die Welt, aber innerhalb der Welt des Menschen hat es durch ihn erst, nur durch ihn den Bestand; er schafft ihm das Dasein. In einem Jahrhundert der Wende sagte das dichtende Wort eines Lehrers in diesem Volke: »Als Gott am Sinai den Bund mit dem Volk schloß und das Volk den Bund zu eigen nahm, da erst gewann die Welt, die ein Chaos gewesen, ihr Fundament« – Gesetz, das in den Willen des Menschen eintritt, bewirkt, daß ein Kosmos wird. Die alte aramäische Bibelübersetzung sprach das gleiche damals aus, indem | sie den Spruch »Der Gerechte ist ein bleibender Grund« (Spr. 10,25) also übertrug: »Der Gerechte ist Fundament der Welt«. Oder um einen anderen Satz dieser Zeit noch anzuführen: »Wer das wahre Recht von früh bis spät zu einer Wirklichkeit macht, der ist ein Genosse Gottes in dem Werke der Schöpfung.« Vom Werke Gottes ist gesagt: »es ward Abend, und es ward Morgen, ein Tag«. Und von dem treuen Richter darf gesagt werden: »es ward Morgen, und es ward Abend, ein Tag« – der Richter des Rechtes führt gleichsam fort, was Gott begonnen und einge-
48
setzt hat. Daher kennt dieses Volk in seinem Buche kein höheres, edleres Wort für sich selbst und für seine Propheten, den ersten, Moses, vornan, und für den Menschen und die Gemeinde der Zukunft als das Wort »Knecht Gottes«. Das ist das Ideal, daß sie alle Helfer Gottes, Knechte Gottes heißen dürfen, indem sie alle daran mithelfen, daß der Bund, den Gott geboten, das Gesetz, das Gott gegeben hat, zum Zeugnis des Lebens auch unter den Menschen werde. Man hat die Religion dieses Volkes, diese Mutter von Religion, oft »Gesetzesreligion« genannt. In der Tat, das Gesetz ist in ihr ein Wesentliches, ohne das Gesetz kann sie nicht sein. Aber das Ganze ist hiermit noch nicht gesagt. Denn das, was sie ganz bezeichnet, offenbart sich erst in einem Tieferen. Es zeigt sich erst darin, daß das Gesetz hier, mag es auch für uns Menschenkinder sich im Zugemessenen unseres Raumes und im Begrenzten unserer Tage darstellen, doch immer und überall Gesetz aus der Unendlichkeit und Ewigkeit hervor ist. Weil das ihm zukommt, darum erst ist es das Gesetz. Sein Grund ist im Unergründlichen. Erst aus dem Erlebnis des Unergründlichen erwächst hier das des Grundes, erst aus dem Erlebnis des ewigen Geheimnisses, der Unendlichkeit und Jenseitigkeit, tritt das des Gesetzes hervor. Das eine kann nicht ohne das andre sein. Hinter dem Gesetz steht gebietend das Geheimnis, dieses Geheimnis, das um den ewigen Gott ist. | Durch das Gesetz, da Gott es gegeben und der Mensch in seinem Kreise es erfüllt, kann der Mensch dem Ewigen nahen. Aber wahrhaft um das Gesetz und so um Gottes Nähe zu erfahren, vermag er nur, wenn er zugleich um dieses Geheimnis erfährt. Das Gesetz ist nicht ohne das Geheimnis. Und das Geheimnis ist nicht ohne Gott. Aber dieses Geheimnis ist ebenso nie ohne das Gesetz zugleich. In dem Worte »Bund« will alles das in einem erfaßt und vernommen sein. Gott selbst können wir Menschen nicht erleben, aber wir vermögen, und in diesem Volke ist es zuerst so erfahren worden, das ewige Geheimnis, das um Gott ist, und das ewige Gesetz, das aus dem Geheimnis kommt, beide in einem, zu erleben. Durch sie beide zusammen ist der Mensch zu dem Bereiche Gottes hingeführt, so daß er »in allen Wegen Gottes geht«, dem Ewigen, seinem Gotte, »anhangt« (Deut. 11,22). So sehr das Gesetz hier eine wesentliche Bedeutung hat, so wenig besitzt es sie daher durch sich selbst, vermöge seiner selber schon. Es bedeutet das, was es ist, weil es die Offenbarung des Ewigen, das »Wort« des einen Gottes ist; aus dem Geheimnis hervor hat es seine Kraft und seinen Bestand. Darum gehört zu jedem der Gebote, die es kündet, untrennbar das Wort, »ich bin der, der ist, dein Gott«. Erst
49
31
32
33
damit, daß dieses Wort hier steht, spricht das Ganze zu uns. Man führt, um ein Beispiel zu nennen, so oft den Satz dieses Buches an: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, und man läßt den Satz fort, den geheimnisreichen und entscheidenden, welcher den Grund hinstellt: »Ich bin der, der ist« (Lev. 19,18). Läßt man ihn fehlen, so ist der andere Satz entwurzelt. Nur beides zusammen ist die Wahrheit, das Gebot, der Bund des Ewigen. Durch nichts kann das Gebot sich daher stärker, unbedingter aussprechen als durch diese Idee des Bundes. Aber nichts auch kann mehr beruhigen, mehr an Zuversicht schenken als dieses Wissen darum, daß im Gesetze der Bund ist, diese Offenbarung | des Ewigen und Unendlichen, dieses Zeugnis von ihm, der alles schafft und fügt. »So wahr Himmel und Erde, so wahr Tag und Nacht sind« [Jer. 33,25-26], hat der Prophet gesagt, ist das Gesetz, ist der Bund. Wenn Menschen das hier vernahmen, so erfuhren sie jenes große Umfaßtsein. Sie wußten sich umhegt durch das, was nie aufhört und nie verläßt, was über allem ist, vor allem war, und nach allem sein wird. An sie trat im Gesetz die gewisseste Gewißheit, die Bürgschaft des Dauernden und Bleibenden heran. Und so ganz im Persönlichen erlebten sie das alles, daß sie kein besseres Wort auch dafür hatten als Liebe, Treue – ewige, unendliche Liebe und Treue. Bund und Liebe kommen so zusammen; wie zu einem Worte sind hier die beiden Worte geworden. Gott ist »der, der den Bund und die Liebe wahrt« (Deut. 7,9). Man hat, um das Eigentümliche dieser Religion hervorzuheben, sie auch gern als den »ethischen Monotheismus« bezeichnet. Auch das wiederum ist richtig, aber nicht vollständig. Denn nicht darin nur, daß der eine Gott und sein Gebot hier verkündet sind, nicht nur in diesem Monotheistischen und Ethischen besitzt diese Religion ihren Charakter. Ihre Besonderheit offenbart sich vielmehr darin, daß hier des einen Gottes Wille als der eine Mittelpunkt erkannt ist, von dem her Verstehen und Denken, Handeln und Hoffen eine Ordnung erhalten. Von dem einen Gotte her ist alles bestimmt, auf den einen Gott hin ist alles bezogen, in ihm ist der Mittelpunkt erfaßt für alles, was ist, und alles, was sein soll. Dieses Theozentrische gibt hier dem Monotheismus sein Eigenes und sein Ganzes erst. Der Gedanke, den der Geist hegt, gewinnt seinen rechten Sinn, die Tat, die der Wille übt, erhält ihren rechten Weg, wenn sie auf Gott, den Einen, hingelenkt sind. Erst dadurch werden Suchen und Denken, Streben und Tun Ausdruck einer Beziehung zur letzten Wirklichkeit. Dem Leben, mag es auch im Engen dahingehen, werden Charakter und Stil, ja der große Zug | gegeben. Das Leben wird davor bewahrt, daß seine Weise im Ausdruckslosen verklingt.
50
Wenn dieser Monotheismus als ethischer bezeichnet worden ist, so hat das, wie gesagt, aber seinen guten Sinn. Denn die rechte Tat wird in dieser Religion vorangerückt. Es ist hier ins lebendige Bewußtsein getreten, daß menschliches Denken und Begreifen auch Ausdruck einer Willensrichtung sind, daß sie daher, um im Geraden zu bleiben, vorerst eine Geradheit des Willens verlangen. Das rechte Handeln ist eine sichere Bahn auch zu einem rechten Denken; so ist es doch eher wahr als umgekehrt. Schon früher ist eine betonte Bedeutung – die »eines Geheimnisses aus der höheren Welt«, wie einer der alten Lehrer übersteigernd sagte – dem Satze beigelegt worden, mit dem das Volk auf die Offenbarung am Sinai geantwortet hatte: »Alles, was Er, der ist, gesprochen hat, wollen wir tun und hören« (Ex. 24,7) – zuerst das Tun und dadurch und darauf das Hören, das Verstehen. Das rechte Handeln, in welchem der Mensch mehr und mehr der Idee des Rechten gewiß und damit auch Gottes bewußt wird, dieses Handeln »in den Wegen Gottes« [Deut. 11,22], zu Gott hin gleichsam, das ist hier nicht nur Sittlichkeit, sondern auch »Anfang der Weisheit« [Prov. 1,9]. Hier tritt ein Gegensatz hervor gegen den Grundsatz der sokratischen und stoischen Philosophie, mit deren Gedanken sonst die dieses Volkes manche Verwandtschaft zeigen, gegen jenen Grundsatz, daß dem rechten Denken von selbst das rechte Handeln folge. Die psychologische und geschichtliche Erfahrung spricht oft gegen ihn. So sehr die Männer selbst, die ihn vertraten, menschliche Vorbilder waren, so läßt es sich doch beobachten, wie oft ein Gegensatz von Lehre und Leben, von »Geist« und Tatsächlichkeit gerade auf jene Auffassung zurückgeht. Man begnügt sich mit dem Denken, mit der Geistigkeit, und vergißt darüber das Gebot oder meint, seiner enthoben zu sein. Und diese Richtung hat auch dahin geführt, | daß man die edlen, gläubigen Gedanken, die man in die edle Form gebracht hatte, dann die Existenz für sich selber haben ließ. Es schien nicht mehr erforderlich, ihnen auch durch das Tun ihre Wirklichkeit zu bereiten. Gedanken sind zudem biegsam, duldsam und auch folgsam; das Gebot der rechten Tat ist weniger elastisch. Es dünkt darum oft starr. Dafür sichert es dem Willen seine rechte Bahn und führt damit zu einer Rechtschaffenheit des Denkens auch hin. Diese Rechtschaffenheit der Richtung ist hier zuerst gefordert, sie ist die eine für Denken und Handeln. Durch den einen Mittelpunkt wird sie gewiesen, welcher alles bestimmt. Nicht vom Menschen ist so der Ausgang genommen – das war das eigentümlich Heidnische –, nicht an ihm hat alles sein Maß und sein Gebot, sondern von dem einen Gotte her ist aller Grund, zu ihm hin
51
34
35
ist aller Weg. Das ist es, was in dieser Religion Glauben genannt wird. Glauben ist hier die Entscheidung zu dem einen Standorte, die der Mensch vollzieht, die Einheit und Stetigkeit, die er damit seinem Leben bereitet. Der Mensch wird gläubig, wenn er sich von Gott her erfährt und zu Gott hinführt, so daß nunmehr kein Teil seines Lebens ohne diesen einen Mittelpunkt, ohne diese Verbundenheit sein kann. Sein »Herz« wird dadurch, wie ein altes Gebetswort sagt, »geeint« (Ps. 86,11), in dem einen Gotte geeint. Glaube ist daher kein gebotener Glaube – du sollst glauben, das wäre hier ein fremdes Wort –, sondern ein gebietender Glaube. Er ist nicht ein gefordertes Fürwahrhalten, auch nicht ein Erfaßtwerden in einem hinreißenden Empfinden, er ist weder die Orthodoxie noch die Ekstase, sondern er ist die Wahl des Standortes und damit des Weges. Nicht im Gefühlsmäßigen und nicht im Begrifflichen findet er seinen ersten Ausdruck, sondern in der Entschließung. Er bedeutet nicht ein bloßes Bekenntnis zu Gott, sondern den Willen zu Gott. Er ist der umfassende Wille zu dem Einen, zu dem, was inner|halb und was oberhalb des Irdischen, im Tage und zugleich jenseits des Tages ist, der Wille so zu dem, was mehr ist als alles bloß Hingestellte. So wie er hier begriffen und gestaltet worden ist, kann er weder zu einer Flucht vor den Menschen noch zu einer Ausflucht vor dem Gebot werden. Sein Sinn kann nicht besser bezeichnet sein als durch den Satz, der in einem der alten Weisheitsbücher dieses Volkes steht: »So du willst, wahrst du das Gebot; Glauben ist, Seinen Willen zu tun« (Sirach 15,15). Darum meint: an Gott glauben zugleich und in einem: Gott lieben; denn auch Liebe meint: eins werden, gewiß sein. »Höre Israel, Er, der ist, ist unser Gott, Er, der ist, ist einer. Liebe Ihn, der ist, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft« (Deut. 6,4-5), diese Worte konnten hier der Grund des Bekenntnisses sein. In ihnen spricht dieses Volk zu sich, sie sind sein Gebet. Gott als den Einen besitzen, mit ihm stets und überall verbunden bleiben, den Bund Gottes zu eigen nehmen, das ist hier Glaube an Gott, das ist hier Liebe zu Gott. Weil Menschen in diesem Volke, und dann das Volk selbst, es so erlebten, haben sie sich immer neu mit dem kategorischen Gebot und der kategorischen Gewißheit verbunden. Der Gedanke an den immer und einzig Schaffenden, Gebietenden läßt in der Seele den Sinn für das Unbedingte erwachsen. Durch das »Du sollst« erhält das »Wer bin ich?« seine Antwort in der Stunde, da der Mensch sich befragt, und das »Wo bin ich?« sein Zeichen des Weges, wenn er im Kommen und Gehen sich selber sucht. Was zueinander hintritt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gewinnt eine innere Verknüp-
52
fung durch das Wissen um dieses Unbedingte. Menschen konnten nun die Endlichkeit, diese schwankende Zeit, dieses Wechseln des Gefüges überwinden. Sie konnten, wie ein altes Wort hier sagte, »ihre Ewigkeit in der Stunde zu eigen nehmen«. | Als das Volk dieses Bundes wollte dieses Volk leben, in seinen besten Tagen hat es sich dafür immer entschieden. Es hat Volk eines Auftrages sein wollen, eines Auftrages von dem Einen, der allein solchen Auftrag geben kann. In diesem Volke ist darum, solange es sich treu bleibt, kein Raum für den Unterschied, geschweige denn für den Gegensatz, zwischen einem Volksbewußtsein und dem religiösen Bewußtsein. Schon das weist ihm seinen Platz und seinen Weg auf Erden. Das Volk des Bundes sollte es inmitten der Völker sein, inmitten ihres Trachtens und ihrer Eifersucht soll es das bleiben. Auch an ihm soll der Menschheit offenbar werden, was der Bund Gottes mit ihr ist, was das Gottesgesetz und sein Geheimnis, was das Gottesgeheimnis und sein Gesetz besagen. An ihm auch soll die Menschheit Gott erfahren. Darum hat sein Prophet es nennen dürfen: einen »Bund der Völker« [Jes. 42,6; 49,8], das heißt ein Geheimnis und ein Gesetz für die Völker. Ein Volk des Bundes zu sein, wie ein »Zeugnis« einer anderen Welt vor den Augen dieser Welt, vor ihrem Unglauben und ihrem Glauben dazustehen, hierin hat dieses Volk die Bedeutung seines Lebens entdecken wollen, hierin besitzt es die Bedeutung seiner Geschichte. Darum hat es seinen Grund im Grunde des Alls gefunden.
53
36
II. Der Auszug
39
40
In dem Geheimnis und Gebote Gottes, in dem Bunde, den er geschlossen hat, fand dieses Volk seinen Grund. Als das Volk solches Grundes stand es vor sich da, weil es den Ruf vernommen hatte. Aber es wußte ebenso, wann und wie sein Dasein in die Geschichte eingetreten war, wo der Weg anfing, der ihm vorgeschrieben ist. Als geschichtliches Volk erkannte es sich, so sehr es sich gleichsam als metaphysisches Volk dachte. Es nannte, auch darin in eine Besonderheit gestellt, einen Tag als den, an welchem es die Volkspersönlichkeit erhalten hatte, an welchem es von Gott als »ein Volk mitten aus einem [anderen] Volke genommen« ward (Deut. 4,34). Sippen, Stämme waren einst von Osten her nach dem Reiche des Nildeltas gekommen, waren als Söldner, Ibrim (Hebräer), in den Dienst des Pharao getreten und dann im Gange der Zeit zu Knechten gemacht worden. Ein Tag hatte sie danach zur Freiheit hinausgeführt, ein weiterer dann, von dem das alte Lied [Ex. 15] sang, hatte die von Pharao Verfolgten zum jenseitigen Meeresufer gerettet. Sie waren zum geschichtlichen Volke geworden. Ein Mann, Moses, Kind dieses Volkes und Kind der Ägypter, hatte den Weg gewiesen. An ihn war das Wort des Ewigen ergangen; er hatte sie erweckt, und von ihm geleitet waren sie aus Ägypten gezogen, damit sie sich fänden, wie er | sich gefunden hatte, damit sie das Volk Gottes würden, wie er der »Mann Gottes« geworden war. So lebte es in der bleibenden Erinnerung. Mit dem Auszuge aus Ägypten begann für das Volk seine Volksgeschichte, die Bahn, zu der die Wege seiner Stammväter hingelenkt hatten. Auf ihn blickte es zurück, um an ihm sein Gegenwärtiges und sein Zukünftiges besser begreifen zu lernen; ihm wandte es sich zu und wurde dessen gewiß, daß es so, wie es entstanden ist, auch bestehen wird. Die Gewißheit dieses Anfanges hat es durch die Jahrhunderte begleitet. Die Erinnerung an ihn feierte es als das erste seiner Feste, im Frühlingsmonat; ein Frühling seines Daseins sollte,
54
Jahr um Jahr, in seiner Seele sich erneuern. Natur und Geschichte wurden hier eins. Jahrhunderte um Jahrhunderte, wenn das Fest eintrat, saßen die Menschen in feierlichem Abendmahl beieinander wie in einer Bekenntnisfeier und sprachen: »Knechte waren wir dem Pharao in Ägypten gewesen, und herausgeführt hat uns von dort Er, der ist, unser Gott, mit starker Hand und ausgestrecktem Arme, und hätte nicht der Heilige, gelobt sei Er, unsere Väter herausgeführt, dann würden wir und unsere Kinder und unsere Kindeskinder dem Pharao in Ägypten verknechtet sein.« Geschichte auch und Religion wurden eins. In dem tiefen, ernsten Sinne, der dem Geschichtlichen zukommt, war so der Auszug aus Ägypten diesem Volke sein Anfang. Nicht eine Zeitbestimmung nur, sondern eine Lebensbestimmung besagte er. In dem Wissen um ihn konnten jenes Ideelle, der Grund aus dem Unergründlichen, und dieses Historische, die Entstehung im Gewordenen, zu einem werden. So wußte man es: Der Ewige hatte diesen Mann, Moses, gerufen und zu seinem Volke gesendet. Nicht hinausgezogen ist dieses Volk, sondern der Ewige hat es herausgeführt, damit es ihm zum Volke werde. So hatte Gott, der Ewige, einst auch die Väter dieser Menschen gerufen: den Abraham, dem er gebot: | »Gehe du aus deinem Lande, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Hause deines Vaters in das Land, das Ich dich sehen lassen werde; Ich werde dich zu einem großen Volke machen ... und deinen Namen groß werden lassen« (Gen. 12,1-2), – den Isaak, dem er anbefahl: »Weile in diesem Lande, und Ich will bei dir sein und dich segnen« (Gen. 26,3), – den Jakob, zu dem das Wort erging: »Nicht Jakob werde fürder [weiterhin] dein Name gesprochen, sondern Israel, denn du hast gerungen mit Gottheit und mit Menschheit, und du vermochtest es« (Gen. 32,29). Auch dieser Auszug ist ein Gesetz, ein Bund, »der Bund mit den Ersten« (Lev. 26,45). Daher hebt denn auch das große Gebot des Bundes, das Zehnwort, mit dem Satze an, der von dem Auszug aus Ägypten spricht: »Ich bin der, der ist, dein Gott, der Ich dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause der Knechte, herausgeführt habe« (Ex. 20,2). Offenbarung und Geschichtsbeginn sind zusammengefügt, Wesen und Anfang dieses Volkes sind in einem bezeichnet. Weil Idee und Geschichte zusammenkamen, darum konnte dieses Volk innerlich mit seinem Anfange verbunden bleiben. In der Bekenntnisfeier dieses Abendmahls am Frühlingsfeste durfte es zu sich sprechen: »Geschlecht um Geschlecht soll ein jeder sich so sehen, als sei er aus Ägypten herausgezogen.« Das Volk sah seinen Weg vom Beginn zur Gegenwart her und vom Beginn zur Zukunft hin.
55
41
42
43
Auch in dieser seiner Geschichte lernte es zugleich die Menschheit begreifen. Denn die Idee, die in seiner Geschichte sich ihm aufzeigt, zeugt von dem Ganzen der Geschichte, sie will den großen Zusammenhang von Gesetz und Geschehen aufweisen und verbürgen. Ist das Geschehen auch jeweils ein besonderes, so ist das Gesetz, das darin waltet, doch stets und überall das gleiche. Geschichte ist diesem Volke nie zur bloßen Zeitenkunde und nie zur bloßen Kunde der Völkerbeziehung geworden, | sondern sie war ihm das Gesetz eines höheren Willens, das sittliche Gesetz, dem hier ein Volk nachgeht, wenn es seinen Weg sucht, und dem dort ein anderes ausweicht oder entgegen ist. Eine gebietende Satzung, so sah man es, tritt mit der Geschichte aus dem ewigen, unendlichen Jenseits hervor, eine Satzung, die darum für alle gilt, vor sie alle das Gebot von Gott, die bleibende, sittliche Aufgabe, hinstellt. So ist das Zweifache hier lebendig: der Sinn für die Tiefe des Hintergrundes, in der die Vergangenheit in das Geheimnis übergeht, und der Sinn für die Weite der Wirkung, durch die der einzelne geschichtliche Vorgang in das Geheimnis der Zukunft hinausreicht. Und beides hat seinen Zusammenhang durch das bleibende große »Du sollst«, das an die Völker ergeht, durch das Gottesgebot, dessen Werkplan, dessen wirksame Bahn, welche jedem Volke seine Möglichkeit gibt, diese Geschichte ist. Das große Pathos der Geschichte hat hier seinen Ausdruck gefunden. Die Völker sind vor Gott hingestellt. Sie haben alle das Ihre, jedes hat seine Sphäre und seine Tage, jedes seinen Willen und seinen Geist. Jedes hat seine Möglichkeit. Sie können den Weg des Bundes gehen zu dem Ziele hin, dem nahen oder fernen, diesen Weg von Gesetz und Erfüllung. Aber oft gehen sie von ihm fort. Sie trachten dann nur nach irgendeinem Nutzen und Gewinn, nach irgendeiner Wichtigkeit und Macht und meinen, damit Geschichte zu bereiten; so »mühen sich die Völker um ein Leeres und die Nationen um den Rauch von Feuer, und sie sind erschöpft« (Hab. 2,13; Jer. 51,58). Sie alle sind einem Gesetze untertan: Werkzeuge eines Jenseitigen wirken in ihnen, Instrumente eines Logos, eines ewigen Baumeisters der Geschichte. Gott hatte sie alle, nicht dieses eine Volk bloß, sondern sie alle, als ihre Zeit gekommen war, herausgeführt, das eine von hier, das andere von dort; ihnen allen war die große Möglichkeit gegeben. Diese Möglichkeit hat, soweit unser Blick rück|wärts ins Deutliche reicht, immer in einem Umherziehen begonnen; von ihm erzählt das erste Buch der Bibel. Der erste Schritt in die Welt hinaus, die Zeit vor der eigentlichen Geschichte, ist diese Zeit der Wanderungen. Überall sind
56
Sippen und Stämme umhergezogen als Nomaden, denen ihre Herden den Weg bezeichneten, oder als Krieger, die ihr Verlangen nach dem Besitze anderer hierhin und dorthin führte; oft sind sie auch bald das eine, bald das andere oder beides in einem gewesen. Eigentliche Geschichte beginnt, wenn Sippen, Stämme sich mit einem engeren oder weiteren Stück Boden verbinden, dadurch, daß sie ihn bebauen, und damit den verpflichtenden, bindenden Begriff der dauernden Grenze zu eigen nehmen, der Grenze um ihr Gebiet und der Grenzen innerhalb ihres Gebietes – der Grenzstein, der Grenzpfahl ist gewissermaßen das erste hingestellte Gesetz. Die Sippen und Stämme haben nun ihr Land, in ihm können sie ihre Wege bereiten; sie sind ein Volk geworden, die Zeit der Geschichte beginnt. Geschichte zu erwerben, Geschichte zu haben, ist die Aufgabe eines jeden Volkes. Und wenn ein Volk dann eine Idee, einen bestimmenden, echten Gedanken in sich entdeckt und ihn festhält, dann hebt die Zeit einer großen Geschichte an – auch die kleinen Völker, ja meist sie, sie mehr als die großen Völker, haben große Geschichte zu eigen gewonnen, von ihnen ist Weltgeschichte ausgegangen. Manche Stämme sind geschichtslos geblieben; in ihnen war eine Furcht vor der Grenze, sie verlangten danach, immer nur umherzuziehen; sie sind in einem Infantilismus oder einem Juvenilismus verblieben. Inmitten der Völker und der Grenzen, die gesetzt waren, ist ihnen entweder kein Raum schließlich mehr geblieben und sie haben aufgehört, oder sie existieren noch weiter, ähnlich wie aussterbende Tiere, gleich diesen von manch romantischer Zuneigung umgeben. Sie sind aus der bloßen Möglichkeit nicht hinausgetreten, sie sind ohne Geschichte. Das ist ein Thema, | das sich durch das Buch dieses Volkes hindurchzieht, in immer neuen Arten des Ausdrucks: Geschichte ist die Verwirklichung der Möglichkeit, die den Menschengruppen, den Gemeinschaften gegeben ist. Allen ist sie gewährt worden, und auf den vielen Plätzen, die die Erde hat, haben viele sich in mannigfacher Weise ihren Boden bereitet. Die vielen Völker sind da, und kein Volk hat allein den Anspruch. Der Prophet Amos, nach langem der erste, dessen Reden uns erhalten worden sind, er, der von sich sagte, was alle Propheten, jeder in seiner Weise, erfahren haben: »Es nahm mich Er, der ist, hinter der Herde hervor, und es sprach zu mir Er, der ist: Gehe, sei ein Prophet für Mein Volk Israel« (7,15) – Amos konnte seinem Volke das mahnende Wort also verkünden: »Seid ihr Mir nicht wie die Kinder der Kuschiten, Kinder Israels, spricht Er, der ist, habe Ich nicht, wie Ich Israel herausgeführt aus dem Lande Ägypten, so die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir?« (9,7).
57
44
45
Gott hat sie herausgeführt, das ist das, was jedem von ihnen gegeben ist. Aber wie und wohin sie dann weiter gingen und gehen, das ist ihr Wille geworden, das stand und steht in ihrer Entscheidung. Jedes Volk hat seine Gabe und seinen Tag erhalten, aber dieses Eigene schließt die eigene sittliche Verpflichtung ein. Und die stärkste Besonderheit besagt daher die stärkste Verpflichtung. Deshalb mußte Amos zu seinem Volke auch also reden: »Höret dieses Wort, das Er, der ist, über euch gesprochen hat, Kinder Israels, über die ganze Sippe, die – so spricht Er – Ich aus dem Lande Ägypten herausgeführt habe: nur euch habe Ich ersehen aus allen Sippen des Erdbodens, darum werde Ich an euch alle eure Verfehlungen ahnden« (3,1-2). Das ist hier das Gesetz der Geschichte, das Gesetz für ein jedes Volk. Man kann hier von einer Geschichtsprophetie sprechen, und man darf in ihr einen wesentlichen Zug dieses Volkes sehen. | Auch darin schon hatte es eine Eigenart besessen, daß es früher als andere ein geschichtsschreibendes Volk geworden ist. Als man in den Ländern ringsumher bloß Geschehnisse des Tages aufzeichnete und nur den Prunk des Krieges und des Sieges verkündete, hat dieses Volk, als erstes und noch bevor die Griechen ihre Gaben entdeckten, schon Kunstwerke der Geschichtsschreibung geschaffen. Mit der Kraft des Gestaltens und der Freude am Darstellen, mit dem Blick für den Gehalt des Ereignisses und Sinn für die Seele des handelnden Menschen ist hier wahrhaft Geschichte erzählt. Aber das war doch nur eine geistige Linie neben anderen, ein Zeichen allerdings, wie lebendig zu diesem Volke schon in seiner Jugend auch hier das Wesentliche sprach. Doch sein ganz Eigentümliches offenbart sich in diesem anderen, in dieser steten inneren Verbundenheit mit der Geschichte und ihrem Gesetze. Darin lebt noch etwas Stärkeres als jene künstlerische Kraft; eine Lebenskraft wächst darin. Ohne die leitende geschichtliche Idee, ohne die Schau, welche jeden Tag der Geschichte als Teil eines Ganzen sieht, hätte dieses Volk nicht den Weg seines Geistes, ja nicht den Weg seines Lebens haben können. Ohne solche Ausschau wäre es seiner selbst nicht bewußt geworden. Wieder hängt hier beides zusammen: je mehr dieses Volk dessen gewiß wurde, daß alles menschliche Dasein auf Erden, die Existenz aller Völker auch, von einer höheren Welt her bestimmt ist, desto mehr gewann es das Gehör für seine Berufung und den Mut zu seiner besonderen Existenz. Den geschichtlichen Lebensweg, den es gehen sollte, konnte es gehen, nur weil es über jedes eigene Hier und jedes eigene Heute hinausblickte, in die Räume und die Zeiten hinaus. Nicht aus einer geistigen Begabung nur, und nicht nur aus einer Fähigkeit zur Betrachtung, sondern eben unmittelbar aus ei-
58
nem sittlichen Lebenswillen kam diese Erkenntnis hervor. Nur durch ihn waren die Menschen dieses Volkes dem gewachsen, daß | sie immer als die anderen und als die Minderheit auf Erden dastanden und daher mehr als Gemeinschaften sonst der Geschichte ausgesetzt waren. Eine Veränderung der geschichtlichen Lage, ein geschichtlicher Druck traf sie stärker und empfindlicher als Menschen sonst. Kaum je durfte eine Zeit hier ein Behagen des Angelangtseins oder die Umhegtheit der Gegenwart ganz empfinden. Leben und Denken in der Geschichte wurden hier immer wieder ein Anspruch, der sich an den Menschen stellte. Eine Dynamik ergriff ihn.
Es war so – und dies ist für diese Prophetie der Geschichte und dieses Leben in der Geschichte charakteristisch –, weil hier ein jedes in seiner Besonderheit betrachtet, aber trotzdem nicht für sich allein, als ein für sich Stehendes angesehen werden sollte. Wieder tritt, auch hier, die Idee der Einheit und des Zusammenhangs hervor; sie bestimmt den Blick sowohl auf das Einzelleben wie auf die Geschichte. Vergangenheit ist so hier kein bloß Gewesenes, sondern ist ein Fortwirkendes, Zukunft nicht bloß ein Bevorstehendes, sondern ein Vorbereitetes. Gewordenes war geworden, bevor es wurde, und es wird sein, da es gewesen ist. Als das Wort von der Geschichte vernahm es der Prophet so: »Ich bin der, der ist ... Das Erste, siehe, es ist gekommen, und Neues, Ich sage es an; ehe es sproßt, lasse Ich es euch hören« (Jes. 42,8-9). Als den Weg menschlichen Tuns zeigt, warnend zuerst und dann verheißend, ein Satz des Zehnworts diesesselbe auf: »Ich, der, der ist, dein Gott, bin ein eifervoller Gott, der da bedenkt Fehl von Eltern an Kindern, am dritten und am vierten Geschlecht für die, die Mich hassen, und der da Liebe tut für tausend Geschlechter für die, die Mich lieben und Meine Gebote wahren« (Ex. 20,5-6). So ist Geschichte, und so ist Leben. Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, sie sind die eine Bahn eines Lebens, einer | Sendung. Die Tage darin widersprechen sich oft; sie schwanken zwischen Treue und Abfall. Der eine Tag ist oft dem andern entgegen; was der eine wollte, weist der andere ab. Aber sie alle gehören zusammen; gewollt oder nicht gewollt, sind sie der Weg, der eine Weg. Wurde das »Du sollst« des Gebotes nicht aufgenommen, so tritt an seinen Platz das »Du mußt« des Schicksals. Der Weg geht weiter, Weg des Menschen, Weg des Volkes, durch Freiheit oder durch Unfreiheit, zu einer Erfüllung hin oder in die Leere hinein. Für den Blick, der es so sieht, für diese Prophetie, welche wie in einem rückwärts und vorwärts schaut und die Zusammenhänge er-
59
46
47
48
faßt, gibt es nichts Gesondertes, nichts, das für sich nur wäre. Alles hat seine Vorfahren und seinen Nachfolger, seine Herkunft und seine Richtung. Die Worte »deine Väter«, »deine Kinder« sind kennzeichnend für diese Denkweise. Eine Trennung der Epochen, ihre innere Scheidung, bliebe hier fremd. So sehr diese Religion in dem lebendig Gegenwärtigen sein will, so sehr sie immer ein Du und ein Jetzt meint, immer den Menschen anspricht, welcher in dieser Stunde dasteht, und das Volk, welches an diesem Tage hier ist, so sehr sie darum nicht von ihnen, sondern zu ihnen redet, so sieht sie den Einzelnen wie das Volk doch zugleich in der Reihe der Geschlechter, in der Beständigkeit des Gesetzes. Sie sieht das, worin die Tage und auch die Räume zusammenkommen. Auch darum hat dieses Volkes Seele kaum je in der Ruhe dessen, der sich mit sich selber begnügt, leben wollen, leben können. Sie hat immer wieder die Linien zu sich sprechen lassen, die mahnende und die verheißende Weite. Bezeichnend ist schon, daß hier die Worte geprägt worden sind, die dann in die Welt hinausgingen: »Von Geschlecht zu Geschlecht«, »alle Tage«, »die ganze Erde«, »alle Völker«. Im Gesetz sind die Zeiten und Nationen alle verbunden, Gesetz kennt nur Zusammenhang und Gesamtheit. Was den Griechen | »historia«, »Erforschung«, hieß, heißt hier »toldot«, »Generationen«. Die Formen wechselten, in denen sich das Geschichtsbewußtsein ausdrückte. Zu Beginn war diese Geschichtsprophetie, welche die Völker vor Gott hinführt, damit sie den Spruch des Gesetzes vernehmen. Auf sie folgte eine Geschichts-Apokalyptik, eine Dichtung, welche in einer andern Welt die Geschehnisse erfüllt sieht, damit sie danach zu dieser Welt herniederkommen. Auch eine GeschichtsMystik wuchs auf, und sie sprach vom menschlichen Tun: von den schöpferischen Menschen, welche göttliche Gegenwart, die »Schechinah«, zur Erde herniederführen, und den zerstörenden Menschen, welche diese Gottesnähe von der Erde verdrängen; sie lehrte dann auch, daß zwischen Gott und der Kreatur Kreise schweben, Sphären des Sittlichen und Geistigen, kosmische Kraftfelder, in denen menschliches Wollen emporsteigen könne, in denen Einheit und Gegensätzlichkeit sich auseinandersetzen. Es gab daneben auch eine Geschichtsphilosophie, welche die Gleichordnung von Schöpfung und Geschichte aufzeigen wollte, sie sprach von Weltperioden, die gewissermaßen Schöpfungstage der Geschichte seien, vom Anfang der Tage bis zu dem einstigen Weltensabbat hin, zu der Zeit der Erfüllung, nach aller Trennung und allem Zwist. Aber wie immer das Sinnen in wechselnden Zeiten sich seine Bilder und Begriffe bereitete, das bleibende Eigentümliche ist, daß die-
60
ses Volk immer eine Gesamtgeschichte, eine Weltgeschichte um sich und vor sich sah. Es erblickte seine eigene Geschichte inmitten des Ganzen und Einen. Inmitten der Wege sah es den Weg. Die gleiche Bahn ist es, die von seinem Auszuge, dem aus Ägypten, zu seinem kommenden Tage hinblickt und die von dem Beginn aller der Völker, von ihrem Auszuge, hinweist zum Ziele, das allen gesetzt ist. Solche Weise des Denkens scheint sich im Widerspruchs|vollen zu bewegen, da sie grundsätzlich sowohl zum Sondertümlichen [Partikularen] wie zum Universellen hingelangen kann. Zwischen den beiden ist in der Tat die Spannung. Sie zieht sich begrifflich und auch menschlich durch diese Geschichte hindurch. Dieses Volk hat immer an seiner Eigenart, ja an seiner Einmaligkeit festgehalten. Ja sie ist hier ein Postulat, die Voraussetzung der Geschichte. Das Wissen um sie wie der Wille zu ihr hat auch nie geschwankt, nie schwanken dürfen. Mit dem Mute des Glaubens hat ein altes Gebet vor dem Einen, dem Ewigen zu sprechen gewagt: »Wer ist wie dein Volk, wie Israel, ein Volk auf Erden« (II. Sam. 7,23). Dieser Satz hat sich in die Seele des Volkes verwurzelt, ist wie ein Stück von dieser Seele geworden, und sie hat immer die Antwort Gottes in sich aufgenommen, die bald strafende, bald verheißende Antwort, die nur diesem Volke gilt. Aber ebenso hat sie es gehört und nie es zurückgewiesen, daß der eine Gott, der »die Geschlechter von Anbeginn ruft« (Jes. 41,4), auch alle die Völker, warnend und zusagend, anredet. Sie hat es begriffen, daß mit gleichem Maße und Gewichte einem jeden Volke ohne Ausnahme die Geschicke zugeteilt werden, dem, welches das Wort Gottes hat vernehmen, und dem, welches hat taub bleiben wollen. In dieser Spannung lebt dieses Volk, seit es und weil es aus Ägypten ausgezogen ist. Diese Spannung bereitete den Boden. In ihr ist die Seele dieses Volkes durchpflügt worden, so daß hier die Samenkörner geschichtlicher Erkenntnis, welche die Zeiten ausstreuten, aufwachsen konnten. Leidvoll oft hat diese Seele ihre Verschiedenheit erfahren; aber um so gewisser hat sie dafür eine kommende Gemeinsamkeit, eine Allheit erfaßt. Bis ins Trotzige hinein hat sie oft das betont, was nur ihr zukommt; desto unbeugsamer hat sie, dennoch, an dem festgehalten, was alle verbindet, weil es alle binden soll. Denn sie konnte nicht in dem einen sein, ohne das andere zu haben. | Es ist so ein seelisches Gesetz. Nur wer innerlich ein Besonderer ist, besitzt den Sinn für das Umfassende, für das Gesamte. Tiefe der Persönlichkeit vermag sich am weitesten zu eröffnen. Um so stärker ergreift der Mensch die Einheit, je sicherer er seines Eigentümlichen ist. Ohne den Kampf für die Unterschiedenheit, ohne den
61
49
50
51
Schmerz und die Tragik solchen Ringens wäre ein Universalismus schattenhaft oder leer. Er, der eine Verpflichtung sein soll, stände unverbindlich als bloßes begriffliches Gebilde dar. Weil dieses Volk durchaus und bewußt an seiner Individualität, an dem Gepräge, mit dem Gott es erwählt hat, festhielt, darum konnte der Universalismus hier zur Aufgabe, zum Gebote werden. Nur darum erwuchs hier der Wille zu dem, was Gott allen gegeben und vorgeschrieben hat. Wieder steht das vor uns, was für dieses Volk kennzeichnend geworden ist: alles tritt in die Sphäre des Sittlichen, das aus dem Geheimnis hervorkommt. Seelische Erfahrung bezeugt sich hier. Denn nur im Sittlichen kann echte Individualität werden, und nur im Sittlichen kann sich echter Universalismus gestalten. Auf dem Boden des Sittlichen finden Unterschiedenheit und Gemeinschaft einander, hier werden sie innerlich eins. Das ist der Weg in der Geschichte auch, daß sich Unterschiedenheit und Einheit auseinandersetzen. Durch solche Auseinandersetzung formt sich Geschichte. Geschichte ist darum auch ein Wille zur Gerechtigkeit, eine Bereitschaft zum Ringen um sie. Denn auch Gerechtigkeit ist vorerst dieses eine: das Zusammenführen von Besonderheit und Gemeinschaft. Dort, wo sie erstrebt wird, baut die Geschichte auf. Ohne sie wird Geschichte zur Zerstörung; sie errichtet, was zusammenbrechen wird, sie häuft die Trümmer auf Erden, sie ist die Mühe um das Nichts. Und sie ist darum in Wahrheit die Geschichtslosigkeit. Geschichtslosigkeit ist das Gottesurteil, das sich in dem Gerichte der Zeiten kundtut. Die Geschichte ist die Theodizee. | Die Männer der Bibel blickten auf diesen Weg der Geschichte. Die ersten Zeichen, die von ihr zeugen sollten, sind am Eingang der Bibel aufgerichtet: Die Menschheit ist eine, sie ist von einem Vater und einer Mutter gekommen, von Menschheitseltern, die aus Erdengebilde geworden waren wie das Getier und doch von ihm geschieden worden sind, da Gott sie »in seinem Ebenbilde« geschaffen (Gen. 1,27; 5,1), sie zu Wesen des Geistes und des Gebotes gebildet hat. Das ist darum das Menschentum: Erdengebild und göttliches Ebenbild, beide zueinander gefügt. Dem Irdischen war die Begierde genaht; und das Böse, die Sünde gegen Gott trat in den Menschen ein. Immer neue Bosheit, Sünde gegen den Menschen trat daraus hervor; »die Erde war verderbt vor Gott, voll ward die Erde von Gewalttat« (Gen. 6,11). Das Böse zerstört, innerlich zuerst, und dann jedem Auge sichtbar. Die Menschheit verlor nun ihr Daseinsrecht, über sie kam die Vernichtung. Nur einer, Noah, mit den Seinen ward gerettet, er, dem bestimmt worden war, daß »er trösten wird«: »Dieser wird uns trösten ob [wegen] unserer Arbeit und der Mühe unserer
62
Hände, [wegen] des Erdbodens, den Er, der ist, verflucht hat« (Gen. 5,29) – mit diesem Namen »Tröster« hat eine spätere Zeit dann auch den befreienden Menschen der Zukunft, auf den sie hoffte, benannt. Von ihm, dem ersten Tröstenden, gingen die neuen Sippen auf Erden aus, und eine Menschheit war nun wieder. Die große Tafel der Völker ist im ersten Buche der Bibel aufgestellt; alle die Völker, bis zu denen der Blick hingelangen konnte, sind verzeichnet (Gen. 10). Unterschieden sind sie durch Land und Art und Namen, und doch aus einer Wurzel erwachsen, gleichsam aus dem einen Troste auf dieser Erde, die hart und steinig geworden war. Einheit sind sie durch den Ursprung, durch Gottes Willen. Einheit durch die Treue gegen Gottes Willen sollen sie schaffen. Wo Einheit nur ein Mittel sein soll, um sich »einen Namen zu machen«, um selbstsüchtigem Begehren nach | Macht den Raum zu bereiten, dort meint sie Empörung gegen Gott. Sie ist gegen die wahre Einheit, und sie wird daher nur zu bald zur Scheidung, zum Ohneeinander und zum Gegeneinander. Das Bild von dem Turm, dem Tempel von Babel, und der Zerstreuung der Menschheit über die Erde hin erzählt davon (Gen. 11,1ff.). Scheidung war so gekommen, weil Menschen hier mehr sein wollten als Menschen nur, Übermenschen gewissermaßen. Sie konnte überwunden sein nur durch eine Trennung, die um der Menschheit willen, durch Menschentum geschah. Um »ein Segen zu werden«, damit »durch ihn gesegnet würden alle Sippen des Erdbodens« (Gen. 12,2-3), ist, als er dieses Wort Gottes hörte, einer hinausgezogen von seinem Lande, von seiner Geburtsstätte, von seinem Vaterhause, so wie, von Gott aufgerufen, seine Nachkommen dann aus Ägypten hinausgezogen sind, aus dem Lande, in dem sie gewohnt hatten. Die Geschichte dieses Volkes begann. So haben die Männer der Heiligen Schrift die Weltgeschichte, das Auf und Nieder, die sich windenden Wege und Umwege in ihr gesehen. Weil sie des Anfangs gewiß waren, blieben sie auch des Endes, des Zieles gewiß. Wenn dann so manchesmal ein Volk das andere vernichten wollte und schließlich in jenem »Du mußt« sich selbst in Trümmer schlug, dann vernahmen Menschen dieses Volkes das Wort des schließlichen Urteils. Oft wird es erst nach Geschlechtern gefällt. Aber sie wußten, daß hinter der Geschichte, in ihr sich offenbarend, die große Langmut wohnt. Immer wieder bereitet sie die Stunde, die neue Möglichkeit zur Einheit, ehe sie den endlichen Spruch fällt. Eine neue Generation wird geboren. Weltgeschichte ist die geduldige Gerechtigkeit. Wenn die Erde erzitterte, dann wurde darum in diesen Menschen der Glaube an die Gerechtigkeit, welche feststeht, nur noch lebendi-
63
52
53
54
ger. Sie erinnerten sich des Gottesgerichtes, das | über Ägypten gekommen, da das Herz des Pharao »verhärtet worden war«. Aber sie gedachten auch des Gebetes, in dem einst Abraham angesichts Sodoms und Amoras, der Stätten der Sünde, mit Gott um das göttliche Recht wie um sein eigenes Sein gerungen hatte: »Solltest du Gerechte mit Frevlern hinwegraffen ..; sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben!« (Gen. 18,23.25). Und zur bleibenden Antwort, in der alles seinen Grund erhält, zur Neujahrsantwort gleichsam, wurde ihnen das Wort des Propheten: »Er, der ist, ist unser Richter, Er, der ist, ist unser Gesetzgeber, Er, der ist, ist unser König. Er wird uns helfen« (Jes. 33,22). Sie sahen das Licht des einen Rechtes, das von Gott her kommt, über dem Trümmerfelde aufgehen. Eines auch ist hier bedeutungsvoll. Der strafende Akt, der in den irdischen Schichten sich vollzieht, ist zugleich aus dem irdischen Bezirke emporgehoben. Er soll dem zugehörig bleiben, was oberhalb menschlicher Begierde und Eigensucht ist, dem Bereiche göttlicher Bestimmung. Wieder ist hier alles von Gott her gesehen und gewollt. »Er kommt, die Erde zu richten: Er richtet das Erdenrund mit Gerechtigkeit, die Völker mit Geradheit« (Ps. 98,9). Nur dort, wo sein Licht scheint, sein Gebot leuchtet, nicht aber in den dunklen Abgründen der Erdenleidenschaft kann Recht bestehen, darf des Rechtes Vollzug erfolgen. Menschen dürfen und sollen über Menschen richten, das Werkzeug der Strafe ist in ihre Hand gelegt. Doch nur von Gott her, nur in den Wegen Gottes dürfen sie Richter sein. »Das Gericht ist Gottes« (Deut. 1,17) – so steht es zu Beginn im Buche der Reden des Moses, in diesem Buche Deuteronomium, in dem Prophetie und Satzung eins werden. Und einer der späteren Lehrer hat den Satz dahin erklärt: gegen Gott handelt, wer durch Beugung des Rechts gegen einen Menschen handelt. Im letzten Buche der Bibel wird es dann wieder gesagt: »Wisset, was ihr tut, denn nicht für einen Menschen sollt | ihr richten, sondern für Ihn, der ist. Er ist neben euch im Gericht« (II. Chron. 19,6). Der Anspruch darauf, dort selbst der Rächer zu sein, wo ein Recht sich versagt, wo es sich nicht finden läßt oder zu schwach ist, geschweige denn, der Leidenschaft des Augenblicks zu folgen, ist damit dem Menschen verwehrt und für die tragischsten der Momente aufbewahrt. Es ist bezeichnend, daß die Heilige Schrift dem Worte »Rache« [Ahndung], »Vergeltung« [Entgeltung] fast nur in Verbindung mit Gott den Platz gibt. Gott ist die Rache [Ahndung] anheimgegeben. Während die alten Lehrer sonst alles das, womit Eigenschaft oder Wirken des Ewigen bildlich benannt ist, vor den Menschen als seine religiöse Aufgabe hinstellen und es wie eine stetige Formel
64
hier ist: So wie Er liebevoll, gütig und barmherzig, wie Er nachsichtig, verzeihend und hilfreich, wie Er gerecht, gerade, wahrhaft, treu ist, also sei auch du es, du Mensch, ist davon ein einziges ausgenommen. Die Rache, die Vergeltung ist ausgenommen. Sie ist gleichsam Gottes Reservat, sie ist sein Geheimnis, dem menschlichen Begreifen und menschlichen Handeln verschlossen. »Ist es nicht bei Mir verborgen, versiegelt in dem, was sich bei Mir angesammelt hat? Mein ist die Ahndung und Entgeltung« (Deut. 32,34-35). Sie soll nicht zur menschlichen Bahn werden. Dem Menschen gilt vielmehr: »Du sollst dich nicht rächen und nicht nachtragen den Kindern deines Volkes, liebe deinen Nächsten, er ist wie du. Ich bin der, der ist« (Lev. 19,18). Nur das Gebet des Menschen darf hier seinen Weg haben, diesen Weg zu Gott hin. Gott darf der Mensch anrufen: »Gott aller Ahndung, Du, der Du bist, Gott aller Rache [Ahndung], offenbare dich, erhebe dich, Richter der Erde, bring Entgeltung über die Hoffärtigen. Wie lange noch sollen die Frevler, oh Du, der Du bist, wie lange noch die Frevler triumphieren?« (Ps. 94,1-2). Der Mensch darf um diese Rache beten, und das will sagen: er soll ihrer harren, ihrer geduldig sein. Gebet ist Ausdruck eines | Willens zur Geduld auch, der Geduld, welche die Gewißheit hat. Wohl hat es hier Tage gegeben, nur zu oft, in denen der gequälten Seele das Warten schwer wurde und sie zu dem Gotte der Ahndungen emporrief: »Bis wann, bis wann!« (Ps. 13,1-3), »Warum sollen die Völker sprechen: wo ist ihr Gott?« (Ps. 79,10; 115,2), »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Ps. 22,2). Doch da die Seele so zu Gott sprach, so vernahm sie schon in der Frage die Antwort. Schon aus der Frage klingt die Gewißheit hervor: »In Deiner Hand sind meine Zeiten« (Ps. 31,16). Wenn das Gebet zu Gott erhob, so war die Spannkraft gewonnen, diese Geduld der Zuversicht. In ihr wurde das Warten zum Erwarten. Der, der ist, wurde erwartet – daß »er kommt, die Erde zu richten« (Ps. 98,9). Die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, an das Gottesgericht, mit dem er begonnen und in dem er sich vollendet hat, stärkte diesen Willen des Erwartens. Sie wurde nie bloße Erinnerung – Erinnerung, die nur in sich selber ruht, wird leicht entweder Wehmut oder Hochmut –, sondern sie bestand als Idee. Die Pflicht zum Bleiben spricht in ihr. Wie zu einem Drama der Welt wurde dieser Auszug hier. So zeichnete der Psalm das Bild (Ps. 114): Tiefen der Welt hatten sich geöffnet. Die Stimme der Schöpfung sprach in der Stunde der Befreiung, wie die Stimme der Freiheit schon in der Schöpfung vernehmbar war. In dem alten Gebete, das mit dem Segensspruch über Wein und Brot den Sabbat weiht, sind in wundersamer
65
55
56
57
Poesie Schöpfung der Welt und Auszug aus Ägypten nebeneinander gestellt: an beide soll der Sabbat, dieses »Zeichen Gottes« (Ex. 31,13; Ezech. 20,12) gemahnen: an den Sinn der Welt wie an den Sinn der Geschichte, an den Kosmos wie an die Freiheit. Wenn der Tag der Ruhe kommt, wenn die Seele Atem holt, soll sie diese Zuversicht, wie das All sie gibt und wie sie in der Freiheit wohnt, einatmen, damit ihr Leben sich weitet. | Wiederum kann nur die Poesie es kundtun. Daher hat dieses Volk nicht nur erzählt und sich erzählen lassen, sondern es hat davon gesungen. Im Gebete hat es gesungen und im Gesange gebetet. Man versteht dieses Volk erst, wenn man weiß, daß es ein singendes Volk geworden ist, anders noch und mehr noch als andere Völker. Auch das Singen war in ihm nicht nur Begabung, sondern Lebenskraft. Mit dem Liede hatte seine Geschichte, hatte sein Wissen um sich selbst begonnen. »Damals sangen Moses und die Kinder Israels dieses Lied Ihm, der ist. Sie sagten also: Singen will ich Ihm, der ist, denn er hat sich hoch erhoben, Roß und seinen Reiter stürzte er ins Meer«, so hebt dieses Lied vom Auszuge an, und es schließt: »Er, der ist, wird König sein immer und ewig« (Ex. 15,1-2.18). Es ist ein Lied von dem Urteil Gottes. Und darum ist es ein Lied von der Zukunft, von dem Wege der Geschichte zu ihrer Erfüllung hin. Wie es davon singt, daß hier ein Volk wurde, so singt es von dem, was immer besteht und darum die letzte Antwort geben wird. Diesem Liede, diesem Glauben hat das Volk die Treue gehalten. Die Geschichte selbst ist ihm damit zum Sange [Gesang], zum frohen Glauben geworden. Sie war hier nicht nur eine Kenntnis und ein Erzählen von dem, was geschehen war, und auch nicht nur ein Besitztum derer, die diesem Wissen und Können nachgingen. Sie lebte im Volke als seine Gewißheit, sie verwob sich ihm mit jedem Tag, welcher kam und welcher kommen sollte. Man möchte sagen, die Geschichte ist hier zur Frömmigkeit geworden. Das Lied von der Geschichte ist gesungen worden. Dieses Volk ist in der Tat ein singendes Volk. Das Lied wohnt in ihm, weil und solange es ein frommes Volk ist. Von ihm besonders haben Menschen gelernt, von Gott zu singen, zu Gott ihre Lieder emporzusenden. Keines anderen Volkes Lieder sind so weit und so tief in die Menschheit hineingeströmt. Und in ihm selbst fließen sie durch alle seine Jahrhunderte, auch durch die dürren, singend und schon darum unge|brochen erlebt es die Jahrhunderte. Zwei Worte sind in seinem Buche wie zu einem Worte geeint: Kraft und Sang [Gesang]. »Meine Kraft und mein Sang ist Er, der ist, er ward mir zur Hilfe.« So steht es in der Torah, in den Propheten und in den Psal-
66
men (Ex. 15,2; Jes. 12,1; Ps. 118,14). Kein Volk sonst hat so diese Worte zusammengefügt, so daß die Zuversicht froh wird und der Glaube erklingt. Bloßes Empfangen dankt und spricht, bloßes Leiden klagt oder verstummt, Zuversicht beginnt zu singen. Lärmen galt diesem Volke als heidnisch, als Attribut des Götzendienstes; es selbst wollte singend Gott nahe sein. Es ist so ein Aufruf in der Bibel: »Singet Gott, singet!« (Ps. 47,7). An den Ewigen glauben, heißt hier auch: Ihm singen. Es ist, wie wenn das allein ein Gebot vom Glauben wäre: »Singet Ihm!« Neue Erfüllung, neuer Tag, neue Bewährung bedeutet darum: neues Lied. »Singet Ihm, der ist, ein neues Lied!« (Jes. 42,10 etc.). Auch das ist hier ein charakteristisches Wort: das neue Lied. Jeder Tag will hier sein Lied, und auch das Dunkel soll es haben. In dem Buche, in dem das Und Dennoch des Glaubens sein durchkämpftes Ja spricht, im Buche Hiob hören wir, dort, wo die Kapitel von der Antwort auf alle die Fragen anheben, das Wort: »Gott, mein Schöpfer, der da gibt Lieder in der Nacht« (Hiob 35,10). »Lied Gottes in der Nacht«, das ist das Wort des Psalmes auch (42,9; 77,7). Selbst das Gebot hat sich ein Lied bereitet; zum Gesang ist auch die Satzung geworden. Die Gemeinde dieses Volkes hatte eine Fülle von Satzungen um sich gelegt, damit in hellen wie trüben Tagen ihr eigenes, besonderes seelisches Leben geschützt sei, – nur wer dieses »Gesetz« und seinen Segen nicht kannte, hat von der »Last dieses Gesetzes« geredet. Daß es sie nicht ist, wird dadurch schon bezeugt, daß es zum Liede geworden ist. Über ihm steht jenes Wort des Psalmes: »Gesänge sind mir deine Satzungen geworden im Hause meiner Fremdlingschaft« (Ps. 119,54). Ver|gangenheit und Zukunft gaben sich gegenseitig die Gewißheit; ihnen konnte das Volk sein Lied singen, das alte und das neue Lied. Der Genius geschichtlicher Geduld und geschichtlicher Vision blieb lebendig.
Alle Gewißheit ruht in einem Sittlichen und schließt darum eine Entscheidung in sich. Jede Entscheidung ist aber zugleich eine Ablehnung, in jedem sittlichen Ja spricht zugleich ein Nein. Und das Nein muß oft der Anfang sein. Denn mit ihm, mit dem »Du sollst nicht«, wird die Grenze gezogen. In ihm erfährt der Mensch, wovon er sich abkehren, welchen Weg er nicht betreten soll. An ihm gewinnt die sittliche Aufgabe ihre Deutlichkeit; etwas wird hingestellt, was nicht umgangen werden darf. Mit einem solchen Nein hat der Auszug aus Ägypten gesprochen. Das Volk ist vom Ewigen herausgeführt worden. Nur dadurch, daß
67
58
59
es herausgeführt wurde, hat es sich selber zu eigen nehmen können. Es ist herausgezogen, um zu seinem Gotte und zu sich selbst zu kommen, um das große Ja zu sprechen und an ihm festzuhalten. Um dessen fähig zu sein, hat es die Kraft zum Nein besitzen müssen. Nicht äußerlich nur geschah damals eine Scheidung, sondern innerlich, und sie sollte fortbestehen. Auf jenem Boden, auf dem es bis dahin gewesen war, in jenem Ägypten sollte das Volk nicht mehr, nie wieder sein. Aus jenem Hause der Knechte ist es herausgeholt worden; mit dem Willen zur Freiheit sollte es nun leben, des Ewigen Knecht, aber keines Ägypters Knecht. Am Berge Sinai ist dem Volke verkündet worden: »Denn Mir sind die Kinder Israel Knechte, Meine Knechte sind sie, die Ich aus dem Lange Ägypten herausgeführt habe, Ich bin der, der ist, euer Gott« (Lev. 25,55). Feierlich wird es gemahnt: »Er, der ist, hat euch gesagt, ihr sollt nie mehr den | Weg dahin zurückgehen.« In der Satzung für den König steht ebenda das Wort: »Er darf das Volk nicht nach Ägypten zurückführen« (Deut. 17,16). Und als ein Äußerstes der Strafe und Heimsuchung ist hingestellt: »Zurückbringen wird dich Er, der ist, nach Ägypten auf Schiffen« (Deut. 28,68). Aus solchen Sätzen spricht ein Bekenntnis zu dem, was Voraussetzung der Geschichte sein will. Ein Prinzip ist hier aufgestellt, das Prinzip: Geschichte beginnt, wo Freiheit beginnt, wo Freiheit im Namen Gottes gefordert wird und ihre Aufgabe stellt. Wo keine Freiheit ist, dort ist auch keine Geschichte. Nur ein Anschein von Geschichte webt dort seine Kreise, hinter denen sich Geschichtslosigkeit, diese Sinnlosigkeit eines Volkslebens, verbirgt. In der Menschheit und innerhalb der Völker kämpfen sie miteinander: die Geschichte und die Geschichtslosigkeit. Wahre Freiheit, die es weiß, daß die gebietende Idee eine ist und daß daher Freiheit nur die eine für alle sein kann, muß sich den Weg bahnen im Kampf mit der ideenlosen, der vermeintlichen Freiheit, in der um einer trügerischen Ungehemmtheit weniger willen und für eine trügerische Aufgabe dieser wenigen allen den andern das Joch auferlegt wird. In diesem Ringen entwickelte sich Geschichte. Es war ein Ruf zur Geschichte, den der Prophet vernommen hatte: »Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnet einen Weg des, der ist, bereitet in der Wildnis eine Straße für unseren Gott« (Jes. 40,3). Dieses Volk hat als erstes Geschichtsdatum und erstes Fest den Auszug zur Freiheit aufgestellt. Ein Symbol ist das geworden – in jedem echten Symbol spricht Erkenntnis, die aus der Tiefe erwachsen war und die ihr bleibendes Zeichen auch haben kann. In jedem echten Symbol spricht ein Gebot zugleich, das die Dauer meint. Ein
68
Volk für die Freiheit sollte dieses Volk sein, und das ist mehr noch als ein freies Volk; dessen ist das Fest ein Symbol. Man darf hier einen Vergleich ziehen, so sehr Vergleiche ihr | Bedenkliches haben können, zumal wenn sie herangeholt würden. Aber hier steht der Vergleich da und drängt sich fast auf. Drei Völker aus dem Altertum, auserwählte Völker – zwei von ihnen reichen in einem großartigen Einfluß in die Gegenwart hinein, und das dritte besitzt sowohl in einem stetigen persönlichen Leben wie auch in einer unvergleichlichen Wirkung auf die Welt seinen Bestand –, das römische Volk und vor ihm das griechische und vor diesem das israelitische, hatten den Beginn ihrer Geschichte datiert. Roms Geschichte beginnt mit dem Bau und der Befestigung einer Stadt. Und das hat Rom bleiben wollen: Festung und Hauptstadt einer Macht, Festung und Hauptstadt eines geordneten eingreifenden Systems auch, Festung und Hauptstadt, von der aus eine Welt beherrscht wird und zu der eine Welt hinblicken soll. Griechenland zählte seine Jahre von dem ersten der gemeinsamen Spiele her, zu denen die Städte seiner Kantone – Rom ist »die Stadt«, Griechenland hat seine Städte – zusammenkamen, damit sie zuschauten, wie Menschen aus ihrer Mitte die Kräfte von Körper und Geist maßen, und damit sie hier einer Besonderheit bewußt würden, die einer jeden der Städte und die ihnen allen gemeinsam gegeben war. Und so ist das Volk der Griechen immer gewesen: sie schauten zu und schauten in die Welt hinaus, die engere und die weite, überallhin voll genialer Neugierde. Von dem, was Menschen dort schauend erkannt und dann gestaltet haben, hat die Menschheit unvergänglichen, quellenden Reichtum empfangen. Das war die Gabe dieses Volkes: Zuschauer und Gestalter zu sein in einem »Schauspiele für Götter und Menschen«. Von dem Auszuge aus Ägypten her, von dieser Befreiung zum Wege der Geschichte, rechnete das israelitische Volk seine Zeit. Nicht an einen Bau, in dem eine Macht ihr Fundament legt, nicht an einen Wettkampf, in dem ein Volk seine Bega|bung erschaut, wurde es erinnert, wenn es vom Anfang seiner Jahre sprach. Es dachte an ein ganz anderes. Es dachte an die große Freiheit. Es wurde an ein Drama gemahnt, in dem es selbst handelnder und leidender Held ist – man kann nicht wahrhaft handeln, ohne zu leiden. Und in dem eigenen erfuhr es von dem Drama, worin die Menschheit ihre Geschichte hat. So war es ein Gegebenes, wenn die Rechnung der Zeiten sich, wenn auch nach manchem Schwanken, später zur Weite des Menschlichen hin dehnte. Von der Erschaffung der Welt her zählte man schließlich die Jahre. Auch das ging von der großen Entscheidung
69
60
61
und der großen Verneinung aus, die der Auszug aus Ägypten verlangte; sie bestimmten die Linie.
62
Dem Hause der Knechte galt der große Widerspruch zuerst. Aber die Ablehnung reicht doch weiter noch. Als Inbegriff von Größe stand Ägypten in seiner Zeit da. Was als Wissen und Können damals galt, was Glanz und Pracht war, verband sich mit dem Namen Ägypten. Menschen zogen dorthin, um Schüler von Meistern zu werden, um zu schauen und zu lernen. Aber für dieses Volk sollte jenes Ägypten eine Welt sein, aus der es herausgehoben worden, von der es nun geschieden war. Ihm war es das kranke Land, das Land kranken Königs und kranken Volkes. Das Auge war zu den Hintergründen hingedrungen, es hatte durch den schimmernden Schein hindurchgeblickt. Hinter dem Strahlenden hatte es das Elend gesehen, hinter dem hoch Aufgebauten die Not, hinter den Tempeln und Palästen die Qualen, das Leid; inmitten des Prunkes war es der Erstorbenen gewahr geworden, der toten Götzen inmitten dessen, was dort stolz emporragte. All des Gewaltsamen, des Druckes, der auf allen lastete, dieses Zerstörenden und Zersetzenden war es gewahr geworden. Ein sprechender Sinn ist in dem biblischen Wort von der »Krankheit«, von den »Siechtümern | Ägyptens« (Ex. 15,26; Deut. 7,15; 28,60). Und ebenso ist bezeichnend, daß das Kapitel, welches die Gebote geschlechtlicher Reinheit verkündete, mit dem Satze anhebt: »Ich bin der, der ist, euer Gott – was das Land Ägypten tut, in dem ihr wohntet, tut nicht« (Lev. 18,3); oder daß dort, wo die Heiligkeit ihre Forderung erhebt, es der Kehrvers ist: »Ich bin der, der ist, euer Gott, der euch herausgeführt hat aus dem Lande Ägypten, euch zum Gotte zu sein, Ich bin der, der ist, euer Gott« (Lev. 11,45; 22,33; Num. 15,41). Für das Werden und Wachsen der Individualität dieses Volkes ist dies bedeutungsvoll geworden. An Ägypten und ebenso dann an denen, die ihm glichen, an den Babels und Ninives und Sidons hat es gelernt, sich nicht blenden und nicht betören zu lassen. Dieses Volk ist immer ein kleines gewesen. So leicht wird es den Wenigen und Schwachen zum Geschicke, daß sie zu Trabanten, zu Monden werden. Sie bewegen sich um die Großen, welche fest gegründet scheinen, von ihnen wollen sie Weg und Licht empfangen. Schon von vornherein zwar, durch den Bund seines Ursprungs, hatte dieses Volk das Gesetz von dem einen Seienden zu eigen genommen: im Eigenen konnte es immer stehen, da der eine Gott ihm der eine und einzige Mittelpunkt ist. Aber der Wille dazu mußte immer wieder le-
70
bendig werden, er mußte sich in immer neuen Überwindungen, in einer immer neuen Bereitschaft zum Auszuge oder zur Abwendung beweisen. Das ägyptische Reich war eine erste, eine lange Probe darauf gewesen; noch Jahrhunderte nach der äußeren Scheidung war es dem Auge und dem Geiste nahe geblieben. Wenn dieses Volk in alten und in späteren und in neuen Tagen vermocht hat, nicht nur dem Drucke nicht zu unterliegen, sondern, was oft so viel schwerer ist, dem Eindrucke zu widerstehen, wenn es weder unter Gewalt noch vor der Bedrückung sich selbst verloren hat, die Fähigkeit dazu hat es zuerst jenem Ägypten gegenüber zu bewähren gehabt. | »Von Ägypten bis hierher« hatte es immer wieder zu zeigen, ob es imstande war, sich abzukehren; in immer wechselnden Gestalten traten die Anziehung und die Verlockung heran. Wohl hat der Widerstand die Opfer verlangt: die vielen, vielen seiner Menschen, die die Gewalttat und der Wahn hinrafften, und die nicht wenigen seiner Menschen, die übergingen, weil sie an den Erfolg zu glauben anfingen oder sich in eine Romantik hineinträumten, die eine Erfüllung der Tage schon gekommen meinte. Aber wenn Blätter auch fielen, wenn Äste auch niedergeschlagen wurden, die Kraft des Stammes blieb, und er strebt weiter nach oben. Dieses Volk blieb sich treu. Daß es an sich festzuhalten vermochte, auch das ist seine Geschichte. Die Existenz ist hier schon in sich selbst, neben dem Großen, von dem sie erzählt, eine Leistung, ein sittliches und geistiges Vollbringen. Dieses Volk ist unter jedem Zwange, der es fesselte, und in jeder Bedrängung, die es umhertrieb, Subjekt seiner Tage geblieben. Es ist trotz allem niemals bloßes Objekt geworden. In seinem Widerstande, in seinem Willen, das Nein zu sagen, lag etwas Schöpferisches, etwas Geschichtsbildendes. Auch für ein Volk führt der Weg aufwärts über ein solches Nein. Ganz wie im Dasein des Einzelnen, kommt sittliche Kraft hier von dem sittlichen Widerstande her. Vollbringen setzt ein Ablehnen voraus. Nur wer sich abwenden kann von täuschenden Gestirnen, von trügerischen Göttern, wird dorthin gelangen, wo das Seiende wohnt. Dieses Volk, als Ganzes, hat das gewollt und auch vermocht. Zum geschichtlichen Gebote ist es ihm geworden, daß es sich, so oft, unterscheiden sollte, anders sein sollte als viele ringsumher, anders als die Herrschenden, Mächtigen, Anerkannten. Die Existenz war ihm damit zur Aufgabe geworden, schon sie wurde wie eine Mission. Schon damit, daß dieses Volk da war, sprach dann eine Predigt zu den Völkern, zu allen denen, die hören konnten: | »Siehe, ein Volk, für sich wohnet es; und unter die Nationen wird es nicht gerechnet« (Num. 23,9). Dieses Volk stand und steht so oft als das andere Volk da.
71
63
64
65
Im Anderssein liegt allerdings auch eine Gefahr. Wenn ein Anderssein nur seiner selbst wegen da sein will, wird es zur Beschränktheit und Sondertümelei, und oft zu einem engen Eigensinn und vielleicht auch zu einer Selbstsucht. Erst wenn zugleich und ebenso lebendig das Gefühl für eine große Verbundenheit und für die daraus folgende Verpflichtung aufwuchs, ist das Anderssein in einem sittlichen Bereich, in einem Bereich der Würde. Recht zur Individualität, Recht zu ihrem Gegensätzlichen setzt darum den Sinn für die humane Idee und für das soziale Gebot voraus. Man könnte sagen, das Recht zum eigenen Anderssein legitimiert sich in dem Empfinden für das Recht eines jeden anderen. Am meisten ist dieses Empfinden auf seine Probe gestellt, wenn es den Menschen gegenüber zu erweisen ist, deren Platz auf schwächerem Fundamente zu ruhen oder deren Stellung den geringeren Rückhalt zu haben scheint. Vor allem bewährt es sich daher gegenüber dem, der nicht ein Erwerbender, sondern ein Dienstbarer ist, und gegenüber dem, der aus dem Boden, auf dem er jetzt steht, nicht hervorgewachsen ist, sondern in ihm sich erst eingepflanzt hat, und der zudem vielleicht unterschiedene Züge des Antlitzes und des Wesens trägt. Diese beiden, der Verknechtete und der Fremdling, scheinen einer anderen Sphäre zuzugehören, sie scheinen entfernt oder getrennt zu sein. Sie sind in einem besonderen Sinne, im Sinne des Lebensloses, die anderen. In ihnen beiden erhebt darum der Mitmensch, das heißt der, welcher der andere ist und doch mit mir verbunden sein soll, am deutlichsten den Anspruch. In seiner ägyptischen Jugend hatte dieses Volk an sich selber beides erfahren, das Knechttum und das Fremdlingtum; für seine Denkart ist das bestimmend geworden. Nicht als Mahnung | nur sprach hier der soziale und humane Gedanke. Er durfte sich auf das geschichtliche Erlebnis auch berufen; das Eigene der Vergangenheit, das persönliche »Erinnere dich« hatte hier sein Wort. Diese Erinnerung ist um so fruchtbarer geworden, da sie aus allem, was die Religion lehrte, ihre Kraft holen konnte. In diesem Volke ist der Mitmensch und ist daher das Menschenrecht, dieses Recht des anderen, man könnte sagen: entdeckt worden. Vor allem dem Dienenden und dem Fremden tritt das Recht zur Seite, ihr Sprecher will es sein, ihnen den Anspruch zu verbürgen. Um des Dienenden willen ist der Sabbat noch besonders geboten: Sabbat soll sein, »damit ruhen dein Knecht und deine Magd wie du«; seiner Dienstzeit wird die Grenze gesetzt und für seine Mühe die Anerkennung gefordert; ihm auch soll die Wohltat, die zu üben ist, zugewiesen sein. Und immer ist der Aufruf hier: »Erinnere dich, daß du ein Knecht
72
warst im Lande Ägypten und Er, der ist, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat« (Deut. 5,15; 15,15; 16,12 etc.). Gleicherweise besteht um des Fremdlings willen der Sabbat, und ihn auch meinen alles schützende Recht und aller soziale Beistand (Lev. 25,35; Deut. 14,29 etc.). Selbst an jene große, feierliche Abwendung von Ägypten tritt ein Menschheitliches heran: Es ist gesagt: »Verwirf nicht einen Ägypter, denn Fremdling bist du in seinem Lande gewesen« (Deut. 23,8). Und ein Mann des frühen Mittelalters, Rabbi Salomo Jizhaki aus Troyes, Raschi genannt, der Meister von Worms, der die Jahrhunderte hindurch für dieses Volk sein Bibellehrer geblieben ist, gab zu diesem Gebote die Erklärung: »Was immer die Ägypter an dir getan – sie haben dich geknechtet und sie haben deine Söhne in den Fluß geworfen –, einstmals hatten sie dich doch aufgenommen.« Und das Wort endlich, das zum Innersten hinführt: »Ihr kennt ja die Seele des Fremdlings, da ihr Fremdlinge waret im Lande Ägypten« (Ex. 23,9). Zweimal steht in | der Heiligen Schrift dieses Wort »die Seele kennen«, das eine Mal in diesem Satze vom Fremdling und das zweite Mal in einem Satze vom Tiere: »Es kennt der Gerechte die Seele seines Tieres« (Spr. 12,10). Fremdling und Tier, sie sind wie die Stummen, ihre Stimme wird nicht gehört oder ihr Wort nicht verstanden, so soll ihre Seele begriffen, der Atem ihrer Frage empfunden sein. Sie sind die anderen, aber über dem Trennenden wohnt, weisend und verbindend, das wissende Verstehen. Das ist hier nicht nur eine Linie in der Religion, sondern ist ihr Wesen. Für sie gibt es keine Frömmigkeit ohne das Soziale und das Humane, oder genauer noch: ohne die Einheit von diesen beiden – das Humane hat hier sein Soziales, und das Soziale sein Humanes; das Menschliche und das Gebietende sprechen in einem. So ist das Soziale davor bewahrt, daß es angeordnete Satzung bloß sei; es erhält im Humanen sein Innerliches. Und das Humane ist dagegen gesichert, daß es zu hohlem Begriff oder leerem Empfinden werde, es empfängt vom Sozialen die fordernde Bestimmtheit. Das Gedächtnis und der Wille dieses Volkes, sein geschichtlicher und sein ethischer Zug kommen zusammen, um den Weg des Menschen aufzuzeigen. Vermöge dieses Sozialen, Humanen kann sich Frömmigkeit in jedem Tage und in jeder Alltäglichkeit erweisen. Der Mensch der Enge kann darin eine Fülle des Lebensinhalts, eine innere Weite besitzen.
Wieder ist hier die Tatsache zur Aufgabe geworden. Die Tatsache, daß der andere Mensch eben ein anderer als ich ist, daß er aber
73
66
67
68
ebenso wie ich von Gott geschaffen und mein Mitmensch darum ist, diese Tatsache wird zur Aufgabe, die an ihm zu erfüllen ist: Ich soll ihn sowohl als den anderen anerkennen – er hat dasselbe Recht zum Anderssein wie ich – als auch ihn als einen Gleichen anerkennen – er ist der Mensch | Gottes gleich mir. Beides gehört zusammen; das Sondernde und das Einende stützen einander. In dem sogenannten Zufall der Geburt werden gleichsam die vielen Stimmen des Bundes vernehmbar, alle die besonderen und eben darum verbindenden Aufgaben sprechen hier, die das Gottesgebot stellt. Durch die Einheit erhält der Unterschied erst seinen Wert, durch die Unterschiede gewinnt die Einheit erst ihren Inhalt. Und wieder sind es die deutlichen Gebote, die hier vor den Menschen hintreten. Ohne solche Bestimmtheit wäre, gegenüber der unabweislichen Tatsache der Unterschiedenheit, die Einheit nur ein Wort. Das Gebot erst schafft hier Wirklichkeit. Es führt die, welche die anderen sind, vornan wieder die Bedürfenden, den Armen, den Bedrückten, den Einsamen, die Witwe, die Waise, den Fremden, unmittelbar vor uns hin. Sie sind zu uns hin entboten, durch Gottes Wort zu uns hingestellt, ihnen zur Seite steht mahnend der Grund alles Seins: »Ich bin der, der ist, euer Gott.« Von Gott sind sie gesandt, und sie erwarten uns. Sie wollen von uns erkannt werden, sie harren unserer verstehenden, bejahenden Gerechtigkeit. So ist es die Predigt dieses Glaubens, der die große Abwendung forderte; er mußte so manchen widersprechen, um an alle herantreten zu können. Aus dem abweisenden Nein des Andersseins kommt das bereite Ja des Sozialen und Humanen hervor. Sie gehören zusammen, eines für sich bliebe Fragment. Es gibt keine Frömmigkeit ohne den Willen zur Abkehr und ohne den Willen zum Nächsten; beides, der Widerspruch und der Mitmensch, ist von Gott verlangt. Erst beides zusammen gibt dem Menschen seinen eigenen Platz vor Gott. Und wieder ist hier der Standort entscheidend. Von Gott her, im Glauben also, ist hier alles gesehen. In jener Geschichte, die den Erfolg zum Maßstabe wählt und die sich so gern zur Weltgeschichte ernennt, ist fast alles von der Tribüne der Macht aus betrachtet. Auch das Recht ist dort Ausdruck der Macht. | Wer über die Macht jeweils verfügt, der bestimmt das Gesetz, um seiner Macht willen. Das Recht folgt dann den Wegen der Macht, es ist dazu da, ihr den Besitzstand zu verbürgen; es wird zu einem Auf und Nieder von Rechten. Das Gesetz wird ein Werkzeug wechselnder Herrschaft. In diesem Volke ist zum ersten Mal das Recht ganz von Gott her gesehen worden. Nur das Recht, das vor der göttlichen Gerechtigkeit und Wahrheit bestehen will, ist hier Recht, wahres Recht, Men-
74
schenrecht. Für jeden, den Gott geschaffen, spricht es, für den vor allen, der, weil ihn Menschen nicht gehört haben, an Gott die Berufung einlegen muß. Es spricht für den Zurückgesetzten und Bedrückten, für den Schwachen, den Kleinen, den Geringen. Um ihm zu helfen, tritt es gegen die Macht hin, setzt es der Macht die Schranke. Im Namen Gottes, des Einen, soll Recht gesprochen werden, im Namen Gottes, welcher »Vater der Waisen und Richter der Witwen ist« (Ps. 68,6), »der keinen das Antlitz hochtragen läßt« – oder wie die alte griechische Übersetzung wiedergibt: der kein Antlitz anstaunt – »und nicht Bestechung annimmt, der der Waise und Witwe Recht schafft und den Fremdling liebt« (Deut. 10,17-18). Damit ist der Standpunkt auch gegeben, von dem aus, hier wieder zum ersten Male, für die Geschichte ein Recht aufgezeigt werden kann. Im Buche dieses Volkes ist es gewiesen worden. Vor dem, der auf solchem Platze des Urteils steht, gelten die Siege nicht, hier wird, im Gegenteil, der Besiegte so oft dankbar nach vorn gerufen. Die scheidende Linie bleibt die eine: die zwischen echtem und falschem Recht, die zwischen echter und falscher Geschichte. Nur wo das wahre Recht herrscht, ist hier Geschichte. Damit sind die Auskünfte und Ausflüchte verwehrt, die dem vermeintlichen Recht und der vermeintlichen Geschichte so gern Hilfe leisten. Es gibt eine Philosophie der Entschuldi|gung, diese hinterher kommende, sich unterwerfende Weisheit. Sie geht der Gerechtigkeit aus dem Wege, sie entzieht sich der Forderung, indem sie gewordenes Unrecht, da es nun einmal geworden ist, da es nun einmal gesiegt hat, als etwas Geschichtliches, als gewordene Ordnung hinstellt. Von Menschen Vollzogenes und Ausgefertigtes wird von ihr für ein von Gott Bestimmtes, für ein Naturgesetz erklärt. Sie sieht nicht von Gott aus, sondern stellt sich auf Erden an Gottes Statt. Recht wird damit zur Rechtfertigung, die zu allem bereit ist. Hiergegen hat dieses Volk immer gekämpft, auch schon deshalb, weil es nie sich eilig jeweiliger Gegenwart beugte, sondern immer zur Zukunft hinblickte, zu der großen Hoffnung hin: »Zur Gerechtigkeit wird das Recht zurückkehren, und ihm nach alle, die geraden Herzens sind« (Ps. 94,15). Hoffnung ist hier ein Gebot. Es gibt auch eine Frömmigkeit der Entschuldigung. Sie lehrt und pflegt ein Verhüllen oder Umschleiern dessen, was Unrecht ist. Sie will nicht Recht aufrichten, sondern sie will besänftigen und beschwichtigen, indem sie um die, welche unter dem Unrecht leiden, das pallium caritatis, das sanfte Gewand einer Liebe legt. Sie beschwichtigt die Gerechtigkeit durch das Wohltun. Sie erfüllt das eine Gebot Gottes, um des anderen dafür enthoben zu sein. In diesem
75
69
70
71
Volke hat man mehr, und auch geduldiger, als es meist anderswo geschah, an seinesgleichen und an anderen Wohltaten geübt. Aber sie sollten nie ein Ersatz für das Recht sein. Der Weg des Rechts behielt seine deutlichen Zeichen. Dieses Volk hat weder die bestimmte Forderung des Rechtes sich verflüchtigen lassen, noch auch sich im Wohltun mit dem Unrecht abgefunden. Es ist dadurch den Völkern bisweilen unbequem geworden. Aber es blieb auf seinem Wege, dem Wege seiner Geschichte. Das Soziale und das Humane behielten die Bestimmtheit der Rechtssatzung, und die Erinnerung an das Haus der Knechte | bewahrte vor der Vergeßlichkeit. Das Recht war Wirklichkeit, war Geschichte. Es läßt sich nicht nachweisen, ob die mannigfaltigen sozialen, humanen Satzungen, welche in den Büchern Moses’ stehen, alte Übung aufzeigen oder eine Forderung blieben, die noch zu erfüllen war. Aber das bezeugt die Geschichte, daß der eigentümliche Staat, den dieses Volk besaß, diese Theokratie, ein Gemeinwesen war ohne eine unbeschränkte Gewalt, ohne ein Despotentum, ohne eine Adelsherrschaft, ohne ein Sklaventum, ohne eine Ausnutzung des Landes und seiner Bauern, ohne ein doppeltes Recht, ohne eine doppelte Moral. Und so sind später, in ihrer Art, seine Wege auch gewesen. Das eine Recht, das Gebot, das das eine für alle ist, fand seit dem Tage der Propheten die Männer, die ihm furchtlos sein deutliches Wort gaben, die Gott dienen wollten und nicht den Menschen nur. Sie haben den Großen und Besitzenden und denen, die noch mehr sich aneignen wollten, es in die Ohren gerufen, daß der Herr über das Land Gott ist und daß er der Richter ist über alle im Lande, der Hüter des Menschenrechts. Der Gedanke des sozialen Rechtes war hier um so mehr eine lebendige Kraft, da er nicht nur die Gegenwart erfaßte, sondern immer zugleich über sie hinausdrang. Er hat das Gute dieses Tages verlangt und zugleich das Bessere des kommenden Tages. Die Gegenwart sollte auch ein Schritt zu höherer Zukunft sein. Das gab der Idee ihre Kraft. Denn das Verlangen, das sich an das Heute richtet, ist am stärksten und fruchtbarsten, wenn es von der Erwartung erfüllt ist, daß das Heute einen Tag zeugen wird, den die Zuversicht schaut. Das große Gebot bedarf immer der großen Hoffnung. In dem, was er als Hoffnung vor sich aufrichtet, beweist sich der Geist des Menschen. In diesem Volke war die soziale Idee voller Kraft, weil hier die enthusiastische, ja oft die visionäre Zukunft lebte. Hier ist das Wort gesprochen worden: »Wo keine Vision ist, dort verkümmert ein Volk« (Prov. 29,18). | Daher blieb die Zukunftssehnsucht hier immer voll des Sozialen, des Humanen; sie hat den Aufstiegen aller Menschen gegolten. Sein
76
Auszug »aus dem Hause der Knechte« war für dieses Volk sein Anfang gewesen. Aber allen Völkern sollte ein Gleiches zuteil werden, allen ein neuer Beginn, eine Wiedergeburt beschieden sein. Den Bedrückten, den Geknechteten überall, so war es die Hoffnung, wird ihr Tag des Auszugs erscheinen. »Sie werden zu Ihm, der ist, schreien ob [wegen] der Bedränger; und er wird ihnen einen Helfer senden und wird streiten und wird sie erretten« (Jes. 19,20). »Freiheit wird ausgerufen werden« [Jes. 61,1 etc.], so ist es die alte und oft wiederholte prophetische Predigt. Wieder wird hier im eigenen Erlebnis und in der eigenen Aufgabe das Leben und das Ziel aller begriffen, in der eigenen Geschichte die Geschichte der Menschheit erfaßt. Gott spricht zu einem, aber damit spricht er zu allen. Weil das Gottesgebot diesem Volke und seinem Tage gilt, darum gilt es allen Völkern und ihren Tagen. Es gibt nur die eine Geschichte: die eine Richtung zu dem, was bleiben wird. Nicht die Windungen des Gewordenen und die Krümmungen des Bestehenden, nicht die Verschlingungen des Erzwungenen und Gerechtfertigten, sondern die geraden Bahnen der Gerechtigkeit zeigen an, wo die Zukunft liegt. Auf diese Bahnen ruft Gott die Völker, damit sie von Geschlecht zu Geschlecht immer wieder beginnen, immer neu erfüllen und immer doch erwarten. Nicht der Kreis, sondern der Weg ist das Bild, in dem die Zukunft gesehen wird. Die ersehnte Zeit ist die, in welcher im Leben der Völker Gottesgebot und Geschichte eins geworden sein werden. Die Völker sind dann Völker geblieben und die Unterschiedenen unterschieden, aber sie haben den Weg gefunden, den Weg des einen Gesetzes, des einen Bundes. Es ist die Zeit, welche sein wird, weil sie sein soll. Wenn sie kommt, so ist es die Zuversicht, dann ist das Gebot des Andersseins, das Gebot des Auszuges erfüllt. Sein Grund | und sein Recht haben sich dargetan. Der große Widerspruch hat nun das Ziel erreicht, der Erweis des Weges ist erbracht. Nicht länger mehr muß dieses Volk, um zu sein, anders sein, als die ringsumher sind. Sein Anderssein, das seine Geschichte wurde, darf aufhören, weil alle anders geworden sind, weil Einheit vor Gott zu menschlicher Wirklichkeit geworden ist. Von dieser Einheit hat in ergreifenden Worten der Prophet Jesaja gekündet. Als er sprach, sah er auf Jahrhunderte zurück, da dieses Volk hineingestellt war, fast hineingezwängt, zwischen die Machtbegierden und Kulturverlockungen der zwei großen und glänzenden Reiche Ägypten und Assyrien. Ihnen gegenüber hatte es Geschlecht um Geschlecht sein Eigen, sein Selbst zu bewahren und zu bezeugen gehabt. Und als der Prophet jetzt von der Zukunft redete,
77
72
73
der Zukunft auch dieser Feinde und Verführer, da war sein schließliches Wort dennoch ein Wort von der Einheit, die dennoch zuletzt verbinden wird. Oft hatte die Seele sich von diesen Völkern abwenden müssen, und das warnende Wort hatte von den Krankheiten, den Siechtümern Ägyptens gesprochen. Aber nun sagt er: »Er, der ist, wird sie heilen.« Und er fährt fort: »An jenem Tage wird eine Straße sein von Ägypten nach Assyrien, und herbeikommen wird Assyrien in [nach] Ägypten und Ägypten in [nach] Assyrien, und dienen werden sie dem Ewigen, Ägypten mit Assyrien. An jenem Tage wird Israel das Dritte sein zu Ägypten und Assyrien, ein Segen inmitten des Erdballs, indem der Ewige der Heerscharen jedes segnet: gesegnet mein Volk Ägypten und meiner Hände Werk Assyrien und mein Erbteil Israel« (Jes. 19,22-25). Das ist das Schlußwort, trotz allem und allem, was war und noch sein würde, der Schluß der Worte vom Auszuge aus Ägypten. Denn Geschichte ist für dieses Volk immer Weltgeschichte. Durch seinen Auszug aus Ägypten ist es zum Volke der Geschichte, zu einem Volke der Menschheit geworden. Was war, spricht darum ihm von dem, was kommen wird. Es ist ein Volk | der Geschichte und darum ein messianisches Volk. Es ist das eine, weil es das andere ist, weil es keine Geschichte anerkennt, die nicht Weltgeschichte ist. Es atmet in der Luft dieser Geschichte. Das Einst der Vergangenheit wird ihm zum Einst der Zukunft. Einst, als es aus Ägypten herausgeführt wurde, sang dieses Volk sein erstes Lied, das Lied von der Befreiung durch Gott und von dem Reiche Gottes. Einst, so sagte einer der alten Lehrer, haben sie dieses Lied gesungen, und einst werden sie dieses Lied singen.
78
III. Die Offenbarung
Dieses Volk hat in allen seinen Tagen daran gedacht, daß der Ewige es aus Ägypten geführt hat. Von einem Dreifachen hat es damit immer wieder erfahren: von seinem Ursprunge: daß es in einer Welt des Bundes wurzelt, von seinem Anfang: daß es in eine geschichtliche Welt hineingestellt wurde, von seiner Sendung: daß es in der Welt einen Weg hat, den Weg, den der Ewige von ihm fordert. Der Auszug aus Ägypten hatte so seinen Sinn und hatte sein Ziel. Um des Ewigen willen war es hinausgezogen. Der Ewige zog gleichsam voran. So hat der alte Satz vom Auszuge gesagt: »Er, der ist, geht vor ihnen des Tages mit einer Säule von Gewölk, um sie den Weg zu leiten, und nachts mit einer Säule von Feuer, um ihnen zu leuchten, daß sie gingen Tages und Nachts. Nicht ließ er weichen die Säule des Gewölks des Tages und die Säule des Feuers Nachts von dem Volke« (Ex. 13,21-22). Gott leitet und Gott leuchtet, das blieb die Zuversicht der Frömmigkeit. Geschehnis ist hier zum Erlebnis geworden, und Erlebnis ist dann zum Gleichnis geworden. Es ist zu dem geworden, was mehr ist als jedes Bild und anders als jeder Begriff, zu dem, was immer neu an das Unvermeidliche heranführen will, dorthin, wo ein letztes Menschliches ins Unendliche und Ewige hin|überweist. Es will das Äußerste sagen, das ein Mensch sagen kann, das Fernste zeigen, das seine Seele noch schauen darf. »Was siehst du?«: Diese Frage haben die Propheten vernommen; in dem Anfang, der Mitte und dem Ende der Prophetenzeit ist sie im Buche verzeichnet (Amos 7,8; 8,2; Jer. 1,11.13; 24,3; Sach. 4,2; 5,2). Und die Antwort, die diese Männer empfingen, war das dichtende Gleichnis. Es lenkte an den Rand heran, bis zu welchem menschliches Sinnen und Fühlen gelangt. In den zwei Bereichen, in dem sichtbaren und dem unsichtbaren, hatte dieses Volk leben gelernt, und da es beide als eines erfaßte, mußte es den Ausdruck für das haben, worin die
79
78
79
beiden sich berühren und ineinander übergehen. Dieser Ausdruck ist dieses dichtende Gleichnis. Die letzte und fast eigentliche Form religiöser Darstellung, die letzte und fast eigentliche Weise eines Sprechens von der religiösen Wahrheit ist hier darum die Dichtung, nicht die Philosophie, nicht das Dogma, sondern dieses ewige Gleichnis. Nur so kann die Seele hier sagen, wohin sie gelangt ist. Wenn ein Mensch an dem, was innerhalb seines Endlichen, Sichtbaren dasteht oder geschieht, ein Unsichtbares, ein Unendliches ahnt und damit ein Bleibendes, Bestehendes, einen Bund zu erfassen beginnt, dann hebt er, sofern ihm das Sagen gegeben ist, zu dichten an. Schon wenn ihm das, was hier ist oder näher kommt, bereits selbst etwas bedeuten will, so daß er ein Besonderes hinter ihm, über ihm zu schauen oder zu vernehmen meint, schon dann kann er nur im Gleichnis davon künden. Um wieviel mehr ist es so, wenn sich ihm das Ewige, das Allumschließende offenbart, wenn der eine Gott ihn ruft und ihm zeigt, wenn ein Unaussprechbares in seine Seele eintritt und zu dem Worte hindrängt. Erlebt der Mensch das und soll er davon zeugen, so kann er nur dichten oder, was in seinem Grunde dasselbe ist, nur beten. Von Dichtung wie dieser hat Aristoteles gesagt, daß sie »ein Philosophischeres sowohl als auch | Ernsteres ist als die Forschung«. Von diesem Beten hat das Buch dieses Volkes gerühmt, daß ihm Himmel und Erde zuhören. Das Buch dieses Volkes, im Klange jedes Einzelnen darin und im Zusammenklang seiner Teile, ist das große Gebet, die große Dichtung, die größte, die in der Menschheit geschaffen worden ist; selbst die Dichtung im griechischen Volke hat gleiche Gipfel nicht erstiegen. Alles, Lehre und Gebot, Erzählung und Verkündigung, Erinnerung und Verheißung, Mahnung und Trost, ist hier zur Poesie und damit zur tiefen Eindringlichkeit geworden. Denn aus dem Ersten und Letzten ist es hergeführt, zu dem Ersten und Letzten ist es hingeleitet, von da und dahin, wo der eine Gott ist, der Ewige und Unendliche. Hinter ihm ist kein Höherer, Größerer mehr, neben ihm keiner wie er, keinem als sich selbst ist er gleich. In ihm sind Dasein und Bedeutung eines, denn er ist »der Erste und Letzte« (Jes. 44,6; 48,12). Der Versuch ist hier gemacht worden, wohl einmalig und unüberbietbar, das Unaussprechliche aussprechbar zu machen, dem Unvergleichlichen einen Ausdruck zu geben. Weithin lebt seitdem die Menschheit davon. Das Wort reicht hier oft über sich hinaus, es wird selbst oft zum Symbol. Es verlangt darum sein Organ, um empfangen zu werden. In wessen Seele Dichtung nicht einkehren kann, vor dem werden hier nur Sätze stehen. Was wahrhaft gesagt ist, findet in ihn keinen Einlaß. Er berührt und wendet vielleicht Worte, aber sie bewegen
80
ihn nicht und wandeln ihn nicht um. Ihn faßt das nicht, was einst diese Menschen ergriffen hat, als an sie die Frage erging: »Was siehst du?« Er erahnt nicht, was einer vernommen hatte, als er antworten konnte: »Hier bin ich« (Gen. 22,2; Ex. 3,4), als einer sagen durfte: »Rede, Du, der Du bist, denn es hört dein Knecht« (I. Sam. 3,9-10). Diesem Buche kann nur die heilige Scheu, die vor dem Ewigen erbebt, nahe kommen; ehrfürchtige Liebe betritt den Weg, der | zu ihm hinführt. An die Seele von Menschen, zu denen Gott gesprochen hatte und die Gott hatte sprechen heißen, gilt es heranzugelangen, und auch das Schweigen, das hinter dem Worte ist, gilt es zu hören, wenn dieses Buch sich auftun soll. Bloße Gelehrtheit und ihr Scharfsinn mühen sich nur um die Schale; das, was in diesem Buche lebt, eröffnet sich ihnen noch nicht.
Es hat in diesem Volke Tage und Kreise gegeben, in denen die Bedeutsamkeit dieses Buches so stark empfunden worden ist, daß fast in jedem seiner Worte eine Besonderheit entdeckt werden wollte. Man begann zu deuten. Der Wortlaut schien manches noch zurückzuhalten, und dieses Verborgene wollte man hervorholen. Ihre erste Zeit hatte solche Denkweise damals, als die alte Welt in ihre versunkenen Jahrhunderte selber zurücksank. Grenzen der Länder und der Gedanken verschoben und verloren sich damals, und dieses Volk, welches blieb und immer in die Zukunft hinausschaute, sah sich in andere, in neue Bezirke der Gegenwart hineingestellt. Veränderte Fragen und auch verändertes Bedürfen traten heran. Widerstandskraft und Aneignungskraft, zwei Kräfte in diesem Volke, rangen jetzt miteinander, bis schließlich manches Frühere fortentwickelt und manch Neues aufgenommen war. Aber die Gewißheit des Eigenen blieb immer. Sie war so stark und unbedingt, daß man auch dieses Weitere und Neue schon im Eigenen enthalten meinte. Nicht als ein Hinzugekommenes, sondern als Hervorgeführtes wurde es betrachtet. Es wurde, da man in den ersten Generationen sich scheute, das Neue niederzuschreiben, als die »Lehre im Gesprochenen« bezeichnet. Was sie sagte, so meinte man, war in der Bibel, der »Lehre im Geschriebenen« schon vorhanden. Nicht neben der Bibel, sondern in ihr bereits stehe es, so daß es sich aus ihr ergebe. Worte dieses Buches be|gannen so neu zu sprechen, das geschriebene Wort wurde zum redenden. Eine eigentümliche Form und Logik solchen Erschließens, der sogenannte Talmud oder Midrasch, hat sich hier herausgebildet, und diese Linie hat langehin das Lesen des Buches bestimmt.
81
80
81
82
Damals schon und, mit breiterer und tieferer Gesamtwirkung, im Mittelalter ist die Philosophie, diese Gabe, mit der die Griechen die Menschheit beschenkt haben, zu dem Volke gekommen. Ihr wurden, zumal in den mittelalterlichen Tagen, die Tore weit geöffnet. Es sollte sich verwirklichen, was der Satz in Noahs Segen zu besagen schien: »Wohnen wird Japhet – der Stammvater der Griechen – in den Zelten Sems« – des Stammvaters der Israeliten (Gen. 9,27). Eigentümliches trat hier zu Eigentümlichem, Geprägtheit zu Geprägtheit. Weil dieses Volk in sich Größe trug, war es ihm gegeben, daß es Größe auch erkannte und ihr sich auftat. Die alte Überzeugtheit blieb dennoch lebendig: auch dieses Neue, dieses Philosophische sollte im Buche schon befaßt sein, gleichsam darauf wartend, daß es aus ihm emporgehoben werde. Von dem Besten dessen, was griechische Denker gelehrt hatten, sollte das Buch auch sprechen. Wieder wurde beides zu einem, das Erbe und das Aufgenommene. Wieder war das Lesen der Bibel in besondere Richtung gelenkt, es war nun zur Philosophie hingeführt. Wieder war es, als wäre das alte Buch ein neues geworden. In den Jahrhunderten damals und später hat mancher schwere Tag auf diesem Volke gelastet und ihm den Atem der Seele beengt. Alle Erfahrung widersprach dem Hoffen und Wissen, die Erde dem Himmel. Immer neue Sehnsucht zog dann hinaus, fort von den erdgebundenen Stunden und den irdischen Schranken. Durch ferne Welten, durch kosmische Sphären meinte die Seele emporzuwandern, zur Unmittelbarkeit Gottes wollte sie hingelangen. Von oben her, wo das ewige Licht leuchtet, wollte sie das Auf und Nieder des irdischen | Geschehens betrachten, nicht vom Diesseits zum Jenseits hin blickend, sondern vom Jenseits her zum Diesseits, durch alle die Hüllen, die Schalen, die Dunkelheiten hindurch, die in dieser niederen Welt die Wirklichkeit und Wahrheit bedecken. Von dort her gesehen, so war man gewiß, tue auch das Rätsel sich auf, zu dem auf dieser Erde die Geschichte so oft wird. Jahrhundert um Jahrhundert hat die Mystik so die Gemüter erfaßt und bisweilen zu Höhen geführt, bisweilen in Niederungen hinein. Auch hier wollte das neue Denken und Sinnen auf dem Wege der Bibel gehen oder zu ihr hinlenken, so daß altes und neues sich in eines fügten. Die Bibel wurde zum mystischen Buch und die Mystik zum Ausdruck der Bibel. Bald schienen die Sphären zu dem Pergament herniederzukommen, bald das Pergament zu den Sphären emporzusteigen. In jenen höheren Bezirk, der herniederstrahlt und hinaufruft, trat Satz um Satz in der Bibel. Von der anderen Welt her, in der die Wahrheit wohnt und aus der die Wirklichkeit kommt,
82
sprach nun jedes, auch das alltägliche Wort der Schrift. Ferne Melodie, ferne Weise erklang verkündend und tröstend aus dem Buche, das des Menschen Hand umfaßte. Wiederum wurde das alte Buch zu einem neuen, zum neuen Zeugnis des Weges zur Zukunft. Die Bahnen, auf denen sich dieser Zug zu den Wundern der Mystik bewegte, sind verschlungen bisweilen und oft gewunden gewesen. Das Neue, das man sah, zeigte das Ziel, und Deutung und Allegorie führten dann den Weg dorthin. Er hat zu mancherlei Scheingebilden auch hingelenkt. Nicht selten wurde jenes Vielfarbige gebracht, das sich an die Stelle des Klaren setzen will, nicht selten auch jenes Gesuchte, das dem Sinnbild seine Gleichniskraft nimmt, oder jenes Gekünstelte, das den Inhalt des Wortes auseinanderbricht, damit es zu Steinen eines Spieles würde. Doch der Gedanke, von dem das alles in früheren und spä|teren Tagen ausging, war ein richtiger. Er zeigte eine echte Erkenntnis. Der neue Tag sprach, und die alte Wahrheit wurde aufgerufen, daß sie ihm auch ihre Antwort gebe. Die neue Frage führte zu neuem Ausdruck. Man erfuhr immer wieder, wie die Worte dieses Buches mehr besagten, als sie sagten, daß sie über das hinausreichten, was der bloße Wortlaut darbot, was das erste Hören oder Lesen aufnahm. Das Wort dieses Buches gewann neue Antwortkraft, und es trug wieder über das Gewohnte und Gewöhnliche empor. Auch dort war es doch so, wo die reine Deutung die Bahn weisen wollte. Und eines ist hier charakteristisch und ist wesentlich. All diesem mannigfaltigen Suchen und Deuten war eine Grenze immer gesetzt. Es war die Grenze, die durch das Gebot bezeichnet ist. Hier war die gerade und unverrückbare Linie. Wo das Gebot zu sprechen begann, da gab es kein Allegorisches mehr. Das Kategorische blieb kategorisch. Weil das Gebot und die aus ihm folgende Gewißheit unbedingt waren, verlor das Sinnen des Midrasch, der Philosophie, der Mystik, auch wenn es abseitige Pfade beschritt, doch niemals die Wegweiser. Sie blieben deutlich sichtbar, an ihnen fand jede Zeit sich im Entscheidenden zurecht. Der Irrweg wurde schließlich zum bloßen Umwege, und wie so mancher Umweg hatte er Ausblicke und das Ahnen von Fernen geschenkt. Und auch das ist bedeutungsvoll: weder die Wege noch die Umwege haben hier zum Dogma geführt. Nicht die Philosophie und auch nicht die Mystik, die beide so gern den dogmatischen Satz ausbauen helfen und dann auf ihn sich stützen, haben es hier so gewollt, geschweige denn unternommen. Der Sinn für das, was in keinem Begriff eingefangen werden kann und darf, dieser Sinn für das Letzte blieb lebendig, dieses erste Prinzip stand gegenüber aller späteren
83
83
84
85
Versuchung. Das Gebot und die Poesie waren hier die beiden Kräfte, die gemeinsam für die Offenbarung den menschlichen Ausdruck bereiteten. | Sie können hier nicht ohne einander sein: das Gebot nie poesielos und die Poesie nie gebotlos. Das Buch dieses Volkes ist das Buch sowohl der Poesie wie des Gesetzes. In seinem Buche hat dieses Volk sich immer wieder selbst entdeckt. In ihm hat es erfahren können, wie die Geschichte, zu der es gesandt ward, auch wie eine große Dichtung ist: Gebot des einen ewigen Gottes an ein Volk auf Erden und gleichsam Dichtung des einen ewigen Gottes durch ein Volk auf Erden. In sich hat es das erfahren: Leben im Gebot ist in seinem Tiefsten Ausdruck einer dichterischen Kraft, eines Genialen, das von Gott kommt. In der Erhabenheit des »Du sollst«, das ihm aufgetragen war, hat dieses Volk sich gewissermaßen selbst als Dichtung erlebt. Das Ringen um sich wurde ihm auch ein Ringen um die Poesie seines Lebens. In allem Dasein hienieden, dem des Einzelnen wie dem der Gesamtheit, ist der Kampf zwischen Poesie und Prosa. Die Tage dieses Volkes selbst, ganz wie des Menschen in ihm, wissen davon. Auch das erzählen sie, wie bisweilen das breite »Philistertum« der Welt es erfassen, wie dem Geschichtlichen auch der Alltag die Kraft nehmen wollte. Die Prosa von Ereignissen und Erfolgen ringsumher, die schiere Macht trivialer Meinungen und Lehren, die sich ausbreiteten, wollten von ihm Besitz nehmen. Die Poesie seiner Geschichte, die Weihe des großen Lebens drohte ihm dann zu entschwinden. Doch dieses Buch, oft nur dieses Buch, konnte ihm den Weg zu sich selber, zu dem Gleichnis seines Lebens dann weisen. In ihm hat es sich selbst wieder finden können. Dieses Buch ist Leben und Wesen vom Wesen und Leben dieses Volkes. Das Volk ist dieses Buch, und das Buch ist dieses Volk. Dieses Buch kann hier nie nur Historie meinen und nie zu bloßer Literatur werden, nie bloßer Stoff eines Wissens und Forschens sein. Nur dort, wo man ihm innerlich fern ist, kann es das sein. In diesem Volke wird es, sofern sie nicht beide, Buch | und Volk, verloren sein sollen, immer wieder zur Kraft, zur Gegenwärtigkeit, immer ein Aufruf zur Entscheidung, immer auch Prophetie und Verheißung. Ohne sein Buch würde dieses Volk nicht mehr leben, und ohne sein Volk würde dieses Buch, oder wenigstens Wesentliches darin, nicht mehr lebendig sein. Sie können nicht ohne einander sein. Solange dieses Volk seine Heilige Schrift besitzt, wird es ein Volk des Gebotes und der Poesie bleiben. Von den Menschen der Prosa und der Interessen, auch denen in seiner Mitte, wird es daher selten begriffen. Aber es wird sich selber immer verstehen, solange es an
84
seinem Buche festhält. Es wird des großen Gleichnisses und der großen Aufgabe seiner Geschichte dann immer neu gewiß sein. Es wird in einer Kraft der Offenbarung leben.
Die Geschichte dieses Volkes ist eine Geschichte der Offenbarung. Der Auszug aus Ägypten in seinem Wege und seinem Wunder ist die Einleitung zu ihr. Das Buch sagt: »Am dritten Neumond, nachdem die Kinder Israel aus Ägypten gezogen, an diesem Tage kamen sie in die Wüste Sinai ... und Israel lagerte dort gegenüber dem Berge. Moses stieg zu Gott hinauf: Er, der ist, hatte ihn vom Berge her gerufen, um zu sagen: So sage dem Hause Jakob und künde den Kindern Israel – die alte aramäische Übersetzung überträgt hier: So sage den Frauen in Jakob und künde den Männern in Israel -: Ihr, ihr habt gesehen, was Ich an Ägypten getan habe, und wie Ich euch auf Adlerflügeln trug und euch zu Mir führte. Und jetzt, wenn ihr auf Meine Stimme hören und Meinen Bund wahren werdet, so werdet ihr Mir ein Besitztum sein mehr als alle Völker, wenn auch Mir die ganze Erde zugehört. Ihr, ihr sollt Mir ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Dies sind die Worte, die du zu den Kindern Israel reden sollst. Moses kam | und rief die Alten des Volkes und legte ihnen alle diese Worte vor, die ihm Er, der ist, geboten hatte. Da antworteten sie, das ganze Volk zusammen, und sagten: Alles, was Er, der ist, gesprochen hat, werden wir tun. Und Moses brachte die Worte des Volkes zu Ihm, der ist, zurück« (Ex. 19,1-8). Ein Wort ist hier eindringlich gesprochen, und es hat dann im Nachdenken und im Willen immer die besondere Betonung gehabt, das Wort: »Das Volk«, »Das ganze Volk«. Dem Volke in seiner Gesamtheit, so ist hier der Grundsatz, ist diese Offenbarung zuteil geworden, ihm und nicht nur Auserwählten in ihm. Das Volk als Ganzes, die Volkspersönlichkeit, ist in die Verpflichtung und Verantwortung, gewissermaßen in eine Existenz gestellt. Das ganze Volk ist berufen, ist auserwählt, es ist, wie der Prophet dann gesagt hat, dazu bestimmt, »der Knecht dessen, der ist« [Jes. 53] zu sein. Es gibt vor Gott keinen engen Kreis, sondern nur sie alle, und es gibt hier keine Stellvertreter, keinen, der für andere vor Gott die Aufgabe übernehmen könnte. Unmittelbar und ganz war das Volk damals und ist es immer vor Gott hingeführt. Selbst soll es Priester sein, Volk der Weihe, selbst in allen seinen Gliedern ein Gerechter, ein Heiliger. In den Gleichnissen der Bibel gehen darum das Bild des idealen Menschen, den das Erlebnis eines Geschlechts oder die Hoffnung vor sich sah, und das Bild des Volkes, wie das Ideal es zeigte, ineinander über. Ein und dasselbe Wort nennt sie beide; beide, das Volk und
85
86
87
88
sein Prophet, das Volk und sein Gesalbter, sein Messias sind »der Knecht dessen, der ist«, der Helfer des Ewigen. Das Ganze ist vom Volke, und das bedeutet doch zugleich: von jedem in ihm verlangt. Die meist verkannte oder mißdeutete, so oft nur nach Scheinheiligen, die es in ihr gab, beurteilte pharisäische Bewegung hat mit dieser Idee Ernst machen wollen. Sie wollte es verwirklichen, daß das Volk zur heiligen Gemeinde, zum Reiche | von Priestern werde; das Volk sollte eine communio sanctorum [Gemeinschaft der Heiligen] sein. Für keinen in ihm sollte die Religion nur etwas neben anderem sein und für keinen weniger als für einen anderen bedeuten; durch jeden Einzelnen und jeden Tag sollte sie leben. In der Zeit, in der das Volk erneut um seine seelische und geistige Existenz hatte kämpfen müssen, ist diese pharisäische Bewegung entstanden und gewachsen. Sie hat damals den Weg bestimmt, und sie bezeichnete eine Epoche. Doch was ihr Eigentümliches ist, daß sie an alle die gleiche große Forderung richtet, das war von Anfang an verlangt worden und ist ein Prinzip geblieben. Nur die große Forderung kann hier die Linie der Geschichte sein. Geschichte ist hier, solange die Offenbarung des Ewigen spricht. Und sie hat in der Tat dieses Volk in einer Gesamtheit seiner Menschen und in der Gesamtheit seiner Zeiten durchdrungen, so wie nirgends sonst ein Volk es dauernd erfahren hat. Auf das Ganze gesehen, wurde hier »von Geschlecht zu Geschlecht«, das heißt: in dem, was die Generationen eint, die Religion zum Willen, und der Wille wurde zur Religion, und dieser Wille, das Gebot der Religion ernst zu nehmen, wurde zum Grunde der Gemeinschaft. Er reicht in die Tiefe und trägt die Gesamtheit. Dieser Boden konnte meist für die noch Raum geben, deren Existenz schwach geworden war oder nur ein Schatten von etwas anderem zu sein schien. Er trug in der Tat vielerlei, Tage und Naturen voller Verschiedenheit und so manches auch, was sich von dieser Religion abwandte oder gegen sie sich stellte. Aber im Grunde des Wesens hatte auch dort noch immer, aus der Tiefe des Bodens hervor, etwas von dieser Religion fortgedauert. Was so selten ist, eine Seele des Volkes, war hier aufgewachsen. Wenn Völker geworden sind, hat immer ein Volkskörper sich geformt, fester oder lockerer, und in vielen Völkern traten die Züge des Geistes auch hervor, lebendig in dem einen | und schwächer in dem anderen. Aber oft wohnt unter dem allen die Seelenlosigkeit. So selten lebt in Völkern die Verbindung mit der Offenbarung, diese gleiche Verwurzelung von Empfinden und Denken und Wollen, dieses Innerste, dieses Seelische, das in allem Wandel noch immer da ist und zuletzt doch noch auf den Ruf des Gottesgebotes antwortet.
86
Gabe von der Gabe dieses Volkes ist das auf Erden geworden. Gewiß, und es muß wiederholt werden, sind in diesem Volke Menschen und Tage gewesen, die anders waren und anderes sagen wollen. Aber wer das Ganze vernimmt, hört die Stimme einer Seele, der Seele dieses Volkes. Manch Nachsinnen über den Grund hat darin eine besondere Volksbegabung, die Begabung für die Offenbarung gefunden. Einer der frühen Männer jenes Nachdenkens, welches das Bibelwort über sich selbst hinausführen wollte, einer dieser Männer der sogenannten Haggada, hat erzählt, daß Gott seine Offenbarung vielen Völkern nahegebracht, sie ihnen gleichsam angeboten hätte, daß aber nur dieses eine Volk bereit und fähig gewesen war, sie zu empfangen und sie zu eigen zu behalten. Diesen Gedanken hat dann ein Dichter des Mittelalters, Jehuda Halevi aus Toledo, aufgenommen. In seinem philosophischen Dialoge »Der Chasare« – das Volk der Chasaren, im südlichen Rußland, war im frühen Mittelalter, seiner Königsfamilie folgend, in die jüdische Religion eingetreten – geht er der Eigentümlichkeit der Seele seines Volkes nach: Allen Völkern, so sagt er, sei eine Gnade, eine Anlage zur Gotteserkenntnis geschenkt, aber nur in diesem einen Volke wohne auch eine prophetische Kraft. Sie sei das starke Vermögen, immer zu sehen, zu hören und zu begreifen, diese lebendige Empfänglichkeit für das, was in den Tiefen und auf den Höhen der Menschheit webt und kämpft, diese Empfänglichkeit, die so oft zum Schmerze, zum Leide werden muß. Denn wo die Seele allem Menschlichen sich öffnet, spricht zu ihr auch das Qual|volle. Das Harte und Schwere, das dort lastet, das Niedrige und Gewöhnliche, das dort sich dehnt, stellt seine Frage. Schon früh war dieses Problem hier erfaßt worden, am frühesten und am ergreifendsten von einem Propheten, der in der Fremde und in der Frage, im Exil in Babel lebte. Er hat ein bleibendes Wort geschaffen und hat die bleibende Antwort gegeben. Vor seinem Blicke stand sein Volk als »der Knecht dessen, der ist« [Jes. 53]. Ihm, diesem Volke, ward der Auftrag des Ewigen offenbart und der Weg alles Lebens gezeigt. Seine Seele erlebt und fühlt darum alles, was auf Erden bedrückend, peinigend und sündhaft, trostlos und gottlos ist. Es ist der Knecht dessen, der ist, es leidet an den Völkern und für die Völker und ist von wenigen begriffen. Aber eines Tages werden die Menschen das verstehen. Sie werden dann von ihm sprechen: »Fürwahr, unsere Krankheiten hat er getragen, und unsere Gebrechen, er hat sie auf sich geladen ... Wir alle, wie Schafe gingen wir in die Irre, jeder nach seinem Wege wandten wir uns, und Er, der ist, ließ ihm begegnen die Schuld von uns allen ... Er, der ist, wollte, daß es
87
89
90
ihn treffe. Er ließ ihn leiden, wahrlich ein Opfer der Sühne sollte seine Seele hergeben. – Wahrlich, er wird Samen sehen, er wird Tage haben für die Dauer, und der Wille dessen, der ist, wird durch seine Hand gedeihen« (Jes. 53,4.6.10). Das, was das Geheimnis hier zeigt, ist der Weg des Menschen, den Gott gerufen hat, und ist der Weg des Volkes, wenn es zur Persönlichkeit wird, wenn es Volk einer echten Begabung oder, wie die Bibel es nennt, ein erwähltes Volk ist. Jedes Volk solcher Kraft geht eine Strecke solchen Weges. Aber diesem Volke war es zugewiesen worden, ganz den Weg zu gehen. Die Begabung, die in seine Seele gepflanzt war, ist nicht nur die für ein Feld in der Welt, zu dem die menschliche Seele zieht und aus dem sie dann wieder in die Ruhe zurückkehren kann. Seine Begabung ist die für das Eine und Ganze, für das, zu dem alles | hinbezogen ist und in dem alles ein Bleibendes hat. Wem immer eine Begabung verliehen ist, wird aus einem alltäglichen Behagen, aus einer Selbstzufriedenheit herausgeholt in einen Kreis der Ergriffenheit. Ihn erfassen dort Fragen und Rätsel, Nöte und Aufgaben, und er muß, wenn er sich treu bleiben will, mit ihnen ringen, an ihnen und für sie leiden. Dieses Volk hat dies ganz erfahren – eine Begabung ohne Rast. Denn die Offenbarung, die ihm zuteil geworden, hat vor das ganze Leben, das ganze Geheimnis und damit vor die ganze Menschheit auch hingestellt – ein Kampf ohne Ende. Hier ist das Wort gedichtet worden, daß, wer den Weg zum Heiligtum gehen will, von »Tapferkeit zu Tapferkeit geht« (Ps. 84,8). In ersten Tagen schon hatte das Gleichnis von dieses Volkes Persönlichkeit gesagt: »Du hast mit Gottheit und mit Menschheit gerungen, und hast es vermocht« (Gen. 32,29).
Das Wort »Volk« konnte so nie zu einem bloßen Begriffe, der nur umfaßt, hier werden. Es meinte hier das Gebot und meinte darum alle ohne Ausnahme, jeden Einzelnen. Jeder ist in den Vordergrund der Forderung gestellt, jeder vor das Ganze der Verpflichtung hingeführt. Es gibt hier nicht die Scheidung von Geweihtem und Gewöhnlichem, von Voranstehenden und Dahinterstehenden und ebensowenig eine Sonderung von Kasten und Klassen, von Edlen und Gemeinen, von solchen, in denen das Volk sich darstelle, und solchen, die nur einen Platz in ihm haben. Keiner ist ausgeschlossen, und keiner ist enthoben. Das Ganze und der Einzelne werden hier eins. Jeder steht mit seinem Ganzen in der ganzen Verantwortung für das Ganze. Diese Worte »alle« und »ganz«, diese hier so oft wiederholten, haben hier immer den vollen, den religiösen Ton.
88
Keiner ist daher nur irgendeiner, keiner bloß einer aus der | Menge, einer von den Vielen. Bild und Begriff von dem, der nur mitgezählt wird, von dem Proletarier, dem, der nur da ist, Kinder zu zeugen, liegen weit fern, sie sind hier fast unvollziehbar. Jeder, auch der Geringe, ist er selbst, ist dieser eine, auf den es jetzt und hier, und überall und immer ankommt. Die Vorstellung der Masse widerspricht hier dem innersten Empfinden und Denken. Vor Gott gibt es keine Masse, geschweige denn eine massa perditionis. Wer immer und wo immer einer ist, er ist, wie der alte Ausdruck besagt, »eine Seele aus Israel«; er ist, wie ein anderer Satz meint, »gewichtig wie die ganze Welt«. In dieser Gewißheit spricht ein anderes als im griechischen Individualismus. Dort erfuhr der Mensch, wie alle Dinge sich an ihm brechen und widerspiegeln und an ihm so ihr Maß finden. Dieser Individualismus kommt vom Rationalen, von geistigen Erfahrungen her und hat darin sein Recht. Hier dagegen erlebt der Mensch, wie inmitten alles dessen, was auf ihn eindringt, der Eine, der ewige, unendliche Gott, ihn aufruft, ihn als diesen Einzelnen, und wie er, dieser Mensch, durch die Antwort, die er gibt, sein eigenes Leben schafft. Aus der sittlichen Gewißheit und dem persönlichen Rechte, das darin liegt, wächst hier der Individualismus auf. Darin, daß das menschliche Dasein, sozusagen, sich verpersönlicht, hat er seinen Grund und Beweis. Aus diesem religiösen Individualismus ist eine eigentümliche Art und Verfassung der Gemeinschaft, die Gemeinde, erwachsen, und sie selbst hat dann ihn wieder zu weiterem Wachstum gebracht. In der Gemeinde finden sich der Wille zur Individualität, der zur Gemeinschaft und der zu Gott zusammen. Sie darf mit der griechischen »Polis« verglichen werden, aber ist doch auch etwas ganz anderes. Man kann die Gemeinde als die Existenzform der religiösen Demokratie bezeichnen. Sie ist das Gebilde, in dem die Theokratie sich ausdrücken will, | in dem sie sich ihr Organ bereitete. Wie alles, was dieses Volk schuf, hat auch sie weit über dessen Grenzen hinaus eine Geschichte gewonnen. Ihr Prinzip ist ein fruchtbarer Keim, ihre Form eine gestaltende Kraft in der Menschenwelt geworden; die Entstehung und Entwicklung von Staatsgebilden in der Alten und Neuen Welt geht auf sie zurück. Ihr Charakteristisches ist, daß sie dem Einzelnen eine besondere Bedeutung und Würde und Kraft gibt und daß sie selbst doch wieder ihre Bedeutung, Würde und Kraft von dem Einzelnen empfängt. Sie weckt sein Gewissen, und sie wird wiederum zum Instrument seines Gewissens. Wo die öffentliche Meinung zum öffentlichen Ge-
89
91
92
93
wissen geworden ist – und sittlicher Fortschritt hängt davon ab –, ist das zumeist durch diesen Bund von Individualität und Gemeinschaft, durch die Gemeinde erreicht worden. Man könnte sagen: das Individuum, das sich mit anderen Individuen verbinden will, erlangt einen Mittelpunkt und ein Schwergewicht in der Gemeinde, und die Gemeinde hat ihren Mittelpunkt und ihr Schwergewicht in jedem ihrer Individuen. Eine eigentümliche Spannung entsteht hier immer von neuem, die zwischen Individuum und Gemeinschaft. In ihr können sie sich beide immer neu gestalten. Die Gemeinde ist darum etwas anderes als die Kirche, die ja auch aus anderem Boden, dem der Sakramentsgemeinschaft, erwuchs. Die Kirche besteht an sich, sie ist in eigener Geltung und hat den eigenen Anspruch; sie war vor den Einzelnen schon, vor ihnen in der Form und im Prinzip. Die Gemeinde wird erst durch die Einzelnen, sie ist nach ihnen – durch sie und nach ihnen als Substanz und als Gestalt. Die Kirche gibt dem Menschen neue Kraft und Würde, aber sie selbst empfängt solche nicht durch ihn; die Gemeinde gibt und empfängt das alles, und sie kann darum Wechselndes empfangen und Wechselndes geben. In der Kirche ist so nicht diese Spannung, die in der Gemeinde ist, diese Auseinandersetzung zwischen Individuali|tät und Gemeinschaft. Die Kirche hat vieles gegeben und hat Glauben und Gehorsam gelehrt; manch wundersamer menschlicher Zug hat ihr geantwortet. Die Gemeinde hat vieles gegeben und hat Glauben und hat Selbstverantwortung gelehrt; ihr hat oft wundersamer menschlicher Ausdruck erwidert. Von ihr kommt ein Bestes auch des freien Staates her: seine religiöse, seine moralische und soziale Dynamik, der starke, sich immer erneuernde Antrieb des Gewissens. Wann und wo immer zehn Männer, so war es Grundsatz in diesem Volke geworden, zusammenkommen, jeder mit seiner Individualität, um gemeinsam vor Gott hinzutreten, dort ist eine Gemeinde geschaffen, Gemeinde für die Stunde oder für die Dauer, dort ist, wie das alte Gleichnis sagt, Stätte der Unmittelbarkeit Gottes, dort ist, um das alte hebräische Wort wieder zu gebrauchen, die »Schechinah«: Gott wohnt dort. Ein einzelnes Volk Gottes ist dort inmitten des Volkes Gottes. In der Gemeinde hat dieses Volk sich für Jahrhunderte die Existenzform geschaffen. Das Individuum der Familie, das Individuum des Volkes, das Individuum des Staates, das Individuum der Menschheit, sie alle zu gleichen, stehen in der Gemeinde. Sie alle wollen in ihr des Gebotes und des Trostes Gottes, des Gebotes und des Trostes der Freiheit und Verantwortlichkeit gewiß werden, es lernen, sich zu bekennen
90
und sich zu beweisen. Alle die Auftriebe der einzelnen Seele, ihr Gebet, ihr Drang und ihre Sehnsucht, ihr Ruf zu Gott und ihre Bereitschaft für den Ruf Gottes verlieren hier nichts von ihrem Persönlichen und Unmittelbaren; sie erhalten hier vielmehr immer neu den persönlichen, unmittelbaren Impuls. Auf diesem Boden ist das Wort gesprochen worden – es ist das Wort eines Meisters unter den alten Lehrern, des Hillel: »Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn ich für mich allein bin, was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann dann?« [Avoth I] Das sind nicht drei Sätze, | sondern es ist ein Satz; keiner der drei Teile kann aus ihm herausgenommen werden, ohne daß das Ganze fiele. Er ist der Satz von der Gemeinde, er sagt, was religiöse Demokratie ist. Aus ihm spricht mehr noch, ja ein ganz anderes noch, als der Bürger Athens oder der römische Bürger erfahren hatte, wenn er seiner Stadt und seines Platzes in ihr inne wurde. In der Idee von der Gemeinde kommt zugleich ein wesentliches Prinzip, ein Offenbarungsprinzip dieser Religion zum Ausdruck. Es ist das der Einheit der Moral – man könnte es das der moralischen Demokratie nennen. Manch Stück der Geschichte menschlicher Gemeinschaft, der engeren wie der weiteren, der Geschichte so manchen Abstieges, ist eine Geschichte der doppelten Moral. Sie ist die eigentliche Gefahr aller Gemeinschaft. Von ihrer Überwindung hängt der moralische, der menschliche Fortschritt ab. In zwei Richtungen hat die doppelte Moral sich ihren Weg verschafft, und beide Richtungen haben sich meist sehr bald auch miteinander vereint. Die eine ist, daß für eine bestimmte Gruppe die halbe Moral und weniger gelten durften und dafür von allen den übrigen die ganze Moral verlangt wurde; ein besonderes Gebot war für alle die Kleinen, die Schwachen, die Armen aufgestellt, und ein besonderes durfte für die Großen, die Starken, die Reichen bestehen. Und die andere Richtung ist die, daß der moralische Anspruch sich nur an den einzelnen Menschen richtet und die Gesamtheiten, vor allem die Nation, der Staat, die Partei, davon ausgenommen werden. Die Moral ging an ihnen vorüber. Es ist die Grundkraft des Glaubens an den einen Gott, daß das Gebot das eine ist, das eine für alle die Einzelnen und dies eine ebenso für alle die Gemeinschaften, für sie als solche. Monotheismus meint ganz wesentlich die Einheit der Moral. Wie die Vielheit der Götter abgewiesen ist, ganz so die Vielheit der Moral. Die Gemeinde gründet sich auf solche Einheit der Forderung. Schon dadurch hat sie dazu beigetragen, die Züge dieses Volkes | zu prägen, ganz wie sie dann auch, als sie über dessen Grenzen hinaus
91
94
95
96
ihren Weg nahm, in das Wesen anderer Völker ihre Linien eingezeichnet hat. In ihr, und dann durch sie, hat das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit seine Freiheit und Weite erhalten. In ihr hat zum ersten Male sich eine Ordnung geformt, in der weder eine gebotene Überordnung zum Zwingenden und Bedrükkenden werden konnte, noch eine ihr entsprechende Unterordnung zur bloßen Untertanenschaft und zur Selbstentäußerung führte. Die Gemeinde konnte so für Völker zur Schule einer lebendigen und, was dasselbe meint, einer freien Gemeinschaft werden. Hier konnten das Leben der Gemeinschaft und das der Individualität, jedes in seinem eigenen Recht und Wert, bestehen, ohne daß sie einander verdrängten oder auch nur beengten. In der Gemeinde haben Menschen gelernt, wie dort, wo das göttliche Gebot der gemeinsame Boden ist, Individualität und Gemeinschaft miteinander, ja durch einander leben. Geschichtliche Erfahrung zeigt es. Wo das eine Gebot zu allen spricht, wo der Monotheismus der Moral waltet, dort haben ein starker, bisweilen trotziger Individualismus und ein entschiedener, nie ablassender Anspruch der Gemeinschaft beide ihren Platz. Sie gedeihen miteinander, ja vermöge einander; sie haben ihre freie und gemeinsame Entwicklung. Ebenso gibt die Geschichte die Beispiele für das Entgegengesetzte. Wo die eine Gottessatzung verworfen ist oder ihre bestimmende Geltung eingebüßt hat, dort legt sich Menschensatzung um so lastender auf. Menschensatzung auf Menschensatzung wird emporgeschichtet. Es ist wie ein Gesetz in dem Auf und Nieder der Freiheit: Je lebendiger die Bindung an den einen Gott ist und je sicherer darum die Moral die eine bleibt, desto weniger kann menschlicher Zwang für die Dauer seine Fesseln schmieden. Wenn hingegen den Menschen dieses verpflichtende Wissen um den einen Gott fehlt oder widerstrebt, | dann können sie nur zu leicht zum Knechtstum bereit werden. Nur zu leicht kommen sie dazu, daß sie nur Gefolge von Menschen, bloße Untertanen und Untergebene von irgend jemandem sein wollen und dann vor jedem »Baal das Knie beugen« [I. Kön. 19,18]. Sehr bald erscheint dann die zwingende, selbst die bedrückende Obrigkeit wie eine Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens, und der Despot wird schließlich das angebetete Idol. In dem Gottesgebote ruht eine der stärksten Wurzeln der freien Gemeinschaft, aus ihm wächst eine Kraft hervor, die auch die Stürme zu bestehen vermag. Die Geschichte von Völkern bezeugt es. In diesem Volke sind der Wille zur Individualität und der Wille zur Gesamtheit, der lebhafte Unabhängigkeitssinn und der bestimmte
92
Gemeinschaftssinn gleich scharf ausgeprägt. Jeder, als solcher, ist von Gott angesprochen, und wie er, sind es doch alle. Alle sind angesprochen, sie als Gesamtheit, und damit wiederum jeder Eine in ihrer Mitte von neuem. Es kann den Einzelnen so nicht ohne die Gesamtheit und sie so hier nicht ohne jeden Einzelnen geben. Offenbarung ist Offenbarung in dem Einzelnen und seiner Persönlichkeit und Offenbarung in der Gemeinschaft und ihrer Persönlichkeit. Jede Ehe schon, diese engste Verbindung, ist es so: Offenbarung durch die Individualität dieser beiden Menschen, und Offenbarung durch diese ihre Verbindung, so daß, wie das alte Gleichnis sagt, »der Mann wahrhaft nicht ohne die Frau ist und die Frau wahrhaft nicht ohne den Mann und sie beide nicht ohne Epiphanie, ohne die Schechinah«. Und so ist es in jeder, wie weit immer erstreckten Gemeinschaft, so in der Gemeinde, so im Volke, so schließlich in der Menschheit. Wo in der Verbindung ein Offenbarendes ist, wo in ihr sich der eine Bund Gottes, das eine Gottesgeheimnis und Gottesgesetz kundtut, dort ist die Verbindung zugleich eine menschliche Unabhängigkeit, eine Freiheit: lebendige Freiheit, die der | Spannung und Bewegung fähig ist, und stetige Freiheit, wie sie aus einer bleibenden Gewißheit erwächst. Wie wiederum ein altes Gleichnis es dichtet, in dem nicht übersetzbaren Zusammenklang zweier hebräischer Wörter, des Wortes »charut«, »eingegraben«, das von den Zehnworten auf den zwei Tafeln des Bundes gesagt ist (Ex. 32,16), und des Wortes »cherut«, »Freiheit«: Geschrieben steht »charut«, »eingegraben«, aber gemeint ist »cherut«, »Freiheit« [Avoth VI]. Wo der Bund Gottes die Persönlichkeit eines Menschen und die Verbindung von Menschen prägt, dort ist wahrhaft Freiheit, die Freiheit, voll der Kraft der Formung und des Wachstums.
In den Geschlechtern dieses Volkes lebt trotz allem und allem das Erbe der Offenbarung Gottes. Immer neu hat es nach Existenz, nach Darstellung und Gestaltung daher verlangt. Durch Beginn, Geschichte und Idee ist diesem Volke die Religion zum Mittelpunkt, zum Gehalte seines Lebens geworden. Im Namen Gottes war es einst befreit und zum Volke gemacht worden, im Namen Gottes ist es dann seinen Weg gegangen, von Geschlecht zu Geschlecht. In seiner Religion und durch seine Religion hat es seine Persönlichkeit bewahrt alle die Zeiten des Dranges und des Druckes hindurch. Der Kampf ums Dasein, den seine Menschen immer wieder und in immer neuer Richtung zu führen hatten, ist auch, und vornehmlich, ein Kampf um das religiöse Dasein gewesen.
93
97
98
99
Er hat die Seelen geformt. Er hat auch eine Auslese bewirkt, da er immer nur die im Volke bleiben ließ, welche innerlich stark, innerlich jedem Wandel gewachsen waren. Der Kampf um das religiöse Dasein wurde zu der großen Probe. Denn ein Mensch dieses Volkes kann kaum ohne diese Religion sein. Mit ihr büßte er zugleich einen wahren Bestandteil seines Wesens, ein entscheidendes Stück seiner Wirklichkeit, seiner Eigentlich|keit ein. Das Beste seines Grundes, seiner Jahrhunderte, ein echter Sinn seines Ichs ginge ihm verloren. In Tagen eines Überganges, in solchen Tagen, wo ein Altes ins Unrecht gesetzt schien und ein Neues die ganze Seele haben wollte, hat dieses Volk von solchem Verluste erfahren. Hier gab es immer einen eigenen Typus der Übergangsmenschen. Bisweilen zeigt sich in ihnen eine Kraft, oft aber eine Schwäche. Sie stehen bisweilen in einer Tragik und nicht selten in einer Komik. Dieses Volk kennt die mancherlei Menschen, die ihr Ich da und dort suchten und es nicht fanden, die hier oder dort eingetreten sind oder einzutreten dachten und die dann irgendeinen Umkreis oder irgendeinen geträumten Standort für den Grund ihres Ichs ansahen. In verschiedenen Formen stellt sich dieser Mensch solcher Zeit auch dar. Bald ist er der Individualist, in dem unguten Sinne dieses Wortes, der Mensch mit dem, eigenwillig oder gewaltsam, hergestellten Ich; so oft er zu fühlen und zu denken beginnt, muß er sich neu anspornen und übertreiben. Bald wieder ist er, umgekehrt, der Gemeinschaftsmensch, in der absprechenden Bedeutung dieses Wortes, der Mensch, dem die Gruppe, die Partei sein Ich gewähren soll; sein Fühlen und Denken muß sich dauernd und ruhelos in diesem einen Bezirke bewegen. Und dabei ist im tiefsten Grunde doch in ihnen allen noch ein Etwas von ihrem wirklichen Ich geblieben, und wenn eine Stunde anpocht, gibt es vielleicht die Antwort. Durch diese mannigfachen Formen zieht sich eine Linie. Sie zeigt, wie sehr der Mensch dieses Volkes, wenn ihm die Offenbarung fremd ist, sich selber irgendwie fremd wird, wie er sein Wesentliches und Entscheidendes nicht kennt, so groß und weit erstreckt sein Wissen auch sein mag, wie er an sich selber vorübergeht, zu sich selber nicht gelangt, auf wie viele und bedeutungsvolle Wege ihn sein Dasein auch führt. Wenn ein Mensch aus schwächerer oder einseitigerer oder weniger durchpflügter | Volksbegabung herausgewachsen ist, so könnte er gegen solches Erbe gleichgültig sein, und das brauchte noch nicht sein Innerstes, sein Ich anzugreifen. Den Menschen dieses Volkes trifft es anders. Erst aus der Seele seines Volkes heraus
94
gewinnt er jene innere Einheit und Gewißheit, in der auch Ich und Wir, das Ich mit seinen Gaben und das Wir mit seinen Kreisen, in eine lebendige Verbundenheit treten. Vielleicht ist für viele Menschen sonst Religion nur eine Frage der Beschaffenheit? Für den Menschen dieses Volkes ist diese seine Religion – auch darum hat sie den unkonfessionellen, unorthodoxen Zug – eine Frage der inneren Existenz. Durch die Kraft, die alles bildet, ist dieses Volk so gebildet worden; nur so kann es sein. In vielen Klängen kann die Offenbarung hier vernommen werden, ihre Weite und Mannigfaltigkeit hat sie hier immer gehabt. So vieles darf hier den Raum für Frage und Antwort haben, wenn nur etwas von dem vernommen wird, was die Propheten hörten, als sie sagen konnten, sagen mußten: »So spricht Er, der ist.«
Ihre erste Urkunde besitzt die Offenbarung in den »Zehnworten«, die auf die »zwei Tafeln« geschrieben worden waren, »die Tafeln des Zeugnisses« (Ex. 32,15), »die Tafeln des Bundes« (Deut. 9,9). Worte von Gesetz und Freiheit sind sie – Verfassung dieses Volkes und Aufruf an die Menschheit in einem. Die Einleitung weist den Grund, welcher allein dies alles tragen kann. Sie sagt: »Gott redete alle diese Worte«, oder, wie damit zugleich gesagt und gemeint ist: »diese ganzen Worte« (Ex. 20,1). Alle diese Worte, diese ganzen Worte – erst in ihrer Einheit, in ihrer Ganzheit ist ihre Bedeutung gegeben. Sie sind nicht zusammengestellt und gezählt, sondern jedes eine ist Bestandteil des Ganzen, und dieses Ganze beweist sich in jedem. Das Ganze ist vor den Teilen, ist das Leben, das in | allen lebt. »Gott redete alle diese Worte, diese ganzen Worte«; Leben von Gott ist das, was in ihnen lebt. Nach dieser Einleitung, doch sie nur weiterführend, so daß die beiden nicht ohne einander sein könnten, spricht der erste der Sätze. Nicht in der Reihe bloß, sondern in der Bedeutung und Kraft ist er der erste: dieser Satz von dem einen Gott, der jedem Menschen sein Gott ist, von dem ewigen Ich, das Ursprung und Prinzip für alles menschliche Ich ist. In dem Beginn dieses Volkes hat das ewige Ich, dieser ewige Beginn, sich offenbart und hat diesem Volke Erlösung, Bund und Bestimmung aufgezeigt, hat es durch das Gebot und für das Gebot aufgerufen, so daß es nun um sich selbst, um die Eigenheit seines Ichs und die Besonderheit seines Weges wußte. Das ewige Ich spricht zu ihm, und darin ist alles gegeben. »Ich bin der, der ist, dein Gott, der Ich dich herausgeführt habe aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause der Knechte« [Ex. 20,2].
95
100
101
Erstes der Gebote ist dieser Satz, nicht nur erstes der Worte. Denn wenn das ewige Ich sein Wort an den Menschen richtet, spricht zugleich das bleibende Gebot, dieser Grund und Sinn aller Freiheit. Offenbarung ist in ihrem Ersten und Entscheidenden Offenbarung vom Gebote, von des Menschen Freiheit. Erst wenn der Mensch das »Ich bin der, der ist« vernommen hat, ist er des Gebotes seines Ichs, des Ursprungs seiner Freiheit bewußt. Beginn der Gebote ist darum dieser erste Satz. Er wäre verkannt, und seine Hoheit und Kraft wären beeinträchtigt, wollte man meinen, wie es oft geschehen ist, daß er zu einem Gebote werde durch die Verbindung mit dem folgenden Satze: »Du sollst keinen anderen Gott haben mir gegenüber.« Dieser neue Satz führt die Reihe der Sätze, die nun dem Menschen, den der Ewige, sein Gott, aufgerufen hat, den Weg weisen. Dieser neue Satz ist das zweite Gebot. Es wendet sich gegen das Ausweichen, das den einen Weg scheut: gegen die vielen Götter, gegen die vielen Kompromisse, gegen die viel|fältige Moral. Das erste Gebot [20,2], als Satz und als Gebot, hat dem Charakter des Volkes und seiner Geschichte den großen Zug verliehen, das zweite Gebot [20,3-6], und mit ihm das dritte [20,7], das von der Wahrhaftigkeit, sie haben das tiefe Ernstnehmen, dieses Wissen um den eifervollen Gott hier eingeprägt. Zusammen haben sie den Glauben zu dem gemacht, was er hier zuerst geworden ist: Entschlossenheit für das eine und ganze Leben, Bekenntnis zu der großen Forderung, die der Mensch durch alle seine Tage und in allen seinen Umkreisen erfüllen soll. Das letzte Wort in den Zehngeboten ist das Wort: »dein Nächster«. Vielleicht ist das kein Zufall, sondern ist ein Gewolltes, oder vielleicht ist es die Genialität des Zufalls. Dreimal steht es in dem beendenden Satze, nachdem schon der Satz vorher es gesprochen hatte – dein Nächster, oder genauer noch, in seinem Gehalt und in seiner sprachlichen Absicht, und in dieser großen Paradoxie der Religion: dein Anderer. Er ist ein Anderer, aber dein Anderer doch; er ist der Deine, wie sehr er auch ein Anderer ist. Er unterscheidet sich von dir, vielleicht Tag um Tag mehr, und bleibt doch mit dir verbunden; er ist auf den anderen Platz gestellt, dir vielleicht entgegengesetzt, und ist immer zu dir doch gehörig. Er ist er, und du bist du, aber beide, gleicherweise, seid ihr ein Ich von desselben Gottes Gnaden, beide gleich von Gott angesprochen mit dem »Du sollst, du sollst nicht«; er ist wie du. So hat auch das spätere Gebot der Torah, in dem Kapitel von der Heiligkeit, das Wort gefaßt: »Liebe deinen Nächsten – deinen Anderen –, er ist wie du« (Lev. 19,18). Die Fülle der Aufgabe, die weite Erstreckung des einen Weges und seiner Pfade ist durch
96
dieses Wort bezeichnet – überall ist der Andere. Wie das Wort »Ich bin der, der ist« der Anfang »aller dieser Worte« ist, so ist darum ihr Schluß »dein Nächster«. Das Ganze dieser Worte ist wie ein Kunstwerk; die Einheit ist noch mehr als die Teile. Wohl spricht jedes von ihnen ein Eigenes und spricht in neuer Eindringlichkeit. Bald mit einer Fülle der Rede, bald in einer gestrafften Knappheit sprechen die Sätze. Aber was in ihnen lebt, ist in ihnen allen dasselbe. Der Odem der Hoheit ist in ihnen: der Mensch ist zu der großen Ehrfurcht vor Gott und seinem Gebote aufgerufen. [I.] Er ist aufgerufen zu der Ehrfurcht [1.] vor dem Einen, der der Urgrund allen Seins ist [2.] und dessengleichen darum nichts ist, hinter dem nichts anderes mehr ist und der daher nicht dargestellt werden kann, [3.] dem nur die Einheit des Herzens, diese Wahrhaftigkeit allein nahen darf. [4.] Er ist aufgerufen zu der Ehrfurcht vor dem Sabbatlichen, durch das der Mensch seiner Würde und aller Menschenwürde bewußt wird, [5.] zu der Ehrfurcht vor Vater und Mutter, die ihm sein Erdenleben gegeben haben, [II.] zu der Ehrfurcht vor dem, was dem Mitmenschen zugehört, [6.] vor dem Blute seines Lebens, [7.] vor dem Geheimnis seines Hauses, [8.] vor dem Rechte seines Eigentums, [9.] vor der Ehre seiner Person, und zur Ehrfurcht schließlich [10.] vor dem Verborgenen im eigenen Ich, daß dieses Unsichtbare zur Reinheit des Lebens werde. In diesen Worten der Offenbarung, diesem unteilbaren Ganzen erhielt das Volk ein Unwandelbares, Unzerstörbares – wie das alte kühne Gleichnis von diesen Worten sagte: »sie sind geschrieben mit dem Finger Gottes« (Ex. 31,18). Und wie ein späteres Gleichnis dann hinzufügte: Wenn der Stein, in den sie eingemeißelt sind, auch in Stücke geschlagen wird, die Worte sind nicht zerschlagen, sie »schweben in der Luft«; sie umgeben den Menschen, er kann ihnen nicht entfliehen. Denn das ewige Sein und das ewige Sollen offenbaren sich in ihnen. Nicht Menschen sprechen in ihnen, sondern der Ewige spricht in ihnen. Diesem Volke bezeichneten sie die Verfassung, die sich nicht ändert, sie bestimmen den Weg, auf dem der Mensch zum Leben und das Volk zur Geschichte gelangt. Auf sie kann nur der Geist des Menschen die Antwort geben, der Geist, der immer neue Existenz schafft. Als die zur Herrschaft gelangte Kirche ihr Eigenes innerhalb eines Rechtsgebietes, in das sie eingetreten war, festlegen wollte, haben manche ihrer Denker das Zehnwort mit dem Naturgesetz, der lex naturae, identifiziert, um es so von dem Reiche der Gnade zu scheiden. Das Wesen des Gebotes und der in ihm gegründeten Freiheit war aber damit verkannt. Denn Gebot und Freiheit wachsen
97
104
nicht aus dem, was durch die Natur schon gegeben ist, aus einem »Natürlichen« heraus, sondern sie wachsen in dasselbe hinein; sie kommen aus einer Sphäre hervor, die eine andere ist als die natürliche. Das Reich des Gebotes ist ein Reich der Offenbarung und ist als dieses ein Reich der Gnade. Im Gottesgesetz tritt dieses ganz andere, dieses Höhere, die Offenbarung in die Welt des Natürlichen ein. Ein Ewiges tritt in das Endliche, um es zu gestalten, es zu formen, um es so zu vollenden, daß es im Gottesreiche sei. Als dann später in der Zeit der Reformation dem Staat auch eine neue Begründung bereitet werden sollte, hat eine Untertanen-Theologie das Zehnwort in den Bezirk des Staatlichen und seiner Ordnungsaufgabe gerückt; der Staat wurde zum »Wächter der beiden Tafeln« erklärt. Das, was das Zehnwort bedeutet, ist damit seines Gehaltes, seiner Kraft beraubt, es wird entstellt. An den Platz, der ein Platz Gottes auf Erden sein soll, ist das Staatsoberhaupt gesetzt; sein Geheiß soll die Autorität und Bürgschaft für das Gebot Gottes sein. Ein Wesentlichstes der Zehngebote wie alles Gottesgebotes ist aber gerade ihre Unmittelbarkeit; keine Obrigkeit kann der Mittler zwischen Gott und dem Menschen sein. Durch die Obrigkeit wird keine Offenbarung gebracht; es war immer ein Verhängnis für die Völker, wenn sie solche von ihr zu empfangen meinten. Ein weiteres Charakteristisches, das an dem Zehnworte deutlich wird, ist die Einheit der Offenbarung. Die Offenbarung kommt von Gott, dem Einen, und umfaßt darum das Ganze. Der eine Geist, von dem aller Geist ist, das ewige »Ich bin«, dem | alles zugehört, spricht. Wie die Vielgötterei, so ist der Dualismus hier zurückgewiesen, diese Zerreißung der Welten, diese Abspaltung des Schöpferischen vom Geschaffenen, an der so manche Kultur, vor allem die der Antike, gestorben ist. Ein Alles und Ganzes ist; und darum kann die Welt des Guten und Lichten nicht von einer Welt des Bösen und Dunkeln endgültig geschieden sein. Allem kommt die Möglichkeit, ein Sinn und eine Bestimmung zu; denn alles ist von Gott geschaffen, in allem ist eine Offenbarung – wie das alte Schöpfungsgleichnis es sagt: »Gott sah, daß es gut war« [Gen. 1,31], oder wie ein späteres mystisches Gleichnis dichtete: irgendein Funke des Göttlichen ist in allem, was lebt. Schöpfung meint die große Möglichkeit. Das eine Absolute gibt hier allem Relativen seinen Sinn. Nicht auf eine Scheidung der Welten ist der Blick hier gelenkt, sondern eine Offenbarung einer höheren Welt in dieser Welt ist erfaßt. Schöpfung und Offenbarung sind hier in ihrem Grunde dasselbe. Das Wort von der Schöpfung steht auf dem ersten Blatte des Buches, und das Wort von der Offenbarung hat den späteren Platz in der Reihe der Erzäh-
98
lung, aber sie gehören zusammen. Psychologisch ist wohl die Offenbarung das vorangehende Erlebnis und das frühere Problem. Wie Schöpfung die Möglichkeit bedeutet, so bedeutet Offenbarung die Aufgabe; aber Möglichkeit zielt doch immer zugleich auf die Aufgabe hin, und die Aufgabe setzt immer zugleich die Möglichkeit voraus. Die Aufgabe tritt in die Möglichkeit ein. Beide meinen sie den Anfang: den, auf welchen die Bahn folgen kann, und den, auf welchen sie folgen soll. Religion ist hier der Glaube an die unendliche Möglichkeit und an die nie endende Aufgabe; die beiden sind nicht zu trennen. Hier ist darum kein Zwiespalt zwischen dem, was diesseitig, und dem, was jenseitig, zwischen dem, was immanent, und dem, was transzendent ist, zwischen Gebot und Gnade, zwischen Ethischem und Mystischem, zwischen Persönlichem und | Kosmischem. Dasselbe Geheimnis und Gesetz, dasselbe Prinzip waltet in dem einen und anderen; dieselbe Wirklichkeit ist es, die sich hier wie dort eröffnet. Das Ewige, Unendliche, Unbedingte, das Eine, Seiende, Schaffende wirkt und spricht; das räumlich und zeitlich Gebundene, das Werdende, Vielfältige, das sich dem Blicken und Suchen der Menschen erschließt, ist seine Schöpfung und Offenbarung. Alles Geschaffene hat seine Verbundenheit mit dem Jenseitigen wie seine Verknüpfungen innerhalb des Diesseitigen. In allem stellt sich Leben dar. Alles zeugt von dem Ursprunge alles Lebens wie von dem Wege, den unser Leben nehmen soll. So ist es hier in immer wechselnder Form erkannt worden. Hierin auch hat die Seele dieses Volkes ein Gepräge. Ein Zug zur unendlichen Ferne und eine Hinneigung zur greifbaren Nähe verweben sich – dem Fernstehenden erscheint es bisweilen unverständlich; Idealismus und Realismus sind zu einer Einheit geworden. Daher ist diesem Volke die Dynamik meist mehr eigentümlich als die Statik, die bewegliche Konzeption mehr als die genaue Organisation, die Vision mehr als das System. Die ihm charakteristische, gewissermaßen in ihm auserwählte Begabung ist eben dieser Sinn für die Schöpfung und Offenbarung des Einen, dieser Blick für den Ursprung und für das letzte Ziel. Darum ist die Spannung zwischen dem Diesseitigen und dem Jenseitigen so lebendig. Sie tritt im Wesen wie im Denken dieses Volkes hervor; sie ist der Widerspruch und zugleich die Bestimmtheit in seinem Leben, die Dialektik und doch die Logik in seiner Geschichte. In dieser Auseinandersetzung sind seine Persönlichkeiten erwachsen, seine Propheten und Dichter, seine Denker, Richter und Lehrer.
99
105
106
107
Mit dem Leben und Wesen eines Menschen vor allem hat sich das Werden und Bestehen dieser Eigenart verbunden, | mit dem des Moses, des Mannes mit dem ägyptischen Namen und der israelitischen Seele. Meist ist es in diesem Volke so gewesen, daß die Züge eines Menschen, der etwas vollbracht hatte, hinter die Linien seines Werkes zurücktraten. Damit, daß er zur Geschichte geworden war, war er nun zu dem Werk geworden, das er vollendet hatte. Jene Heldenverehrung, die sich so leicht zwischen den Menschen und Gott drängt und zu einem Götzendienste wird, sollte diesem Volke fern sein. Aber dieser »Mann Moses« blieb immer dieser Mann. Er selbst, und nicht sein Werk nur, sprach, er stand immer bei seinem Werke wie ein Hüter und Mahner. Nach ihm ist ein anderer noch so zu der Seele seines Volkes hingedrungen, der Mann, der auch am Sinai gestanden, und der um Gott und für Gott gekämpft hatte, der Mann, in dem des Moses heiliger Eifer für den heiligen Gott wieder Persönlichkeit geworden war, Elijahu, »ha Tischbi«. Er hatte, wohl als erster in der Menschheitsgeschichte, die Wenigen zum Entscheidungskampfe gegen die Vielen und Starken aufgerufen und war als Ankläger vor den, der die Macht hatte, hingetreten, als Anwalt dessen, dem sein Recht genommen wurde. Er war den Weg für Gott gegangen und hatte sein Leben als ein Martyrium auf sich genommen, so wie nach ihm dann Jirmejahu, und so wie manch einer danach, der ihnen zu folgen bereit war. Die Umrisse der Tage des Moses liegen im Dunkel der Vergangenheit, aber die Züge, die die Gewalt seiner Persönlichkeit in sein Leben eingeschrieben hat, und die Kraft der Wirkung, die von ihm auf sein Volk ausgegangen ist, stehen im Lichte. Wir sehen ihn vor uns, den Mann, der vor den Menschen und vor sich selbst in die Wüste geflohen war, und der dann dort sich selber und sein Volk gefunden hatte. Das wahre Leben hatte dort für ihn an dem Tage begonnen, da er den Boten des Ewigen, die Stimme aus den Flammen des »Senéh«, | welcher im Feuer brannte und nicht verzehrt wurde, vernommen, den Ruf gehört hatte: »Moses, Moses!« und er geantwortet hatte: »Hier bin ich.« [Ex. 3,1ff.] Die große Ehrfurcht hatte ihn dort ergriffen, das Wissen um das Geheimnis. Er hatte nun die Sendung empfangen können, hinzutreten gegen den Pharao und das Volk aus Ägypten zu führen. Er war der Mann, der danach zum Sinai hinaufgestiegen war und wieder herabgekommen, die »Tafeln des Bundes« [Deut. 9,9] in seiner Hand, und der dann sie zerschmettert hatte, da das Volk ihnen untreu geworden war. Und er hatte danach das Volk zu sich selber zurückgeholt, Gottes Vergebung ihm
100
erwirkt und von neuem die zwei Tafeln des Bundes ihm gegeben. Die vielen Jahre hindurch, mit der Kraft der Geduld und dem Drängen der Ungeduld, hat er sein Volk getragen und ertragen. Er hat es geleitet, es belehrt und es bezwungen. In der Unbeirrbarkeit des Unbewußten und mit der geraden Bestimmtheit des deutlich Bewußten ist er vor ihm einhergegangen vom Schilfmeer, wo die Menschen an ihn zu glauben begonnen hatten, bis zu dem Berge Nebo, wo seine Tage beschlossen sein sollten. Das Licht der Offenbarung hat aus ihm geleuchtet, »sein Antlitz sandte Strahlen aus« (Ex. 34,29), und sein Leben wurde Zeugnis und Beweis dessen, daß, wie das andere Gleichnis sagt, »Er, der ist, ihn erkannt hatte von Angesicht zu Angesicht« (Deut. 34,10). Tiefer als in andere war in ihn die Ewigkeit, die Unendlichkeit, der Ursprung, das Ich eingetreten. Dieser Mann und dieses Volk gehören zusammen; mit den Worten »Moses« und »Israel« schließen die fünf Bücher, die nach ihm benannt worden sind: »Moses vor den Augen von ganz Israel« [Deut. 34,12]. Er ist der große Bildner des Volkes gewesen; seine Seele drang in die Seele des Volkes hinein. In seiner Seele war zur Einheit geworden, was in der Seele des Volkes noch nebeneinander war oder gegeneinander kämpfte. Er hat in diesem Volke sich begriffen, und dieses Volk hat in ihm sich | verstehen gelernt. So hat er dieses Volk für die Sendung geformt. Das Volk war ihm sein Volk, er hätte sein Leben ohne dieses Volk nicht fassen können, und es war sein Volk, weil es das Volk Gottes sein sollte. Letztes Wort von diesem Volke ist ihm darum das Wort für das Volk, ist ihm das Wort des Gebetes, das er für dieses Volk an Gott richtet, das Wort, durch das er trotz allem das Volk und sich vor Gott eins weiß. »Dein Volk, o Gott«, so sagt er dann. »Laß mich doch Deine Wege erkennen, so daß ich Dich erkenne, damit ich Gnade in Deinen Augen finde, und sieh doch, Dein Volk ist diese Nation« (Ex. 33,13). »Sie sind doch Dein Volk und Dein Besitztum, das Du herausgeholt hast mit Deiner großen Kraft und Deinem ausgestreckten Arm« (Deut. 9,29). Wenn sich sein Zorn gegen das Volk erhebt, so ist es immer ein Zorn der Liebe, ein Zorn um dieses Volkes willen. Diesen Zorn, der für das Volk sich gegen das Volk erhebt, hat er an die Propheten, die nach ihm kamen, vererbt. Was er in dieses Volk eingeprägt hat, ist in aller Mannigfaltigkeit doch im Grund eines. Er hat ihm den Willen zum Unbedingten, den Mut, das unsichtbar Gebietende aufzunehmen, gegeben. Von ihm kommt dieser Geist der Entscheidung und Bereitschaft her, zu beginnen und dann zu Ende denken und zu Ende handeln zu wollen, dieser Entscheidung zum »Und Dennoch«, zum Widerspruch auch gegen eine Welt. Von ihm kommt die seelische Tapferkeit her, die
101
108
109
110
dem einen Gott gegenüber auf alles Vermittelnde verzichtet, auf jede Darstellung, auf jedes Sakrament, auf jede Magie, dieser Wille, in Gott nichts zu finden als ihn selbst. Durch ihn ist die Frömmigkeit eine Entschlossenheit zum Unmittelbaren geworden. Er steht als Erster da in der Reihe der Propheten dieses Volkes. Ohne ihn wären sie kaum geworden. Aber sie sind, ein jeder, das, was er war: Knecht dessen, der ist. Auch sie haben mit sich selbst gekämpft, um zu Gott zu kommen, und | sie haben mit Gott gerungen, um zu sich selber zu gelangen – jeder in seinem eigenen Leben und seinem eigenen Geschicke. Sie haben gegen ihr Volk gekämpft, weil sie um ihr Volk kämpften; auch ihr letztes Wort war darum das Gebet für ihr Volk und damit die Gewißheit seiner Zukunft. Auch sie haben dieses Volk gepflügt und haben Furchen gezogen, um den Samen des Einen und Ganzen, des Kategorischen in sein Wesen hineinzupflanzen. Auch sie haben von ihrer Seele ihm gegeben und haben von der Seele seiner Geschichte empfangen. Sie sind Nachfolger, und sie sind doch Meister, nicht bloße Nachkommen und Nachgeborene. Ganz wie Moses sind sie Männer Gottes. Aber in dieser ihrer Größe und dieser ihrer eigenen Art sind sie doch die Propheten nach ihm. Sie sind Propheten, weil er gewesen ist. Sie haben ihr Volk gehabt, weil er dieses Volk zu bilden begonnen hatte. An dem Satz, mit dem die Geschichte seines Lebens schließt: »Und nicht stand nochmals ein Prophet auf in Israel wie Moses« [Deut. 34,10], an diesem Satze hat das Volk festgehalten. Das Wissen um den Platz, auf dem dieser Mann steht, ist geschichtliche Überzeugung geblieben. Der wohl stärkste und unabhängigste jüdische Denker des Mittelalters, Moses ben Maimon aus Cordova, hat in seinem philosophischen System auch der Prophetie einen allgemeinen Bereich zugewiesen, indem er in ihr ein allgemein Menschliches, eine Kraft der Vernunft sehen wollte, die überall wirksam und gültig werden kann. Aber auch er erkennt die eigene Stellung des Moses, vor den anderen Propheten, an; Moses bleibt auch für ihn in einer Sphäre des Außerordentlichen, des Einmaligen. Doch zugleich ist ein ganz Bezeichnendes, ein Paradoxes geschichtlich geworden: diesen Mann, der in diese Besonderheit emporgerückt ist, hat das Denken und Fühlen des Volkes schon bald wie keinen anderen der Propheten in eine Nähe und Vertraulichkeit hereingeführt. Er gilt in diesem Volke als der | Lehrer, der Lehrer eines jeden im Volke. Nicht Moses, der Prophet, heißt er im Munde der Menschen, so wie sie etwa von »Elijahu hanawi«, »Elijahu, dem Propheten«, so gern sprachen, sondern er heißt »Moscheh rabbenu«, »Moses, unser Lehrer«. Und er ist der Lehrer genannt mit der gan-
102
zen Wärme, die in diesem Worte liegen kann. Zu jedem kommt er zu jeder Zeit, und nicht nur, um zu ihm zu sprechen, sondern damit er mit ihm gleichsam Zwiesprache halte, in Antwort und Frage, in Rede und Gegenrede. Er gehört allen. Mit allen will er zusammen sein, wenn sie in das Buch, das nach ihm benannt worden ist, in die »Torah«, die gebietende Lehre des Moses, eintreten wollen. Auch hier sind nicht die gesonderten Kreise, ist nicht die Esoterik. Er ist für jeden da, er ist »Moses, unser Lehrer«. Die Offenbarung, die ihm, und ihm im besonderen, zuteil geworden, ist zugleich die Lehre, die allen zum Besitztum werden soll. Alle sind seine Schüler, zu dem gleichen Erbe und der gleichen Aufgabe hingeführt. Der Segen, mit dem »Moses, der Mann Gottes, die Kinder Israel vor seinem Tode segnete«, ist eingeleitet mit dem Satze: »Eine Torah hat uns Mose geboten als ein Erbe in der Gemeinde Jakobs« (Deut. 33,4). Das Erbe ist geboten, und das Gebot ist das Erbe. Das Tor des Gebotes steht allen offen, und nur wer eintritt, hat das Erbe. Weil das der Weg war, hat denn die spätere Prophetie, diesen Satz weitertragend, in Tagen des Leides das Volk trösten können: »Alle deine Kinder werden Jünger des, der ist, sein, und groß wird sein der Friede deiner Kinder« [Jes. 54,13] Wieder spricht hier dieses Wort »alle«, dieses vielleicht humanste der Worte; denn nicht nach unten, sondern nach oben lenkt hier dieses Wort. Eine Demokratie von Aristokraten zu sein – wieder tritt hier die Paradoxie dieses Volkes hervor –, das blieb das unverrückbare Ideal. Auch durch die Gewißheit von der »Torah des Moses« stand es fest. | Von einem ersten Akt gewissermaßen in der Offenbarung, die Moses zuteil wird, spricht die Bibel. Er hat gefragt, wer Gott ist, oder, wie dies die alte Sprache ausdrückte: wie der Name Gottes ist. Die Antwort, die Offenbarung sagt, daß Gott der Seiende ist, das Ich als das Sein und das Sein als das Ich, daß Gott das ewige »Ich bin«, diese ewige Einheit von Ich und Sein ist. Also ist erzählt: »Da sagte Moses zu Gott: Siehe, ich komme zu den Kindern Israels, und ich sage ihnen: der Gott eurer Väter hat mich zu euch geschickt, und sie sagen mir: was ist Sein Name? – was soll ich ihnen sagen? Da sagte Gott zu Moses. ›Ich bin, der Ich bin‹, – immer bin Ich. Und er sagte: So sollst du den Kindern Israels sagen: ›Ich bin‹ hat mich zu euch geschickt« (Ex. 3,13-14). Dieser Satz trägt die Bibel, ja durch ihn wird sie umfaßt. Immer neu ergreift seine Kraft den, der über ihn nachdenkt. Auch er spricht vom Geheimnis her. Das Ringen um den Ausdruck, der Kampf darum, das Unaussprechbare doch aussprechbar zu machen, ist hier vernehmbar. Sagen, sagen, was soll ich sagen – dieses eine Wort
103
111
112
bricht immer wieder, zweifelnd und fast verzweifelnd, in der Rede durch. Aber dann ist doch ein Letztes gesprochen, das menschliche Sprache noch aufnehmen, zu dem menschliche Sprache noch gelangen kann. In einem Letzten der Bestimmtheit und Klarheit ist gesprochen, beinahe noch über das Gleichnis hinaus: »Ich bin, der Ich bin«, »›Ich bin‹ hat mich zu euch gesandt« – das Ich und das Sein, das Sein und das Ich in einem, der Ursprung alles Seins und der Ursprungs jedes Ichs, Ursprung und Ich und Sein in einem. Und nachdem das gesagt, kann nun der Satz fortfahren und kann nun der »Name« auch gesprochen werden, dieser namenlose Name, diese Benennung des Unnennbaren, dieser »Name«, der allein den Einen mit menschlichem Munde noch benennen kann: »der Seiende«, »Er, der ist« – Ich bin der Seiende; Ich bin der, der ist. So fährt denn jetzt die Bibel fort: | »Und ferner sagte Gott zu Moses: So sollst du zu den Kindern Israel sagen: Er, der ist, Gott eurer Väter, Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt – das ist Mein Name für immer, das Mein Benanntsein für Geschlecht und Geschlecht« (Ex. 3,15). »Für immer, für Geschlecht und Geschlecht«, auch diese, später so häufige, Rede in der Bibel ist hier zum ersten Male gesprochen, sie tritt hier mit ihrem vollen Ton in die heilige Sprache ein: Menschen werden, und ihre Geschlechter kommen und gehen, aber wenn der Seiende, der Ewige ihnen offenbar geworden ist, haben sie ein Bleibendes erfaßt und hat ein Bleibendes sie erfaßt. Ob dieses neue Wort, das des unnennbaren Namens, aus älterem Gestein, älterer Wortform gemeißelt worden ist, läßt sich kaum sagen, so sehr Phantastik sowohl wie Kurzsichtigkeit sich oft darum bemüht hat, solch Früheres zu finden. Aber das ist unzweifelhaft, daß in ihm ein ganz Neues in das menschliche Denken und Wissen eingetreten ist, und damit auch in die menschliche Sprache, daß in ihm etwas spricht, was vorher nicht gesprochen hat, etwas, woran fortan Menschengeist und Menschenempfinden nicht mehr vorübergehen können. Ein neues Prinzip, ein bis dahin nicht gekanntes, hat in ihm den Ausdruck gefunden. Alle bisherige und alle weitere Rede, in welcher sich Schicksalsglaube, Magie und Götzendienst darzustellen suchten und suchen, ist mit ihm überwunden. Menschen haben ein Neues hören gelernt. Dieses Wort und seine Sätze sind ein Außerordentliches selbst in diesem Buche. Sonst immer, wenn das Geheimnis anhebt, ist abgelehnt worden, es in ein bestimmtes Wort, das nun bleibt, hineinzufügen; instinktiv haben die Männer der Bibel alles gemieden, was zu solcher Einschließung des Verborgenen in ein endgültiges Wort,
104
zu seiner Dogmatisierung verleiten könnte. Hier aber ist bis an die Grenze herangegangen, jenseits deren das Gleichnis in die Begrifflichkeit eintreten | mag. Doch sie ist nicht überschritten. Die ursprüngliche Kraft der biblischen, der »heiligen« Sprache, die allem Abstrakten entgegen ist und dem Worte seine Gleichniskraft wahrt, hat davor behütet, daß die Schranke mißachtet wurde. Die Poesie des Wortes, die allein das Recht gibt, von Gott zu sprechen, blieb hier lebendig. Als die alte griechische Bibel dann, die Septuaginta, mit ihrem Sprachlichen, das in einem weiten Bereiche schon eine Sprache der Begriffe geworden war, unsere Sätze also übersetzte, und unzweifelhaft ist es eine richtige Übersetzung: »Ich bin der Seiende«, »der Seiende hat mich zu euch gesandt«, da hat gewiß zu manchem griechischen Leser nur ein philosophischer Satz gesprochen. Das Gleichnis, das zum Geheimnis nur hinweist, hatte hier nicht ausgedrückt werden können. Ein Weg in bloß Begrifflichem konnte von hier aus begangen werden. Demgegenüber zeugt es von einem sicheren Empfinden für die Grenze, wenn dann die zweite alte Übersetzung, die aramäische, sie, die so oft nicht eigentlich übersetzte, sondern übertrug und zu erläutern und zu deuten suchte, es nicht gewagt hat, diesen kurzen Satz vom Sein Gottes auch nur zu übertragen. Sie läßt ihn in seinem hebräischen Wortlaute, dem Laute der verwandten Sprache stehen, wie ein Heiligtum; die Ehrerbietung soll ihm nahen. Schon darin hatte diese lebendige Ehrfurcht gesprochen, daß lange vorher – die griechische Bibel beweist es – dieses eine schließliche Wort, welches den »Namen« benennen sollte, das sogenannte Tetragrammaton, um es in seiner ganzen Erhabenheit zu lassen, nicht so, wie es lautet, ausgesprochen worden ist, sondern dafür das schlichtere Wort »Adonaj«, »der Herr«, »Kyrios« gebraucht wurde. Im eigentlichen Sinne des Ausdrucks war das Wort vom »Namen« hier »umschrieben«, ein Kreis des Unnahbaren war herumgezeichnet. Nur einmal im Jahr hat, solange der Tempel stand, der Hohepriester dort am Versöhnungstage, in geheimnisreicher | Stunde, wenn er seine und der Priester und des Volkes Sünden bekannte und die göttliche Vergebung erflehte, diese Grenze überschritten. Er hat den Namen im Laute seines Wortes ausgesprochen, ihn ausgesprochen, wie die Überlieferung sagt, »in Heiligkeit und Reinheit, und die Priester und das Volk, die im Heiligtum standen, knieten nieder, als sie es hörten, und neigten sich und bekannten und sprachen: Gelobt sei der Name dessen, dem die Ehre des Reiches für immer ist«. Späterhin hat dann, um das Geheimnis noch mehr walten zu lassen, das Volk oft nur gesagt: »der Name«. Dem namenlosen Namen war die Weihe gewahrt.
105
113
114
115
Das Wort war so davon frei, zum Begriffe zu werden. Nicht nur das Sein sprach in ihm, sondern auch das Ich. Gott ist das eine, einzige, wahre Sein und darum das eine, einzige, wahre Ich. Nur er selbst kann sich gleichsam benennen; kein anderer kann ihm den Namen geben oder kann ihm zum Namen sein. Kein anderer Name als der »Ich bin« kann den Namen offenbaren. Nur durch sein »Ich bin« kann er bezeichnet sein. Alles Gebot darum, das von ihm, dem Grunde alles Gebotes, kommt, ist ein Gebot des »Ich bin«. Das wahre »Du sollst«, das, worin der Mensch, er als Mensch, angerufen wird, hebt an und schließt: »Ich bin der, der ist, dein Gott.« Das ist es, was mit dem behelfenden Worte vom persönlichen Gott gemeint ist: das Sein und das Ich in einem – Monotheismus und nicht Pantheismus noch auch Monismus, Gott des Glaubens, aber nicht der Gott des Systems noch auch die bloße Gottesidee. An diesem einen, persönlichen Gott hat dieses Volk festgehalten; zu ihm wandte es sich in persönlichster Bestimmtheit, auch wenn es nur sagte: der Name. Immer sind inmitten dieses Volkes Weite und Freiheit des Denkens gewährt worden; kein Vorgeschriebenes hat um das suchende Sinnen und um das Sehnen nach dem rechten Ausdruck die Schranken gelegt. Eine Philosophie, eine rationale wie eine mystische, hat | sich hier, in einer Intensität und Mannigfaltigkeit, wie sie seit den Tagen der Griechen selten war, gestaltet. Doch immer stand eines fest: der eine persönliche Gott, der »Ich bin, der ich bin«, »Ich bin der, der ist, dein Gott; du sollst«.
Noch ein zweites Erlebnis der Offenbarung, so ist es die alte Erzählung, ist dem Moses zuteil geworden. Das erste war über ihn gekommen, als er zum ersten Male die Stimme Gottes gehört hatte; es hatte ihn seines Gottes und des Weges, zu dem er gesandt war, bewußt gemacht. Jetzt war er seines Gottes gewiß. Als er neu ringen mußte, hat er mit seiner Gewißheit kämpfen müssen, mit seinem Gotte gerungen. So wie nur der es kann, der seines Gottes gewiß ist, so wie einst Abraham, hat er gerungen, aus neuem Erlebnis hervor um die neue Offenbarung. Sein Volk, das Volk Gottes, das ganze Volk hatte, als er vierzig Tage und vierzig Nächte auf dem Berge Sinai war, die Sünde begangen. Es war von dem ewigen Gotte, der es aus Ägypten geführt, abgefallen, es hatte einen Gott von Gold aufgestellt und geredet: »Diese sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten geführt haben« (Ex. 32,4). Er hatte die Tafeln des Bundes zertrümmert, als er dessen gewahr wurde, und in ihm drohte etwas zu zerbrechen. Welches war der Weg Gottes nun, Gottes, der ihm seinen Weg gegeben hatte?
106
Auch in die Erzählung von diesem Kampfe des Mannes um sich selbst – er will erkennen – tritt Satz um Satz der Kampf des Wortes mit dem Gedanken, der Sprache mit dem Unaussprechbaren – er will davon sprechen können; es ist ein Kampf des Gleichnisses um die Grenze. »Und worin wird denn erkannt werden, daß ich Gnade gefunden habe in Deinen Augen, ich und Dein Volk? Ist es nicht darin, daß Du mit uns gehst, und wir bezeichnet sind, ich und Dein Volk, mehr als alles Volk, das auf dem Erdboden ist? Da sagte Er, der ist, zu | Moses: Auch dies, was du gesprochen hast, tue Ich, denn du hast Gnade in Meinen Augen gefunden, Ich habe dich mit Namen erkannt. Da sagte er: Laß mich doch Deine Ehre sehen! Und Er sagte: Ich werde Meine ganze Güte vor dir voranziehen lassen, und Ich benenne den Namen, der ist, vor dir also: Ich begnade, immer, Ich erbarme Mich, immer. Und Er sagte: du wirst nicht Mich sehen können; denn nicht wird der Mensch Mich sehen, und er lebt. Und es sagte Er, der ist: Siehe, ein Stand ist bei Mir. Stelle dich an den Felsen, und es wird sein, wenn Meine Ehre einherzieht, so werde Ich dich in die Kluft des Felsen stellen, und Ich werde Meine Hand über dich decken, da Ich einherziehe. Werde Ich Meine Hand hinwegheben, so wirst du Mein Danach sehen. Ich werde nicht gesehen« (Ex. 33,16-23). Gleichnis an Gleichnis drängt sich hier, in diesem Wunsch, zu erkennen und das Erkennen sprechen zu lassen; das Äußerste dessen, was auch das Gleichnis noch wagen kann, ist hier erreicht. Den Weg Gottes will Moses erkennen: »Laß mich doch Deinen Weg erkennen, daß ich Dich erkenne« (Ex. 33,13), so hebt dieses sein Ringen, sein Beten an. Gottes »Namen« zu erfahren, so hatte er damals verlangt, als das erste Erlebnis ihm nahte. Gottes »Weg«, dieses Eintreten Gottes in die Menschenwelt, in die Welt seines Volkes zu erfassen, darum kämpft er jetzt. »Erkennen«, »erkennen«, »erkennen«, so folgt es jetzt in den wenigen Sätzen aufeinander. Damals hatte er hören wollen, nun will er schauen. »Laß mich doch Deine Ehre sehen« – auch dieses Wort »Ehre« ist eines, das als ein neues hier erscheint; auch ihm hat dieses Buch [der Bibel] den neuen Gehalt gegeben. Die unendliche ewige Erhabenheit meint es hier, deren der Mensch in einer großen Stunde bewußt wird, die Glorie Gottes, wie eine spätere Zeit es übertrug, die Nähe der ewigen unendlichen Größe, die den Menschen ergreift. Und wiederum wird Moses die Antwort zuteil, und in | einer gleichen Formung des Wortes wird zu ihm gesprochen. »Ich bin, der Ich bin« – immer bin Ich –, so hatte er damals den Namen Gottes erfahren. »Ich begnade, immer, Ich erbarme Mich, immer« [Ex. 33,19] –
107
116
117
118
gleichsam die kategorische Gnade, das kategorische Erbarmen – so vernimmt er jetzt den Namen Gottes. So wird ihm jetzt offenbart: der Ewige, der »Ich bin«, ist der ewige »Ich bin gnadenreich«, »Ich bin erbarmungsvoll«. Der »Name« des »Ich bin« erschließt ihm nun in der Fülle der Gnade die Fülle dessen, was er besagt. Die Einheit von Sein und Ich und Erbarmen tritt vor seine Seele. Und in dem ganzen Reichtum der Worte, dessen die Sprache fähig ist, und wiederum mit dem Letzten, was das Gleichnis noch vermag, wird es dann wiederholt: »Es kam hernieder Er, der ist, im Gewölk und stand dort bei ihm. Und er nannte mit Namen Ihn, der ist. Und einherzog Er, der ist, vor ihm; und Er nannte: Er, der ist, ist Er, der ist: Gott, erbarmungsvoll und gnadenreich, langmütig und groß in Liebe und Treue, bewahrend Liebe für tausend Geschlechter, vergebend Schuld und Abtrünnigkeit und Versündigung, und rein sein, rein, läßt Er nicht, ahndend Schuld von Vätern an Kindern und Kindeskindern, am dritten und vierten Geschlecht« – oder wie diesen letzten Satz die einst im Gottesdienst in Palästina gelesene aramäische Bibelübersetzung überträgt: »Rein läßt Er die wieder sein, welche umkehren, und nicht läßt Er rein sein die, welche nicht umkehren, ahndend die Schuld von Vätern an Kindern und Kindeskindern, am dritten und vierten Geschlecht, wenn Kind und Kindeskind, drittes und viertes Geschlecht abtrünnig bleiben« (Ex. 34,5-8). Das eine Sein, so hat es in diesem wundersam dichtenden Gleichnisse seinen Ausdruck gewonnen, ist die eine Liebe. Der ewige »Ich bin« ist der ewige »Ich bin gütig«. Das ewige Sein ist das ewige Erbarmen, die ewige Geduld, das ewige Recht – Erbarmen, Geduld, Recht ins Unendliche. Einer der alten | Lehrer hat es in den epigrammatischen Satz gefaßt: »Wo immer in der Bibel dieser Name, Er, der ist, steht, spricht die ewige, unendliche Liebe.« Als die ewige, unendliche Liebe tritt das ewige, unendliche Sein in dieses Werden, welches Mensch heißt, ein. Das ist der Weg Gottes. Als das Volk gesündigt hatte, rang Moses betend darum, den Weg zu schauen; jetzt ist er ihm offenbart worden. Und die Worte, die sein Ich, betend zu Gott, dem ewigen Ich, gesprochen und nochmals gesprochen hatte: »ich und Dein Volk«, sie haben jetzt die ganze Wahrheit für ihn gewonnen. »Dein Volk« – die alte Erzählung läßt ihn selbst niemals sagen: mein Volk; aber er konnte wissen, daß es sein Volk ist, da ihm der Weg Gottes offenbar geworden war. Diese Sätze von dem Wege Gottes sind zu einem Bekenntnis des Glaubens geworden oder, genauer gesagt, zu einem Gebete des Glaubens, an den Tagen der Buße und des Festes zu sprechen. Wenn der Mensch so Gott bekennt, ist es sein Gott, den er bekennt; er spricht
108
nicht von Gott, sondern er spricht zu Gott, und das Bekenntnis wird zum Gebete. Und jeder in der Gemeinde betet das Bekenntnis und wird zum Träger des Glaubens. Betend erfährt er, daß er es ist. Als Persönlichkeit seines Glaubens, als Persönlichkeit seiner Gemeinde ist er seines Glaubens und seiner Gemeinde ganz bewußt. Es ist ein Gebet, das er spricht, im stillen oder laut; es ist kein begrifflich umschriebenes Bekenntnis, wie eine Autorität es festgelegt hat. Die Poesie des Glaubens hat hier ihr Wort, nicht ein System des Glaubens. Und in der Poesie ist der, der sich ihr öffnet, ein Schaffender oder zum mindesten ein Nachschaffender; das System kann er nur annehmen. Betend, schöpferisch gelangt der Mensch hier zu seinem Glauben hin. Vielleicht konnte nur in diesem Volke der Satz, den einer der alten Lehrer, Rabbi Eleasar, geprägt hatte, zum feierlichen Gemeindegebete, zum Responsum der Gemeinde am Neujahr | und Versöhnungstage werden: »Umkehr, Beten und Wohltun heben das Verhängnis auf«, – in Umkehr, Gebet und Wohltun wird der Mensch ein Schaffender. Dieses Schöpferischen, dieses Emporsteigens wird er gewiß, wenn die Sätze von dem Wege Gottes, wie Moses sie vernommen hatte, ihm gleichsam zur Andacht seines Lebens werden können. Schicksal ist überwunden. Wieder zeigt sich, wie es diesem Volke eigentümlich ist und seine Existenz bestimmt hat, daß hier das Schöpferische im Menschen, in jedem Einzelnen, angesprochen wird. Auch in seinem Glauben soll jeder ein Schaffender sein. Immer bleibt er dann des Geheimnisses gewiß – auch das Verborgene kann in einer Gewißheit, einer Gewißheit des Ahnens, erfaßt sein. Während das begrifflich Festgelegte leicht dazu führt, daß der Mensch meint, in diesen Begriffen, die er besitzt, nun alles zu haben, durch sie alles zu ergreifen, wohnt in der Poesie, wohnt im Gebete stets auch das Geheimnis. Kein echtes Gebet und keine wahre Poesie können ohne das sein. Das, was jenes Gleichnis sagte, daß »Gott selbst nicht gesehen wird«, wird hier erfahren. Auch von der Philosophie und der Mystik, die sich in dieser Religion entwickelt haben, gilt es so. Diese Philosophie, die den Eintritt des Ewigen, Unendlichen in die Welt des Endlichen, Zeitlichen, und diese Mystik, die den Eintritt des endlichen, zeitlichen Menschen in die Welt des Ewigen, Unendlichen aufweisen wollte, sie sind in ihrem Eigentlichen Philosophie vom Geheimnis, Mystik vom Geheimnis. Und schon darum war auch ihr Letztes immer das Gebet: Gebet der Philosophie, Gebet der Mystik. Allerdings konnte hier, wenn das grübelnde Denken sich mit der formenden Poesie oder diese Poesie sich mit diesem Denken ver-
109
119
120
121
band, die Gefahr nahekommen, daß manches, was sich dem Menschen darbot, nur als die Bezeichnung oder die Hülle für etwas, für ein Philosophisches oder Mystisches, erschien. Die Gefahr jener Allegorese drohte, die schließlich nur | Bilder, aber keine Wirklichkeit mehr sieht, so daß sie zuletzt fast zu einem Bilderdienste werden kann. Auf solchem Wege sind in diesem Volke bisweilen die Naivität und der Sinn für das Natürliche bedroht gewesen. Der Mann, der zuerst hier eine Philosophie zum Ausdruck seiner Religion hatte machen wollen und von dessen Gedanken dann das Abendland langehin gelebt hat, Philo von Alexandrien, hat zuerst auch nach dieser Richtung hingeführt, und er hat Nachfolger in diesem Volke gehabt. Bunte, oft reizvolle Gedankengemälde stehen hier vor uns. Aber was dem Geiste vielleicht dargereicht wird, ist dem Leben entzogen worden. Es war bisweilen wie eine Flucht aus der Existenz. Ein Beispiel kann zeigen, wozu solche Spiritualisierung verleiten konnte. Es ist ein frommer Brauch in diesem Volke, ein Brauch, in dem die Würde sich mit einer Anmut eint, daß der Mann, der seine Frau und dadurch sein Haus gefunden hat – ein altes Wort sagt hier: »sein Haus, das ist seine Frau« –, Woche um Woche, wenn der Sabbat einkehrt, das Lied aus dem Buche der Sprüche anstimmt (31,10ff.), das die »tapfere Frau« preist. Er soll, wenn es Sabbat wird, sich zu seiner Frau bekennen, von ihr vor sich und den Seinen Zeugnis ablegen. Einer und der andere der späteren Erklärer hat dann in einem Trachten nach der höheren Sphäre sich dahin führen lassen, daß er dieses Lied deutete, dahin deutete, es meinte nicht die Frau, sondern die Torah, die Lehre; nicht nur die Poesie, sondern ein Bestes des Lebens war verlassen. Der Raum dürren Grübelns war betreten. In solch verdünnter Luft haben Menschen hier bisweilen geatmet und dachten einem Geheimnisvollen nahe zu sein. Aber es sind nicht häufige Tage gewesen. Dieses Volkes Weg war doch der, daß es der andringenden Tatsächlichkeit des Lebens zwar nie sich untertan machte, aber mit ihr verbunden blieb. Nie ist auf das Unsichtbare, aber auch nicht auf das Sichtbare Verzicht | geleistet worden. Schon der Zug zum Gebote, der den Menschen zur Formung und Gestaltung des Daseins hinweist, hat dahin gewirkt. Die Wege Gottes sind die Wege, die der Mensch gehen soll; Gott erkennen, heißt vor allem: »mit Gott wandeln«. Die Idee hat hier kein Leben für sich nur, kein bloßes Jenseits, sie wird zur menschlichen Aufgabe; aus dem Bezirke der Betrachtung wird sie zu dem des Handelns hingelenkt. Hier gewinnt das Abstrakte sein Recht, nur wenn es Konkretes zusammenschließt und so um des Konkreten willen da ist. Das Meta-
110
physische wird zum Imperativ; das Jenseitige und Ewige will in dem auch sprechen, was jetzt hier vollbracht werden soll. Wie die Menschen dieses Volkes Menschen des praktischen Willens geworden sind, aber kaum je nur das waren, so sind sie oft Theoretiker gewesen, aber wohl selten bloß dies. Selbst die Idee, die am meisten eine reine Idee sein will und am ehesten zur Abstraktheit wird, die Idee der Einheit, tritt alsbald in den Bereich des Gebotes ein. Der Mensch begreift die Einheit Gottes und erkennt sie an, so ist hier gelehrt worden, wenn er selbst innerlich eins, innerlich ganz wird, nicht nur ein Mensch der gelegentlichen Stunden, der seelischen Fragmente ist. Das Wort des Psalms, das an die Bitte des Moses um die Offenbarung anklingt: »Lehre mich, Du, der Du bist, Deinen Weg, ich will in Deiner Wahrheit gehen, gib es, daß mein Herz eins sei, daß ich Deinen Namen fürchte« (86,11), dieses Wort ist hier das Gebet für unsere Tage, wie eine Losung menschlichen Lebens geworden. Es ist Kraft aus dieser Kraft, daß Wahrheit nicht in das Gebiet des Denkens und Sprechens eingegrenzt ist und Rechtschaffenheit nicht in das des Handelns. Wahrheit auch im Wollen und Handeln, Rechtschaffenheit auch im Sinnen und Denken, das ist Zeugnis dieser »Einheit des Herzens«. Es ist charakteristisch, daß dasselbe Wort hier die Gesinnung im Tun, die Geradheit im Denken und die Andacht im Gebete benennt; alles dies ist »kawwanah«, »Richtung«, in | der die eine Seele sich zu dem einen Gotte hinwendet. Diese Richtung ist das Entscheidende. Die Einstellung zur Umwelt ist dadurch bestimmt worden. Man könnte sagen, daß auch die Offenbarung hier die Aufgabe bedeutet; denn sie verlangt die Antwort des Menschen, diese Antwort vom Sinai: »Alles, was Er, der ist, gesprochen hat, wollen wir tun« (Ex. 19,8). In wenigem hat sich die Eigentümlichkeit dieses Volkes so ausgeprägt. Seine Menschen, sofern nur etwas von der Stimme der Offenbarung zu ihnen hinklingt, können nicht gleichgültig oder, was fast dasselbe meint, roh sein, nicht gefühllos, nicht gedankenlos, nicht willenlos, sie können nie neben der Welt stehen. Überall und immer wissen sie sich angesprochen und angefaßt; eine Antwort wird von ihnen verlangt. Überall offenbart sich das Gebot. Die Mystik des achtzehnten Jahrhunderts, der sogenannte Chassidismus, hat gelehrt, daß nichts in der Welt leer und ungeweiht, nichts profan ist, daß in allem ein Heiliges sich verbirgt und seiner Erlösung harrt, daß es darum Gebot für den Menschen ist, im Gemeinen dieses Heilige zu suchen, um es zu befreien, damit alle die Wesen auf Erden, die vielen, mit dem einen Wesen, dem Ewigen, dem Heiligen geeint würden. Neue, wundersame Worte hat diese
111
122
123
124
Mystik für das alles gefunden, aber es hatte so zu diesem Volke seit langem gesprochen. Daher haben seine Menschen, wo immer sie ihren Weg hatten, an die Welt und deren Auf und Nieder mit Fragen, die nicht müde wurden, herantreten müssen und an das irdische Geschick mit Forderungen und Hoffnungen, die sich nicht verdrängen noch beschwichtigen ließen. Dieses Volk ist oft einsam gewesen, inmitten all der Völker einsam, aber es war nie ein Einsiedler, der nur mit sich zusammen sein will, vermeinend, dann mit Gott zusammen zu sein. Überall in der Welt hat es den einen Gott »gesucht, da er sich finden läßt« [Jes. 55,6], überall ihn | bezeugen wollen, und es hat damit etwas in die Welt gebracht, was manchem gewordenen Behagen und Besitzen als Unruhe, als Störung erscheinen mußte. Sein Bestreben durfte es in der Tat nicht sein, zu den Bequemen und Beliebten auf Erden gerechnet zu werden. Aber kein Volk, welches es sei, das auf die Stimme der Offenbarung hören will, auf diese Stimme Gottes, welche vom Menschen die Antwort verlangt, kann anders sein.
In dem letzten der Abschiedsworte an das Volk, die das fünfte der Bücher der Torah umschließt, spricht Moses nochmals von dem, was die Offenbarung, die ihm zuteil geworden ist, besagt. So ist es ein Satz: »Das, was verborgen ist, gehört Ihm, der ist, unserem Gotte, zu, und das, was offenbart worden ist, gehört uns und unseren Kindern zu, daß wir alle Worte dieser Torah tun« (Deut. 29,28). In dieser Torah, diesem Gebot, das Lehre ist, dieser Lehre, die Gebot ist, offenbart das Verborgene eine unabweisbare Deutlichkeit; es gewinnt in ihr den bestimmten Ausdruck, den der menschliche Bereich immer aufzunehmen vermag. Sie wird, wie das alte Wort sagt, zur »Weisheit« des Menschen. So hatte die erste der Abschiedsreden gesagt: was dieses Volk empfangen hat und worin es vor der Welt bezeugen werde, daß es Gott nahe ist, dieses Große ist, daß es ein »weises, ein verstehendes Volk« (Deut. 4,6-7) werde sein können. Und in dem letzten Kapitel dieses Buches, dem vom Tode des Moses, diesem Kapitel, in welchem eine Erhabenheit ganz zu einer Schlichtheit geworden ist, wird von dem Mann, der den Weg weiterführen soll, von Josuah, gesagt: »er war erfüllt vom Geiste der Weisheit« (34,9). In der »Weisheit« wirkt die Offenbarung fort. Es ist ein im Grund unübersetzbares Wort, eines derer, die vom Geiste dieses Volkes den ganz neuen Inhalt empfingen, | dieses hebräische Wort »chochmah«, das die erste der Übersetzungen, die griechische Bibelübersetzung, nur in ihr Wort »sophia«, Weisheit, hat
112
übertragen können. Unser Wort reicht aber weiter und tiefer. Von dem, was die Kraft in der Welt ist, und von dem, was menschliche Kraft sein soll, spricht es. Auf die Welt hin gesehen, ist die chochmah das große schöpferische, künstlerische Prinzip des gestaltenden Geistes, das von Gott kommt, das schaffende Wort gleichsam, der Logos. Auf den Menschen hin gesehen, ist sie das schöpferische, künstlerische Prinzip des Persönlichen, das in ihn eingetreten ist, um ihm zu geben, daß er sich selber sehe, das ihn formt und bildet, so daß er werde, was er sein soll. Der letzte Zusammenhang dessen, was in der immer bewegten Welt stetig weiter wirkt, und dessen, was in dem weiterschreitenden Menschen stetig wirken soll, ist hier zum Ausdruck gebracht. Welt und Mensch und ebenso Idee und Realität, Metaphysisches und Ethisches sind zusammengeführt. In der Welt ist die chochmah so das, was ihr die Ganzheit gibt, sie zum Kosmos macht. Und im Menschen ist sie das, was ihn zur Persönlichkeit macht, das, worin seine fruchtbaren Eigenschaften sich zusammenfinden, so daß der Erkenntnisdrang, der sich allem zuwendet, die Weite des Gefühls, die allem sich öffnet, und die sittliche Bereitschaft, die jede Aufgabe ergreift, eins werden. Wissen, Empfinden und Wollen, Verstehen, Erleben und Handeln, Geist und Seele gewissermaßen, sind in der chochmah ein Ganzes. Die Menschenwerdung des ganzen Menschen, die Erfüllung des Ebenbildes Gottes stellt sich in ihr dar. Die Männer, welche überlieferte Bücher zum Kanon der Heiligen Schrift geordnet haben, haben in sie zwei Bücher hineingestellt, zwischen denen sich ein Gegensatz fast zu einem Äußersten dehnt. Die ganze Weite, fast möchte man sagen, die Unendlichkeit der Bibel offenbart sich darin, daß auch diese beiden in ihr den Platz haben können. Die Kraft der Span|nung, die in ihr schon vermöge dessen ist, daß das eine Buch, das sie ist, sich erst in ihren vielen und unterschiedenen Büchern darbietet, wird hier am stärksten fühlbar und erkennbar. Neben einander stehen in der Heiligen Schrift diese beiden einander entgegenstehenden Bücher, und beide sind Bücher von der chochmah. Das eine, das Buch Hiob, ist ein vulkanisches Buch; aus der Tiefe brechen mit elementarer Gewalt die Gluten, die Wehen hervor. Das andere, das Buch Kohelet, Ecclesiastes, ist ein Buch der Kühle; es erregt sich nicht, eine spielende Muße spinnt, webt und zertrennt. Beide sind Bücher der Frage. Aber in dem einen sieden und branden die Fragen, alle die Fragen, in denen die Qual menschlicher Not, der äußeren und der inneren, sich ihren Weg, ihren Ausgang sucht. Das andere gliedert und schichtet Fragen, die, welche der Tag in seinem
113
125
126
Wechsel heranbringt, und die, welche das Auf und Nieder von Menschen und Geschicken hervorkommen läßt. In dem einen ringt ein Mensch bis zum letzten mit Gott und kämpft mit den Menschen, die Gottes Anwälte sein wollen und darüber zu Anwälten des »Anklägers«, des »Satans« werden, und die Worte seiner Pein und seines Leids drängen und stoßen sich und bäumen sich auf. In dem anderen philosophiert ein Mensch über die Welt und Gott, gelassen bald zu der einen, bald zu der anderen Merkwürdigkeit, die auf Erden ist, hintretend, bereit, sie alle dann wieder fortzuschicken, und er spricht kein Wort zu viel und keines zu wenig. Das eine Buch zwingt hin zum tiefsten menschlichen Schmerz und Weh und gibt nicht nach; es ist ein Buch des Entweder – Oder. Das andere Buch stellt Spiegel auf und rückt sie hierhin und dorthin und heißt uns die Zweifel, die Bedenken und Sorgen, die es doch nun gibt, bald von dieser, bald von jener Seite her betrachten; es ist ein Buch des Sowohl als Auch. In dem einen Buch spricht der Mensch, in dem anderen spricht ein Mensch. In dem Buche von Hiob spricht der Mensch, und darum haben manche der alten Lehrer sagen können: »Ein Mann Hiob ist nie gewesen, wurde nie geboren, sondern Hiob ist das Gleichnis vom Menschen.« In dem Buche des Kohelet spricht ein Mensch, | und darum haben einige der alten Lehrer meinen können: »Man hielt ihn für König Salomo, und er war einer, der umherzog und sein wirkliches Antlitz nicht zeigte« – ein Mensch. Im Buche von Hiob haben die alten Freunde, die Altersgenossen, zu ihm, den alles Leid, das einen Menschen treffen kann, getroffen hat, gesprochen; sie haben Schatten in seinem Leben, Grund für die Heimsuchung zu finden gemeint. Sie haben von ihm, der genannt worden war »ganz und gerade und Gott fürchtend und vom Bösen weichend« (1,1), es verlangt, daß er dunkle Pfade zugestehe, daß er, damit Gott, der ihn gestraft hat, die Ehre sei, sich selber anklage. Und er entgegnet ihnen. Er ringt vor Gott mit den Menschen um sein Recht, er kämpft um das Licht auf der Bahn seines Lebens. Er ist bereit, immer es zu bekennen, daß Gott Gott ist und der Mensch Mensch, aber den Weg seines Lebens will er nimmer verneinen. Er will zu jeder Stunde vor Gott sich demütigen, aber er weist es ab, vor den Menschen und ihren Vorwürfen sich zu Boden zu werfen. Und nachdem er von sich gesprochen, von dem, was sein Leben fragt und sagt, spricht er dann von dem, was die Welt, in die er hineingestellt ist, ewig fragt und was doch in Gottes Geheimnis bleibt. Und in allem Geheimnis, in all der Verborgenheit, die ihn in der Welt und die Welt rings um ihn umgibt, vernimmt er dennoch eine Antwort. Sie spricht von der chochmah; sie ist die Antwort, die Gott der Welt
114
und dem Menschen gibt, wenn sie fragen. Sie ist die, von welcher auch dieses Volk in all seinem Leid schließlich immer gewußt hat. Mit der Fülle der Poesie spricht diese Antwort, die Hiob hört: »Gewiß, für das Silber gibt es einen Fundort, und eine Stätte für das Gold, wo man es wäscht. Eisen wird aus dem | Erdboden genommen und Gestein wird zu Kupfer gegossen ... An den Kiesel legt einer seine Hand an, wühlt von der Wurzel Berge um. In die Felsen hinein spaltet er Gänge, und alle Seltenheit sieht sein Auge, Daß kein Tropfen falle, bindet er Strömendes, und Heimliches bringt er ans Licht. – Und die Weisheit, von wo wird sie gefunden, und wo denn ist eine Stätte der Erkenntnis! Nicht kennt ein Sterblicher die Richtbahn zu ihr hin, und nicht wird sie gefunden im Lande der Lebendigen. Die Tiefe sagt: nicht in mir ist sie, und das Meer sagt: sie ist nicht bei mir. Nicht wird, was in der Schatzkammer ist, für sie bezahlt, nicht wird Silber als Preis für sie zugewogen ... Für sie ist nicht Preis der Topas aus Äthiopien, für reinstes Gold wird sie nicht hereingeholt. Die Weisheit, woher kommt sie, und wo denn ist eine Stätte der Erkenntnis? Verhohlen ist sie doch vor den Augen jedes Lebenden, auch vor dem, was am Himmel fliegt, ist sie verborgen. Abgrund und Tod sagen: mit unseren Ohren, ein Hörensagen von ihr, haben wir gehört; Gott kennt ihren Weg, und Er, Er weiß von ihrer Stätte. Denn Er, bis an die Enden der Erde blickt Er, was unter dem ganzen Himmel ist, sieht Er, daß Er für den Wind ein Gewicht mache, und Wasser hat Er in ein Maß gefaßt, indem Er für den Regen ein Gesetz machte und einen Weg für die Blitze der Donner. Damals hat Er sie ersehen und verkündete sie, hat sie bereitet und sie gegründet. Und dem Menschen sagte Er: Siehe, Furcht des Herrn, sie ist Weisheit, und vom Bösen weichen, ist Erkenntnis« (Kp. 28). Das ist die Antwort, die das Geheimnis gibt. Sie steht im Mittelpunkt des Buches Hiob. In ihr spricht das Leben des Hiob sich selber sein Recht. Und dieselbe Antwort hat Kohelet vernommen, der »Mann der Versammlung«, er, der immer nur zu den Menschen redet, nicht wie Hiob, der zu Gott spricht, zu Gott auch dann spricht, wenn sich sein Wort an die Menschen wendet. Kohelet sieht nur | das, wohin sein Auge schweifte. Alles ist für ihn darum in Bewegung, alles im Fluß, alles im Kreislauf, im Gehen und Kommen. Nur die Erde bleibt, dieser Erdboden. Aber auf ihm ist nichts im Bestimmten, für nichts ist der Maßstab da, für nichts die Bejahung, nirgends ist die feste Bahn. Alles hat sein Fragezeichen; »wer weiß?«, das ist das Wort des Kohelet. Nur die Stunde gilt, sie, die wandelnde, und die Stunde herrscht, sie, welche gibt und nimmt, und alles hat daher seine Zeit. Stunde ist im Grunde immer
115
127
128
129
der Stunde gleich; was ist, das war, und was war, wird sein, »nicht ist irgendein Neues unter der Sonne« [1,9]. Alles zieht dahin, und alles kehrt wieder: Ende und Anfang, Anfang und Ende finden einander; der Kreislauf vollendet sich, um wieder zu beginnen und wieder am Schlusse zu sein. Nichts hat Bestand und bleibt aufgebaut. »Eitelkeit der Eitelkeiten, sagte Kohelet, alles ist eitel« (1,2). Allein auch für diesen Mann steht eines fest; auch er hat das große »Trotzdem« erkannt, diese andere Sphäre, von der dieses Volk lebt. Er hat zuerst die Erfahrungen reden lassen, die Tage und die Bewegungen, die Farben und die Erregungen, mit jeder Mannigfaltigkeit der Worte, die der Mensch für sie haben kann. Aber dann zum Schlusse läßt er das »Und Dennoch«, die Wahrheit dieses anderen, dieses bleibenden Bereiches sprechen. Jene, die Erfahrungen, zeigten das viele Entgegengesetzte, sie hatten die schillernden Sätze. Sie, diese Wahrheit, hat den einen Satz, ihr Eines, das trotz allem ist. Und so schließt denn auch er, wenn auch noch durch eine letzte Ironie hindurch – auch das Geheimnis hat seine Ironie, und die echte Ironie lebt vom Geheimnis –, so doch mit der Gewißheit, die unbeirrt bleibt. Also schließt er: »Und endlich, mein Sohn, laß dich warnen: viele Bücher machen, das ist kein Ziel, und vieles Umherdenken ist Ermüdung des Fleisches. Der Schluß, darin wir alles hören werden, ist: Gott fürchte und seine Gebote wahre; denn das ist der ganze Mensch« (12,12-13). | Das ist ein Wort des Schlusses, das Wort von der chochmah. Und es ist nicht bloß so, daß hier ein Mensch spricht, der mit dem Kopfe philosophiert und mit dem Herzen glaubt, ein Vorläufer jener Romantik, die vom Skeptizismus herkommt, sondern er hat so gesprochen, wie er zum Schlusse sprach, weil er mit all seinem Philosophieren der Mensch dieses Volkes geblieben ist, das ohne das Gebot Gottes weder sich selbst noch die Welt zu verstehen, ja nicht zu leben vermag. Dieses Volk kann seine Menschen haben, die wie Hiob gegen alles Gesagte kämpfen, weil in ihnen die Gottesfurcht immer feststeht, die alles sonst in Zweifel ziehen wie Kohelet, weil sie niemals an dem Gottesgebot zweifeln. Darum hat auch dieses Buch Kohelet seine Stelle in dem Buche gefunden; die alten Lehrer hatten sprechen dürfen: auch in ihm ist »heiliger Geist«. Diese beiden Bücher sind Bücher vom Menschen. »Zum Menschen sagt er« [Hiob 28,28], so endet in dem einen das Kapitel vom Forschen nach der Weisheit, nach dem Sinne von Welt und Leben. Und »das ist der ganze Mensch« [Koh. 12,13], so ist es in dem anderen der Schluß alles Fragens nach dem, was bleibt. Schon der Prophet hatte
116
so gesprochen: »Verkündet hat Er dir, o Mensch, was gut ist« (Micha 6,8). Sie alle, diese Bücher der Offenbarung, sind die Worte vom Menschen und daher die Worte zum Menschen. Was das Wort »chochmah« meint, umschließt in der Tat das, was das Nachdenken eines anderen Volkes die Menschlichkeit, die Humanität genannt hat. Aber Idee und Gebot von der chochmah enthalten auch noch mehr. Sie meinen nicht nur das, was der Mensch aus seinem Menschengrunde hervor ist und sein soll und was so den Menschen mit dem Menschen eint, sondern sie meinen zugleich das, was den Menschen mit dem ganzen Kosmos verbindet, in den er hineingestellt ist. Das, was der letzte und eigentliche Sinn von allem ist, wird hier gemeint. Chochmah ist das, worin die Offenbarung und damit die Schöpfung | sich beweisen, das, was aus allem spricht, aus der Welt und ihren Gesetzen wie aus dem Menschenleben und seinen Gesetzen. Sie ist das, worin ein Bleiben der Schöpfung, ein Bleiben der Offenbarung sich bezeugt. Wie in wenigen Worten hat dieses Volk sich in diesem Worte selber erkannt, so sehr, daß bisweilen selbst ein nachdenklicher Humor – Humor kann eine Form der Selbsterkenntnis sein – in dieses Wort einkehren konnte. Weil es in dem, was dieses Wort sagt, sich selber begriff, darum hat es hieran die Menschen ringsum auch begreifen gelernt, auch hier bisweilen mit diesem Humor, hinter dem eine Liebe sich verstecken mag, hinter dem auch der tiefe Ernst sich verbergen kann. Es ist hier ein altes Wort des Dankes gegen Gott, daß »er sterblichen Menschen von seiner chochmah zugeteilt hat«. Ein liebevolles und ernstes Wissen um die Universalität der Offenbarung klingt in diesem unübersetzbaren Worte »chochmah« auch. Es ist so unübersetzbar, wie dieses Volk selber ist.
Offenbarung hat dieses Volk zu diesem Volke werden lassen. Blieb sie in ihm lebendig, so lebte das Volk in sich selber, in seinem Eigenen. Wollte es sich ihr entziehen oder ihr sich entwinden, so drohte es sich zu verlieren oder gar zu entarten. Wenn sie dann von ihm wieder entdeckt war, auf diesem Wege oder jenem, dann brach die Morgenstunde wieder an, die Stunde einer Wiedergeburt. Gott war zu seinem Volke, wie das alte Gleichnis sagt, »zurückgekehrt«, die »Schechinah« war wieder in diesem Volke. Und sie ist immer wieder gekommen, hier oder dort. Die Offenbarung konnte nie ganz entschwinden. Zu tief war sie vom Tage am Sinai her, oft Geschlecht um Geschlecht, in dieses Volk eingedrungen; sie war zu seinem Dasein geworden.
117
130
131
132
In dieses Volk sind darum keine festen Sätze des Bekennt|nisses hineingestellt worden. Gott will in seiner Mitte sein, die Schechinah in ihm den Platz haben. Gott ist hier nicht der offenbarte Gott, sondern der offenbarende Gott. Diese Religion ist darum nicht zur Konfession geworden, Bereitschaft für Gott soll hier das Bekenntnis sein. Nicht eine Formel, sondern das gebietende Geheimnis wollte sprechen und immer neu die Antwort verlangen. Der Glaube, diese Entscheidung zu dem einen Gotte, zu seinem Verborgenen und seinem Gesetze soll sich bezeugen. Unendlichkeit umfängt den Menschen, und Unendlichkeit tritt in ihn ein: als Universum, dessen Grenze er nicht erblickt, als Gesetz, dessen Letztes er nicht sieht. Im Universum sucht und sinnt und staunt er umher, in diesem Raum der Räume, in dem, wie einer der alten Lehrer sagte, »Welten gebaut und zerstört und gebaut werden«. Der Mensch zieht hier seine Linien und fügt sie zusammen, aber sie werden nicht zum Wege, zur Bahn, die ihm gewiesen ist. Geschaffen gehört er zur Schöpfung, und er ahnt nicht, wohin er geführt wird. Im unendlichen Gebote horcht und erwartet und hofft er umher, in dieser Welt der Gebote, in der eins das andere zeugt, gleichsam Welt auf Welt sich zum Bestande gründet. Er selbst, für seine Zukunft, zieht hier hinaus, strebend und ringend und vielleicht unterliegend, und immer sieht er hier seinen Weg. Aufgerufen gehört er zum Gebote, und er weiß, wohin er gehen soll. In beides, in Universum und Gebot, ist der Mensch hineingefügt, in beide Unendlichkeiten. Und über beiden darf er das eine Wort vernehmen: »Ich bin, der Ich bin!«, dieses Wort, in dem Schöpfung als Offenbarung und Offenbarung als Schöpfung spricht. Und zugleich hört er, aus dem Verborgenen hervor und doch ins Deutlichste hinein, das Wort vom Wege: »Ich bin, der Ich bin! Du sollst!« Den Weg, welchen die Offenbarung zeigt, welchen Gott, der nie offenbarte und immer offenbarende, weist, sollte dieses Volk | erkennen und gehen, um damit den Weg für Gott zu bahnen. So hat hier immer wieder eine Stimme aus dem Verborgenen gerufen. Wenn das Volk sie gehört hat, dann hat es in Tagen der Verwirrung gewußt, wo die Klarheit ist, und in Tagen des Dunkels, wo das Licht scheint.
118
IV. Wüste und Boden
Wenn das Buch von der Befreiung und von der Offenbarung spricht, nennt es auch das Land, das diesem Volke verheißen worden ist. Auch am Lande, ganz wie in Befreiung und Offenbarung, kommen Geschichte und Idee zusammen. Der Auszug aus Ägypten, der zum Sinai hinführte, leitete zugleich nach dem Lande, nach Kanaan hin; das äußere Geschehen verkündete zugleich die innere Bedeutung. Der Bund, das Gesetz tut sich auch hier kund. In dem Einleitungskapitel, das von dem Worte Gottes an Moses erzählt, welches er zu den Kindern Israel hinbringen soll, ist es so ausgesprochen: »Ich gedenke Meines Bundes. Darum sage den Kindern Israel: Ich bin der, der ist. Ich werde euch herausführen aus den Lasten Ägyptens hervor, euch aus ihrer Knechtung retten, euch befreien mit ausgestrecktem Arme und großen Gerichten. Ich werde euch Mir zum Volke nehmen und werde euch zum Gotte sein, und ihr werdet erkennen, daß Ich, der, der ist, euer Gott, es bin, der euch herausführt aus den Lasten Ägyptens hervor. Ich werde euch in das Land bringen, das Ich zugesagt habe, dem Abraham, Isaak und Jakob zu geben; Ich werde es euch zum Erbe geben. Ich bin der, der ist« (Ex. 6,5-8). Bund, Befreiung, Offenbarung und Land, sie stehen hier beieinander. | Der Weg nach dem Lande hat in die Wüste geführt und danach in der Wüste umher. Bis zum Ende der Zeit des Geschlechtes, von dem das Wort Gottes, das verurteilende, sagte: »sie haben meine Ehre und meine Zeichen, die ich in Ägypten und in der Wüste getan, gesehen und haben mich nun zehn Mal versucht und nicht auf meine Stimme gehört« (Num. 14,22), »vierzig Jahre« lang sind sie, dieses »hartnäckige Volk«, dort umhergezogen. Wanderung um Wanderung, Wanderung um der Wanderung willen. So hat dieses Volk sich dann Jahr um Jahr seine Geschichte erzählt. Mit einer eindringlichen Monotonie, die symbolhaft wirken mußte, symbolhaft zumal durch die altüberlieferte Kantilene der Rezitation, werden die Stationen
119
136
dieser Wanderung aufgezählt, Satz um Satz, vierzigmal, von Station zu Station, in den gleichen Worten immer: »und sie zogen fort«, »und sie lagerten« – bis es dann am Schlusse, als diese Zeit erfüllt war, heißen kann: »Und sie zogen fort von den Bergen Abarim, und sie lagerten in den Steppen Moabs am Jarden von Jericho; sie lagerten am Jarden von Beth hajschimot bis Abel haschittim in den Steppen Moabs« [Num. 33,48-49]. Nun heißt es nicht mehr: »und sie zogen fort, und sie lagerten«, sondern jetzt: »und sie lagerten ..., sie lagerten« (Num. 33,1-49). Vom Sinai her in der Wüste umher hatte die aus Ägypten Befreiten ihr Weg zum Lande geführt.
137
Die Wüste gehört zu diesem Lande, sie stellt einen Teil seiner Eigentümlichkeit dar. Nur zu ihr hin kann sich das Land ausstrecken und dehnen. Vor seinem Norden liegt das breite Gebirge wie ein Querbalken, welcher abriegelt. Sein Westen ist eine in starrer, fast hafenloser Linie gezogene Meeresküste, die nirgends hinausgreift und in die nichts hereintritt, sie scheint eine Ablehnung zu bedeuten. Nur die Wüste, die von Süden und Osten her das Land umfaßt, gliedert sein Äußeres, sie | gibt gleichsam die Busen und Buchten. Bald dringt sie heran, bald weicht sie zurück. Sie grenzt nicht bloß ab wie das Schneegebirge und das große Meer, sondern sie verbindet sich auch mit dem Lande und bietet sich ihm dar. Ganz so wie der Grieche, wenn er zum Meere, zum Herankommen und Fortziehen der Wellen hinsah, hier bald in eine Nähe, bald in eine Ferne hinschaute, so blickte der Mensch dieses Landes zur Wüste, zu ihrem Sichnähern und ihrem Zurückweichen, zu ihrem Vertrauen und ihrem Unheimlichen; sie dringt an das Land heran und zieht vom Lande fort. Das Land und sie scheinen sich zu suchen. Man könnte fast sagen, sie ist hier das, was für den Griechen das Meer war. Aber sie hat hier zugleich noch mehr bedeutet; sie hat innerlich die Menschen erfaßt. Sie sprach zu dem Volke von seiner Jugendzeit, von dem Frühling seiner Freiheit, von diesen Tagen, da es »im Frühlingsmonat« aus Ägypten gezogen war. Damals, so hat einer der alten Lehrer gesagt, hat die Wüste dieses Volk aufgenommen, so wie ein Gastfreund aufnimmt. Hier hatte sich ihnen nach den Knechtsjahren des »kurzen Atems« die Brust dehnen können; hier hatten sie zum ersten Male Luft der Freiheit schöpfen dürfen. Hier hatten sie erlebt, was die Weite, was der Ausblick ist; hier hatten sie es auch gelernt, sich den Weg zu erkämpfen, »die Männer auszuwählen«, um gegen den Feind von Geschlecht zu Geschlecht, gegen Amalek zu streiten; hier hatten sie das Drama der Wege und der Umwege
120
erfahren, die zum Ziele hinführen sollen. Hier in der Wüste stand der Berg der Offenbarung, der Sinai, vor dem das Volk sich für den einen Gott entschieden hatte. Hier war Kraft in seine Seele eingetreten, die Kraft, aus der Irrung zu Gott zurückzukehren, die Kraft, in der die Hartnäckigkeit, die in diesem Volke war, zur Hartnäckigkeit für den einen Gott geworden ist. Hier in der Wüste hatten diese Menschen das Unerwartete, diese Zeichen und Wunder des Ewigen, immer | wieder erlebt, es erlebt, wie das Wasser und das Manna ihnen gegeben wurden, wie die Feuersäule und die Wolkensäule vor ihnen herzogen und sie geführt wurden »von Ägypten bis hierher« (Num. 14,19) – zu diesem Lande hin. So hat dieses Volk diese Zeit gesehen, und so sah es die Wüste; so ist sie in seinem Gedächtnis geblieben. Besonders vor den beiden großen Lyrikern unter den Propheten stand es so, vor Hosea und Jirmejahu. Von des Volkes großer Bereitschaft für Gott, die, wenn Gott verlangt, eine Bereitschaft auch zur Wüste sein muß, sprach zu ihnen die Wüste; und sie haben davon gedichtet. Hosea hat eines Tages gehört, wie Gott zu seinem Volke mit Worten, die so wie das Zehnwort anheben, spricht: »Ich, der, der ist, Dein Gott, vom Lande Ägypten an – und einen Gott außer Mir wirst du nicht erkennen noch einen Helfer als nur Mich – Ich habe dich in der Wüste erkannt, auf der Erde der Dürren« (Hosea 13,4-5). Nun verstand er alles. In der Wüste hat Gott dieses Volk erkannt, damit es Gott erkenne; und in dieser Sprache besagt das Wort »erkennen« doch immer zugleich das Nahsein und das Lieben. Hier, in der Wüste, wo Ferne und Nähe eines sind, wo Himmel und Erde sich zu berühren scheinen, wo sie beide zu Zeugen werden, für den Menschen oder gegen ihn, hier war das große Suchen und Finden, hier hat die Geschichte begonnen. Gleich Wundersames hat Jirmejahu gehört: »Es war das Wort dessen, der ist, zu mir also: gehe, rufe, daß es in den Ohren Jerusalems sei, also: So spricht Er, der ist: Ich gedenke dir der Zärtlichkeit deiner Jugend, der Liebe deiner Brautschaft, daß du Mir nach durch die Wüste gingst, über eine Erde hin, die nicht besät wird. Ein Heiligtum ist Israel Ihm, der ist, Erstling Ihm von der Ernte. Alle, die es antasten, versündigen sich, Böses kommt zu ihnen, ist der Spruch dessen, der ist« (Jer. 2,1-3). | Das alles war nicht nur ein Lied von der Vergangenheit; es war auch ein Lied der Hoffnung: Tage würden kommen, die aus einem Lande, welches befleckt worden war, hinführen würden zur Sauberkeit der Wüste. In der Wüste werde das Volk dann wieder rein
121
138
139
140
und jung und frei werden. Hosea hat davon gesungen. Er hatte sein Volk im Bilde seiner Frau gesehen, die ihm angetraut worden war und die dann gefehlt hatte und irre gegangen war, und er hatte gehört, wie der Ewige sprach: »Darum siehe, Ich erfasse sie und führe sie in die Wüste hin und rede zu ihrem Herzen. Ich gebe ihr von da ihr Köstliches, so daß das Tal der Trübsal eine Pforte zur Hoffnung ist, und sie antwortete dahin, so wie in den Tagen ihrer Jugend, so wie an dem Tage, da sie heraufzog aus dem Lande Ägypten« (2,1617). Und so hat auch Jirmejahu die Hoffnung vernommen: »Nun findet Gnade in der Wüste das Volk derer, die vom Schwerte übrigblieben: daß es Rast habe, kommt Israel her. Aus der Ferne ist Er, der ist, mir offenbar geworden: in steter Liebe liebe Ich dich, darum ziehe Ich dich zu Mir in Huld« (Jer. 21,2-3). Es ist nicht eine bloße romantische Sehnsucht nach den vergangenen, den freien Tagen der Jugend, die hier spricht. Ein anderes hat hier sein Wort gefunden. Eine Poesie, die vorher nicht gekannt war, ist hier aufgegangen, die Poesie von dem freien Entbehren und Verneinen und Verzichten um Gottes willen. Hier ist das Lied gesungen von dem Leben, das um des Weges willen von dem Platze fortgeht, das sich feierlich und doch freudig von dem abwendet, worin die vielen ihr Behagen und ihre Erfüllung finden wollen, dieses Lied von den Menschen, die Gott folgen auch durch die Dürren und Einöden und auch durch die dunklen Täler des Daseins – wie Hosea sagte: »zur Wüste hin antworten«, wie Jirmejahu sagte: »Gott nachgehen in der Wüste«. Diese Poesie ist etwas anderes auch als die Lebensmelodie, | die sich auf indischem Boden in der Yogha, auf griechischem in der kynischen Lebensweise formte. Dort haben Menschen nach der stetigen äußeren Unabhängigkeit und der Unempfindlichkeit gestrebt, um so die innere Unabhängigkeit zu erlangen, um den endgültigen, unantastbaren Bezirk ihres Daseins zu haben. Ein vornehmes Verlangen des Ich suchte und fand da eine Erfüllung. Hier aber sprach eine Treue gegen Gottes Gebot, die auf das, was das Ich für sich begehren mochte, auf die äußere und auf die innere Gelassenheit und Zufriedenheit zu verzichten bereit ist, um Gottes willen, damit das Gebot Gottes weiterschreite. Hier dachten Menschen an das Du sollst. Nicht einen Platz wollten sie haben, sondern sie wollten den Weg gehen und den Weg bahnen, den Gott zeigte. Sie haben darum sich auch nicht gegen das bloß gewehrt, wogegen auch anderswo sich so mancher kehrte, daß das äußere und innere Vielerlei dem Persönlichen des Menschen den Bezirk verenge. Ihr Erlebnis war hierin ein tieferes. Sie haben erlebt, wie jenes
122
Vielfältige immer wieder der Liebe zu Gott, dieser Liebe »mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft« den Raum und das Recht nehmen will. Wenn sie es erfuhren, wie das Leben des Menschen umflochten und umstrickt werden kann, sein Eines und Ganzes von dem Mancherlei, sein Weg von den Straßen, sein Innerliches von den Oberflächen, sein Wert von den Gewändern, sein Ursprüngliches und Schöpferisches von all dem Künstlichen und Hergestellten, die Gemeinschaft von dem Gesellschaftlichen, wenn sie dies erfuhren, dann haben sie gefragt, wo denn für Gott die Stätte hier noch bleibe. Vor ihren Blicken lag dann vielleicht die Wüste. Dort in der Wüste, in ihrer weiten Einheit des Tones, in ihrem reinen Licht und ihrer reinen Finsternis lockte nichts an. Dort stand der Sinai; dort war der Offenbarung des Ewigen der Raum gelassen und der Widerhall gegeben worden. | Jahr um Jahr wurde vor dieses Volk das Bild der Wüste hingeführt. Durch eine besondere Feier geschah es, in einer Woche, die die alljährlichen Feste des Ackers abschloß; in ihnen hatte zugleich geschichtliche Erinnerung sprechen sollen. Nachdem im Frühling das Pessachfest auch an den Auszug aus Ägypten hatte denken heißen und vor dem Beginne des Sommers das Fest der Pfingsten auch an die Offenbarung am Sinai, gemahnte nun im Anfange des Herbstes ein drittes Fest auch an die Jahre in der Wüste. Im Lande, das man jetzt besaß, wurde es gefeiert, und als das Land verloren ward, überall dann, von Geschlecht zu Geschlecht. Wie das Volk, als neue Wanderung begann, in seinen Festen sein Land mitnahm, so hat es die Wüste, seine Wüste, mitgenommen. Fest der Hütten war dieses Fest genannt worden: »In Hütten sollt ihr wohnen sieben Tage, alle Insassen in Israel sollen in Hütten wohnen, damit eure Geschlechter es wissen, daß in Hütten Ich den Kindern Israel Wohnung gab, als Ich sie aus dem Lande Ägypten herausführte, Ich, der, der ist, euer Gott« (Lev. 23,42-43). Auch durch die Wüste spricht der eine Gott, er, neben dem keine Macht ist, auch keine Macht der Wüste. Die Geschichte der Prophetie erzählte von der Wüste. Am Rande der Wüste, in Tischbe im Lande Gilead, war der große Prophet des zweiten Gebotes, Elijahu, herangewachsen, der Eiferer für die Entscheidung zu dem einen Gotte. In der Wüste hat er, als er müde geworden war, die neue Kraft gewonnen; am Sinai, vor der Höhle des Horeb, wo Moses einst von Gott angerufen worden war, hat er in der »Stimme des leisen Schweigens« [I. Kön. 19,12], dieses Schweigens in der Wüste, das Wort des Ewigen gehört, das wieder an ihn erging. In Tekoa im Gebirge Juda, das zur Wüste hinschaut, hat der Hirt Amos um seine Sendung erfahren; von dort ist er hingegangen,
123
141
142
143
um an der Stätte der entweihten Heiligtümer gegen Gewalttat und Knechtung, gegen Götzendienst und Prunkesdienst zu pre|digen und die große Umkehr zu fordern, die Rückkehr zum Rechte, zur Vätersitte und zum Dienste für den einen Gott. Jirmejahu, der so oft zur Wüste hingesehen hatte, hat die »Söhne Rechabs« gepriesen, die dort gelebt haben, um dort die Treue zu wahren gegen die Forderung Jonadabs, des Vaters ihrer Sippe, der ihnen geboten hatte: »Ihr sollt nicht Wein trinken, ihr und eure Kinder, niemals, und ein Haus sollt ihr nicht bauen und Saat nicht säen und einen Weingarten nicht pflanzen; das soll euer nicht sein, sondern in Zelten sollt ihr wohnen alle eure Tage« (Jer. 35,6-7). Von ihnen geht ein Weg die Jahrhunderte hindurch zu den »Frommen«, den »Essenern«, die abseits vom Lande in der Wüste wohnten, um dort ihrer Reinheit, ihrer Betrachtung und ihrer Gemeinschaft zu leben. Aus deren Mitte kam Jochanan, der Sohn des Secharjah, Johannes der Täufer dann genannt; in der Wüste Juda war in ihm der eifernde Geist des Elijahu, die Forderung, sich zu entscheiden, wieder erwacht, so daß er den Ruf vernahm und die Umkehr zu predigen begann. In der Wüste, so haben Lehrer in jenen Tagen gesagt, ist für jeden das gleiche Recht, denn sie gehört keinem, und hier ist darum der Platz für das deutliche Ja und Nein in der Entscheidung für oder wider Gott. In der Wüste, wo nichts ablenkt und verlockt, wo nichts Äußerliches sich zwischen den Menschen und Gott drängt, war in ihnen allen der Sinn für das Eigentliche, für den einfachen und geraden Zug lebendiger geworden. Ein Puritanismus ist hier geboren worden. Der Wille zur bestimmten Haltung erwuchs, dieser Wille, dem die klare Linie mehr bedeutet als alles Ornament, der darum keinem Nebensächlichen oder Gleichgültigen die viele Zeit lassen mag, damit sie nicht schließlich dem Einen, Notwendigen fortgenommen sei. Diese Art mit ihrer Askese, ohne die sie nicht sein kann, ist für dieses Volk charakteristisch geworden; eine eigentümliche Unabhängig|keit hat hierin ihre Wurzeln. Wo dann später in anderen Völkern oder Gruppen sich gleiche oder ähnliche puritanische Züge entwickelten, dort ist dieses Volk auch am ehesten verstanden worden. Dieser Puritanismus hat dazu beigetragen, daß die Religion dieses Volkes sich und damit den Religionen, die von ihr ausgingen, einen Gottesdienst hat schaffen können, der ohne den Opferdienst und ohne das Priestertum war. Äußerlich hat ein geschichtliches Ereignis, die zweimalige Zerstörung des Tempels, den Weg dafür frei gemacht, aber innerlich hatten die Männer des Puritanismus schon vorher die Bahn bereitet. Sie begriffen, wie auch das Opfer, das Gott auf dem Altar dargebracht wurde, sich zwischen den Men-
124
schen und seine wirkliche Aufgabe und damit zwischen den Menschen und Gott stellen könnte. Amos und Jirmejahu, diese Puritaner, diese Independenten unter den Propheten, hatten es so gesehen; das Bild der alten Wanderung durch die Wüste war vor sie hingetreten. Amos hat davon gesprochen: »Breit soll wie Wasser das Recht strömen und die Gerechtigkeit wie ein immer starker Bach. Habt ihr etwa Opfer und Speise in der Wüste mir dargebracht die vierzig Jahre, Haus Israel!« (Amos 5,24-25). Das hat Jirmejahu aufgenommen: »Nicht habe Ich zu euren Vätern geredet und nicht ihnen verordnet am Tage, da Ich sie aus Ägypten herausführte, Worte von Darbringung und Opfer, sondern dieses Wort habe Ich ihnen verordnet: höret auf Meine Stimme, und Ich werde euch zum Gotte sein, und ihr seid Mir zum Volke und werdet auf dem ganzen Wege gehen, den Ich euch gebiete, damit es euch gut sei« (Jer. 7,22-23). Die Jahre in der Wüste waren zur Idee geworden, die im Seelischen der Jahrhunderte blieb. Sie sprach von dem Einen, dem Ganzen des Menschen, sie sprach gegen das, was den Menschen aufteilen will. Und auch ein Verlangen klang darin mit, das wohl hier | sich zum ersten Mal geregt hat: Zurück zur Natur! – ganz zurück zu dem einen Gotte und damit zurück zur Echtheit, zur Geradheit, zu dem, was das Einfache, das Natürliche ist. In den Besten lebte es so. Eine letzte Einfachheit des Gottesdienstes hat sich hier entwikkelt. Der Charakter des Volkes hatte sie bewirkt, und sie hat dann wieder ihn beeinflußt. Ein Eigentümliches stand hier vor den Blikken der Welt, selten begriffen, aber bisweilen doch auch mit starkem Eindruck. Eine unfeierliche Feierlichkeit hat hier ihre Form gewonnen – ein Gottesdienst ohne das Hilfsmittel. Er konnte oft dem Betrachtenden als Formlosigkeit erscheinen. Denn seine Form bot sich selten im Äußeren dar; aber sie erschloß sich von innen her. Von einem unsichtbaren Mittelpunkte her war die Andacht bestimmt, und zu ihm hin war sie gelenkt, und jeder Einzelne sollte es für sich so erfahren. Nichts durfte deshalb dazukommen oder dazwischentreten, wenn die Gemeinde zu ihrem Gotte betete. Die bildende Kunst war hier schon durch das zweite Gebot wesentlich verwehrt. Aber um so stärker hat die Musik sich gestalten, und um so unmittelbarer hat sie von der Gemeinde mitgeformt werden können. Als Gleichnis eines himmlischen Chors, einer Harmonie der Sphären empfand die Gemeinde ihr »Sanctus«, ihre »Keduschah«, in der der gottesdienstliche Gesang seinen Höhepunkt hatte. Der priesterliche Mittelpunkt war schon durch die Abweisung
125
144
145
146
der Sakramente abgelehnt. Um so lebendiger konnte jeder Einzelne seine Stimme im Gebete der Gemeinde haben. Um einer Ordnung willen leitete einer die Folge der Gebete, aber er war nur der »Beauftragte der Gemeinde«; mit ihr, in ihrer Mitte, stand er vor Gott, aber er führte sie nicht vor Gott hin. Diese unfeierliche, puritanische Feierlichkeit, die, weil sie ungewollt und ungelenkt ist, eine wahrste Feierlichkeit darstellen kann, ist in das Leben des Tages auch eingetreten. Sie | hat dem Alltag gewissermaßen eine Poesie der Prosa gegeben. Eine Fülle von Sitten und Bräuchen, sie alle mit ihrem »Du sollst« und ihrem »Du sollst nicht«, umgibt das, was das Dasein verlangt und bringt, und führt es immer wieder an das Sittliche heran. Die Zeichen sind überall aufgerichtet, die über das Gewöhnliche und Prosaische hinausweisen wollen. Eine Askese ist damit zu einem Ordnenden im Dasein gemacht. Doch ein anderes, als sonst dieses Wort besagt, ist hier in ihr. In ihr regt sich hier etwas Liebevolles, eine seelische Freudigkeit und Helligkeit, sie ist eine begehrte, eine heitere Übung, sie ist reich an Gesang. Eine Welt des Symboles ist umfaßt, die Welt von Zwekken bleibt fern. So sehr sie zum Ertragen und Entsagen erziehen will, so will sie doch mit alledem nicht das Leben einengen, sondern im Gegenteil es erweitern. Sie will zerteilte und zerrissene Stunden mit Sphären einer Harmonie verbinden. Man könnte das alles, dieses »Gesetz«, wie eine spätere Zeit es, oft irrig, genannt hat, am ehesten eine Poesie in den Formen der Askese heißen. Der Alltag, das Unfeierliche, hat seine Feierlichkeit gewonnen; ihm ist seine Linie, seine Tradition gegeben worden. Dieser eigentümliche Puritanismus auch ist so ein Zug im Lebensstil dieses Volkes geworden.
Wieder tritt hier eine schöpferische Paradoxie, ein immer neu die Lebendigkeit zeugender Widerspruch hervor. Welch scheinbare Gegensätzlichkeiten zeigen sich! In diesem Volke ist eine Verbundenheit mit dem Erdboden und mit dem, was er trägt. Es hat in aller der Zeit, in der ihm der Ackerbau und die Baumpflanzung verwehrt waren, mit seiner Seele an ihnen festgehalten und, Jahr um Jahr, ihnen die Feste gefeiert. In ihm blieb auch diese, man möchte sagen, bäuerliche Verbundenheit mit der Arbeit und dem, was sie | einbringt, mit dem Besitze und dem, was er trägt, dieser Wille zum Pflügen und Säen um des Erntens willen. Aber zugleich ist in diesem Volke etwas Unbäuerliches: eine Fähigkeit zum Fortgeben und Fortschenken, eine fast unermüd-
126
liche Freude am Opfer. Und darüber hinaus ist in ihm eine Kraft des Fortgehens. Gegen das irdische Haus, gegen Hab und Gut ist dieses Volk gleichgültig, sobald es den einen Gott, sein Gebot und sein Recht gilt. Zu jedem Weiterziehen und jeder Wanderung, zum Wege ins Unbekannte und Ferne wurde es bereit, wenn die Aufgabe, die den Tag überschreitet, ihn weist. Die Paradoxie geht weiter. Es ist hier die eine Richtung, daß die Seele sich für alles Helle und Heitere im Dasein auftut; es konnte hier zum Gebote werden: »du sollst dich freuen«, es konnte hier gesagt werden: »dienet Ihm, der ist, in Freude«! Ein argloser Frohsinn, der so froh bleibt, weil er sich selber nie verläßt, nie zum Ichlosen und Maßlosen wird – auch das Maßlose galt hier seit altem als Zeichen des Heidentums –, hat seine Zeit; eine Weite des Gemüts nimmt den Sabbat und die Festtage auf, eine Kultur der Stimmung bereitet hier Stunden und Stätten. Und diese Seele hat den anderen Zug doch auch, daß sie sich abzuwenden vermag. Innerhalb jedes Genusses stehen die Grenzmale. In den Fluren des Lebens werden, fast unermüdlich, Zeichen des »Du sollst nicht« aufgerichtet. Um Speise und Trank sind Schranken gezogen, bis zu den strengen Tagen des Fastens hin. Eine Askese ist verlangt, damit nichts sich dauernd zwischen die Seele und ihren Gott stelle. Aus einem anderen noch scheint Widerspruch hervorzutreten. Einerseits ist hier ein lebendiger Zug zu den Menschen hin, zu ihren Kreisen, ihrem Denken und Reden, auch zu all dem Wechselnden ihrer Künste und ihrer Funde. Eine Fähigkeit, zuzuhören und zuzulernen, hat sich immer wieder bewiesen, eine Erschlossenheit für Kulturen und Zivilisationen, eine aufgetane Bereitschaft für jedes Beginnende, das seinen hellen Tag | sucht, für jedes Weiterschreitende, das einem Lichte folgt. Und andererseits lebt doch hier, stark und nie nachlassend noch nachgebend, das Gefühl für die Überlieferung, die Verbundenheit mit der Weise der Väter, mit dem, was sie gelehrt, und der Art, wie sie es gelehrt haben, die Bejahung der Bahn von einst bis heute und morgen, der Geschichte, wie sie geworden, die Ablehnung dessen, was die Art »aller jener Nationen« (Deut. 11,23 etc.) ist. So ist dieses Volk »kein glatt geschrieben Buch«. Es ist ein Volk mit seiner Paradoxie und ihrer Spannung: das verbundenste und das einsamste Volk, das konservativste sicherlich und vielleicht das radikalste, das geduldige und das ungeduldige, das gläubige und das kritische, das Volk der Väter und das Volk der Kinder, das lebensfrohe und das asketische, das Volk des aufnehmenden Humors und der abweisenden Ironie, das Volk des Weges und das Volk der »Hecke«,
127
147
148
das Volk, das mehr als andere nach außen und weit mehr als andere nach innen horcht und blickt, fast möchte man sagen: Volk des Landes und der Wüste in einem. So ist dieses Volk und so lebt es. Es lebt in dem einen Strome der Spannung, weil es zugleich in dem anderen lebt. Es kann seine wahre Kraft nicht aus dem einen holen, ohne sie zugleich in dem anderen zu gewinnen. Dieses Volk ist so: es kann so Entgegengesetztes in sich fassen, weil es und solange es in dem Glauben an das Eine und Ganze lebt. Hier, aber im Grunde ist es doch in jedem Menschentum so, ist kein wahres Fortschreiten ohne die Verbundenheit mit der Vergangenheit, keine wahre Verwobenheit mit dem Früheren ohne den Mut zur Zukunft, keine Gewißheit ohne die Frage und keine Frage ohne die Gewißheit, kein Vertrauen ohne das Suchen und kein Suchen ohne das Vertrauen, keine Freude ohne den Ernst und kein Ernst ohne die Freude, keine Abgeschlossenheit ohne die Erschlossenheit und keine Kraft, sich zu öffnen, ohne die Fähigkeit, abzulehnen. Ganz | allgemein ist es so ein seelisches Gesetz, aber in diesem Volke ist es eigentümlich ausgeprägt. Auch hierin wohnt und waltet die umfassende Bedeutung dieses eigenwilligen Volkes. Auch hierin ist es Menschheitspersönlichkeit: bedeutungsvoll schon damit, daß es da ist. Mit der schöpferischen Spannung, die in ihm ist, hat es Völker beschenken dürfen. Etwas von ihr wirkt und schafft überall dort, wohin etwas von dem Geiste und aus dem Buche dieses Volkes Eingang gefunden hat.
Jenes letzte, jenes erhaben erzählende Kapitel des Fünfbuches ist der Ausklang für die Jahrzehnte in der Wüste: »Moses ging von den Steppen Moabs hinauf zu dem Berge Nebo, dem Gipfel des Pisga, der gegenüber Jericho ist, und Er, der ist, ließ ihn das ganze Land sehen ... Und Er, der ist, sprach zu Ihm: Dies ist das Land, das Ich dem Abraham, dem Isaak und dem Jakob zugeschworen habe, indem Ich sprach: Deinen Nachkommen will Ich es geben. Ich habe dich mit deinen Augen sehen lassen, und dorthin wirst du nicht hinübergehen. Und es starb dort Moses, der Knecht dessen, der ist, im Lande Moab, nach dem Worte dessen, der ist« [Deut. 34,1.4-5]. Mit dem ersten Kapitel der zweiten, der prophetischen Reihe der biblischen Bücher setzt die andere Zeit ein, die des Landes: »Es war nach dem Tode des Moses, des Knechtes dessen, der ist, und Er, der ist, sprach zu Josuah, dem Sohne des Nun, dem Diener des Moses, also: Moses, Mein Knecht, ist gestorben, und nun stehe auf, zieh hier über den Jarden, du und dieses Volk allesamt, in das Land, das Ich
128
ihnen, den Kindern Israel gebe« [Jos. 1,1-2]. Eine Geschichte beginnt nun, eine Geschichte mit ihren Kämpfen, ihren Abwegen und ihren Umwegen, eine Geschichte in diesem Lande. Auch dieses Land hat seine Widersprüche. Selbst konnte es | in Spannungen hineinführen. In der Zeit der Jugend, der Verheißung und Bildsamkeit, erfaßt von dem, was die Offenbarung aufgetan und von dem, was dann die Wüste gefordert hatte, kam das Volk in das Land, das ihm ein Erbe erschien, das Land seiner Väter. Ein Volkstum, in der Wachstumskraft der Persönlichkeit, verband sich nun mit einem Lande voller Eigenart. Von dem Lande auch sollte das Volk nun empfangen, mit ihm auch ringen, in ihm auch sich zu erfüllen beginnen. Sie sollten fortan zusammengehören: Volk dieses Landes und Land dieses Volkes.
Der alte Name für dieses Landes ist in der Bibel Kanaan. Er hatte anfänglich die Niederung bezeichnet, die sich vom Gebirgsrücken nach dem Meere hin senkt, vornehmlich den phönizischen Bereich. Kanaaniter, und das meinte zugleich den Mann aus anderem Volke, heißt in der Bibel der Kaufmann; ausländisch erschien damals diesem Volke der Beruf, zu dem es dann später, als es in anderen Ländern lebte, hingelenkt und oft hingezwungen wurde. Die Griechen haben das Land Philisterland, Palästina, genannt, da dort der Hafen [Jaffa] war, der ihrem Seefahrer den Zugang eröffnete. Von dem Lande dahinter und dem Volke dort, den Israeliten, haben sie Besonderes erst spät erfahren, damals erst, als Alexander die Pforten des Ostens weit aufgetan hatte, und Aristoteles von diesem Lande und sein Schüler Theophrast von diesem Volke, dieser »philosophischen Rasse«, wie er es nannte, erzählt haben. Es ist ein kleines Land, dieses Land Kanaan. Schmal und schlank, so schmal wie kaum ein anderes geschichtliches Land liegt es da, und es streckt sich vom Gebirge zum Meer hinab und vom Gebirge zum Flusse hinunter. Nicht der Fluß – er ist hier großenteils die Grenze –, sondern das Gebirge gibt dem Lande die bestimmende Linie: es ist ein Land mit einem Rück|grat, ähnlich wie, in Größerem, das italische Land der Römer. Vom Süden nach dem Norden zieht sich das Gebirge: vom Süden, wo es seine Bastion hat – zwischen dem »Salzmeer«, in das der tief abwärts fließende Jarden mündet, und dem »Großen Meere«, dem Mittelmeere, ist diese Bastion –, hin nach dem Norden, wo das Weiße Gebirge, der Libanon, zugleich ein Abschluß wird. Bisweilen haben sich hier und dort im Laufe der Jahrhunderte die Grenzen vorgeschoben, aber das Land ist immer ein
129
149
150
151
kleines geblieben. Alles Geschehen drinnen hatte seine Nähe; Ferne war nur das, was draußen war. Die Natur hat dieses kleine Land aufgeteilt; es ist, wie Moses es im Buche nennt, »ein Land der Berge und Täler« (Deut. 11,11). Es konnte so ein Land der Kantone werden, ähnlich wie das, in dem die Griechen wohnten; die Umkreise sind in ihm eingezeichnet. Bald neben oder auch gegeneinander, bald miteinander haben hier die »zwölf Stämme« dieses Volkes ihren Platz gehabt, ganz wie vorher, nach der alten Überlieferung, »sieben Völker« (Deut. 7,1). Die Stammesnamen sind hier lange geblieben und sicherlich auch Eigentümlichkeiten der Stämme; »jedem nach seinem Segen« hatte Jakob, der Stammvater, sie gesegnet (Gen. 49,28). Zusammengehörigkeit, Einheit ist hier nicht wie in den großen Ebenen ein Gegebenes; sie wird hier, ähnlich wie in Hellas, erst zu einer Aufgabe, zu einem Wege der Geschichte. Ein Charakteristisches tritt hervor, wenn gesehen wird, wie dort und wie hier diese Aufgabe erfaßt worden ist. Aber trotz dieser Kantone ist das Land doch ein Ganzes; natürliche Grenzen, die es umschreiben, machen es dazu. Es ist ein Land für sich, es ist dieses Land. So wie es als dieses Ganze zwischen Berg und Fluß und Meer und Wüste liegt, konnte es Stämme zusammenführen und wesentlich zusammenhalten. Bewußtsein gemeinsamer Geschichte konnte sich hier durchsetzen. Als die Stämme dieses Volkes erwählter Begabung herkamen, | fanden sie hier einen erwählten Boden auch für die Einheit, zu der sie erwählt waren – hier, in diesem hartnäckigen Lande. Wieder hat die Paradoxie sich dieses Volkes bemächtigt. Einen Willen, oft fast einen trotzigen, zur Sonderung und Gliederung und einen Willen, einen noch trotzigeren, zur Geschlossenheit und Einheit, hat dieses gegliederte und doch geschlossene Land gepflegt. Auch diesen Widerspruch hat die Persönlichkeit dieses Volkes in sich aufgenommen und hat ihn zu einer Kraft, zu einem inneren Reichtum werden lassen. Nach dem Tode des dritten seiner Könige, die auf die Reihe der »Richter« folgten, hat das Volk, in dem schon vorher Spaltungen gewesen waren, sich für Jahrhunderte in zwei Reiche auseinandergelegt, in das des Südens, der Bastion, und das des Nordens, der Erstreckung. Aber die Propheten des Nordens waren auch die für den Süden und die des Südens die auch für den Norden. Dort wie hier wurde die Kunde von den Vätern erzählt und weitergegeben. »Zwölf Steine nach der Zahl der Stämme der Söhne Jakobs nahm Elijahu« (I. Könige 18,31), als er auf dem Berge Karmel den Altar wiederherstellte, als er dort das Volk gegen Baal und Astarte und für den einen
130
Gott aufrief. Als nach den Jahrzehnten des Exils auf dem alten Boden wieder ein Land für dieses Volk bereitet wurde, schufen Kantone wieder ihre Besonderheit: Judäa war da im Süden und Galiläa im Norden und Peräa jenseits des Flusses. Aber das Gebet war das gleiche, das »Buch« das eine, das Gebot, die Hoffnung dieselben, hier wie dort, und darüber hinaus die gleichen auch in den anderen Ländern, in denen damals das Volk seine Menschen und seine Stätten hatte, in Babylon und Ägypten. Gesondert und gegliedert war es, im Landschaftlichen wie im Geistigen, und es blieb doch, wie jenes alte Wort sagt, das »eine Volk auf Erden«. Die größere Probe hierauf, auf dieses Zusammenkommen der Kraft zur Sonderung und der Kraft zur Geschlossenheit, | mußte späterhin bestanden werden. Zuerst war sie in den Jahrhunderten verlangt, in denen dieses Volk zu einem der großen Kolonialvölker wurde und weithin den Meeren und Flüssen entlang seine Siedlungen schuf. Und ebenso war es in den anderen Jahrhunderten, in denen das prüfende Geschick dieses Volk zu einem Volke der Wanderungen machte, als Druck und Gewalt zwangen, von einem Lande zum anderen zu ziehen, und die alte Melodie aus der Wüste den neuen, den trauervollen Ton erhielt: »Und sie brachen auf, und sie lagerten, und sie brachen auf ...«. Ein Außerordentliches, ein dem Menschen ohne die Tiefe der Seele so schwer Begreifliches ist in diesen Zeiten zur Existenz geworden. Mit den Ländern, in welche die Schicksalsstraße geführt hatte, sich zu verweben, das neue Land auch innerlich zur Heimat zu gewinnen, in seiner Luft zu atmen, in seiner Sprache zu denken, ihr, und sich selber damit, neuen Ausdruck und neue Form zu schaffen, das haben die Menschen dieses Volkes versucht und vermocht, wo immer und wann immer ein Land sie wahrhaft aufnahm. Treuere und dankbarere Menschen hat kaum je ein Boden getragen, treuere, dankbarere Bürger hat kaum je ein Gemeinwesen besessen, wo immer und wann immer eine Bereitschaft da war, sie zu verstehen und dem Gepräge, mit dem Gott sie geprägt hat, das Recht zu gewähren. Für Völker und Kulturen hat das wie zu einem Geschenk, ja zu einem Segen werden können. In diesen Menschen selbst war immer die große Bereitschaft hierfür, die tiefe und ernste Erschlossenheit und Hingebung. Aber in diesen selben Menschen war zugleich der starke und opferfähige Wille, mit denen zusammenzustehen und zusammenzuhalten, die von denselben Vätern gekommen und durch dieselben Jahrhunderte gegangen waren, die durch ihren Glauben gelebt und darum für ihn auch gelitten, für die Hoffnung gekämpft hatten, um
131
152
153
154
Gottes willen gewandert waren so wie | einst sie. Immer war in ihnen, mochten auch hier und dort die einen und die anderen schwach werden und sich fortwenden, die unbeirrbare Entschlossenheit, um des Ewigen willen bis zu dem Tage, den er bestimmt, dieses Volk, zu dem er sie gemacht hat, zu bleiben. Darauf durften und dürfen sie nicht verzichten – um keines Landes willen, nicht einmal um des eigenen, des alten Landes der Väter willen. Denn darauf verzichten, das meinte, auf das Gebot und die Erwartung, zu denen sie erwählt sind, zu verzichten, das meinte, auf den einen Gott und seinen Bund und damit im Grunde doch auch auf dieses Land innerlich zu verzichten. In einer solchen Absage an sich selbst würde dieses Volk selber seiner Geschichte ein Ende bereiten. Die Geschichte dieses Volkes, die einzige, die es zu eigen haben kann, ist diese Geschichte einer großen Treue, diese Geschichte einer Treue gegen Gott und damit gegen sich selbst und damit gegen die Welt und in ihr gegen jedes Volk, in dem es einen Boden für Menschen der Treue gibt. Sie ist eine Geschichte der Treue auch gegen das alte Land. In ihm hatte diese Geschichte eine Kraft erworben, und von neuem wird es das Land einer Kraft dieses Volkes sein können, wenn es ein Land dieser einen Geschichte dieses Volkes wiederum ist. Von einer »eigensinnigen Treue«, einer »fides obstinata« dieser Menschen hatte in Rom zornig der große Historiker gesprochen. Er hatte es ihnen nicht vergeben können, daß sie in sich selbst ruhen und nicht nur einer der Monde sein wollten, die sich um Rom bewegten, daß sie in Gott und nicht in Rom ihr Licht sahen. Wie einst Bileam, der Seher, der in den Tagen, da dieses Volk am Tore des Landes lagerte, gekommen war und hatte fluchen wollen, und hatte dieses Volk segnen müssen, so hat Tacitus grollen wollen und hat gepriesen; er hat gesehen, ohne daß er wußte, daß er sah. In der »eigensinnigen Treue« wohnt das Geheimnis und wohnt die Kraft dieses Volkes, des Volkes aus diesem Lande. | Für sich liegt das Land da, aber es hatte die vielen Nachbarn. Das Volk, das hier lebte und sich in seiner Begabung entfaltete, konnte nie meinen, nur für sich zu sein; es hat immer wieder erfahren, daß andere Völker auch da waren. Auf allen Seiten waren sie da, ob nun die Wüste, die freie, sie heranbrachte, oder Fluß und Gebirge sie abgrenzten, oder sie nordwärts und südwärts längs dem großen Meere fast wie Nachbarn ihre Städte hatten. Charakteristisch ist, daß ein Wort in der Bibel ein verhältnismäßig häufiges ist – andere Literaturen haben es wohl kaum: »alle Völker rings um euch her«. Von überall her konnten sie anziehen und abstoßen. Es war hier wie ein Selbstverständliches, daß die Propheten ihr Wort auch an sie richteten.
132
Wie man von ihnen wußte, wissen mußte, so konnte man von denen wissen, die jenseits von ihnen waren. Durch das Land gingen seit altem große Handelsstraßen, Straßen vom Euphrat zum Nil und von den phönizischen zu den arabischen Häfen. Die große Welt trat so immer wieder heran, sowohl in den ruhigen Zeiten wie in der bewegten, in der Großmächte oder Eroberungsvölker um dieses Land, diesen Brückenkopf Asiens gegen Afrika, stritten. Stimmen aus der Weite wurden vernommen, Wunder aus der Ferne wurden geahnt. Man erfuhr von der Fülle dessen, was innerhalb der Menschheit ist, von den vielen Völkern und ihren Sprachen, »den siebzig«, wie eine spätere Zeit sagte. Der Namen der fremden Nationen ist die Bibel voll. In dieses Land, das in sich zurückgezogen daliegt, trat vieles ein, und von ihm konnte das, was in der Seele seiner Menschen sich regte, hinauswandern. Kein Wunder, daß dieses Volk schon früh ein Volk der wandernden Gedanken und Träume geworden und es dann geblieben ist. In diesem Lande durfte dieses Volk sich wiedererkennen. Deutlich umgrenzt ist dieses Land und war doch ein Land inmitten von Ländern, und scharf bestimmt ist dieses Volk und | wurde doch ein Volk inmitten von Völkern. So ist auch hier das seine Art geworden: in sich festzustehen und an sich festzuhalten, ja an sich selber sich festzuklammern, bis zur Absonderung hin, wenn immer der Tag sie verlangte, aber ebenso in die Weite hinaus zu blicken, zu allen den anderen ringsumher, zu ihren Fragen und ihren Problemen, in der Welt so zu leben bis zum Weltbürgerlichen hin, wo immer der Tag es erlaubte. Es scheint oft, als sei solches die sich immer wiederholende Aufgabe.
Als die Stämme des Volkes in das Land kamen, war das der erste Schritt zu dieser Aufgabe. Sie kamen aus der Wüste. Sie hatten dort die Worte Gottes durch Moses vernommen, und sie hatten auch das andere erfahren können, worin Gott zum Menschen sprechen will: das große Schweigen. Vom Schweigen als Erlebnis des Erhabenen und vom Schweigen als Antwort auf das Erhabene spricht das Buch. Als Elijahu in die Wüste gegangen war, die Todessehnsucht im Herzen, um dann dort am Horeb, wo einst Moses das Erhabenste erfuhr, wieder sich, wieder sein Leben, wieder eine Aufgabe zu finden, war Gott im Schweigen ihm genaht: »Es war ein Wind, groß und stark, der Berge spaltete und Felsen zerschmetterte, vor Ihm, der ist. Nicht im Beben war Er, der ist. Und nach dem Beben ein Feuer. Nicht im Feuer war Er, der ist. Und nach dem Feuer eine Stimme leisen
133
155
156
157
Schweigens. Und es war, als Elijahu hörte, verhüllte er sein Antlitz mit einem Mantel und ging hinaus und stand am Eingang der Höhle, und siehe, zu ihm kam eine Stimme und sagte: ›Was hast du hier, Elijahu?‹« (I. Könige 19,11-13). Als die Männer von Alexandria im Jahrhundert nach Alexander das Buch für die griechisch sprechende Welt übersetzten, meinten sie, ihr das Wort vom Schweigen nicht nahebringen | zu können. Sie umgingen es und sagten: »ein sanftes Wehen« und machten die Erhabenheit zur Idylle. Fast alle die späteren Übersetzungen folgten ihnen hier. Nur die alte aramäische Übertragung wieder war dem, was das Wort besagt, getreu; in ihrer Art, die übersetzend gern zugleich erklärt, hat sie unser Wort also wiedergegeben: »ein Schweigen, das Ihn, der ist, pries«. So hat sicherlich auch der mittelalterliche Märtyrer es erfaßt, der für das Sanctus des Neujahrsfestes ein Präludium dichtete, mit dem Thema: das Gericht Gottes. Nach der Posaune kommt hier die Stimme, die Elijahu vernommen, die letzte Erhabenheit: »Die große Posaune wird geblasen, und die Stimme des leisen Schweigens dann gehört.« Solches Schweigen hatte dieses Volk in der Wüste erfahren und in das Land mitnehmen können. Das Buch der Psalmen, welches den Menschen vor Gott hinführt, hat danach auch die große Antwort des Schweigens hier gelehrt: »Schweige zu Ihm, der ist, und warte auf Ihn« (37,7). »Zu Gott schweigt meine Seele, von Ihm ist meine Hilfe« (62,2). »Dir ist Schweigen eine Preisung, o Gott, in Zion« (65,2). Um das große Schweigen zu wissen, sollte eine der Gaben dieses Volkes sein. Nicht immer war es verstanden. Im Lande drangen aber die Stimmen damals auf dieses Volk ein, nach den Jahren des göttlichen Wortes und des erhabenen Schweigens jetzt die Stimmen der Völker, die tönenden und vielen Stimmen. Sie begehrten, gehört zu werden, Stimmen derer, die im Lande gewesen, und derer, die in ihm noch waren, und derer, die ringsumher wohnten, diese Stimmen der anderen Völker. In bestimmterem Sinne noch als sonst ein Volk fremde Völker hört und sonst ein Volk sich Völkern gegenübersieht, in einem herausfordernden Sinne waren sie die anderen Völker. Sie waren die Völker des Baal und der Astarte, des Götzenbildes und der Götzenstätte, der Unsitte und der Sittenlosigkeit. Sie waren | die, in deren Weg dieses Volk niemals gehen, nach deren Satzung es niemals leben sollte. Zwischen ihnen und diesem Volke war bisweilen Krieg, und nach dem Krieg schloß man Frieden. Aber mit ihrem Baal und ihrer Astarte konnte es keinen Frieden und keinen Vertrag geben. Hier war der ständige Kampf zu führen, der um das Wesentliche
134
der Existenz, um die Seele des Volkes, dieser eigentliche Kampf auch um das Land. Gegen eine stetige Versuchung mußte er im Lande selbst bestanden werden. Aus der Vergangenheit des Landes wuchs die Verlokkung hervor, auf seinen Äckern und Straßen trat sie heran. Man konnte über sie nicht hinwegsehen, noch sie überhören. Viele Geschlechter hindurch mußte der Kampf dagegen geführt sein, daß dieses Volk auf dem Boden Kanaans ein Volk von Kanaanitern werde. Überall waren die Bilder des alten Kanaan, überall blieben seine Stimmen vernehmbar; sie lockten die Sinne, sie verhießen den Begierden. Auch eine Grandiosität der Furchtbarkeit konnte manch erschrecktes und manch grübelndes Gemüt packen. In den Ländern ringsum, und vielleicht hier und dort im Lande noch, war das Standbild des Moloch, des Gottkönigs, der das Opfer des erstgeborenen Sohnes forderte, und breitete seine Arme aus. Jahrhunderte schon war das Volk im Lande, als Micha, der Prophet, die Anklage Gottes gegen »sein Volk« erhob und das Volk also erwidern hörte: »Womit soll ich hintreten vor Ihn, der ist, mich beugen vor Gott droben ...? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Missetat geben, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele?« (6,3.6-7). Und noch im Jahrhundert danach hat Jirmejahu sagen müssen: »Getan haben die Kinder Jehudas das, was böse ist in Meinen Augen, ist der Spruch dessen, der ist. Sie haben die hohen Plätze für das Ofenbild, die im Tale Ben Hinnom sind, gebaut, um ihre Söhne und ihre Töchter im Feuer zu verbrennen, was Ich nicht hatte geboten und was nie zu Meinem Herzen aufgestiegen | war« (7,30-31). Und mehr noch besagt, und ist ein Zeugnis jener Zeit und Zeugnis für immer, die im Ergreifenden so schlichte Erzählung aus alten Tagen, die also anhebt: »Es war nach diesen Begebnissen« – nämlich nach »den vielen Tagen im Lande der Philister« [Gen. 21,34] –, »da prüfte Gott den Abraham und sagte zu ihm: Abraham!, und er sagte: Hier bin ich! Und Er sagte: Nimm doch deinen Sohn, den Einzigen, den du liebst, den Isaak, und gehe in das Land Morijah und bringe ihn dort zum Opfer dar auf einem der Berge, den Ich dir sagen werde« (Gen. 22,1-2). Was mag damals in so mancher Seele, wenn sie erschreckt wurde oder zu grübeln begann, vorgegangen sein? Die Auswertung des Opfergedankens, dieses Entsetzen, konnte wie letzte Erfüllung scheinen. Aber das Volk ist von dem Lande, in das es gekommen war, nicht gefangen genommen worden. Der Schluß, der alles entschied, der auch hier zur Freiheit führte, ist der Ruf des Boten von dem, der ist, gewesen, den in der tiefen Not seiner Seele Abraham nun hörte: »Abraham, Abraham! Und er sagte: hier bin ich! Und er sagte: strek-
135
158
ke nicht aus deine Hand an den Knaben und tue ihm nicht das Geringste« (Gen. 22,11-12). Und gleiche Befreiung ist das Wort gewesen, mit dem Micha seinem Volke, dessen banges Fragen er gehört hatte, die Antwort gab: »Er hat dir verkündet, was gut ist, und was Er, der ist, von dir verlangt: doch nur Rechtes zu tun und Treue zu lieben und demütig zu wandeln mit deinem Gotte« (Micha 6,8). Als das ein Besitztum der Seele geworden war, hatte das Volk im Kampfe um das Land gesiegt, es hatte Kanaan zu seinem Lande, zum Lande Israels gemacht. Auch die Furchtbarkeit sollte nicht bezwingen, damals nicht, noch später.
159
Das war die Aufgabe auch hier: sich für den einen Gott zu entscheiden und um seinetwillen zu widerstehen. Dieses Volk | sollte ein anderes sein als die Völker ringsumher, und so sollte dieses Land auch ein anderes werden. Als ein Land, das durch seine Menschen unrein geworden war und in die Arme seiner Unreinheit die neuen Bewohner schließen wollte, war das Land Kanaan dem Propheten erschienen. Der Boden einer Reinheit, einer Heiligkeit sollte es jetzt werden, der Boden, wo die »Schechinah« sein, wo Gott wohnen könne. Im dritten Buche Mosis, der »Lehre der Priester«, wie der alte Name ist, folgen aufeinander die Kapitel, in denen die Gebote der Reinheit, der Heiligkeit, der Freiheit und der Gemeinschaft stehen. Sie sind zugleich die große Predigt vom Lande. Ihr erster Abschnitt beginnt mit dem Worte an Moses: »Rede zu den Kindern Israel und sage ihnen: Ich bin der, der ist, euer Gott. Wie man im Lande Ägypten tut, wo ihr gewohnt habt, sollt ihr nicht tun, und wie man im Lande Kanaan tut, wohin Ich euch bringe, sollt ihr nicht tun, und in ihren Satzungen sollt ihr nicht gehen« (Lev. 18,1-3). Das alles wird dann aufgeführt, was man dort tat und tut, und abschließend ist dann gesagt: »So ist das Land unrein geworden und Ich ahndete die Schuld, die auf ihm ist, und ausspie das Land seine Bewohner. Möget denn ihr, ihr Meine Satzungen und Meine Rechte wahren und nichts von allen jenen Greueln tun, der Insasse wie der Fremdling, der ein Fremder in eurer Mitte ist – denn alle jene Greuel taten die Leute des Landes, die vor euch waren, und unrein wurde das Land –, damit nicht das Land euch ausspeie, wenn ihr es unrein macht, so wie es das Volk ausgespien hat, das vor euch war« (Lev. 18,25-28). Im Gottesdienste an dem »Tage der Versöhnung« wird dieses Kapitel verlesen. Was den Boden, auf welchem Menschen leben, entweiht und was allein ihn rein erhält, wird der Gemeinde an diesem Tage gesagt.
136
Die Reinheit meint in diesem Volke vor allem die des geschlechtlichen Lebens, die des Hauses. Drei Sünden nennt der | Talmud als kardinale: »Götzendienst, Unzucht, Mord«, und an dreierlei, so sagt er, können die Menschen erkannt werden, die zu diesem Volke gehören: »Sie sind barmherzig, keusch und wohltätig.« Beide Male steht die Reinheit in der Mitte; sie ist eine Frage des Lebens dieses Volkes. Der Kampf, in dem die Seele dieses Volkes, sein Bund mit Gott, gegen die Völker Kanaans und die Völker ringsumher einst stand, war vor allem ein Kampf um diese Reinheit. Er hat Jahrhunderte gewährt, und er hat sicherlich seine wechselnden Tage gehabt. Aber der Sieg ist damals errungen worden, erst in ihm hat das Volk eine dauernde Lebenskraft erlangt. Es bedurfte dieser Kraft, denn die alte Gefahr hat oft neu gedroht. Besonders dann war es so, wenn Zeiten oder Kulturen sanken und veränderte Formen des Lebens sich darboten. Alle Wegweiser lagen dann am Boden, und neue waren noch nicht aufgerichtet. Immer drohte dann die Gefahr jener ungesunden Assimilation, die von der Umgebung mehr das Gemeine und Üble als das Edle und Lebensvolle annimmt. Das Innerste dieses Volkes war dann angegriffen; das alte Kanaan schien wieder sein Haupt zu erheben. Es gibt eine echte, eine heilsame Assimilation. Vieles sicherlich darf in dieses Volk eintreten; in früheren und in neueren Tagen sind Gedanken und Bestrebungen, fast von überall, hereingekommen, und sie haben hier ihre mannigfachen, oft widerspruchsvollen Wege gehabt. Kaum je ist das Wesen dieses Volkes dadurch beeinträchtigt worden, meist wurde sein Geist bereichert. Doch wenn man von den Armen Kanaans sich umfangen ließ, dann verlor der Kern des Lebens, das Mark der Seele, der Bund mit Gott seine Kraft. Damals, in den alten wechselnden Zeiten im Lande, war ein Sieg errungen worden, und die Stärke, die er gab, hat sich bewährt. In der Antike, inmitten einer Welt, in der weithin der Phallus seine Kulte hatte, und dann im Mittelalter, in einer | Welt, in der die Trunksucht und die Unzucht und die Roheit auf gemeinsamem Wege weithin durch die Völker schritten, blieb dieses Volk als Ganzes für das alles unnahbar; es blieb eine Welt für sich, ein Volk auf reinem Boden. Die gesunden Instinkte, in denen das Leben sich fortpflanzt, wurden bejaht, die natürlichen Triebe des Körperlichen anerkannt, sie waren in einen Bereich der Reinheit hineingestellt. Das Haus, die Familie, war Stätte der Erfüllung des Lebens, seiner Freude, seiner Zuversicht. Die Frau hatte damals nicht die vielen Rechte, aber das große Recht der Frau war ihr gegeben. Die Sätze des Psalms, die von der Frau und den Kindern sprechen, schließen mit dem Worte: »Sie-
137
160
161
162
he, wahrlich, so wird der Mann gesegnet, welcher Ihn, der ist, fürchtet« (Ps. 128,4). Und das Wort der alten Lehrer – es darf wiederholt sein – sagte dann von der Frau, die »mit Gott einen Mann erworben« hat (Gen. 4,1): »der Mann wahrhaft nicht ohne die Frau und die Frau wahrhaft nicht ohne den Mann und sie beide nicht ohne die Gegenwart Gottes, die Schechinah.« Das ist hier die Wahrheit der Existenz. Zwei Dichtungen, die von der Liebe von Mann und Frau erzählen, sind in die Bibel aufgenommen worden. Die eine ist das Hohe Lied, das »Lied der Lieder«, das davon singt, wie die Liebe in der jungen Seele und in dem jungen Körper erwacht, und die andere ist das Buch Ruth, das Buch von der Frau, die auf die Stimme der Treue hörte und der die Treue dann Ehe und Haus bereitete. Das »Lied der Lieder« hatte seinen Platz in der Bibel erlangt, weil Lehrer wie Akiba ben Joseph, dieser Mann, dessen Denken immer neu suchte, dessen Bereitschaft zum Wege aber niemals zögerte noch zweifelte, auch angesichts des Martyriums nicht, in diesen Liedern ein Gleichnis auch sahen für die Liebe, in der sich die »Gemeinde Israels« ihrem Gott verbindet, so daß auch sie sagen darf: »Ich schlafe, und mein Herz wacht« (5,2), »Ich gehöre ihm, der mich liebt, und er, der mich liebt, gehört | mir« (6,3), »Stark wie der Tod ist die Liebe, mächtig wie die Tiefe ist ihr Eifer« (8,6). Im Namen des Gleichnisses, gleichsam als heilige Lieder, sind diese Lieder in die Bibel eingereiht worden und wurden dann auch in den Gottesdiensten eingefügt; sie werden an dem Frühlingsfeste, dem Feste der Freiheit gelesen. Damit sind sie in das Leben dieses Volkes eingetreten, als die Lieder von der Liebe wohnen sie hier. Im Namen der Geschichte, als das Buch von der Stammutter Davids, des Gesalbten Gottes, von der Moabiterin Ruth, die mit Naomi, die ihr zur Mutter geworden, nach Bethlehem-Jehuda gekommen war, »sich zu bergen unter den Fittichen dessen, der ist, des Gottes Israels« (2,12), steht dieses Buch, dieses wundersame Idyll, in der Bibel; auch im Gottesdienst, am ersten Erntefeste, dem Feste der Pfingsten, hat es seinen Platz. Jahr um Jahr soll es die Gemüter anrufen und ihnen erzählen, wie Mann und Frau einander zu erahnen beginnen und dann einander finden und besitzen. Daß diese zwei kleinen Bücher, acht Kapitel das eine, vier Kapitel das andere, in der Heiligen Schrift waren, meinte nichts Literarisches bloß. Sie waren heilige Bücher, sie wirkten so auch dadurch, daß sie in der Sprache des Buches, in der Heiligen Sprache gelesen werden. Sie konnten so niemals alltäglich oder gewöhnlich werden. Eine Atmosphäre des Sabbatlichen, des Feiertäglichen war um sie gebreitet. Die ganze Natürlichkeit sowohl wie die ganze Keuschheit,
138
die in ihnen ist, konnte sprechen, kein Nebenton, aus einem Niedrigen hervor, sollte aufsteigen. Ein »heiliger Geist«, wie das alte Wort es sagt, wollte sich in ihnen offenbaren – der Schutz gegen Kanaan.
Als Boden gemeinsamer Reinheit hat dieses Land ein Boden gemeinsamer Freiheit, freien menschlichen Zusammenlebens werden können. Man vergißt oft die puritanische Wahrheit, | daß nur ein Land der Sauberkeit für die Dauer ein Land der Freiheit sein kann. Das Land selbst als Platz der Menschen ist damit zum Gebote geworden. Die soziale Aufgabe oder, was dasselbe meint: die soziale Gemeinschaft ist so erfaßt worden. Während überall sonst der Boden dem, der ihn besaß, nur zu sagen schien: »du hast«, sprach er hier zu ihm: »du sollst«. Er sprach zu ihm von dem Gottesgesetze, das das Land zum Lande Gottes macht. »Ihr sollt Freiheit ausrufen in dem Lande für alle, die es bewohnen« (Lev. 25,10), das ist hier das Wort Gottes vom Lande. Nicht Ziel der Macht, nicht Mittel der Beherrschung darf das Land werden. Ebensowenig wie der Mensch darf der Erdboden versklavt sein, versklavt dadurch, daß sich die Besitzesgier oder die Unbändigkeit der Gewalt seiner bemächtigt oder die Rücksichtslosigkeit ihn ergreift und ihn aussaugt. Nicht der Mensch hat ihn hergestellt, sondern Gott hat ihn geschaffen. Gott hat ihn gegeben, damit Menschen auf ihm zusammenleben. Der Anspruch der Gemeinschaft ruht immer auf ihm. Nicht in das Kapitel vom Besitz, sondern in das vom Menschenrecht gehört der Boden vorerst hinein; das Motto ist hier: »daß dein Bruder mit dir lebe« (Lev. 25,36). Das Kapitel, in dem dieses Wort vom Bruder steht, beginnt mit dem Satze: »Es sprach Er, der ist, zu Moses auf dem Berge Sinai also«, und endet mit dem Worte gleicher Feierlichkeit: »Ich bin der, der ist, euer Gott.« Dieses Kapitel enthält die Grundsätze einer Verfassung für den Boden; wahre Verfassung muß von ihm sprechen. Als die Menschen dieses Landes später von ihm fortziehen mußten, haben sie den Grundgedanken dieser Verfassung mitgenommen; er schuf ihnen überall den Boden für eine menschliche Gemeinschaft. Ihre Gemeinden, in denen sie sich eine Heimat bereiteten, waren oft von der Welt abgeschlossen, und die Mauern der Enge waren um sie gezogen. Aber hier drinnen lebten Menschen in Freiheit miteinander, in einer menschlichen Freiheit, ohne | welche politische und bürgerliche Freiheit sich nicht erfüllen. Hier lebten sie in der Dynamik und der Weite sozialen Denkens. Keine Schranke konnte den Weg versperren, den die alte Verfassung wies. Man blickte um sich, drinnen und nach draußen, und wußte, daß Elend und Armut der
139
163
164
165
große Vorwurf gegen die menschliche Gesellschaft sind, daß sie der Gemeinschaft die Aufgabe zeigen, die noch zu erfüllen ist. Als dann die alten Gassen verlassen und die großen Straßen der Welt wieder betreten wurden, als man nun nicht nur mit seinesgleichen zusammenlebte und zusammendachte, hat überall in den neuen Verhältnissen und den neuen Beziehungen der alte Geist dafür gearbeitet, dem Sozialen neue Formen und auch neuen Inhalt zu geben. Sicherlich hat es in diesem Volke immer und überall auch Raffgierige und Habsüchtige und Mißgünstige gegeben, Menschen mit dem »bösen Auge«, wie das Wort des Talmuds sie nennt. Und wie die Tugenden, so haben hier die Fehler ihre eigentümlichen Züge oft ausgeprägt. Aber auf das Ganze hin gesehen, waltete hier die Bereitschaft zur sozialen Pflicht, und sie entfaltete sich hier mehr, und auch nach anderen Grundsätzen und in anderer Weise, als meist sonst in der Welt. Man hat sich hier selten, weit seltener als anderswo, vom eigenen Besitze in Ketten schlagen lassen. Besitzen meint hier zugleich: helfen können. Ein Beispiel zeigt den charakteristischen Zug auf. Das alte Religionsgesetz, welches das tägliche Leben und Zusammenleben auch in seinen kleinen Einzelheiten ordnen will – eine abschließende Zusammenfassung hat es, in derselben Zeit, in der die katholische Kirche im Tridentinum ihr Lehrgebiet neu bestimmte, in dem Buche »Schulchan Aruch« durch den großen Juristen und Mystiker Josef Karo erhalten, der vier Jahre vor der Vertreibung der Juden aus Spanien in Toledo geboren war, der wandernd die Not der Fremde erfahren hatte, bis er in Saphed im Lande Galiläa eine Heimat | fand –, dieses Religionsgesetz nimmt es wie ein Selbstverständliches an, daß ein jeder in diesem Volke einen Zehnten dessen, was das Jahr ihm einbringt, den Bedürftigen zuteile. Nur nach einer anderen Seite hin meint es, eine Grenze einzeichnen zu sollen: nicht mehr als zwei Zehnten sollte einer fortgeben, damit der berechtigte Anspruch der Familie nicht beeinträchtigt sei. Es ist hier wohl immer wahr geblieben, was dieses Volk in alter Zeit gern von sich aussagte, daß seine Menschen »Barmherzige, Kinder von Barmherzigen sind«. Die sittliche Fortpflanzungskraft blieb. Die alte Verfassung behielt ihre zeugende Fruchtbarkeit. Wieder zeigt es sich, wie der Geist das Leben und seine Beziehung durchdringt. Auch der Erdboden, so könnte man fast sagen, ist vergeistigt worden. Das Instrument des Geistes, die Sprache – und durch die Sprache wird die Folge oft zum Grunde –, konnte den Weg dahin lenken. In ihr ist ein Eigentümliches, ein kaum Übersetzbares: Das Wort »Mensch« und das Wort »Boden« sind Formen eines und desselben Wortes; adamah ist der Boden, adam ist der Mensch.
140
In dem Worte »Erdboden« wurde so das Menschliche gehört, und in dem Worte »Mensch« erklang der Laut der Erde. Aber zugleich wurde ein anderes vernommen. Der Mensch ist aus dem, woraus alles ist, geworden, aber er ist doch nicht, was alles sonst ist. Aus dem Boden, der adamah, so ist es das alte Gleichnis, ist er »gebildet« worden, und zum Boden kehrt er eines Tages zurück (Gen. 3,19); aber Gott hat in ihn »eine Seele des Lebens« gegeben, »und es ward der Mensch zum lebenden Selbst« (2,7). Erdboden und Seele, zu einem geworden, gleichsam zweimalige Schöpfung in einem, das ist der Mensch. Er ist ein Körper, ein Erdhaftes, aber er ist auch ein Selbst, das Bewußtsein eines Ichs. Er hat im besonderen Sinne sein Leben durch Gott, ihm ist gegeben, daß sein Leben ein Leben vor Gott und mit Gott sei, auf Gott bezogen und vor | Gott verantwortlich, ein Leben in der Richtung zu dem Einen und dem Willen zu dem Einen. Im »adam« hat die »adamah« ihre Erfüllung; in ihm gewinnt sie gewissermaßen ihre Sprache. Der Mensch auf seinem Boden, dieses menschliche und geschichtliche Problem spricht hier. Soweit im Menschlichen und Geschichtlichen ein Problem gelöst werden kann – mit jedem neuen Tage menschlicher Geschichte wird ja das Problem auch neu –, ist es hier vermocht: der Ausgangspunkt ist gezeigt und die Richtung gewiesen; so allein wird doch ein Problem lösbar oder, was dasselbe meint, fruchtbar. Die soziale Zuversicht, diese Zuversicht, die jeden aufruft und auf jeden vertraut, wird hier der Weg; auf ihm allein kann dieses Volk aufrecht vorwärtsgehen. Wo immer er beschritten wird, werden Individualität und Gemeinschaft verbunden. Besitz, irdischer oder geistiger, meint dann die Berechtigung und die Verpflichtung in einem, er meint die innere, wesentliche Einheit, nicht nur eine Verknüpfung dieser beiden. Die Freiheit im Besitze ist hier entdeckt worden. Man könnte auch sagen: die Einheit des Grundes wurde hier erkannt. Der Grund, der den einen zum Menschen des Besitzes macht, setzt den anderen als Mitmenschen des Besitzes ein. Von dem ewigen Gott, dem der Erdboden gehört, auf dem sie alle wohnen, kommt wie das Recht dieses einen so das jenes anderen. Nur im Buche dieses Volkes konnte das Wort stehen, das im Namen Gottes gesprochene: »das Recht der Armen Meines Volkes« (Jes. 10,2); wie zu einem religiösen Begriff ist solches Wort geworden. Hier wurde das große Wehe ausgerufen über die Sünde gegen den Erdboden: »Wehe ihnen, die da reihen Haus heran an Haus, Feld an Feld rücken, bis nichts an Stätte mehr ist – ihr allein wohnen gelassen [ansässig] – drinnen im Lande« (Jes. 5,8). Wie lebendig dieser Satz immer weiter sprach, läßt jener volkstümlichste Erklärer der
141
166
167
168
Bibel, Raschi, uns vernehmen. Sein Kommentar sagt: »Das Wort ›Wehe‹ meint Unheil: Unheil, | das eines Tages hervorbrechen wird; ›ihr allein wohnen gelassen drinnen im Lande‹, das meint: ›ihr sinnet darauf, daß dem Heiligen, gelobt sei Er, und dem Armen kein Anteil am Lande bleibe; Raub an Gott und Raub an dem Armen begeht ihr.‹« In diesem Volke und zu diesem Volke konnte so gesprochen werden. Auch hierdurch hat sich Lebensstil, Existenz geformt. In diesem Lebensstil verwoben sich Freude am Besitz und Freude am Wohltun. Eine eigentümliche Poesie hat sich darin entfaltet, die Poesie der beschaulichen, stillen, alltäglichen Mildtätigkeit, ein Idyll des Liebeswerkes. Es hat seine werktäglichen Töne, und es hat, wenn die besonderen Tage kommen, sein sabbatliches und feiertägliches Erklingen. Das Idyll trat neben das große Pathos, das den von Gott verliehenen bleibenden Anspruch des Mitmenschen proklamiert hat. Hier wie dort hat die sittliche Phantasie, in der auch der Schlichte zum Künstler wird, diese wohl bezeichnendste der diesem Volke verliehenen Gaben, einen Bereich. Wie sie dort, in ihrem Pathos zu fernen, zu messianischen Gefilden hinzieht, so hat sie hier ihre traulichen Gassen und ihre stillen Winkel, die sie jeden Tag aufsuchen kann. Eine dichtende Einbildungskraft webte hier wie dort, aber hier wie dort war sie eine sittliche, sozusagen, eine gebietende Phantasie. Darum erging sie sich nie in sich selber nur. Der Weg von dem sinnenden Gedanken und dem warmen Gefühle bis zur bestimmten Handlung hin, dieser Weg, an dessen Anfang so viele Menschen stehen bleiben, ist gegangen worden. Das Messianische wurde nicht zur Utopie, da es auch in der Stunde schon beginnen sollte, und das Idyll wurde nicht zur behaglichen Selbstzufriedenheit, da es die Tür für den anderen und zu dem anderen hin öffnete. Die »Gesetzesreligion« bewährte sich; sie behütete davor, daß man der sittlichen Verpflichtung Genüge getan zu haben glaubte, wenn man von ihr sich erzählen ließ oder von ihr schwärmte. In der | Phantasie lebte das Du sollst, ganz wie das Du sollst die Weite der Einbildungskraft behielt. Die Seele blieb vor der Ichsucht bewahrt. In das alles klang dann auch das erhabene Wort hinein von dem einen Gotte, der alles geschaffen hat und alles gibt. Was das Buch der Chronik den König David betend sagen läßt: »Denn von Dir ist alles, und aus Deiner Hand geben wir Dir« (I. Chron. 29,14), was dann einer der alten Lehrer zur Mahnung geformt hat: »Gib Gott von dem, was sein ist; denn du und was dein ist, sind doch sein«, das blieb ein Thema, immer neu abgewandelt im Gebete und in der Sitte. Die Poesie des Wohltuns ist ein Stück der Lebenspoesie dieses Volkes. Hier hat seine Existenz eine ihrer Wurzeln; in der
142
Prosa müßte dieses Volk untergehen. Aus den Satzungen von dem Erdboden, der alle trägt, von »deinem Bruder, der mit dir leben soll«, aus diesen Satzungen von der »adamah« und dem »adam« sind hier, und dann vielerwärts, nährende Säfte in Poesie und Kraft des Lebens geflossen.
In solcher Poesie konnte das Land seelisch zu eigen genommen werden. Aber es mußte durch die arbeitende Hand gewonnen worden sein. Erwerb und Besitz sind in diesem Lande, wenn sie nicht nur den Menschen und den Boden rasch berauben wollen, schwer gemacht. Die alte Erzählung läßt ängstliche Leute sagen: »Ein Land, das seine Bewohner aufzehrt, ist es« (Num. 13,32). Doch von ihm sicherlich gilt das Wort, mit dem die Geschichte der adamah begann: »Dorn und Distel wird sie dir wachsen lassen ...; im Schweiß deines Angesichtes wirst du Brot essen« (Gen. 3,18-19). Schon die Gegensätze des Klimas, die in dem schmalen Bereiche zwischen Wüste, Schneeberg und Meer eng beieinander ihren Raum suchen, greifen hart nach dem Menschen, der hier seinen Platz haben will. Und täg|liches Brot ist hier täglicher Kampf: Kampf um den Boden, der vielfach in Gebirge und Gestein gefügt ist, den die Regengüsse im Frühjahr und Spätjahr bald fortzuschwemmen, bald in Sumpf zu verwandeln drohen; Kampf mit dem Wuchernden, dem Gestrüpp und der Nessel; Kampf gegen das Fressende, gegen das Ungeziefer und die Mäuse, gegen das Getier und die Heuschrecken. Es ist ein Land, das sich seinen Menschen nicht schenkt. Der Hände Werk heißt hier »die Mühe deiner Hände« (Ps. 128,2 etc.), Haus und Habe sind hier »Haus und Mühe« (Neh. 5,13) genannt. Ein Volk, in dem sittliche Kräfte geweckt worden waren, konnte hier ein Volk der Arbeit in der Freiheit werden. So wie selten einmal – die alten Römer, ehe Sklaventum und Latifundien sie verdorben hatten, können zum Vergleich herangezogen werden – ist hier der Bund zwischen Arbeit und Freiheit geschlossen worden, so daß die Arbeit nicht Schranken aufrichtet, sondern Schranken niederlegt, Menschen nicht scheidet, sondern zusammenführt, nicht ein Herrentum und ein Knechtestum schafft, sondern in gemeinsamer Aufgabe auf gleichen Boden stellt. Arbeit ist hier der allen aufgetragene Dienst an der Schöpfung Gottes. Sie ist, wie Josua ben Sirach sie nannte, »das, was von Gott zugeteilt ist« (7,15). Schon die alte Erzählung vom ersten Menschen hatte es so gesagt: »Den Garten, den Gott gepflanzt hat«, sollte der Mensch »bauen und wahren« (Gen. 2,8.15). Man könnte in der Sprache dieses Volkes es auch so ausdrücken:
143
169
170
171
Arbeit ist der Bund des Menschen mit den Kräften der Schöpfung. Aller Segen hienieden kommt von einem Bunde her. Eines auch hat die Arbeit des Freien, für die dieses Volk in diesem Lande auferzogen wurde, ihm gegeben: einen gesunden Körper und damit eine Kraft zur körperlichen Wiedergeburt. Die Geschichte erzählt von zugrundegegangenen Völkern, sowohl von denen, die seelisch abstarben, den degenerierten | Völkern, wie von denen, die körperlich abstarben, den ruinierten Völkern. Solches Schicksal haben Wahn und Macht, mit wechselnden Mitteln, bisweilen diesem Volke bereiten wollen. Aber dieses Volk hat alles überdauert und, was mehr noch ist, überwunden. Es hat das vermocht vorerst durch die Gesundheit der Seele, diesen Bund mit dem Schöpfer. Aber es hat das vermocht auch durch die Gesundheit des Körpers, diesen Bund mit der Schöpfung. Man hat seine Menschen vom Boden, vom Licht und von der Luft abzusperren versucht, und als ein Wunder dünkt es, wie sie gesund geblieben sind, gesünder, zäher und langlebiger als ihre Bedrücker, und wie sie, wenn sie in der Helle wieder atmen durften, in einer Wiedergeburt auch des Körpers die Spuren der Abgeschlossenheit überwunden haben. Und wie ein Wunder fast ist auch, daß diese Menschen selbst in Zonen, die in dem Einwanderer rasch die Kraft des Körpers versiegen lassen, für die Dauer leben konnten und Kinder und Kindeskinder sahen. Etwas noch, und auch das ist ja eine Gesundheit, hat das Volk auch in dem Lande gelernt: ein großes Vertrauen zu hegen. Überall ist das Vertrauen die Seele der Arbeit, besonders noch der des Akkerbauern. Der Ackersmann erfährt die Zeit; er weiß von dem, was der griechische Dichter »Werke und Tage« genannt hat; er kennt diesen jährlichen Rhythmus der Pflicht, in dem der Weg von der Saat zur Ernte führt. Aber ebenso kennt er das, was darüber hinaus Gabe und Gnade ist, was ohne des Menschen Zutun kommt. In diesem Lande der Gegensätze konnte das eine wie das andere stark erlebt werden: jener Segen der Mühe und dieser Segen der Huld, das, was auf die Arbeit des Menschen wartet, und das, was keine Arbeit erzwingt. Der Ruf zum großen Fleiß wie der zur großen Hoffnung konnte gehört sein. Wie das zum Menschen sprach, so sprach es vom Menschen; es wurde zum Gleichnis von seinem Leben. Besonders Tau und | Regen sind zum Symbol geworden, an dem die große Hoffnung etwas wie ein Gesetz ihres Rechtes fand. »Es wird der Überrest Jakobs inmitten vieler Völker sein wie Tau von Ihm, der ist, wie Regenguß auf Gras, der nicht wartet auf einen Mann und nicht harrt auf Menschenkinder« (Micha 5,6). Durch die Geschichte dieses Volkes, diese Ge-
144
schichte einer Sehnsucht, zieht sich der Glaube hindurch, daß nichts ein Endgültiges sei, daß ein Leben seine Wiedergeburt, seine Auferstehung haben kann. Ein frischer Tau wird es wieder benetzen: »Wie Tau, in dem Lichter strahlen, ist Dein Tau« (Jes. 26,19). Zu allen Völkern, die Ackerbauer geworden waren, begann der Acker zu sprechen. Magische Mächte schien die Tiefe zu bergen, aus der das Saatkorn seine Kraft des Wachsens und des Reifens empfängt. Götter der schwarzen Welt drunten, die zum Lichte hinauftrachten, so glaubte man, ließen das, was der dunkle Boden hütet, zur Sonne aufsteigen. Sie würden auch den Menschen, der sich ihnen hingebe und mit ihnen verbinde, der sich gleichsam in sie einsäe, in der Finsternis der Tiefe reifen und zu einem Lichte emporwachsen lassen, damit er sein Leben habe. Alle Mysterienkulte stammen daher. Phantastik und Denken haben sich in ihnen oft und mannigfaltig zusammengefunden. Es ist für dieses Volk kennzeichnend, wie arm es an solchen Bildern vom Leben nach dem Tode fast immer gewesen ist und hat sein wollen. Gegenüber dem einen Gotte war auch für diese Bilder kein Platz. In den vierundzwanzig Büchern der Bibel steht kaum ein Wort, an dem eine Spekulation vom Jenseits oder ein Mysterienkult sich nähren könnte, und von dem Schrifttum, das ihnen folgte, gilt dieses im wesentlichen auch. Man hat darin bisweilen einen Mangel gefunden. Aber er wäre dann der Mangel, der in einer Furchtlosigkeit gegenüber einer kommenden Welt liegt. Aus dem großen »Ich bin der, | der ist – du sollst« erwächst die große Furchtlosigkeit; denn des Gebotes Kehrreim ist: »Fürchte dich nicht, denn Ich, dein Gott, bin bei dir«, »Wer bist du, daß du dich fürchtest!« Wie das Gebot kategorisch ist, so ist diese Furchtlosigkeit eine kategorische; sie meint die große Anerkennung des Einen. Beides entspringt dieser großen Anerkennung: der Wille zum Gebote, der zu diesem Leben und dieser Erde hingelenkt ist, und der Wille zum Geheimnis, der zum Verborgenen hinzieht und als das Verborgene es verehrt. Das Geheimnis, das eine, soll das eine Geheimnis bleiben und durch keinen Bilderdienst, auch nicht durch Bilder eines Jenseits, Bilder kommender Bestrafung und Belohnung verdrängt werden. Aus dem Sinn für Geheimnis darf nicht eine Phantastik gemacht sein. Manches Kapitel der Religionsgeschichte könnte überschrieben werden: das verstoßene Geheimnis. Eine Keuschheit spricht aus diesem Willen zum Geheimnis – alle Unkeuschheit beginnt mit der Ehrfurchtlosigkeit gegenüber dem Geheimnis. Nur wo diese Keuschheit waltet, konnte ein Wort gesprochen werden wie das des Simon ben Asai, ein Wort, dessen Schluß dann Spinoza in den Schluß seiner »Ethik« eingefügt hat: »Eile hin
145
172
173
zum Gebote, mag es auch ein geringes sein, und halte dich fern von der Sünde« – ein Gebot kann groß und klein sein, aber Sünde ist immer die Sünde -; »denn ein Gebot zieht das andere zu sich und eine Sünde die andere; so ist der Lohn für das Gebot das Gebot, und die Strafe für die Sünde ist die Sünde.« Dieses Volk ist so das Volk des einen Geheimnisses und der vielen Gebote geworden: »der Heilige, gelobt sei er, hat Israel zum Rechten führen wollen, darum hat er ihm der Lehre und der Gebote viele sein lassen«, das ist hier ein gern gesprochenes Wort, der Refrain alles »Lernens«. Vielleicht konnte bisweilen etwas wie ein Zug zu einer Vielgeschäftigkeit dadurch in das religiöse Wesen hineinkommen, aber es blieb dafür vor so manchem bewahrt, und bewahrt | auch vor der Phantastik, die fromm zu sein vermeint, wenn sie in einem Himmel und in einer Hölle Bescheid weiß. Erlebnis und Nachdenklichkeit haben in dieser »Diesseitigkeit« nichts von ihrer Weite verloren. Vermöge ihrer hat sich vielmehr die Harmonie der Welten aufgetan, die große Naturpoesie ist lebendig geworden. Während sonst von der antiken Dichtung das Einzelne in der Natur ergriffen wurde, ist hier das Ganze, das Kosmische, und dann alles Einzelne aus ihm hervor, erfaßt worden. Ein universeller Geist wie Alexander von Humboldt hat zuerst hierauf hingewiesen. Alles spricht hier von dem Einen, läßt seine Offenbarung, die Offenbarung des einen Geheimnisses vernehmen; es gibt hier keine geschiedenen Reiche in der Welt, keine »Herrschaften«. Die Melodie des Alls, dem ein jedes zugehört, wird laut: »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und das Werk seiner Hände verkündet das Firmament. Tag läßt dem Tag Rede zuströmen, und Nacht zeigt der Nacht Kunde an« (Ps. 19,2). Die Diesseitigkeit, die Arbeit des Menschen gewinnt hierin gewissermaßen ihren kosmischen Klang; in die sechs Tage, die ihr zugewiesen sind, tritt etwas von dem Gleichnis des Schöpfungswerkes ein. Menschenleben und Weltendasein kommen zusammen. Zwei aneinandergefügte Psalmen, beide beginnend und beschließend mit den Worten, die alles besagen wollen: »Preise, meine Seele, Ihn, der ist«, haben dieses Thema. Wie in einem Satze ohne Ende singt der eine davon, wie Gott sich im unendlichen Erbarmen offenbart, wie alles sich in einer Liebe, die »von Ewigkeit zu Ewigkeit ist«, eint. In Strophe um Strophe, die sich aneinander reihen und ineinander greifen, singt der andere, wie Welt um Welt, Bereich um Bereich sich in der Schöpfung einen: wie das Wasser gebannt und der Boden gegründet worden und wie ein Gesetz sie wieder verbindet, damit alles, was lebt, seinen Platz und seine Nahrung habe; wie in
146
Sonne und Mond und in Tag und Nacht die Satzung ist und | Weg und Ordnung in allem walten, was sein Dasein hat; wie ein Anfangen und Wachsen und Enden, ein Vergehen und Neuwerden die Fülle schafft – »wie viel sind deine Werke, Du, der du bist«. Und in der Mitte dieser Strophen steht der Vers: »Hinaus geht der Mensch zu seinem Werke und zu seiner Arbeit, bis Abend ist«. Arbeit des Menschen ist ein Teil des Gesetzes in der Welt (Ps. 103 u. 104).
Auch die Ruhe ist ein Element und ein Ausdruck dieses Gesetzes. Der Tag der Ruhe ist in diesem Volke die heilige Stätte in der Woche geworden, der Tag, durch den sich die Menschenseele zur Sphäre des Seins emporhebt. Er vollendet; eine Harmonie ist durch ihn geschaffen. Er ist der von Gott herabgesandte, den Menschen zu Gott aufrichtende Tag. »Sechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk tun, und der siebente Tag ist ein Sabbat für Ihn, der ist, deinen Gott« (Ex. 20,9-10). Der Mensch bringt einen Tag gleichsam Gott dar, er weiht Gott etwas von dem, was er durch Gott empfangen hat, und gibt damit sich selbst eine Weihe. Gabe und Gebot, Gnade und Forderung sind auch hier eines. Die Weihe hat so ihren Boden auf dieser Erde gefunden; die Hoheit des Innehaltens, die Vornehmheit der Stille ist erfahren worden, sie wurde hier entdeckt. Ein Adel ist zum Gebote geworden und damit zur Gemeinsamkeit – ein Adel für alle. Es gibt keinen Sabbat, der nur einem Einzelnen oder einigen Wenigen gehört. Wie ein Volk der freien Arbeit, dieser Gemeinschaft in der Arbeit, so soll dieses Volk ein Volk der freien Ruhe, dieser Gemeinschaft in der Ruhe werden. Es gibt – diese Worte in ihrem echten Sinne genommen – kaum etwas, was so aristokratisch und so demokratisch zugleich ist wie der Sabbat. Man könnte auch sagen: in ihm will das Geniale, die Kraft, Offenbarung zu empfangen, von der etwas in allen ist, sich | auftun. Zu einer Welt der Harmonie, zu dem großen Frieden, zu dem, was oberhalb des Irdischen ist, weist er hin und reicht er hin. In der Idee, die er kündet, ist daher die Gleichniskraft. Er ist ein Wegweiser vom Menschen zu Gott hin: »Zwischen Mir und den Kindern Israel ist er ein Zeichen für ewig« (Ex. 31,13.17). In ihm ist die Bewahrung vor der bloßen Diesseitigkeit, die Rettung aus einer Stetigkeit des Alltäglichen, das auf den Menschen eindringt, der Schutz gegen die Profanität, sei sie die der Hast oder die des Müßigganges. Sabbat bedeutet kein bloßes Nichtarbeiten, kein leeres Müßigsein, sondern er besagt ein Positives. Er hat die Seele gelenkt, hin zu
147
174
175
176
ihrem Geheimnis. Er ist so nicht ein Tag, der nur unterbricht, sondern ein Tag, der erneut, ein Tag, der seine eigene Welt hat; in ihm spricht nicht ein Bürgerliches bloß, sondern ein Ewiges will hier sprechen. Er ist Ausdruck einer Lebensrichtung und nicht ein eingesetzter Rasttag nur. Wäre er das bloß oder würde er dazu, so wäre ihm sein Wesen genommen; eine hohle Schale wäre dann nur da. Die Frage, ob Religion im Leben wohnt, ist in ihm deutlich gestellt. Auch zum Lande sprach er damals. Wie er alle auf ihren Plätzen, die oft unterschieden sind, Mann und Frau, alt und jung, Herrn und Knecht und Magd und Tier umfassen will, so auch den Boden. Der Boden auch, er mit seinem langsameren Dasein, in seinem stilleren Schaffen soll innehalten; in jedem siebenten Jahre soll er sich gehören. Gewiß, alte Erfahrung davon, daß dem Acker, dem Weinberg nicht dauernd seine Kraft, wenn sie nicht erschöpft werden soll, abgefordert werden darf, redete hier. Aber das Eigentümliche dieses Volkes ist, daß in allem, was es erfuhr, sich ihm die Idee offenbarte, die Idee mit ihrer Weite und ihrem Gleichnis, mit ihrem Gebot und ihrer Verheißung. Auch aus der Erfahrung vom Boden sprach sie zum Menschen von dem, was sein soll und sein wird. Mit keiner Prosa sollte sich dieses Volk begnügen und vor keiner | Nützlichkeit kapitulieren. Ihm, wohl keinem anderen, hat das Wort gesagt werden können: »Wenn ihr in das Land, das ich euch gebe, kommen werdet, so soll das Land einen Sabbat für Ihn, der ist, haben« (Lev. 25,2). Alle Mysterienphantastik war mit diesem Satz überwunden. Wie der Mensch der Mensch Gottes ist, so das Land das Land Gottes, des Einen, der ist. Die Idee vom Lande hat hier gesprochen; dem Lande wie dem Menschen kommt der Sabbat zu. Als das Volk von dem Lande fortging, hat es seinen Sabbat mitgenommen. Woche um Woche hat er dem Volke, auch in Bedrängnis und Unstetigkeit, eine adlige, von allem Gewöhnlichen geschiedene Lebensstätte bereitet. Wie zum Danke hat dieses Volkes Geist, der gern zu Ende denkt und will, ihn umfaßt. Bis ins Letzte und Kleinste hinein sollte in diesem Tage, von Abend zu Abend, die Ruhe walten, damit jedes Herabziehende gebannt und der weite und hohe Raum für die Seele gegeben sei. Es ist eine alte Dichtung, daß dieses Volk und der Sabbat zusammengehören. Woche um Woche, so sang später der Dichter aus dem mystischen Kreis von Safed, empfangen sie beide einander neu, um in ihren Bund einzutreten. Ohne den Sabbat hätte dieses Volk nicht leben können und könnte es nicht leben; es müßte ohne ihn aufhören, das zu sein, was es ist, was es sein soll. Wenn er sich verflüchtigt oder verliert, dann ist dieses Volk davon bedroht, daß es alltäglich oder gemein werde. Trennte es sich von
148
ihm, so enteignete es sich selber. Am Anfang seiner Geschichte steht mit Grund das Wort: »Sehet, daß Er, der ist, euch den Sabbat gegeben hat« (Ex. 16,29). Er hat von diesem Volke her seinen Weg durch Länder und Zeiten genommen. Wie dieses Volk von ihm gesegnet ward und gesegnet bleiben soll, so hat er die Völker gesegnet, denen er zum Besitztum geworden ist. Er hat auch in ihnen seine Geschichte. Es will oft scheinen, als schieden sich Völker darin, | ob und wieviel sie von seinem Geiste, von seinem Gebot zu eigen genommen haben. Und es will auch bedünken, als öffnete auch er ein Tor zu diesem Volke hin. Wo er begriffen ist, wird dieses Volk verstanden. In die Weltgeschichte ist auch das Land, das diesem Volke angelobte, eingetreten. Es ist den Erinnerungen, den Wünschen und den Hoffnungen vieler Völker zugehörig geworden, und wie das Erbe der Wahrheit, so haben sie das Erbe dieses Landes dem Volke aberkennen wollen. Aber es ist in seinem Eigentum geblieben, denn seine Seele hat an ihm festgehalten. Diese Menschen haben nie aufgehört, in ihm innerlich zu leben. Sie haben von ihm gebetet, an ihm sich erbaut, mit seinen Pflanzen und seiner Frucht haben sie Jahr um Jahr das Erntefest gefeiert. In dem, was ihm verheißen war, hat ihre Sehnsucht die Ernte der Hoffnung, die sie gesät hatten, erahnt. Eine Verschiedenheit der Töne und Akzente läßt sich hier im Gange der Jahrhunderte vernehmen; aber selten ist das Land zur bloßen Vergangenheit geworden und selten auch nur Zukunftstraum gewesen. Fast immer hatte es eine seelische Gegenwart, eine Unmittelbarkeit zum Gemüte. Andacht und Wille umfaßten es in gleicher Weise; zwei starke Gedanken, der der Geschichte und der der Freiheit, kamen in solcher Treue zusammen. Es gibt kaum ein zweites Beispiel solch beständiger und standhafter Treue eines Volkes gegen den Boden, auf dem seine Jugend und seine Eigenart aufgewachsen waren, kaum ein anderes Beispiel dafür, wie ein Volk, körperlich von dem alten Lande getrennt, seelisch mit ihm verbunden bleibt und seelische Kraft aus ihm zieht. Es war eine Treue, die sich nicht fürchtet, treu zu sein, die sich nicht scheut, im Symbol auch eine Wirklichkeit mit ihren Forderungen zu sehen, und darum in jeder Wirklichkeit ein Symbolhaftes auch, etwas, das über sie hinausweist, zu erkennen. | Vielleicht ist die Treue der entscheidende Charakterzug in diesem Volke, und in allem Menschentum ja auch. Man könnte sagen: so wie Treue die große Versöhnung von Ich und Du ist, von Ich und Du zweier Menschen, so ist sie die große Versöhnung von Ich und Du der Gruppen, der Völker, der Gesamtheiten, die große Versöh-
149
177
178
179
nung von Verschiedenheiten und Gegensätzlichkeiten, und so auch die große Versöhnung schließlich von dem Ich und Du, in denen Idee und Tatsächlichkeit einander ansprechen. Treue gründet sich nicht auf Gleichheit. Sie ist an dem, was anders ist, zu bewähren, sei dieses andere nun im Menschen selbst, so daß die Treue gegen sich selbst von ihm gefordert ist, sei es, daß das andere uns in Menschen und Gemeinschaften neben uns, oder auch gegen uns, gegenübertritt und an ihnen eine Treue zu beweisen ist, sei es, daß das andere über uns ist, ein Heiliges, dem wir in allem Wandel treu bleiben sollen. Voraussetzung ist nur, daß dieses andere ein echtes anderes ist, etwas ist, was vor Gott bestehen kann. Darum ist das letzte Ziel in aller Menschheitshoffnung nicht eine Gleichheit aller, sondern eine Treue aller gegen alle, die Treue im Angesichte Gottes. Damit schafft die Treue eine Einheit, die einzige Einheit, die es in der menschlichen Sphäre wahrhaft geben kann und geben darf. Sie ist der lebendige menschliche Beitrag zu dem Bunde, den, wie das wundersame unausschöpfbare Gleichnis sagt, Gott mit dem Menschen geschlossen hat. In seinem Bleibenden, Ewigen heißt der Bund: Gesetz; in seinem Menschheitlichen, seinem in Zeit und Raum Gebundenen heißt er: Treue. Die Treue ist das Ebenbild des Gesetzes. Durch sie trägt der Mensch ein Dauerndes, Beständiges in die irdische Vergänglichkeit hinein. Durch sie versöhnt er die Einzigartigkeiten und Einmaligkeiten. Man könnte auch sagen, daß ein Dreifaches im Menschen erwachsen will. Das Wissen zuerst um eine Besonderheit, um | eine Einzigartigkeit, eine Einmaligkeit, um diese persönliche Gnade, diese Gottesebenbildlichkeit durch das Persönliche – und das ist doch das Tiefste und Letzte alles Erlebens. Das Bewußtsein sodann, in jedem Tage eine Antwort geben zu können, eine Antwort aus dieser Individualität hervor, diese eigene, persönliche Antwort an Gott – und das ist doch das Letzte und Tiefste aller Freiheit. Die Gewißheit schließlich, daß über allen Widersprüchen ein Ewiges ist, so daß der Mensch von Gott sein göttliches Wort, Gottes Antwort gleichsam, erwarten darf, so wie Abraham und Hiob, wie Moses und Elijahu und Jirmejahu und die Frommen aller Zeiten betend ihrer harrten – und das ist doch das Letzte und Tiefste aller Hoffnung. Und dieses Dreifache ist in seiner Wurzel eines. Es ist die große Treue: die Treue gegen den Grund unseres Lebens, die Treue gegen das Gebot, das jeden Tages zu uns spricht, die Treue gegen das, was von uns ausgeht, was werden und weiterreichen soll. In der Sprache dieses Volkes sind Treue, Wahrheit und Glaube ein und dasselbe Wort. Denn diese drei sind in ihrem Grunde auch und
150
in ihrem Ausdrucke eines und dasselbe. Sie sind untrennbar. Der Mensch kann weder das eine ohne das andere haben, noch das eine ohne das andere sein. Sie erzeugen einander: Wahrheit und Glaube kommen aus einer Treue hervor, und alle Treue wird wieder zur Wahrheit und zum Glauben. Und lebendige Kraft steigt in ihnen auf, wenn sie aus der Treue gegen Gott aufwachsen. Davon spricht auch die Existenz dieses Volkes so wie sie war und blieb und wie sie sein soll. Der Bund Gottes ist hier das Prinzip, die Verbindung von Anfang und Ziel. Die innere Freiheit, die des Auszuges auch um Gottes willen, damit sein Gebot bestehe, das ist hier die große Möglichkeit, sie gibt Wahl und Weg. Offenbarung Gottes, des Unnennbaren, das ist hier die Wiedergeburt, in der das, was geworden, was ist und was | sein soll, eines werden. Wüste und Boden, das eine mit dem anderen, das ist hier die irdische Sphäre, das Kreisende mit seinen Polen, zwischen denen bleibende Bedeutung strömt. Nur was mit Gott sich verbindet, bleibt hier. Einer der alten Lehrer dieses Volkes hatte, in einer Zeit der neuen Fragen, das Wort gewagt: die Erschaffung des Menschen sei gewissermaßen das große Experiment Gottes, der Versuch, der unternommen ward, damit das große Vertrauen beginne. Das ist ein kühnes Wort, aber es führt in die Tiefe aller Existenz. Nur der starke Glaube konnte solchen Sprechens sich getrauen. Und nur ein Mann aus diesem Volke konnte so sprechen, aus diesem Volke, das immer wieder die Erwählung, dieses große Wenn, diese Probe Gottes auf sein Gebot, erleben durfte, erleben mußte. Denn das ist doch der Sinn der Erwählung: gleichsam das Experiment Gottes zu sein. Denn dieses Volk ist eine Frage von Gott. Es selber und darum auch die Menschheit, in die es hineingestellt ist, sollen die Antwort geben, Antwort an Gott. Vor ihnen steht es so, weil sie die Antwort vernehmen dürfen, die von Gott gekommen ist, die von der Läuterung, der Versöhnung, der Erlösung spricht. Von dem, auf den »Gott seinen Geist gegeben hat«, ist gesagt: »Ein geknicktes Rohr wird er nicht zerbrechen, und einen glimmenden Docht wird er nicht auslöschen« (Jes. 42,1.3). So ist es darum verheißen: das Getrennte wird geeint sein, das Gesonderte wird sich zusammen wissen, das Suchen und Versuchen wird von seinem Lohn, seinem Segen erfahren – »Liebe und Wahrheit finden sich, Gerechtigkeit und Friede umfassen sich« (Ps. 85,11). Der Bund wird dann alle umschließen und sie erneuern, die Freiheit dann alle anrufen und sie erwachen lassen, die Offenbarung dann ihren Himmel auftun und sie emporheben. »Und sühnen wird er über seinen Boden hin sein Volk« (Deut. 32,43). So ist es die Ant-
151
180
181
182
wort | Gottes, Antwort auf die Antwort des Menschen, gleichsam der Treue Gottes auch gegen das menschliche Denken, die Offenbarung des verborgenen Gottes. Die Verheißung spricht hier.
Der Mensch ist kosmisches Wesen, er ist es auch, und seit er denkt, und weil er denkt, sinnt er darüber nach. In ein Unendliches ist seine Stätte, ist auch seine Einöde hineingefügt, und er kann ihm nicht entrinnen. Seine eigenen Grenzen sind in diese Grenzenlosigkeit hineingestellt; Grenze und Grenzlosigkeit zugleich ist sein Dasein. Eine Geburt und ein Tod, ein Anfang und ein Ende bezeichnen hier seine Spanne, und sie sind doch inmitten einer bis ins Jenseits aller Weiten erstreckten Erstreckung. Sie sind drinnen in einem All. Und wie zu seinem eigenen Jenseits sich erhebend zieht des Menschen Geist hinaus, hinein in dieses All. Zu immer Neuem, Fernem und Nahem dringt er hin. Aber kein Ziel zeigt sich ihm, kein fernes und kein nahes. Wundersames erzählt ihm das All, und wie ein Wunder ist dieses sein Forschen und Sinnen. Aber die Antwort auf sein Leben hört er hier nicht, und niemals ist er hier gefragt. Nur die Welt des Gebotes und der Gnade ruft ihn auf und kündet seine Bestimmung. Sie richtet an ihn die Frage und heißt ihn antworten, sie läßt ihn fragen und gibt ihm die Antwort. Geheiß und Verheißung ist sie in einem, sie zeigt immer den Weg und weist das Ziel. Frage ist hier Antwort zugleich, und jede Antwort stellt zugleich die Frage, so wie die Gnade Gottes zugleich das Gebot verkündet, und das Gebot Gottes zugleich seine Gnade hat. Läuterung, Versöhnung, Erlösung, sie sind immer beides, sie sind der Weg und sie sind das Ziel. In einer Zeitenwende hatte der Prophet dies den »Trost« genannt, den Trost, der von Gott kommt. Geschichtliches, so wußte er, ist keine Endgültigkeit. Stärker als das alles ist dieser Trost, dieses Messianische. Er hatte das Wort Gottes vernom|men: »Ich bin, Ich bin der, der euch tröstet. Wer bist du, daß du dich fürchtest vor einem Menschen, der doch stirbt, vor einem von Menschen Geborenen, der wie Gras fortgegeben wird« (Jes. 51,12). Er wußte es, daß Trümmer und Staub und Asche kein Letztes sind, daß im Lebendigen ein Leben bleibt. Diesem Volke verkündete er es, dieses Gesetz seiner Existenz. »Sicherlich die Berge werden weichen und die Hügel wanken, aber Meine Liebe wird nicht von dir weichen, und der Bund Meines Friedens wird nicht wanken, so spricht, der sich dein erbarmt, Er, der ist« (Jes. 54,10). Das ist Gesetz und Gnade wie für dieses Volk, so für alle.
152
ZWEITES BUCH
153
154
Vorwort zum zweiten Buch
Als das Buch »Dieses Volk – Jüdische Existenz« seinen Weg zu Lesern zu nehmen begann, trat es zugleich vor seinen Verfasser wieder hin. Diese Begegnung hat Nachdenken geweckt. Von dem Werden einer Geschichte wollte das Buch sprechen, und Geschichte verstummt nie, ihres Fragens ist kein Ende. Und der Mensch selbst, zu dem sie geredet hat, ist niemals fertig. Auch ein Buch wird es kaum je sein, wenn es ein Stück von ihm selber ist. Den Grundkräften einer geschichtlichen Existenz hatte das Buch nachzugehen versucht. Jede ursprüngliche Kraft, die in Menschen ist, im einzelnen oder in der Gesamtheit, will einen Weg nehmen. Menschen bereiten ihn oder lassen ihn zunichte werden. So stellten, immer neu, sich die Fragen nach diesem Wege ein: Haben seine Menschen ihn gesehen und ihm seine Richtung bahnen wollen, oder haben sie an ihm vorbeigeblickt und ihn zuletzt verloren? Haben sie ihm die Gegenwarten, die Epochen gegeben und damit die Wegweiser zur Zukunft errichtet? – Fragen, die um dieses Volkes willen und doch auch um derentwillen, die zu ihm hinzuschauen bereit sind, eine Antwort heischen. So ist dieser zweite Band entstanden, in anderen Tagen als der erste, und doch in seiner Weise. Er ist ein Buch für sich und zugleich dem anderen zugehörig. Auch er spricht von »diesem Volke«, spricht von der »jüdischen Existenz«. Leo Baeck
155
156
I. Wachstum und Wiedergeburt
In Zeiten eines Jahrtausends, in dem Kommen und Gehen seiner Generationen, hat sich das Wachstum dessen allmählich vollzogen, was seitdem als jüdische Existenz in der Geschichte steht. Eine Form menschlichen Lebens war in die Menschheit eingetreten – Form, um Form zu erzeugen. Ein Jahrtausend hat seine gewundene Bahn und ist eine erstreckte Spanne. Manchem Volk umschließt es das Gesamte des geschichtlichen Daseins, vom Beginne bis zum Ende. Aber die Geschichte dieses Volkes besitzt das Gesetz des Besonderen. Sie hat ihren langsamen Schritt und dazu die Richtung zum Fernen, zum Kommenden. Schon ihr erstes, ihr Wachstum, setzte die Jahrhundertringe an. Nicht die Ereignisse mit ihrem Auf und Nieder, in ihrem Anprall und ihrem Zusammenbrechen verkünden darum hier, was Geschichte ist, sondern die Generationen sagen es. Jede neue Generation bedarf ihrer Zeit; denn sie soll von neuem ansetzen. Sie bedeutet eine neue Möglichkeit, die sich eröffnet. Von ihr hängt mehr ab als von den Geschehnissen. »Toldot«, »Generationen«, das ist das alte biblische Wort für die Geschichte. »Von Geschlecht zu Geschlecht«, so ist der Gang der Geschichte benannt. Eine Gabe, in der sich Künstlerisches mit Sittlichem eint, eine Erschlossenheit, durch die gleichsam ein Tropfen aus der | Ewigkeit in ein Menschliches hineingelangt, eine Fähigkeit, so selten in Menschen und so selten in Völkern, ist diesem Volke durch sein langsames Wachstum zu eigen geworden. Es ist die Fähigkeit, Zeit zu haben. Es ist nicht nur eine alte Einrichtung, sondern es ist ein Zeugnis einer ursprünglichen Kraft, eines ebenso künstlerischen wie sittlichen Vermögens, daß dieses Volk den Sabbat und die feiertägliche Ruhezeit besitzt. Zurückzutreten: wie der Künstler es tut, damit er das Ganze seines Werkes ins Auge fassen könne, so hier von Arbeit der Tage, um die Bahn der Woche zu betrachten, von den Geschehnissen der Monate, um den Weg des Jahres zu sehen, von den Ge-
157
11
12
13
wohnheiten der Zeit, um die bleibende Aufgabe zu begreifen, das war Gebot und Fähigkeit in diesem Volke geworden. Von daher haben Menschen in ihm es gelernt und es vermocht, die Zeit zu besitzen, Zeit für das eigene Leben zu haben. Sie haben es so auch gelernt und vermocht, in Generationen zu denken und in Generationen zu leben. In die Weiten rückwärts und zu den Fernen vorwärts zu blicken, waren sie nun imstande. Dadurch ist dieses Volk das geworden, was es geworden ist, das Volk der großen Erinnerung und der großen Erwartung. In diesem Volke haben sich daher zwei Kräfte verbinden können, die so selten geeint sind: die Geduld und die Vision. Nur wo sie zusammen sind und sich durchdringen, werden sie zur geschichtlichen Kraft. Geduld allein könnte den Menschen dahin bringen, daß seine Seele kapituliert, daß er sich jedem Bestehenden ergibt, jedem Drucke sich innerlich fügt. Vision allein könnte dahin führen, daß das Gewissen des Menschen desertiert, daß er die Pflicht des Tages verläßt, der herantretenden Aufgabe sich versagt. Erst wenn die beiden sich gefunden haben, wenn sie zusammenwachsen, werden jene Kräfte geboren, in welchen die Zeit zu eigen gewonnen wird. Zeit kann nur an der Vergangenheit festhalten, um das Heute | zu begründen, und zugleich die Zukunft ergreifen, um der Gegenwart den Mut zu bereiten. Die einzelnen Menschen dieses Volkes waren und sind, so oft, auf der einen Seite jedem Drang und jeder Unrast zugewandt, bis ins Unstete hinein, und auf der anderen Seite leeren Träumen und inhaltlosen Einbildungen zugetan, bis zum Nichtigen hin. Aber das Volk als Ganzes hat, seit dem Jahrtausend des Wachstums, immer den großen Zug bewahrt, den der großen Geduld und der großen Vision, die Fähigkeit zu beidem in einem: zur visionären Geduld und zur geduldigen Vision. Weil es die fernen Gesichte schaute, konnte es ausdauernd in jedem Tage stehen, der da war, und weil es in jedem Tag ausharrte, sind seine Gesichte ihm Führer durch die Wirklichkeit geblieben. Eine Beständigkeit ist darin verheißen, dieses Leben »von Geschlecht zu Geschlecht«. Immer wieder ist an menschliches Dichten und Denken diese Frage herangetreten, oft von einer Sorge um die Zukunft gestellt, ob oder wie lange wohl innerhalb der Menschenwelt für ein besonderes Volk und für seine geschichtliche Art und seine geistige Leistung wahrhaft eine Dauer sei. Bleibt das, was wirklich war und wirkliches Leben schuf, auch in seiner Wirklichkeit? Bleibt es in einer geschichtlichen Existenz? Der Rhythmus in der Natur, diese stetig wiederkehrende Folge
158
von Blühen, Reifen und Welken, von Aufwachsen und Versinken, wollte die so »natürliche« Antwort bieten. In der Geschichte wie in der Natur wallte diese Regel. Ruhiger bald und bald schneller habe sie ihren Verlauf, aber sie zeige das eine Gesetz und füge und fasse alles, was ist, zu der einen Natur und ihrer Ordnung zusammen. Eine Tatsache jedoch ist hier übersehen: die der eintretenden, genialen Individualität. Mit jedem Menschen schon, der geboren wird, kommt Menschliches zu einer besonderen, einer individuellen Form in das Leben hinein. Und wenn das Genie | erscheint, einmal, irgendwo, dann bricht an einem Punkt ein ganz Eigenes, ein ganz Persönliches, hindurch. Etwas ganz anderes, etwas, was außerhalb der alten Regel ist, nimmt seinen Anfang. Die neue Regel beginnt. Eine Geburt hat sich in der Geschichte vollzogen. Ein neues Blühen und Reifen, vielleicht nach langen Tagen des Welkens, hat angehoben. Die andere Antwort, die gegeben worden ist, besagt, daß nichts beständig sei als der Prozeß des Werdens. Eine innere Logik, eine immanente Dialektik dessen, was einmal entstanden ist, walte vom Beginne seiner Tage her. Auf das, was da ist, folgt das, was ihm entgegen ist, und die beiden lösen sich in einem Höheren auf, das dann zu dem gleichen Wege wieder antritt. »Natura non facit saltum«, »die Natur macht keinen Sprung«, so sagte man einst; die Geschichte macht keinen Sprung, so lautete später das Wort. Aber auch hier ist eine Tatsache – sie zeigt im Sachlichen dasselbe, was im Persönlichen die des Genies zeigte – nicht beachtet: die der geistigen Umwälzung, der geschichtlichen Revolution. Irgendwann, irgendwo wird ein neuer Grundsatz aufgestellt, der den bisherigen ungültig macht. Ein neuer Standpunkt wird eingenommen, der den früheren beseitigt. Die vorige Weise des Denkens hat keinen Bestand mehr. Der alte Verlauf, der sich vielleicht so lange, immer wieder und immer gleich, vollzogen hatte und seine bewiesene Beständigkeit zu haben schien, ist durchbrochen, ist beendet. Ein ganz anderes zeigt seine Wirklichkeit, seine Wahrheit, seine Logik. Der ganz andere Weg beginnt. Man kann die Geschichte und die Existenz dieses Volkes, diese Geschichte eines Geistes und diese Existenz durch den Geist, nur dann ganz begreifen, wenn man erkannt hat, wie hier die Kraft eines Genialen durchgebrochen ist und sich durchgesetzt hat, wie hier eine Revolution am Werke war und am Werke blieb. Ein genialer, ein revolutionärer Geist begann | seinen Weg. Und das will sagen: Hier wurde nicht das, was gewesen war, fortgesetzt und verbessert, vervollkommnet oder vereinfacht. Dem, was bis dahin bestand, wurde
159
14
15
16
vielmehr von Grund aus und bis zu jedem Ende hin widersprochen. Nichts von ihm sollte fürder [weiterhin] gelten. Der neue Standort, der neue Ausgangspunkt war gefordert; ein ganz anderes Prinzip war aufgestellt, die ganz andere Weise des Wollens und des Denkens wurde verlangt. Die neue Existenz sollte beginnen. Es war der Einbruch einer anderen Welt, der sich hier die Bahn schuf, in Menschen und durch Menschen dieses Volkes sie schuf – ein Schöpfungsakt im Reich des Geistes. Keine Macht, von gestern oder von heute oder für morgen, konnte darum die Bürgschaft sein; die, welche machtlos waren und machtlos bleiben wollten, sprachen ihr Wort. Sie suchten auch nicht, noch brauchten sie eine Philosophie, um gewiß zu sein oder um Beweise hinzustellen. Sie selbst, in ihrem Genius, waren der Beweis; sie legten sich selber dar. In ihnen, in dem, was sie ergriffen hatte, war die Logik gegeben. Durch sich selber, durch die Kraft, die in sie eingekehrt war, standen sie fest. Die Offenbarung des Ewigen, Unendlichen hatten sie erlebt, diese größte aller Revolutionen, die tiefste aller Genialitäten. Sie waren »voll der Kraft, mit dem Geiste dessen, der ist« (Micha 3,8). Ein Volk, das durch solch radikalen Anfang geformt und bestimmt worden ist, trägt ein eigenes Gesetz in sich, dieses Gesetz, »nach dem es angetreten ist«. Den – scheinbar so natürlichen – Regeln des Werdens, Wachsens und Vergehens braucht es nicht immer unterworfen zu sein. Die revolutionäre, geniale Kraft, aus der es entstanden ist, kann weiterleben. In Verborgenheiten des Seelischen, in Tiefen der Generationen kann sie weiterwirken. Sie ist eine Kraft der Spannungen, die Kraft der Möglichkeiten. Den Sphären der Schöpfung entstammt sie. In ihr ist der immer wirksame Widerspruch gegen | das Fertige, das Endgültige, das Schicksal. Sie trägt immer die Zukunft in sich, immer die Möglichkeit ihrer Größe und ihrer Fülle. Die Jahrhunderte des Werdens im Wachstum können durchbrechen. Aus der Genialität, aus dem Revolutionären des Anfangs wird etwas, ein Geist, ein Wille, eine Hoffnung, wiedergeboren. Etwas kehrt wieder. Nur aus dem Eigenen, aus dem charakteristischen Anfange hervor kann solches geschehen – nicht aus anderem, ob es von draußen oder von drinnen komme. Nur das Selbst wird wiedergeboren. Nur das, was in den Gründen des Besonderen wohnt, kehrt wieder. Dieses Eigene steigt eines Tages wieder empor. Der Anfang und in ihm der große Glaube beginnt neu, dieser immer geniale, immer revolutionäre Glaube. Er meint nie, zu besitzen, sondern er sucht und ringt immer, weil er weiß, daß er der Anfang ist. Er will darum auch nie auf Sätzen lagern, sondern ist immer neu auf dem Wege
160
zu neuen Mühen, neuem Ausdruck, neuem Gebote, neuer Hoffnung. Darin lebt er, an starrer Dogmatik und an dürrem Besitzesgefühl würde er sterben. Nicht oft und kaum je in Weiten ist es so erlebt. Aber eines Tages, aus einem Boden, vielleicht aus einer Wüste, brechen Kräfte des Anfangs hervor. Lange und weithin waren sie vielleicht zurückgedrängt gewesen, Krusten einer Selbstsucht, Schichten einer Gedankenlosigkeit hatten sich von Generation zu Generation über sie gelegt. Aber dann, zu einer Stunde, an einer Stätte, in einem Menschen dieser Stätte und dieser Stunde, öffnen sich die Gründe des Anfangs, und die Wiederkehr geschieht, und die Tage zeugen andere Tage, Wege fügen sich an Wege, Menschen finden Menschen. Der Mensch der Wiederkehr läßt andere Menschen zu sich kommen. Die Kraft aus den Jahrhunderten des Wachstums wird zu neuer Existenz und neu zur Geschichte. Ein Zweifaches lebt so durch die Wiedergeburt wieder auf. | Sie stellt, das ist das eine, den seelischen Zusammenhang mit dem Ursprung und den Urkräften wieder her; sie gibt der Gemeinschaft damit das Wissen um sich selbst, um das, was sie in Wirklichkeit eint. Und sodann und zugleich öffnet sie Bahnen der Gestaltung und Entwicklung. Neue Formung, neuer Ausdruck kann sich dartun; das, was die Väter gesprochen haben, erlangt die neue Sprache. Das Hervorkommen aus der Tiefe, aus dem Anfang, und das Emporstreben zu immer neuen Weiten werden in solcher Wiederkunft eins. Sie ist ein Hinaufwachsen hervor aus dem alten, dem ersten Anfang. Das eine bedingt und trägt das andere, gegenseitig bringen sie sich hervor. Dieses Zusammen von diesem beiden scheidet die Wiedergeburt von dem Nationalismus und auch von dem Bildungshumanismus. Der erstere hemmt und verhindert schließlich die Wiedergeburt, sosehr er ein Gesamtheitsgefühl zu stärken vermeint. Der andere täuscht sie nur vor, so reich er an geistiger Blüte sein kann. Der eine ermangelt des Emporsteigens, er kann sich nicht zur sittlichen Freiheit erheben. Dem anderen fehlt die innere Verbindung mit tiefsten Wurzeln, er ist ohne die Kraft, die aus ihnen kommt. In der Wiedergeburt ist nicht bloß ein Geistiges und nicht ein Wille nur aufgerufen, sondern die ganze Seele mit dem, was sie faßt und füllt, ist geweckt und zu neuem Leben geführt. Nicht besser kann es gesagt sein als durch das Gleichnis, das der Prophet der Wiedergeburt gedichtet hat: »Er wird Wurzeln ansetzen nach unten und Früchte bringen nach oben« (Jes. 37,31). So ist es der Weg der Wiederkehr. Weil dieses Volk in Tagen, die zur Entscheidung bestimmt waren, diesen Weg gefunden hat, ist es
161
17
18
19
geblieben, und nur dann wird es bleiben können, wenn es immer wieder vermögen wird, zu ihm hinzugelangen. Nicht ein natürlicher Rhythmus nur und nicht ein logischer Prozeß allein zeichnen die Bahn der Geschichte ein und machen | sie zum Schicksal von Völkern. Wenn in ein Volk eine Besonderheit, eine Gabe von oben, vom Schöpfer, eingesenkt war, so kann sie wieder neu werden, um neu zu leben. Auch in Tagen, die zu welken scheinen, mag es so geschehen. Geschichte ist auch Geschichte der Möglichkeit. Sie ist darum Geschichte der Generationen. Die Generationen entscheiden über die Geschichte, weil sie sich selbst zu entscheiden haben. Die Existenz dieses Volkes bezeugt es so. Es vermochte weiter und weiter zu leben, weil die alte Kraft der Offenbarung immer wieder hervorgebrochen ist. So ist es der große »Trost«, die große Hoffnung in der Menschheitsgeschichte. Vielleicht die einzige Hoffnung, die sich hier zeigt? Auch wenn sie die einzige ist, wäre um ihretwillen es wert, daß es Geschichte gebe. Gewiß, es gibt einen Anblick, an dem der Unglaube sich vor sich selber beweisen möchte. So oft haben Völker, Menschen folgend, gestrebt und getrachtet, gedrängt und gestoßen, damit aus ihrem Gestern ein neuer Morgen aufgehe, ein Morgen voll der Zukunft. Zwielicht war ihr Licht. Aber das Dunkel kam und in ihm der Niedergang, vielleicht der Untergang. Weithin dehnen sich auf Erden die Ruinen, und in sie sind eingebettet auch die Trümmer eines Willens, welcher Wiedergeburt zu bedeuten sich vermaß, eines Geistes, der sich erneut zu haben vermeinte. Und aus den Spalten dringt hier der Dunst der Müdigkeit, dort der Brodem der Vermessenheit, und Menschen atmen ihn ein. Aber über den Ruinen, zur Erde herniedersteigend und von dieser Erde aufsteigend, wie aus dem Unendlichen und Ewigen kommend, dehnt sich der »Bogen des Bundes«, ein Gleichnis vom Gesetze der Wiedergeburt. Die Wiederkunft will nahen. Denn wo Kraft aus der Offenbarung noch lebt, noch im Verborgenen vielleicht, und eines Tages, früh oder spät, sich Seelen für sie auftun, dort geschieht Wiedergeburt. Ein Neues | beginnt. Von dieser Zuversicht hat dieses Volk nie abgelassen. In ihr hat es das Recht seiner Existenz. In einem Zweifachen, das doch wiederum im wesentlichen eines ist, kehrt die Wiedergeburt ein: in einem echten Problem, das in uns erwacht ist und sich nie an die Stunde verliert, denn es ist ein Teil unseres Ichs geworden, und in einer echten Aufgabe, die in uns und zugleich zu uns zu sprechen begann und nicht mehr
162
schweigt, da auch sie ein Stück von uns selbst wurde. Sie können, wenn sie echt sind, nicht ohne einander sein; sie sind von Anfang an zu einem geworden, weil das Ich, das Selbst, eines ist. Das Problem ist zugleich die Aufgabe, und die Aufgabe ist zugleich das Problem. Zusammen sind sie diese große Gewißheit, die die Fülle der Fragen in sich trägt, dieser große Glaube, der voll der Spannungen ist. Das Problem als Aufgabe ist das Dynamische im einzelnen Menschen, die Aufgabe als Problem wird zum Messianischen in den Generationen. Einander werden sie zum Zeichen der Echtheit, zum Zeugnis dessen, daß die Offenbarung, der Bund, das Gebot Gottes, in ihnen lebt. Nur das, was mit dem Gottesgesetze verbunden ist, besitzt Echtheit, diese menschliche und geschichtliche Stetigkeit, und nur das, was mit dem Gottesgesetz auch verbunden bleibt, wird wiedergeboren. Das Dynamische ist hier die Kraft, in der das Offenbarende durchbricht, Kraft, die so durch sich selbst immer neu zur Kraft wird. Das Messianische ist der Weg, den das Offenbarende stets dieser Kraft weist, Weg, der immer neu zum Wege wird. Kraft, die den Weg bahnt, und Weg, welcher Kraft lenkt, sind hier eines, das eine, in dem sich die Zeiten des Menschen und die Generationen der Geschichte zusammenfügen. Die Dynamik ist das Messianische im Individuum, das Messianische ist die Dynamik in der Geschichte. Die indivi|duelle Existenz wird hier daher ein Raum der Menschheitsgeschichte, und diese wird zum Existenzgebiet des persönlichen Lebens. Das ist das Eigentümliche dieser Wiedergeburt, daß durch sie der Einzelbereich und der Gesamtbereich menschlichen Lebens einander erfassen und, ohne von ihrer Bestimmtheit zu verlieren, sich ineinander einformen. Man könnte es wiederum so ausdrücken: Das Dynamische, dieses persönlich Seelische, und das Messianische, dieses menschlich und menschheitlich Geschichtliche, geben einander den Sinn und den Gehalt, damit Leben zur Geschichte und Geschichte zum Leben werde. Menschen, die es so erlebt haben – einmal, in einer Zeit tiefer Erregung, ist das zur geschichtlichen Bedeutung emporgewachsen –, wurden dessen bewußt, daß Leben aus einer höheren Welt in sie eingetreten war, um in ihnen zur Kraft zu werden und ihnen den Weg zu bestimmen. Immer wieder mußten daher diese Kraft und dieser Weg hier auf alle die Daseinsbezirke, von denen des Menschen Tage umfangen sind, treffen oder an ihnen sich stoßen. Fast Schritt um Schritt konnte sich neue Frage mit ihrem Antrieb, neues Gebot mit seiner Forderung erheben. Das Ziel blieb, aber der Beginn sollte immer neu zum Beginne werden. Die Kraft von Gott, die-
163
20
21
22
se Kraft zum Wege blieb, aber neue Bahnen setzten ein, denn neue Generationen wurden geboren. Etwas aus einer höheren Welt war in den Wiedergeborenen eingeströmt, etwas aus einer Welt des Endgültigen und Vollendeten, aber diese Welt, in die er durch den Tag seiner Geburt hineingeboren worden war, stellt das Einstweilige, das Fragmentarische gegen ihn hin. Weil die Kraft von oben in ihm war, eben darum mußte Problem um Problem, dieser Blick aus der Ferne ihn anschauen, mußte Gebot um Gebot, dieser Ruf aus der Ferne ihn aufhorchen lassen. Man kann es begreifen, daß Menschen, deren Seele geweckt | worden war, und gerade sie, vor dem, was immer verhieß und doch nie das Ende nahen ließ, in ihrem Innersten zurückschreckten. Sie wollten jetzt und ganz der Verwirklichung teilhaft sein, im Heute und Hier in die Erfüllung eintreten. Sie wollten nicht nur erwarten, nicht nur für die Erwartung wiedergeboren sein. Nicht nur für das Weiterschreiten zur Weite hin wollten sie ein neues Leben leben. Richtungen haben sich in der Tat hier gesondert, auch in diesem Volke, und in ihm tiefer greifend als irgendwo sonst. Glaube hat sich von Glaube geschieden. Zu neuer Geschichte sind damals Menschen dieses Volkes ausgezogen. Eine Entscheidung war zu treffen. Was bedeutete das Offenbarende, was bedeutete das Wiedergeborensein? Mußte nicht das, was nun erreicht war, dieses Erlebnis der Wiedergeburt, in Wahrheit die Erfüllung ihrer Tage sein, die Vollendung der Prophezeiung? Hatte nicht Gott, der Verborgene, hier sich selbst uns Menschen offenbart? Meinte das nicht die Antwort ohne jede neue Frage, die ganze, die letzte Antwort, das Ziel ohne den neuen Weg, dieses endgültige Ziel? Wenn Menschen das bejahen wollten, wenn es ihr Glaube wurde, das zu bejahen, und ein Friede damit in ihr Herz einzog, dann war es ihnen in der Tat neu aufgegeben und zugesagt, daß sie den Ruf aus der Ferne zurückweisen sollten. Denn das bleibende Leben hatte für sie begonnen, sein Ruf der Nähe sprach zu ihnen. Und sie hatten nun nicht mehr den Blick der Weite auf sich gerichtet zu sehen. Denn in ihr Leben war das Unmittelbare eingekehrt und hatte segnend sie angeschaut. Doch diesem Volke in seinem Ganzen ist das andere die Gewißheit geblieben, in jedem neuen Erleben der Seele sich erneuernd. In Tagen der Wiedergeburt brach dieses andere immer wieder hervor wie ein Quell des Lebens, ein Quell von Gott her, wie ein Licht der Zuversicht, ein Licht von Gott her. Das Geheimnis der Erwartung mit seiner Frage und sei|nem Gebot ergriff das Tiefste dieser Menschen, immer wieder und immer neu. Die alte Entscheidung ist im-
164
mer neu geworden, die Entscheidung vom Sinai her. Sie auch war wiedergeboren. Neu hatten Vision und Geduld sich verbunden. Das Ferne war wieder zur Nähe geworden und die Nähe zur Weite. Die Zukunft begann im Heute, und das Heute gewann seine Zukunft. Die Seelen hatten ihr Besitztum erhalten sowohl in dem, was hier war, wie in dem, was kommen wird. Sie erlebten die Gnade des Weges und die Gnade der Erwartung, Gnade aus der einen Gnade. Die Entscheidung war wieder getroffen. Dieses Volk war wieder im Eigenen geblieben. Es erwartete Gott, den Offenbarenden. Das ist sein Besitz von Geschlecht zu Geschlecht geworden, von dem es nicht abließ. Dieses Besitztums blieb es gewiß und blieb es froh. Man darf, sosehr es auch zunächst befremdlich klingen mag, es sagen, daß dieses Volk mehr als andere Völker ein Frohgefühl, ja ein Glücksgefühl immer in sich getragen hat. Dieses Volk hat nie aufgehört zu dichten, und es hat oft nicht für andere auch, sondern für sich selbst gedichtet, in der alten Sprache, die nur ihm zugehörte. Von seinem Leid und seinem Weh hat es dann gesungen, und es war kein sentimentaler Schmerz, der sich in Worte ergoß, sondern es war die Pein des Tages, des Jahres, des ganzen Daseins, die nicht schweigen durfte und ihre oft so unbeholfenen Sätze aneinanderfügte. Mehr als andere hat dieses Volk sein Blut vergossen, hat es »in Tränen gesät« [Ps. 126,5]; zu sich selbst und zu seinem Gotte hat es davon sprechen müssen. Aber sein erstes und sein letztes Wort ist auch dann immer, auch an dem dunkelsten und bedrückendsten Tage, ein Wort gewesen, in dem seine Seele aufatmete und sich weitete, das Wort davon, daß sein Los ihm, trotz allem und allem, im Guten gefallen ist. Denn dieses Volk hat immer davon gewußt, wodurch es | lebte und worin und wofür es lebte. Es hat immer das große Wenn der Erwählung vernommen, das über den Abgründen und den Finsternissen erklang: Er, der ist, hat dich erwählt, wenn du Ihn erwählst – dieses große Wenn der Erwählung, welches das eigentliche, das Entscheidende des Lebens zur Entscheidung des Menschen werden läßt. Dieses große Wenn mit seiner Frage und seinem Gebot blieb diesen Menschen Besitztum ihres Lebens, ein Glück ihrer Seele. Ihr Glaube hatte es in sich aufgenommen, dieser Glaube, in welchem das ewige, unendliche Geheimnis, das nie ganz offenbarte, ein Offenbarendes zu ihnen sprach. In allen Tagen aller Jahre haben sie darum die Morgenstunde mit dem Gebete begonnen: »Heil uns, wie gut ist unser Teil, wie schön ist unser Erbe!« In die seelische Existenz ist das hineingewachsen – desgleichen ist nicht in der Geschichte von Völkern.
165
23
24
Dieses Volk fühlte sich darum immer, als Ganzes und solches, in einem idealen Sinne, wie vor Gott hingestellt und gleichsam berechtigt, ja verpflichtet, zu Gott zu sprechen. Ein eigentümlicher Satz ist hier gebildet worden und hat dem Nachdenken die eigentümliche Einleitung gegeben: »Es spricht die Gemeinde Israels vor dem Heiligen, gelobt sei Er«, und Worte der Selbstprüfung, Worte des Wissens, aber auch Worte des Suchens, welches nicht fand, Worte der Zuversicht, aber auch Worte des Klagens, welches das Leid des Tages sprechen ließ, folgen dann. Dieses Volk als Volk stand vor Gott, um die Frage zu hören und die Frage zu stellen, um das Gebot zu vernehmen und das Gebot zu beantworten. »Es sprach die Gemeinde Israels.« Aber in dem Volke, das vor Gott stand, waren immer die verschiedenen Menschen. Man könnte fast sagen: Oft hat es an seinen Menschen gelitten, oft standen seine Menschen ihm im Wege. Es gab, im Harmlosen wie im Harmvollen, die, welche immer nur hier und dort waren und niemals wußten, wo sie | waren und wer sie waren. Zu allen Zeiten gab es hier auch die, die »im Rate von Boshaften einhergingen, die auf dem Wege von Sündhaften standen, die dort, wo sich die Höhnenden hinsetzen, saßen« [Ps. 1,1]. Aber sie sind die Vorbeiziehenden gewesen, die Passanten der Zeit nur. Sie eilten an dem Bleibenden vorbei. Der Psalm sagt es mit einer gewissen Gelassenheit von ihnen: »Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht« [1,4], »Ihr Weg geht verloren« – nicht »untergehen«, wie zumeist übersetzt wird, sondern »verlorengehen« meint dieses Wort [1,6]. Ihr Weg ging verloren, und der Weg des Volkes blieb. Von ihnen, den Menschen des verlorengegangenen Weges, war oft einmal zu erzählen. Die Geschichte dieses Volkes ist die Geschichte eines Weges, ja des Weges. Den Weg zur Geschichte zu machen vermögen nur die, in denen die beständige Hoffnung lebt, diese dynamische, diese messianische Hoffnung. In ihrem Bangen und Zagen bereiten Menschen gern sich Bilder, die ihnen zuwinken, und das wird Hoffen genannt, und es ist doch nur eine Beschwichtigung der Schwäche. Sie wiegt in den Schlaf, aber ruft nicht zum Tag auf. Bisweilen ist es gut, daß der Mensch so sinnt und bildet; das trägt über schwere Stunden hinweg. Die wahre Hoffnung ist aber ein anderes. Sie hat immer die große Linie, die der Forderung und der Erwartung. Sie ist Ausdruck einer Kraft, die der Gewißheit des Weges entspringt. Hoffnung und Stärke sind daher in der Bibel wie zu einem Worte geworden. Wenn die Kraft in einem Menschen ihrer selbst bewußt wird, wenn sie so neu Atem holt, wird sie zur Hoffnung und läßt den Men-
166
schen dessen gewiß sein, was bestehen wird. Hoffnung ist eine Versöhnung des Endlichen mit dem Bleibenden. In den Menschen, die den Weg sahen und dadurch der großen Hoffnung fähig wurden, in ihnen allein, aber in ihnen immer neu, hat dieses Volk sich dargestellt. Weil es sie hatte, | durfte und konnte es »vor dem Heiligen, gelobt sei Er, sprechen«. Seine Bücher sind die Bücher dieser Hoffnung, seine Geschichte ist die Geschichte dieser Menschen. Vieles spricht in dieser Geschichte, spricht in diesen Büchern: die Lehre und die Weisheit, die Forderung und die Frage, die prophetische Rede und das prophetische Gleichnis, das Recht und der Rat, das Geheimnis und die Erkenntnis, die Entscheidung und die Tat, der Glaube und die Treue, die Liebe und das Opfer. Und aus allem ertönt, aus den Tiefen zu den Höhen, diese eine Stimme hervor, die der großen Hoffnung. Die Hoffnung ist immer wiedergeboren worden. Es gibt eine Poesie, in der das Unbewußte, das in einem Volke lebt, sich seinen Ausdruck schafft, eine Poesie der Sitten und Bräuche. Viel anderes kann in Sitten und Bräuchen auch sich dartun, ein Niedriges und Gewöhnliches, ein Verzerrtes und Verworrenes, alles das, was des Geistes, des Aufstiegs, der Poesie nicht fähig ist. Aber in diesem Volke hat sich eine Heiligkeit der Sitten und Gebräuche geformt, Poesie ist in ihnen zum Gottesdienste geworden, die Seele des Volkes spricht in ihnen vor Gott. Zahlreich und mannigfach geben sie dem Tage seinen Klang, dem Jahre seinen Rhythmus. So ist es eine Sitte des Volkes geworden, daß Jahr um Jahr, wenn Ende und Beginn sich treffen, wenn das, was geworden ist, und das, was werden soll, ineinander übergehen, in diesen Tagen vor dem Neujahrsfest und nach ihm, am Schlusse jedes Gottesdienstes die Gemeinde den Psalm der großen, der hoffenden Gewißheit spricht. Er beginnt mit den Worten: »Er, der ist, ist mein Licht und Heil«, und schließt: »Hoffe zu Ihm, der ist, sei stark, und es festige sich dein Herz, und hoffe auf Ihn, der ist« (Ps. 27,1.14). Es ist, als wollten diese Worte die Brücke schlagen von dem Jahre, welches geht, zu dem, welches kommt. Die Jahre wechseln, und der Weg bleibt; denn die starke, erwartende Hoffnung baut die Brücken. | In der Geschichte, welche zur Menschheitsgeschichte werden soll, kann es keine Hoffnung geben ohne den Weg und keinen Weg ohne die Hoffnung. Ohne die starke, die erwartende Hoffnung, diese Hoffnung der Kraft, würde der Weg versinken, wenn Tag sich gegen Tag – Zeit sich gegen Zeit stellt; er würde »verlorengehen«. Und ohne den Weg, der immer weiter weist, würde die Hoffnung, wenn das, was entgegen ist, sich ihr entgegenstellt, zerbrechen; sie würde ver-
167
25
26
27
lorengehen. Die Hoffnung läßt den Weg immer Weg bleiben, und der Weg läßt die Hoffnung immer als Hoffnung bestehen. Die Geschichte dieses Volkes ist so die Geschichte eines Weges und einer Hoffnung, sie hätte das eine nicht ohne das andere sein können. Man könnte es noch bestimmter so fassen: Sie ist die Geschichte einer immer wiedergeborenen Treue zu dem Bunde und zu der Erwartung, zu dem Bunde, der dem Erwarteten die Bürgschaft gibt, zu der Erwartung, die aus dem Wissen, daß der Bund besteht, ihre Kraft schöpft. Darum ist die Geschichte dieses Volkes eine Geschichte der Wiederkünfte, der Wiedergeburten. Einmalige Renaissance wäre nur ein letztes Aufflackern, ein tragisches Aufleuchten, ein Emporschlagen der Flamme vor dem Ende, sozusagen »ein Sterben in Schönheit«. Die Kraft hat sich selber verzehrt. Die Geschichte von Menschen und von Völkern auch erzählt von solch ergreifendem Ende, ganz wie sie von dem niedrigen Ende, in welchem Niedrigkeit sich selber im Niedrigen vernichtet, zu berichten hat. Wiedergeboren sein, um dann wieder, wenn der Tag kommt, neu wiedergeboren zu werden, das ist das Zeugnis der Kraft, die von dem Wissen um den Bund und von der Erwartung herstammt. Die große, formende Kraft wird eines Tages zu neuer Formkraft wieder erscheinen. Die Wiederkehr der Wiederkünfte ist der große Beweis in der Geschichte. | Das Nachdenken in diesem Volke hat sich, wohl schon früh, die Frage gestellt, ob es im Kosmos, dem der Natur und dem der Menschenwelt, ein formendes und ein zerstörendes Element wohl gebe. Alles Nachdenken wird zu einem Ringen um den Ausdruck; dem alten Worte muß neue Bedeutung gegeben werden. In der Bibel und noch mehr in dem nachbiblischen Schrifttum können wir sowohl jene Frage wie dieses Suchen verfolgen. Es gibt hier bisweilen ein Auf und Ab, Einsichten und auch Flachheiten wechseln. Das Wort, mit dem sowohl diese formende wie diese zerstörende Elementarkraft in einer Zeit der Plastizität der Sprache benannt wurde, ist das Wort »jezer«. Das, was es besagte oder schließlich besagt hat, ist mit einem Wort anderer Sprachen kaum völlig wiederzugeben. Meist hat man es mit dem Wort »Trieb« übersetzt. Um die in dem nachbiblischen Schrifttum übliche und häufige Verbindung unseres Wortes mit den Eigenschaftswörtern »gut« und »böse« wiederzugeben, hat man demgemäß von dem »guten Trieb« und dem »bösen Triebe« gesprochen. Aber diese Übersetzung ist unzureichend und vielfach irreführend. Nicht ein Trieb ist hier gemeint, nicht dies Drängen und Stoßen im Willen, obwohl dieses in unserem Worte mitbezeichnet sein kann. Die wurzelhafte Bedeutung unseres Wortes ist das »Bilden«, das »Formen«, und gemeint ist die Anlage des
168
Menschen: die in jedem Menschen vorhandene und immer wieder hervorwachsende, zur Betätigung drängende Fähigkeit, in etwas anderes, in etwas, was da ist oder was vorgestellt wird, einzudringen, um es zu gestalten oder zu verunstalten, um es zu bilden oder zu verbilden, um zu formen oder zu zerstören. Gemeint ist also das Ferment in der Seele des Menschen, die noch unbestimmte, gärende Kraft, die zu einer Bestimmtheit dann wird, sei es im Guten, sei es im Bösen. Das also ist gemeint, was aktiv im Menschen ist, das, was das Subjekt zum | Objekt hinlenkt und hinführt, um an diesem Objekt und durch dieses Objekt sich zu bestimmen. Die Anlage, die sich erst erweisen soll, ist so durch unser Wort bezeichnet. Sie soll sich selber dartun; denn entweder zum Weg oder zu dem, was kein Weg ist, entweder zur Hoffnung oder zu dem, worin keine Hoffnung ist, kann sie hingewandt sein. Nicht von einem guten und einem bösen Trieb ist darum hier gesprochen, sondern gesprochen ist von dem menschlichen »Vermögen, ein Gutes zu bilden«, »jezer tow« zu sein, und dem menschlichen »Vermögen, das Böse zu bilden«, »jezer hara« zu sein. Ein Gutes zu bilden, so ist hier gesagt, denn das Gute hat seine Fülle der Gestaltung, seinen Reichtum der Formen. Das Böse zu bilden, so ist hier gesagt, denn das Böse ist immer das gleiche und selbe, die selbe und gleiche Ungeformtheit und Ungestaltheit. In der Richtung mehr als in anderem scheiden sich Menschen und Völker. Durch die Richtung ihres Lebens sind sie unterschieden. Diese Frage und Aufgabe der Lenkung des Lebens, der Richtung, die es gewinnen soll, hat immer wieder, besonders in der Zeit nach der des Wachstums, das Denken in diesem Volk ergriffen. Die Idee, die darin spricht, hat sich ein Wort geprägt, das schon bald ein klassisches geworden ist, das Wort »kawwanah«. Es bezeichnet das Gesamte menschlicher Richtung: die Gesinnung im Tun, die Andacht im Gebete, die Leitung des »jezer«, die Führung des Lebens. Die Einheit, zu der das Wesen des Menschen gelangen soll, diese Erfüllung seines Glaubens, steht in diesem Worte vor ihm. Es ist gleichsam der große Wegweiser zur Bestimmung seines Lebens. Die Fähigkeit des Bildens, die im Menschen ist, sein »jezer«, soll durch die »kawwanah« in das Gesetz Gottes, in den ewigen Bund eingefügt werden. In einem biblischen Buche, das der letzten Periode des Jahrtausends des Wachstums entstammt, dem Doppelbuche der | »Chronik«, ist in einem Gebete die Richtung des Lebens zu Gott hin als der große Segen für das Volk erfleht. Dieses Buch ist kein vielgelesenes, aber es hat seine Bedeutung innerhalb der Bibel. Es will alle Geschichte als die Sukzession der Generationen und die Geschichte
169
28
29
30
dieses Volkes als aus der Menschheitsgeschichte hervorkommend aufzeigen. Namen folgt auf Namen zunächst, in nüchterner Folge; die Reihe der Geschlechter, die Folge der Zeiten. Aber wer diese Namen zu sich sprechen läßt, der hört hier mehr noch als nur sie. Er vernimmt die Kunde von den vielen Möglichkeiten, die der Menschheit gegeben wurden und ihr gegeben bleiben, und von der besonderen Möglichkeit, die ihr in diesem Volke aufgezeigt ist, Weltgeschichte und Geschichte dieses Volkes, beides zu einem gefügt, wird erzählt, von dem Anfange der Tage an, da Menschen über die Erde hinzogen, zu dem Beginne dieses Volkes hin, da seine Stammväter auszogen und es selbst, zum Volke geworden, in das Land der Verheißung einzog, durch alle die Zeiten dann hindurch, in denen das eine Geschlecht den Weg Gottes ging und das andere von dem Weg abwich, bis zu den Tagen hin, da Assur und Babel es aus seinem Lande fortführten, und dem Tage dann schließlich, da Koresch, der König der Perser, das Tor zur Rückkehr in das Land, zu der neuen Möglichkeit, auftat. So ist dieses Buch der Chronik geschrieben, beginnend mit den drei ersten Namen der ersten Menschen, der ersten Möglichkeiten: »Adam, Schet, Enosch« [I. Chron. 1,1], die drei wie Blöcke des Grundsteins in einem Satz zusammengefügt, und schließend mit dem Satze, der das Tor zu dem Neuen für dieses Volk öffnet: »So spricht Koresch, König von Persien: ... Wer unter euch, von seinem ganzen Volke, es sei: Er, der ist, sein Gott, sei mit ihm, er ziehe hinauf.« [II. Chron. 36,23] Die große Linie der Geschichte zeigt sich hier. Nicht nur von Menschen und Ereignissen ist hier gesprochen, sondern von dem, was sie, die Menschen und | Ereignisse, verbindet. Nicht nur von dem ist erzählt, was ringsumher im Raum ist und was sich im Gestern und Ehegestern der Zeit bewegte und in ihrem Heute regt, sondern von dem, worauf und worin alles hier ruht. Es ist versucht, zu zeigen, was Geschehen zur Geschichte macht. Nur innerhalb des Horizontes, in dessen Bereich der Mann lebte, der das schrieb, hat er es unternehmen können. Aber charakteristisch innerhalb dieser Grenzen ist der große Zug, ist die Weite des Blickes, der die eine Geschichte inmitten der Menschheitsgeschichte sieht. Es ist daher belehrend, an die zwei Meister zu denken, die im Jahrhundert nach ihm auf dem griechischen Boden Geschichte schrieben: an Herodot, der, voll der genialen Neugierde, nach Ländern in Ost und Süd hinausgewandert war, damit er Wunder, von denen die Ferne erzählt hatte, im Nahen schaue und von dem Tun der Götter erfahre, das Menschen dort zum Geschicke geworden war, und an Thukydides, der mit der Genialität des Durchdringens zu
170
Tiefen in der Seele von Menschen geforscht hatte, damit er zu den Gründen des Geschicks, des Auf und Nieder, zu den Gründen des Erfolges und seiner Verirrungen, des Mißlingens und seiner Verwirrungen hingelange. Das, was diese beiden zu Meistern machte, war dem Verfasser des Buches der Chronik nicht verliehen. Aber er hatte, was ihnen abging: den Blick für den Weg, den Blick auf die Hoffnung, den Blick über die Reihen der Geschlechter hin, den Sinn für das, was Weltgeschichte ausmacht. Aus ihm spricht das, an dessen Welken dann später das alte Griechenland gestorben ist, der große Enthusiasmus, der mahnende, der warnende, der verkündende Geist, der von der Prophetie herkommt. Im Mittelpunkte des Buches der Chronik steht der König David, der »Gesalbte« von Gottes Gnaden, der Mann, in welchem eine Sehnsucht, wenn sie zu einem Glanze früherer | Tage hinblicken wollte, eine Erfüllung fand, der Mann, der mutig zu sein und sich zu demütigen vermochte, der die Tage bestand, welche gaben, und die Tage trug, welche prüften und versagten, der Wege zu bahnen vermochte und von Wegen dichten konnte, der Mann, den Gott gerufen hatte und der von Gott und Gottes »Zeichen« sang und der bereit war, das Wort Gottes durch seinen Propheten zu hören, der Mann, von dem sich ein Bogen des Bundes spannt zu dem Manne kommender Tage, dem Gesalbten der Zukunft, dem Messias, dem »Sohne Davids«. Die Schilderung des Lebens des Königs David wird zu einem Höhepunkte geführt: Volk und König sind eins geworden in ihrer Hingabe an Gott. »Und David pries Ihn, der ist, angesichts aller der Versammelten«, um Ihm, von dem alles ist, für alles den Dank zu künden, womit Er sie alle begnadet hatte, und zu Ihm flehend, schließt er, indem er alles, was er für sein Volk ersehnt und erhofft, in den einen Satz, den alles bedeutenden, hineinfügt: »O Du, der Du bist, Gott Abrahams, Isaaks und Israels, unserer Väter, bewahre dies für immer der bildenden Kraft – dem ›jezer‹ – der Gedanken des Herzens Deines Volkes, lenke ihr Herz zu Dir hin« (I. Chr. 29,18). Das ist der Satz von dem »jezer« und der »kawwanah«, von der »bildenden Kraft der Gedanken des Herzens« und von »dem Lenken des Herzens zu Gott hin«. Als das letzte Vermächtnis des Gesalbten Gottes an sein Volk stellt unser Buch ihn hin. An einer Wende der Tage wurde er aufgezeichnet. Das, was einer Zeit, der letzten Periode eines Jahrtausends, als die Aufgabe erschien, die nun entscheiden würde, an der darum die neuen Geschlechter arbeiten, für die sie um dieses Volkes willen leben sollten, steht in diesem Satze vor uns. Es war dies Problem der Erziehung und der Verfassung, | mit der Fülle seiner Forderungen, das jetzt das Denken beanspruchte und
171
31
32
33
die nicht ermüdende Arbeit verlangte. Verfassung und Erziehung meinen ein und dasselbe. Durch die Verfassung soll ein Volk erzogen, an ein Ideal herangeführt werden. Durch die Erziehung soll das Einzelleben seine Verfassung, seine Verbindung mit einem Ideal erhalten. Beide meinen sie den Stil des Lebens. Echte Form der Existenz soll empfangen sein und vererbt werden. Jahrhundert um Jahrhundert, durch die Offenbarung und das einkehrende Wissen um den Bund, durch die nie schweigende Erinnerung an den Auszug, durch das, was die Wüste gegeben hatte und das Land dann gab, war eine Eigenart voller Bedeutung, eine Beziehung zu dem Ewigen und Unendlichen gewachsen und zur seelischen Kraft geworden. Sie sollte nun gewahrt sein, damit sie lebendig bliebe, sie sollte nun gesichert sein, damit sie inmitten der Welt ihre gerade Richtung behielte. Sie sollte in Stetigem die Tage durchdringen, damit sie zu neuen Tagen dann wiedergeboren werde. Das war die Aufgabe, welche jetzt die Männer sich stellten, in deren Seele das lebte, was durch die Jahrhunderte gewachsen war. Die Verantwortung für dieses Erbe, das den kommenden Geschlechtern zum Besitztum werden sollte, damit es eine Kraft der Wiedergeburt sei, diese Verantwortung für die Existenz dieses Volkes stand vor ihnen. Um so eindringlicher sprach diese Forderung zu ihnen, da sie es wußten oder es ahnten, daß der Bereich staatlicher und politischer Unabhängigkeit sich für ihr Volk mehr und mehr verengern werde. Was durch ein Schwinden äußerer Selbständigkeit verloren würde, sollte durch die innere Selbständigkeit eingebracht sein. Wenn das Streben versagt sei, in welchem sonst Völker sich ergehen, so sollte dafür die große Entscheidung, welche mehr noch doch bedeutet als alle Wendungen und Windungen der Mächte auf Erden, in diesem Volke zu seiner Lebenskraft | und zur Bürgschaft seiner Zukunft werden. In dem starken Willen zur »Richtung«, zu dieser Richtung des ganzen Lebens zu Gott hin, würde das gegeben sein, worin Größe ihre Aufgabe und der Sieg seine Erfüllung finde. Der Weg und die Hoffnung, diese Wahl, die nie verwehrt werden könne, würden immer sich öffnen, Erziehung und Verfassung würden das vollbringen. Lernen und Lehren, von denen schon Moses und die Propheten und die Männer der Weisheit und der Gebete mahnend gesprochen hatten, wurden daher jetzt das Losungswort. Ein Volk von Meistern und Jüngern, von Lehrern und Schülern soll dieses Volk sein. Das Wort »die Torah« gewinnt den neuen Ton, Torah wird zum Ausdruck für das neue Denken, das aus dem alten hervorwächst. Wie eine Kraft, in welcher Weltschöpfung und Offenbarung sich kundtun, erscheint sie.
172
Doch jene alte Frage, die aus dem Geschehen in der Welt hervorkam, konnte hier den Zweifel wecken, ja einen entgegengesetzten Glauben herbeirufen. Gab es nicht doch wohl eine Macht, die allem entgegenstand und entgegenwirkte, was die Idee von der Erziehung jedes Einzellebens und von der Verfassung der Gesamtheit als Ziel zeigen wollte? Gab es nicht etwas Feindliches innerhalb der Welt, ein überall Entgegengestelltes, etwas, worin nicht nur ein Element des Bösen, sondern das Prinzip des Bösen hervortritt, etwas, worin ein Übermenschliches auf das Menschliche eindringt, die Unmöglichkeit sich gegen die Möglichkeiten stellt? War dann nicht alles Mühen um die »Torah« schließlich zur Vergeblichkeit bestimmt? Mußten nicht dieser Weg und diese Hoffnung, die sich hier vor dem Blick erstreckten, sich zuletzt an diesem Widerstande brechen, so daß sie nur zum Unheil und Verhängnis hinführten, so daß sie nicht nur die Ziellosigkeit, son|dern die Gnadenlosigkeit bedeuteten? War so der Glaube an die Erziehung nicht im Grunde der eigentliche Irrglaube? Solche Fragen wurden immer wieder und von überall her laut. Alles bewegte sich um die eine Frage, ob in der Welt das Prinzip des Bösen, die überirdische Gewalt der Sünde, dieses radikale Böse da sei, stärker als alle Entscheidung des Menschen. Mysterien aus früheren und neueren Tagen verhießen hier das Wunder, in welchem allein jene Macht besiegt werde und der Mensch, in einer Wiedergeburt zu einer wahren Wirklichkeit, zu einem neuen Leben emporgehoben werde. Bahnen schieden sich hier, Glaube stand gegen Glauben. Letzte Fragen des Menschentums, ja letzte kosmische Fragen schienen sich hier zu erheben; sie verlangten die Antwort. Wieder war die Existenz dieses Volkes, das Eigentümliche seiner Seele auf die Probe gestellt. An die geschichtliche Beobachtung, an das, was die Griechen »historia« nannten, konnten diese Fragen herantreten. Aber noch mehr konnten sie aus der persönlichen Erfahrung, aus dem, was das alte Schrifttum dieses Volkes »die Tage der Jahre des Menschen« nannte, hervordringen. Leben ist in seinem Eigentlichsten die Begegnung von Seele und Stunde. Dies von innen Kommende, diese Möglichkeit, dieser »jezer«, dieses Eigentum des Menschen trifft das von außen Kommende, diese Gelegenheit, diese Erscheinungsform des Gefüges, diesen Eingang in das Werden. Wille und Geflecht, Drang zum Bestimmen und Gegebenheit von Ursache und Wirkung stehen einander gegenüber. Nie ist dem Menschen ein Fertiges, ein Geschenk von oben, in die Hand gelegt. Was ihm gewährt wird, ist nur die Stunde, die Gelegenheit, die sich vor seiner Seele, vor der Kraft
173
34
35
36
zur Möglichkeit, die er besitzt, immer neu auftut. Sie ist gleichsam der »Bote«, welchen Gott zu uns schickt. Der Mensch und ebenso das Volk sollen ihn erkennen, sollen sehen, was Gott zeigt, sollen hören, | was Gott sagt. Ein Leben erfüllt sich, wenn es das, was so zu ihm gesandt wird, begreift und aufnimmt. Ein Leben verfehlt sich selber, wenn es die Möglichkeiten, die in ihm wohnen, und die Gelegenheiten, die ihm nahen, nicht einander finden, nicht zusammen zu einer Wirklichkeit werden läßt, wenn es so die »Boten«, die zu ihm kamen, vorüberziehen ließ. »Der Weg, der verlorengeht«, von dem der erste Psalm spricht [1,6], ist der Weg der Möglichkeiten und Gelegenheiten, die ungenützt blieben oder mißachtet wurden und so »verlorengingen«. Von ihnen zumeist und zuerst erzählt die Geschichte, erzählt das Leben. So konnte auch vom Leben und der Geschichte her der Gedanke sich einstellen, daß hinter allem, was da ist und geschieht, das radikale Hindernis wohne, dessen Werk es sei, die Möglichkeiten zu beirren, die Gelegenheiten zu vereiteln, damit Seele und Stunde sich nicht finden. Der Glaube bereitete dem allen die persönlichen Züge. Das radikale Hindernis erschien als jenes radikale Böse und das radikale Böse als die radikale Bosheit, die nicht nur zu verderben wünschte, sondern voller Tücke sich die Stunden und die Seelen hierfür wählte. Nicht ein Element des Argen nur, sondern ein Prinzip der Täuschung, eine überirdische Gewalt, schien sich zu betätigen. Einer Art von Regel schien sie sich zu befleißigen, gewissermaßen eines Gesetzes der vorletzten Stunde. Menschen, Völker hatten den rechten Weg gesucht und ihn schon betreten, aufwärts zu einem Ziele hin, und in der Stunde vor der entscheidenden Zeit, vor den entscheidenden Schritten, überkam sie die große Täuschung, die sie in das Verhängnis hineindrängte – eine Geschichte vorletzter Stunden könnte man in der Tat schreiben. Eine »satanische« Macht, so dünkte es, stand hinter allem. Der Glaube an die widergöttliche Gewalt wuchs. Die These von dem »Teufel« wurde aufgestellt, und | sie war die Antithese gegen die Existenz dieses Volkes, gegen das, was ihm der Weg und die Hoffnung war. Das Wort »Satan« ist allerdings ein hebräisches, und die biblische Poesie bedient sich seiner bisweilen. Aber es hat hier eine Bedeutung, welche von der, die es in anderen Glaubenssphären erhalten hat, völlig verschieden ist. Es gehört hier der Weise dichterischen Ausdrucks an, welche menschlichen Eigenschaften und Gewohnheiten gern die Gestalt und die Sprache verleiht. So wird durch den »Satan« greifbar und hörbar die Art derer dargestellt, die das Licht, das Helle und Gute nicht sehen können oder nicht sehen wollen, die den
174
Blick nur für das Dunkle, das Mangelhafte, für das, was sich versteckt, haben. Das Wort bedeutet anfänglich: sich entgegenstellen, in den Weg treten. Die Männer, welche die Bibel ins Griechische übersetzten, fanden in dieser Sprache kein ganz entsprechendes Wort, und so behalfen sie sich mit einem, das ein Durcheinanderwerfen, ein verstelltes Anklagen, ein Verleumden und schließlich ein Zugrunderichten bezeichnet. Aus dem Boden dieser Übersetzung ist der »diabolos«, der »Teufel« erwachsen, dieser »Satan« als die zerstörende Gewalt, als die Macht der Bosheit. In dem biblischen Wort ist davon nichts enthalten. Hier, in der Bibel, ist in dem Satan nichts von einer widergöttlichen Gewalt, er kann nur tun, was ihm erlaubt ist. Aus eigenem kann er nur deuten und mißdeuten. Am letzten Ende ist er nur dazu da, um widerlegt zu werden, um es zu sehen, wie er vor Gott, vor der Wahrheit und Wirklichkeit nicht bestehen kann. So erscheint er im Prologe zum Buche Hiob: Er möchte der Prokurator Gottes sein, er »schweift« auf den Straßen der Erde umher, um irgendwo an irgendwem Schwächen, Mängel, Vermeintlichkeiten aufzuspüren. An Hiob versucht er sein Werk. So erscheint er im Buche des Propheten Secharjah: An dem Hohenpriester Josua versucht er es hier. Aber dies ist die | Antwort, die er hören muß: »Abweisen wird Er, der ist, dich, den Satan, ja, abweisen wird dich Er, der ist, der Jerusalem erwählt. Ist nicht dieser – Josua – ein Scheit, gerettet aus dem Brande!« (Sech. 3,2). Das ist hier der Satan: die poetische Personifikation und Projizierung seelischer Unzulänglichkeit, der Unfähigkeit, zu sehen und zu begreifen. Es ist aber, wie wenn der Genius des Glaubens und seiner Sprache die Gefahr geahnt hätte, die von »dem Satan« herkommen konnte. Ihm wird der bestimmte Artikel genommen und nur der unbestimmte noch beigefügt. Nicht mehr von »dem Satan« wird gesprochen, sondern bloß von »einem Satan«, irgendeinem, der hier oder dort gegen einen Menschen eindringt oder ihm nachstellt. So sagt es das Gebet aus alter Zeit, das seit den Jahrhunderten das Abendgebet und Nachtgebet dieses Volkes ist. Mit den Worten beginnt es: »Laß uns, Du, der Du bist, unser Gott, uns niederlegen zum Frieden, und laß uns aufstehen, unser Herr, zum Leben, und breite über uns das Dach Deines Friedens.« Und es schließt mit den Worten: »Im Schatten Deiner Fittiche birg uns, denn Gott, der uns behütet und uns rettet, bist du, denn Gott, Herr, gnädig und barmherzig, bist Du, und behüte unser Hinausziehen und unser Hereinkommen von jetzt und bis zu aller Zeit.« Und dazwischen steht der Satz: »Halte fern von uns Feind, Pest und Schwert und Hunger und Kummer, und halte fern
175
37
38
39
einen Satan vor uns und hinter uns.« So spricht auch das alte Morgengebet: »Möge es ein Wille sein von Dir her, der Du bist, Du, mein Gott und Gott meiner Väter, daß Du mich rettest heute und an jedem Tage vor Anmaßenden und vor Anmaßung, vor einem bösen Menschen und einem bösen Gefährten und einem bösen Nachbarn und einem bösen Begegnis und vor einem Satan, der verdirbt, vor einem harten Verfahren und vor einem Manne, hart im Verfahren, sei er ein Sohn des Bundes oder sei er nicht ein Sohn des Bundes.« | Die vielen drinnen und draußen, die Böses tun oder von denen Böses droht, sind in diesem Gebete genannt, das in solcher Aufzählung so nüchtern klingt. Es ist ein Morgengebet, das an den Tag denken heißt, welcher bevorsteht, an alles das mahnt, was durch ihn nach dem Frieden der Nacht harte, trockene Wirklichkeit werden kann. Wer das vernimmt, der hört hier ein Ergreifendes. Die Fülle des Leides, das von Menschen über einen Menschen kommt, hat hier ihren unpathetischen Ton; die Wirklichkeit selbst ist hier das Pathos. Etwas von jener Verzweiflung, aus welcher der große Zweifel, der Zweifel am Guten, dieser Glaube an das radikale Böse, erstehen kann, spricht hier; aus dem Zweifel erwächst kaum je die Verzweiflung, aber aus ihr kommt oft der starrste Zweifel hervor. Neben allen denen, die bestimmt benannt sind, deren Attribut anmaßend »böse«, »hart« ist, von denen man weiß, wer sie sind und was sie wollen, steht der, von dem alles zu besorgen ist, weil er noch kein Erkennbarer ist und nichts Erkennbares will, der eben nur »ein Satan« ist, der überall nach Mängeln und Schwächen sucht, um irgendwo eine »Grube zu graben«. Aber Gott, so betet der, welcher beten kann, wird auch vor ihm retten. Das und nichts anderes, keinen anderen, als in ihrer Art der böse Nachbar und der harte Gegner bezeichnen, meint hier das Wort »Satan«. Nur auf anderem Boden konnte es anderes bedeuten. Für ein Prinzip des Bösen, das alles Böse erklären sollte, war hier kein Raum, geschweige denn ein bestimmter Platz. Die Gewißheit der Seele, daß ihr Ursprung in Gott ist, daß sie rein ist und darum frei sein kann, hat niemals und nirgends abgedankt. Sie hielt an sich fest, mochten auch immer Stunden oder Tage oder Jahre sie bedrohen. Am Anfang der Morgengebete steht der Satz, der ein Glaubenssatz geworden ist – nur im Gebete hat der Glaube hier seine Sätze geprägt: »Mein Gott, die Seele, die du in mich ge|geben hast, ist rein. Du hast sie geschaffen, Du hast sie geformt, sie ist Dein Odem in mir.« An diesem Satz von dem wurzelhaften Guten brach sich jede Lehre vom wurzelhaften Bösen. Man hat auch in diesem Volke von den Verflechtungen des Geschehens in gutem Geschick und im Argen gewußt, man hat über die An-
176
ziehungen innerhalb der Sphären von Ursachen und Wirkungen, über alles das, was man den Zufall, mit seiner Gunst und seiner Tücke, nennt, heiter oder bekümmert nachgesonnen. Aber man hat hier nie eine große Widervernunft am Werke gesehen. Es hat in Schichten und Zeiten dieses Volkes auch mancherlei Aberglauben gegeben, der zwischen die Welten, in die der Mensch hineingestellt ist, die bunten Gespinste hineinwob. Sie wurden zu Netzen, in denen mancher suchende Geist sich verfangen konnte. Auch jene Furcht vor dem Leeren, welche die Räume, die der Blick nicht durchdringt, mit den schwirrenden Gestalten bevölkert, hat Grübeln und Zagen hier erzeugt. Mancher naive Märchendrang hat hier auch seine Gebilde geschaffen; viel solcher Buntheit hat es hier bisweilen gegeben. Auch eine Gefahr ist in manchen Tagen nicht ferngeblieben. Die Phantasie, ein Erbgut dieses Volkes, konnte andachtslos, konnte ehrfurchtslos werden. Das lebendige Gefühl für das eine große Geheimnis, das ewige, unendliche, dieses tiefste Empfinden der Seele, das dem Leben seine Ehrfurcht und damit seine Andacht gibt und mit dem darum die Frömmigkeit steht und fällt, diese letzte Ergriffenheit des Menschen, dieser Monotheismus des Empfindens konnte in jenem Spielen und jenem Zittern sich verlieren. Das eine große Geheimnis, die große Erhabenheit, in der das Leben ruht, konnte durch jene vielen Geheimnisse, die sich um das Leben schlingen wollten, beengt und schließlich verdrängt werden. Die Phantasie selbst mußte darin ihr Bestes, ihr Eigentümliches dahingeben. Denn wenn sie ohne | die Ehrfurcht ist, hört sie auf, eine Kraft zu sein. Sie wird zu einer Schwäche, die umherirrt. Sie hat unterwegs ihr Segnendes verloren. Aber diese Gefahr ist immer sehr bald überwunden worden. Die Gewißheit der Nähe, die Unmittelbarkeit Gottes war doch zu stark und daher das Gefühl für die Reinheit und Freiheit der Seele zu lebendig, als daß jene Gebilde hätten schicksalhaft zwischen den Menschen und den einen Gott treten können. Die Existenz des Volkes blieb unversehrt, und der Humor, eine ihrer immer wieder hervorgekommenen Lebensquellen, vertrieb dann den Rest der Gestalten des Aberglaubens. Die Richtung zu dem einen Gotte, die »kawwanah«, blieb. Sie konnte durch keine Lehre von einem ursprünglichen Bösen und seiner Macht und auch durch keine Phantasien von den kleinen Gespenstern des Bösen und ihrem Spiel mit dem Menschen beirrt oder abgelenkt sein. Davids letztes Gebet [I. Chron. 29,18] war erhört. Eine entscheidende Probe hatte diese Glaubenskraft schon zu bestehen gehabt, als ihr in der letzten Periode des Jahrtausends des Wachstums jene Lehre von der Macht neben Gott in ihrer eindrucks-
177
40
41
42
vollsten Form, in dem persischen Dualismus, gegenübertrat. Der Eindruck ging von der Klarheit der Lehre aus und ebenso, und vielleicht noch mehr, von der Klarheit des Volkes, dem sie zu seiner Religion damals geworden war. Die Begegnung mit den Persern und ihrem Glauben ist eines der stärksten Erlebnisse in dem Dasein dieses Volkes gewesen. Man könnte sagen: Sie war die erste moralische Begegnung mit einem anderen Volke. Nicht oft hat dieses Volk nochmals ein Gleiches oder Ähnliches erfahren. Es war etwas ganz Neues, was in dem jungen Volke der Perser, in seinem Könige Kyros – in hebräischer Sprache: Koresch – und in dem Glauben, mit dem und für den sie in | die Geschichte eintraten, damals vor diesem um Jahrhunderte älteren Volke stand. Es hatte bis dahin vielerlei gesehen: Stämme, die zu Völkern wurden, und Völker, die verschwanden. Es hatte sowohl Feindliches wie Bedrükkendes kennengelernt, so manches auch, was in seiner Art grandios erschien: den Glanz und das Wissen von Memphis und Theben, von Sidon und Tyrus, von Niniveh und von Babylon. Es hatte auch von der Grandiosität der Fruchtbarkeit erfahren müssen, die auf dem Boden Kanaans und aus der Nähe umher ihre Arme ausbreitete. Seinen Blick und seinen Weg hatte vieles so getroffen. Aber niemals war es einem Volk innerlich begegnet. Seine Geschichte, die, um derentwillen es lebte, die einzige, die es haben konnte, war es vielmehr gewesen, daß es zu ihnen allen und ihrer Art das feierliche Nein, das Nein um Gottes willen, sprach, sich um seiner Existenz willen von ihnen innerlich abkehrte. In der persischen Nation stand jetzt vor den Menschen dieses Volkes etwas ganz anderes, ein bis dahin nicht Erfahrenes. Eine ganz andere Stimme konnte gehört werden. Es war, wie wenn ein Wort Gottes auch von dorther redete. Wir können nicht mehr die Linien feststellen, in denen dieser Eindruck seine Züge gewann. Aber die Tatsache steht fest, der Eindruck zeigt die ganze Deutlichkeit und offenbart seine Gründe. Zum ersten Male sah man hier ein sauberes Volk vor sich, ein Volk mit einem Ideal. Das, was von allen den anderen Völkern ringsumher geschieden hatte und schied und scheiden sollte, war die Unreinheit jener Völker. Immer wieder hatten die Propheten das gesagt, immer neu es als die große Aufgabe dieses Volkes verkündet, ein Volk der Reinheit zu sein und seinen Boden, den ihm Gott gegeben, zu einem Boden der Reinheit zu machen. Nur auf dem Boden der einen Reinheit werde der Glaube an den einen Gott Kräfte aus der Tiefe ziehen. In dem Kampf der einen Rein|heit gegen die wuchernde Fülle der Unreinheiten hatte sich das Wachstum vollzogen und war die Seele ihres Eigenen bewußter geworden. Etwas von diesem ihrem
178
Eigenen redete jetzt aus der Art des persischen Volkes sie an, und sie öffnete sich dem. Zum ersten Male geschah es so: Ein Volk imponierte diesem Volke. Was diese neue Erfahrung geweckt hatte, blieb wach. Immer blieb dieses Volk empfänglich für das moralische Begebnis und die moralische Begegnung, immer war es sowohl fähig als bereit, die saubere Idee, die saubere Hoffnung, die saubere Kraft und jedes Volk und jede Gemeinschaft, in denen sich diese regten, zu begreifen und anzuerkennen. Man schaute oft sehnsüchtig danach aus und horchte erwartungsvoll darauf hin. Die Jahrhunderte, die diesem ersten Erlebnis folgten, legen davon Zeugnis ab. Keine Enttäuschung, kein schließliches Erfahren vom Gegenteil konnte diese Bereitschaft der Seele zerstören, konnte diesen Willen überwinden. Der Prophet und der Geschichtsschreiber jener Tage sprechen von Kyros beinahe so, wie sie vom Könige David sprachen. Sein Name scheint auf dem Bogen des Bundes aufzuleuchten, der, gegen das Dunkel gestellt, sich von David zu dem »Sohne Davids« hinzieht, von der Verheißung der Wirklichkeit hin zur Wirklichkeit der Verheißung. »Einen Gesalbten Gottes«, »Knecht Gottes« – es ist dies der einzige Adel, den dieses Volk anerkennt –, einen, »zu dem Gott spricht«, nennt ihn der Prophet [Jes. 41,1]. Und der Verfasser des Buches der Chronik, dem ein Name mehr besagt als alles Geräusch ringsherum, schließt sein Buch der Weltgeschichte, dieser Geschichte der Generationen von Adam zu David und von David bis zu dem Geschlechte hin, in welchem er selber lebt, mit dem Satze: »So sagt es Koresch, der König von Paras: ...« [II. Chron. 36,23] Es war ein Wort einer Befreiung, das Koresch für dieses Volk jetzt verkündete; aus einem Boden der Reinheit holt der Sinn für die Freiheit | seine Säfte und Kräfte. Nicht wie der Pharao hatte er zerschmettert werden müssen, damit Freiheit werde. Er hatte ihren Weg begriffen, und er zeigte ihn. Ein Exil sollte enden, drinnen und draußen. Auf das alles muß man den Blick lenken, um zu ermessen, mit welcher Kraft damals dieses Volk an seiner Richtung zu dem einen Gotte hin, zu ihm allein, neben dem kein anderer ist, an dieser seiner »kawwanah« seines Lebens festhielt. Das neue Erlebnis war in diese Menschen damals eingetreten, in Koresch und dem Volke der Perser war es gekommen. Vor ihnen stand etwas, was ihnen selber glich. Ein Volk eines Glaubens war vor ihnen, nicht nur Volk mit einem Glauben wie alle die anderen Völker nah und fern. Es war ein geistiger Glaube zudem, ein Glaube mit einem Ideal, und er verwarf die vielen Götter und ihre Bilder. Den Kampf der zwei großen, ursprünglichen Mächte, des Gottes des Lichtes und seines Gegners,
179
43
44
des Gottes der Finsternis, lehrte er und rief den Menschen auf, dem Lichte zu helfen. Die Versuchung, die in dem Wissen um eine Ähnlichkeit, um die gemeinsamen Züge berücken will, nahte zum ersten Male. Aber sie wurde bestanden, damals wie dann auch in anderen Tagen und anderen Gebieten der Anziehung. Der Glaube dieses Volkes blieb seiner gewiß. Weder kapitulierte er vor den Siegern und dem, was groß an ihnen war, noch ging er den Weg zu dem Kompromisse hin. Kompromisse sind zum Guten und so oft unentbehrlich in den Fragen des Peripheren und seiner Bedingtheiten, aber sie werden zu ernstem Verhängnis in den Fragen des Zentralen und seines Unbedingten. Der Respekt, den das neue Erlebnis erzeugt hatte, blieb lebendig, aber ebenso blieb die fruchtbare Kraft des Willens zum Eigenen. Auch der Glaube an die zwei Gewalten wurde zurückgewiesen, so eindrucksvoll damals hinter ihm ein Geist des Imponierenden stand. | Das entscheidende Wort, welches zur Bestimmtheit hinführte, hat der Prophet gesprochen, durch den das babylonische Exil gesegnet wurde. Seine Reden sind schon früh an das Buch des Propheten Jesaja angefügt worden, und wir kennen seinen Namen nicht; vielleicht trug auch er diesen Namen Jesaja. Er ist einer der großen anonymen Autoren der Bibel. Wir wissen auch von den Begebnissen und Begegnissen seines Lebens nichts. Aber in der ganzen Geprägtheit der Persönlichkeit steht dieser Mann vor uns, und aus letzten Tiefen des Persönlichen hervor spricht er. Schon vor ihm hatte ein Prophet, der aus dem Lande Juda fortgeführt worden war, die Menschen des Exils aufgerichtet, Jecheskiel, ein Mann, in dem sich das visionäre Vermögen mit der architektonischen Gabe verband. Er hatte die Gegenwart wundersam zum Boden der Vergangenheit hingeführt und Verheißung der Zukunft wundersam auf solchem Boden aufgebaut. Dieser Große, der jetzt erstand, dieser nicht Genannte, hat die Gegenwart in den Acker der Zukunft pflanzen wollen. Von der Zukunft getragen und von ihr genährt, nicht nur zur Zukunft hingewiesen, so erscheint ihm die Zeit, in die er hineingestellt ist. Darum ist ihm, als redete nicht er, er in seinem Tage, sondern als redete die Zukunft, und er selbst ist nur »Stimme eines, der ruft«, »Stimme eines, der spricht« (Jes. 40,3.6). Daß Gegenwart aus der verheißenen Zukunft, diesem Unverrückbaren, Bleibenden, hervorwachse, daß Zukunft so schon gegenwärtig werde, das ist die Aufgabe, die er seinem Volke stellt. Er hat inmitten von Menschen anderer Zunge im babylonischen Lande gelebt, und er ist so der eigenen Sprache, die auch im Jahr-
180
tausend gewachsen war, tiefer noch bewußt geworden. Alten Worten hat er den neuen Gehalt und den neuen Klang geben können. Auch an anderen Stätten ist in anderen Tagen solches gewesen. Besonders ein Wort gewinnt durch ihn | eine neue Bedeutsamkeit, das Wort »Trösten«. »Tröstet, tröstet Mein Volk, wird euer Gott sprechen« (Jes. 40,1), so beginnt seine Prophezeiung. »Trost«, das ist hier die Antwort, in der die Gewißheit, die immer bestehen wird, zu den Ungewißheiten spricht, die mit dem Tage kommen und gehen. Im »Trost« nimmt die Zukunft, welche bleibt, die Gegenwart in sich auf. Die ewige Liebe tritt gleichsam in die ewige Gerechtigkeit ein, und sie wird zur Vergebung; beide, die Liebe und die Gerechtigkeit, haben sich erfüllt. Darum ist in diesem Worte »Trost« nichts von einem Sentimentalen oder einem Beschwichtigenden und Verhüllenden. Die große Forderung, die dynamische Messianität spricht vielmehr aus ihm. »Trösten« meint zugleich das Freimachen, das Öffnen des Weges, das »Hinwegheben dessen, was straucheln läßt« (Jes. 57,14). So fährt denn das Wort »Tröstet mein Volk« also fort: »Stimme eines, der ruft: In der Wüste bahnet einen Weg dessen, der ist, bereitet in der Dürre eine gerade Straße für unseren Gott ... und offenbart wird sein die Ehre dessen, der ist, und sehen wird alles Fleisch insgesamt, daß der Mund dessen, der ist, geredet hat« (Jes. 40,3.5). Einst hatte in der Wüste Moses gebetet: »Laß mich doch Deine Ehre sehen!«, »Laß mich doch Deine Wege sehen« [Ex. 33,13.18], und diese Worte haben durch die Jahrhunderte weitergeklungen. Jetzt läßt sie der Prophet des Exils neu zu dem Volk also sprechen: »In der Wüste bahnet den Weg dessen, der ist ... und offenbart wird sein die Ehre dessen, der ist.« Und das ist ihm der Trost, dieser Trost, der nie versagt, weil er zugleich der Weg ist. Der Weg ist zum Troste geworden, denn er ist die Straße, die für Gott gebahnt wird. In diesem Troste hat dieses Volk gelebt, durch diesen Trost hat es zu bestehen vermocht. Manches ist ihm versagt worden, manches auch genommen worden, aber niemals ist es ein Volk ohne den Trost gewesen. | Den Weg zu bahnen, das war die große Aufgabe, welche hier dem Volke gestellt wurde, diesen Weg von der bleibenden Zukunft her zu jeder der wechselnden Gegenwarten hin. Das Reich des Ewigen, das Reich des Himmels vorzubereiten, so haben im zweiten Jahrtausend dieses Volkes Lehrer diese Aufgabe benannt. Daß »wir die Welt ordnen mögen durch das Reich des Allmächtigen«, so hatte einer der Lehrer hoffen und beten heißen, der achthundert Jahre nach dem Propheten auf dem gleichen babylonischen Boden in einem neuen Persischen Reich lebte. In einem Gebete für den Neujahrstag hatte
181
45
46
47
er die Worte so gefügt, und dieses Gebet ist zu einem Bekenntnis des Glaubens und zu einem Gesange der Märtyrer geworden. Von dem einen Gott und seinem Volk und von dieses Volkes Harren auf seinen Gott spricht es, in zwei Satzes-Rhythmen, beginnend mit den Worten: »Auf uns ist es« – im Hebräischen ist es das eine Wort: alenu – und schließend mit den Worten: »und der Glorie Deines Namens werden sie alle, die auf Erden wohnen, die Ehre geben.« Mit Gott »mitzuwirken am Werke des Werdens«, so hatten, in dem dritten Jahrtausend dieses Volkes, die »Frommen im Lande Aschkenas«, an der Donau und am Rhein, in ihrer mystischen Sprache die Aufgabe benannt. Einem bedeutsamen Satze des Talmuds waren sie darin gefolgt. »Das Unerlöste in der Kreatur Gottes zu erlösen«, so haben dann, sechs Jahrhunderte danach, in den östlichen Ländern Europas die Männer der neuen Frömmigkeit, des »Chassidismus«, diesem selben den Ausdruck gegeben. Aber wie immer im Gange der Zeiten die hoffende Seele, in der Gebot und Sehnsucht zu einem geworden waren, hier ihr Wort sich formte, das, was sie wußte und auszusprechen suchte, war doch immer das eine und selbe. Sie wußten um den Weg und um den Trost, um die eine Gnade des einen Gottes. | Diese Gewißheit hat, mit seinen Worten, der Prophet des Exils verkündet. Sie spricht um so stärker, da in ihr zugleich die andere, die in ihrem Grunde ja dieselbe ist, sich offenbart, die, daß alles, was die Welt umfaßt, die eine Schöpfung des einen Gottes ist. In der Schöpfung waltet der Trost; denn der eine Gott ist der eine Schöpfer. »Er ist der, der alles formt« [Jes. 45,7] – das Wort »alles«, das Wort »alle« gewinnt hier die neue Emphase. Nichts ist außerhalb der einen Schöpfung, nichts in der Welt ist eine Welt für sich; keiner und keines ist aus ihr herausgenommen, ist außerhalb dieses Ganzen der Möglichkeiten, welche Welt heißt. Auch das, was Geschichte heißt, steht innerhalb der Schöpfung; nichts ist eine Macht für sich. »Denn Er ist der Schöpfer von allem.« Darum ruft der Prophet den Leuten von Babel zu, die sich ihre Götzenbilder verfertigen und die Gestirne zu ihren Göttern haben, von denen die Schicksale kommen: »Hebet empor eure Augen und sehet! Wer hat diese geschaffen? Er ist es, der in der Zahl – in der Konstellation – ihr Heer herausführt, sie alle mit Namen nennt – jedem sein Eigenes gegeben hat; aus der allumfassenden Macht, aus der allvermögenden Kraft ist keiner herausgestellt« (Jes. 40,26). Die eine große Gewißheit, aus der alle Gewißheit kommt, spricht hier. Sie läßt den Propheten auch das Wort besitzen, mit dem er sich dann an den König der Perser wenden kann: »So hat Er, der ist, zu
182
seinem Gesalbten, zu Koresch, gesprochen: Ihn habe Ich bei seiner Rechten gefaßt, Völker vor ihm zu Boden zu strecken, die Lendengurte von Königen werde Ich öffnen, zu öffnen vor ihm Türen, Tore werden nicht verschlossen sein. Ich, Ich gehe vor dir einher ... Ich, Ich bin es, der dich mit Namen benannte, Israels Gott. Um Meines Knechtes, um Jakobs willen, um Israels willen, Meines Erwählten, rief Ich dich auf mit deinem Namen. Ich bezeichnete dich, und du erkanntest Mich nicht, Ich, der Ich bin, und keiner sonst. Außer | Mir ist kein Gott. Ich rüste dich und du erkanntest Mich nicht, um des willen, daß sie erkennen, die vom Aufgang der Sonne und die von ihrem Untergange, daß nichts außer Mir ist. Ich bin der, der ist, und keiner sonst, der, der bildet Licht und schafft Finsternis, der da macht Frieden und schafft das Böse, Ich bin der, der ist, der da macht alle diese« (Jes. 45,1-7). Die Worte der Bibel und vornehmlich die der Prophetenbücher und in ihnen besonders die dieses Propheten verlangen das Mitdenken und das Nachdenken und oft auch ein Weiterdenken. Zwei Sätze in dieser Verkündigung an Koresch sind wie Zeichen aufgerichtet. Sie weisen über das hinaus, was das Wort zunächst nur besagen mag. Was Geschichte ist, will der eine zeigen; wie die Schöpfung Gottes ihren Sinn dem Geiste erschließen kann, will der andere erfassen lassen. In die Schöpfung und in die Geschichte ist der Mensch hineingestellt. Zu beiden soll sein Denken hinziehen. Der erste Satz ist der, welcher sagt: »Ich bezeichnete dich, und du erkanntest Mich nicht.« Von der Vorbereitung in der Geschichte oder, wie auch gesagt werden kann, von der Vorsehung in der Geschichte ist hier gesprochen, Menschen und Völker erfüllen eine Aufgabe, die zu der großen, der eigentlichen Aufgabe hinführt. Zu dem Wege hin, der für Gott gebahnt wird, bereiten sie einen Zugang. Sie dienen in Treue einer Bestimmung, die sie in guten Stunden irgendwie vor sich sehen, und Gott steht ihnen bei. Gott schafft ihnen den Raum. Aber sie sehen nicht das, was dahinter ist, sie erschauen nicht das Letzte der Bestimmung. Gott »hat sie benannt, und sie erkannten ihn nicht«. Sie sind die Menschen, die Völker der Vorbereitung, sie sind die von der Vorsehung Bezeichneten. Dem Menschen, dem Volk und einem Raume, dem Menschen, dem Volk und einer Zeit ist die Begegnung gewährt. Wie der große Lehrer in dem Jahrtausend der Erziehung, Akiba ben | Joseph, sagte: »Alles ist gesehen, und die Willenswahl ist gegeben.« Im dritten Jahrtausend dieses Volkes, als seine alten Erkenntnisse wieder den neuen Ausdruck verlangten, sind seine Denker oft an die Frage der Vorsehung, oder, wie der Begriff in seinem Wörtlichen
183
48
49
50
sie benennt, des »Blickes« Gottes, herangetreten. Sie sprachen von einer universellen, einer kosmischen Vorsehung, die sich in den zubereitenden und erhaltenden Kräften der Natur und in denen der Gattungen und Arten der Geschöpfe kundtue. Sie sprachen auch von einer individuellen Vorsehung, die sich in der Lebenslinie von Menschen abzeichne, die durch eine höhere Macht gelenkt erscheinen. Zwei dieser Philosophen, die, auf welche die späteren Generationen immer wieder voller Dankbarkeit hinblickten, Jehuda Halevi und Moses ben Maimon, haben auch auf die Providenz in der Geschichte, auf diese Vorbereitungen, diese Entstehungen und Entwicklungen im Leben der Menschheit hingewiesen. Sie gewannen darin die Antwort auf eine wesentliche Frage: auf die Frage nämlich nach der geschichtlichen Bedeutung alles dessen, dem sie nicht, wie manchem anderen, nur ihr Nein entgegenstellen durften, zu dem sie aber auch ihr Ja nicht sagen konnten – wohl ein Ja, aber nicht das Ja konnten sie sprechen. In die Begriffe ihrer Tage faßten sie es. Aber was sie sahen und vernahmen, war eben das, was der Prophet des Exils geschaut und gehört hatte, als er im Namen des Ewigen an Koresch das Wort richtete: »Ich, der Ich bin, habe dich bei deiner Rechten gefaßt, Ich nannte dich mit Namen, und du erkanntest Mich nicht.« [Jes. 45,4] Von den Vorbereitungen in der Geschichte, von den Wegen um des einen Weges willen, von diesen Wegen, die zu dem Wege hinführen, wußten auch sie. Das, was groß und rein und darum lebendig war, wo immer in der Welt, erkannten sie in dankbarer Bereitschaft an. Um so gewisser wurden sie dann des Weges, | und um so tiefer empfanden sie, was das Wort meint: »um Meines Knechtes, um Jakobs willen, um Israels willen, Meines Erwählten.« [45,4] Der andere Satz, der das Denken zu letzten Fragen führen will, ist der von der Schöpfung. »Ich bin der, der ist, und keiner sonst, der da bildet Licht und schafft Finsternis, der da macht Frieden und schafft das Böse.« [45,7] Diese Worte stellt der Prophet gegen die Lehre Zarathustras, des Persers, jene Lehre von den zweien, welche da sind und wirken, dem Gotte des Lichtes und dem Gotte der Finsternis, dem Prinzipe des Guten und dem Prinzipe des Bösen. Ein Äußerstes der religiösen Paradoxie scheint hier zu sprechen und im Ringen mit der Sprache seinen Ausdruck zu suchen, wenn der Prophet sagt, daß der eine Gott, der eine Schöpfer, alle diese macht. Aber nur in dieser Paradoxie konnte er die Antwort vernehmen. Sie mußte er verkünden, auch wenn das, was ihm offenbar geworden war und was er nun aussprechen sollte, aus dem Bereiche kam, der jenseits menschlicher Worte ist.
184
Denn an einem hat die Gewißheit dieses Volkes in den Tagen seiner Not wie in den Stunden seines Zweifels immer den Halt gefunden. Durch eines ist seine Seele aufgewachsen, und sie hat immer neu das Denken und Sinnen, den Willen und die Hoffnung gezeugt. Dieses eine ist die Wahrheit von dem einen Gotte, der offenbart und schafft, neben dem es keinen anderen gibt, diese Erkenntnis, daß in ihm allein das Absolute ist und alles außer ihm ein Relatives bleibt. Alles außer ihm ist seine Schöpfung und keines anderen Werk. Aber es ist Schöpfung darum immer im Relativen. »Zwischen dem Lichte und der Finsternis hat Gott geschieden«, so sagt die Erzählung von der Schöpfung am Anfang der Bibel. »Gott hat das Gute und das Böse vor uns Menschen hingelegt«, so mahnte Moses vor seinem Tod immer wieder das Volk. In Ihm, der ist, in dem Einen allein lebt das Ab|solute. Die Welten, die Er geschaffen, die Welten des Alls und die Menschenwelten, sind die Welten der Möglichkeiten nur. Aber Welten einer unendlichen Fülle der Möglichkeiten sind sie, weil der eine Gott sie geschaffen hat. Sie sind die Sphären des Relativen mit allen seinen Spannungen, den Spannungen zwischen dem Relativen und dem Absoluten und den Spannungen auch zwischen dem Relativen und dem Relativen. In die Schöpfung sind die Möglichkeiten hineingestellt, sie alle in ihren Maßen und Verhältnissen, in ihrem Steigen und Fallen. Der eine Gott »bildet Licht und schafft Finsternis, macht Frieden und schafft das Böse«. Das All der Spannungen sind die Welten. Darum gibt es nicht den vollkommenen, den vollendeten, den fertigen Menschen, sondern nur den Menschen der Möglichkeiten, der Gefährdungen und der Spannungen. Immer wieder und immer neu hat er zu wählen und sich zu entscheiden. »Denn kein Mensch ist ein Gerechter auf Erden, der das Gute täte und nicht sündigte«, so sagt das Buch des »Predigers« (7,20). Er kann nur Gott näher oder ferner sein. Nichts Höheres, als Gott nahe zu sein, vermag er zu erreichen. Aber auch zu nichts Niedrigerem, als in die Gottesferne hinabzusinken, kann er verdammt sein. Sein Weg kann »verlorengehen« und sein Denken und Trachten damit richtungslos, sinnlos werden. Aber die Kreatur Gottes kann nicht selbst verlorengehen, kann nicht ganz ihren Sinn einbüßen. Der Prophet, der zu Koresch sprach, sagte auch dieses Wort: »Suchet Ihn, der ist; sein ist es, gefunden zu werden. Rufet zu Ihm; sein ist es, nahe zu sein. Es verlasse der Frevler seinen Weg und der Mann des Unheils seine Gedanken und kehre zurück zu Ihm, der ist, und Er wird seiner sich erbarmen, und zu unserem Gotte, denn Er wird viel geben, um zu verzeihen« (Jes. 55,6-7). |
185
51
52
53
Sie gehören zusammen: das Schlußwort der Verkündigung an Koresch [45,7] und dieses Wort von der Umkehr und der Vergebung [55,7]; einander geben sie die volle Kraft und die ganze Bedeutung. Dieses Wissen um das, was einst Moses am Sinai erfuhr, als er »die Wege Gottes zu sehen« [Ex. 33,13] ersehnt hatte, dieses Wissen um Gott, der »barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Liebe und Treue ist« (Ex. 34,6), ging der Religion der Perser ab. Deshalb ist sie zu einem Dualismus geworden. Weil das, was Moses als Offenbarung Gottes empfangen hatte, in seinem Volke weiterlebte, immer wieder geboren und neu mit Sprache begabt, hat dieses Volk auch die Versuchung bestehen können, die zu ihm in einem großen Gedanken eines Glaubens hintrat, welcher der Glaube eines Volkes war, das ein Werkzeug der Geschichte wurde, welcher als der Glaube eines sauberen Siegers, eines Befreiers herantrat. Zwei Aufgaben mußte so dieses Volk in einer neuen Epoche seiner Existenz gewachsen bleiben. Zwei Berückungen [Bezauberungen] stand es gegenüber. Jede von beiden, eine jede in ihrer Weise, konnte ihre Weihe und ihre Weite besitzen, und die beiden haben zudem nicht selten sich miteinander zu verweben gesucht. Die eine stieg hervor aus jener späteren Mysterienlehre vom Erlösenden, die das Ziel ohne den Weg verhieß, die andere jetzt aus diesem kosmischen Dualismus, der den Sieg des Lichtes, des Guten ohne das entscheidende Ringen und Leiden der Menschenseele verkündete. Hier und dort schienen beide dem Glauben dieses Volkes nahezukommen, verbindende Linien schienen sich ziehen zu lassen. Der Blick auf Verwandtes konnte vom Eigenen fortführen. Hätte dieses Volk solche Bahn beschritten, dann hätte es aufgehört, seine Gegenwart in seine Zukunft hineinzuleiten. Die Zukunft wäre rückwärts in die Vergangenheit hineingesunken. Aber die lockende Idee, die so vieles versprach, wurde abgewiesen, und das Werk im Eigenen, das Werk der Erziehung und der Verfassung gewann | sein Jahrtausend. Der Wille zum Eigenen bewies sich, die Kraft zur Wiedergeburt wurde gewahrt. In diesem zweiten Jahrtausend hat das, was während des ersten weiter und weiter gewachsen war, sich die bestimmteren Formen seiner Existenz gestaltet. Die Formung des Lebens nach der Zeit des Wachstums, aus den Kräften hervor, die durch diese lebendig geworden waren, wird wie zu einer Entscheidung über das Leben. Von dem Volke gilt dies ebenso wie von dem Individuum. In der Geformtheit erfüllt sich das Leben, in der Ungeformtheit erkrankt es an sich selber. Und nur in den rechten Aufgaben, die es sich stellt, bereitet
186
sich das Leben seine Form. Nur in ihnen kann das, was das Reine und Ursprüngliche in seinem Wesen ist, sich nun den Ausdruck schaffen. In ihnen wird der Lebenswille zum sittlichen Willen, zu dem wahren Willen eines Wesens zu sich selbst. Als dieses Volk in diese seine neue Zeit eintrat, hatte für »die Völker ringsumher« eine Schicksalsstunde geschlagen. Die zwei alten großen Reiche der Macht und der Kultur, am Euphrat und am Nil, hörten auf, selbst, auf eigenem Platze, ihr Geschick zu bestimmen. Sie waren die zwei Pole gewesen, zwischen denen die Geschicke dieses Volkes strömten und auch seine Vorstellungen sich bewegten. Das eine war zudem am Beginne das »Haus der Knechte« gewesen, aus dem der Ewige herausgeführt hatte, und das andere, am Schlusse der Zeit, die Stätte des Exils geworden, dessen Tor der Perserkönig wieder aufgetan hatte. Nun schwand das Eigene der Form, das diese Reiche besessen hatten. Sie verloren ihr Antlitz, und gleich ihnen büßten die Völker dazwischen es ein. Die Zeit des einen großen Reiches hob an, des Reiches »der hundertundsiebenundzwanzig Provinzen«, »von Hodu bis Kusch«, von Indien bis Abessinien (Ester 1,1), wie Koresch es begründet | und Alexander es zu vollenden gesucht hat. Völker hatten hier weiter ihren Raum und vielleicht ihren alten Namen, aber ihre Welt war ihnen genommen. Nur dieses Volk behielt sie und gab ihr die neue Form. Die alten Kräfte des Wachstums wurden in ihm zu Kräften neuen Gestaltens. Es behielt seinen eigenen Platz und seine eigene Geschichte, auch als es in den Raum und die Zeiten eines Weltreiches hineingestellt war. Es war so, weil die Kräfte aus der Zeit des Wachstums in ihm lebten und zu neuen Formungen wiedergeboren sein konnten. Nicht eine Aufeinanderfolge von Jahrhunderten, eine Sukzession von Generationen und ihrer Perioden zeigt sich hier, sondern ein ganz anderes: die Begegnung des Ursprungs und der neuen Aufgaben. Nur in solcher Begegnung wird ein Schöpferisches wieder erweckt. Der Verzicht auf neue Aufgaben läßt das Schöpferische verkümmern, ganz wie ein Verzicht auf den genialen Ursprung alle Aufgaben verflattern ließe. Ein Schicksal von Menschen und Völkern ist hierin beschlossen. Erst im Ringen mit echten Aufgaben erneuert sich die Originalität, diese große Möglichkeit des Persönlichen. Und die wahren Aufgaben sind die, welche das Leben, welche die Ewigkeit, in ihrer Spannung und ihrer Forderung, dem einzelnen stellte und die Geschichte darum vor ein Volk hinführt. Im Kleinen gibt es die Fortsetzungen, im Großen gibt es nur die Wiedergeburt. In ihr kehrt das wieder, was in einer Kindheit, in einer Jugend als ein Geniales gelebt hatte. Und genial ist nur ein Reines, ein Klares, ein Wahres, nur
187
54
55
das, worin ein Menschliches wie zu einem Ebenbilde des Göttlichen wird. Das ist der Quell, der wieder emporsteigt. Man kann hierdurch Menschen und Völker unterscheiden: in die der Fortsetzungen und die der Wiedergeburten. Das Niedrige, das Rohe, das Gemeine hat nicht einmal die Fortsetzungen. Es wird bloß wiederholt. Nichts anderes als das vermag es, überall und immer ist es dasselbe, dieses selbe | Niedrige, das herabzieht, dieses Gewöhnliche, das seine Kreise dehnt, in der bloßen und steten Wiederholung. Das ist die bezeichnende Scheidelinie im Leben und in der Geschichte. Es gibt Menschen und Völker und Zeiten der Wiedergeburt, und es gibt Menschen und Völker und Zeiten der Wiederholung. Oder was dasselbe meint: Es gibt die, welche sich immer wieder zurückgewinnen, und die, welche sich immer wieder fortwerfen und verlieren. Durch ihre Wiedergeburt leben die einen, im eigenen und doch immer wieder neuen Leben; die Originalität schafft die neuen Formen. An den Wiederholungen schwinden die anderen hin; sie sind nicht imstande, wenn die andere Zeit kommt, ihr den Ausdruck zu bereiten.
188
II. Der Weg und der Trost
Es ist das große Vollbringen dieses Volkes in seinem zweiten Jahrtausend, daß es sich gewissermaßen neu entdeckt hat. Sich neu entdekken ist das Zeichen der Wiedergeburt. Nachdem Koresch und sein Volk mit einer anderen Idee, als Mächte zuvor sie gehabt hatten, in die Geschichte eingetreten waren, wandelten sich Bedingungen und Beziehungen von Grund auf und weithin. Aber was andere jetzt erschüttern mußte und wanken ließ, gab diesem Volke nur eine neue Sicherheit. Denn es gewann in diesen neuen Tagen und durch sie den neuen Blick für seinen Weg, diesen Weg von Anbeginn her bis zum Ende hin. Es gewann gleichsam einen neuen Aspekt seiner selbst. Seiner selbst wurde es erneut bewußt. Die neuen Anforderungen zeigten neue Möglichkeiten, die in ihm waren, ließen alte Züge deutlicher hervortreten. Geduld und Vision erhielten den neuen Ausdruck, das Wort »von Geschlecht zu Geschlecht« den neuen Gehalt. Die Selbstgewißheit, die sich darin neu gestaltete, wurde eine so lebendige Kraft, daß dieses Volk nun fähig war, sich selbst gegenüberzutreten, sich mit sich selber zu konfrontieren. In der neuen Aufgabe begegnete es sich selber jetzt, sich selbst stand es gegenüber. Sich selbst führte es vor Gott hin, um vor Ihm sich selbst Rede und Antwort zu stehen. Das Volk konnte | sein eigener Mahner und Prophet werden. Dem Volke wurde das zuteil, was im Menschen die beste Gabe der Jugend, dieser Zeit, in der das Wachstum zur Bestimmtheit wird, sein kann: Das Ich, wie es ist, lernt die Stimme des Ichs, wie es sein soll, zu vernehmen. Die Geschichte stellte ihre Frage, und damit wies sie zu dem Zukünftigen hin, zu dem, was sein soll. Aus jeder echten Frage steigt früher oder später das Gebot empor. Eine Frage an ein Volk ist eine geschichtliche, nur wenn in ihr der sittliche Aufruf laut wird. In diesem Volke hat es damals und auch späterhin Romantiker gegeben, deren Träume rückwärtszogen und die in einer wirklichen oder vermeintlichen Vergangenheit
189
59
60
61
ihr Ich zu entdecken hofften. Aber wer auf das Ganze blickt, wird dessen gewahr, wie sehr solche Art dem Denken und Empfinden dieses Volkes ferngeblieben ist und fernbleiben mußte. Der Geist bleibt immer dynamisch und messianisch, weil er stets von neuem an sich die Frage richtete. In der Romantik hat der schwärmende, schweifende Wunsch die bestimmte Frage verdrängt. Dieses Volk ist damals in ganz charakteristischer Weise ein fragendes Volk geworden. Ein eigenes Gepräge ist ihm damit aufgedrückt worden. Auf so manches hat es im Laufe seiner Jahrhunderte verzichtet und verzichten müssen, aber dieses Eigentümliche hat ihm nie genommen werden können und hat es sich nie nehmen lassen: diese Pflicht, zu fragen, und dieses Recht auf die Frage. Schon die Bibel ist ein Buch voll der Fragen, und jetzt, wo das Volk im Nachdenken über sich selbst sich neu entdeckte, mußte es neue Fragen entdecken. Man hat oft gemeint, daß für dieses Volk ein Fragen bezeichnend sei, das aus dem Sinnen und Grübeln hervorkeimt und bisweilen emporwuchert, und mancherlei Beispiele bieten sich. Aber das Charakteristische ist ein ganz anderes Fragen. Es ist die Frage, welche das Leben stellt und in welcher die Ewigkeit spricht. Sie hat dieses Volk immer wieder vernom|men und aufgenommen; durch sie hat es das Fragen gelernt. Weil im Leben Ewigkeit und Unendlichkeit zu ihm sprachen, weil es die Tiefe dieser Spannung erlebte, darum hat es fragen müssen. Und an andere hat es die Frage richten dürfen, weil es sie vorher an sich selber gestellt hatte. Es konnte dieses Volk des Fragens sein, weil es die eine, die große, die bleibende, die unerschütterliche Antwort besaß, die Antwort, die sein Glaube ihm gegeben hatte. Diese Antwort war: der eine, der einzige Gott, der offenbarende, schaffende, der erlösende, der eine, der einzige Gott, der im Geheimnis, im Gebot, in der Verheißung, in der Gnade zum Menschen spricht. Neben dieser einen Antwort und dem, was sie in sich schließt, konnte es die anderen bleibenden Antworten nicht geben; neben diesem einen Endgültigen konnte nichts anderes als endgültig dastehen. Neben dem Einen, dem Absoluten, konnte es nur das Relative geben. Um die eine Antwort konnte nun die Fülle der Fragen kreisen. Dieses Volk durfte und konnte bis zu Ende hin fragen, weil es um die eine Antwort wußte, sie nie sich entreißen ließ. In diesem Wissen um die eine Antwort hatte die Selbstgewißheit ihre starke Wurzel. Aus ihr wuchs der große Zug des Denkens auf. Das Suchen und Sinnen zog immer weiter hinaus, es konnte nicht auf halbem Wege stillstehen. Einer, der nur einen Teil sehen will oder kann und den Teil dann für das Ganze hält, mag in der Art des
190
Forschens und Denkens in dieser Epoche Linien des Kleinen und Kleinlichen zu finden meinen. Er wird viele Beispiele anführen können. Denn weil dieses Denken ein Denken bis zum Ende hin war, konnte es auf der einen Seite in die letzten Verästelungen und Verwindungen hineinführen, auch in die dünnen Enden hinein, in denen die Kraft auch sich zu verdünnen scheint. Aber auf der anderen Seite hatte dieses Denken doch immer und vor allem die andere Richtung auch. Es zog zu den letzten | Zielen und Aufgaben, zu dem Messianischen hin, in welchem die Ewigkeit ihr Wort zu dem Menschentum spricht. Gewiß, diese Epoche ist die der sich entwickelnden Dialektik, ihres unermüdlichen Fragens und ihrer Anatomie, die das Kleinste noch aufzeigen will. Aber sie ist ebensosehr die Zeit der sich entfaltenden frohen Botschaften, der keimenden und sprossenden Visionen von den letzten, den erfüllenden Tagen, die Zeit dieses unermüdlichen Hoffens und Erwartens, das zum Fernsten hindringen möchte. Beides ist Denken bis zu Ende. Nur wer das Ganze erfaßt, begreift das Wesentliche; er wird der Kraft der Existenz gewahr. Er erkennt die grandiose Linie, den großen Zug im Denken, sei es das Denken des Forschens, sei es das Denken des Erblickens. Damals ist dies beides eins geworden, eines im Ganzen der Zeit und im Besonderen einzelner Persönlichkeiten. Sie konnten eines sein, weil alles Suchen und Ausschauen durch die eine große Aufgabe bestimmt wurde, die der Erziehung und der Verfassung, diese Aufgabe, den einzelnen mit seinen Tagen, die Gesamtheit mit ihrer Geschichte in einen Bereich des Heiligen hineinzustellen. Mensch und Volk sollten gegen jeden Wandel, gegen alles, was bedrohen oder verlocken würde, innerlich gerüstet sein. Sie sollten stark gemacht werden, um für die Verheißung der großen Wirklichkeit und das Gebot der großen Verwirklichung, für das »Reich Gottes« leben zu können. Die Zeit hatte begonnen, in der ihre Existenz, mehr als vordem, eine Existenz inmitten von anderen war. Das alte Wort der Geschichte dieses Volkes »die Völker ringsumher« gewann mehr und mehr die noch stärkere, die unmittelbare Bedeutung. Eine Sphäre inmitten von Sphären oder eine Provinz unter Provinzen oder eine Gruppe neben den Gruppen und immer ein Kreis der wenigen unter den vielen zu sein, so wurde es die Weise der Existenz. | In ein weithin erstrecktes Streben war zudem die Existenz hineingestellt. Eine große Erfüllung, ein großer Frieden war verheißen. Überall war ein Trachten, im Namen eines Imperiums oder eines Glaubens, einer Philosophie oder einer Bildung, eines Wunders oder
191
62
63
64
eines Mysteriums das eine Weltmeer des Geistes zu entdecken, in das alle Ströme sich ergießen. Inmitten der anderen zu sein und doch auf dem eigenen Boden zu stehen, einer Welt zuzugehören und doch sich selber anzugehören, inmitten der Fülle dessen, was von überallher zusammenfloß, um ein Ganzes, ein Eines zu bilden, den eigenen Weg zu gehen, das war die Aufgabe, die gestellt war. Sie steht hinter allem, was gedacht und was ausgesprochen wurde, nicht nur hinter dem Messianischen, sondern auch dem Dialektischen, auch hinter dem, was klein oder sogar kleinlich erscheinen mag. Sie gibt selbst ihm den Anteil an dem großen Zug, an dem großen Stil. Einem anderen, einem Entgegengesetzten, mußte zugleich begegnet sein. Rings um dieses Volk hatte zusammen und zugleich mit jenem Synkretismus sich ein Provinzialismus entwickelt. Als die alten Reiche und Staaten zu Provinzen wurden, zu einer oder zweien oder dreien unter den »hundertsiebenundzwanzig«, wußten die Menschen dort nicht mehr, wer sie waren und was sie waren. Sie hatten nur noch einen Raum, aber keine Geschichte mehr. Sie sahen nur noch einen Bezirk, in dem sie waren, aber keinen Weg, den sie gingen. Sie suchten gewissermaßen ihr Ich und fanden es nicht. Weil sie so kein wahres Selbst besaßen, konnten sie keine Achtung vor sich selbst haben. Mit der äußeren Selbständigkeit hatte jede innere Selbständigkeit aufgehört. Wo eine äußere Freiheit geendet hat und die innere Freiheit fehlt, wächst entweder eine Bösartigkeit auf, die nur zu hassen, aber nicht zu lieben imstande ist, die nur sucht, wogegen sie sich kehren kann, aber nie eigentlich weiß, wofür sie | einsteht und wohin sie sich wenden will – eine eigentümliche Feindseligkeit gegen dieses Volk ist oft ein Produkt solch ratlosen Wesens. Oder aber alles, was einst an Kultur dort entsprungen war, wird gewissermaßen zu einem stehenden Gewässer; nichts fließt mehr hinein, und nichts fließt mehr hervor. Aber ob so oder so, an der Stelle eines Respektes vor sich selber stehen nun Überheblichkeit und Eigenwille. Der Sinn für das Große verkümmert, die Übersteigerung des Geringfügigen wuchert, das sogenannte Ressentiment verdrängt das ehrliche Empfinden. In solchem Provinzialismus haben die alten Kulturen am Nil und im Zweistromland sich verloren und hat der großartige griechische Geist sich verengert. Sie alle sahen keine wahre Aufgabe vor sich. An der Aufgabenlosigkeit, wenn sie eines Tages zum Geschicke wird, an dieser eigentlichen Glaubenslosigkeit, sterben, früher oder später, Völker und Kulturen. Das ist es, was der Satz im biblischen Buche der »Sprüche« gemeint hat: »Wo kein Hinausblicken ist, verkommt ein Volk« (Spr. 29,18). Man könnte auch übertragen: Wo ein Volk zu
192
keiner Geschichte gelangt oder seine Geschichte eingebüßt hat, geht es innerlich zugrunde. Dieses Volk hat in einer Zeit, in der Völker und Kulturen geschichtslos und damit existenzlos wurden, seine Geschichte, seine Existenz gewahrt, und, was hier dasselbe meint, es hat sie bereichert und gefestigt. Denn es hielt an seiner Lebensaufgabe fest und gab ihr neuen Inhalt. Und es hat, was ein Entscheidendes geworden ist, den großen Versuch unternommen, jeden einzelnen in die Lebensaufgabe, in die Geschichte hineinzustellen. Auf das Ganze hin gesehen, ist das erreicht worden. Wie kaum irgendwo anders ist hier eine umfassende Gemeinschaft in der Geschichte, eine »communio historiae« geschaffen worden. Für den einzelnen bedeutet die Lebensaufgabe vorerst und | unabweisbar alle die Aufgaben des Tages, die vielen Gebote, diese mannigfaltigen Erscheinungen des einen Lebensgebots, wie jeder neue Tag sie heraufführt. Durch die stetige treue Hingabe an sie alle werden die Tage zum Leben eines Menschen, zu dem ganzen und einen Leben, das doch mehr noch ist als ein Auf und Nieder von Tagen, und werden alle die Aufgaben zu der einen, der ganzen Aufgabe, die doch mehr noch ist als eine weite oder enge Reihen von Aufgaben. Durch die Lebensaufgabe tritt das Messianische, diese Verheißung einer Erfüllung, in das begrenzte Erdendasein, das so oft entsagen muß, leuchtend und »tröstend« ein. Für die Völker besagt die Lebensaufgabe zuerst ein Messianisches, einen wissenden Dienst an der Idee, an der Verheißung, diesen sehenden Dienst am Ausblick, wie ihn jede Generation neu leisten soll. Durch ihn fügen sich die Generationen, von denen vielleicht so manche die Enttäuschung, bis fast zum Verzichte hin, erfährt, zur geschichtlichen Einheit zusammen, und in jeder von ihnen offenbart sich Geschichte. Und in das Messianische tritt so, fordernd und zugleich verwirklichend, die bestimmte Arbeit jeder Generation ein. In der großen Lebensaufgabe bereiten sich die vielen Aufgaben ihren Platz und ihr Recht. Um der einen großen Aufgabe willen sind sie gestellt. Was dem einen Geschlechte noch vorenthalten bleibt, erringen dann folgende Geschlechter: Für sie und um ihretwillen und damit um des Zieles willen hat das Geschlecht, dessen Mühe vergeblich schien, gearbeitet. Das, was im Wechselnden vergeblich schien, wird zur Erfüllung im Bleibenden; es war ein Teil des Weges, dieses Weges der großen, der ganzen Forderung. Immer wieder zeigt es sich: Das im Tage Gebotene und die messianische Verheißung, das Jetzt und das Einst, das »Gesetz« und die »frohe Botschaft«, verlangen und verbürgen einander. Sie ge-
193
65
66
67
hören zusammen, damit das Ganze sei, damit | die eine Wahrheit erscheine. Die Lebensaufgabe verwirklicht sich in den Aufgaben des Tages, und die Aufgaben des Tages erfüllen sich in der Lebensaufgabe. Die lebendige innerliche Einheit dieser beiden, diese seelische Fähigkeit, in dem Hier und Jetzt zugleich das Einst und Jenseits zu besitzen, die kommende Zeit in die Unmittelbarkeit der Stunde aufzunehmen, diese Einheit des Tuns und der Ausschau hat immer neue Kraft in diesem Volk entbunden. Sie ist das Eigene, das nun seine Wiedergeburten hatte und so immer wieder seine Formung sich schuf. Ein Jahrtausend hindurch war dieses Eigene gewachsen, und nur, was gewachsen ist, wird wiedergeboren. Und nur, was wiedergeboren wird, besteht die Probe der Zeiten. Der Satz in den Sprüchen, der warnend auf die Völker hinweist, in denen es kein Hinausblicken gibt, zeigt danach das andere auch: »und ein Volk, welches Torah wahrt – heil ihm.« [Spr. 29,18] Von der Torah spricht, in ähnlicher Entgegensetzung, der erste Psalm, dieser einleitende, programmatische des Psalmbuches. Dem Menschen, »dessen Weg verlorengeht«, wird der gegenübergestellt, der »in der Torah dessen, der ist, seinen Willen hat und in seiner Torah denkt des Tages und bei Nacht« [Ps. 1,2]. Als die große Gabe, welche Moses seinem Volk anvertraut hat, war Torah in einem der Sätze gepriesen worden, die zu dem »Segen« hinleiten, »in welchem Moses, der Mann Gottes, die Kinder Israels gesegnet hat vor seinem Tode«. Also sagt dieser Satz: »Torah hat uns Moses geboten, ein Erbe in der Gemeinde Jakobs« (Deut. 33,1.4). Die Idee der Torah ist im zweiten Jahrtausend wiedergeboren worden. Ähnlich wie »chochmah« und auch »kawwanah« ist »Torah« ein unübersetzbares Wort. Es ist unübersetzbar, weil kein anderes Volk, kein anderer Kultur- und Sprachkreis eine Idee zu eigen gewonnen hat wie die, welche hier in diesem | Wort ihren Ausdruck sich bereitet hat. Man hat es mannigfach übertragen mit »Gesetz«, »Lehre«, »Weisung«, aber keines dieser Worte gibt den ganzen und eigentlichen Inhalt wieder. Das erste von ihnen, das Wort »Gesetz«, dem die altgriechische Bibelübersetzung den Vorzug gegeben hatte, hat sogar zu manchen Mißverständnissen hingeleitet, da in ihm ein harter Ton mitklingen konnte, der Ton von etwas Diktiertem und Auferlegtem, von etwas Statuarischem und Drückendem. In seinem ursprünglichen Sinne bezeichnet das Wort die Wahl des rechten Ziels, ganz wie, umgekehrt, das Wort der Bibel, welches das Sündigen benennt, in seiner anfänglichen Bedeutung das Verfehlen des Zieles meint. Am ehesten noch könnte man dem, was das Wort in sich schließt,
194
sein Recht gewähren, wenn man es überträgt: die Lebensaufgabe, im wesentlichen die von Gott dem Menschen gestellte. Nach zwei Richtungen hin zeigt das Wort seine Bedeutung. Die eine ist die innere Beziehung zum Messianischen. Es gibt keine wahre messianische Zuversicht ohne eine Verwirklichung der Torah, ohne »die Wege der Torah«; in der Lebensaufgabe begegnet das Messianische, Weg um Weg eines Menschen, ihm immer wieder, hier und jetzt. Torah ist die Erfüllung der Gegenwart, in der, Geschlecht um Geschlecht, »die Erfüllung der Zukunft« neu anhebt, um weiterzuführen. Die andere Richtung ist die zum Glauben. Der Glaube ist der Standort, den der Mensch gewählt hat, und Torah ist der Weg, den er von diesem Standort ausgehen läßt. Es kann keinen rechten Weg geben, wenn nicht der bleibende rechte Standort da ist. Torah kann nicht ohne den Glauben sein. Und der Standort ist nicht der rechte, der wirkliche, wenn von ihm kein Weg ausgeht. Glaube kann nicht ohne Torah sein. Glaube, Torah und messianische Gewißheit gehören innerlich zusammen. Fehlt eines von ihnen oder löst sich eines von ihnen los, so sind die anderen ohne die rechte volle Kraft. Die | Einheit, die Ganzheit fehlt. Der Glaube ist die starke Verbindung mit der Wirklichkeit; der Weg, der von ihm ausgeht, »geht nicht verloren«. Torah ist die immer zu erneuernde, immer neu zu unternehmende, zu wagende Verwirklichung; der Glaube, der zu ihr hinströmt, versiegt nie. Das Messianische ist die Vollendung und Erfüllung im Ringen um die Verwirklichung, die dem Heute seine Rechtfertigung gibt; wer sie in sich aufnimmt, ermattet nicht und verzweifelt nicht, Glaube ohne Torah wäre Stillstand, wäre Einkapselung – es gibt einen unfruchtbaren Glauben, der auch sein Messianisches bald verliert. Torah ohne Glauben wäre äußerliches Hin und Her – es gibt auch eine bloße Vielgeschäftigkeit, ein Tun ohne Inhalt in dem Gebiete dessen, was dann Religion genannt wird, und auch darin verschwindet das Messianische. Das Messianische wiederum ohne die Torah würde zur bloßen Schwärmerei, zum Träumen um des Träumens willen – es gibt ein Hinausschweifen zur Ferne, das nichts als eine Flucht vor dem Gebot ist, und der Glaube auch ist damit verlassen. Die drei gehören seelisch zusammen. Sie müssen eines sein, wenn sie Leben sein und Frucht bringen sollen. Sie sind die aus dem einen ewigen Grunde hervorkommende dreifache Forderung, die zur Entscheidung vor den Menschen hingestellt ist: Entscheidung zum Standort, zur Bahn und zum Ziel. Zusammen sind sie die Entscheidung des Menschen zu seinem Leben, das Gott ihm gegeben hat. So hatte Moses zu diesem Volke gesprochen: »Wähle das Leben« (Deut. 30,19).
195
68
69
70
Das Leben des Menschen ist hier als das Gebot von Gott erkannt. Das Leben, so ist hier begriffen worden, kann sich und soll sich den Aufgaben des Tages auftun, weil es selbst eine Aufgabe ist. Soviel es der Tage gibt, so viele sind die Gebote, und ihnen allen kann und soll sich das Leben öffnen, weil es selbst ein Gebot ist. Die Tage des Menschen wechseln, und in ihnen sind die wandelnden Geschicke. Aber das Leben | des Menschen kann und soll mehr sein als nur eine Folge von Tagen, mehr als ein gewordenes und werdendes Schicksal. Es wird inmitten des Geschehenden seinen Anteil am Seienden haben, es wird inmitten des Kommens und Gehens, des Aufsteigens und Schwindens sein Eigenes besitzen, seine Linie, seinen Stil, sein Gepräge, sein »Ebenbild Gottes«, wenn der Mensch sein »Leben wählt«, daß es seine Aufgabe sei, die Gott ihm stellt, das Gebot, das Gott ihm gegeben hat. Zur Entscheidung für Gott macht er damit sein Leben, die große Möglichkeit hat er erfaßt. Verschieden sind die Kreise, in welche Menschen hineingeboren werden, es gibt die Engen und die Weiten, die Dürren und die Gärten des Daseins. Aber wie immer der Platz ist, ein Weg kann von ihm ausgehen. Wohin immer ein Mensch gestellt wird, auf einem Grunde kann er stehen, und eine Verheißung kann er vor sich sehen. Durch sein Leben darf er sich für Gott entscheiden. Das ist der tiefste und eigentlichste Sinn von Torah, so wie es der tiefste und eigentlichste Sinn von Glaube und Botschaft ist. Das Wort »Torah« ist in dieser Zeit die Benennung der Heiligen Schrift und in ihr des Pentateuchs im besonderen geworden. Torah wurde nun die Torah. Vierundzwanzig einzelne Bücher umfaßt die Heilige Schrift nach der Feststellung, wie sie etwa in der Mitte dieses zweiten Jahrtausends gültig wurde. Diese einzelnen Bücher waren benannt und gezählt, und sie wurden auch charakterisiert. Aber im Denken und Empfinden des Volkes, in der seelischen und geistigen Verbindung, welche Lehren und Lernen immer neu schufen, bedeuten sie doch nur Teile eines Ganzen, die Teile des einen Buches, des einen Zeugnisses von dem einen Gotte, dem »einen Volke auf Erden« anvertraut. Wie vor dem einen Gotte keine anderen Götter sind, so sollten vor | diesem einen Buche keine anderen Bücher sein, die gleich ihm geachtet wären. Dieses Volk und dieses Buch sind seitdem zusammengewachsen, wie zu einem geworden. In diesem Buche besitzt dieses Volk sich selbst. Für sich selbst wird es durch dieses Buch immer neu zur Forderung, vor sich selbst zur Aufgabe. Es erfährt um sein Ich, und das große »Wenn« der Erwählung durch Gott kann
196
sich erfüllen. Ein Zugang zu einem höheren Bereiche ist geöffnet. Eine Nähe Gottes beginnt zu sprechen, Welt und Welt verbinden sich. Dieses Buch ist ein großes Sichauftun. Es gewährt damit der Seele des Menschen ein Sehen und Hören, ein Sehen und Hören dessen, was vorher nicht gesehen und gehört worden war und ringsumher nicht gesehen noch gehört wird. Es ist kein bloßer sprachlicher Zufall, daß diese beiden Worte »Sehen« und »Hören« in diesem Buche immer wiederkehren. Was es sagt, zeigt zugleich etwas und läßt zugleich eine Stimme aus der Ferne vernehmen. Das Gegenwärtige steigt aus einer Vergangenheit auf und erhebt sich zu einer Zukunft. Was im Endlichen sich begibt, reicht in eine Unendlichkeit zurück und hinaus. Nie soll eines für sich nur gesehen und gehört sein. Was ein späterer Denker dieses Volkes, Spinoza, forderte, damit das Denken zum Erkennen werde, die Betrachtung »sub specie aeternitatis«, »in der Weise der Ewigkeit«, ist etwas von dem, was für die Heilige Schrift ein Kennzeichnendes ist und von dem daher verlangt ist, der in sie eintreten will. Aber was die Heilige Schrift gibt und beansprucht, ist hier ein Umfassenderes, ist das Sehen und das Hören zugleich, so daß das eine nicht ohne das andere bleibt. Spinoza war einer der sehenden Denker, einer der großen, aber ihm war nicht das verliehen, was die Gabe des Hörens dem Genius gewährt – man kann ja die Denker in sehende und hörende scheiden. Was der Mensch durch die Bibel lernt, um dann vermöge dessen in sie einzudringen und immer Neues von ihr zu emp|fangen, ist das Zusammen von Sehen und Hören. Auch insofern kommen hier Welten zu Welten. Auf das Ganze hin ist die Bibel eine überallhin sich spannende Welt. Alles, wohin menschliches Sinnen und Suchen hinziehen mag, ist hier zu einem Ausdruck oder zu neuer Bedeutung gebracht, in das Wort oder in ein Gleichnis oder ein Symbol hineingeführt: Offenbarung und Schöpfung, Geheimnis und Gebot, Verheißung und Lebensbestimmung. Alle Töne der Seele, wenn sie sich auftut und wenn sie sich schließt, erklingen: das Beten und Rufen, das Lieben und Sehnen, das Fürchten und Zagen, das Zweifeln und Fragen, das Erwarten und Hoffen, die Demut und die Ehrfurcht, die Gläubigkeit des Forschens und die Gewißheit des Verstehens. Alles, worin der Wille, wenn er zum Geiste hinaufsteigt, und der Geist, wenn er den Willen dann zu sich emporhebt, die Sprache gewinnen können, redet hier und zeigt Nähe und Ferne: der Zug zum Großen und die Einkehr in das Innerliche, die Prophetie und die Lehre, die Weisheit und die Verkündigung, die Sitte und die Satzung, die Ahnung und die Erfahrung, die Ausschau und das Gesetz. Alles, worin Gemein-
197
71
72
73
schaft den Zusammenhang sucht und Zusammenhalt findet, Teile sich zu einem Ganzen fügen, hat hier sein Sagen und Besagen, sein Hinweisen zugleich und sein Weiterleiten bereitet: die Welten und das All, die Formen und der Kosmos, die Kreaturen und das Leben, das in allen ist, die Länder und die Erde, das Ich und das Wir, der Mensch und der Mitmensch, die Plätze und der Boden, der alle trägt, die Völker und die Menschheit, die Grenzen und was über sie hinzieht. Alles, worin Satz und Gegensatz die Einheit suchen und aus dem Widerspruch die Harmonie erklingt, hat hier seine Gestalt und seine Stimme: das Nahe und das Ferne, das Enge und das Weite, das Leid und der Trost, der Tod und das Leben, die Schuld und die Versöhnung, das Fesselnde und das Befreiende, das Hernie|derziehende und das Erlösende, das Verlorene und das Verheißene, der Zwiespalt und der Friede, das, was war, das, was ist, und das, was sein wird. Das Dasein des Menschen ist hier zu einer Welt geworden, und die Welt ist in die Tage des Menschen eingetreten. Damals haben Menschen dieses Volkes so stark das Außerordentliche dieses Buches empfunden und erfahren, daß sie meinten, daß es nicht nur ein Buch sei. Es erschien ihnen als das große aufbauende Prinzip in der Schöpfung, als die große ordnende Kraft, als die Logik, die chochmah, welche zusammenfügt und zusammenhält. Vor der Torah wäre noch das Chaos gewesen, und ohne sie würde Chaos sein. Vermöge ihrer, oder, wie ein anderer der Lehrer damals sagte, auf sie hin, damit sie da sei, wäre die Welt geworden. Das griechische Wort »Basis«, in seiner griechischen Form, hat einer der Lehrer gebraucht, um das zu benennen, was sie für alles, was da ist, bedeute; sie sei das tragende Fundament. Ein kühnes Wort, das dem, der dieses Volk nicht kennt, vermessen klingen mag, hat hier einer der frommen Prediger gewagt – nur einer der Frommen durfte sich dessen getrauen, auf den Lippen eines Menschen sonst wäre es in der Tat eine Blasphemie gewesen. Er sagte: »Der Heilige, gelobt sei er, sprach: Wenn dieses Volk irregeht, mögen sie auch Mich verlassen haben! Wenn sie nur Meine Torah bewahren! In ihr wird die treibende Kraft sein, sie wird die Rückkehr zu mir bewirken.« Ein Letztes des Trostes und der Zuversicht, die dieses Buch schenkte, hat einen Menschen eine solche Stimme von oben vernehmen lassen. Was er in seinem Geschlecht, in einer Zeit von Seitenwegen und Irrwegen, erfahren hat, ist ein anderes noch als das, was aus dem dankesfrohen Ausrufe des Psalmisten aufklingt: »Wäre Deine Torah nicht mein Liebstes, dann wäre ich verlorengegangen in meinem Elende!« (Ps. 119,92). Er, dieser Spätere, hatte die ganze Dynamik, die dieses Buch erfüllt, in | seinen Tagen erfahren, als die Bestimmt-
198
heit des Glaubens des Volkes bedroht war, als Ideen und Hoffnungen von dem einen Wege zu dem einen Gotte hin fortführen wollten. Jahrhunderte der Geschichte und des Erlebens liegen zwischen dem einen Satz und dem anderen. Die hellen und die dunklen Tage, in denen dieses Buch nicht nur Besitztum, sondern Kraft sein sollte, waren gekommen. Wenn von einem Menschen die große Bewährung gefordert ist, tritt sein ganzes Leben, alles das, was es gehabt hat und gewesen ist und was vor ihm liegt, in diese eine Stunde ein. Sein ganzes Leben spricht zu ihm. Ganz so ist es von einem Volke verlangt, wenn es die große Probe bestehen soll. Seine ganze Geschichte in ihrer Bahn vom Ehedem zum Jetzt und ihrem Zuge vom Jetzt zu einem Kommenden hin wird Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft sollen im Jetzt die Probe bestehen. Das Jetzt ist angesprochen, und Vergangenheit und Zukunft können die Kraft sein, erst wenn sie in dieses Gegenwärtige einströmen. In Tagen ohne die geistige und seelische Anspannung – nur selten und nicht immer zu seinem Segen hatte sie dieses Volk – konnte die Bibel vielleicht als ein Buch erscheinen, das geschrieben worden war und gewissermaßen fertig dalag, das von dem erzählte, was geschehen war, das aussprach, was geboten wurde, das verkündete, was damals die Erwartung vor sich sah. Wenn die Fragen herandrangen und bedrängten, Frage an Frage sich stieß, dann mußte dieses Buch sich gleichsam erheben und Weg um Weg antreten. Als das Buch dieses Volkes konnte es gewissermaßen nur ein Buch in Bewegung sein. Mit diesem Volke war es zusammengewachsen. Wurde das Volk wiedergeboren, so war auch das Buch wiedergeboren, und Wiedergeburt des Buches schuf Wiedergeburt des Volkes. Von Gegenwart zu Gegenwart ist seine Geschichte. Um diese Eigentümlichkeit, diese dynamische Nähe und | Unmittelbarkeit des Buches zu bezeichnen, ist damals ein ganz besonderer, charakteristischer Ausdruck gebildet worden. Man sagte, daß das Buch in zweifacher Art sich darbiete: als »Torah im Schriftlichen« und als »Torah im Mündlichen«. Man könnte dies auch so wiedergeben: Es ist ein Buch, verfaßt und niedergeschrieben, und es ist zugleich eine Bewegung, geweckt und aus sich selbst sich erneuernd. Es hat sein Wort, mit dem es beginnt, und sein Wort, mit dem es endet. Aber in Wirklichkeit hört es nie auf und ist nie zu Ende; immer wieder hebt es an und fährt es fort. Das Wort scheint ein Wort zu sein, das einmal gesprochen worden ist, und es ist in Wirklichkeit eine Aufgabe, die immer neu sich stellt. Wer es in seiner Hand zu tragen meint, der hat es nicht. Aber wen es treibt, zu dem ist es ge-
199
74
75
kommen. So konnte einer der Lehrer sagen: Die Menschen dieses Buches werden nie ganz rasten – wie er mit einer Hyperbel hinzufügte: nicht in dieser Welt und nicht in der Welt, welche kommt. Es ist ein Buch in Bewegung, und darum gehört es keiner Generation nur und keiner Epoche bloß an. Es besteht und bleibt dadurch, daß es seinen Weg geht, von Geschlecht zu Geschlecht. Darum ist es »Torah im Schriftlichen« und »Torah im Mündlichen«. In den Sphären des Seelischen ist jede Bewegung eine Frage und eine Forderung. Die Menschen dieses Buches sind so die immer Befragenden und die immer Aufgeforderten, und so ist dieses Volk damals geworden. Beides, Frage und Forderung, kommt aus einer und derselben seelischen Wurzel hervor: Echte Frage ist die, welche aus einer Bereitschaft, das Gebot zu erfüllen, erwächst, und echte Forderung ist die, welche zugleich die Antwort auf eine Frage der Seele sein kann. Das ist dieses Volk so geworden: ein Volk der vielen Gebote und ein Volk des vielen Forschens und Sinnens. In dem wahren Gebote wird die Frage immer wieder geboren, und in der wahren Frage immer wieder das Gebot. Es gibt keine statische | Frage und kein statisches Gebot. So lange die Stunden wechseln und die Tage der Menschen sich wandeln, wird niemals die letzte Frage gestellt und niemals die letzte Forderung erhoben sein. Der Begriff der Interpretation, der Auslegung, wäre ein viel zu enger und zu schwacher, um die »Torah im Mündlichen« zu kennzeichnen. Gewiß, auch das ist in ihr, daß sie biblische Worte erklärt und verdeutlicht, daß sie Zusammenhänge und Sonderungen aufzeigt und auch Methoden dafür ausgebildet hat. Aber das ist nicht ihr Eigentliches. Sie selbst bezeichnet ihre Art und Weise als ein »Suchen«, als »midrasch«, und was dieses Suchen erreichen will, ist, wie hier der Ausdruck lautet, daß das, was »geschrieben steht«, etwas »verkündet«, etwas »lehrt«. Das Wort soll kein abgeschlossenes sein, seine Tore sollen offenbleiben, damit Frage und Gebot ihren Eingang und ihren Ausgang und ihre Wege haben. Wie in der großen Lebensaufgabe, die der Glaube stellt und der die Botschaft die Erfüllung verheißt, um die eine große, die feststehende Antwort, den einen Gott, die vielen Fragen, aus Geboten geboren und Gebote zeugend, kreisen, so ist es hier im Kleineren. Um jedes der Worte, die geschrieben sind und als solche feststehen, bewegen sich die vielen Fragen mit dem, was sie in sich bergen, hinein und hinaus, hinunter und hinauf. »Wenn« und »warum« sind hier die häufigen Beginne der Rede. Ein großes »Suchen« findet statt, damit das, was »gelehrt ist«, was »verkündet wird«, gehört werde.
200
So wird der Satz zur Voraussetzung auch, die These ist zugleich die Hypothese. Nichts ist daher isoliert, nur für sich irgendwo dastehend und für sich allein zu betrachten; alles tritt in einen Zusammenhang hinein. Es ist, wie wenn eine Anziehungskraft hier waltete und alles in die Beziehung zueinander führte. Die Analogien können ihre Straße ziehen. So gewinnt das einzelne, wie gering es auch zu sein dünkt, | seine Bedeutung. Für sich allein genommen, mag es unwichtig erscheinen; in der Richtung zu anderem hin zeigt es seine besondere Geltung, beginnt es ein Eigenes zu sagen. Eines läßt das andere sprechen. So ist es Grund sowohl wie Methode der »Torah im Mündlichen«. Man könnte sie eine Analyse um der Synthese willen nennen. Die Vergewisserung des Systems durch die Durchforschung des einzelnen findet immer wieder statt. Und ohne Ende ist darum dieses »Suchen«; denn der Einzelheit ist kein Ende. Die ganze Anschauungsweise und Denkart dieses Volkes ist hierdurch nun bestimmt worden, und wieder wurde eine Paradoxie in seinem Wesen erzeugt. Auf der einen Seite ist in ihm die Andacht zur Einzelheit, der Sinn für das Geringe, der Respekt vor dem Kleinen, dem kleinen Menschen, dem kleinen Gebote, der kleinen Umgebung, der kleinen Hoffnung – bisweilen bis zu mancher Übersteigerung hin. Auf der anderen Seite ist in ihm ein lebendiger Sinn für das, was zusammenhängt oder sich gegenseitig finden kann, ein Trachten und Drängen zum Systeme hin, in dem alles sich ineinander schließt, ein Zug zu der weltumspannenden Aufgabe, zu den fernen Weiten des Problems – auch hier wieder bisweilen bis zu Übertreibungen hin. In manchen Tagen sind die beiden, jenes Forschen nach den Einzelheiten und dieses Forschen nach dem System, ihre gesonderten Wege für sich gegangen, bis sie einander nicht mehr verstanden oder sich gegeneinander wandten. Für das Sichverstehen des Volkes, für seinen Einblick in sich selbst, diese Voraussetzung seines Willens zu seiner guten Existenz, war dieses nicht zum Guten. Die beiden bedingen hier einander. Sie gehören zusammen schon ganz allgemein und überall. Die Methode, deren sich der Geist bedient, hat in den verschiedenen kulturellen Gebieten ihre besondere, unterschiedene Form entwikkelt. Aber allerwegen und immer gilt das eine: | Denken wird zum Erkennen nur, wenn es ein geordnetes Denken ist; durch diese Ordnung unterscheidet sich die Einsicht von dem sogenannten Einfall. Und das Denken ist ein geordnetes nur, wenn das Ganze sich am Einzelnen rechtfertigen kann und das Einzelne am Ganzen sich selber verstehen lernt. Hier, in diesem Volke, erfordern sich die beiden noch ganz besonders. Durch sein zweites Jahrtausend ist dieses
201
76
77
Zusammen von beiden zu seiner Denkart geworden, und Denkweise wird in diesem Volke zur Lebensweise, zur Logik der Existenz. Der Weg ist der eine. Die Formen zwar, in denen das Denken hier nach und nach seinen Stil ausgebildet hat, haben auch ihr Sonderartiges und gelegentlich auch ihr Bizarres. Aber die Linie, die alles bestimmen will und in den besten Tagen neu bestimmt hat, ist die des geordneten Denkens und der geordneten Wesensart, so daß weder das Einzelne an dem Allgemeinen vorbeiblickt noch das Allgemeine auf das Einzelne bloß herabsieht. Erst wenn sie sich neu ineinanderfügen, wird auch der menschliche Geist zu einem Kosmos, zu der gestaltenden Ordnung.
78
Es war der Wunsch jener Jahrhunderte gewesen, daß die »Torah im Mündlichen« das bleibe, was der Begriff besagte. Lebendige Tradition vom Lehrer zum Schüler, die diesen zum Lehrer dann wieder machte, diese Weitergabe von Mensch zu Mensch mit allen den Möglichkeiten, die sie dem Denken gab, sollte sie tragen. Zu keinem endgültigen und abschließenden Besitze sollte sie werden. Aber die Not der Zeit sprach stärker als dieser starke Wunsch. Lehrer, in denen die Tradition lebte und schöpferisch wurde, starben als Märtyrer in Tagen der Verfolgung, und aus der Tiefe der Not stieg die Sorge auf, »Torah werde aus Israel vergessen werden«. So wurde denn viel »Mündliches«, unter anfänglichen Zweifeln | des Gewissens, niedergeschrieben. Allein die Dynamik des Mündlichen, durch Jahrhunderte geworden und gewachsen, war noch unaufhaltsam. So setzte sich das Mündliche mit seiner Tradition in manch neuer Form stetig fort. Als aber späterhin, etwa sieben Generationen danach, unter dem Druck eines Glaubensimperiums, das auch in Palästina zu herrschen begonnen hatte, sich um die Plätze der geistigen Arbeit mehr und mehr die Hemmungen und Beengungen legten, wurde jene alte Sorge neu. Was Lehrer gesprochen und Schüler aufgenommen hatten, wurde wieder niedergeschrieben, zunächst in Palästina und dann, in der Wirkung solch autoritativen Beispiels, auf dem Boden von Babel, wo Gemeinden aus der Zeit des Exils sich gefestigt und Schulen gegründet hatten. So war, durch die Niederschriften, in zwei Perioden »Torah im Mündlichen« zu einem zweimaligen und doch einmaligen Buche geworden. Zwei Bücher, das erstere die »Mischnah«, das »Lehrende«, benannt und das andere die »Gemarah«, »das Weiterführende«, waren jetzt in den Händen des Volkes, und zusammen waren sie ein Buch: »der Talmud«, »das Lernen«. Was dieses Jahrtausend des Lehrens und Weiterführens in dieses Volk eingepflanzt hatte, wuchs weiter. Dieses niedergeschriebene,
202
aber nicht eigentlich verfaßte Buch blieb ein Buch, dem sich ein Deuten voller Scharfsinn und ein liebevoller Fleiß immer wieder zuwandten. Aber vor allem blieb die treibende Kraft, durch die es erzeugt worden ist. Das »Suchen«, das unermüdliche Fragen, das Hinausziehen des Augenblicks [das Hinausblicken, i. Spr. 29,18] hat seit damals nie aufgehört. Es war die nie endende Bewegung, die aus der Bibel hervordringt und den Menschen erfaßt und die dann ihn zur Bibel wieder hinführt, damit er sie zu erfassen strebe. In dem ersten Buche einer Mystik, das am Ende des zweiten Jahrtausends hier geschrieben worden ist, dem »Buche von der Schöpfung«, »Sepher Jezirah« – es stammt von einem un|bekannten Autor oder vielleicht aus einer Schule von Mystikern, und ihm auch geht eine lange esoterische mündliche Überlieferung voran –, in diesem Buche von der Schöpfung ist die Heilige Schrift der Inbegriff aller schöpferischen, aufbauenden Kraft; schon alte Lehrer hatten dies gesagt. Aus dem einen Gotte kommt alles hervor, und in der Heiligen Schrift erschließen sich uns die Wege dieses Werdens. Mit einem Bilde der neuplatonischen Philosophie, dieser Philosophie, in der östliches Denken das westliche erobert hat, einem Bilde, das der Autor unseres Buches in der Theophanie des Propheten Jecheskiel wiederzufinden meint, sagt er, daß aus dem einen Gott alles das viele hervordringe und vorwärtsdränge, um dann zu Ihm, dem Einen, sich zurückzuwenden. Auf die Heilige Schrift zugleich mag jener Autor wohl hingeblickt und hingehört haben. Aus ihr bricht Kraft hervor, die überallhin dringt, und wen sie greift, den zieht es zu diesem einen Buche hin und immer von neuem zu ihm zurück. Das war und blieb die Heilige Schrift, auch als der Talmud wurde und fast weil er wurde. Das blieb sie, auch als er zu einer Schrift dieses Volkes geworden war, die mit ihm und seiner Bibel den Weg durch seine Geschichte nahm. Nie hat er das sein wollen und sein können, was die Heilige Schrift ist, nie ist er ein »heiliges Buch« genannt worden, nie ist von ihm gesagt worden, was von den Schriften der Bibel gesagt ist, daß der »Heilige Geist« aus ihr spricht. Aber er hat dennoch ein Großes, ein Einzigartiges für dieses Volk vermocht. Er hat es innerlich lebendig werden lassen, damit es immer wieder suche, forschend und hinausziehend, damit es nie aufhöre, in seiner Bibel zu leben, und durch sie, durch sie immer neu wiedergeboren sei. Er ist, wenn mit einem Gleichnisse des Philo aus Alexandrien, des »Philo Judaeus«, der auch in die Geschichte der »Torah im Mündlichen« hineingehört, gesprochen werden darf, einem Gleichnisse, dessen sich auch die alte | Predigt Palästinas bediente, ein wundersames Instrument der Bewegung geworden.
203
79
80
81
Eine ganz eigentümliche Form des Stils zeigt sich auch im Talmud. Wie die plastische biblische Stilweise ist sie schon durch die Wesensart der hebräischen Sprache bestimmt, wie sie mit der Bibel und dann vermöge der Bibel sich entwickelt hat. Diese Sprache kennt, im Unterschiede zur griechischen und zur römischen, nicht den Reichtum der Periode, dieses Weges rundherum, auf dem der Satz erst umherzieht und manches andere erst sagt, ehe er zu dem gekommen ist, was er sagen soll. Die hebräische Sprache, wie sie in jener Zeit des Wachstums geworden ist, um dann ihr Unverlierbares zu behalten, ist eine Sprache der unmittelbaren Richtung. Sie ist Ausdruck eines unmittelbaren Denkens. Es ist, wie wenn die Idee des Einen und Ganzen auch sie lenkte. Das, was nur daneben ist, klingt an und klingt dann, vernehmlich und deutlich, mit, aber es dringt nicht hin. Das, was so mit ertönt, gibt hier der Rede einen eigenen Reiz, aber darf ihr nichts von ihrer geraden Bahn, ihrer Strenge des Weges nehmen. Ein Zug zum Erhabenen hin ist darum fast in allem. Als ein griechischer Autor, der auch Sprachen vergleichen konnte, sein Buch »Vom Erhabenen« schrieb, war ihm das Beispiel für das Erhabene in der Sprache der Satz in der Schöpfungserzählung: »Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.« In der ersten Niederschrift des »Mündlichen«, den sechs »Ordnungen« der Mischnah, erscheint der alte Stil, dem neuen Gegenstand und der neuen Aufgabe angemessen, in seiner neuen Form. Die Präzision bestimmt ihn, ohne ihn je eintönig zu machen. In dem zweiten Werke jedoch, der Gemarah, scheint die Art eine andere geworden zu sein. Ein Hinüber und Herüber, ja bisweilen eine gewisse Unrast, so dünkt es, kennzeichnet sie. Das »Weiterführen« scheint zum Umher|führen zu werden. Wer von außen kommt, meint vielleicht, verschlungene und sich schlängelnde Pfade vor sich zu haben, aber keinen Weg, der vorwärts weist. Allein, wenn er dann weitergelangt, wird er eines Mittelpunkts gewahr, und er erkennt, wie zu ihm alles hinstrebt, ja wie zu ihm von Anfang an alles hingelenkt war. Er sieht den Stil und begreift die Ordnung. Es ist der Stil der vom Mittelpunkte beherrschten Richtungen. Von hier und von dort, von einer Nähe bald und bald von einer Ferne, gehen sie aus, aber im Deutlichen, ohne beirrt zu sein, trachtet eine jede dem Ziele, dem Mittelpunkte zu. Eine Präzision waltet auch hier; sie zeigt ihr Gefüge, sobald alles vom Mittelpunkte her gesehen wird. Vielleicht könnte ein Stil, den die Baukunst entfaltet hat, eine Erläuterung bieten; Architektur, Musik und die zur Form des Denkens werdende Sprache weisen in den Arten der Entwicklung manche Ähnlichkeiten auf. Die Weise der Zusammenordnung, wie sie der
204
romanische Stil in seiner ersten, seiner klassischen Periode an seinen Mauern und seinen Toren durchgebildet hat, könnte als ein Gegenstück zum Stile der Gemarah erscheinen. Auch hier dünkt es zunächst, als ob das Ganze sich in den Teilen verliere, in der Fülle der Gestalten, der Formen und Linien, die bald zueinander, bald voneinander fort, bald gegeneinander zu streben scheinen. Aber wenn dann der Mittelpunkt erfaßt ist, dann wird es sichtbar, wie jedes einzelne zu ihm hingeleitet ist. Der Plan, die Ordnung, das Gefüge von allem, tritt hervor. Ein geduldiges Denken hat der Talmud durch diese seine Art das Volk gelehrt, zu einem geduldigen Lernen hat er es während der Jahrhunderte erzogen. Und was mehr noch ist: Eine Logik der Geduld, die zur Lebenslogik, zu einer Lebensphilosophie wurde, ist ihm so zu eigen geworden. Mehr oder weniger sind im Gange der Zeiten fast alle im Volke dem Talmud nahegekommen. Aber um ihm näher zu sein, um in | ihn einzudringen, mußte man den Weg der Beharrlichkeit gehen. Denn es galt hier nicht nur, Einzelheiten in sich aufzunehmen, sondern zu Zusammenhängen zu gelangen, immer wieder etwas zu entdecken. Mit dem Worte »Talmud« hat sich das Wort »Lernen« verbunden, und aus diesem Worte »Lernen« klang ein Doppeltes hervor: der Ton des Willens zur Ausdauer, die nicht müde wird, die bereit ist, neu zu beginnen, und der Ton der Zuversicht des suchenden Forschers, des Entdeckers, der es weiß, daß er, so wie einst der Meister der mathematischen Kunst, ausrufen werde: »Heureka!«, »Ich habe es gefunden!« Dieses Lernen konnte niemals ein verdrossenes sein. Es hat später sich ein eigenes Singen bereitet; man könnte es ein Singen des Abwartens nennen, das der Erfüllung gewiß ist. Auch mit dieser Geduld des Lernens hat sich eine Vision verbunden, eine Vision des Lernens: Höhen zeigten sich, Fernen taten sich auf. Denn der Talmud umfaßt nicht nur das Gesetzliche, sondern auch das Poetische – beide Worte in einer Weite des Begriffes genommen. Er hat zu seiner Aufgabe, wie der alte Ausdruck lautet, nicht nur die »Halachah«, die »Richtung des Gehens«, den rechten Weg, sondern auch die »Haggadah«, die »Richtung des Verkündens«, den rechten Einblick und Ausblick. Beide sind in seinem Bereich, und sie stehen hier nicht nebeneinander, geschweige denn gegeneinander, sondern sie sind innerlich und wesentlich miteinander verbunden. Erst zusammen geben sie das Ganze. »Lernen« meint hier ein Eindringen in das, was der Tag mit seiner Bahn, mit der Fülle seiner Gebote verlangt, aber zugleich auch in das, was hinter dem Tage steht und über ihn hinausreicht, mit der Fülle seiner Weisheit, seiner Poesie und seiner Verheißung, mit diesem ganzen Reich-
205
82
83
84
tum bleibender Bedeutung. Aus einer Einheit kommt hier das alles hervor, in jeder der Sphären, die es durchdringt. | Die Kraft, die den Talmud schuf, hat über dieses zweite Jahrtausend hinaus fortgewirkt. Nach einer Zeit, die nur das eine Buch, die Bibel, und neben ihr nur »Torah im Mündlichen« hatte haben wollen, die sich nur zögernd entschlossen hatte, dieses andere niederzuschreiben, kamen die Jahrhunderte, welche die vielen Bücher besitzen wollten. Aber auch sie, diese mannigfaltigen Bücher, haben etwas von dem alten Charakter des »Mündlichen«, wie ihn der Talmud hat. Bei aller ihrer Verschiedenheit gibt das ihnen eine gewisse Einheit des Stils. Sie haben die Linie der Tradition, einer Weitergabe eines Empfangenen. So sehr sie oft ein ganz persönliches Gepräge zeigen, so sehr eine eigene Begabung und ein bestimmter Wille in vielen von ihnen deutlich hervortreten, so ist es doch meist, als spräche hier einer nicht von seinem besonderen Suchen und Forschen und Finden, oder wenigstens nicht davon allein, sondern als stände vor uns ein Mann, der eine Überlieferung, die ihm anvertraut worden war, an die folgende Generation weiterreichen will. Diese Bücher sind gleichsam neue Formen einer »Torah im Mündlichen«. Wohl ist alle Literatur auch Weitergabe eines Kulturbesitzes, aber in diesen Büchern ist noch etwas anderes und etwas ganz anderes. In ihnen lebt nicht sowohl der Wunsch, daß das Buch den Leser finde, als vielmehr das Verlangen eines Suchenden, daß er die Suchenden heranziehe, daß »Torah nicht aus Israel vergessen werde«. In diesem Sinne sprach man danach von einer nicht abbrechenden »Reihenfolge der Überlieferung«. Auch die beiden Richtungen, in denen das Denken den Talmud durchzog, die Halachah und die Haggadah, setzten sich fort. Beide haben sie eine Literatur hervorgebracht, die sich in die Tiefe wie in die Weite erstreckt. Das Charakteristische ist, daß die beiden sich ihre innere Einheit, wie sie von der Bibel und vom Talmud herkommt, zumeist gewahrt haben. Das auf das Recht und das Herkommen Bezügliche auf der einen | Seite und das Poetische, Mystische und Philosophische auf der anderen Seite schließen sich nicht voneinander ab. Sie werden hier als Teile eines Ganzen betrachtet; als solche allein haben sie ihre Geltung und ihren Wert. Das Ganze steht immer über ihnen. Es ist nicht auf einen Reichtum der Begabung bloß zurückzuführen, wenn im dritten Jahrtausend Philosophen und Mystiker und auch Poeten zugleich Erforscher des Rechtes waren. Ein Eigentlicheres und Tieferes sprach darin. Die Männer solcher Universalität strebten nach diesem Umfassenden oder wahrten sich zum mindesten den Sinn dafür, weil sie sich dessen bewußt waren, wie
206
der Teil, der sich vom Ganzen loslöst, damit sein wahres Leben verliert. Es hat in diesem Volk Tage gegeben, in denen die »Halachah« und die »Haggadah« – diese zwei Begriffe in ihrem weiten Sinne genommen – ihr Dasein für sich haben wollten oder ohne einander auskommen zu können vermeinten. Die Halachah ist dann immer vertrocknet und verkümmert, und die Haggadah hat sich verflüchtigt und ist wesenlos geworden. Dafür hat der innere Zusammenhang zwischen den beiden, wo immer er erfaßt wurde, in die reich gestaltete Paradoxie, welche der Existenz dieses Volkes ein Eigentümliches gibt, einen besonderen Zug noch eingezeichnet. Halachah und Haggadah begegneten sich hier, und sie haben in ihrer Verbindung nicht nur die Gedankenwelt, sondern ebenso das Persönliche geprägt. Einerseits ist in den Menschen, in denen solches Zusammenkommen seinen Weg fand, ein lebendiger und liebevoller Sinn für das Gesetzliche, für Satzungen und Ordnungen, für das Geregelte, Festgesetzte, Statutarische. Man fürchtete sich nicht vor den vielen Geboten und Verboten. Andererseits ist in diesen Menschen ein lebhaftes Verlangen nach dem Freien und Bewegten, nach dem, was hinauszieht und vorwärtsdrängt, nach dem individuellen Ausdruck daher auch, nach dem eigenen Versuche. Man fürchtete sich nicht vor den | vielen und kühnen Gedanken. Doch immer erst dort, wo die beiden Richtungen sich gefunden haben, erscheint das Charakteristische. Erst wenn diese Menschen in beidem leben, im »Gesetze« sowohl wie auch in der Philosophie, der Mystik, der Poesie, dann entfaltet sich das Persönlichste ihrer Existenz. Ein allgemein menschliches Problem zeigt sich hier. Mit der Verbindung und Versöhnung von Widersprüchen, in denen sich sein Leben zu bewegen scheint, tritt der Mensch aus dem Zustande der Primitivität heraus. Der sogenannte Wilde kennt nur Triebe und Widerstände, Befriedigung und Versagung, Freundliches und Feindliches. In diesem Kreise hat er sein Leben. Als der Mensch nachzudenken begann, gelangte er zu einer anderen Sphäre noch. Denn Nachdenken bedeutet: sich über das, was in einem und rings um einen geschieht, emporheben, um so auf das alles hinblicken zu können. Er steht nun nicht mehr bloß in dem Bereiche dessen, was aus ihm hervordringt und auf ihn eindringt, sondern in einem anderen noch, in dem der Gedanken, die er sich über das alles macht. Als der Mensch so zu denken anfing, wurde er ein Mensch zweier Welten, zweier Welten mit ihren Unterschieden und Gegensätzen. Die Paradoxie hatte ihren Platz in seinem Leben. Alle die Entwicklungen der geistigen, der seelischen, der künstlerischen und sittlichen Kultur,
207
85
86
87
dieser Geschichte, die nicht nur die Geschichte des Werkzeugs, sondern die der Ideen ist, wird durch die Art und die Erstreckung solchen Denkens bestimmt. Wenn die Gedanken ein Dasein für sich nur haben sollen, wird diese Geschichte zur Vergeblichkeit, die sich erschöpfen muß. Und wenn umgekehrt dem Menschendasein der Zugang zur Welt der Ideen verwehrt bleibt, wird das Dasein zu jener Niedrigkeit, die sich nur wiederholen kann. Das eine wie das andere geschah, wenn Menschen nicht fähig waren oder dessen müde wurden, das Problem und die Aufgabe der Paradoxie zu erfüllen, wenn sie darum entweder | nur in dem Bezirke der Ideen ihr Leben finden wollten oder in eine romantische oder in eine politische oder nationale Primitivität zurückzusinken bereit waren. Und begehrte Primitivität wird mehr und mehr zur Barbarei des Empfindens und des Handelns. Wahre Geschichte, und ebenso wahres persönliches Leben, ist Versöhnung der menschlichen Sphären, ist das, was das biblische Wort »Friede« meint. Dieser Friede ist ein schöpferisches Vollbringen. Wie alles Schöpferische offenbart er ein Eintreten des Ewigen, des Göttlichen in den menschlichen Bereich. Er ist ein Akt der Frömmigkeit; denn Frömmigkeit meint: der höheren Welt Zugänge zur endlichen, begrenzten Welt öffnen. Nur eine Spannungskraft der Seele kann der Paradoxie gewachsen sein. Diese Kraft ist das, was das biblische Wort »Geist« wesentlich bedeutet. Geist ist die Fähigkeit, zu verbinden, zu vereinen, zu versöhnen, gleichsam Frieden zu schaffen. Darum kann dieses Volk, wenn es existieren will, nie primitiv sein, es darf nie einseitig werden. Wenn es leben soll, muß der Geist in ihm leben. »Torah im Mündlichen« ist die sich immer erneuernde Kraft gewesen, welche die Verschiedenheiten und Gegensätze, die ein bewegtes Jahrtausend innerhalb dieses Volkes hatte aufsteigen lassen, vermöge des Wissens um eine Einheit zusammenhielt. Immer wieder weckt es ein Staunen, wieviel des Widerstreitenden hier den Weg hat und den Ausdruck findet. Ein jeder Gedanke, jeder Wille und jede Hoffnung durften hier suchen und forschen, ringen und andrängen, wenn nur der eine, alles bestimmende Mittelpunkt feststand: Er, der ist, der eine Gott, sein Geheimnis und seine Verheißung, sein Gebot und seine Gnade – Er, der Eine, und keiner neben Ihm. Weil das feststand, konnte damals, in Tagen, da Worte von Lehrern gegen Worte von Lehrern standen, das Wort vernommen werden wie eine | Stimme von oben: »Diese und diese sind Worte des lebendigen Gottes.« Die »Torah im Mündlichen« hat solches vollbracht und eine Epoche geschaffen, weil sie aus dem Geiste geboren ward, aus dieser zusammenführenden, zusammenfügenden und zusammenhaltenden
208
Kraft, weil sie den Geist lebendig erhielt und weitergab. Nur wo der Geist ist und der Geist waltet, dort ist eine wahre Tradition. Nur dort wird ein Eigenes weitergegeben, nicht damit es noch da sei, sondern daß es wiedererstehe, vom Geiste gezeugt und Geist zeugend. Das Geistlose, ähnlich wie das Gewöhnliche, hat nur seine Wiederholung. In der echten Tradition ist die Kraft der Wiedergeburt. Der eine Geist schafft sich immer wieder die Form. Dessen waren die Männer der »Torah im Mündlichen« gewiß, und darum konnten sie sagen, »daß das, was sie lehrten, zurückgehe auf Moses, unseren Lehrer«. Als die »Torah, die im Mündlichen ist«, niedergeschrieben wurde, haben Träger der Überlieferung in dem einleitenden Satze zu den sogenannten »Kapiteln von den Vätern« den Weg aufgezeichnet, der zu ihnen hingeführt hatte: »Moses hat Torah vom Sinai empfangen und hat sie an Josua überliefert und Josua an Älteste und Älteste an Propheten, und Propheten haben sie an Männer der Großen Versammlung überliefert.« Es ist »Torah«, nicht »die Torah«, von der hier gesprochen ist. Etwas, was immer neu seinen Ausdruck haben soll, ist in die Geschichte, in die Reihe der Generationen hineingestellt, um im Suchen und Forschen lebendig zu sein; ein nie Fertiges, eine Aufgabe ohne Ende. Wie ein Wort des Talmuds sagt: »Geschlecht, Geschlecht, und seine Suchenden.« Nicht Nachfolger nur in einer Linie der Sukzession sollten diese Männer sein. Bisweilen folgten die Zeiten sich auf gleicher Ebene aufeinander, und bisweilen schieden sie sich tief, aber die Auf|gabe baut immer die Brücke. Zweimal steht das Wort »überliefern« in unserem Satze, und die Wiederholung gibt ihm, wohl nicht ohne Absicht, die Emphase: »Moses hat sie an Josua überliefert«, »Propheten haben sie an Männer der Großen Versammlung überliefert.« Es ist für einen Propheten nicht leicht, zu überliefern, und es ist nicht leicht, von einem Propheten zu empfangen; Persönlichkeit kann nicht weitergegeben und kann nicht übernommen werden. Aber auch hier schafft die Aufgabe die Verbindung, und auch die Folge ungleicher Geschlechter wird zur Geschichte, wenn nur die Aufgabe bleibt. Unser Satz sagt dann weiter: »Sie – diese Männer der Großen Versammlung, des Senats zu Jerusalem in der persischen Zeit – haben drei Worte gesagt: Seid achtsam im Recht, und laßt viele Schüler dastehen, und macht eine Hecke für die Torah.« Das war für sie das Dreifache, das immer wieder weitergegeben und immer wieder aufgenommen sein sollte: Recht, Erziehung und Bewahrung von Torah – Recht als Aufgabe und nicht als Instrument, Erziehung als Gebot
209
88
89
und nicht als Privileg und die Torah, die in die Welt hineingestellt sein und doch zugleich gegen die Welt geschützt und gesichert werden soll. Es ist bezeichnend, daß die ersten zwei Forderungen ihre einfachen, eindeutigen Worte haben und daß für die dritte ein Gleichnis gesucht ist. Die ersteren gewinnen die stets gleichen Wege in dem sichtbaren, fast greifbaren Verhältnis von Mensch zu Mensch. Diese dritte kann nur in einem Bild aufgezeigt sein. Der sorgende Blick, der umherschaute, sah das Erbe, das Eigene inmitten des Volkes und inmitten der Welt, gefährdet hier durch die Einseitigkeiten, diese Halbheiten, die sich für das Ganze ausgaben, durch so manches auch, was heilig hieß und unheilig war, und bedroht dort von Mysterien, von Philosophien, von Proklamationen, von so manchem auch, was emporzuheben schien und schließlich nur | herniederzog. Diese Männer sahen oder ahnten das alles in seinem Vielerlei, in seinem Auf und Nieder, in seinem Hin und Her, und sie konnten nur das eine sagen, hindeutend und vergleichend: »Macht eine Hekke für die Torah«, laßt nicht Fremdes in das Eigentum eindringen! Die Große Versammlung stellt nicht, wie man bisweilen gemeint hat, eine bloße historische Rekonstruktion dar. Die Nachrichten aus jener Zeit, der ersten Periode des zweiten Jahrtausends, sind kärglich. Es war eine ruhige Zeit, und sie brauchte wenig von sich selbst zu sprechen. Das Gemeinwesen hatte sein umfriedetes Dasein innerhalb des persischen Provinzialsystems. Aber wenn im Rückblick und Rückschluß aus späteren Tagen, welche von sich die bestimmte Kunde geben, Erkenntnis gewonnen werden kann, so wird es deutlich, was damals, in jenen zwei Jahrhunderten der Großen Versammlung, vollbracht worden ist. Auf altem geschichtlichem Boden, aber inmitten völlig geänderter Ansprüche und gegenüber durchaus neuen Erfordernissen wurde dem, was gewachsen war und seine Stärke bewiesen hatte, der Raum bereitet. Neue Formen des alten sittlichen und geistigen Lebens konnten sich entfalten. Gegenüber Kulturen, die nur Kulturen waren, gegenüber Religionen, die nur Religionen sein konnten, hat sich hier eine alte religiöse Kultur entwickelt. Das will sagen: Die zwei Welten, in die sich der denkende Mensch hineingestellt sieht, die der Offenbarung und die der Forschung, die der einen großen Antwort und die der vielen Probleme und Zweifel, die der Entscheidung und die der Gebundenheit, die der Unendlichkeit und Ewigkeit und die der Begrenztheit und Vergänglichkeit, die der Gnade und die des Irrtums, wurden in neuem Suchen zu ihrer Einheit geführt, zu dieser Einheit, in der dieses Volk immer wieder sein Eigenes finden konnte. Was gewachsen war, dieser Glaube voll des Wissensdrangs, diese suchende Botschaft, voll
210
der Kraft des Gebotes, wurde wiedergeboren. Nur, wo die zwei Welten einander begegnet sind, so daß die Einheit sie umfaßt, nur dort sind nicht bloß Sphären der Kultur und Sphären der Religion. Nur dort kann eine Religion voller Kultur, eine Kultur voller Religion immer neu werden – ein Werden ohne Ende und darum eine Aufgabe ohne Ende. Die drei Mahnungen zum Recht, zur Erziehung, zur Wahrung des Eigenen, alle Gebote an dieses Volk in neuer Form sind damals lebendiges Besitztum geworden. Auch hier ist große Forderung nicht selten auf die schwachen Menschen gestoßen, die bald ihr auswichen, bald um sie herumgingen, oder auf die kleinen Menschen, die das Große in sich aufnehmen wollten, indem sie es kunstfertig verkleinerten. Es hat auch hier die gegeben, welche das Recht als ein Werkzeug ansahen, das man nur zu handhaben brauchte; sie sahen nicht die erhabene Idee vor sich, der sie nachstreben sollten. Es hat auch hier die gegeben, denen das Wissen, das sie in sich trugen, das große oder kleine, das wirkliche oder vermeintliche, nur eine Habe war, die sie erworben hatten und über die sie verfügen wollten; sie begriffen nicht die Pflicht auch dieses Besitzes; sie hatten nicht die Bescheidenheit der Lernenden gehabt und hatten nicht die Demut der Lehrenden. Und es hat hier die gegeben, die über der »Hecke« bisweilen die Torah vergaßen, Menschen der Hecke ohne die Torah; sie mühten sich, zu sichern, und wußten nicht, was das war, was sie sichern sollten. Aber trotz der Kleinheit oder der Unzulänglichkeiten, welche irdisches Los sein können und bleiben werden, trotz mancher Mängel auch, in denen sich Vorzüge verengen oder übersteigern, trotz alledem ist das Große doch immer erfaßt und weitergegeben worden. Zu immer erneutem Eigentum, zu immer erneutem Auftrag ist dieses Erbe damals geworden: ein Recht, das seiner selbst und darum auch der sozialen Aufgabe bewußt bleibt und schon darum keinem Zwecke | dient, noch einer Macht sich unterwirft; eine Hingebung an den Unterricht, in der eine Frömmigkeit lebt, die ein Gebot Gottes erfüllen will, die, wie ein Wort des Talmuds mahnt, »auf die Kinder Armer achtet, denn von ihnen wird Torah ausgehen«; ein starker Sinn für das Eigene und Besondere, der zugleich sich für alles öffnet, was die Welt draußen bewegt, und damit eine charakteristische Weise des Denkens, des Empfindens, des Strebens immer wieder schafft, den Stil eines Lebens gegenüber der Welt, ja trotz der Welt, und dennoch in der Welt und für sie. Eine religiöse Kultur konnte erwachsen. Zwischen diesen dreien besteht sowohl in der persönlichen als auch, und vor allem, in der geschichtlichen Sphäre die innere Ver-
211
91
92
bundenheit. Es ist hier ein Gesetz des Zusammenhangs, des gemeinsamen Steigens und Fallens. Wo das Recht abwärtsgeht, dort sinkt zugleich die Erziehung und sinkt die Sittlichkeit des Bewußtseins vom Eigenen, und ganz so bewirkt die Minderung oder Schwächung des einen der beiden anderen zugleich den Niedergang aller. Und ebenso können sie nur zusammen sich erheben oder sich wieder aufrichten. Es gibt kein isoliertes Recht, keine isolierte Erziehung, kein isoliertes Eigengefühl. Aus demselben Boden, aus der inneren, der sittlichen Freiheit, aus diesem lebendigen Wissen von dem, was Gott gebietet, ziehen sie alle in gleicher Weise ihre Kraft. Es ist das Geheimnis aller wahren Lenkung des Lebens, des individuellen wie des der Gemeinschaft, diesen Zusammenhang zu verstehen. Wenn eines von diesen dreien die anderen oder eines von ihnen verdrängen will, so verdrängt es sich schließlich nur selbst. Es kann nicht, wenigstens für eine Dauer nicht, einen Gesetzesstaat für sich, einen Unterrichtsstaat für sich, einen Nationalstaat für sich geben, wenn es auch im Theoretischen oder selbst im Tatsächlichen bisweilen | unternommen worden ist, ihn herzustellen. Die innere Freiheit kann nicht zerlegt werden. Es ist die geschichtliche Leistung der pharisäischen Bewegung, daß sie das Verständnis hierfür lebendig erhalten hat. Man kann nur von einer pharisäischen Bewegung sprechen, nicht aber von einer pharisäischen Partei, ganz wie auch die sadduzäische Gruppe und der essenische Kreis, die meist neben oder gegen die Pharisäer gestellt werden, nicht als Parteien bezeichnet werden dürfen. Von Parteien hatte hier der Historiker dieses Volkes, Flavius Josephus, gesprochen. Er hatte von seinem Volk und allen den Mannigfaltigkeiten in ihm den Römern und Griechen erzählen wollen, die an Parteien denken mußten, wenn sie an Verschiedenheiten in einem Gemeinwesen mit eigener, innerer Entwicklung dachten. In Wirklichkeit ist das Volk damals von der pharisäischen Bewegung erfaßt worden; man könnte sie auch die pharisäische Erweckung nennen. Eine Partei will Anhänger gewinnen, sie zusammenschließen und zu einem Erfolge hinführen; eine Bewegung will Gewissen wachrufen und eine Umwandlung des Lebens bewirken. Mit der großen Forderung vom Sinai: »Und ihr, ihr sollt Mir ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk sein« [Ex. 19,6], Ernst zu machen, sie immer und überall ernst zu nehmen, das war die große Idee, aus der diese Bewegung hervorgekommen ist. Eine Idee ist groß, ist echt und wahr, nur wenn sie zur bleibenden, nie nachlassenden Aufgabe wird, und eine solche Aufgabe ist nur die, die sich
212
an einen jeden, an jeden einzelnen, jeden Hohen und Geringen in gleicher Weise richtet. Die mannigfachen Kastengegensätze und die Standessonderungen gehen wesentlich darauf zurück, daß irgendwelche Gruppen sich, von Anfang an oder nachträglich, ein höheres Ideal | zuschreiben und daraus den Anspruch herleiten, sich von anderen abzugrenzen oder auf sie hinunterzusehen. Der Kreis des Eroberers, des Usurpators, des Bedrückers soll als der Bezirk der höheren Idee gelten, um ihretwillen soll er verbürgt und gesichert bleiben. In der pharisäischen Bewegung ist in entscheidender Weise und mit einem entscheidenden geschichtlichen Erfolg unternommen worden, das höhere, das bestimmende Ideal zu allen alsbald hinzuführen, damit jeder es jetzt und ganz zu eigen nehme. Das Gebot vom Sinai, mit dem die wahre Geschichte dieses Volkes beginnt, ist wiedergeboren worden und hat, um der umgewandelten Zeit zu begegnen, sich den neuen Ausdruck und die neue Form geschaffen. Das Individuum ist nun stärker noch angesprochen, ihm ist die Verantwortung und ist damit das Recht auf seinen Platz stärker noch zugeteilt. Auch das ist ein Stück jener Paradoxie, in welcher höheres menschliches Leben seine Formen gewinnt, daß die Gemeinschaft den einzelnen trägt und vergewissert, und daß doch zugleich der einzelne die Gemeinschaft emporhebt und aufrechterhält. Erst in der Gemeinschaft hat der einzelne seinen bestimmten Platz seines Wirkens, und erst durch einzelne in ihr erfährt eine Gesamtheit ihre besonderen, großen Stunden. Auch hier kann, ja muß es die Spannungen geben. Der einzelne und die Gesamtheit können untereinander leiden, der einzelne an seiner Verknüpfung mit dieser Gesamtheit und sie an dem Ringen und Drängen mancher einzelner in ihr. Die Spannungen können immer neu hervortreten, und nur eine seelische Energie kann sie in sich aufnehmen und damit für ihre Fruchtbarkeit einen Raum bereiten. Es gibt eine Geschichte dessen, wie Gesamtheiten und Individualitäten einander verloren haben, und es gibt eine Geschichte dessen, wie sie einander fanden oder wiederfanden. Müde und lebendige, dürre und schöpferische Perioden scheiden sich darin. | Die pharisäische Bewegung und mit ihr die von ihr belebte »Torah im Mündlichen« zeigen es, wie stark hier einerseits der Wille zur Gesamtheit und zum Leben in ihr war und wie mannigfaltig hier andererseits eine Fülle der Individualitäten sein konnte, die einander widersprachen und einander entgegenstanden. Die Gesamtheit ertrug sie alle, und sie ertrugen einander und wußten, daß sie alle innerhalb der Gesamtheit ihren Platz und ihr Recht hatten. Das tal-
213
93
94
95
mudische Schrifttum wie auch Schriften aus jener Zeit, mit denen glückliche Funde unserer Tage uns bekannt gemacht haben, geben hiervon Zeugnis. Es konnte so sein, weil die große Forderung, die erhoben wurde, in gleicher Weise vor die Gesamtheit als solche wie vor einen jeden in ihr als solchen hintrat. »Heilig« sollte die Gesamtheit sein und »heilig« ein jeder in ihr. Keiner konnte den anderen vertreten oder ersetzen noch sich durch das Dasein der Gesamtheit vertreten oder ersetzt meinen. Ihr und allen in ihr galt das gleiche Gebot; es gab nicht ein großes Gebot für die einen und ein kleines für die anderen. Hiermit ist ein zweifaches erreicht worden. Die Gesamtheit, das Volk, der Staat, oder die Ecclesia [= Synagoge] konnte nicht als Gebilde für sich dastehen noch eine Existenz für sich haben, nicht eine Heiligkeit für sich oder eine Profanität für sich beanspruchen, nicht ein Denken für sich und eine Moral für sich, nicht Maßstäbe für sich zu besitzen wünschen. Die große Einheitlichkeit der Moral und ihrer Vernunft und damit der Respekt vor dem sittlichen Denken, diese Lebensluft wahrer Gemeinschaft, konnte hier alles durchdringen. Gemeinschaft wurde Gemeinschaft in der Aufgabe, Gemeinschaft um des Gottesgebots willen. Die Einheit der Existenz war gegeben. Und ebenso, und das ist das andere, ist dem moralischen Handeln wie dem aus ihm erwachsenden moralischen Denken die Beständigkeit, die stete Gegenwärtigkeit gesichert worden. Sie beide, das Denken wie das Handeln, haben immer ihr | Hier und Jetzt, sie sind nicht bloß im Bezirke des Gelegentlichen, in welchem das Beste zur Halbheit wird. Die pharisäische Bewegung und ihre »Torah im Mündlichen« haben mit dem immer Ernst machen wollen, was das Wort des Moses besagt, »wenn du in deinem Hause sitzest und wenn du auf dem Wege gehst, und wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst« (Deut. 6,7). Der Kleine wurde davor bewahrt, daß er ohne die Aufgabe zu bleiben dachte, der Geringe davor, daß er ohne den Platz und ohne die Stunde zu sein vermeinte. Er gewann den sittlichen Respekt vor sich selbst, auf dem die sittliche Existenz beruht. Die Einheit der Existenz, diese innere Wahrheit, die zur Wahrhaftigkeit wird, war ihm gegeben. Die Existenz war die eine für die Gemeinschaft und für die einzelnen. Drei große Gebote, welche die Bibel verkündete und jeder neue Tag verhieß, verbanden sich hier: die Gebote der Heiligkeit, der Reinheit und der Gerechtigkeit, und »Gerechtigkeit« schließt hier im religiösen Begriff wie in der Sprache die sich durch die Tat bewährende Liebe ein. Mannigfach ist dieser inneren Beziehung Ausdruck gegeben worden, eines bringe zu dem anderen hin. Bezeichnend ist
214
schon, daß das Wort, welches anfänglich die Reinheit, die Lauterkeit benennt, nun zugleich die Bewährung im Rechte bedeutet. Und ebenso charakteristisch ist, daß in der Mahnung zur Heiligkeit immer zugleich die Forderung spricht, sich innerlich zu bewahren, von allem Niedrigen und Gewöhnlichen, von allem Befleckenden sich fernzuhalten. Und ganz besonders die Gerechtigkeit erweitert ihren Sinn und vertieft ihn doch auch zugleich. Man könnte, einem Psalmworte (145,7) folgend, sagen: Sie wird zur Frömmigkeit des Weges, so wie die Liebe zur Frömmigkeit des Tuns wird. In der pharisäischen Bewegung und der »Torah im Mündlichen« ist auch die Sprache in Bewegung. Die Idee verlangt wie die neue Form so auch den neuen | sprachlichen Ausdruck. Auch die Sprache hat kraft der Idee ihre Geschichte, ganz wie sie, wo die Idee fehlt oder verkümmert, geschichtslos sein oder werden kann. Aber vor allem wird das Gebot reicher. Aus dem großen Gebot erwachsen die vielen kleinen, die Gebote jedes Tages und jedes Pfades. Sie erscheinen klein, aber auch sie, so wird oft betont, sind groß; denn sie sind Gebote von Gott. Der Mensch soll nicht auf die außerordentliche Stunde und auf den zur Weite hinausweisenden Platz warten, um das Gebot zu erfüllen. Überall wartet das Gebot auf ihn, auch in den engen Bereichen, und er kann diesen eine Würde geben. Wo immer er steht, steht auch ein Gebot, das für ihn bestimmt ist, und er darf dort sprechen: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns geheiligt hat durch Seine Gebote ...!« So ist es das Prinzip der pharisäischen Bewegung. Einer ihrer Lehrer hat das Wort gesprochen: »Es wollte der Heilige, gelobt sei Er, daß Israel gerecht, rein sei. Darum hat Er für sie viel Torah und viele Gebote gegeben.« Keiner sollte ohne Torah, ohne Gebote sein. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß auch dieses umfassende Ideal nicht immer und nicht überall zur Wirklichkeit geworden ist. Es gab die, welche seiner nicht fähig waren oder eines Tages ermatteten. Es gab auch die, welche für das Ideal »eifern« wollten und über dem Eifern schließlich, und oft sehr bald, das Ideal verloren. Es gab auch die, um deren Ich willen das Ideal dasein sollte; die Selbstgerechtigkeit stieg auf, in der die Gerechtigkeit zum Egoismus und zur Lieblosigkeit wird. Und es gab die, welchen das Ideal das Mittel für ihre Zwecke wurde, die Scheinheiligkeit trieb ihre Spiele. Von alledem spricht der Talmud mit strengem Worte. Er erzählt, wie ein Fürst aus dem Makkabäerhause den, der ihm nachfolgen sollte, vor den »Geschminkten« warnte; er hatte die kennengelernt, deren »Frömmigkeit« nur ein Schauspiel war, das sie | vor der Welt aufführten. Es gab diese alle, die sogenannten »Pharisäer«, da-
215
96
97
mals und später, und sie konnten bisweilen der Würde dieses Volkes im Wege stehen. Aber wer das Ganze überblickt, wird dieser Würde gewahr. Eine Selbstverständlichkeit des Tuns und des Lassens, des Schreitens und des Meidens, wohnt hier und gibt bei allen Nöten des äußeren Daseins, auch bei allem Hasten und Drängen, in das die Not oft hineinzwingt, dem inneren Dasein seine Vornehmheit. In seiner Welt des Vornehmen kann der Mensch hier immer bleiben. Eine Verbindung von Geistigem und Sittlichem innerhalb jedes Tages ist hier geschaffen worden. Eine religiöse Kultur durchdringt alles, so daß alles ihr Ausdruck wird. In allem Kleinen wie in jedem Großen kann sie sich offenbaren. Mit dem zweiten Jahrtausend beginnt die Märtyrerzeit dieses Volkes; Männer der pharisäischen Bewegung stehen in ihr vornan. Auch der Märtyrertod war hier nicht nur die Bejahung einer Stunde, welche die letzte Entscheidung verlangte. Er war gleichsam das Ergebnis eines Lebens, die selbstverständliche letzte Antwort, welche das Leben eines Menschen gab. Das Gebot der Heiligung hatte gesprochen. Das war darum ein Wort, in dem zugleich die Gesamtheit sich selber vernahm und ihrer selbst bewußt und gewiß wurde. Sie standen auch als Zeugen für einander da, der einzelne und die Gemeinschaft, in diesem Zeugnisse für den einen Gott und für die Gnade seines Gebotes. Die Gesamtheit und der einzelne gaben auch in solcher Stunde einander ihre Würde. Es war, wie wenn sie zusammen beteten, mit jenem alten Satze des Gebetes, in welchem dieses Volk für Gott Zeugnis ablegt: »Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, der Du uns durch Deine Gebote geheiligt hast.«
216
III. Beten und Lernen
Auch das Gebet hat in diesem zweiten Jahrtausend sein Leben entfaltet. Es ist damals Leben vom Leben dieses Volkes geworden, Ausdruck alles dessen, was sein Leben besaß und erstrebte und ersehnte. Alles spricht daher in ihm: Torah und Botschaft, Mahnung und Trost, Frage und Zuversicht, Erkenntnis und Friede. Nichts, was die Seele zu sagen sucht, wenn sie sich oder der Welt gegenübertritt, keines hätte ohne das Gebet sein können. Philosophie und Mystik haben hier auch gebetet. Denken und Dichten hieß auch Beten. Das Gebet wurde das Bekenntnis des Volkes von seinem Leben, das Bekenntnis, das die Gemeinde und das jeder einzelne an Tagen, welche kamen, in Stunden, welche sich erhoben, und in Augenblicken, welche anschauten, vor Gott ablegten. Im Gebete führten sie sich vor Gott hin, sie alle, die »Gemeinde Israel« und jeder eine in ihr, diese »eine Seele in Israel«, und einander begegneten sie im Angesichte Gottes. Zu Gott sprachen sie von sich und damit für sich und damit zu sich selbst. Das Volk wurde ein betendes Volk so, wie es ein suchendes und lernendes, ein erwartendes und erfüllendes war. Es hätte das eine nicht sein können, ohne zugleich das andere zu sein. Nur so konnte es seine wahre, seine ganze Existenz haben. Das alte Buch der Gebete, dessen gleichen es nicht gibt, der Psalter, war in das zweite Jahrtausend hineingewachsen. Er | verbindet die zwei Epochen. Was auch immer anders geworden war, wie tief die Einschnitte waren, die von vielem Früheren schieden, er, auch er, war inmitten des Volkes geblieben. Er lebte in ihm, Leben empfangend und Leben gebend, ganz wie die Torah, die Prophetie, die Weisheit, ganz wie sie nicht ein Buch nur, sondern ein Element der Existenz. Das Volk selbst betete, wenn einer seiner Menschen betete; das Ich wurde zum Wir, und im Wir sprach dann wieder das Ich. Im Gebete begegnete das Volk hier jedem einzelnen, und jeder einzelne begegnete seinem Volke. Es war, wie wenn das Leben sich
217
101
102
103
selbst begegnete. Zu sich selber sprach es, und sich selber vernahm es, vor Gott, dem Einen, redete es so und hörte es so. Vielleicht ist solche Begegnung, die doch mehr noch ist als das, was Selbsterkenntnis genannt wird, der tiefste und eigentlichste Sinn des Gebetes. In der Pflicht, im Gebote, das er verwirklichen soll, findet der Mensch den Zugang zu seinem Leben, zu seinen Aufgaben wie zu seinen Sorgen, zu seinen Zielen wie zu seinen Hemmungen. Er beginnt und lernt, sich zu begreifen; er vermag dem Gefüge seiner Tage gewachsen zu sein. Im Gebete tritt er dann in die Welt seines Lebens ein, er hält Zwiesprache mit seinem Leben. Er beginnt und lernt, seine Welt zu erfassen, die Welt, die in ihm ist und um ihn ist, er vermag, ihr gewachsen zu sein. Der Mensch, zu dem die Pflicht nicht kommt, wird kaum wahrhaft beten können, und der, der nicht beten kann, wird zwar seine Pflicht kennen und ihr dienen, aber wird nicht von der Welt seiner Pflicht, von der Welt des Gebotes erfahren. So ging, als das Volk ins Exil zog, die Welt seines Lebens mit ihm. Das Leben schuf sich die neuen organischen Formen, in denen zeugendes Leben wohnte: Form der Gemeinschaft, die Gemeinde, und Form des Gottesdienstes und seiner Stätte, das Haus des Gebetes und des Lesens in den Heiligen Schriften. Sie gehören beide zusammen: das Haus des Gottesdienstes | war das »Haus der Gemeinde« – das hebräische Wort benannte es so –, und die Gemeinde war die Stätte der Menschen des Gotteshauses. Mit demselben zweifachen Worte, den Worten »ecclesia« und »synagoge«, hat dann die griechische Sprache jede von beiden, die Gemeinde sowohl wie ihr Gotteshaus bezeichnet. Der Tempel, das Heiligtum des alten Opferdienstes, lag zerstört in der Ferne – das Volk vergaß ihn nicht, das Gedächtnis des Herzens blieb immer lebendig. Aber vor dem Blicke war, wo immer diese Menschen hier wohnten, das Haus des Gebetes und der Verkündigung der Schrift, auch dieses ein Heiligtum. Als die Heimwanderer dann zum Berge Zion zurückkehrten, den Tempel wieder errichteten und im alten Lande Vergangenheit zur Gegenwart machten, blieb danach die Gegenwart auch, die sie gewonnen hatten. Überall im Lande erwuchsen die Gemeinden und in ihnen »Häuser der Gemeinde«, Häuser des Gebetes, Häuser des Lernens, Häuser des Forschens, Häuser der Heiligen Schrift. In diesen Häusern wurde eine Verbindung bewirkt, die für dieses Volk bezeichnend blieb und sein geistiges Wesen und auch seinen geschichtlichen Charakter vielfältig bestimmt hat, die Verbindung von Beten und Lernen. Im Gebet ist der Mensch vor den Grund von allem hingestellt; er wird dessen gewiß, wodurch und warum er lebt.
218
Im Lernen ist er, nach einem Worte des Talmuds, »zu dem Tun, zu der Aufgabe hingeleitet«; er erfährt, wofür er lebt. Durch sein Beten ist er über den Tag hinausgeführt, durch sein Lernen ist er in den Tag hineingeführt. Immer im Tage zu sein und doch niemals nur im Tage; in dem, was der Tag verlangt, die Stimme der Ewigkeit auch zu vernehmen und in dem, was aus der Ewigkeit hervorklang, von der Forderung des Tages zu erfahren, dieses Leben gleichsam in zwei Welten, damit durch das Menschenleben zwei Welten eine Einheit erhielten, das zu zeigen ist der tiefste, der tragende Sinn der Heiligen Schrift. Was sie | verkündet, was sie gebietet, was sie verheißt, ist kraft dessen eines. In den Häusern der Heiligen Schrift, den Häusern des Lernens und Betens, sprach auch diese Einheit zu denen, die dort eintraten. Die Andacht hatte hier ihr Nachdenkliches, und das Lernen hatte sein Gottesdienstliches. Eine eigentümliche menschliche Erscheinung, ein Gegenbild zu den Gestalten in der griechischen Philosophie, gewann hier ihre Linien. Es ist die des Lehrers, der sein eigenes Wort spricht und zugleich eine Tradition weiterführt, deren Bürge er bleibt, der seine Schüler gewinnt und auf seinen Weg führt und doch bewußt ist, ein Jünger zu sein. Er ist einer der Richter, ein Entscheidender, und ist zugleich ein Prediger, ein Mahnender, fast ein Bittender. Er ist ein Mensch der Tat, dem das Bedürfen der Gesamtheit anvertraut ist und der, wenn es not tut, als ihr Sendbote, ihr Apostel hinauszieht und der doch zugleich der Mensch des Gebetes ist, der das Leid und die Sehnsucht der Gemeinde vor Gott hinträgt und dessen Andacht neue Worte des Flehens und des Vertrauens auch dichtet. Noch eine andere eigentümliche Verbindung von Eigenschaften zeigte sich oft in diesen Menschen: Ein nüchternes Prüfen, das zweifelnd, fragend und abwägend zu den Angelegenheiten des Tages hintrat, einte sich mit der Versunkenheit und Hingebung, welche Stimmen hörte und Gesichte schaute. Eine kluge Überlegtheit, die zu verhandeln und auch zu vermitteln verstand, einte sich mit einer Schlichtheit, oft fast mit einer Kindlichkeit des Gemütes. Ein immer neu einsetzender Scharfsinn und das Zögern seiner Dialektik einten sich mit einer nie schwankenden Bereitschaft, ja einem Enthusiasmus für das Martyrium. Aber nur Menschen, deren Seele das alles umfangen konnte, vermochten durch eine außerordentliche Zeit hindurchzuführen. Das Volk nannte diese Männer »Meister«, »Rabbi« und sprach von ihnen als »den Weisen«. Sie selbst wollten nur | »Schüler eines Weisen« heißen. Das Wort »Schriftgelehrter«, diese häufige irrige Wiedergabe des griechischen Wortes, das sie als »Männer der Schrift«
219
104
105
106
bezeichnet, hätten sie abgewiesen. Sie wollten gewissermaßen in allen ihren Tagen nur Gesellen sein. Als Männer im Volke standen sie da, so daß sie weder herniedersteigen mußten noch herabsehen durften – Lernende unter Lernenden, Hörende unter Hörenden. Sie empfingen keinen Lohn für ihre Mühe. Als die Not der Zeit in späteren Jahrhunderten dazu zwang, haben noch langehin die, welche ihn empfingen, innerlich darunter gelitten. Ein Beruf, den sie irgendwie ausübten, Handwerk, Landwirtschaft oder Handel, gewährte ihnen eine äußere Unabhängigkeit, und ihr Wissen wie ihre Frömmigkeit gaben ihnen die innere Unabhängigkeit. Sie waren freie Männer. Die Autorität, die sie besaßen, war eine erworbene, keine übertragene. Die Persönlichkeit sprach das bestimmende Wort. Sie konnten allein stehen, obwohl davor manch einer von ihnen gewarnt hat, und sie konnten mit anderen zusammengehen. Aber sie bedurften nicht der Genossen und nicht der Anhänger, geschweige denn einer Partei, damit ihr Wort im Volke gehört würde. Ihr Platz war ihr eigener, denn sie waren immer sie selbst. Auf keinem anderen Boden ist damals etwas erstanden, was dem Wesen dieser Männer ganz vergleichbar wäre. Wo späterhin anderswo Ähnliches sich zeigt, ist es, auf diesem oder jenem Wege, von hier hergekommen. Diese Männer können nicht zu den Propheten hingestellt werden. Sie hatte nicht »die Hand des Ewigen« ergriffen und hervorgeholt. Ihr Anteil war nicht die Offenbarung des Ewigen, von der sie erfaßt und hinausgeführt wurden, in dieser letzten Erschütterung, dieser tiefsten Revolution der Seele. Aber nur, weil hier, in diesem Volke, die Propheten gewesen waren, konnten hier, in diesem Volke, in dem anderen Jahrtausend, diese Männer erstehen, deren Kraft es war, zu voll|bringen, daß die Propheten nicht vergeblich gelebt hatten. Weil diese Männer da waren und ihr Jahrtausend besaßen, darum sind die Propheten hier die Propheten geblieben und ist Torah daher immer neu zur Torah geworden und hat das Gebet nie aufgehört. Diese Männer haben Geschichte weitergeführt. Sie haben in ihr Volk immer wieder eine ihrer selbst klar bewußte Entschlossenheit zu dem hineingetragen, was allein seine Geschichte sein kann. Ohne sie hätte das Volk diese Zeit, in der Katastrophe auf Katastrophe folgte und Krisen sich aneinanderreihten und Wandlungen sich drängten, nicht bestehen können. Ohne diese Männer hätte diese Epoche nicht vermocht, eine neue Epoche zu erzeugen. Sicherlich war auch hier das Ideal nicht in allen zur Wirklichkeit geworden. Mancher Satz des Talmud zeigt, wie bisweilen der Eifer zur Eifersucht werden konnte. Auch jene Denkart, die sich mit der Gelehrsamkeit nicht selten verbindet, wenn in dieser nicht auch die
220
Kraft des Charakters lebt, mochte sich hier und da kundtun, jene Art, welche groß im Kleinen ist und gegenüber dem Großen klein dasteht. Aber das waren Erscheinungen am Rande. Wer nicht am Rande stehenbleibt, der erkennt das Außerordentliche: Eine große, eine ungewöhnliche Forderung hat damals, Geschlecht um Geschlecht, ihre Männer gefunden. In allen, an die sie erging, hat eine lebendige geistige Kraft, ein unerschütterlicher Wille, eine zu jedem Opfer bereite Hingebung sich für die Antwort aufgetan. Die menschliche Geschichte weiß von wenigem, was dem gleicht, zu erzählen. Nur eine besondere seelische Spannkraft, dies muß wiederholt werden, und der aus ihr hervorkommende Wille zur Einheit konnten den Aufgaben, welche diese Epoche gestellt hat, gewachsen sein. Sie mußten sich schon in Spannungen zwischen sozialen Bestimmungen erweisen, die aus ungleichen Voraussetzungen hervor und unter unterschiedenen Geschicken | sich entwickelt hatten. Innerhalb der umfassenden Welt, in der sie alle lebten und leben wollten, die an sie Ansprüche geltend machte und an die sie selbst auch Ansprüche richteten, war vieles anders geworden. Denn dieses Volk war jetzt ein Volk zweier Länder geworden, und es wurde dann bald ein Volk dreier Länder. Es war nun ein Volk im Land und ein Volk in Ländern. Auch wenn es an sich selber nur dachte, sich selbst beobachten und verstehen wollte, mußte es eines weiteren, eines »katholischen« Ausblicks fähig sein. Die eine Polarität war die zwischen Palästina und Babel. Die Gemeinden im babylonischen Lande hatten mehr und mehr das eigene Antlitz gewonnen, und sie waren sich dessen auch bewußt. Zusammen bildeten sie zudem ein besonderes Gemeinwesen. Dreimal war zudem von dort dem alten Land eine fast entscheidende Hilfe zuteil geworden. Die beiden ersten Male war es durch Esra und durch Nehemja geschehen. Als die Zahl der Menschen, die nach dem alten Land aus dem Exil zurückgekehrt waren, und auch ihre geistigen und sittlichen Kräfte nicht auszureichen schienen, um einer doppelten Gefahr des Untergangs, der durch vordringende Feindschaft und der durch aufgezwungene Bundesgenossenschaft, zu widerstehen, waren diese beiden Männer nacheinander und dann miteinander in die Bresche getreten. Von der Stimme gerufen, die in ihnen sprach, waren sie erschienen und hatten den Beistand gebracht, der zur Rettung wurde. Die zwei Bücher, in denen diese beiden Männer von ihrem Beginnen und ihren Mühen Rechenschaft ablegen, sind in die Reihe der biblischen Bücher eingefügt worden. Sie zeigen, wie das erste
221
107
108
109
Jahrtausend in das zweite überging. Man könnte sagen, daß sie Bücher der Brücke sind. Sie sind Bücher vom Alten und vom Neuen, von einem Wachstum, das sich erfüllt hatte, und von einer Wiedergeburt, die sich vollzog. Die | letzte, die abschließende Zeit der Prophetie ist noch nahe, und die Zeit der »Torah im Mündlichen« und der pharisäischen Bewegung beginnt doch schon. Die zwei Männer, die hier sprechen, stehen in den deutlichen Zügen ihres Charakters vor uns, und nur, wer etwas von ihrem Wesen in sich trug, konnte fortan diesem Volk in schwerer Zeit eine Hilfe sein. Ihre Aufgabe, wie Tage und Umstände, Tatsachen, die einander fanden, und Tatsachen, die sich entgegenstanden, sie heraufbrachten, konnte nur ihnen gestellt sein und kaum wiederkehren, aber ihre Persönlichkeit ist eine bleibende Mahnung. Persönlichkeit kann nicht vererbt sein, aber sie kann zur stetigen Mahnung werden, und Mahnung meint mehr als das sogenannte Vorbild, dem man oft Genüge getan zu haben meint, wenn man es bewundert. Gemeinsam ist ihnen die tapfere Frömmigkeit, dieser prophetische Zug in ihnen, diese Frömmigkeit, die nie fromm sein will, aber immer es ist, die nie einer Frömmigkeit zu dienen sucht, aber zu jeder Stunde Gott dient, die sich darum vor keinem Wandel der Stunden und vor keinem neuen Gebote fürchtet – es gibt ja auch eine Feigheit, die sich Frömmigkeit nennt. Gemeinsam ist ihnen die Kraft der Liebe zu ihrem Volke, der jede Enttäuschung nur neue Stärke zur alten hinzufügt, die darum zu verachten vermag, aber nicht hassen kann. Gemeinsam ist ihnen die Demut, diese Schlichtheit und Echtheit der Selbsterkenntnis, und ist ihnen darum die tiefe Bescheidenheit auch ihres Gebetes, diese Wirklichkeit aller Andacht. Eigene Sprache hat ihr Beten daher auch gefunden. Doch sie sind auch Männer nebeneinander, sie haben sich ergänzt, und sie wußten davon. Es war nicht bloß so, daß der eine, Esra, ein Mann der Gedanken und der andere, Nehemja, ein Mann des Weges und der Tat war, daß der eine zu erwecken verstand, der andere zu führen und zu bestimmen vermochte. Der Ausgangspunkt und die Sphäre, von der sie | herkamen, waren vielmehr die verschiedenen, und sie sind wohl erst unterwegs und dann am Ziel einander begegnet. Die Welt, in der er lebte, war für Esra die Torah; sie gab auf alles die Antwort. Es galt, sie zu öffnen, sie zu »erklären«, dem alten Lande, das neu werden sollte, Menschen und Torah zu geben: Menschen, damit die Torah dort lebe, und Torah, damit Menschen dort wahrhaft lebten. Nehemjas Umkreis war die Welt gewesen, welche die große genannt wird. Aber in sie hineingestellt, von ihr umgeben, hatte er in der Welt der Heiligen Schrift gelebt. Sie war seine Welt, in der er sich selber be-
222
saß, die Welt seines Eigenen, seines Persönlichen. Damit seine Brüder im alten Land in ihr lebten, gesichert gegenüber einer Feindschaft aus der Nähe und aus der Ferne und bewahrt vor der Niedrigkeit und der Selbstsucht, die unter ihnen selbst hervorkamen, darum war er zu ihnen hingegangen. Auch sie sollten inmitten der Welt ringsumher ihr Eigenes besitzen und festhalten. In diesen beiden, in Esra und Nehemja, ist ein neuer Charakter, ein neues Ausdruck des Lebens dieses Volkes hervorgetreten. An ihnen wird es sichtbar, wie eine andere Epoche mit anderen Aufgaben begann. Aus dem alten Wachstum hervor waren sie geworden, und sie haben darum ihre geistigen Nachkommen gehabt, die Menschen, in denen ihre Art wiedergeboren wurde. Manches spätere Jahrhundert hat seinen Esra und seinen Nehemja gehabt, und es war ein besonderer Segen, wenn die beiden einander fanden. Ein Dritter ist dann noch, etwa vier Jahrhunderte später, aus dem babylonischen Bereiche dieses Volkes nach dem alten Lande gekommen, um eine Aufgabe zu erfüllen und ein Helfer zu werden. Es war Hillel, von dem das Volk meinte, daß er dem Hause Davids entstamme. Ein Mann, der seinen Platz sich selber gab, stand er wie ein ungekrönter Fürst im Volke da, und er hat ein Fürstentum, für Jahrhunderte noch, auf seine Nachkommen vererbt. Man erzählte sich von ihm, wie | zu einer Legende war er schon zu Lebzeiten geworden, und diese Erzählungen zeigen ihn, wie er nie auftrat, aber zu jeder Stunde da war. Wenn er sprach, sprach dieses Volk, und nicht bloß ein Teil oder ein Trachten in ihm. Er stand jenseits alles Scheidenden und Spaltenden, jenseits aller Gruppen und aller Parteigebilde. Wie Esra und Nehemja war er immer er selbst und war er immer ganz er selbst. In ihm begann die Torah wieder neu zu sprechen, Neues zu besagen und Neues zu zeigen. Seine »Methode« war, daß das Ganze vor den Teilen stehe und das Umfassende darum vor dem Sondernden, daß es in der Torah so sei und im Leben so sein solle. Seine Worte, die sein Mund sprechen durfte, weil sein Leben sie sprach, waren die gebietenden und darum tröstenden Worte vom Frieden, von der Liebe, von der Nähe, und dann die Worte vom Eintreten, vom Zusammenstehen und vom Beginnen. Zu den Priestern, die die Beamteten im Staat waren, den Nachkommen Aharons, sprach er: »Sei einer der Jünger Aharons, einer, der den Frieden liebt und dem Frieden nachgeht, einer, der die Geschöpfe liebt und sie der Torah nahebringt!« Es ist nicht genug, ein Nachkomme zu sein, man muß ein Jünger auch werden. Denen, die zu nichts berufen zu sein meinten, sagte er: »Dort, wo keiner ist, bemühe dich, ein Mann zu sein«, »Kein Mensch, der nicht eine Stunde hätte«. Mancherlei Wor-
223
110
111
112
te, die er so sprach, in einer nicht gesuchten künstlerischen Form, Worte, in denen das Leben selber zu sprechen schien und jeder sich vor seinem eigenen Leben angeredet hörte, sind in das Leben dieses Volkes hineingewachsen. Wenn es auf sie sich besann, besann es sich auf sich selbst. Eine neue Gestalt, eine neue Form menschlicher Weise und menschlicher Weisheit ist mit diesem Manne Hillel in die Existenz dieses Volkes eingetreten, eine Gestalt, die in ihm und vor ihm stand wie eine Mahnung, die es vernehmen sollte. Diese Männer und andere, die im Kommen und Gehen, im | Empfangen und Geben ihnen dann nachfolgten, haben zwei Bereichen des Daseins dieses Volkes trotz einer zunehmenden Verschiedenheit des Geschickes, trotz neuer und trennender Grenzen, die zwischen Staaten gezogen wurden, dennoch ihre innere Geschichte, ihre Existenz in einer bleibenden Einheit erhalten. Dem Denken der Menschen in beiden Gebieten ist damit auch eine gewisse Weite zuteil geworden. Hier wie dort durften sie nicht an ein Land nur denken, hier nicht an die alte Heimat allein und dort nicht an die neue nur. In eine noch stärkere Spannung, in eine Erstreckung zu der Ferne hin, wurde dann das Denken und wurde das Sinnen und Dichten hineingestellt, als ein dritter Bereich, der des Westens, sich öffnete, als das Mittelländische Meer auch für dieses Volk ein Meer der Mitte wurde. Während des ersten Jahrtausends hatte es das »rückwärtige Meer« (Deut. 34,2) heißen können. Das Volk hatte ihm den Rücken zugekehrt. Jetzt wandte es ihm mehr und mehr das Antlitz zu. Ein neuer geschichtlicher Bereich tat sich nun vor dem Volk auf, eine Welt war vor ihm und zog Menschen und Gedanken an und ließ auch neue Ideen und Hoffnungen aufsteigen. Rings um das Mittelmeer erstanden die Pflanzstätten dieses Volkes, die Gemeinden, diese Kolonien, von den Griechen mit demselben Worte bezeichnet, mit dem sie ihre eigenen Kolonien benannten, von den Römern mit kolonialen Rechtstiteln ausgestattet. Durch seine Kolonien dehnte sich das Mutterland jetzt bis zum fernen Ozean hin. Sein Bereich war der dreier Gebiete geworden. An sie insgesamt konnte, ja mußte der Mensch dieses Volkes denken, wenn er seines Glaubens, seines Weges und seiner Erwartung bewußt wurde. Der Geist und auch das Herz mußten der Spannkraft fähig sein. Die Zeit ertrug wenig kleine Seelen. Um so mehr war das so, da die Richtung des Blickes hier zu einer Richtung des Denkens und auch des Hoffens wurde. Der | Geist dieses Volkes und auch der griechische Geist trafen einander, Geist konnte sich mit Geist auseinandersetzen. Als dann späterhin Rom in den Daseinskreis des Volkes trat, stand ein Wille einem Willen ge-
224
genüber, und der eine wie der andere schloß, wenn auch in ganz verschiedener Art, einen Glauben an sich, auch in sich ein; sie konnten nur nebeneinander wohnen. Innerhalb der hellenistischen Welt konnten damals Ideen von hier und Ideen von dort sich finden. Der Standort dieses Volkes, sein Glaube, war der gleiche geblieben, aber das Auge der Seele entdeckte neue Straßen. Eine Geschichte ist damals geworden. Das will sagen: Eine fruchtbare Gegenwart hat eine Idee als einen zeugenden Samen der Zukunft hervorgebracht. Denn das ist doch Geschichte: Ein Acker, der reiche Frucht trug, wird dann vielleicht zerstört, aber der Samen harrt der neuen Felder; er ist geblieben. Eine Zwiesprache zwischen Menschen dieses Volkes und Menschen anderer Völker begann, und Menschen anderen Glaubens sind in den Glauben dieses Volkes eingekehrt und haben in ihm dann Heim und Heimat gewonnen. Alle echte, alle ehrliche Mission ist eine Zwiesprache, eine freie Zwiesprache zwischen Menschen. Aus ihr erwächst, in Zuwendung oder Abwendung, neue innere Freiheit, eine neue Gewißheit. Sie ist eine Gemeinschaft des Suchens. Schon jener Prophet des Exils hatte von solcher Begegnung erzählen können. Er sprach von »denen, die sich Ihm, der ist, anschließen, um Ihm zu dienen« (Jes. 56,6). Und er hatte das Wort der Verheißung vernommen, die an sie ergeht: »Ich werde sie zu dem Berge Meines Heiligtums hinbringen und sie froh machen in dem Hause, wo man zu mir betet, ihre Darbringungen und ihr Opfer werden zum Wohlgefallen auf Meinem Altar sein; denn Mein Haus, ein Haus des Gebetes wird es genannt werden für alle Völker« (Jes. 56,7). In Psalmen dieser Zeit heißen sie | »die, welche Ihn, der ist, fürchten«, und in Sätzen des Bekenntnisses und des Dankes sind sie dort neben die Priester gestellt. Jetzt, in den Ländern rings um das Mittelmeer, in der Bewegtheit ihrer Menschen, in der Mannigfaltigkeit ihrer Philosophen und ihrer Mysterien, in dem Suchen nach dem Ungekannten, dem ungekannten Gotte, dem ungekannten Heiland, dem ungekannten Befreier, das viele Gemüter erfaßt hatte, konnte der Geist und die Poesie dieses Volkes allenthalben zu einer Kraft der Anziehung werden. Menschen von hüben und drüben begannen miteinander zu sprechen, und inmitten aller der Unschlüssigkeit und Unruhe erschien das Denken, das Wollen, das Hoffen dieses Volkes wie ein fester Pol. Inmitten aller der Verschiedenheiten, die sich doch immer wieder glichen, stand es da als ein Unvergleichliches, als eines, das so wie kein anderes das zeigte, was ist und was sein soll. Menschen fragten, und Menschen antworteten. Philosophien, die für ihre Systeme
225
113
114
das Fundament gesucht hatten, schienen hier das zu finden, was sie trug. Der Geist dieses Volkes gab und empfing doch auch; er gewann neue Weite und auch seine Probleme. Die Existenz dieses Volkes dehnte sich, die Spannkraft wurde erprobt. Einen Boten hatte dieses Volk zudem, fast ohne es gewollt zu haben, zu den Völkern hinausgesandt. Seine Bibel war durch Männer seiner Gemeinden in Ägypten, das griechisch geworden war, in die neue Weltsprache, die griechische Sprache übersetzt worden. Zu dem größten der Apostel ist damit dieses Buch geworden. Straße um Straße ist es gezogen, und wohin es gelangte, dorthin war dieses Volk gekommen, auch ohne daß es dort war. In vielen Ländern konnte die Welt dieses Volkes ihre Tore auftun. Von »allen Völkern«, denen der Nähe und denen der Ferne, hatte dieses Volk mahnend und hoffend oft gesprochen. Jetzt begann es zu ihnen | allen zu reden, und mancherlei Antwort kehrte zurück. Man hörte Neues. Aber es war, wie wenn auch der Ausdruck des Inhalts der Bibel durch diese Übersetzung Neues erführe. In der Sprache eines anderen Denkens mußte sie ihre Form suchen, in einer Sprache zudem, die zu der männlichen und weiblichen Wortform, die das Hebräische besaß, das Neutrum hinzufügte. Die Möglichkeit des Abstrakten mit ihrer Verlockung und ihrer Gefahr trat heran; das Persönliche konnte dem Unpersönlichen weichen, das Bestimmte dem Unbestimmten nachgeben. Philosophien und Mystizismen, in denen das Wort nicht mehr das Instrument in der Hand des Meisters ist, sondern sich selber zum Meister gemacht hat, konnten sich eine Sphäre zwischen den beiden Sprachen bereiten. Die griechische Bibelübersetzung hat auch darin ihre Geschichte. Aber alles in allem ist sie, ganz abgesehen davon, daß sie überhaupt die erste Übersetzung eines – zudem vielgestaltigen – Buches, ein erstes Unternehmen ist, das Außerordentliches leistete, auch inhaltlich ein Großes: Die Bibel ist hier nicht nur übertragen, sondern ist zugleich neu durchdacht worden. Neue Probleme wuchsen auf, und alte wurden neu. Eine Kraft einer »Torah im Mündlichen« wirkte auch hier. Wer aufmerksam auf dieses Werk, das hier vollbracht worden ist, hinblickt, wird von Bewunderung erfaßt. Nicht nur ein Nachschaffendes, sondern fast ein Schöpferisches spricht hier. Geist, der in der Bibel lebte, hat sich zur Bibel hingewandt. Jenes Hin und Zurück hat sich auch hier bewiesen. Doch das Entscheidende ist das, was die Existenz dieses Volkes erfahren hat. Kraft zur Weite wurde ein Wille zur Weite. Die griechische Bibelübersetzung, um dies zu wiederholen, ist der große Apostel, der Missionar der Bibel, geworden. Männer, die von ihrem Volk
226
und seinem Glauben sprachen, waren ihr vorangegangen und sind ihr nun gefolgt, und | sie fanden die Menschen, die auf sie gewartet zu haben schienen. Torah, Prophetie und Weisheit begannen hier zu sprechen, zu zeigen und zu führen. Existenz dieses Volkes wird zur Existenz von Menschen aus den »Siebzig Völkern«. Sein Erbe wird zu ihrem Erbe, seine Hoffnung zu der ihren. Die Zeit der »Hinzugekommenen«, der Proselyten, wie das griechische Wort sie nennt, war erschienen, eine große Zeit innerhalb des zweiten Jahrtausends. In einem Geben und Empfangen hat sie ein Schrifttum, das in der Zuversicht atmet, Poesie, Philosophie, Gebot hervorgebracht. Eine Katastrophe, ein zweiter Krieg gegen Rom, hat sie damals beendet. Aber die Aufgabe war nun in dieses Volk hineingelegt, die Idee vor seinen Blick hingestellt. In seinen Weg und seinen Trost gehörten sie hinein. Zu einer Kraft in seiner Hoffnung, wenn sie auch jetzt für Jahrhunderte so selten sich regen durfte, lange schlummerte, waren sie geworden. Das Humane, das überall in der Bibel, in der Torah, in der Prophetie, in der Weisheit und so immer wieder in den Gebeten sich kundtat, erhielt damals den neuen Ton. Man erfuhr von den Menschen, welche unterwegs zu Gott sind. Für sie ist damals ein Begriff gebildet worden, der seitdem ein Besitztum ist: »Die Frommen der Nationen der Welt.« Von ihnen hat einer der großen Lehrer, Rabbi Josua ben Chananjah, damals gesagt: »Die Frommen der Nationen der Welt haben teil an der Welt, welche kommt«, und sein Satz ist ein klassischer geworden und geblieben. Die Ehrfurcht vor den Suchenden spricht aus ihm. Dieses Volk ist immer ein suchendes gewesen und hat darum immer die Suchenden verstanden. In diesem Satz offenbart sich die Ehrerbietung gegenüber einer Frömmigkeit, die anders ist als die eigene, aber aus Tiefen der Seele doch kommt, in der es die Unterschiede nicht mehr gibt. In der »Welt, welche kommt«, in der großen Erfüllung, werden alle die Frommen einander finden. Diese Humanität der Ehr|furcht – es gibt keine, die so standhaft ist wie sie – ist in diesem Volke niemals verlorengegangen; sie hat in damaligen wie in späteren harten Tagen die Probe bestanden. Die Epoche der Proselyten, derer, die auf der Schwelle standen, wie derer, welche eintraten, war damals jäh abgebrochen worden. Die äußere Gewalt, die Verordnung durch den römischen Kaiser, unterband jede Form der Annäherung. Im Volke selbst führten Enttäuschungen, die man erlebt hatte, hier und dort auch zu einem Wunsche nach Abkehr. Aber die Existenz hatte ihre Erstreckung gewonnen, und diese Erstreckung blieb. Das Volk war wie im Räumlichen, so nun im Geistigen ein kolonisierendes Volk geworden. Die
227
115
116
117
neue Form einer Kolonie, die ein Erstmaliges im Leben der Menschheit war und fast ein Einmaliges geblieben ist, war geschaffen worden. Sie war eine Kolonie, hinter der keine Macht stand, die überallhin nur die Kraft, von der sie gekommen war, mit sich trug, die darum keinen bedrängte, keinen unterdrückte, keinen verstieß, die immer neuen Kolonien den Weg bereitete. Von einem geistigen, einem unsichtbaren Mittelpunkt kamen sie alle her, er hielt sie zusammen. Diese Kolonie, die Gemeinde, bestimmt seitdem mehr und mehr die Geschichte dieses Volkes und macht sie mehr und mehr zur Geschichte eines Volkes, das in Gemeinden lebt. Ein Volk von Gemeinden, das klingt wie ein Widerspruch, aber es ist einer jener fruchtbaren Widersprüche, aus denen Geist und Kraft geboren werden. Unter den drei Gebieten, in denen die Existenz damals ihren Bereich hatte und zwischen denen manches Denken hin und her zog, hatte das alte Land den eigenen Platz. Es lag in der Mitte des Raumes, und, was weit mehr noch bedeutete, es war die Mitte des Geistes und der Kraft. Es vermochte, die Anziehung auszuüben. Es war auch die große geschichtliche Kampfesstätte. Über Geschicke wurde hier entschieden, Tau|sende gaben hier ihr Leben hin, in Kämpfen für das Eigene. Es ist das Land der Märtyrer gewesen und hat das Martyrium gelehrt. Vornanstehen konnte hier nur meinen, ein Märtyrer werden. Aber ebenso war es die Kampfstätte des Geistes, für alle die anderen wurde hier gerungen. In der Geschichte dieses Volkes hat es sich in den späteren Epochen so wiederholt, daß ein Gebiet für alle die anderen den Kampf des Geistes zu bestehen hatte, für sie auch die Wunden davontrug. Jede Idee, jede Hoffnung, jede Sehnsucht, die zu irgendeiner Zeit im Volke lebendig wurde oder von außen herandrang, sie alle rangen damals hier, im alten Lande, miteinander. Ihre Kämpfe wurden hier durchgefochten: die großen Entscheidungen, die dann zu geschichtlichen werden sollten, traten hier an die Menschen heran. Hier wurden sie durchgefochten. In den nahen Kolonien des Westens war man in den Kreisen des Feldes des Erdbebens. Man hörte die Stimme der Stürme, die dort, im alten Lande, aufeinanderstießen. Über dem Gemeinwesen im Zweistromlande, auf der anderen Seite, wohnte zumeist die Stille. Im Ruhigen folgte eine Generation auf die andere; man hatte es leichter, seiner gewiß zu bleiben. Gedanken von draußen pochten nicht verlangend oder herausfordernd an die Tore. Man konnte sich fast ganz der Halachah zuwenden; die Haggadah, diese Auseinandersetzung mit den Ideen, trat mehr zurück. Wie umfassend, wie inhalts-
228
reich, wie voll der Probleme ist, gegenüber der Haggadah der babylonischen Lehrer, die, welche sich in Palästina entfaltet hat! Im alten Lande wurden die schweren Kämpfe durchgekämpft, dort mußte die Seele dieses Volkes die ganze Spannkraft bewähren. Eine geschichtliche Prüfung hatte auch auf das Volk in dem alten Land ihre ganze Last gelegt. Drückend lag sie auch auf dem Glauben und der Hoffnung. Was entscheidende Tage und | Jahre des Heldentums errichtet hatten, war vernichtet worden. Das freie Staatswesen, das der Heroismus der Makkabäerzeit in dem Kampfe für das Recht auf die eigene Religion begründet hatte, war durch Rom zuerst eingeengt und dann beseitigt worden. Die kaiserlichen Statthalter waren im Lande, bisweilen verwaltend und meist schaltend. Im Aufstande gegen Rom ging dann der Tempel, den die aus dem Exil Heimgekehrten wiederaufgebaut hatten, in Flammen auf. Nur eine Westwand stand noch, und der Schmerz wandte sich ihr zu. Mit dem Tempel hörte der Opferdienst auf. Aber seit Jahrhunderten standen überall im Lande – und sie standen auch in allen den Gebieten im Osten und Westen – die Synagogen mit ihrem Gottesdienste, dem gemeinsamen Gebete, der Vorlesung aus der Heiligen Schrift und ihrer Erklärung, der Predigt. Dieser Gottesdienst war in das Leben des Volkes eingetreten, ein Teil seines Lebens geworden. Was jenes alte Gleichnis von der Bundeslade, der Lade der zwei Tafeln der zehn Gebote sagte: »Sie trug die, welche sie trugen«, das war an diesem Gottesdienst wahr geworden: Das Volk trug ihn, und er trug das Volk. Tag um Tag bereitete ihn die Gemeinde neu, und Tag um Tag schuf er die Gemeinde neu. Jeder im Volke wirkte daran mit, trug und war getragen. So hatte dieser Gottesdienst mit seinem Unmittelbaren schon sein Leben, seine Selbstverständlichkeit, gewonnen, lange ehe das Mittelbare, der Opferdienst, sein Ende fand. Die geschichtliche Vorbereitung, diese Providenz, dieser »Blick Gottes«, hatte gewaltet. Der Tempel hatte aufgehört, aber der Gottesdienst bestand, und dieses Volk bestand. Die Gemeinden im Volke, die nahen und fernen, waren ihrer gewiß. Auch das Staatswesen, in dessen Mitte der Tempel gestanden hatte, war nicht mehr, aber sie waren, und sie blieben, und zu ihnen kamen die Tage, und vor ihnen war der Weg und der Trost. | Jedoch anderen im Land und draußen besagte der Brand des Tempels ein anderes. Zu ihnen sprachen die Flammen, die ihn verzehrten, von einer Wende der Zeiten. Die Zeit dieses Volkes habe geendet, und die Zeit der Völker habe begonnen. Weil dieses Volk den »Sohn Davids«, der ihm geboren wurde, daß er ihm der »Gesalbte Gottes«, der Befreiende und Erlösende sei, verworfen habe, darum
229
118
119
120
sei es nun selbst verworfen worden. Als das Flammenzeichen dieses Endes stand der brennende Tempel vor ihnen. Das Wort vom verworfenen Volke wurde jetzt Wort des Tages für alle die, in denen der Glaube an den erschienenen Gesalbten, dieser Glaube, der ein Glaube in diesem Volk und für dieses Volk sein wollte, ein Glaube gegen dieses Volk geworden war. Als der erste Tempel zerstört worden war, hatte vielleicht die Frage schon ihr Haupt erhoben, ob Gott sich nicht von seinem Volk abgewandt hätte. Lieder der Klage wurden damals gedichtet, die in die Bibel aufgenommen wurden und die eine Tradition dem Propheten Jirmejahu zuschrieb. Sie wurden jetzt die Gesänge der Klage über den Brand des zweiten Tempels auch. Das letzte dieser Lieder endet mit einem feierlichen Nein des Schwures. Ein emphatisches Ja des Schwures hatte der Prophet einst gehört, als er das Wort Gottes vom Bunde mit seinem Volke gehört hatte: »Ja, so wahr Mein Bund ist mit Tag und mit Nacht, so wahr Ich die Ordnungen von Himmel und Erde festgesetzt habe, ...!« (Jer. 33,25) Jetzt, wo Stimmen laut werden mochten, daß dieser Bund nicht gelte, jetzt hat das große Nein des Schwures das Wort genommen als das Schlußwort nach der Klage: »Nein, wahrhaftig, verworfen hast Du uns nicht, wenn Du auch über uns gezürnt hast sehr und sehr« (Klagel. 5,22). Das war die Antwort, und das blieb sie, als nun nach der Zerstörung des zweiten Tempels sich der Ruf von der Verwerfung erhob und für manche wie zu einer Losung wurde. Vieles hatte aufge|hört, aber der Glaube bestand, und der Weg ging vorwärts, und der Trost sprach Tag um Tag. So konnte das Denken auch gegenüber einer Predigt vom Zusammentreffen im Geschehen, durch die der Geist so leicht beirrt wird, die Gewißheit und Sicherheit bewahren. Menschen sind geneigt, sich dem Eindruck des »post hoc, ergo propter hoc«, des »danach, also daher«, zu ergeben. Was aufeinander folgt, scheint durch einander bestimmt zu sein. Im Einzeldasein wie in der Geschichte gibt es die Verwebungen, die Verkettungen und Verstrickungen: ein Mensch, dessen Weg verlorenging, wird von ihnen umfangen, ein Mensch, der vom Wege abweicht, ist von ihnen bedroht. Aber sie sind nicht das Gesetz im Leben und in der Geschichte. Gesetz ist das, was bleibt, das, was von Geschlecht zu Geschlecht besteht, das, was vor jede Generation, die geboren wird, neu hintritt, von ihr die Entscheidung verlangt und ihr die Gnade verheißt. Dieses Bleibenden ist das Volk durch die Katastrophen nur um so stärker bewußt geworden. Damals sind Variationen zu dem Verse des Hohenliedes (5,2) »Ich schlafe, und mein Herz wacht« gedichtet worden, immer mit dem einleitenden Satze: »Es spricht die Gemein-
230
de Israels vor dem Heiligen, gelobt sei er: Herr der Welten ...!« Sowohl von dem erzählen sie, was dahingegangen ist, von dem Heiligtum, das zerstört ist, von alten, geheiligten Formen, die in den Trümmern versunken sind, von den Rechten, die entrissen wurden und am Boden liegen, von alledem, was gleichsam im tiefen Schlafe ruht. Strophe um Strophe erklingt es so in der Wehmut. Aber der Schluß, der Kehrreim, ist dann stets dasselbe, das frohe, fast jubelnde Wort von dem, was geblieben ist, weil es immer bleibt: das Wort von den Geboten, die der Mensch immer erfüllen darf, von dem Guten, das er immer üben und dadurch verwirklichen kann, von der Torah und dem Gebete, | deren Tore immer offen sind, von der Verheißung, die immer wieder von dem, was ist, zu dem, was kommen wird, hinführt. Das ist das immer Gegenwärtige, das immer Wache – »mein Herz wacht«. Und als Antwort aller Antwort wird dann das Letzte angestimmt: »Gott wacht« – das Herz meines Herzens gleichsam wacht. »Er wird mich erlösen«, das ist darum hier das letzte der Schlußworte, das alles umschließende Wort von alledem, was niemals entrissen werden kann. So wußte es »die Gemeinde Israels«: »Er wird mich erlösen!« So voller Gewißheit konnte inmitten alles Leides freudig gesungen werden, weil aus der Tiefe der Seele ein Erlebnis auch aufstieg und allem Wechsel und Wandel seinen Stachel nahm – »Wo ist dein Stachel, du Tod?« [Hos. 13,14] Es war das Erlebnis von der Umkehr und der Wiedergeburt. In ihm ersteht die zum Leben werdende Gewißheit, daß der Mensch immer wieder zu Gott kommen, Gott wieder nahe sein kann. An ihr bricht sich alles Verhängnis, so daß es nicht in die Seele des Menschen eintreten kann. Dem hat, etwa zweihundert Jahre nach der Zerstörung des Tempels, einer der Lehrer das einprägsame Wort gegeben, und dieser Satz ist zum Besitztum des Volkes geworden: »Umkehr, Gebet und Wohltun lassen das Böse des Verhängnisses vorbeiziehen.« Verhängnis ist Verhängnis, aber sein Böses dringt nicht in die Seele ein. Mit dieser Gewißheit hatten schon die Klagelieder geschlossen. Ein Satz geht dem von dem großen Nein voran und bildet mit ihm eine Einheit: »Führe uns zurück, Du, der Du bist, zu Dir, und wir kehren zurück. Laß unsere Tage neu sein wie im Aufgang!« [Klagel. 5,21] Er ist der Satz von der Wiedergeburt, das Gebet um sie. Diese selbe Antwort – alles Gebet ist eine Antwort schon – hat auch der letzte in der Reihe der Propheten, Maleachi, vernommen: »Kehret zu Mir zurück, und Ich kehre zu euch zurück, spricht der Ewige der Heerscharen« | (3,7). Dieser Prophet hatte, ähnlich wie Esra und Nehemja, manche Enttäuschung an denen, die wieder in das alte
231
121
122
123
Land gekommen waren, erfahren; er litt unter dem Zwiespalt zwischen dem Ideal, das er in sich trug, und den Tatsächlichkeiten, die ihm entgegentraten. Die Stimmen wechseln in seinen Reden. Bald kündet er das mahnende Wort von Gott: »Seid eingedenk der Torah Meines Knechtes Moses!« (3,22), bald wieder göttliches Strafgericht. Aber die Gewißheit der Umkehr bleibt. Ohne den Glauben an sie hätte er nicht in seinem Volke leben können. Ihn bedrückte auch der Zwiespalt zwischen den Generationen, dieser Zwiespalt, in dem bisweilen die Geschichte zu versinken scheint. Aber auch hier sah er eine Umkehr vor sich, in welcher einst sich Geschichte erfüllen wird. Diese Verheißung auch hat er vernommen, und mit ihr schließt seine prophetische Rede: »Siehe, Ich sende euch Elijah, den Propheten, bevor der Tag dessen, der ist, kommt, der große und furchtbare; und er wird zurückkehren lassen das Herz der Väter zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern; denn Ich will nicht kommen und die Erde in einen Bann schlagen« (3,23-24). In der Umkehr zu Gott finden die Generationen den Weg wieder, und zusammen gehen sie ihn. Gegen die vermeintlichen Endgültigkeiten, die sogenannten Ergebnisse der Geschichte, die so oft gegen Völker und vornehmlich gegen dieses Volk hingestellt worden sind, tritt die Idee von der Umkehr hin. Sie erst bewahrt der Geschichte ihren Sinn. Sie zeigt die Möglichkeit, die immer bleibt, dieses Saatkorn, das die Schöpfung in alles hineingelegt hat, damit Frucht aufwachsen möge. Die Kraft der Umkehr liegt in allen Menschenkindern. Gegenwart ist die sich immer erneuernde Begegnung mit der Zeit. Weder ist Vergangenheit ein Geschick, welches zwingt, noch ist Zukunft ein Tor, das endgültig verschlossen werden kann. Die Möglichkeit, die Umkehr, die | Wiedergeburt, darf immer ihren Tag haben. Sie wird auch die Spannung der Zeiten, den Widerspruch zwischen denen, welche gehen, und denen, welche kommen, immer wieder überwinden. Die Rückkehr der Eltern zu den Kindern und der Kinder zu den Eltern ist das umfassende Zeugnis der Umkehr zu Gott. Elijah, so ist es die Verheißung, wird die Bahn brechen. Er wird den Weg bereiten, diesen Weg, der vom Glauben zum Troste hinleitet. Dort werden Eltern und Kinder sich selbst und einander entdecken und das Wort seine Wahrheit finden, das zur Einleitung von Gebeten wie zu einer Rechtfertigung gemeinsamen Gebetes geworden ist: »Unser Gott und Gott unserer Väter.« Von der Begegnung der Generationen ist in diesem Schlußworte der letzten in der Reihe der alten Propheten gesprochen. Durch sie erst wird Geschichte gefügt, ohne sie bliebe das Geschehen formlos,
232
gestaltlos. Jede Generation hat ihr Eigenes, das, was ihr angewiesen ist und ihr zugehören soll. Mit jedem Menschen, der geboren wird, tritt das Menschentum, das menschliche Problem, die menschliche Aufgabe neu in die Welt, und mit jeder Generation, die heranwächst, wird so das Menschentum, mit seinem Problem, neu zur geschichtlichen Aufgabe, zur Aufgabe, durch deren Erfüllung Geschichte werden soll. Sie ist immer dieselbe Aufgabe; denn sie ist die Aufgabe, welche Gott dem Menschen gesetzt hat. Aber sie stellt sich immer neu dar, da Mensch auf Mensch und Generation auf Generation folgen. Sie kann deshalb nicht nur fortgesetzt, geschweige denn bloß wiederholt sein; sie muß immer wieder erneu[er]t werden. Jeder einzelne, mit seiner Anlage und auf seinem Platze, und jedes Geschlecht in seiner Zeit und auf seinem Felde sollen die bleibende Aufgabe zu eigen nehmen, als sei sie erst ihnen gestellt. In dem sittlichen Vollbringen, ähnlich wie ja auch im künstlerischen, kann es nicht eigentlich, so wie im technischen, die Fortschritte geben, | sondern immer nur das neue Ergreifen dessen, was allezeit gefordert ist. Wenn irgendwo und irgendwann Menschen das Gebot Gottes mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer ganzen Seele und mit ihrer ganzen Kraft zu erfüllen suchten oder suchen, so ist immer und überall ein ganz Neues und Eigenes. Ein Mensch, der neu geboren ward, ein Geschlecht, das neu in die Geschichte trat, hat es für sich ergriffen, hat es gewissermaßen verpersönlicht. Nur wer mit seinem Selbst, diesem Sittlichen oder, was doch dasselbe meint, diesem Schöpferischen, dem Künstlerischen in ihm, einer Aufgabe begegnet ist und sie in sein Selbst, sein Ich aufgenommen hat, besitzt eine Aufgabe seines Lebens. Niemand stellt sich eine wahre, große Aufgabe – nur die Erfordernisse des Tages richtet er für sich selber auf. Er begegnet ihr, denn sie ist die bleibende Aufgabe, die immer lebende. In ihr können darum Eltern und Kinder in Tagen ihres Daseins, Vorfahren und Nachkommen in Tagen der Geschichte einander finden, um einander zu erkennen und zu begreifen. In ihr ist für alle der Bereich. Jeder hat ihn für sich, und sie alle haben ihn gemeinsam. Die Welt ist immer dieselbe, aber sie tritt immer neu in ein Leben ein. In ihr kommen die Generationen zusammen, um einander mit ihren eigenen Augen anzublicken. Je mehr ein Geschlecht sich selber begreift, desto eher und desto besser wird es die, die ihm vorausgegangen sind, und die, die ihm folgen, zu verstehen vermögen. Die Begegnung der Generationen findet statt. Wie die Begegnung der Individuen echte Gemeinschaft ermöglicht, so öffnet die der Generationen für die Geschichte den Weg. Die Geschichte dieses Volkes hat ihre Poesie, ohne die sie nicht sein
233
124
125
126
könnte; auch kraft der Poesie können sich Menschen und Generationen begegnen. In dieser Poesie ist Elijah zu jedem Geschlechte gekommen und hat »das Herz der Väter nahe zu den Kindern und das Herz der Kinder nahe zu ihren Vätern | wieder hingeführt« – der große Eiferer ist, in kühnem Weiterdichten, hier der große Versöhner geworden. Dieser Satz, in dem ein Jahrtausend dem anderen die Hand reicht, weist auf die Wiedergeburt auch hin, diese Wiedergeburt aus dem Wachstum. Auch alle Wiedergeburt ist eine Begegnung. Kräfte des Früheren, der Kindheit und der Jugend, steigen in die Gegebenheiten und Möglichkeiten des Gegenwärtigen auf, um durch sie erneu[er]t zu werden. In ihnen gewinnen sie eine neue Existenz und geben damit zugleich eine Form der Existenz. So ist es in den Lebensfolgen des individuellen Daseins, und so ist es in der Reihenfolge der Generationen. Es ist, wie wenn in einem großen Erlebnis der Selbstentdeckung, der Selbsterkenntnis eine Individualität, eine Generation sich einer großen Einheit, die vor und über den Jahrzehnten und den Jahrhunderten ist und die in ihnen schaffen und wirken will, bewußt würde. Alte Kräfte, die neu werden wollen, werden entdeckt. Das Gewordene, das dazu bestimmt ist, in ein Werdendes aufzusteigen, und das Werdende, das nie aufhören kann, aus einem Gewordenen hervorzukommen, finden sich. Eine solche Begegnung der Zeiten setzt daher den Willen zum Ich, zur Individualität voraus, und aller Wille zum Ich, auch der künstlerische ist es in seinem Grunde, ist ein sittlicher. Der sogenannte Machtwille ist nur eine Unterdrückung und Verdrängung des eigenen, des wahren Ich, das immer noch eine letzte Verbindung mit dem Gebote hat. Er führt seine Existenz in seiner Ersetzung des Ich durch hergestellte oder herangetragene Bilder, die sich des Willens bemächtigen. Das Ich ist die Erwählung des Menschen, eines jeden Menschen daher, durch Gott, diese ursprüngliche Prädestination. Es ist die große Fähigkeit, sich durch Gebot und Gnade in einem Eigenen, Besonderen zu entfalten, diese große Möglichkeit, ein »Ebenbild Gottes« zu sein, diese große Möglichkeit, für | die Gott den Menschen geschaffen hat. Leben ist Kampf um das Ich, für das Ich. Einem jeden Menschen, einer jeden Generation, einem jeden Volke ist er aufgetragen und gewährt in dieser Einheit des Geforderten und des Gegebenen, in der das, was von Gott kommt, sich bezeugt. Sie alle sollen ihn um ihrer selbst willen aufnehmen und damit zugleich um derer willen, die vor ihnen gewesen sind, wie derer wegen, die nach ihnen sein sollen. In der Begegnung und der Wiedergeburt hat er seine geschichtlichen Stunden.
234
Auch das hat das zweite Jahrtausend dieses Volkes vollbracht. Es hat in ihm den Willen zu sich selbst, zu seinem Ich, zu seiner Erwählung, zu diesem entscheidenden »Wenn« stark werden lassen. Es hat die alten Kräfte neu werden lassen und sie für die Gegenwart geformt und für die Zukunft vorbereitet, damit alle die Generationen beten können: »Unser Gott und Gott unserer Väter, ... Du läßt kommen einen Erlösenden zu Kindern ihrer Kinder!« Die eigentümliche Gabe, die dem Genius dieses Volkes beschieden war, in den Zusammenhang von Räumen und Zeiten hineinzublicken, in dem Einzelnen und trotz des Einzelnen das Ganze zu erfahren und so Einheit zu erkennen, beweist sich auch hier. Das ist ein tiefer Sinn von »Torah«: Sie ist das, was bleibt und eines ist, weil es sich immer erneut. Vielleicht am tiefsten erlebt es der Betende. Er sieht sie alle zusammen: die Vorfahren, die Jetzigen, die Nachkommen. Einer großen Einheit wird er bewußt. Seines Ichs wird er bewußt, indem er, der Mensch, vor den Ewigen, Unendlichen hintritt, um von Ihm umfaßt zu werden. Der Kräfte wird er gewiß, die in seinem Ich walten, von den Früheren her zu dem Erwarteten hin, gleichsam, wie am Schluß der Bibel im »Buch der Chronik«, den »Worten von den Tagen«, gesagt ist: von Adam her bis zu dem Messias hin. Wie die Torah hatte damals das Gebet auch sein »Münd|liches«. Es war gewissermaßen ein Gebet in Bewegung. Lehrer verfaßten »kurze Gebete«, und ihre Schüler trugen sie dann zu ihren Schülern hin. Die Tradition war so auch die des Gebetes. Es gab die besonders aufgebauten, festgestellten und allgemein anerkannten Gebete, von denen jedes seine bestimmte Zeit haben sollte. In ihnen fügt sich bald die Bitte an das Bekenntnis, bald das Bekenntnis an die Bitte und bald das, was der einzelne für sich erfleht, an das, was er für die Gesamtheit ersehnt. Das eine und das andere gehen immer ineinander über. Sie sind die großen Glaubensbekenntnisse oder, was dasselbe besagt, die Hoffnungsbekenntnisse. Die Gewißheit, die aus dem Glauben hervorkommt, trägt die Zuversicht und die Zuversicht wiederum gibt dem Glauben Wärme und neue Kraft. Eines ist für diese Gebete charakteristisch. Ein Nachdenken, aus der Tiefe hervor, steigt in ihnen auf. Die Welt des Menschen, die ihn befragt und die er befragt, alles, was er erlebt und was er erhofft haben mag, spricht in ihnen. Denken und Beten finden sich, und sie können fortan nicht ohneeinander sein: das Denken, das die Sehnsucht, die im Menschen ist, zum Gebete werden läßt, und das Beten, das die Frage, die ihn bedrängt, zur Welt der Gedanken emporführt. Philosophen konnten hier Dichter von Gebeten sein.
235
127
128
129
In alles, woraus sich das Alltägliche zusammensetzt, ist das geprägte Gebet damals hineingelenkt worden, dieses Gebet mit dem Nachdenken, das es weckt. In das Kleine der Stunde sollte die Idee eintreten und dem Vielerlei ein Zusammenhang in einem Höheren gegeben sein. Etwas, was in dieser Art nur dieses Volk seitdem zu eigen hat, ist damals geschaffen und in den Gang der Stunden und Tage eingesetzt worden: die Reihe der »Berachot«, der »Segnungen«. Alles, was in sein Dasein hineinkommt, alles, was ihm gewährt wird, alles, was sich für ihn fügt, soll der Mensch segnen, indem er Gott dafür | dankt, Gott preist. Er soll seines Lebens Priester sein. »Gepriesen seist Du, der Du bist, unser Gott, Herr der Welt ...«, so beginnt jeder dieser kurzen Sätze, und das Kleine ist damit in ein Großes, ja in das Größte hineingeführt und wird Ausdruck eines Erhabenen. Nichts soll ein Kleines nur und nichts ein Selbstverständliches bloß sein. In dem Geringen zuerst soll der Mensch die Stimme der Ewigkeit vernehmen und ihr antworten. Nur wenn sie im Geringen zu ihm gesprochen hat, wird er sie im Großen zu hören vermögen. Der Kampf gegen die Vergeßlichkeit, aus der die Gedankenlosigkeit dann aufwuchert, ist hier geführt. Die Empfänglichkeit für die Offenbarung wird wach erhalten. Von einer stetigen Dankbarkeit wird damit zugleich das Leben durchdrungen. Sie konnte zu einem Elemente der Existenz werden. Weniges verleiht eine so lebendige innere Unabhängigkeit, eine solche Widerstandskraft gegenüber dem Bedrängenden und Beengenden des Daseins wie die Dankbarkeit. Ohne sie kann ein Mensch, kann ein Volk nicht moralisch frei sein. Sie ist nie bloß dem Vergangenen, dem, was der Mensch an Gutem erfahren hat, zugewandt, sondern sie eröffnet sich zugleich der Zukunft. Sie sucht und erhofft ein Gutes und wird so zur Empfänglichkeit für das Gute. Nicht nur ein Empfinden, sondern ein Wille auch wird in ihr lebendig, der Wille, das Gute zu sehen, es zu entdecken und anzuerkennen. Und auch darin hat ja die innere Freiheit eine ihrer Wurzeln. Solche Dankbarkeit und solche Bereitschaft zur Dankbarkeit sind in dieses Volk durch sein Gebet eingepflanzt worden. Seine Fähigkeit, seelisch frei zu bleiben, die es so oft bewiesen hat, geht auch darauf zurück. Es ist ein dankbares Volk in der Tat geworden, wie gegen Gott dankbar, so gegen die Menschen, die ihm Gutes taten. Wer diesem Volke Freundliches erwies, hat nicht in eine Dürre gesät. Es ist kein Zweifel, daß auch in diesem Volke damals und | immer wieder Menschen gewesen sind, die gebetlos, und Menschen auch, die undankbar waren, und zudem die Menschen, deren Beten und Danken unfrei gewesen sind, nur wie durch ein Treibrad täglich in
236
eine Bewegung gesetzt. Aber wer auch hier sein Ohr dem Eigentlichen, dem Bestimmenden zuzuwenden vermag, der hört ein anderes. Er hört die reine Stimme. Er hört sie, hervor aus den vielen Jahrhunderten, in denen dieses Volk bedroht, bedrängt und bedrückt wurde und doch nie es verlernt hat, dankbar zu sein, und auch dadurch nie es verlernt noch verloren hat, eine innere Freiheit und damit einen Glückesbesitz zu hegen. Auch das Gebet hat hierfür eine Kraft gegeben. Wer noch beten kann, wird nie ganz unglücklich sein, noch kann er ein Gefangener der Unfreiheit werden. Ein Glaube an eine Kraft des Guten, das in ihm wohnt, bleibt in ihm. Wer betet und im Gebete dankbar wird, sieht darum, auch wenn die Stunde verschlossen und der Tag weglos scheint, doch den Weg vor sich zu dem Troste hin, der sich ihm öffnet. Auch Wille zum Weg ist das Gebet. Wege, über welche Menschen gebieten, können versagt sein; aber der Betende weiß, daß es ihm nirgends und niemals verwehrt werden kann, »in den Wegen Gottes zu wandeln«, Gott nahe zu sein. Eine Zeit von Wanderungen sollte mit dem Ausgang des zweiten Jahrtausends für das Volk wieder beginnen. »Sie brachen auf, und sie lagerten, und sie brachen auf.« [Num. 33,5ff.] Aber dieses Volk durfte zu sich selbst es sagen, daß die »Gegenwart Gottes«, die »Schechinah«, mit ihm zog. Im Tiefsten und Letzten wußte es sich geborgen, solange es treu blieb. Kräfte der Wiedergeburt aus dem Wachstum hervor waren in ihm, Bahn und Verheißung waren vor ihm, und bei ihm waren Torah und Gebet. Und als ein »Zeichen« von dem allen hatte es den Sabbat. Diese Menschen wußten, daß sie in einer höheren Welt auch | leben durften und dort ihr eigentliches Leben hatten, daß dort kein Mensch ihnen etwas antun und von dort keiner sie vertreiben konnte, ausgenommen sie selbst. Am Sabbat, wenn es Nachmittag wurde, beteten sie: »Ein Diadem der Größe und eine Krone des Heils hast Du, o Gott, Deinem Volke gegeben.« In Tagen, in denen sie in den Augen der Welt verworfen und verloren erschienen, haben sie vor Gott so gesprochen. Solange dieses Volk mit einer Wahrhaftigkeit seines Ichs so sprechen darf und so zu sprechen vermag, wird es bleiben.
237
130
IV. Das Reich Gottes
133
134
Eine Frage hatte im zweiten Jahrtausend dieses Volkes manches Nachdenken geweckt und manches Gemüt erregt. Hier und dort hatte das Volk eine deutliche Antwort zu erkennen gemeint. In seinem dritten Jahrtausend war sie dann zu jener Ferne hin entwichen, in der die Umrisse einer Bestimmtheit verdämmern. Nur eine letzte Zuversicht kann dann ein Letztes erschauen. Es war die Frage nach dem Raume der Macht auf Erden, nach dem Anteil, den Mächte an der Zeit der Geschichte hätten. Oder, um Worte jener Tage sprechen zu lassen: Es war die Frage, ob es eine Aufeinanderfolge von »Reichen« gebe. Reich war auf Reich, früher oder später, gefolgt, so sah man es. Wie lange noch werde es so sein, daß nur ein »Reich« das andere verdränge, um sich selbst den Platz zu bereiten oder zu erzwingen? Wie lange werde das währen und währen? Wann werde für diese »Reiche«, diese »Knechtungen« das »Ende« anbrechen? Wann werde das wahre Reich erscheinen: »das Reich aller Zeiten«, das »Reich des Allmächtigen«, das »Reich des Himmels«, das »Reich Gottes«? So war es die Frage, die immer wieder sich erheben konnte, ja erheben mußte, da eine Zuversicht hier zu fragen begann. Die Zuversicht auf den Sinn der Geschichte, auf der die Existenz dieses Volkes ruhte, fragte hier. | Ein Buch der Heiligen Schrift, das Buch Daniel, sprach als erstes von den Reichen, welche kommen und gehen, und dem Reiche, welches bleiben wird. Innerhalb der stetigen sittlichen Revolution, die mit der Bibel in die Welt trat, hat es in viele Gemüter die besondere Revolution noch hineingetragen, die der Apokalyptik, welche das Ahnen zum Bilde werden läßt, das vor dem Auge steht. In diesem Buche auch spricht die erwartende Geduld. »Erwarte! ... Und du, gehe dem Ende zu, und du wirst ruhen und wirst aufstehen zu deinem Lose, bis zu dem Ende der Tage!« [12,13], so schließt dieses Buch. Aber auch manche Ungeduld hat sich an ihm genährt, und die Leh-
238
rer haben davor warnen müssen, daß man »das Ende berechnen« oder gar »das Ende drängen« wolle. Doch ebensosehr, und tiefer noch, hat die aus diesem Buche hervorkommende, umfassende Weite des geschichtlichen sittlichen Ausblicks, in dem die Sehnsucht zur Gewißheit wird, die Geister und die Gemüter erfaßt: diese ihrer selbst gewisse Sehnsucht nach einer Erfüllung des Rechtes in einem Reiche des Rechtes, in welchem »den vielen ihr Recht gegeben« wird und nicht nur einigen wenigen irgendein Recht und nicht um Menschen der Gewalt, sondern »um die Denkenden ein Glanz strahlt« (12,3). Durch Länder und Zeiten hat dieses Buch seine Furchen gezogen. In der Anordnung der hebräischen Bibel hat das Buch Daniel seinen Platz im dritten Hauptteile, den sogenannten Hagiographen; es ist nicht zu der Reihe der prophetischen Bücher hingestellt. Schon durch eine chronologische Erwägung war das sicherlich bestimmt; denn es ist in der Zeit der makkabäischen Freiheitsbewegung verfaßt und so von dem letzten der Propheten, von Maleachi, durch drei Jahrhunderte getrennt. Aber ein innerer Grund sprach auch. Denn nicht die Prophetie, die ihre Rede an das Volk richtet und ihm mahnend und warnend, tröstend und verheißend das Gebot verkündet und den Weg, den der Mensch gehen soll, ihm aufzeigt, | gibt dem Buche Daniel den charakteristischen Zug. Ein anderes, wenn auch nicht ganz Neues, tritt vielmehr vor allem hier hervor: die Vision, der eine obere Welt sich auftut, die Apokalypse, welche enthüllt, was dort geschaut wurde. Nicht in die Richtung vom Jetzt zum Einst, sondern in die von hienieden nach droben wendet sich der Blick. Dort, in der höheren Welt, schaut Daniel das Bild des Geschehens, Periode um Periode, Reich um Reich: ein greifendes, raffendes Tier nach dem anderen, mit seinen Hörnern und Klauen und Zähnen, kämpft gegen das andere, um es zu vernichten und selbst das Land zu besitzen und über Länder zu herrschen. Droben, in der oberen Welt, in der ein jedes bestimmt wird, ist es so gefügt, und hienieden, in der unteren Welt, geschah es dann und geschieht es nun und wird es weiter geschehen, bis der Tag der Zeit, die verkündet ward, gekommen sein wird. Auch diese Zeit schaut Daniel: Gott thront, Er, von dem alle Herrschaft ist, der, der der Bleibende der Tage ist, und ein Thron wird sein für den, der wie ein Menschensohn ist, und ihm wird nun die Herrschaft gegeben (Dan. 7,13-14). Die Zeiten der wilden Tiere sind beendet, die Zeit des Menschentums ist angebrochen. Die in diesem Volke, welche »heilig« geblieben sind, werden an ihr den Anteil haben. Für diese Zukunft, welche feststeht, sind sie aufbewahrt.
239
135
136
137
Die Existenz erhält damit einen erweiterten Sinn und Bereich. In dem Bedeutungswandel, den ein Wort, das wiederum fast unübersetzbare Wort »olam« erfährt, spricht es sich deutlich aus. Bis dahin hatte es die Zeit in ihrer unmeßbaren Erstreckung zur Zukunft hin bezeichnet. Jetzt begann es, zugleich die Gesamtheit aller Sphären und Welten zu benennen, das Ganze, in welchem alles hienieden und droben, Irdisches und Ewiges, gleichsam Erde und Himmel zusammengeschlossen sind. Es ist, wie wenn Zeit und Raum, Periode | und »Reich« nun ihre umfassende Einheit fänden. Das griechische Wort »Aeon« hatte damals es wiederzugeben versucht. In das alles sollte der Mensch sich hineingestellt sehen, in das Räumliche und das Überräumliche, in das Zeitliche und das Überzeitliche, in »diesen olam« und den jenseitigen, »den kommenden olam«. Alles konnte und sollte sein »olam«, seine Zeit und Welt sein. Seine Zukunft bedeutete nun eine Welt, und seine Welt bedeutete eine Zukunft. Das Ganze und Eine, in das sein Tag und sein Platz hineingehörten, konnte und sollte er immer wieder erleben, um sein Leben dadurch neu werden zu lassen. Nicht nur die Form des Nachdenkens, auch die der Existenz wird fortan hierdurch bestimmt. Ein epigrammatischer Satz aus jenen Tagen, der vom »olam« spricht, kann dies verdeutlichen. Im Talmud ist überliefert, daß, wenn Lehrer voneinander Abschied nahmen – und wie leicht konnte damals es ein letzter Abschied sein! –, dies ihr Wort war: »Deinen olam mögest du in deinem Leben sehen, und deine Zukunft sei für das Leben des kommenden olam, und deine Hoffnung sei für Geschlechter um Geschlechter.« Dieser Satz führt uns in den Glauben, in das Ganze der Existenz dieser Menschen hinein. Sie waren einer Welt, einer Zeit gewiß, die weit über die Räume und die Spannen ihres Daseins hinausreichte und die ein jeder doch zu eigen zu nehmen, zu seinem persönlichen Leben, zu seinem »olam« zu machen vermochte. In seine Tage und ihren Bezirk war er hineingestellt, aber ein »olam« voller Unendlichkeit und Ewigkeit konnte doch sein »olam« werden. Diese Menschen waren dessen gewiß, daß es nicht nur einen Wechsel der Stunden mit seinem Wandel der Geschicke, mit seinem Beginnen und Enden gebe, sondern eine »Zukunft«, einen »olam, welcher kommt«, daß ein jeder auf eine Erfüllung seines Lebens hinblicken dürfe. Auch dessen waren sie gewiß, daß ein jedes Leben in denen, die ihm folgen, fortdauern | könne, Geschlecht um Geschlecht, daß es ein Neuwerden, eine Wiedergeburt gebe, diese wahre Geschichte von Menschen und Völkern. Von dem allen sprachen damals diese Männer, welche Lehrer ihres Volkes wurden. Sie konnten Lehrer sein, weil sie zu verkünden
240
vermochten und so ihre Lehre immer zur Botschaft auch wurde. Mochte vielleicht ihr Tag karg und ihr Raum eng sein, rings um sie war die Weite der Kraft, und diese Kraft trat in sie ein. Ihnen war das »Reich des Allmächtigen« zu einer Wirklichkeit geworden. Die Reiche der Macht, so drückend vielleicht deren Knechtungsgewalt sie umgab und auch auf sie eindrang, wurden ihnen ein Zeichen dessen, was verschwinden wird, weil es keinen Platz im Bleibenden haben kann. Solche Gewißheit ist dann im dritten Jahrtausend dieses Volkes wiedergeboren worden, um sich neue Formen des Verstehens und der Existenz zu bereiten. Der Verfasser des Buches Daniel, er in seinen Tagen, hatte geglaubt, daß die Zeit der »Reiche« sich der Wende zuneige, die das Ende bezeichnet. Er hatte so die Visionen gedeutet, die sich vor ihm auftaten. Die dauernden Kämpfe zwischen den Mächten, die dadurch geworden waren, daß das Erbe des Erben des Perserreichs auseinanderfiel, schienen es so anzuzeigen. Auf Alexander, den Makedonier, wie er im Talmud heißt, hatten Menschen dieses Volkes voller Respekt hingeblickt; fast hatte es ihnen geschienen, als gehörte er zu ihnen hin, und auch ihnen wurde er dann zu einer legendaren Gestalt. Doch jetzt sahen sie nur die Kleinen kleinlich miteinander streiten. Als dann durch einen von ihnen ein Äußerstes geschah, als ein Götzenbild, ein »verwüstendes Greuel«, wie das Buch Daniel es nennt, im Heiligtum zu Jerusalem aufgestellt wurde und das tägliche Opfer dort aufhören mußte, | schien das ein Entscheidendes, ein Letztes zu besagen. Man war für den Tag, den man erhoffte, bereit. Eine Zeit erkämpfter Freiheit, die Zeit der Makkabäer, war damals beschieden. Märtyrer, von denen die Makkabäerbücher in hebräischer und in griechischer Sprache erzählten, legen von ihr das Zeugnis ab. Als eine Zeit des Außerordentlichen, des Wunders erschien sie damals und später. Gott hatte, wie das alte Gebet voller Dank pries, »Stärke in die Hand von Schwachen, viele in die Hand von wenigen, Unsaubere in die Hand von Sauberen, Frevler in die Hand von Gerechten, Boshafte in die Hand von Menschen, die Deine Torah üben«, gegeben. Um an das Wunder zu gemahnen, beging man das Fest der »Weihe« des Tempels, der »Chanukkah«, und Jahr um Jahr zündete man acht Tage hindurch die Lichter an, um das Wunder zu feiern. In der Folge der Perioden war diese Zeit ein Abschnitt nur. Der Verfasser des Buches Daniel kannte die Macht noch nicht, die damals im Aufstieg war und mit der die Epochen des Westens beginnen sollten. Er wußte noch nichts von Rom, von »Edom« – mit die-
241
138
139
140
sem Namen, dem Beinamen Esaus, des Zwillingsbruders des Jakob, hat dieses Volk späterhin Rom benannt. Dieses Wort »Edom« tritt in das Nachdenken ein. Wieder scheinen sie zueinandergestellt: Jakob, der Israel genannt ward, und Esau, welcher Edom hieß. Davon hat, etwa fünf Jahrhunderte nach dem Daniel-Buche, ein Lehrer aus der Schule von Tiberias am See Genezareth, Rabbi Samuel ben Nachman, mit wundersamer Schau gedichtet. Jakobs Traum an der Stätte, welche später »Beth-el«, »Haus Gottes«, heißen sollte (Gen. 28), ist der Gegenstand dieser Dichtung. Die »Boten Gottes«, die Jakob sah, die auf »einer Leiter, die zur Erde hingestellt war und deren Spitze zum Himmel hin reichte, hinaufstiegen und | herabstiegen« – nicht herunter und danach hinauf, sondern hinauf und dann herunter –, diese Boten Gottes sind die Genien der »Reiche«. Einer nach dem anderen, erst im Aufstieg und dann im Abstiege, so sah sie Jakob vor sich in diesem Traume, welcher Geschichte bedeuten sollte. Aber dann zuletzt, so fährt die Dichtung fort, schaute er einen, wie er hinaufstieg und immer weiter und höher hinaufstieg, Sprosse um Sprosse auf der Leiter. Es war der Genius Esaus, Edoms. Und Jakob erschrak und rief zu Gott empor: »Wie lange noch, höher und höher, wird er steigen, soll er bis zum Himmel hinauf noch gelangen?« Es war, wie wenn das stolze Wort Roms, das Wort von der »Roma aeterna«, dem »ewigen Rom«, zu einem Rufe der Angst im Munde Jakobs geworden wäre. Doch nun hörte Jakob, so schließt die Dichtung, den Ruf von Gott. Ein zweifaches Wort Gottes vernahm er. Das eine, das Wort an Edom, das dann später Obadjah, der Prophet, verkünden sollte: »Wenn du auch hochsteigst wie ein Adler und wenn du zwischen Sterne dein Nest setztest, von dort hole Ich dich herab« (Obadjah 1,4). Und danach das Wort Gottes an ihn selbst, an Jakob, dieses Wort, das dann Jirmejahu gesprochen hat: »Und du, fürchte dich nicht, Mein Knecht Jakob, und verzage nicht, Israel« (Jer. 30,10). Und Jakob wurde getrost. Wie ihn es diese Dichtung sehen ließ, so haben gewiß manche in diesem Volk es damals vor sich gesehen. Rom war nun ein Jahrtausend alt, und es hatte jede Gefahr, die von draußen oder drinnen drohte, überstanden. Es hatte sein umfassendes Recht geschaffen, es war bereit, jeden Freien als Bürger aufzunehmen und so den Provinzialismus durch die Idee des Reiches, des Imperiums, zu überwinden. Schien es nicht dazu bestimmt, das Reich, das Imperium, zu sein, wie sein Dichter es ihm verheißen hatte, »die Völker durch ein Imperium zu lenken«? Die ganze seelische Gewißheit und die | ganze innere Stetigkeit dieses Volkes waren erforderlich, damit es auch jetzt in seinem Eigenen bliebe, getrost wie Jakob.
242
Merkwürdig, fast bizarr in den sich kreuzenden Linien, beinahe wie ein Versuch, Anziehung und Abstoßung miteinander zu vereinen, muß es zunächst erscheinen, daß Rom, das Imperium, Edom genannt und damit als Zwillingsbruder dieses Volkes hingestellt wurde. Gewisse sprachliche Deutungen mögen dahinterstehen, aber das Eigentliche und Eigentümliche ist doch ein Psychologisches, das hier hervortritt. Eine Geschichtspoesie, die ein Charakteristisches, aber kaum in bestimmte Formeln zu Bringendes in ein Gleichnis faßt, zeigt hier ihre Linien. In dem weiten und innerlich wie äußerlich gegliederten Gebiete, das in seinem Osten durch Alexander, in seinem Westen durch Rom geeint worden war und das zusammen eine Welt für sich, einen »orbis terrarum«, bildete, in diesem ganzen großen Gebiete waren nur noch zwei Völker, die für sich dastanden, die auf sich nie Verzicht geleistet hatten. Dieses Volk war das eine, und das römische Volk war das andere. Das griechische Volk, um von den anderen Völkern ganz zu schweigen, bei all der Kraft und Fülle seiner genialen und darum unsterblichen Gaben hatte als Volk, ehe es sein erstes Jahrtausend vollendet hatte, moralisch abgedankt. Nach der Niederlage hatte der Wille des Volkes den Weg verloren. Nur wenn ein Volk seelisch Verzicht leistet, den rechten Weg nicht mehr festhält, ist es in Wirklichkeit besiegt, mag auch ein Hochmut oder selbst ein Stolz noch bleiben. Die römische Macht hatte auch das jüdische Volk niedergezwungen; in zwei Kriegen war es nach heldenmütigem Kampf unterlegen. Das erste Mal hatte der Überwinder einen Triumph gefeiert, das andere Mal hatte er erbittert Vergeltung geübt. Aber dieses Volk stand beide Male unbe|siegt, fast möchte man sagen, wenn dieses Wort einer Steigerung fähig ist, unbesiegter da als je zuvor. Nach wie vor sah es seinen Weg vor sich. Die Stimmen aus jenen Tagen sprechen deutlich. Auch ein Vergleich könnte hier, trotz der Verschiedenheit der Zeiten, manches sagen, der zwischen einem Führer im griechischen Befreiungskriege, Polybius, und einem im jüdischen Kriege, Flavius Josephus. Der eine ist innerlich ein Römer geworden, der andere ist trotz allem und allem in seinem Eigenen geblieben. Auch von Rom aus wollte er von dem einen nur der Welt erzählen, von der Geschichte und der Aufgabe seines Volkes. Nur zwei Völker standen so dort in einer fortdauernden Geschichte, in einem bestimmten Willen zu ihr. Konnte es nicht in der Tat damals so scheinen, als wären sie nicht bloß zwei Völker, sondern die zwei Völker? Sie waren so verschieden, wie Völker sein können, das eine in der Macht lebend, das andere durch den Geist lebend, und sie waren doch gleich in dem Glauben, mit dem sie an sich, an
243
141
142
ihrer Berufung festhielten. Konnte es nicht so dünken, ein gemeinsamer Boden hätte sie geboren, ja eine gemeinsame Wurzel sie hervorgebracht, als wären sie doch Brüder, Esau, Edom, der Mann der Waffe, der eine, und Jakob, Israel, der Mann des Geistes, der andere. Wie zwei Welten, die aus einer Welt hervorgekommen waren, um gegeneinander zu stehen, wie zwei Weltengeschwister erschienen sie. Das Wort, das die Bibel Isaak, den Vater, ehe er die Söhne segnete, sprechen ließ: »Die Stimme ist Stimme Jakobs, und die Hände sind Hände Esaus« (Gen. 27,22), hat damals oft das Nachdenken geweckt. Es füllte sich mit Symbolik, ein Zeichen der Geschichte sollte es sein, auf die Zukunft hinweisend. Das seien die zwei Anteile in der Welt: »die Hände«, die ergreifenden, festhaltenden, und die »Stimme«, in der die Seele ruft. Dem einen werde die Macht, das Imperium, gehören, dem anderen werde die Kraft, das | Reich Gottes, gewährt. Dem einen sei seine Zeit, dem anderen die Erfüllung beschieden. Es war ein ganz Eigenes damals um das Verhältnis Roms zu diesem Volk und dieses Volkes zu Rom. Trotz mancher Tat der Härte und der Erbitterung ist Roms Handeln hier meist anders als gegen Völker sonst; Rom schien zu fühlen, daß dieses Volk eine Ausnahme unter den Völkern wäre. Und ähnlich spricht es von diesem Volke her. Trotz manchem bitteren, anklagenden Wort bezeugt es sich doch auch oft, daß Rom einen Eindruck machte, den Eindruck, daß es anders wäre als die Mächte vor ihm. So konnten die Worte »Edom« und »Israel« zu geschichtlichen Begriffen werden, sich fast ins Metaphysische erheben. Ein Gegensatz, der nie zur Synthese werden sollte noch konnte, der aber Gedanken in eine höhere Ebene hinaufleitete, stand hier vor dem Geiste. Er hat für lange hin seine Linien in das Nachdenken und auch in die Existenz dieses Volkes eingezeichnet. Auch in seinem dritten Jahrtausend trat vor dieses Volk die Macht Roms hin, die unbezwingbar scheinen konnte. Aber das Wort »Rom« hatte jetzt noch eine andere Bedeutung, ein anderes »Zeichen« gewonnen. Aus dem Imperium war das Glaubensimperium geworden. Die erfassenden »Hände« wollten zugleich segnende Hände sein. Die Gemeinde des Glaubens an die Erlösung im Jetzt und Hier, von zwei Aposteln aus diesem Volk im Martyrium geschaffen, war zur Kirche geworden, der missionierenden und dann der rivalisierenden und danach der erobernden Kirche. Der Staat, Rom, schloß den Bund mit ihr, und sie schloß danach den Bund mit dem Staate, mit Rom. Rom nahm sie in sich auf, und sie nahm dann Rom in sich auf. Sie war nun auch Rom, »Roma aeterna«, sie war nun auch die Macht. Sie
244
verkündete | ihr Wort »urbi et orbi«, der »Stadt und dem Erdkreis«, ordnend und anordnend. Das Imperium hatte sich zum Glaubensimperium erhoben. Das Wort »coge intrare«, »zwinge sie einzutreten«, wurde erst damals gesprochen, aber es ist das alte römische Wort. So waren sie, nach wie vor, einander gegenübergestellt und blickten aufeinander: Edom und Israel, Rom und dieses Volk, das eine die Macht, die Macht schlechthin, und das andere die Ausnahme, die Ausnahme schlechthin. So wie vorher, und doch in ganz anderer Weise, ja mit noch lebendigerer Kraft, mußte die Existenz dieses Volkes dem gewachsen sein. Nur verhältnismäßig kleine Teile des Volkes waren außerhalb des Imperiums. Neben denen auf der arabischen Halbinsel waren es vor allem die, die in dem alten babylonischen Exillande lebten. Sie konnten auf eine zur Geschichte gewordene lange und stetige Dauer ihrer Gemeinden zurückblicken. Sie besaßen zudem innerhalb des neupersischen Reiches eine gewisse Autonomie. Als Erben des Staates, der im alten palästinischen Lande vorher gewesen war, konnten sie in der Ordnung, die sie sich gegeben hatten, erscheinen. Und was noch tiefer griff, ihre Schulen waren die Erben der palästinischen geworden. Deren Autorität war wie von selbst auf sie übergegangen. Als Hüter der Tradition, als Wahrer der »Torah im Mündlichen«, standen sie da; ihre Lehrer wurden als Lehrer für das ganze Volk, wo immer es wohnte, dankbar anerkannt. So hatte dieses Volk, das sein altes Mutterland verloren hatte und ein Volk von Kolonien ohne das Mutterland geworden war, den beständigen und geistigen Mittelpunkt. In lebendiger Folge hatte sich das eine an das andere geschlossen. Das Ganze als solches war in seiner Einheit geblieben. Im Bereiche des Geistes konnten Grenzen nicht zu Trennungen werden. Überall wurde in den Synagogen ein Gebet für die Häupter und die Schulen der Gemeinden im | Zweistromland gesprochen: Möge für sie »Rettung vom Himmel her bestehen«! Eine innige Dankbarkeit klingt daraus hervor. Man war sich dessen bewußt, was es, zumal jetzt, bedeutete, einen geistigen Mittelpunkt zu besitzen und so der Stetigkeit teilhaftig zu sein, die nur der sich erneuernde Geist geben kann. Man bedurfte dessen. Denn innerhalb des Imperiums, das die große Zahl der Stätten dieses Volkes umschloß, hatten sich Voraussetzungen entscheidend geändert. Das alte Imperium war eine Einheit der Regierung, der Verwaltung und des Rechtes, ein »regere imperio«, ein »Lenken durch das Imperium«, gewesen. Innerhalb dieser Einheit war viel Raum für Besonderheiten. Das neue Imperium wollte eine Einheit des Glaubens sichern, es wollte ein Imperium kraft des
245
143
144
145
Glaubens sein. Ein neuer Begriff, der sich später weiterentwickeln sollte, der des herrschenden, des maßgebenden Glaubens, der allein ein Recht auf einen Platz im Lande, im Bürgerrecht gebe, trat in die Geschichte ein. Alle Völker im Reiche fügten sich dem, früher oder später, nur dieses Volk nicht. Es war entschlossen, das zu bleiben, was es durch die Kraft von Jahrtausenden war und was es in aller Gewißheit seiner Seele sein wollte. So war es hier ein Volk innerhalb des Imperiums und zugleich außerhalb desselben, ein Volk, das um seinen unerschütterlichen inneren Platz wußte und zugleich fast ohne den Platz im Lande war. Der Kampf, der stille und laute, um sein Recht auf den Platz und um den Platz seines Rechtes wurde mehr und mehr ein Teil seiner Geschichte. Immer neue Kolonien wurden gegründet, oft voller Wagemut, um neue Plätze zu bereiten, und der Raum der Geschichte dehnte sich. Auch dadurch hat das dritte Jahrtausend dieses Volkes in seine Existenz neue Züge eingeschrieben. Die seelische Einstellung zur Umwelt wurde dadurch geändert. In seinem zweiten Jahrtausend hatte sich eine Beziehung | zur umgebenden Gedankenwelt, zuerst zur persischen und dann zur griechischen und auch zur ehemaligen römischen, mannigfach entwikkelt. Jetzt gab es eine solche innere Beziehung kaum mehr. Der einzige Weg, der sich hier dafür öffnen konnte, hätte den Verzicht auf sich selbst vorausgesetzt. Selbst das Buch, das zu einem verbindenden hätte werden können, die alte hebräische Bibel, mußte zu etwas Trennendem werden. Die Kirche hatte es annektiert, und sie hatte das tun müssen, um sich vor sich selber zu rechtfertigen. Das Buch, das ein Buch dieses Volkes und ein Buch für dieses Volk war, sollte ein Buch gegen dieses Volk nun sein und einem anderen in Wahrheit zugehören. Der seelische Kampf um sein Recht, den dieses Volk führte, war so auch ein Kampf um dieses sein Eigentum, um sein Erbe. Sein Eigenstes wollte es hüten und sichern, und auch darum zog es sich auf sich selber zurück. Zu sich selbst mußte es sich hinwenden, in sich selbst einzukehren suchen, wenn die Fragen, die bisweilen zu bedrohenden Anklagen wurden, es bedrängten. Nur in den Sätzen seiner alten Bibel, in den Worten seiner alten Lehrer konnte sich eine Antwort auftun. Nur in seinem »eigenen Leben konnte es seine Welt sehen«. Das Durchdenken des Eigenen wurde zur Existenz. Dem Rückblick erscheint es als eine Tragik, daß die Kirche mit dem inneren Reichtum ihrer Welt, mit der Tiefe und Fülle ihrer Frömmigkeit diesem Volke zumeist, ja fast immer nur als Imperium gegenüberstand. So hat sie damals die Welt dieses Volkes nicht gese-
246
hen, und ihre eigene Welt ist von ihm nicht gesehen worden. Wohl hat die in einem anderen Imperium der Zeit, dem mohammedanischen, entwickelte jüdische Philosophie Eingang in die christliche Philosophie gefunden. Aber nur eine Philosophie war zu der anderen gekommen. Eine religiöse Begegnung fand nicht statt. Sie standen einander nur gegenüber: das mächtige und in seiner Macht wach|sende Imperium, das gegenüber der Gewißheit und dem Willen dieses Volkes machtlos blieb, und dieses überall gefährdete, immer wieder angegriffene, äußerlich wehrlose Volk, das sich in seiner Gewißheit und seinem Willen, in der Gewißheit und Einheit seiner Existenz selbständig und frei und unüberwindlich wußte. Als die Kirche das alte Land dieses Volkes, ihr selbst das Land heiligen Gedenkens, wiedergewinnen wollte und ein Glaubenseifer in ihr erwachte und genährt wurde, hat ihn dieses Volk, trotz einzelner Beispiele edler Gesinnung und edlen Mutes, doch nur als vernichtenden Fanatismus erfahren. Als eine Zeit »bösen Verhängnisses« hat diese Zeit in der Erinnerung fortgelebt; zerstörte Gemeinden und die vielen Namen der Märtyrer zeugen von ihr. Doch der Wille blieb, und die Gewißheit blieb. Gemeinden wurden wiederaufgebaut, Menschen zogen weiter, den Strömen und den Straßen entlang, um als Kolonisten neue Stätten zu bereiten, und sie alle wußten, daß das Reich Gottes bestehen werde und einst alle dem einen Gott dienen würden. Es war eine eigentümliche geschichtliche Erscheinung: dieser wandernde Universalismus, diese in sich selbst einkehrende Humanität. Die Welt wollte man finden, indem man sich selbst von neuem durchdachte. Es ist daher begreiflich, so verwunderlich es dem zunächst klingen mag, der jene Zeiten nur in ihren Geschehnissen kennt, daß aus dem Schrifttum des Volkes, das von dem Denken in jenen Tagen zeugt, ein Gleichmaß in der Ruhe der Gesinnung spricht. Gewiß, es sind ergreifende Trauergebete damals verfaßt worden, und so mancher klagende Ruf dringt aus ihnen zu Gott empor, und in den Martyrologien, den »Gedenkbüchern«, reden die Namen derer, die ihr Leben hingeben mußten, ihre erschütternde Sprache. Aber die ganze Haltung bewahrt doch ihr Gleichmaß. Die Arbeit des Durchdenkens hat ihren stetigen Fortgang, trotz allem, was geschah, | trotz allem, was zerstört wurde. Ein Geschlecht von Gelehrten folgt auf das andere. In den Büchern, die sich an jeden im Volke wandten, den sogenannten »Sittenbüchern«, offenbart sich eine schlichte und klare Menschlichkeit, eine bestimmte Deutlichkeit der moralischen Forderung, die gegenüber jedem zu erfüllen ist. Sie sucht ihr Wort und behält ihr Wort trotz allem, was getragen und erduldet wurde.
247
146
147
148
Auch die Mystik der Zeit hat ein Leben im Moralischen. Die ganze innere Haltung bewahrt ihre Stetigkeit. Diese Ruhe der Gesinnung, diese Selbstverständlichkeit im Denken und Tun gibt der ganzen Existenz dieses Volkes in den Ländern des Glaubensimperiums den eigentümlichen Charakter. Er stellt ein fast Einmaliges dar. So waren Leben und Denken in der Richtung zu Gott hin, der »kawwanah«, hier eines geworden. Das gerade Leben erzeugte die geraden Gedanken, und als der »Frevler« erschien der, dessen krummes Leben die krummen Gedanken bewirkte. Immer konnte man, wie verwirrt die Tage auch waren, auf den Weg hinblicken, den das Gebot und die Verheißung deutlich wiesen. Sich gegenüber sah man die Macht, welche unwiderstehlich gebot, aber über sie hinausragend und hinausreichend, größer als sie, sah man, vielleicht fern in der Zeit, aber immer nahe in der Gewißheit, die große Gerechtigkeit, diese Erfüllung der Geschichte. Im Tage selbst, drüben, wo sich der Osten dehnte und der Süden breitete, war dem Blick eine andere Macht, die sich erhoben und ihren Siegeszug angetreten hatte, ein anderes Imperium in immer bestimmteren Linien schon sichtbar geworden. Diesem Imperium, dem des Glaubens, schienen nun die Grenzen gesetzt worden zu sein. Die Kunde von den Gemeinden drüben war hereingekommen. Im Lande selbst glaubte man oft, hilflos zu sein; keiner war da, der beistand. Aber man dachte dann an das Wort, mit dem Obadjah seine | Rede an Edom, eine der kühnsten und dramatischsten im Buche der Propheten, beschlossen hatte: »Aufwärts werden ziehen Helfer auf dem Berge Zion, um den Berg Esaus zu richten, und Ihm, der ist, wird das Königtum sein.« [1,21] Nicht lange nach den Anfängen des dritten Jahrtausends dieses Volkes hatte sich im Osten eine neue Macht erhoben, die nun gleichfalls auf die Form seiner Existenz tief einwirken sollte. Ihr Aufstieg ist durch eine Plötzlichkeit gekennzeichnet, die dann aber die Dauer erwarb – ein Seltenes in der Geschichte. Von der Wüste und den Städten Arabiens her hat sie den raschen Siegeszug angetreten. Sie eroberte die Provinzen des alten Persischen Reiches und drang zu Gebieten vor, vor denen dieses und das Heer Alexanders einst hatten haltmachen müssen. Sie dehnte dann bis zum Atlantischen Ozean hin ihre Grenzen. Der Mann, dessen schöpferische Genialität diese Tage auftat und in der Bewegung, die sich Bahn brach, weiterwirkte, war Mohammed, der »Gesandte Allahs«. Wie einst die Propheten, hatte er die Stimme der Einsamkeit vernommen, und das, was dem gewöhnli-
248
chen Blicke leer schien, hatte Gestalt gewonnen. Die Visionen, die er geschaut hatte, waren in ihn eingekehrt, und die Bilder, die er gesehen, hatten ihn ergriffen und ihn fortgetragen. Auch er bedurfte so keines Menschen, wenn er hören und wenn er sprechen wollte. Er war des Alleinseins fähig, das seinen Tag erwartete. Wie einst Abraham, wie einst Jakob, wie einst Moses konnte er daher aus seiner Heimat, aus dem Hause seines Vaters fortgehen, weil er einen Ruf gehört hatte. Mit diesem Auszuge, dieser Loslösung, dieser »Hedschra« beginnt auch sein Leben, das in ihm stark geworden war, zur Geschichte zu werden. Seine Gemeinde konnte er nun schaffen und ihr verkünden, daß er »der Pro|phet«, der »Gesandte des Höchsten« sei, daß er den Weg des Lebens weise, daß er Tore des Paradieses geöffnet habe. Er wußte von diesem Volk und seinem Buche, und dieses Volk erfuhr von ihm. In der Stadt, die ihn aufnahm und die dann die »Stadt des Propheten« genannt wurde, war seit altem eine Gemeinde, und der Prophet und sie begegneten einander. Aus ihrer Begegnung wurde später die Gegnerschaft. Zu ihm ist in dieser für ihn bedeutungsvollen Zeit auch manches aus den Erzählungen der »Torah im Mündlichen«, aus der »Haggadah« hingelangt. Es hat seinen Platz in dem wundersamen Buche gefunden, das niedergeschrieben wurde, damit die Gläubigen von Geschlecht zu Geschlecht von seinem Leben wüßten und die Worte hörten, die er gesprochen hatte. Immer neu sind sie von diesem Buch ergriffen worden. Ihr heiliges Besitztum ist es hier geblieben mit der Glaubensglut, die es erfüllt, mit der Gewalt der Mahnung und der Verheißung, mit der es die Gemüter bewegt und erregt, und mit seiner Sprachkraft auch schon, die dem Worte den Weg zu vielen bereitet. So, wie der Prophet [Mohammed] von dem alten Volke [Israel] gesprochen hat, das von Abraham herkam, so ist für seine Völker die Kunde geblieben, mochte auch manche Gegenwart das Ihre erzählen. Zu diesem Volke schien etwas aus seiner eigenen Überlieferung nun neu zu sprechen, als es jetzt von den arabischen Stämmen und von dem Siegeszug ihrer Religion mehr und mehr hörte. Vertraute Namen gewannen den anderen, den neuen Klang. Von dem, der als Stammvater des arabischen Volkes galt, von Ismael, dem Halbbruder Isaaks, dem Sohne Abrahams und der Ägypterin Hagar, erzählte die Bibel, und mit einer besonderen, liebevollen Wärme ist von beiden, von Mutter und Sohn, dort erzählt. Ein Bote von Gott hat zu ihnen gesprochen, mit Worten der Ermutigung und Aufrichtung, und hat die göttliche Verheißung für den Sohn verkün|det: »Gehört hat
249
149
150
151
Gott die Stimme des Knaben, wo immer er sei. Ich will ihn zu einem großen Volke machen« (Gen. 21,17-18). So schienen auch hier Brüder zueinander hingestellt: Ismael und Isaak, sowie Esau und Jakob. Aber ein verschiedener Ton klingt hervor. Zur Bezeichnung für Geschichte werden auch diese zwei: Ismael und Isaak, auch sie wie ein Symbol eines Lebens von Völkern, die aus einem gleichen Anfange herkamen und voneinander fortgingen, um dann das Trennende zu empfinden und ein Gemeinsames doch auch zu ahnen. Jetzt, in dieser Epoche, in der der Name Ismael von einer neuen Religion auch sprach, gewann das alles den neuen, den besonderen Ausdruck. Eine religiöse Nähe, eine geistige Nachbarschaft schien zu sprechen. Ein reiner, ernster, ja strenger Monotheismus hatte jetzt auch dort, bei den Söhnen Ismaels, sein Wort und sein Gebot gefunden; und nichts durfte von ihm ablenken. Der Geist eines Puritanismus zog auch dort seine bestimmenden Linien; jedes Sakrament, jedes Bild, jedes Vermittelnde war abgewiesen. Ein Wille zum religiösen Demokratismus, der alle in gleicher Weise und zu gleichem Rechte vor Gott hingestellte, hatte auch dort sich durchgesetzt und die Gemeinde geschaffen; jede Besonderheit der Werke war abgelehnt. Dort auch bewies sich ein lebendiger Asketismus, der an alle die gleiche Forderung richtete, vor alle dasselbe »Du sollst nicht« hinstellte; der Schwächlichkeit wie der Übertreibung sollte vorgebeugt sein. Das alles mußte auf das Denken und auch auf das Empfinden der Kinder Israels, die jetzt innerhalb des Imperiums der Söhne Ismaels lebten, seinen dauernden Eindruck machen. Ihre Existenz wuchs in eine neue Form hinein. Gewiß, auch Unterschiede mußten vor den Blick treten, und sie waren auch wesentlicher Art. Schon von den Kräften her, die im ersten Wachstum, in dem Wachstum des Entste|hens, gewirkt hatten, kam die Unterschiedenheit – Kräfte des Entstehens können stärker sein als die späteren Eindrücke und Erfahrungen. In einem Vergleiche, der freilich nicht mehr als ein Vergleich, als ein Hinweis auf eine Richtung sein darf, könnte gesagt werden: Den einen Glauben hat die Wüste geboren sein lassen; den anderen hatte sie in einer bestimmenden Zeit umfaßt und war ihm zu einem fortwirkenden Erlebnis geworden, an das sich aber schon bald das tiefere Erlebnis, das des Bodens mit seinem stetigen, immer neu zu verwirklichenden sozialen Gebot angeschlossen hatte. Dieses Erlebnis des Bodens war dem Glauben Mohammeds nicht beschieden worden. Die Wüste sprach hier in ihrer eindringlichsten Sprache und ihrem eindringlichen Schweigen. Aber der Boden mit dem Rufe seiner sozialen Mahnung und die Spannung von Wüste und Boden sind dort nicht
250
im Beginn erfahren worden. Die Probleme der Spannung, des Weges, der Geschichte, alles dessen, was das Wort »von Geschlecht zu Geschlecht« und das Wort »olam« besagen, traten dort in den Glauben nicht ein. Bezeichnende Besonderheiten gehen davon aus. Man könnte vielleicht die Gegenüberstellung wagen: Der Glaube, der den Propheten aus Ismaels Stamm ergriff und festhielt, so daß er ihn seinem Volke verkünden mußte, hat den geometrischen Charakter. Linie fügt sich an Linie zum Deutlichen, zum Bestimmten, Geschlossenen, und der Blick darf dann gewiß sein, alles zu sehen, alles, wie es sich zueinanderfügt. Der Glaube, der die Propheten in Israel erfaßte und mit dem sie ringen mußten, ringen ohne Ende, um ihm den Ausdruck zu geben, um von ihm sprechen zu können, hat eher den funktionellen Charakter. Jede Linie strebt zum Unendlichen, zum Ewigen hin; jede Antwort erzeugt wieder eine Frage, und keine Frage kann doch ohne die lebendige Gewißheit der einen, der letzten und bleibenden Antwort sein. Die Simplizität – dieses Wort in seinem guten, edlen Sinne | genommen –, die allem die gradlinigen Umrisse gibt, ist eine Stärke des Glaubens Mohammeds, dieses Kindes der Wüste. Sie hat ihm wie zu Beginne, so dann in der Folge des Jahrhunderts die raschen und auch die bleibenden Siege eingebracht. Besonders unter Völkern, die das Problematische noch nicht kannten oder der Kompliziertheit überdrüssig geworden waren, hat er sie gewonnen. Der Glaube führt hier die einfachen, leichten Wege. Er hat späterhin inmitten seines Imperiums für die griechische Philosophie in großartiger Weise eine Stätte bereitet, und arabische Philosophen haben damals der Welt einen Reichtum an neuen Gedanken, an alten Problemen, die sie neu aufzeigten, beschert. Auch Mystiker haben hier ihr Wort gefunden. Sie haben wundersame Lieder gesungen, und Fragen auch werden darin vernehmbar. Aber aus dem Glauben selbst sind die Fragen kaum hervorgekommen; er barg sie nicht in sich. Von hier aus scheinen die einzelnen Besonderheiten und Unterschiede neu vor den Blick zu gelangen. Als eine große Proklamation, ähnlich wie einst der Glaube Israels, ist der Glaube Mohammeds vor die Welt hingetreten, fast wie ein Schlachtruf, ja fast wie ein Siegesruf, welcher Menschen hüben und drüben bezwingt. Aber hier stoßen nicht Stimmen auf Stimmen, in denen der, welcher spricht, weil er sprechen muß, entweder mit der Unzulänglichkeit des Wortes ringt oder vielleicht mit Gott selbst rechtet. Die Tragik der Seele, deren Tore Gott geöffnet hat und die er nun den Menschen öffnen muß, wird nicht vernommen. Schon darum konnte hier der eine Pro-
251
152
153
154
phet der eine sein und der eine bleiben. Er kam nicht von denen her, die vor ihm gewesen waren, und rief nicht nach denen, die nach ihm sein würden. So konnte auch das Buch, das zum Zeugnis aufgeschrieben wurde, das eine Buch bleiben und wurde nicht zu einem Buche von Büchern. Schon darum auch hat das offenbarende Wort sich an den einen | Mann, diesen einen Propheten, gewandt und nicht an sein ganzes Volk, das vor den Sinai hingerufen wurde. Immer wieder zeigten sich diese geradegezogenen Linien, in denen sich das eine an das andere fügt, ohne daß das eine auf das andere stößt, so daß es sich mit ihm auseinandersetzen muß, um die Existenz von Mensch und Volk und Menschheit neu zu durchdenken, neu zu einer Aufgabe zu machen. Der Glaube Mohammeds kennt die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Irdischen und die Gewalt des Ewigen und Unendlichen, aber er blickt nicht auf das Eindringen des immer Seienden in das immer Werdende, er hört nicht auf die Fragen, die dadurch stets gleich und doch stets neu gestellt sind. Er spricht von dem, was, jenseits von uns Menschen, verborgen und zugleich vorherbestimmend ist, und er spricht ebenso von dem, was in unser Diesseits hineingestellt und uns geboten ist, daß wir es erfüllen. Aber er lehrt nicht, wie dieses aus jenem hervorwächst und aus ihm immer neu die Kraft empfängt. Er weist auf Tage hin, welche kommen werden, um einst zu sein. Aber er zeigt nicht auf, wie die verheißene Zukunft in die begrenzte Gegenwart eintreten kann, eintreten soll, um so zu dem bleibenden »Troste« zu werden. Er weiß von menschlichem Versagen und menschlicher Hinfälligkeit und ebenso von einem Aufstieg und einer Größe des Menschen. Aber er predigt nicht das stete Ringen um die Gottesnähe, um die Versöhnung des Irdischen mit dem Ewigen. Er verlangt, oft in ergreifenden Worten, den »Islam«, die tiefe Hingebung an den Glauben an den Einen, der alles geschaffen und geordnet hat und alles bestimmt und richtet, in dem alles Dasein geborgen ist. Aber er verkündet nicht diesen Einen als das Ich allen Ichs, das zum Menschen das Du spricht und ihn dadurch zum Ich macht; er verkündet nicht das Geheimnis der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, dieses Geheimnis, aus dem allein eine Klarheit des Lebens hervorkommt. | So ist, in ihrer eigentümlichen Kraft, die Religion des »Propheten«, die das Volk seines Landes, die Stämme und die Städte, aufgerufen und danach weithin Menschen und Nationen gewonnen und behalten hat: die Proklamation eines Glaubens, aber ohne die Paradoxien und die Probleme des Glaubens, ohne die Spannungen und Erschütterungen, in denen das Mysterium die Seele ergreift.
252
Als die raschen Siege ein weites Imperium geschaffen hatten, gewährte die äußere Geräumigkeit hier für eine innere Geräumigkeit den Boden. Man war bereit, die Gedanken des anderen im Lande zu betrachten und ihnen ihren Platz zuzugestehen, man sah zu anderen Richtungen des Denkens und Lehrens hin und wurde fähig, sich ihnen zu öffnen. Eine gemeinsame Kultur, eine Bildung, die alles umfassen konnte, durfte so aufwachsen. Besonders die griechische Philosophie, deren Lehrer, aus dem anderen Imperium vertrieben, in dem Zweistromland Aufnahme gefunden hatten, durften sprechen und lehren. Sie haben unter allen in allen den Ländern des neuen Imperiums ihre Schüler gefunden. Der griechischen Philosophie war wieder ein Erdreich geschenkt, das die Saat aufnehmen konnte. Die griechisch-arabische Philosophie wuchs wieder auf, und die Frucht barg neuen reichen Samen in sich. Nach dem anderen Imperium hinüber hat das Wehen des Geistes ihn getragen und in offene Furchen dort gesenkt. Den Kindern des jüdischen Volkes, die in Ländern der Nachfolger des »Propheten« lebten, war mit dem allem ein Großes, ein Geschichtliches beschieden. Eine Bildungswelt, eine Kultur, eine Sprache öffneten sich vor ihnen, und sie zögerten nicht, einzutreten. Ihre Seele hatte seit alters in einer Weite der Idee und damit in einer Weite der Zeit und des Raumes gelebt; jetzt zeigten sich ihrem Nachdenken, ihrem | Durchdenken wie auch ihrer Vision und ihrer Ahnung neue Richtungen, neue Ausblicke. Gemeinsames inmitten all des Besonderen wollte sich dartun, und ihr Eigenes wurde ihnen damit nur noch tiefer bewußt. Vor allem die Philosophie wurde von ihnen, diesen »Philosophen von Geburt«, wie einst des Aristoteles Schüler und Nachfolger, Theophrast, sie genannt hatte, nun wiederum, wie einst in den Tagen des Philo von Alexandrien, zum Besitze. Sie war nun ein geschichtlicher, ein fortzeugender Besitz. Immer neu formt sie sich. Philosoph reiht sich an Philosophen in einer stetigen Folge etwa sechs Jahrhunderte hindurch, so stetig und so lange Zeit hindurch, wie die Philosophie es nur auf ihrem alten griechischen Boden erlebt hatte. Das hat diesen Menschen hier ein bemerkenswertes Gepräge gegeben. Sie sind, dem Eigenen, dem Erbe unerschütterlich treu, Menschen der Philosophie geworden. Sie sind während des dritten Jahrtausends ihres Volkes darin von ihren Brüdern im anderen Imperium unterschieden, welche ohne die Philosophie damals blieben, ja bisweilen, in erregten Tagen, sich gegen die Philosophie gewandt haben. Das jüdische Volk ist damals der arabischen Kultur zu tiefem Danke verpflichtet worden. Dieses Volk, dem die Dankbarkeit ein Gebot
253
155
156
157
vor Gott ist, sollte dies nie vergessen. Damals haben diese Menschen es dort erlebt – wie einst in guten Tagen von Persien, von Hellas, von Rom, und sie haben es sicherlich tief empfunden –, wie Tore vor ihnen aufgetan wurden, Tore, durch die sie eintreten konnten und durch die man zu ihnen hintrat. Schon durch eines spricht diese Tatsache deutlich: Forschende und Suchende, Gelehrte und Denker dieses Volkes, haben damals die Sprache dieser Kultur, die arabische, gewählt, um das, was sie um ihres Eigenen willen, ihres Erbes und ihrer Hoffnung wegen, aussprechen wollten, zu seinem neuen Ausdruck zu bringen, ihrer alten, der heiligen | Sprache hielten sie darum nicht minder die Treue. Eine klassische Literatur dieses Volkes redet in der arabischen Sprache. Durch alles das wurde hier die Existenz dieses Volkes, diese eine stete alte Existenz, neu bestimmt. Alte Kräfte aus den Tagen des Werdens wurden wiedergeboren, neue Formen des Lebens in der Welt wurden gestaltet. Auch in den Menschen dieses Volkes in dem anderen Imperium, die sich mehr und mehr zu sich selbst nur hingewandt hatten, hatte dieser Weg zu sich zu einer Wiedergeburt hingeführt, und neue Formen hatte ihr Leben gewonnen. Es war dasselbe, das eine Leben dieses Volkes, das hier auch, auf dem anderen Boden, seine Kraft bewiesen hatte. Aber es war in anderer Weise, in anderen Linien doch gewesen. Wieder, wie in jedem seiner vorangegangenen Jahrtausende, und jetzt wohl bestimmter und ausgeprägter noch, hatte die Existenz dieses Volkes die zwei Brennpunkte. Die große Einheit der Existenz blieb lebendig, im Bewußtsein und im Willen, jetzt wie je. Aber in ihr war, jetzt wie zuvor und vielleicht stärker noch, die Polarität, die Spannung, die Bewegung der innersten Ströme. Auch in der neuen Wiedergeburt war die religiöse Paradoxie, diese Spannung, die aus der Aufgabe hervorkommt und zu neuer Aufgabe hinführt. Die Kraft zur neuen Aufgabe ist die große Probe. Die Namen, in denen damals die Menschen »des einen Volkes« nach diesen beiden Gebieten geschieden wurden, in denen sich ihre Existenz entfaltete, sind »Aschkenasim« und »Sephardim«. Aschkenas ist die alte, von der Bibel hergenommene Bezeichnung für Deutschland, Sepharad, ebenfalls mit einem biblischen Namen, die für Spanien. Man nannte Deutschland, weil dort die Mittelpunkte und Ausgangspunkte der einen Renaissance waren, und nannte Spanien, weil sich da, in der | islamischen Epoche, die andere Renaissance am reichsten entfaltet hatte. Aber gemeint ist mit jeder der Bezeichnungen die Gesamtheit des einen und des anderen Imperiums. Als diese
254
Namen üblich wurden, war man sich dessen zugleich bewußt, daß sie nicht nur eine geographische und politische Sonderung zum Ausdruck brachten. Man sprach, um dem Namen auch sein Attribut zu geben, von den »chasside aschkenas«, den »Frommen in Deutschland«, und den »chachme sepharad«, den »Weisen, den Philosophen in Spanien«. Gewiß hat auch der geographische Charakter hier und dort das Seine mitgeteilt: Dort war der Blick zu den Meeren hin und zu ihren Straßen hinausgezogen; hier war er die Ströme hinauf und hinunter und von Strom zu Strom gewandert. Auch das hat begreiflicherweise die weite Verschiedenheit in den geschichtlichen Voraussetzungen und den politischen Bestrebungen hier und dort auf Umschau und Ausschau dieser Menschen eingewirkt: Hier waren diese Menschen Zeugen eines dauernden Kampfes zwischen historischen Mächten und oft die Opfer der Ränke und der Volksleidenschaften, deren sich die einen und die anderen bedienten. Dort erfuhren sie, bisweilen im günstigen und bisweilen im abträglichen oder schlimmen Sinne, den Wechsel von Ereignissen, den Aufstieg und Abstieg von Herrschern oder auch eine Rebellion der Wüste gegen die Stadt. Auch das alles in seiner Eigenart hat Einflüsse ausgeübt. Aber tiefer ist in die Existenzform jener Unterschied eingetreten, daß vor den einen sich Bahnen öffneten, Bahnen der Bildung und der Kultur, die zu allen im Lande hinführen konnten, um mit ihnen zu verbinden, und daß die anderen nur den Weg zu sich selber vor sich sehen durften. Im Geschichtlichen gibt es neben den Regeln immer die Ausnahmen. Doch auf das Ganze und Allgemeine hin bestand ein solcher Unterschied; er bewies sich und erhielt sich langehin. | Man könnte ihn, wenn den Begriffen kein Zwang angetan wird, dahin definieren, daß die Sephardim eine Kulturfrömmigkeit und die Aschkenasim eine Frömmigkeitskultur durch eine Epoche der Wiedergeburt erlebten und durchlebten. Das eine wie das andere ist zum bleibenden Besitz dieses Volkes geworden. Nur zusammen offenbaren sie seine Existenz in ihrer steten Kraft zur Erneuerung. Es konnte sich so damals und später beweisen. Denn in dem beiden, aus dem sich diese Unterschiedenheit ergab, sprach im Grunde eine und dieselbe religiöse Erfahrung, die vom »Reiche Gottes«. In dem hoffenden Wissen um das Reich Gottes wird die Sehnsucht zum Gebot und das Gebotene zur Sehnsucht. Bald hat die Sehnsucht den stärkeren Ton, bald das Gebot. Immer ist es das tiefe Verlangen nach der wahren, der von Gott kommenden und der zu Gott hinziehenden Einheit und Ganzheit, das sich kundtut. Die Klänge und die Er-
255
158
159
scheinungen der reinen Harmonie, in der sich alles erfüllt, weil in ihr alles seinen Sinn gewinnt, ziehen in die Seele ein, heben die Seele empor. Ein altes Wort für die Harmonie: »Ordnung«, »tikkun«, ist mehr und mehr in die Sprache des Gebetes eingetreten. In jenem mit dem emphatischen Wort »auf uns«, »alenu«, beginnenden Gebete, das einer der großen Lehrer Babylons für den Neujahrstag verfaßt hat, damit die Gemeinde an diesem Tage vor sich und vor der Welt feierlich ihren Glauben an den einen Gott und ihre Erwartung der einen Zukunft verkünde, ist gesagt: »Darum lasset uns hoffen, bald zu erschauen die Herrlichkeit Deiner Macht, o Gott, Greuel fortzuräumen von der Erde, so daß die Götzen vernichtet werden, der Welt eine Harmonie, eine ›Ordnung‹ zu geben durch das Reich des Allmächtigen, so daß alle Kreatur sich zu Deinem Namen bekennt ...« Und in jenem anderen, schlichten Gebete, das der Mensch am Abend sprechen soll, das mit den Worten beginnt: »Gib es Du, der Du bist, unser | Gott, daß wir uns niederlegen zum Frieden und aufstehen zum Leben, und breite über uns das Zelt Deines Friedens«, heißt es dann weiter: »und ›ordne‹ uns durch gute Vernunft, die von Dir kommt.« In der Emphase wie in der Schlichtheit spricht das mahnende Verlangen nach dem Reiche Gottes, nach seiner Ordnung, seiner Harmonie. In solcher Zuversicht und ihrem Gebote lebten sie beide und waren sie eins, Aschkenasim und Sephardim. An der einen Glaubensgewißheit dieses Volkes wuchs es so empor, hier und dort, in einer Besonderheit der Formen, in der Einheit des Wesens und der Existenz. Die eigentliche Besonderheit hatte sich aus den unterschiedenen Antworten ergeben, welche die Frage nach dem Bestand einer Kultur gefunden hatte. Es war die Frage, ob in der Menschenwelt ringsumher Vorbedingungen, ja vielleicht providentielle Vorbereitungen für die große Ordnung und Harmonie, für das Reich Gottes vorhanden wären, ob gewissermaßen Zugänge zu ihm hin sich dort zeigten. Als die Religion dieses Volkes und die Philosophie der Griechen sich zum ersten Male begegnet waren, wurde diese Frage bejaht. Man entdeckte in griechischen Gedanken vieles von der eigenen Weisheit, der »chochmah«, und mancher Lehrer war bereit, zu sagen, daß »chochmah« und »torah« im tiefsten Grund eines seien. Eine ähnliche Antwort wurde jetzt von den Sephardim ausgesprochen, als ihnen, dank den Arabern, griechische Wissenschaft und griechische Philosophie die Tore öffneten. Die Frage, welche sich in der Kultur stellte, wurde bejaht. Wege zur Religion hin, Bereiche der »Vorbereitung«, wurden in ihr gefunden. Des Eigenen, dessen war man überzeugt, werde man noch deutlicher bewußt, wenn man das
256
alles sehe. Das Wort »Harmonie«, »Ordnung«, »tikkun«, wurde auch für die Kultur gebraucht. Die Religion war gewissermaßen eine Kulturreligion. Den Aschkenasim war es anders zugeteilt. Sie sahen keine | Straße vor sich, die zu Gebieten des Forschens und der Ordnung führte, auf denen sie sich, empfangend und gebend, mit anderen im Lande zusammenfinden konnten. Schon eines spricht deutlich. Sephardische Gelehrte und Denker hatten klassische Werke, in denen sie Grundsätze und Hoffnungen ihres Glaubens darlegten, in arabischer Sprache geschrieben; dem kann sich im aschkenasischen Bereiche kaum etwas, was auch nur ähnlich wäre, an die Seite stellen. Geschichtliche Tage wechselten, wie schon hervorgehoben, in diesem »imperium romanum«, zwei geschichtliche Ideen kämpften miteinander. Bald schien die eine Idee zu obsiegen, daß das Reich nur ein Reich innerhalb der Kirche sein dürfe, bald die andere, daß Kirche eine Kirche im Reiche sein solle. Aber wie immer die Tage waren, keiner zeigte einen Weg zu einem Zusammenkommen in einer Kultur – es sei denn, die Kinder dieses Volkes wären von sich selber fortgegangen. So konnten sie auch die Kultur, die Bildung, die Dialoge der Geister nur im Eigenen und Überlieferten finden; sich selber mußten sie immer neu aufsuchen. Nur wo »torah« ist, könnte die »chochma« sein; in seiner Frömmigkeit sei diesem Volke die Kultur gegeben. Das Problem der Frömmigkeitskultur und der Kulturfrömmigkeit mußte sich in diesem Volk immer wieder erheben und zu immer erneuter Formung hindrängen. Als eine Aufgabe ohne Ende ist es in seinen Glauben eingepflanzt. Beides will dieser Glaube sein, und nur beides zusammen kann er sein, damit er lebe: »torah«, das Offenbarte, mit seinem immer neu zu erfüllenden und zu durchdenkenden Gebot, mit seiner Lehre, die es ist, und »chochma«, die dem Menschen verliehene, immer neu zu belebende und zu verwirklichende künstlerische Kraft, mit ihrer sittlichen Forderung, die sie sein soll. Sie gehören zusammen, und zusammen geben sie diesem Glauben seine Ganzheit und Einheit, damit der Mensch »mit | seinem ganzen Herzen und mit seiner ganzen Seele und mit seinem ganzen Vermögen Ihn, der ist, seinen Gott, liebe«. In der Bibel stehen sie beieinander, die Bücher der »torah« und die Bücher der »chochmah«, und zusammen sind sie die Bibel, das Buch. Einander suchen sie sich auf, und einander durchdringen sie sich, als die »Halachah« und als die »Haggadah« in dem Jahrtausend der »Torah im Mündlichen«, der Torah in Bewegung, und nur zusammen sind sie der Talmud. Aufeinander kommen sie zu und einander finden sie sich im dritten
257
160
161
Jahrtausend auch nun, diesem Jahrtausend der Torah und der Chochmah in Bewegung: Beides, Chochmah und Torah, haben sie beide, die Aschkenasim und die Sephardim, und nur zusammen bedeuten sie den Geist und die Existenz dieses Volkes in dieser dritten Epoche. Zusammen haben sie beide, diese beiden, Aschkenasim und Sephardim, in ihrer besonderen geschichtlichen Weise und doch ineinandergefügt, in schöpferischer Einheit, die dritte große Bewegung geschaffen und haben in ihr die Bibel und den Talmud wiedergeboren sein lassen. Diese Leistung beider, in dieser Ganzheit und Einheit, ist dann Erbe und Auftrag an ein folgendes Jahrtausend geworden.
162
In der Einheit ist jene Verschiedenheit der Akzente, die sich daraus ergab, daß in dem einen Gebiete sich die Philosophie entfalten konnte und in dem anderen ihr der Raum versagt war. Die chochmah hatte hier und dort ihr reiches Leben, hier und dort entwickelte sie eine Mystik und eine Ethik, aber nur unter den Sephardim gestaltete sie sich auch zur Philosophie. Hier wie dort war eine unermüdliche und fruchtbare geistige Arbeit, das religiöse Eigentum wurde immer neu durchdacht, vor jede neue Generation wieder neu hingestellt. Jedoch die Besonderheit des Akzentes hat zur Besonderheit der Methode auch werden können. Die Tatsache eben, daß die Philo|sophie dort vor den Geist hintrat und sie hier ihm fernblieb, hat innerhalb eines gleichen großen Bereiches die unterschiedenen Wege gehen lassen. Am deutlichsten tritt der Unterschied darin hervor, daß die Sephardim Systematiker geworden und die Aschkenasim die Empiriker gewesen sind. Die Felder, die sie bestellten, waren dieselben: die Erkenntnis von Bibel und Talmud, die mystische Chochmah und die Chochmah der Mystik und auch die Verfassung, diese Ordnung der Gemeinschaft, diese Erhaltung der Elastizität der Existenz. Aber die Wege, auf denen sie an Aufgaben herantraten, die sich ihnen hier stellten, die Formen, die sie hierbei anwandten und entwickelten, waren verschieden. Die einen hatten vorerst die Bestimmtheit des Einzelnen im Auge, die anderen blickten auf das Gefüge des Ganzen hin. So konnten die beiden sich treffen und sich ergänzen. Man könnte an die Leibnizsche Idee von der »prästabilierten Harmonie« denken. Wie die zwei Besonderheiten sich zur Einheit des Ganzen zusammenfügen, stellt sich deutlich erst in der Art dar, in der die Bibel und der Talmud in das neue Jahrtausend hineingeführt worden sind. In den Gemeinden der Aschkenasim erstanden die Meister der sich-
258
tenden Erklärung, die Kommentatoren, in den Gemeinden der Sephardim die Meister der planenden Disposition, die Kodifikatoren. Man könnte sagen, daß für die Aschkenasim die Andacht zum Einzelnen der Ausgangspunkt war und das Erlebnis des Ganzen sie dann erfaßte und daß für die Sephardim der tiefe Eindruck des Ganzen zum Beginne wurde und der Respekt vor dem Einzelnen sie dann notwendigerweise ergriff. Man möchte fast sagen: Es war eine prädestinierte Arbeitsteilung. Von außen fanden die einen den Weg nach innen, von innen gelangten die anderen nach außen. Es waren zwei verschiedene Methoden, und sie ergaben doch, ja sie ergaben erst eine Einheit. | Zusammen haben sie Bibel und Talmud in die Seele dieses Volkes hineingeführt und damit neues Leben geschaffen. Wieder hat es sich, wie immer in der Geschichte dieses Volkes, bewiesen, daß die Besonderheiten hier zur Einheit werden, ja daß sie erst die Einheit begründen und verbürgen. Die Kraft der Wiedergeburt ruht auch hierin. In gleicher Weise zeigt es sich so innerhalb des weiteren Bereiches der Mystik. In der Welt der Aschkenasim war Mystik eine religiöse Erfahrung des einzelnen Menschen. Die Frommen, die »chassidim«, waren die Mystiker. Mystik war, wenn dieses Wort einer späteren Zeit hier angewandt werden darf, »Chassidismus«. In dieser Art hat sich dann ja auch die Mystik unter den Enkeln von Aschkenasim erneut, die ostwärts gezogen waren, von Strom zu Strom, und überall ihre Gemeinden, aschkenasische Kolonien, gegründet hatten, neue Pflanzstätten alten Lebens. Mystik von »chassidim« war auch sie, Mystik, welcher Persönlichkeiten ihre Züge verleihen. Auch nach Galiläa im Heiligen Lande war sie hingelangt, vorher schon, damals, als dieses Jahrtausend in ein viertes überging. Ein Mann, welcher Isaak, der Aschkenasi, hieß, hatte ihr dort die Stätte bereitet. Aus der Erfahrung des Lebens geboren, trägt die aschkenasische Mystik die sittlichen Züge. Ein Grundbuch dieser Mystik, das »Buch von Frommen«, »sepher chassidim«, ist ebensosehr ein ethisches wie ein mystisches Buch. Man kann sein Leben nicht erleben, ohne daß ein Quell des Sittlichen aufbricht. Das Herz beginnt sich aufzutun und zu sprechen. Die Antworten auf die Fragen der Not des Menschen sollen gegeben sein. In der sephardischen Mystik hat vorerst der Kopf gesprochen. Die Probleme des Kosmos hatten sie aufgerufen. Weniger die Sehnsucht des Lebens als vielmehr die Sehnsucht des Denkens regte sich in ihr. Wie in jeder echten Mystik wurde auch hier eine Harmonie, eine wahre »Ordnung« gesucht. Aber es | war nicht zuerst die Harmonie,
259
163
164
165
in welcher sich die Kreaturen versöhnen, die man hier schaute, zu der man hier hingelangen wollte, sondern es war die Harmonie, in welcher sich die Welten, die Sphären, die oberen und die unteren, verbanden. Jenes Problem, das den großen Propheten des Exils erregt hatte, als er der persischen Religion gegenüberstand [DeuteroJesaja], das Problem eines elementaren Bösen in der Welt, das jeder Harmonie in ihr entgegenstände, erfaßte hier wieder die Geister. Die Antwort, die sie gaben, war die des Propheten, und um sie zu begründen, bauten sie ihre Systeme auf. Sie konnten hierbei, ähnlich wie der Autor des ersten mystischen Buches dieses Volkes, des »sepher hajezirah«, des »Buches von der Schöpfung«, manche Gedanken der neuplatonischen Philosophie zu Hilfe nehmen. Vor allem deshalb trat die Philosophie ihnen so nahe, da auch sie den Gedanken eines radikalen Bösen verwarf. Von dem Niedersten, dem Schlechten, her, so lehrte nun diese Mystik, führten Wege, von Sphäre zu Sphäre, zu höheren Kräften, den Kräften des Segens empor, und von oben her, in denselben Wegen, von Sphäre zu Sphäre, ströme die »Fülle« der Kräfte herab. Die großen Begegnungen finden ihre Bahn. In den einen Kosmos ist alles hineingestellt, die große Möglichkeit ist allem gewährt. In der Darlegung solcher Ideen haben sephardische Denker einen seltenen Reichtum der Komposition entfaltet. Einer von ihnen hat es dann schließlich unternommen, Niedergeschriebenes, Überkommenes und Eigenes in der Form eines mystischen Talmuds zusammenzufassen. Er hat sein Buch »sohar«, »Leuchten«, genannt, und ein eigentümliches Leuchten und mit ihm ein wundersames Klingen durchzieht in der Tat Teile dieses Buches. Als der mystische Talmud hat es für Jahrhunderte weithin das Empfinden und Denken dieses Volkes beeinflußt, ja oft bestimmt. Wie ihre Klassiker der Philosophie haben so die Sephardim ihre Klassiker der Mystik erzeugt. | Auch hier wiederum haben Sephardim und Aschkenasim einander ergänzt. Zusammen haben sie ein Ganzes geschaffen. Alle Mystik erwächst aus der Sehnsucht hervor, zu der Unmittelbarkeit Gottes, zu dem Ursprung alles Lebens und Segens hinzugelangen, aus dieser Sehnsucht, die sich mit dem Glauben eint, daß Kräfte von Gott stetig zu dem Menschenbereich herniederströmen und zu Gott zurückströmen und daß durch sie der Mensch zur Nähe Gottes emporsteigen könne. Die sephardische Mystik verhieß dem Geiste, ihn solche Wege zu führen, wenn er von Andacht zu Andacht sich in das Geheimnis der Welten versenke, die zwischen Droben und Drunten sind. Die aschkenasische Mystik verhieß dieses selbe dem Willen
260
des Menschen, wenn er, von Läuterung zu Läuterung – die Läuterung ist die Andacht des Willens – sich in die Unendlichkeit und Ewigkeit des Gottesgebots vertiefe, in welchem das Droben in das Drunten eintritt. Zusammen erst sind diese beiden die Mystik dieses Volkes. Ohne das Sittliche lebt hier kein kosmisches Empfinden, und ohne das Wissen um den Kosmos, um den »olam«, um die Welt und die Zeit, kann hier die menschliche Aufgabe nicht leben. Ganz ebenso fügen sich die Besonderheiten zusammen, in denen sich auf dem verschiedenen Boden die alte Verfassung der Gemeinschaft entwickelt hat. Im aschkenasischen Gebiete hat sie sich zumeist innerhalb einer selbständigen einzelnen Gemeinde gestaltet. Jede Gemeinde war wie eine kleine Republik, sie lebte in ihrer Art und ihrem Brauch und hielt zu ihrer Tradition. Eine stand frei neben der anderen. Um so bemerkenswerter und bewunderungswürdiger ist es, wie sie in dieser Freiheit und aus dieser Freiheit hervor die Formen eines lebendigen Zusammenhangs und einer wirksamen Zusammenarbeit gewonnen haben. Gemeindetagungen, Synoden traten zusammen, ohne einen anderen Auftrag als den, den sie sich selber gaben, um den Sorgen aller ins Auge zu sehen, den Nöten | einzelner oder vieler zu begegnen, den gemeinsamen Aufgaben gerecht zu werden, um die Beschlüsse zu fassen, die der Tag oder die der Wandel der Zeit erforderte. Keine andere Autorität waltete hier als die, welche der gute Wille schuf und der Erweis der Vernünftigkeit sicherte. Persönlichkeiten, in denen sich Wissen mit der Einsicht einte, taten das Ihre dazu. Keine Obrigkeit ordnete an. Die Ordnung war in der Freiheit gegeben und verbürgt. Ein in dieser Art Neues trat damit in die Existenz dieses Volkes ein; es hat seine Dauer behalten und immer wieder die Existenz gefestigt. In den Gebieten der Sephardim zeigte die Entwicklung der Verfassung oft mehr den regionalen Zug. Die einzelnen Machtbereiche innerhalb des Imperiums konnten leicht auch zu Bezirken für die Verwaltung der Gemeinden werden. Ein psychologischer Grund machte sich hier auch geltend. Je mehr in einem Staat oder einem staatlichen Gebilde den Menschen dieses Volkes der bürgerliche Anspruch gekürzt wurde, desto eifriger waren sie darauf bedacht, der Gemeinde, in der sie den Platz ihres eigenen Rechtes und das Recht auf den eigenen Platz besaßen, eine Selbständigkeit zu sichern. So war es in Aschkenas gewesen, und um so bezeichnender, wie gesagt, ist es, daß trotzdem eine freie Zusammenordnung immer wieder ihre Form fand. In den sephardischen Ländern konnten diese Menschen zumeist in dem Gefühl irgendeiner Teilnahme an einem Rechte leben. Hier fügte es sich leichter und fast von selbst, daß
261
166
167
168
die einzelnen staatlichen Machtgebiete auch zu Gesamtbezirken der Gemeinden wurden. Männer dieses Volkes, die am Hofe des Herrschenden angesehen waren, wurden damit auch zu Oberhäuptern der Gemeindegesamtheit. Durch eines Herrschenden Gnade waren sie dazu berufen, und sie blieben doch, und das ist hier das Beachtenswerte, in allen Tagen die Männer dieses Volkes. Sie lebten in ihm, nicht vor ihm oder über ihm. Zudem waren sie fast alle | Männer eigener Bedeutung; der Respekt konnte sich ihnen zuwenden. Die Einheit der Existenz blieb gewahrt. Trotzdem bestand hier ein Unterschied, der ein geschichtlicher geworden ist, zwischen den beiden großen Gebieten dieses Volkes. In der Wissenschaft von Torah und in der Mystik und ihrer Chochmah konnten die zwei Besonderheiten einander ergänzen und in dieser Ergänzung neue Fruchtbarkeit schaffen. Für die Wege, in denen innerhalb der zwei Imperien der Zusammenschluß der Gemeinden seine Richtung gewann, die autoritäre hier und die der Autonomie dort, war dies kaum möglich. Es hat sich so, auch in einzelnen tragischen Geschehnissen, gezeigt, als am Beginne des vierten Jahrtausends dieses Volkes vertriebene Sephardim sich auf altem aschkenasischem Boden neue Wohnstätten bereiteten. Große Persönlichkeiten waren, in alten und neuen Tagen, oberhalb der Unterschiede und der Gegensätze gewachsen; sie erlebten immer die Einheit der Existenz. Für die Kleineren, welche ja kleiner sind, weil sie in sich gespalten sind, wird vieles zur Spaltung. Doch das ist das Wundersame und Bedeutsame in der Geschichte dieses Volkes, daß in ihm die großen Menschen sich immer durchgesetzt haben. Sie gaben die letzten, die bestimmenden Antworten. Ihre Geschichte ist, trotz allem, zur Geschichte dieses Volkes geworden. Das dritte Jahrtausend dieses Volkes ist so zur Epoche der Aschkenasim und der Sephardim geworden. Durch die Grenzen von Glaubensimperien, die sich gegenüberstanden, waren sie getrennt. Auf verschiedenem Boden, in einer verschiedenen Atmosphäre haben sie eine vielfach verschiedene Entwicklung erfahren. Wie sie trotzdem in der Einheit der Existenz blieben, ohne je zu zweifeln, ohne je zu schwanken, wie sie innerlich zueinanderkamen, wie sie sich zu dem, was mehr als | alle Organisation ist, zu einem Ganzen und seiner organischen Einheit zusammenfügten, das gab dieser Epoche den Gehalt und die Fruchtbarkeit, die Kraft und die Dauer, so daß sie fortbestehen und wiedergeboren werden konnte. Seelisch und geistig sind die beiden, die Aschkenasim und die Sephardim, immer neu im Gange der Zeiten einander begegnet. Im-
262
mer wieder, seit altem, hat dieses Volk die Begegnungen auch in seiner Mitte erfahren, und auch sie sind ihm zur Geschichte geworden. Von einem Gleichen weiß zwar, mehr oder weniger, jedes Volk. Innerhalb eines jeden treffen gewissermaßen der Boden, der den einzelnen oder die Gruppe geboren hat, und der Kreis der Gesamtheit, in den sie hineingestellt sind, in ihrem Empfinden und Denken freundlich oder feindlich zusammen. Heimatstätte und Land, Stätte der Unmittelbarkeit von der Kindheit her und der staatliche Kreis, der sich späterhin erschließt, finden einander oder stoßen aufeinander. Aber dieses Volk hat dies mehr noch als andere und in fast Stetigerem erlebt. Von Anfang an war es so, von jenen Tagen an, da Ephraim und Jehudah, das Nordreich und das Südreich, einander gegenübergestanden hatten, und dann die Zeit hindurch, in der das Mutterland und die Kolonien, der Staat und die vielen Gemeinden im Osten und Westen von ihm ihr starkes Leben hatten, Samen voneinander empfingen und Frucht einander gaben. So war es jetzt wieder, als das alte Mutterland das alte selbständige Dasein verloren hatte und das Volk ein Volk von Kolonien ohne Mutterland, von Gemeinden fern vom alten geschichtlichen Boden geworden, als es zwischen die zwei großen Glaubensimperien, zwischen welche die Welt aufgeteilt schien, nun selber, so mußte es erscheinen, aufgeteilt war. Seine Geschichte, so dünkte es jetzt, war eine Geschichte von Sephardim und Aschkenasim geworden. Ein anderes Volk hätte solches nicht bestanden und hätte | es wohl kaum bestehen können. Für dieses Volk ist solche Trennung, aus der eine so bezeichnende Aufgabe aufwuchs, zur tiefen inneren Begegnung geworden. Schon das ist ein Großes, und eine Mahnung spricht auch daraus, daß die alte Sprache nie aufhörte, ihnen ihr gemeinsames Besitztum zu sein. In ihr konnten sie immer beten und dichten und denken. Aber ebensoviel bedeutet die Tatsache, daß die zwei Gesonderten nie darin geschwankt haben, sich als ein Ganzes, als eine Einheit zu empfinden und zu erkennen, als eine Ganzheit und Einheit nicht nur vermöge der Vergangenheit, sondern ebenso kraft der Gegenwart und kraft des Willens zur Zukunft, daß sie so immer neu einander begegnen und einander ergänzen mußten. In dem großen Wunder, als welches sich die Geschichte dieses Volkes darbietet, ist auch sein drittes Jahrtausend, diese Epoche der Aschkenasim und der Sephardim, ein besonderes Wunder noch, »Wunder im Wunder«, »ness betoch ness«, wie die alte Haggadah das Paradoxe benannt hatte. Aber wie immer man es ausdrücken mag – man ist oft geneigt, das, was in der Geschichte anderer Völker fast als ein Wunder angesehen würde, im Leben dieses Volkes als ein
263
169
170
171
Selbstverständliches zu betrachten. Auch diese Epoche, als Tatsache wie als Leistung, stellt sich als ein Außerordentliches an geschichtlicher Wirklichkeit und geschichtlichem Vollbringen dar. Auch darin haben beide den Willen und die Kraft bewiesen, eigene Geschichte zu schaffen, Geschichtspersönlichkeit, Subjekt der Geschichte zu bleiben – sie, von denen man so oft und bisweilen so gern behauptet hat, daß sie mit dem Aufhören des selbständigen Staatswesens die Möglichkeit und dann den Willen und dann die Fähigkeit dafür eingebüßt hätten. Dieses Volk ist Subjekt seiner Geschichte geblieben, niemals bloßes Objekt geworden. In wenigem offenbart sich geschichtliche Unabhängigkeit so lebendig wie in dem Ver|mögen, Einheit der Sorge und Einheit der Hoffnung, diese große messianische Einheit, aufrechtzuerhalten, um sie zu erneuern und zu vererben. Das hatten die Propheten gelehrt: die Zukunft in die Gegenwart eintreten zu lassen und auch aller Vergangenheit die Zukunftsbedeutung, diese Bedeutung eines Beginnes, eines Zugangs zur Zukunft zu geben. Die Zukunft, die Sorge für sie, die Hoffnung auf sie, bestand unerschütterlich als die eine und schuf in allen die unerschütterliche Gewißheit, diese innere Einheit aller, ohne die es keine wahre Geschichte gibt. Auch in den Jahrhunderten, welche verlangten, in den zwei getrennten Imperien zu leben, und Besonderheit hier und Besonderheit dort entwickelten, ist die Einheit in aller ihrer Außerordentlichkeit die große Selbstverständlichkeit geblieben. Ein Weiteres ist hierbei zu beachten. Die unterschiedene Art der Aschkenasim und der Sephardim erstreckte sich auch zu einem Unterschied im Wirtschaftlichen hin. Und das Wirtschaftliche, auch dies ist hier zu beachten, bewirkt und bestimmt nicht sowohl das Individuelle als vielmehr den Typus. Das Individuelle ist eine Abwehr des Typischen, und das Typische ist die stete Bedrohung des Individuellen. Persönlichkeiten verstehen einander schließlich immer, wenigstens im Letzten und Eigentlichen; Typen erfassen und vertragen sich nur schwer. Je mehr Individuen, desto mehr innere Einigkeit und wirksame Gegenseitigkeit; je mehr Typen und je typischer die Typen, desto mehr innerer und äußerer Zwiespalt. Das Individuelle holt seine Kraft aus dem Seelischen, aus diesem Urgrunde, in welchem Wollen, Empfinden und Denken in einer Einheit sind oder wieder eines werden. Das Typische läßt das Seelische oft verkümmern, es ist die starre Kruste, die sich um das Menschliche, Persönliche legt und | schließlich es erdrücken kann. Das Individuum hat die vielen Fragen, und die Antwort
264
wird ihnen wieder zur Frage; der Typus kennt nur seine Antworten, die typischen Antworten, und die bezweifelnde Frage bedeutet ihm eine Art von Rückständigkeit. Die Individualität, die Persönlichkeit hat den Sinn für das Besondere, das aus dem Gewohnten Heraustretende, diese Frage an das Übliche; der Mensch, der nur einen Typus darstellt und darstellen will, sieht in der Ausnahme ein Feindliches, einen Zweifel an dem, worauf seine ganze und einzige Sicherheit ruht. Es ist daher beinahe natürlich, daß dort, wo der Typus alles bestimmen soll, dieses untypische Volk, das wie eine stete Ausnahme erscheint, wenig verstanden wird und ein Unbehagen, diesen Anreiz zur Gegnerschaft, weckt. Um so mehr ist es dafür dort, wo die Individualität zur Linie des Lebens und dann des Wesens wird, immer wieder begriffen und anerkannt worden. Auch in diesem Volke hat es Menschen und Gruppen gegeben, deren einziger und ganzer Charakter in einem typischen Gepräge bestand. In späteren Tagen wird es hier und dort sichtbar, aber in früheren ist es gewiß schon so gewesen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse haben in ihrer Zeit und in ihrer Weise dahin gewirkt. Auch in den Besonderheiten von Sephardim und Aschkenasim zeigte es sich. Die einen waren, auf das Ganze gesehen, in das allgemeine Wirtschaftsleben der Länder, in denen sie lebten, aufgenommen worden, und eine gewisse Weite, die ja auch schon der Blick auf die Weltmeere gab, hatte sich entwickeln können. Das Erbe der Kolonie in Alexandrien, deren Schiffe nach Norden und Westen und nach Süden hinausfuhren, setzte sich hier fort. Die anderen, die Aschkenasim, wurden zumeist und mehr und mehr aus dem Wirtschaftsleben des Landes ausgegliedert. Sie mußten einen Wirtschaftskörper für sich bilden, und die Enge war um diesen gezogen. Revolutionierende Methoden sind dann nach und | nach in dieser Enge ausgestaltet worden, um auch hier in einer eigenen Art eine Weite zu gewinnen. Geld wurde aus einem Mittel der Wirtschaft zu einem Gegenstande der Wirtschaft; Engen wurden gesprengt. Diese wirtschaftlichen Verschiedenheiten konnten eine Tendenz zu Besonderheiten und auch zu Sonderungen hin gelegentlich zeigen. In dem allem auch und trotz allem war nach wie vor das Volk das eine Volk, und es empfand seine Einheit als Gewißheit seines Lebens und als Verbürgung seiner Zukunft. Als sichtbares, faßbares Zentrum konnte, wie gesagt, das eine Mutterland keine Kraft mehr geben. Um so stärker und lebendiger wurde Zion die ideale Mitte, von der die Ströme der einen Mahnung und der einen Zuversicht zu allen Seelen hinfluteten. Zion wurde zu jener Poesie, welche, nach dem Worte des Aristoteles, etwas »Wirksameres und auch Philoso-
265
172
173
phischeres als die Geschichte« ist. Ganz wie das Einzelleben ist auch die Geschichte ein steter Kampf zwischen Poesie und Prosa. Von Zion und »um Zions willen« schwieg man nie, für Zion beteten und von Zion dichteten sie alle in Aschkenas und in Sepharad. Die Geschichte erhielt damit die Weite des Horizontes, die dem geschichtlichen Atem den Raum gab, diese Kraft, diese Poesie, welche aus der Ferne kommt. Man war von den Grenzen, welche die Imperien zogen, nicht umschlossen. Gewissermaßen auf dem Wege zu Zion hin, auf diesem Wege von dem, was sie erfuhren, zu dem, was sie ersehnten, hin, in ihrem geschichtlichen Raume besaßen diese Menschen die großen, die universalen Persönlichkeiten, Persönlichkeiten des Geistes und des Charakters, aber auch Persönlichkeiten des Handels. An ihnen brach sich und zerbrach alles Trennende, alles bloß Typische. Ob sie im Norden oder im Süden geboren waren, sie gehörten in gleicher Weise dem Süden und dem Norden an. Eine Kraft der Einigung ging von ihnen aus. | Hier bestand die Grenze nicht, welche die Imperien eingezeichnet hatten. In diesen Männern sprach – und vermöge dessen waren sie die Männer dieses Volkes – der Gesamtgeist, der allein jeder Besonderheit ihren geschichtlichen Platz und damit ihr Recht und ihre Pflicht gab. Der Wille zum Reiche Gottes, dieser Wille, zu ordnen und zu einigen, offenbarte sich in diesen Männern, in jedem von ihnen innerhalb seines eigenen Bereiches. Sie wollten ihr Volk dazu erziehen, daß es in seine Existenz, wie eng der Boden des Daseins auch war, überall und immer den »olam«, die Unendlichkeit und Ewigkeit, eintreten ließ, daß es, wo immer es wohnte, »der Wahrheit, dem Recht und dem Frieden«, dieser sittlichen Unendlichkeit und Ewigkeit, die einer der alten Lehrer »das Fundament des olam« genannt hatte, eine Stätte bereitete. Dazu wollten diese Männer, ob es in Aschkenas oder in Sepharad war, ihr Volk heranbilden. Nicht Herrscher, sondern Lehrer wollten sie daher sein, so wie die Bildner des Volkes in den zwei Jahrtausenden vor ihnen es gewesen waren. Es ist die geschichtliche Leistung des ganzen Volkes selbst, daß solche Männer aus ihm hervorgehen konnten und daß es, früher oder später, diese Männer begriffen und anerkannt hat und damit sie innerlich zu eigen gewann. Das dritte Jahrtausend hat das vermocht, ganz wie die zwei Jahrtausende vor ihm. Auch das war ein Werk für »das Reich des Allmächtigen« und damit ein Werk in seinem Reiche. Ein anderes noch hat dieses Volk damals in sich aufgenommen und zu einem Bestandteil seiner Existenz gemacht: das Buch seiner Gebete. Im Jahrtausend zuvor waren diese Gebete, man könnte sagen,
266
in seiner Mitte erwachsen; sie waren Volksgebete geworden, so wie Volkslieder werden. Jetzt wurden sie geordnet und zusammengefügt, in der Reihe | des Werktags und des Sabbats, der Feiertage und der besonderen Zeiten. So zu einem Buche gemacht und ein Volksbuch, ja das Volksbuch jetzt geworden, war es ein Buch, das jeder, der Kleine wie der Große, der Gelehrte wie der Schlichte, in sich trug. Aus ihm, durch ihn, zu ihm konnte es sprechen. Jede Stunde des Lebens konnte sich in ihm finden und wiederfinden, so daß alles Gewohnte neu werden konnte, von Tag zu Tag, und alles Neue sich in das Menschliche einfügen konnte, das da bleibt, von Geschlecht zu Geschlecht. Aus dem Gesamtleben hervor spricht hier das Einzelleben. Des Lebens, welches das Leben aller ist, wird der Betende sich bewußt. Für sich betet darum jeder hier und doch zugleich für die Gemeinde. Als ihr Priester gleichsam betet er auch, wenn er für sich betet. Das Ich wird zum Wir und das Wir wieder zum Ich. Ein Buch vom Wir und vom Ich ist dieses Buch auch darin, daß dieses Volk und die Menschheit hier zueinander, ja ineinander hinein geführt sind. Denn auch das Volk betet in diesen Gebeten, ob nun der einzelne für sich oder die versammelte Gemeinde sie spricht. Das Gesamte alles Lebens, die Tiefe alles Bestandes, tut sich auf, wenn dieses Volk zu beten beginnt, wenn es, vor Gott stehend, in seinem Flehen und Hoffen sich zu begreifen sucht. Nur aus dem Menschentum hervor kann es beten; für sich und immer zugleich um der Menschheit willen betet es. Als sein eigener Priester tritt es vor Gott hin und zugleich wie ein Priester für die Menschheit. Das eine kann hier nicht ohne das andere sein. Wer an sich nur denkt, vermag nicht, wahrhaft zu dem einen Gotte zu beten. Ihm sagt dieses Buch der Gebete nichts. Diese Gebete wollen die Überwindung der Selbstsucht sein, sei es nun die Selbstsucht des einzelnen oder die, welche meint, eigensüchtig nicht mehr zu sein, wenn sie eine Selbstsucht mit Tausenden ringsumher teilt. Egoismus ist die Andachtslosigkeit des Lebens. | Das so emphatische prophetische Wort »alle« hat in diesen Gebeten seinen vollen, starken Ton. Wir vernehmen ihn in dem Maëstoso des besonderen Gebetes für die hohen, die »ehrfurchtsgebietenden Tage«, den Neujahrstag und den Versöhnungstag. Abschnitt um Abschnitt hebt es in seinem Beginne mit jenem Ruf an – im Hebräischen ist er nur ein Wort, in seiner Kürze nicht gleich kurz wiederzugeben: »Uwechén«, »Sei es draußen, wie es sei, wir beten zu Dir.« Und so ist, wie schon in einem anderen Zusammenhang erwähnt, der erste dieser Gebetssätze: »Sei es draußen, wie es sei, wir beten
267
174
175
176
zu Dir: Gib die Andacht vor Dir, Du, der Du bist, unser Gott, auf alle, die Du gemacht, und die Ergriffenheit vor Dir auf alle, die Du geschaffen hast, und fürchten werden Dich alle, die Du gemacht, und beugen werden sich vor Dir alle, die Du geschaffen, und sie werden alle zu einem Ganzen gemacht sein, Deinen Willen zu tun mit völligem Herzen; denn so wissen wir, Du, der Du bist, unser Gott, daß die Herrschaft Dein ist, die Macht in Deiner Hand, die Kraft in Deiner Rechten und Dein Name ehrfurchtgebietend über allen Deinen Geschöpfen ist.« So ist es der beginnende Satz, und erst nach ihm, als seine Folge, kommt der andere: »Sei es draußen, wie es sei, wir beten zu Dir: Gib Ehre, Du, der Du bist, Deinem Volke, Anerkennung denen, die Dich fürchten, Hoffnung denen, die Dich suchen, freies Reden denen, die Deiner harren, Freude Deinem Lande, Wonne Deiner Stadt und ein Aufsprossen des Glanzes David, Deinem Knechte, und ein Leuchten des Lichtes dem Sohne Isais, Deinem Gesalbten – bald, in unseren Tagen!« Das Wort »alle« ist das erste und bestimmende Wort. So ist es in diesem majestätischen Hymnus, in welchem jede Gemeinde, die ihn anstimmt, wie klein sie sei, zu dem ganzen Volke wird und sich zu dem einen Reiche Gottes bekennt. Und so ist es, um auch dieses hier anzuführen, in dem | schlichten Gebet am häuslichen Tisch, der »Segnung der Nahrung«, dem vielleicht traulichsten, volkstümlichsten dieser Gebete, mit dem traulichen Worte »benschen«, einem Kosewort aus dem lateinischen »benedicere«. Die Familie spricht und singt es, und wie eng es auch um sie herum sein mag, sie ist damit zu einer Gemeinde Gottes geworden. Mit dem Worte »alle«, dem stets wiederholten, spricht auch dieses Gebet zuerst, spricht es, Tag um Tag, aus dem Munde der Menschen im Hause: »Gepriesen seist Du, der Du bist, unser Gott, König der Welt, der da alle die Welt ernährt in Seiner Güte, in Huld, in Liebe und in Erbarmen. Er gibt Brot allem Fleische, denn für immer ist Seine Liebe. Und durch Seine große Güte hat allezeit Nahrung uns nicht gefehlt, und nicht möge sie uns fehlen, niemals, um Seines großen Namens willen! Denn Er ernährt und umsorgt alle, und Gutes tut Er allen, und Er bereitet eine Nahrung für alle Seine Geschöpfe, die er geschaffen hat. Gepriesen seist Du, der Du bist, der da alles ernährt.« »Alle«, »alle«, so erklingt es auch hier immer wieder. Dann erst wird das Besondere und wird das Persönliche laut: der Dank für das, was Gott Seinem Volke gegeben, und für das, was Er dem, der jetzt betet, gegeben hat, und nach dem Danke, nach ihm erst, die Bitte um das, was Er ihnen geben möge. In meisterlicher Komposition, meisterlich in ihrer Schlichtheit, ist immer das eine an das andere und in
268
das andere gefügt. Im Reiche Gottes sollen die Menschen sich wissen, in jedem Hier und jedem Jetzt. Auch deshalb beten sie, damit sie das nie vergessen. Man muß dieses Buch der Gebete kennen, es in dem Ganzen seiner Teile begreifen, wenn man dieses Volk kennen, es in dem Ganzen seiner Züge verstehen will. Dieses Buch ist das Buch der Glaubensbekenntnisse, im Gebete bekennt hier der Mensch seinen Glauben. Alles Glaubensbekenntnis ist hier zugleich, ja fast zuerst, ein Bekenntnis zum Glauben, zu der | Aufgabe, welche Gott stellt, zu dem Standorte, den Er gewiesen hat. Dieses Glaubensbekenntnis ist ein Bekenntnis des Willens. In den Gebeten dieses Buches spricht ein tiefes Empfinden, das seinen Ausdruck sucht, und spricht ebensosehr ein Drang zum Gedanklichen, das seine Sätze formt. Aber in dem allen spricht immer der Wille, welcher verwirklichen will, dieser Wille zu dem einen Gotte, zu Seinem Geheimnis und Seinem Gebote, zu Seiner Verheißung, in der Jenseitiges und Gefordertes eins sind. Nur im Gebete erfaßt die Seele beides in seiner Einheit: das Unergründliche und das Begründete, und es wird zum Letzten des Wissens, zu dem großen Bekenntnis oder, was dasselbe meint, zu der großen Dankbarkeit. Die biblische Sprache hat für Bekennen und Danken nur ein und dasselbe Wort. Dieses Buch der Gebete ist so das Buch der Entscheidung zu Gott. Betend entscheidet sich der Mensch, »was immer draußen auch sei«, für den einen Gott. Im Gebet ist das Bekenntnis, und im Bekenntnis ist die Bereitschaft. Es ist im Innersten die zum Reiche Gottes. Wer die Stimmen des dritten Jahrtausends vernimmt, die Stimmen vom Süden und die vom Norden, der hört dieses alles. Wie ein wundersames »Lied der Lieder« ist es. Bald ergießt sich in ihm die Seele, bald formt sich in ihm der Geist. Bald hat es die Fülle der Worte, Lied um Lied von den Erlebnissen und den Erkenntnissen, bald ist es wie ein Lied ohne Worte, das Lied, welches die Existenz dieses Volkes anstimmt. Alles wird hier zuletzt zum Liede. Auch die Bücher des Rechtes und die von der Philosophie erklingen irgendwie und irgendwo in ihm; denn auch ihr Denken mündet, von wo es immer ausgeht, in die Harmonie des Reiches Gottes ein, dieses Lied aller Lieder. Oft möchte man fast sagen, daß die Logik zur Musik wird. Das Kleine und Kleinliche, das es doch auch hier immer und überall gab, verschwindet hinter dem allem. | Auch dieses dritte Jahrtausend, in dem, was es war, und dem, was es schuf, bezeichnet eine Epoche in der Existenz dieses Volkes – wahre Existenz ist die Einheit von dem, was wir sind, mit dem, was wir
269
177
178
179
schaffen –, eine Epoche, ganz wie jede der beiden vorangegangenen Jahrtausende sie war. Das, was in jenen beiden zuerst gewachsen und dann wiedergeboren war, wurde von neuem jetzt wiedergeboren. Es wurde wiedergeboren, das will sagen: Was dieses dritte Jahrtausend war und schuf, war Wesen vom Wesen des Alten und war doch ein Neues. Denn Wiedergeburt kehrt nicht ein, sondern kommt hervor; sie ist nicht eine Fügung, die beschieden ist, sondern eine Kraft, die sich bewährt. Sie ist die Kraft, durch die das Gewordene zu einem Werdenden wird, das Gewachsene neu wächst, indem es wieder zu blühen beginnt, neue Formen treibt, neuen Ausdruck erlangt. In dem talmudischen Schrifttum ist die Legende, daß eines Tages im zweiten Jahrtausend Moses – »moscheh rabbenu, Moses, unser Lehrer« – wieder zur Erde gekommen und in das Lehrhaus des Rabbi Akiba eingekehrt sei und zugehört und nicht begriffen habe, was dort gelehrt wurde. Er hätte es nicht begriffen, bis ihm gesagt wurde, Torah des Moses sei das gewesen, was er gehört habe. Nun habe er es verstanden und dankbar sein Eigenes deutlich wiedererkannt. In der Form der Legende ist hier gesagt, was Wiedergeburt ist. Auch in Worms am Rhein, wo Rabbi Salomoh Jizchaki aus Troyes, Raschi genannt, lehrte, oder in Fostat in Ägypten, wo Rabbi Moses Maimuni aus Cordova, Rambam genannt, sein Haus hatte, hätte im neuen Jahrtausend »Moscheh rabbenu« einkehren können, und dankbar hätte er das gleiche erlebt: das Zeugnis der Wiedergeburt. Auch eine andere Kraft von früheren Tagen her bewies sich wieder, bald durch den Drang des Willens geweckt, bald und häufiger unter dem Zwange der Not. Die Kraft der Koloni|sation lebte fort, diese Fähigkeit, in neuen Boden den alten hineinzutragen, so daß er der bleibt, der er war, die Stärke des Eigenen bewährend, und doch unter neuen Bedingungen, in anderem Erdreich und in anderer Luft, Neues in sich aufnehmen muß. Gemeinden entstanden so, die nicht nur Gemeinden waren, welche dieses andere Land trug oder ertrug, sondern Gemeinden, die einen Wert, einen Gehalt, eine Würde dieses Landes in sich aufnahmen und zugleich den eigenen Wert, den eigenen Gehalt und die eigene Würde ihm zum Besitze werden ließen. Wahre Kolonisation ist eine gegenseitige Bereitschaft, ein gegenseitiges Sichaufnehmen; sie war es von Beginn, oder sie wurde es dazu. Aschkenasim waren so, fast von Geschlecht zu Geschlecht, nach dem Osten gezogen. Zuerst, und auch später immer wieder, führte sie das Verlangen, dort unter neuen Bedingungen eine neue wirtschaftliche Möglichkeit zu finden. Aber zumeist war es der Zug der Vertriebenen gewesen, dem dort eine Hoffnung zu winken schien.
270
Sie schauten nach neuem Boden aus, um Gemeinden wieder aufzurichten. Über die alten Gemeinden war der Fanatismus hergefallen und hatte sein Werk getan. Hier war es der des Glaubens gewesen, dort der des Unglaubens, und zu dem einen wie zu dem anderen hatte sich der der Gier so oft gesellt. Aber keine Gemeinde, so war es der Wille dieser Menschen, sollte untergehen. Wenn nicht an der alten Stätte, so sollte an einer neuen das, was zerstört worden war, zu neuem Leben wiederaufgebaut werden. Keine der alten Gemeinden hat innerlich, geschichtlich ganz aufgehört. Die Chronik der Aschkenasim in dieser Zeit ist ein fast endloser Bericht von heimgesuchten oder verwüsteten Gemeinden. Aber ihre eigentliche Geschichte ist eine andere. Sie ist die Geschichte einer Lebenskraft, die immer wieder Kräfte des Beginnens zeugte. Sie ist, man möchte sagen, die Ge|schichte einer seelischen und geistigen Kraft, welche immer wieder Kräfte des Ausdrucks, der Vergegenwärtigung, der Objektivierung gebar, dieser Fähigkeit, auch in den härtesten Tagen zu sich selbst zu sprechen. Es war ein Kampf ums Dasein, ein Kampf um Luft und Brot des Tages, der geführt werden mußte; aber der Kampf ums Dasein war immer zugleich ein Kampf um die Geschichte. Er war nicht nur ein instinktives Ringen wie das um das tägliche Dasein, sondern ein bewußtes, eines, das in allen Tagen mit deutlichen Gedanken ein Ziel vor sich sah, dem der Kampf galt. Man konnte aus Städten und aus Ländern vertrieben werden, aber niemals konnte man aus der Geschichte vertrieben werden. Wohin immer diese Menschen zogen, ihre Geschichte zog mit ihnen, und Geschichte war hier nicht bloß Tradition, so treu diese gewahrt wurde, sondern Geschichte war hier die Zukunft, die in die Gegenwart eintritt. Sie blieb der Weg und blieb die Botschaft. Jede Gemeinde war ein besonderer Teil dieser Geschichte, trug sie und wurde von ihr getragen, und darum hörte sie nicht auf. Gegen Ende dieses dritten Jahrtausends kam auch für die Sephardim die Zeit der Wanderung. Sie drängte sich im Entscheidenden in wenige Jahre zusammen. Ein ganzes Volk mußte fortziehen, damit das Glaubensimperium seinen Sieg zeigte. Sie zogen nach dem Osten, ganz wie die Aschkenasim, aber sie blieben im Süden, ganz wie die Aschkenasim im Norden geblieben waren. Sie nahmen eine Sprache mit sich, die Sprache des Landes, in dem sie so viele Generationen hindurch ihre Gemeinden besessen hatten, und diese Sprache beharrte in ihrer Form, während die der Aschkenasim auf dem neuen östlichen Böden neue Form voller Ausdrucksfähigkeit, fast eine neue Sprache entwickelte. Die Se-
271
180
181
182
phardim des Landes Sepharad sind damals fortgezogen, und das Land sank für sie in eine Vergangenheit hinab – es gehörte jetzt ganz dem | anderen Imperium zu; aber diese große Vergangenheit behielt eine Wohnung bei ihnen. Aschkenasim sind damals aus Aschkenas hinausgezogen, und dieses Land blieb ihnen eine Gegenwart, und auf den Straßen, die von hüben nach drüben führten, zogen Menschen von hier nach dort und von dort nach hier. Dort und hier waren sie in demselben Imperium. Überall und immer wieder erfuhr auch damals dieses Volk, wieviel in seinen Geschicken, auch in denen, die zu Wanderungen wurden, von dem Zufall abhing, welcher Menschen erhob und stürzte. Im dritten Jahrtausend hat der Tag, der an ein in der Bibel stehendes Buch, das Buch Ester, dieses Buch vom »Zufall«, anknüpft, in dem »Purimtag« die Stunden für ein vergnügtes Scherzen bereitet, das die Welt draußen verschwinden läßt. Man lachte über die Verfolger, der Galgen wird zur Komödie, die dunklen Wolken, die sich herniedergesenkt hatten, sind vergessen. Dieses Buch Ester ist merkwürdig schon an sich: Es ist ein Buch ohne das Wort »Gott«; seine Kapitel scheinen nicht zu wagen, von Gott zu sprechen, da sie den »Zufall« walten lassen. Eigentümlich ist es auch darin, daß es Wert darauf legt, zu betonen, daß »der Bösewicht«, Haman, kein Perser ist. Merkwürdig wird es aber dadurch besonders, daß es in der Bibel steht, ein Buch vom Zufall und seinem Auf und Nieder, nicht vom »Zeichen«, diesem Wunder und seinem Wege. Aber es ist in der Bibel, und biblisch sollte es erfaßt sein. Es will an Zweifaches erinnern: daran zunächst, daß noch lange hin Lüge und Eitelkeit, die ja beide aus derselben Wurzel herkommen, gegen dieses Volk den Finger ausstrecken und den Mund auftun werden. An den ernsten Tagen des Jahres stimmte dieses Volk die große Litanei des Bekenntnisses und der Bitte an, in der jeder Satz mit den Worten anhebt: »Unser Vater, unser König«, »awinu, malkenu«. Vier Sätze folgen in ihr aufeinander: »Unser Vater, unser König, mache zu|nichte die Gedanken unserer Hasser!«, »Unser Vater, unser König, vereitele den Ratschluß unserer Feinde!«, »Unser Vater, unser König, nimm jeden Bedränger und Verleumder hinweg von uns!«, »Unser Vater, unser König, verschließe den Mund unserer Verleumder und Ankläger!« Das Buch Ester zeigt, was alles in diesen »Anklägern« und hinter »Verleumdern« sich abspielt. Wie eine Rechtfertigung der Sache dieses Volkes, fast wie ein Trost konnte das sein. Das andere, woran das Buch Ester erinnert, ist in dem Satze gesagt: »Und alle Diener des Königs, die im Tore des
272
Königs waren, beugten das Knie und bückten sich vor Haman; denn so hatte es ihm der König zuerkannt. Und Mordechai beugte nicht das Knie und bückte sich nicht« (3,2). Zu dem dieser Satz sprach, der wußte, wo allein er seinen Platz haben konnte, von dem aus deutlich der Weg erkennbar war. Auch seinen Platz nahm das Volk auf seinen Wanderungen gleichsam mit. Ihn hat es nirgends und nie verloren, ganz wie es seinen Weg und seinen Trost nie verloren hat. Hiervon erzählt, in lebendiger Eindringlichkeit, dieses dritte Jahrtausend, diese Zeit, welcher später ein Annalist des Imperiums von seinem Standpunkt aus als das Mittelalter bezeichnet hat. Für dieses Volk war sie eine Epoche des Schaffens und des Ertragens. Auch das Ertragen, wenn es aus einer Überzeugung seine Kraft zieht, hat etwas Schöpferisches, hat sein Fruchtbares, es erzeugt Ideen der Zukunft, von denen her neue Wirklichkeit sich entfalten kann. Die Existenz selbst wird im Ertragen schöpferisch. Andererseits bedeutet alles Schaffen ja zugleich ein Ertragen; es erfordert die sich dehnende und weitende Geduld. Wer nicht zu ertragen vermag, ist des Vollbringens nicht fähig. Auch dieses dritte Jahrtausend ist der großen geschichtlichen Leistung, in der das Ertragen und das | Schaffen ineinander übergehen, dieser Leistung, welche dieses Volk kennzeichnet, gewachsen geblieben. Wer diese Epoche in der Gesamtheit ihres geistigen Schaffens zu überblicken sucht, wird beinahe von einem Staunen erfaßt. Welcher Reichtum an Werken des Rechtes und der Poesie, der Philosophie und der Mystik, der Sprachforschung und der Vergegenwärtigung des Früheren, Werken der Ergründung des Ganzen und Werken der Weisheit des Tages! Es ist ein Reichtum in der Fülle und ein Reichtum ebenso in den Besonderheiten. Und das alles ist getragen und genährt von einer wundersamen Kraft der Existenz, die sich ebenso in dem Willen und der Fähigkeit zur Einheit wie in der Fähigkeit und dem Willen zu Mannigfaltigkeit offenbart. Durch den Osten und den Westen, durch den Norden und den Süden waren diese Menschen vielfach verschieden geworden, und sie konnten an ihren Verschiedenheiten festhalten, weil sie in der Einheit lebten. In dem Gebete jedes Tages beteten sie alle: »Gepriesen seist Du, der Du bist, unser Gott und Gott unserer Väter, Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs.« Wo immer und wie immer sie waren, wie gesondert auch immer, sie wußten sich in dem ganzen »Hause Israel«, in der einen Existenz und der einen Geschichte, sie beteten zu dem »Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs«. Auch der Proselyt sollte, gemäß ei-
273
183
184
ner Entscheidung des Moses Maimonides, so beten. Wie in diese Religion, so trat er in diese Existenz und diese Geschichte ein. Es war eine Existenz und eine Geschichte um des Reiches Gottes willen und damit doch auch im Reiche Gottes, zu jeder Zeit. Der Weg war ein Weg zum Gottesreich und damit doch schon zugleich ein Weg in ihm. Auch das ist eine der Paradoxien dieser Religion. Aber so ist es doch: Die Erwartung, diese Geduld, welche emporträgt, ist schon eine Verwirklichung, der Weg selber schon ein Trost. So erkannte es die | Philosophie, so erlebte es die Mystik, so erfuhr es die Frömmigkeit, die das Gebot des Ewigen zu erfüllen suchte. So hatte die Zeit der Propheten es in so manche Seele eingepflanzt, so hatte die Zeit der Lehrer es in das Volk hineingetragen, so hat diese dritte Epoche es nun ihren Menschen gegeben – auch hier wieder Wachstum und Wiedergeburt und Wiedergeburt.
274
V. Die Hoffnung
Für den einen Gott gegen die Götter, für den einen Weg entgegen den Wegen, für das eine Reich oberhalb der Reiche, für die eine Hoffnung über den Hoffnungen hat dieses Volk von Geschlecht zu Geschlecht einstehen sollen. »Ihr seid Meine Zeugen, ist das Wort dessen, der ist« [Jes. 43,10], so hatte der Prophet des Exils ihm die Richtung gewiesen. Für dieses eine hat es gekämpft. Die ringende Seele hat den Geist fruchtbar gemacht und fruchtbar erhalten. Durch dieses eine hat es sein Leben behauptet, und die Kraft hat immer neue Form geschaffen. Um dieses einen Ja´s willen hat es so manches Nein sprechen müssen; weder im Ja noch im Nein durfte es müde werden. Durch dieses eine ist es das geworden, was es wurde, und es durfte nicht aufhören zu werden, in wieder andere Welten einzutreten, um seine Epochen zu haben. Geschichte lebt und wird fruchtbar nur, wenn sie der Epochen fähig ist. Reihen sich in ihr nur Geschehnisse aneinander, jetzt die von Siegen, dann die von Niederlagen, jetzt die eines Knechtes, dann die eines Geknechtetwerdens, so erschöpft sie sich schließlich in sich selbst. Es kann eine epochenlose Fortdauer geben. Auf das Letzte, das Messianische hin gesehen, ist alles große, geschichtliche Leben ein Kampf um die Epochen. Schon das individuelle, persönliche Leben, dieses | Ringen des Menschen um sich selbst, erhält seine Prägung dadurch, daß es seine Lebensalter, seine Epochen gewinnt. Eine neue Epoche kann für eine Gemeinschaft, ein Volk, eine Völkergruppe beginnen, ganz wie für den einzelnen, wenn eine neue Frage, eine neue Aufgabe an sie dadurch herantritt, daß irgendwo ein neues Prinzip aufgestellt, ein neuer Standort eingenommen wird. Alte Formen der Antwort reichen nun nicht mehr aus, alte Arten der Beziehung sind nicht mehr anwendbar oder genügen nicht mehr. Entscheidend wird jetzt, ob das Gewachsene, das Gewordene weiter zu werden, weiter sich zu gestalten vermag, ob eine neue Form des
275
187
188
189
Denkens sich zu entwickeln, ob die alte, die bleibende Treue dem Neuen den Ausdruck zu geben imstande ist. Wird dies vermocht, dann beginnt eine neue Epoche, oder, was dasselbe meint, eine Kraft der Wiedergeburt beweist sich. Versagt sich diese Kraft, diese Fähigkeit zu einer neuen Epoche, dann setzt eine Zeit der Erstarrung ein. Wiedergeburt ist der Beginn, der Durchbruch, Epoche ist die Erstreckung, die Weite, welche das Wiedergeborene sich in allem Bereiche seiner Möglichkeiten dann bereitet. Mit seinem vierten Jahrtausend hebt eine neue Epoche dieses Volkes an, eine, die noch nicht beendet ist und daher in ihrem Letzten noch nicht übersehen werden kann. Die vorangegangenen drei Jahrtausende sind deutlich erkennbare Epochen. Doch sie lassen sich nicht mit einer peinlichen Arithmetik festlegen. Wahre Geschichte hat immer ihre Übergänge, in denen aus dem Gewordenen hervor sich das Werdende zu bilden beginnt. Nur Geschehnisse haben ihre Plötzlichkeiten, im Kommen sowohl wie im Gehen. Es gibt in der Geschichte hier und dort Zeiten auch, in denen sich kein lenkendes Denken offenbart, gewissermaßen Tage einer Bewußtlosigkeit, ganz so, wie im körperlich-seelischen Leben des einzelnen ein Schlag, ein Stoß, ein Erschrecken das bestimmte und bestim|mende Denken für Stunden ausschaltet. Aber hier wie dort arbeiten unter der Bewußtlosigkeit Willenskräfte weiter, und es gibt im Menschlichen keine Willensbewegung, in der nicht mehr oder weniger ein Denken sich regte. Solche Tage, in denen sich ein Dunkel auf Körper und Seele herabsenkt und nur der Wille mit dem Denken, das ihm innewohnt, noch arbeitet, sind nicht selten vor den Perioden, aus denen sich die Epoche zusammenfügt. Auch deshalb gibt es hier nicht die starren geradlinigen Einschnitte, durch die eines sich vom andern vor dem Blicke sondert. Aber wenn das Gesamte des Gefüges betrachtet wird, dann heben sich die einzelnen Jahrtausende klar ab. Es ist ein Wundersames in der Geschichte dieses Volkes, daß jedes seiner Jahrtausende eine Epoche darstellt, daß jede seiner Epochen ein Jahrtausend hat – »Tage« vor dem, der ist, wie das Gebet des Moses, des Mannes Gottes, sie genannt hat [Ps. 90,4]. Sie sind die Epochen eines Kampfes für das eine und damit die große Epoche einer Treue. Es ist immer das eine, denn wer den einen Gott, Ihn, der ist, bekennt, der bekennt sich damit zugleich zu dem einen Wege, zu dem einen Reiche, zu der einen Hoffnung. Im Wandel der Zeiten beanspruchte bald dieses, bald jenes den entschiedeneren Ton. Im ersten Jahrtausend verlangte so die Einheit Gottes gegenüber den aufgerichteten Vielheiten von Göttern die ganze Kraft des Hörens und Begreifens. So forderte das zweite Jahrtau-
276
send vor allem den Blick für den einen Weg, von dem die vielen Wege beirrend ablenken wollten. So hat das dritte Jahrtausend vor die Idee die Wahl und die Tat der Entscheidung zwischen dem einen Reich und einem der Reiche hingestellt. Und so kann gesagt werden, daß es im vierten Jahrtausend die vornehmliche Aufgabe wurde, an der einen Hoffnung festzuhalten gegenüber den vielen Hoffnungen, die immer neu einer Erfüllung so nahe schienen. Es war und blieb, von Geschlecht | zu Geschlecht, im Grund und Ziel immer das eine und selbe: der eine Gott und daher der eine Weg, das eine Reich, die eine große Erwartung. Aber das Neue, das die Jahrhunderte jetzt brachten, bewirkte es, daß das Problem der Hoffnung vor allem hervortreten mußte. Man hat oft nach dem bezeichneten Unterschiede zwischen dem Menschen und dem Tiere gesucht. Man hat ihn darin gefunden, daß der Mensch »das Wesen ist, welches Werkzeuge verfertigt«, oder auch darin, daß er das Wesen ist, welches von Großeltern und Enkeln wisse. Man könnte auch sagen, um den Unterschied in dem Seelischen aufzuzeigen: Der Mensch ist ein hoffendes Wesen. Er macht den Wunsch, der das Ferne heranholen möchte und der die Triebkraft des Willens ist, auch zum Motiv des Denkens und der Phantasie. Er sucht die trennenden und vielleicht hemmenden, vielleicht vereitelnden Zwischenräume, die dämmernd vor ihm liegen, sinnend doch zu überwinden, und er macht eine Ferne zu einer greifbaren Nähe. Besonders in einer religiösen Welt, da sich in ihr doch Nähe und Ferne verbinden wollen, leben überall die Hoffnungen auf. Der große Judenapostel aus diesem Volke, Paulus, hatte recht: Wo Menschen glauben und lieben, dort hoffen sie. Doch über den Hoffnungen in der Religion, die der wechselnde Tag wechselnd aufsprossen läßt, steht die eine Hoffnung, die religiöse Erwartung, diese unerschütterliche und unbeirrbare Gewißheit, daß der Weg, der eine Weg, sein Ziel, sein eines Ziel, hat, daß es nicht vergeblich noch unnütz ist, »mit Gott zu wandeln«. Das Motiv der Hoffnungen ist der Wunsch, der reine oder trübe, der sich an Erscheinungen, wirklichen oder vermeintlichen, nährt. Der seelische Grund der einen, der religiösen Erwartung ist die tiefe Gewißheit, dieses tiefste Wissen, in welchem die Endlichkeit etwas von der Kraft der Ewigkeit erfährt, diese Gewiß|heit, daß das Ziel feststeht, in welchem sich alles erfüllt, und daß, wo das Ziel feststeht, es den einen Weg gibt, der zu ihm hin leitet. Das ist die Erwartung aus der Glaubenskraft dieses Volkes, die eine Hoffnung über die Hoffnungen, die, welche alle Menschen in sich begreift und eint. Neben dem einen Gott können nicht »andere Götter« sein; hier ist weder ein Kompromiß noch eine Erweichung, noch irgendeine Ab-
277
190
191
192
lenkung möglich. Aber neben dem Wege, dem einen, der »von Geschlecht zu Geschlecht« gilt, der die einzige gerade Linie ist, welche Geschlechter verbinden kann, schlängeln sich Wege, auf denen eine wandelnde Zeit uns Menschen auf dieser Erde anspricht und mit mancher Stunde aufruft. Menschengeschichte hat die sich windenden Wege. Wenn nur die Seele des Menschen lebendig bleibt, und sie bleibt lebendig, wenn sie den einen Weg, den Weg zu dem einen Ziele, nicht verliert! Unter dem Himmel des einen Reiches sind die Reiche dieser Erde. In ihnen hat das Werk der Menschen seinen Platz, und sie wollen ihm selber auch gebieten, bisweilen seine Seele auch bestimmen. Des religiösen Menschen Leben kann bisweilen ein Kampf, ein ehrlicher, sauberer Kampf gegen den Staat werden, und immer, früher oder später, wird dieser Kampf zu einem gebenden und empfangenden Einvernehmen mit dem Staate. Wenn nur die Menschen über dem Leben in den Reichen nicht des Wissens von dem einen Reich und des Erlebens seiner Kraft ledig werden! Wir Menschen wandeln durch Wünsche hindurch. Sie beginnen in uns und gewinnen dann ihr eigenes Dasein in dem, was sie aufzeigten. Und sie bleiben doch ein Teil unseres Daseins, ein Teil unseres Ichs, gleichsam unser Leben in der Ferne. Die Hoffnungen, mannigfach wie die Tage, verbinden die beiden immer von neuem, so daß Ich und Leben in der Ferne und Ich und Leben in der Nähe immer wieder eines werden. Ohne die Hoffnungen würde das Ich sich spalten und das Leben schließlich zer|brechen. Der Mensch ist ein hoffendes Wesen, und da der Tage viele sind, so sind der Hoffnungen so viele. Wenn nur nicht die vielen Hoffnungen, die aufsteigenden und versinkenden, mit ihren Nähen hier, den scheinbaren oder greifbaren, mit ihren Erfüllungen dort, den vermeintlichen oder tatsächlichen, zuletzt der einen Hoffnung den Raum in der Seele beengten und schließlich nähmen! Wenn nur die Kraft der großen Erwartung, die eine Welt, einen »olam« in das Leben, in das Ich des Menschen hineinführen will, nicht unter allen den Hoffnungen, die sich regen, eines Tages versickerte und schließlich entschwünde! Dieses Volk der großen Erwartung, der Verneinung und des Verzichtes um des einen Großen willen, blieb immer auch ein Volk der vielen und wechselnden Hoffnungen. Zu oft ziehen die Erfüllungen der Wünsche, die seine Menschen und seine Gemeinden für sich hegten, zur Ferne hin, als daß es je ohne die Hoffnungen hätte sein können, welche die Ferne zu überwinden suchten. In kaum etwas anderem hat es seine Unermüdlichkeit so sehr gezeigt wie in seinen Hoffnungen, bald in denen des Hinausziehenden, dem der neue Boden ein Neues, ein Besseres verheißt, bald in denen des Ausharren-
278
den, der über dem alten Boden einen neuen Tag aufsteigen zu sehen meint. Beides hat es darum immer verstanden: das Fortgehen, um den Hoffnungen zu folgen, und das Dableiben, um auf die Hoffnungen zu warten. Und vor allem lebte in allen ein Erhoffen, das für die Kinder und Kindeskinder. Die seelische Geschichte vieler dieser Menschen ist, von Geschlecht zu Geschlecht, die Geschichte eines Ertragens und Entsagens und Verzichtens um der Kinder und Kindeskinder willen, damit sich an ihnen die Hoffnungen erfüllten. Man lernte, ja man wurde gewohnt, im Kommenden zu leben, dem eigenen engen und kurzen Dasein eine Weite des Raumes und eine Ferne der Tage zu bereiten. Die Geduld bewahrte, auch unter allem | Niederdrückenden, eine Spannkraft; sie erhielt eine Aktivität, ja sie gewann etwas von der messianischen Dynamik der großen Erwartung – das Land der Kinder »mit der Seele suchend«. Hoffnungen auf Hoffnungen hat das vierte Jahrtausend dieses Volkes vor ihm Jahrhunderte um Jahrhunderte bald hier, bald dort aufsteigen lassen. Aber vorerst war jenes Dunkel noch auf endende und beginnende Tage gefallen: das Dunkel jener Vertreibung der Sephardim aus Sepharad, aus dem Lande, in dem sie schon in den Tagen der Römischen Republik ihre Gemeinden gehabt hatten. Machthaber hatten damals, am Tage des Vertreibungsedikts, ein Urteil gegen dieses Volk auszusprechen gemeint. Sie haben in Wirklichkeit über ihr eigenes Volk einen Spruch gefällt. Die Sephardim nahmen ein reiches Erbe mit, ein Erbe der Wissenschaft und der Poesie, und die Gefahr konnte aufsteigen, daß sie bloß Erben sein würden. Eine stolze Tradition ging mit ihnen, eine Tradition des Geistes und der Haltung, und im Gange der Zeiten konnte es geschehen, daß sie sich in der Tradition erschöpften. Mit ihnen auf ihren mannigfachen Wegen wanderte auch die Sprache des Landes, aus dem sie vertrieben wurden, und ein Geschick konnte es werden, daß sie eine Sprache nur noch wurde, die gesprochen und in der geschrieben wurde, aber nicht mehr eine Sprache war, die um den Ausdruck rang, die mit dem Gedanken kämpfte, um ihn aussprechbar zu machen. Die Sephardim blieben Sephardim, wohin immer ihr Weg sie führte, die vielen zuerst nach dem Osten und die einzelnen dann nach Norden und Westen. Wie zu einem Adelstitel war es geworden. Eine Größe, aber auch eine Gefährdung konnte es bedeuten. Sie blieben Sephardim, aber von dem Lande, von Sepha|rad, haben sie sich geschieden. Es ist kein Zweifel, daß ihr Empfinden und ihr Hoffen im Tiefsten verletzt waren. Es wird erzählt, daß diese
279
193
194
195
Menschen einen feierlichen Bann über dieses Land aussprachen: Niemals mehr sollte einer von ihnen jenen Boden betreten. Vielleicht ist das eine Legende nur, aber dann eine der Legenden, aus denen hervor die innere Wahrheit spricht. Auch das wird berichtet, daß diese Menschen, als sie hinauszogen, Grabsteine aus dem Erdreiche des Totenackers lösten und sie mit sich nahmen: Kein Ruf der Pietät sollte von dort mehr herüberklingen. Es ist möglich, daß auch das eine Legende ist; aber auch in ihr wohnt dann die Wahrheit, die aus der Poesie hervorgestiegen ist. Was diese Menschen bewegte, als sie aus dem Lande fortgingen, in dem seit mehr als anderthalb Jahrtausenden, der Hälfte der Zeit, auf die ihr Volk damals zurückblickte, ihre Gemeinden zu Stätten der Ehre und des Ruhmes geworden waren, das ist in den beiden Erzählungen niedergeschrieben. Auch kommende Geschlechter sollten es wissen, wie diese Menschen, denen die Dankbarkeit ein Stück ihrer Seele war, sich von dem Lande des Undanks schieden. Was sie dem Lande gewesen und was das Land ihnen gewesen war, das alles hatte nun dort keine Stätte mehr. Auf neuem Boden wollten sie neu beginnen. Aber ein Band blieb noch für eine Folge von Generationen bestehen, ein Band, das sie nicht lösen konnten noch wollten, noch durften. Menschen, die die Ihren waren, blieben am Tage des Auszugs zurück. Um bleiben zu können, waren sie vor den Blicken der Menschen von dem Glauben fortgegangen, der vor ihrem eigenen Blikke, dem Blicke der Seele, doch der ihre blieb und bleiben sollte. Sie dachten, daß das, was jetzt verhängt worden war, nichts Endgültiges wäre, daß sie den Tag erleben würden, an dem sie hier in ihr Recht auf das eigene Antlitz wieder eingesetzt würden. Sie mochten auch das Wort des Propheten auf sich deuten: »Gehe, mein Volk, verbirg dich | in deiner Kammer und verschließe deine Tür hinter dir, bis der Sturm vorüber ist.« In ihrer Kammer lebten sie in den Erinnerungen und Hoffnungen, des Tages harrend, an dem sie sich vor den Augen der Welt wieder würden offenbaren können. Die Erzählungen von ähnlicher Not mochten auch vor sie hintreten, von jener Zeit, in der im Reiche des Islams ein heißer Fanatismus – nicht ein kalter wie jetzt – vor die Wahl gestellt hatte, den Glauben zu verlassen oder das Land zu verlassen. Auch damals waren so manche, um Haus und Stätte wahren zu können, von sich selber fortgegangen – für eine Weile, wie sie dachten. Sie hatten in der Tat, als das Dunkel verflogen war, aus dem Scheine, hinter dem sie sich verborgen hatten, zu ihrer Wirklichkeit zurückgelangen können. Sollte es nicht auch ihnen so gewährt sein? Für ihre Brüder, die fortgewandert waren, hocherhobenen eigenen Antlitzes, würden dann sie, indem sie ihr Antlitz
280
verhüllten, den alten Boden gehütet haben. Aber sie harrten, wie sehnsuchtsvoll immer, solchem Tage vergebens entgegen. Er kam nicht, eine Zeit war zu Ende. Die Geschichte dieser »anussim«, dieser »Gezwungenen«, wie ihre Brüder draußen sie nannten, der »Maranen«, wie sie drinnen im Lande hießen, ist ein erschütterndes Kapitel in der ergreifenden Geschichte dieses Volkes. Von einer großen Sehnsucht nach der Treue erzählt es. Nicht ein Glück, sondern ihre Treue ersehnten diese »anussim«, diese »Gezwungenen«, die Treue sollte ihnen und ihren Kindern und Kindeskindern die Erfüllung ihres Lebens sein. Manche wurden des Harrens müde; was sie Tag um Tag umgab und täglich auf sie eindrang, überwältigte sie schließlich. Was Schein gewesen war, wurde ihnen zum Dasein, und sie verloren sich in dem Volke, in dessen Mitte sie bis dahin den eigenen Weg gewählt hatten. In denen, welche ausharrten, erstarkte die Sehnsucht nur noch in dem Dauern der Tage; sie wurde zur Unbeugsam|keit. Ihr Antlitz zeigend, ihren Gott, den Gott ihrer Väter bekennend und preisend, haben viele, viele den Scheiterhaufen bestiegen, diese Sephardim in Sepharad. Im Märtyrertod hatte sich die Sehnsucht nach der Treue erfüllt und war zur Treue, die nur die ganze sein kann oder nicht ist, geworden. Sie hatten, wie das alte Wort sagt, »ihre Seele hingegeben für die Heiligung des göttlichen Namens«. Manchen gelang es, nach Ländern einer Freiheit zu flüchten, damit sie dort frei würden, und Freiheit ist ja vornehmlich eine Freiheit vom Schein. Sie haben dort ihre Gemeinden gegründet. Menschen der Sehnsucht waren zur Freiheit der Treue gelangt. Wir besitzen noch Bilder dieser Menschen, einige von Meisterhand gemalt. Wer sich in die Züge, die sie zeigen, vertieft, der erkennt hier die Züge, welche die Sehnsucht einzeichnet. Aus den Denkerzügen des Baruch Spinoza spricht sie so; ihm war die Sehnsucht, die verkannt wurde, zur Erkenntnis, zur Philosophie geworden. In manchen erstarrte die Sehnsucht, nachdem sie so lange erstarkt war. Sie wurden zu Eiferern – der Zelot ist immer ein Erstarrter –, und sie sprachen den Bann aus, dort, wo ihre Brüder in Ost und West nicht gebannt hätten, manche der einst Gezwungenen wollten Zwingende sein. Aber wer zu sehen und zu hören vermag und darum das Ganze erschaut und das Ganze vernimmt, den spricht nur allenthalben die große, die fast messianische Sehnsucht nach der Treue an. Das große, fast messianische Drama spricht zu ihm, das von diesen Menschen erzählt, in denen die Sehnsucht zur Bewährung geworden ist. Nicht »Furcht und Mitleid« will es wecken wie, nach dem Worte des Aristoteles, die Tragödie der Hellenen, son-
281
196
197
198
dern wie das ganze Drama, die ganze Geschichte diese Volkes, in der es ein Kapitel ist, will es der Aufruf zu dem einen Gotte sein, in dem Glauben, der die große Treue bedeutet. »Wenn ihr nicht glaubt, wird man euch nicht glauben« (Jes. | 7,9), so hatte derselbe Prophet gesprochen, der das Wort von dem Sichverbergen sprach. Dieses Volk hat seinen »gezwungenen« Kindern, da der große Glaube in ihnen war, immer geglaubt. Es hat sie nicht verworfen noch verleugnet, noch hat es sie verkannt. Die tiefe Liebe, aus der Sehnsucht kam, die sie erfüllt und die ihrem Leben den großen Stil, ihrem Erdulden den großen Zug gab, hat immer zu ihrem Volke gesprochen. Ein bleibender Glanz sandte seine Strahlen, erhellend hier und versöhnend dort, zu ihren Tagen hin. Noch im Übergang von Epoche zu Epoche haben die Sephardim weithin auf das Denken und Empfinden in ihrem Volke tief eingewirkt. Von ihnen ist es ganz wesentlich ausgegangen, wenn damals für Generationen der jüdische Mensch ein mystischer Mensch, der »homo mysticus« geworden ist. Schon die Tragödie ihres Geschikkes, in der sich das prophetische Wort von einem »Untergehen der Sonne zur Mittagszeit« [Amos 8,9] darzustellen schien, hat mystische Fragen aufsteigen lassen; das Denken des Tages hatte keine genügende Antwort geben können. Aber noch mehr hat jenes Buch, das einer der Ihren komponiert hatte, um eine mystische »Torah im Mündlichen« niederzuschreiben, das Buch »Sohar«, dahin geführt. Der hebräische Buchdruck, eine Schöpfung der Sephardim noch vor dem Auszuge, der dann in vielen Ländern die Stätten bereitet wurden, hat dieses Buch zu vielen hingelangen lassen. Man kann den Einfluß, den es für mehrere Jahrhunderte ausgeübt hat, kaum überschätzen. Das Geheimnis seines Stils, zu dem es das Geheimnis des Inhalts formte, hat der Existenzform damals einen bestimmten Ausdruck gegeben. Alles im Menschen und rings um ihn her wurde zu einer Andeutung, zu dem Hinweis auf eine andere, eine bleibende Welt, in der das Geheimnis seine Wahrheit, | seine Wirklichkeit enthüllt. In der Welt drunten, in der alle Wahrheit und Wirklichkeit zur Verborgenheit wird, wohnte dieser mystische Mensch, in der höheren Welt lebte er. Dort hatte er seine echte Existenz. Im Heiligen Land ist damals in Saphed, in Galiläa, unternommen worden, eine Stätte des Wohnens zur Stätte mystischen Lebens zu machen. In mystischen Ideen aus Sepharad hatten Menschen sich dort zusammengefunden; zu einer Gemeinde der höheren Welt hatten sie sich zusammengeschlossen. Von Sabbat zu Sabbat holten sie
282
Kräfte einer höheren Welt herab, um der großen Erwartung gewachsen zu sein, für die sie leben wollten, um durch ihr Leben die Erfüllung herbeizuführen. Sie wollten für die letzte und entscheidende Aufgabe ihres Volkes stark genug werden, für die Aufgabe, auf den Messias hinzublicken und seiner Sendboten gewärtig zu sein. Von Saphed gingen dann auch messianische Erregungen aus, die ihre Wellen schlugen; sie sind eine Nachwirkung des inneren Bebens, in welchem die Vertreibung der Sephardim nachzitterte. Man meinte, und so vieles sprach auch dafür, an einer Wende der Zeiten zu stehen. Eine tiefe Erschütterung ging schließlich, ein Jahrhundert danach, hiervon aus; sie ergriff die Gemeinden im Reiche des Islams und drang auch zu denen im kirchlichen Imperium hinüber, sie hielt noch lange hier und dort manche Gemüter umfaßt. Wie ein letzter, ein nachträglicher Akt, zu jenem Drama hinzugefügt, ist die Geschichte von dem Messias, den viele damals zu schauen glaubten, die Geschichte von Sabbatai Zewi aus Smyrna, welcher das Gewand des Königs seines Volkes anlegte, der dann, ohne daß man ihn zwang, ein »Gezwungener« wurde, um danach das Schicksal im Tode zu vollenden. Ein mystischer Messianismus und maranische Vorstellungen verbanden sich zu einem Drama, das nur den einen Akt hat. Jene große Sehnsucht hatte auch | hier, bald froh und bald bange, die Herzen erzittern lassen. Wer sie nicht vernimmt, versteht auch hier nicht, was Menschen damals erfahren zu haben meinten. In ihnen war diese große Sehnsucht, die das Ende des Weges heranholen will, die den König haben will, noch ehe das Reich da ist. Das Sinnen und Mühen der Männer in Saphed war ein anderes gewesen. Sie harrten des Reiches und wollten lernen und lehren, ihm näher zu kommen, es immer inniger zu erleben, damit Menschen dieses Volkes und das eine Reich einander fänden. So hatte das Gebet der alten Lehrer, das Gebet des Weges von Geschlecht zu Geschlecht, es gesagt, da seit altem, wenn die Gemeinde versammelt ist, ihr Gebet beschließt, »Erhöht und geheiligt werde der Name Gottes in der Welt, die Er geschaffen hat, und Er lasse walten Sein Reich in euren Leben und in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, bald und in nahender Zeit!« Keine bloße Schwärmerei spricht in ihm, sondern das Gebot von dem Wege, der schon selber ein Trost ist, weil er allein zum Troste hinleitet. Es ist ein Gebet von der einen Hoffnung, der großen Erwartung der Zeit, da der Name Gottes auf Erden geheiligt werden wird. Dort in Saphed hatte auch der Mann nach Jahren der Wanderung die Stätte seines Lebens gefunden, von dessen Werk der andere be-
283
199
200
201
stimmende Einfluß der Sephardim, neben dem ihrer Mystik, zuletzt noch ausgeht, Joseph Karo aus Toledo. Sein Werk ist eine Formung in der Gliederung des geltenden Rechtes, das in der Torah gegeben war und zur »mündlichen Lehre« sich ausbildete. Ein Zweifaches an dem, was den Sephardim gegeben war, einte sich in diesem Manne, der architektonische Geist und der mystische Drang. Mit einem fast mystischen Fleiße hat er Jahr um Jahr die weitreichenden Vorarbeiten vollbracht – die | Mystik dieses Volkes ist fast immer eine fordernde, ja eine drängende und treibende gewesen. Die Aufgabe personifizierte sich diesem Manne: Ihm war, als erschiene sie vor ihm und riefe ihn auf. Was ihm nicht zugeteilt worden war, ist der Genius der Philosophie gewesen, der den drei Größten unter den Söhnen dieses Volkes in Sepharad gewährt war, Salomo Gabirol und Jehuda Halevi, den beiden Dichtern, und Moses Maimonides, in welchem der Eros des Heilens und der Eros des Lehrens sich verbunden hatten. Wie keiner vor ihm und keiner nach ihm hatte Maimonides das Ganze der Torah zu einem wunderbaren Bau, in welchem das Ganze nirgends den Teil verliert und der Teil nie das Ganze verläßt, zu gestalten vermocht – er war auch einer der großen Baumeister in einer großen Zeit der Architektur. Von dem philosophischen Fundament strebten die Pfeiler empor, tragend hier und dort zusammenführend, so daß eines nicht ohne das andere sein kann und sie alle nicht ohne das Ganze, bis zu der messianischen Idee empor, zu der alles hinzielt, zu der sich alles zusammenfügt wie eine Kuppel, die sich zu einem Himmel über eine Erde wölbt, zu einem Jenseits, einem Kommenden hinaufweisend. Der Idee, die ihren Ausdruck im Gesetze findet, die immer neu zu erforschen und zu erfassen ist, damit das Gesetz in das Leben eintrete, welches kommt und geht, wollte er dienen, als er den Bau errichtete. Auch Joseph Karo hatte die Gabe eines Meisters, welcher baut. Aber sie war eine andere, und ein anderes Motiv entfaltete sich in ihr. Das, was galt, was als das geltende Recht hingestellt werden konnte, wollte er einfach und übersichtlich, gewissermaßen Raum neben Raum, Stockwerk auf Stockwerk, aufbauen, damit jeder an jedem Tage das fände und das hätte, wessen er bedurfte – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Diese Aufgabe hatte er meisterlich gelöst. Seinen eigenen Stil hat er hier gefunden, einen deutlichen, knappen, immer tref|fenden Stil – kein Wort zu wenig und kein Wort zu viel, Bescheid um Bescheid in knappem Satz. Er wollte das Umhergehen und Suchen ersparen und jeden im Volk alsbald die Antwort finden lassen, wann immer eine Stunde oder ein Platz ihrer bedurfte.
284
Er dachte an die vielen, die nicht forschen konnten oder wollten und die eine ganz bestimmte Antwort jederzeit zu haben wünschten, um das, was die »Torah« sagte, treu zu erfüllen. Ihnen wollte er helfen. Ihnen sollte der »Weg«, der »Beistand«, das »Recht«, die »Erkenntnis« – die vier Teile seines Werkes hat er mit diesen Worten benannt –, wo immer sie wären, stets nahe, stets erreichbar sein. Dem Werk als Ganzem hat er den prosaischen Titel gegeben. Er bezeichnete es als den »Schulchan Aruch«, den »Zugerüsteten Tisch«: Für einen jeden sollte hier alles dasein, wessen er bedurfte ... Aber so sehr dieser Titel von einer Nützlichkeit zu sprechen scheint, so prosaisch er für das Ohr der meisten klingt, so vernimmt der, welcher tiefer hineinhört, doch auch hier den Ton der Poesie. Gewiß hat Joseph Karo, als er den Titel wählte, an den Psalm gedacht, der mit dem Satz beginnt: »Er, der ist, ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«, und danach fortfährt: »Du wirst vor mir einen Tisch zurüsten angesichts meiner Bedränger« (Ps. 23,5). So nüchtern sich Satz an Satz reiht, hinter allem steht doch ein großes Gottvertrauen und daher eine innige Demut. In Demut hat dieser Mann dieses Buch geschrieben, und Demut sollte einen jeden erfüllen, der aus diesem Buch Antworten holen will. Der Schulchan Aruch ist, als Epoche in Epoche überging, in die Geschichte dieses Volkes eingetreten und hat die Form seiner Existenz hier und dort bestimmt. Von ihm muß daher gesprochen werden, wenn die bildenden Kräfte und die hemmenden Schwächen aufgezeigt werden sollen. Dadurch, daß er nicht die Probleme, sondern die fertigen Antworten vor den | Geist hinstellte, hat er die Art des Denkens und damit die persönliche Einstellung bisweilen beeinflußt. Dank des Buchdrucks hatte er bald eine weite Verbreitung finden können, auch unter den Aschkenasim, zumal da einer ihrer eigenen Lehrer, Moses Isserles aus Krakau, es damals sogleich unternahm, das Buch zu ergänzen. In einem kongenialen Stil, knapp und treffend, hat er Bemerkungen eingefügt, die auf das aschkenasische Herkommen und die aschkenasische Judikatur hinwiesen, wo immer diese von denen in Sepharad abwichen, denen Joseph Karo gefolgt war. Der Schulchan Aruch und diese eingefügten Bemerkungen wurden zu einem Buche. Aschkenas und Sepharad fanden sich in ihm. Der Einfluß, den der Schulchan Aruch ausübte, ist ein beachtlicher. Da er nicht das Suchen, sondern das Ergebnis, nicht das Werdende, sondern das Geltende darlegen wollte und daher die einfachen Linien haben konnte, hat er eine Kenntnis der Gesetze der »Torah« oder wenigstens wesentlicher Teile weiter in das Volk hin-
285
202
203
eingetragen, als es bis dahin möglich gewesen war. Er hat das Seine dazu beigetragen, daß dieses Volk ein lernendes Volk blieb. Die Zeit, die durch den Buchdruck ganz allgemein das Buch in Kreise trug, die es bis dahin nicht hatten besitzen können, und es damit auch popularisieren konnte, fand in ihm ein Buch von den Gesetzen, das in seiner Art populär sein konnte. Aber die Einwirkung, die der Schulchan Aruch ausübte, konnte hier und da auch eine bedenkliche sein. Es ist ein Buch der Antworten, in gewissem Sinne der abschließenden Bescheide, und dieses Volk ist ein fragendes und immer wieder fragendes Volk. Es ist ein Volk, vor dem, um ein Wort des Maimonides zu gebrauchen, die Tore des Suchens und Forschens niemals verschlossen sind. Von der Epoche des Wachstums her und durch die Epochen der Wiedergeburt war es so geworden. Um etwas von seinem Wesen handelte es sich hier. | Geistig sollte dieses Volk immer unterwegs sein. Ein Buch, das als ein Buch der abschließenden Bescheide, als ein kanonisches Buch erscheinen mochte, konnte so etwas Gefährdendes in sich schließen. Die Gefahr eines rechtgläubigen Stillstands oder, was dasselbe bedeutet, eines rechtgläubigen Hochmuts konnte hier und da nahen. Das Gefühl einer geistigen oder, was ein Schlimmeres noch meint, einer moralischen Saturiertheit konnte bisweilen sich einschleichen. Man mochte, im Religiösen und im Geistigen, meinen, »angelangt« zu sein, im Fertigen zu stehen. Um so mehr konnte solches späterhin drohen, da in den meisten Ländern das bürgerliche Recht von den Gemeinden an den Staat überging. Ein wichtiger Teil dieses Buches, einer, der am meisten noch Fragen anregte, rückte damit in eine Ferne und verlor sich fast. Nur ein Buch vom Ritualgesetz schien der Schulchan Aruch zu sein. Und nichts hatte doch dem Verfasser dieses großen Buches ferner gelegen als der Gedanke, es sollte oder könnte auch nur Menschen oder Richtungen solcher Wesensart je dienen. Ein Mystiker hat es geschrieben, der in der Demut lebte und demütig seinem Volke helfen wollte, daß es sich für einen Tag vorbereite, welcher kommen werde. Im Ganzen seines Weges betrachtet, hat dieses Buch eine bedeutungsvolle Aufgabe erfüllt. In einer Zeit, in der vieles, eines nach dem anderen, zu schwanken begann oder zu schwanken schien, konnten manch müdes Gemüt und manch schwacher Geist einen Segen empfangen, wenn sie in ein Buch hineintraten, in welchem ein Festgestelltes, Satz um Satz, dastand und auf sie zu warten schien. In Menschen, die, von der Not so vieler bedrückt, im werktäglichen Gottesdienste zu dem »Hüter Israels« beteten: »Behüte den Überrest
286
Israels, daß Israel nicht verlorengehe! Behüte den Überrest des einen Volkes, daß das eine Volk nicht verlorengehe!«, in diese Men-| schen, die so auf Gott vertrauten, mochte eine Stärke einkehren, wenn sie wissen durften, daß für sie »ein Tisch zugerüstet« war, wo das vor ihnen lag, worin ihr Leben sich erfüllen sollte, damit »der Überrest Israels nicht verloren sei«. Auch das darf hervorgehoben werden, daß trotz allem auch in diesem Buche die Fragen laut wurden. Schon weil es ein Buch zweier Männer war, sprachen sie, und Sepharad und Aschkenas begegneten hier einander immer wieder. Die eine Besonderheit sollte nicht ohne die andere sein, zusammen erst ergaben sie das Ganze. Jede Unterschiedenheit, welcher so der Platz und das Recht eingeräumt sind, weckt sehr bald die Fragen. Dazu kam ein Weiteres, ein Charakteristisches. Dieses suchende, fragende Volk ist von jeher, weil es lernte und fragte, wenn dieser Ausdruck hier gebraucht werden darf, ein kommentierendes Volk gewesen, ganz wie es ein schöpferisches war. Weil es sich immer befragt wußte, fragte es selber immer wieder, zu den schöpferischen Fragen traten die des Kommentators. Wenn ein Werk erschienen war, aus dem ein Persönliches, das heißt: eine Kraft sprach, begann alsbald die Auseinandersetzung mit ihm. Sie war nicht von jener Art, in welcher einer im Gefühl der sogenannten Minderwertigkeit, in dieser Angst vor der eigenen Schwachheit, um einmal stark zu erscheinen, laut und wortreich wird. Die Auseinandersetzung, die hier so gern die Form des Kommentars wählte, entsprang einem ganz anderen Grunde. Sie kam aus einer menschlichen Tiefe hervor und war daher, wenn es gesagt werden darf, voller Keuschheit. Ein tiefer Respekt, eine innige Liebe und eine seelische Demut daher, eine geistige Bescheidenheit offenbarten sich in ihr. Die vielen Kommentare dieser Art lassen ein Bestes, das in diesem Volke wohnt, erkennen. Durch die Jahrhunderte hindurch reihen sich solche | Kommentare und an sie dann wieder Kommentare zu Kommentaren, solche Auseinandersetzungen, die der Respekt und die Liebe geboren haben, immer neu aneinander. Es gibt hier nur wenige Ausnahmen, aus Tagen der Parteileidenschaft. Auch sie sind wie eine »Torah im Mündlichen«, die niedergeschrieben wurde: der Schüler spricht hier vom Lehrer, er spricht zu ihm. Sie sind ein Stück der geistigen Geschichte, ja der seelischen Existenz dieses Volkes. Nur wer in die Seele ihrer Verfasser auch hineinblickt, wird sie ganz verstehen. Auch der Schulchan Aruch hat solche Kommentatoren schon bald gewonnen, sie legen Zeugnis von ihm und ein Zeugnis von sich selber ab. Sie haben das Suchen und Forschen mit sich ge-
287
204
205
206
bracht und in ihn hineingetragen, und es ist dieses Buch der Antworten nun doch ein Buch der Fragen geworden. Wo jene sprachen, ließen auch diese sich vernehmen. Durch alle die Epochen hindurch, von jeder in ihrer Weise, ist es dem Menschen dieses Volkes als die menschliche Aufgabe verkündet worden: die Antwort in sich aufzunehmen und der Frage sich nicht zu verschließen. Das macht ihn zum Gottesfürchtigen: daß er dem Wege treu bleibt und daß er dem Ziele die Treue hält, daß er nicht stillsteht um der Antwort willen, wie mancher meint, und daß er den Weg, den er gehen soll, nicht verwirft um des Zieles willen, wie mancher dachte. In den Jahrhunderten, in denen die neue Epoche durchbrach, haben manche in der Furcht vor Neuem den Weg gewahrt, um auf ihm stillzustehen, und sie haben sich auf den Schulchan Aruch berufen. Andere haben damals in einem Verlangen nach Neuem, um in anderer Richtung dem Ziele näher zu sein, den Weg verlassen, und der Schulchan Aruch hatte ihnen den Grund oder einen Vorwand bieten sollen. Die einen wie die anderen haben die geschichtliche Bedeutung dieses Buches verkannt. Es ist doch noch anders und ist mehr, als diese alle glaubten; es hat seine Stelle in der Geschichte der Existenz dieses Volkes. | Der Sohar und der Schulchan Aruch bezeichnen den letzten Abschnitt in dem ebenso tief wie weit greifenden Einflusse, den die wundersame sephardische Welt auf die Gesamtexistenz dieses Volkes, auf den geistigen Kosmos, in dem es lebte und sich immer erneuerte, so lange ausgeübt hat. Jetzt sollte nach einer Zeit, in der die Geschichte bald zu schwanken und bald zu zögern schien, die Aufgabe auf die Aschkenasim übergehen. Sie sollten ein an Frucht und an Samen so reiches Erbe empfangen und es mit dem eigenen zusammenfügen. Altes Wachstum sollte wiedergeboren werden, eine andere, eine neue Zeit sollte anheben. Die Linie des Systems und die des Individuellen sollten sich verbinden. Doch von einem Sephardi, einem der Maranen, die sich in die »arche des fugitifs«, »die Arche der Flüchtlinge«, das neue Holland hatten retten können, muß hier gesprochen sein, von Baruch Spinoza. Er ist der letzte unter den großen Baumeistern, den großen Systemschöpfern der Sephardim. Er reicht mit so manchem seines Denkens noch in die alte Epoche hinein. Ohne sie kann er nicht ganz verstanden werden, und er greift mit dem entscheidenden Zuge seines Denkens weit über die Grenzen dieses Volkes hinaus, in die neue Epoche empor. Ohne ihn kann die Philosophie des neuen Europas nicht ganz begriffen sein.
288
So wie wenige hat er, was den wahren Philosophen ausmacht, die Analyse mit der Synthese vereint, und er erscheint darin oft als ein Sohn seines Volkes, dem solche Kraft seit altem eigen ist. Sein zerlegender Geist drang unbeirrt zu dem hin, was in der Menschenwelt, der Welt von zwei Attributen des Seins, von »cogitatio et extensio«, von »Denken und Erstreckung«, mit dem Schlüssel der Wissenschaft aufgetan werden kann; seine Methode ist die mathematische. Aber die schöpfe|rische Phantasie in ihm – und von ihr kommt ja auch alle Synthese her – zog zugleich zu dem Verborgenen, dem Geheimnis hin, zu der unendlichen, ewigen Fülle der dem Menschengeiste verschlossenen Attribute, die dem unendlichen, ewigen, einen Kosmos zugehören; sein Genius erahnte und erschaute so auch das Unerfaßbare. Wie in manchem Sephardi vor ihm wohnten in ihm der mathematische Sinn und der mystische Drang beieinander. Von der Unendlichkeit aus, von der Ewigkeit, »sub specie aeternitatis«, gleichsam von dem Einen her, »welcher ist«, wollte er alles und ein jedes betrachten. So ist es der »Glaube« seines Volkes: von dem einen Gott her den Standort zu nehmen, und so ist es sein Glaube. Einheit und Ganzheit ist die große Antwort, die eine und einzige, die er von überallher vernimmt, und ist zugleich die große Sehnsucht, die eine und einzige, die immer wieder aus ihm spricht und zu ihm spricht. Um beider willen, um der Antwort und der Sehnsucht willen, hat er sein System aufgebaut, als ein Weltensystem und ein System von dem Verheißenen. In der Einheit und Ganzheit vollendet sich alles und erfüllt sich ein jedes. Das Relative, das Endliche, Irdische, Vergängliche ist in das Absolute, das Ewige, das Unendliche und Unvergängliche hineingestellt; es ist gleichsam mit sich selber versöhnt. Die große Sehnsucht ist zugleich die große Antwort. Eine göttliche Liebe, jenseits alles Irdischen, der »amor Dei intellectualis«, von Gott ausgehend und zu ihm zurückkehrend, umfaßt alles und alle. In ihr finden sie sich selbst, gelangen sie zu dem, was sie sind. Das ist das alte seelische und geistige Problem dieses Volkes: das Eingehen des Ewigen und Unendlichen in das Vergängliche und Begrenzte und die Rückkehr des Vergänglichen und Begrenzten, dieses Vielfältigen und Geschiedenen zu dem Ewigen und Unendlichen, diesem Einen und Einzigen. Von diesem Problem sind hier Menschen immer wieder erfaßt worden, und mit ihm haben sie, um ihres Per|sönlichsten willen, immer neu gerungen. In Ihm haben sie die Antwort gefunden, welche Schöpfung, Offenbarung, Gebot, Verheißung, Versöhnung, Trost heißt. Aus diesem Problem hervor hat auch Baruch Spinoza mit sich selber gekämpft, um sich
289
207
208
209
zu finden, und auch ihm ist es zu einer Antwort geworden, in der er zu seinem Frieden kam. Eine Antwort hat er gewonnen, aber sie konnte seinem Volke nicht die Antwort sein. Denn ein Zweifaches, ein Wesentliches, von dem dieses Volk doch auch lebt und für das es lebt, die Dynamik des Gebotes und die Dynamik des Sozialen, hat im Systeme Spinozas seinen Platz nicht erlangt. In diesem System waltet die große Befriedigung, aber die treibende Kraft geht von ihm nicht aus. Er kennt und lehrt eine erfüllte Gegenwart, aber nicht den steten und fordernden Weg zur Zukunft. Das Messianische fehlt; denn das große »Ich bin, der Ich bin, du sollst ...« wird nicht vernommen. Es ist gleichsam reich an Frucht, aber nicht reich an Samen. Doch hinter der Philosophie und sie überragend, steht der Mann, der sie aufgebaut hat. Wundersam ergreifend und wundersam versöhnend, steht er da. Er ist größer noch als das System, das er, der große Denker, errichtet hat. Auch wo er schweigt, spricht er. Von dem, den die Seinen nicht verstanden hatten, geht ein Frieden des Verstehens aus. Wer das Buch seiner Philosophie, das er »Ethica« genannt hat – für einen Menschen dieses Volkes kann es keine Philosophie geben, die nicht zur Ethik wird –, vom Anfang bis zum Ende liest und vom Ende dann zum Anfang zurückdenkt, dem wird dieses Werk wie zu einer großen Frage über das Thema vom Menschen, der gesegnet und behütet und erleuchtet ist und in einem Frieden lebt. Es ist, als klänge durch alles hindurch, im Kommen und Gehen der Töne, der Name, den er trug, der Name aus der alten heiligen Sprache: »Baruch«, »ein Gesegneter«. Das, | worum der Psalmist gebetet hatte, ein »reines Herz« und ein »standhafter Geist« [Ps. 51,12], war in ihm und hat ihn gesegnet. Seine Gemeinde hatte ihn, als er seinen eigenen Weg begann, durch den großen Bann des Gerichtes ausgestoßen, als sein »Theologisch-politisches Traktat« Grenzlinien zu zeigen versucht hatte. Diese Menschen hatten nach so langer Zeit des sehnsuchtsvollen Hinausblickens und der wechselnden und doch immer gleichen Gefahr endlich eine Stätte der Ruhe, einen Bezirk einer Freiheit und einer Erfüllung gefunden. Hier hatten sie nach ersten Jahren der Ungewißheit ihre Gemeinde gründen können, hier durften sie jetzt frei bekennen, was sie und Eltern und Großeltern hatten verheimlichen müssen; in der Dankbarkeit jedes Tages atmete ihre Seele diese neue Zeit ein. Zudem verhieß das England Cromwells damals neue Stätten. Aber sie trugen noch die Narben eines Jahrhunderts des Duldens, das Bangen und Beben jener Tage zitterte noch in ihnen nach. Das, wofür sie gelitten hatten, sollte jetzt feststehen, von
290
keinem der Ihren sollte es irgendwo angetastet oder irgendwie angezweifelt sein. Sie wußten oder meinten zu wissen, daß sich ihnen hier die Tore geöffnet hatten, weil sie für den alten Glauben gelitten hatten, und sie hofften, wie erwähnt, daß um dessentwillen sich auch die Pforte eines nahen Landes den Ihren öffnen werde. Sollte nun durch einen der Ihren diese Ruhe gestört und diese Hoffnung gefährdet sein? So sollte es vor den Augen der Welt nicht mehr einer der Ihren sein. So hat ihn seine Gemeinde damals aus ihrer Mitte gewiesen. Aber sein Volk hat ihn nicht verworfen, noch nicht verleugnet. Ihm ist er einer der Seinen geblieben. Manch einer hat hier an ihn in Stunden des Suchens gedacht, nicht wie an einen, der aus einem anderen Volk oder aus einer anderen Welt ist, sondern wie an einen, welcher nahe zugehörig ist, und hat zu ihm wie zu einem, der im Kreise des Hauses steht, hingeblickt, zu | diesem Manne, der eher einsam war, auch unter den Seinen einsam, als daß er von sich fortgegangen wäre. So manches von dem Besten ihres Volkes haben diese Menschen in ihm erkannt oder erkennen gelernt, so manches auch vernommen, was sie ermahnte, wenn eine Leichtfertigkeit in ihr Leben hineintreten wollte, und sie beruhigte, wenn eine Engherzigkeit ihren Druck um sie legen wollte. Er hat seinen Platz auch im Leben seines Volkes. In den Ländern, in denen die Geschichte dieses Volkes ihren weiteren Weg nahm, war der Beginn seines vierten Jahrtausends eine Zeit der Umwandlungen und Umwälzungen, wie sie, so nahe aneinandergedrängt, das Menschengeschlecht vorher kaum je irgendwo erfahren hatte. Seit den Tagen, in denen die Menschen die ersten Experimente unternahmen, da sie die ersten Werkzeuge ersannen und verfertigten und damit der Herrschaft des Tieres ein Ende setzten, seit dieser ersten Revolution auf Erden ist Menschengeschichte eine Geschichte von Experimenten, und das Antlitz der Erde hat dadurch immer wieder die anderen Linien erhalten. Aber wohl niemals zuvor haben sie sich so tiefgreifend und weitreichend nebeneinandergestellt und aneinandergereiht. Seit damals Menschen in die Ferne hinaus und in ihr Inneres hinein zu sinnen begannen – der Gedanke, der in die Ferne zieht, kehrt in die Brust des Menschen immer zurück; wer den Himmel befragt, muß darauf sich selber befragen –, seit so der Menschengeist Himmel und Erde miteinander zu verbinden suchte, seit diesen ersten Astrologien und Philosophien und Religionen ist die Menschenwelt immer neu eine Welt der Aufstiege und Auftriebe
291
210
211
212
und damit zugleich des Sichversenkens und Sichvertiefens geworden, und immer wieder andere Züge und Winkel sind in den Kosmos menschlichen | Geistes eingezeichnet oder eingegraben worden. Aber niemals zuvor waren die Formen und die Wege und die Erstreckungen in fast jeder Sphäre des Sinnens so ganz anders, so neu geworden wie damals. Es ist üblich, diese Zeit als die Neuzeit zu bezeichnen und sie von einem Mittelalter und einem Altertum zu scheiden. Aber abgesehen davon, daß zumal das Mittelalter vielfach weit über die Grenzen hinausgreift, in die man es einzeichnen wollte – weder dieses Schema noch ein ihm ähnliches erfaßt die Wirklichkeiten der Entwicklung. Der Blick auf Erdteile und Länder und ihre Völker zeigt nirgends eine Aufeinanderfolge von einem Alten, einem Mittleren und einem Neuen, ob nun dieses Neue ein höchstes nah Erreichbares oder den in Glanz getauchten Abstieg zum Untergange bezeichnen soll. Was Räume und Zeiten uns sehen lassen, ist ein anderes. Es ist entweder die Geschichtslosigkeit, diese Weglosigkeit eines Volkslebens, dieses Hin und Her und Überallhin mit seinen Windungen und Zukkungen, in denen es sich früher oder später erschöpft, um zu Boden zu sinken oder zu versinken. Oder es ist das ganz andere: die Geschichte eines Volkes oder eines Völkerkreises, zu dem ein Volk sich weitet, dieser Versuch einer stetigen Richtung, um einer wahrhaften Idee zu dienen, diese Geduld des Weges, die den Respekt vor der Zeit und dem Raume hat, vor der Zeit, die den Kindern zugehören soll, und vor dem Raume, der dem anderen zugeteilt ward. Geschichte ist immer und überall das Werden einer Kraft, einer sittlichen, geistigen oder künstlerischen Kraft. In den mannigfachen Räumen und den langen Zeiten der Menschheit wächst sie jetzt hier und dann dort auf. Es ist, wie wenn eine Sonne, irgendeinem geheimnisvollen Gesetze folgend, über die Erde hin ihre Bahn zöge und eines Tages hier, eines Tages dort aus einem Boden eine Kraft hervorholte. Diese Kraft wächst dann empor und wirkt und schafft, bald sich dehnend, bald | sich erhebend. Sie ermattet dann nach dem, was sie vollbracht hat, sie wird müder und müder, und schlummert dann. Und der Schlaf kann das Ende sein, und nur das Werk der Schöpfung bleibt, oder er kann zur Wiedergeburt werden und zu Wiedergeburten, und das Wirken und Schaffen bleibt; denn es hat sich erneuert – es gibt nur ein Bleiben der Kraft, das Sicherneuern. Es war eine Pause, in der die Kraft sich wiedergewann. Darin scheiden sich die Sphären in der Menschheit. Hier hat jene vom Geheimnis umgebene Sonne nicht geschienen oder noch nicht geschienen. Noch ist keine Kraft aus der Tiefe hervorgeholt worden;
292
noch ist dort die vorgeschichtliche Zeit, Geschichte ist die Möglichkeit, die im Schoße der Zukunft schläft, um vielleicht eines Tages die Augen aufzuschlagen. Und zu einem anderen Bereich wiederum kamen die weckenden Strahlen herab, und eine Kraft kam hervor, Geschichte begann. Und wiederum scheiden sich die Sphären. Hier verlor eine Geschichte ihren Wert und wurde zur Geschichtslosigkeit, zur Selbstzerstörung; nur eine Kraft kann sich selber zerstören. Und dort ist eine Geschichte ihren Weg gegangen und wurde müde und entschlief; aber eine Größe zeugt von ihr. Und dort wiederum war der Schlummer wie eine schöpferische Pause. Die Wasser der Tiefe versickerten nicht, sondern sammelten sich wieder zu einem Quell. Die Kraft wurde wiedergeboren, um dann leuchtend zu enden, oder sie wurde wiedergeboren zu immer neuer und neuer Wiedergeburt. Das zeigt sich dem Blicke, der umherzuschauen sucht. Er kennt Geschichte, Geschichtsmöglichkeit und Geschichtslosigkeit, Zeit um Zeit, Raum um Raum. Gibt es ein Ende der Räume, ein Ende der Zeiten? Ist dieses Ende vielleicht die Erfüllung? Im Talmud steht ein Gleichnis, eines jener Gleichnisse, deren Dichtung, deren Bedeutsamkeit fast unausschöpfbar ist. Es ist gesagt: »Erst dann kommt der Sohn Davids, wenn die letzte der | Seelen, die im Gefäße – im Bereiche der Möglichkeit – sind, ihren Weg genommen hat.« Erfüllung, so etwa will diese Wort sagen, ist die Erfüllung der Möglichkeiten, mit denen der ewige Gott den Menschen, den er »in Seinem Ebenbilde schuf«, begnadet hat. Das, so scheint es, ist das Wort auch von der Geschichte. Als zu jener Zeit in Ländern Europas alte Kräfte wieder erwachten und neue Kraft zugleich weckten, ruhte dieses Volk nach dem großen Vollbringen einer Epoche. Es war, als sollte es in einer inneren Stille für die Tage vorbereitet sein, in denen in ihm die Kraft wiedergeboren würde und sich an Kräften ringsumher messen und mit ihren Energien verbinden sollte. Es rastete, aber mit offenen Augen lebte es auf das [hin], was sich ringsumher vollzog, und seine Mystik schien den dämmernden Hintergrund hinter dem allem atmen zu lassen. Auf das neue Geschlecht wartete eine geschichtliche Aufgabe, wie sie schwerer keiner Generation zuvor begegnet war. Ein Teil des Volkes, vornehmlich der aschkenasische, sollte sie bestehen, dieser eine Teil für alle die anderen. Wer am Beginn der Epoche um sich blickte und die Geschehnisse zu durchschauen vermochte, sah, wie alles zu schrumpfen begann. Was als Bahn im Weltall gegolten hatte, Ausdruck bleibenden, untrüglichen Gesetzes, Offenbarung einer ordnenden, stetigen Harmo-
293
213
214
215
nie, war jetzt als leeres Spiel erwiesen, in dem die Vernunft sich durch die Sinne hatte täuschen lassen. Das neue Zentrum stieg empor, die Erde gab ihren Platz im All an die Sonne ab. Der Kreis, das alte Bild der Vollkommenheit, wurde durch die Ellipse abgelöst. Die Mathematik, die bisher nur hatte begrenzen wollen, zog zu einem Unendlichen hinaus. Die Räume dehnten sich; was starr gewesen war, wurde dynamisch; in dem, was da war, wurde die Energie, | die in ihm wirkte, erkannt. Auf der Erde selbst auch versanken die alten Bilder der Grenzen. Was alle die Zeiten hindurch das Ganze, der Erdkreis, der orbis terrarum, gewesen war, wurde zum bloßen Teil. Eine neue Welt stieg auf, neue Ozeane erstreckten sich. Das Wort »Entdeckung« sprach von Erfüllung und von Verheißung. Und dieses beides ertönte in dem Worte »Erfindung« auch. Im Zerlegen wurde der Stoff entbunden, im Zusammensetzen wuchs er zur Weite; ungeahnte Mittel der Kraft, helfende und zerstörende, wurden in die Hand des Menschen gelegt. Die alte Philosophie konnte die Begriffe dafür nicht mehr bieten. Eine neue, die nicht fortsetzen wollte, sondern mit neuem Beginn einsetzte, nahm ihren Weg. Und all das Neue, das gesehen, erfahren und gedacht wurde, konnte nun rasch und leicht zu allen, die wissen wollten, hingelangen. Dazu kam als Helfer für die Lehrenden und die Rufenden der Buchdruck, der das Wort rasch zu vielen hinbrachte, alte Engen überwand, alte Beschränkungen sprengte. So ist diese Zeit in allen ihren Sphären ein großes Anderswerden; in einem Gebiet nach dem anderen erfaßt Menschen der Drang, alte Wege zu verlassen, um auf einer ganz anderen Bahn die Wirklichkeit und die Wahrheit zu suchen. Vom Wollen und Denken drang es so in das Empfinden hinein. Ein allgemeines Empfinden gewann sein Dasein; eine andere Luft atmeten die Menschen ein. Wie bekannt und vertraut dies sein mag, man muß es sich immer wieder vergegenwärtigen, um die Kraft zu verstehen, die durch die Jahrhunderte nachwirkt, und um es auch zu wissen, welch eine andere Welt nun dieses Volk umgab, welches noch rasten sollte, und welche Aufgaben sie ihm stellte, als die Zeit des Ausruhens beendet war. Wofür den Menschen ringsumher trotz allem doch Zeit gelassen war, das sollten und wollten Menschen dieses Volkes wie über Nacht lernen. Wie in einem sollten hier Kopf und Herz es vermögen: | nachzuholen, einzuholen und vielleicht zu überholen, und doch zugleich in sich zu bleiben und sich auseinanderzusetzen. Keine der Wandlungen jedoch, die sich damals vollzogen, hat so unmittelbar auf so viele in dem Ganzen ihres Lebens und Zusam-
294
menlebens eingewirkt und hat auch dieses Volk vor so neue Fragen gestellt wie die Umgestaltung, welche die zwei Glaubensimperien im besonderen, und weit tiefer greifend das der Kirche, erfaßt hat. In dem jüngeren Imperium, dem des Islams, wurde die bestimmende Vorherrschaft der Söhne Ismaels durch die des Stammes der Türken verdrängt. An den Platz der Kinder der Wüste traten die Kinder der Steppe, und das Klima im Glaubensreiche wurde ein anderes. Zugleich kam in den Eroberungseifer, der von Anbeginn den Islam vorwärtstrieb, ein neuer Willensdrang hinein. In raschen Eroberungszügen unterwarf er sich die östlichen Gebiete der Kirche; die östliche Zitadelle ihres Imperiums, die Stadt Konstantins, mit dem dieses Imperium begonnen hatte, das Zentrum der griechisch sprechenden Menschen des römischen Reiches, der Romairi, wurde Untertan und dann Hauptstadt des anderen Glaubens, der jetzt auch manch anderen Zug gewann. Hier konnten sich dann den vertriebenen Sephardim Tore öffnen. Schon im Jahrtausend vorher hatten sich das westliche und das östliche Rom getrennt, aber der Wille zueinander war in beiden geblieben. Eine Spaltung, aber keine Scheidung war zwischen ihnen. Jetzt herrschte dort, wo der Cäsaropapismus seine Burg gehabt hatte, ein »Nachfolger des Propheten«. Der Mittelpunkt der östlichen Kirche verlagerte sich vom Süden nach dem Norden Europas, aus der griechisch sprechenden Welt in die slawische. Damals schrieb ein russischer Mönch an den Zaren, daß sich nun Tage erfüllten: Das eine Rom habe seinen Anspruch verwirkt, das andere Rom | sei gefallen, und jetzt solle hier die große Zeit, die Zeit des dritten Roms, welches bleiben solle, beginnen. Das neue Reich, und in ihm und mit ihm die neue Zeit, solle kommen. Auch das Imperium, zu dem der Mensch im russischen Lande damals seinen Herrn aufrief, ist dann für dieses Volk zu einem Stücke seines Geschickes, zu einem Teile seines Erlebens und Ertragens geworden. Weit tiefer, bis zu den Gründen des Glaubens und seines Imperiums hin, haben aber zunächst zwei andere Bewegungen gegriffen. Die eine, die Reformation, der Protestantismus, kam von der Mitte Europas her, die andere, der Calvinismus und das Täufertum, vom Westen des Erdteils. Was sie bewirkten, war nicht eine Trennung nur, sondern eine Scheidung. Zeitlich stehen die beiden nebeneinander. Aber im Wesen und in den Folgen sind sie verschieden. Die eine ging aus einer Not hervor, aus der bedrückenden, ängstigenden Frage, wie der sündige Mensch denn erlöst werden könne, die andere brach aus dem innersten Suchen der Seele hervor, aus der nie schweigenden Frage, welchen Sinn denn das Menschenleben
295
216
217
218
und menschliches Zusammenleben hätten. Die eine wollte durch »Reformation« zu dem reinen, unvermischten Glauben hinführen, zu einem Glauben um des Glaubens willen. Die andere wollte den Willen revolutionieren, so daß der Wille zu der von Gott gesetzten Bestimmung um dieser Bestimmung willen sei. Die eine wurde der Gemeinschaft wegen zur Auflehnung von Landesherren gegen das Imperium; die Teile wurden aus dem Ganzen ausgegliedert. Die andere stellte dem Prinzip der Kirche ein anderes Prinzip entgegen, das der Gemeinde; aus der Gemeinschaft der Teile sollte ein Ganzes erstehen. Die eine lenkte, fast notwendigerweise, zu einem unbeschränkten Fürstenregiment, zu einem Leben unter der Obrigkeit, in ihrem Schutz oder ihrem Schatten, hin. Die andere leitete, wie in einer inneren Logik, zu einem Verfas|sungsleben hin, zu parlamentarischen oder republikanischen Formen eines für sich selbst verantwortlichen, sich selbst verwaltenden Zusammenlebens. Ein Drittes noch hat damals das Frühere sehr wesentlich umgestaltet und hat zugleich diese Bewegungen entweder gefördert und ermöglicht oder hat sie gehemmt oder zurückgedrängt. Es ist der neue Begriff des Staates. Hier kommt nicht eine Bewegung hervor, welche Menschen ergreift, sondern ein Begriff bereitet sich seinen Raum und tritt, im Zusammenhang eines Systems, in eine Philosophie ein oder wird, im Zusammenhange von Plänen, durch eine Politik herangeholt. Bald ist die Philosophie das Ursprüngliche: sie will sich in einer Politik verwirklichen; bald ist eine Politik das erste: sie will sich durch eine Philosophie rechtfertigen. Dieser neue Begriff vom Staate bezeichnet und verlangt etwas ganz anderes als das, was dem Griechen sein Staat, die »polis«, und was dem Römer sein Staat, die »civitas«, bedeutet hatte. Sie hatten den Begriff des Staates durchdacht, und für sie benannte er die organischen Formen und Grenzen für das Zusammenleben von Menschen, die im Lande zusammen wohnen. Vor ihnen waren die Propheten zu den Gründen des Problems hingetreten, bald mahnend, bald hoffend. Für sie sollte ihr Staat eine Stätte sein, zu der eine höhere Welt herniedersteigen könne, so daß Gerechtigkeit und Treue auf Erden erfüllt würden. »Nennen wird man dich Stadt der Gerechtigkeit, treue Burg« (Jes. 1,26). Auch im Imperium des Glaubens haben führende und sorgende Geister nachgesonnen, und die Antwort, die sie sich und den Völkern gaben, war die, daß die Staaten da seien, damit das eine Reich der einen Kirche, dieser Bereich der einen Gnade, für alles weltliche Bedürfnis die Instrumente besitze; um der Kirche willen seien die Staaten da und sollten sie, wo es not war, das Schwert und das Beil handhaben und den Scheiterhaufen errichten. |
296
Der Staat, wie er in dem neuen Begriff sich darstellte, war ein ganz anderer. Er sollte um seiner selbst willen dastehen. Nicht der Menschen wegen, die er umschloß, sollte er seine Aufgabe und seine Befugnis haben, sondern sie waren seinetwegen da, damit er seine Macht besitze und festige. Sein Recht verlangte er nicht von dem Imperium des Glaubens und auch nicht von den Menschen, durch die er sein Dasein hatte, sondern er trug sein Recht in sich selbst. Er stand oberhalb der Moral und außerhalb des Gewissens. Er war ein Begriff, hart und kalt, ohne Gewissen und ohne Moral, wie ein Begriff, der Begriff einer Macht, deren Tugend die Macht und deren Daseinsform und Daseinsziel daher der Egoismus ist, den die neue Lehre jetzt die Staatsräson nannte. Dieser Egoismus schuf sich nur zu leicht eine Art von Gesetzen einer Gesetzlosigkeit. Was Menschen und menschliche Gemeinschaften bindend verpflichtete, konnte kein Prinzip für diesen neuen Staat und seine Räson sein. Als Begriff, hinter dem sich vieles verstecken, hinter den vieles sich flüchten konnte, war er ohne Glauben und ohne Gebot. Etwas, was sich wie ein Pflichtgefühl der Morallosigkeit darbot, konnte hier erwachsen. Wie der Staat wurde dann leicht auch der »Diener des Staates« etwas Begriffliches oder Maschinelles – Begriffe können zu Maschinen werden -; er hörte als dieser »Diener des Staates« auf, ein Mensch zu sein. Man möchte an das Märchen vom »Golem« denken: die unermüdliche menschliche Gestalt ohne den lebendigen menschlichen Gehalt. Alle diese Umwandlungen wirkten notwendigerweise auf die Gemeinden dieses Volkes ein, die sich in Ländern des alten Imperiums befanden. Die äußeren Bedingungen änderten sich vielfach, und vor allem die innere Einstellung zu den Menschen ringsumher konnte und mußte eine andere werden. Neue Möglichkeiten des Umherblickens und des Schaffens wurden gegeben, neue Formen der Existenz, ähnlich denen | in manchen hellen Tagen des zweiten und dritten Jahrtausends, konnten sich entwickeln. Eine wundersame Fruchtbarkeit bereitete sich vor, als dieses Volk ruhte. Zuerst und vor allem haben es jene zwei religiösen Bewegungen zur Folge gehabt, daß sich Verhältnisse und Beziehungen änderten. Jetzt stand nicht mehr die eine gebietende Kirche den Menschen dieses Volkes gegenüber, sondern neben ihr und gegen sie standen die anderen Kirchen, die ihr Recht besaßen oder forderten, und sie alle verwarfen oder verketzerten einander. Jetzt waren die Menschen dieses Volkes nicht mehr die einzigen Ungläubigen, die einzigen »perfidi« in den Ländern des alten Imperiums; dieses Wort der »perfidi« traf hier so viele andere, Menschen und Völker und ihre Für-
297
219
220
sten. Bisher waren die Gemeinden dieses Volkes, diese eigentümlichen kleinen Republiken im Lande, die einzigen solcher Art und solcher Verfassung hier gewesen. Jetzt erstanden, aus der zweiten der religiösen Bewegungen, der revolutionierenden, hervor geboren, die vielen solcher Gemeinden. Sie wurden eine geschichtliche Tatsache, und sie erhoben ihren Anspruch und forderten ihr volles Recht. Wenn man auf das Ganze hinblickt, so wird man des völlig neuen Aspektes gewahr. Eine neue Erscheinung, der Andersgläubige, der, welcher sich dem herrschenden Glauben, dem regierenden Bekenntnis entgegenstellt, tritt in die Geschichte ein. Die Opposition in der Sphäre des Glaubens gewinnt ihren Platz und damit ihr Recht; sie wird legitimiert. Der, welcher vorher der Ketzer genannt worden war, den das Gericht vor seine Schranken gerufen hatte, um ihn zu warnen und zu strafen und, wenn er in seinem Ketzertum beharrlich blieb, dem Tode zu überliefern, ist nicht mehr dieser vor Gott und den Menschen Angeklagte, sondern ist jetzt der Mann, der das Recht hat, den anderen Weg des Glaubens zu gehen. Er ist nicht mehr dieser Verworfene, der des Spruches zu | harren hat. Frei darf auch er jetzt wie vor Gott, so vor den Menschen ringsumher sagen, was sein Glauben sei. Die Entwicklung hatte ihre langsamen Tage, und sie wurde oft gehemmt und zurückgedrängt, aber ihr Ergebnis tritt deutlich vor das Auge. Sie hat ungewollt auch dem Menschen dieses Volkes seine Position im Lande grundsätzlich verändert. Er, der bisher der einzige Mensch anderen Glaubens gewesen war, stand als solcher jetzt neben anderen. Er hatte Genossen des Platzes und Gefährten des Weges gewonnen. Als mehr als anderthalb Jahrhunderte, nachdem in England Krone und Parlament die »Toleranz«Akte beschlossen hatten, ein Gesetz entstand, das in seiner sich windenden Form noch beengt war, aber kraft der Dynamik, die in ihm lebte, fast unübersehbar weit reichte, hat sicherlich weder dort noch irgendwo sonst jemand an die Kinder des alten Volkes gedacht. Aber in diesem Gesetz wohnte eine Idee, und Ideen, nachdem sie einmal in die Welt getreten sind, nehmen ihren eigenen Weg. Die Idee dieses Gesetzes, diese Gabe Englands an die Menschheit, ist so auch zu den Söhnen des alten Volkes hingezogen und hat sich vor sie hingestellt, um für sie ihren Platz zu fordern. Diese beiden Worte »Toleranz« und »tolerieren« – es ist eigentümlich, daß das Hauptwort einen anderen, einen edleren Klang als das Zeitwort gewonnen hat – gingen jetzt in die allgemeine Sprache und in das allgemeine Denken ein. Sie trugen eine Spannung, fast eine Gegensätzlichkeit in sich. Eine Forderung und eine Ablehnung ka-
298
men hier zusammen: eine Forderung, welche das Leben erhebt, und eine Ablehnung, die sich aus einer Wahrheitsvorstellung ergeben will. Es ist, von außen her gesehen, der Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und dem System und, von innen, vom Seelischen her betrachtet, der Widerspruch von praktischer Toleranz und theoretischer Intoleranz. | Menschen hatten immer wieder versucht, mit denen, die ihnen gleich zu sein schienen, auch in einem gleichen Bezirk und zu gleicher Form des Lebens zusammengeschlossen zu sein; die Geschichte der Kasten und Klassen und der Stände bietet die Fülle die Beispiele. Die, welche anders waren oder anders zu sein schienen, wurden dann ausgeschlossen oder auch abgesondert; mit seinesgleichen wollte man zusammen leben. Hier war immer der Boden für die praktische Intoleranz bereitet, und diese stellt dann auch bald ihre Philosophie her, um sich in ihr noch mehr zu verhärten. Es ist die vulgäre Intoleranz, und ein Hang, sich das Denken zu ersparen, konnte sich hier befriedigen. Aber es gibt auch eine andere Intoleranz, eine geistige, eine, die aus dem Denken hervorkommt. Menschen glauben, vor einer Wahrheit zu stehen, mit einer Erkenntnis begnadet zu sein; sie ist ihnen die Wahrheit, die Erkenntnis, neben der für nichts anderes ein Platz ist. Alles andere, was immer sonst den Anspruch erheben mag, Erkenntnis zu lehren und Wahrheit zu verkünden, das alles, so glauben sie, müssen sie verwerfen. Dem allen, so meinen sie, müssen sie das Recht und den Platz in der Glaubenswelt, in dem Gedankenreich absprechen. Sie sind theoretisch intolerant. Aber wenn sie den Sinn für das Leben sich wahren, wenn sie den breiten, befruchtenden Wassern des Lebens nahe bleiben, dann führt das Leben die Toleranz zu ihnen hin. Sie sehen die Menschen ringsumher, arbeitend und strebend, ringend und hoffend ganz wie sie selbst, etwas von dem eigenen Bemühen und Erwarten entdecken sie in diesen anderen. Sie finden in ihnen gewissermaßen sich selbst. Sie werden in ihrem Leben, in der persönlichen Einstellung zum anderen, tolerant; sie leben innerlich mit ihnen zusammen; Seele begegnet der Seele. An ihrer Wahrheit halten sie fest, ohne jedes Schwanken und ohne jeden Kompromiß, sie sind, um dieses Wort wieder zu | gebrauchen, theoretisch intolerant. Diese Exklusivität, die sie für ihren Wahrheitsbesitz wahren, tritt nicht in das Leben ein; sie wird versittlicht und damit vertieft; an ihr erwächst, wo das Leben und Zusammenleben beginnt, die aufrichtige, lebendige Toleranz. Sie erkennt nicht die andere Wahrheit an, aber sie begreift mit innigen Gedanken und innigen Empfindungen das Menschentum des ande-
299
221
222
223
ren, und damit versteht, ja würdigt sie sein Festhalten an der Wahrheit. Treue vermag die Treue zu begreifen. In allen Zeiten und Gebieten der Kultur ist dies der Weg gewesen, auf dem sich eine innere Beziehung zwischen Menschen verschiedener Art, die in einem Lande beieinander wohnten, allmählich anbahnte, so daß das bloße Zusammenwohnen zu einem Zusammenleben wurde. Und auch Völker, zwischen denen äußere und innere Grenzen gezogen sind, kommen so zusammen. Menschen und Völker sind einander begegnet, und das Leben erwies sich als stärker als alle gewollte oder befohlene Unduldsamkeit. Die praktische Unduldsamkeit wurde überwunden, und die theoretische wurde humanisiert. Menschen verschiedener Vergangenheit, verschiedener Unmittelbarkeit und verschiedener Hoffnung erfuhren von dem Menschentum, das im anderen lebt, sie begannen den anderen zu verstehen, zu erkennen, und die Denkenden und die Besinnlichen unter ihnen lernten an ihm, diesem anderen, sich selber nun besser verstehen. Hinter der Duldung stieg die Anerkennung auf; das Faktum wurde zum Rechte, und das Recht wurde zu einem neuen Leben. Alles hing so von den ehrlichen Begegnungen ab, in denen das Leben walten konnte. Die Menschen dieses Volkes haben sie oft gesucht, aber nicht oft gefunden. Denn jede Intoleranz, die im Lande herrschte oder den Befehl führte, hat solches Zusammenkommen gefürchtet und Wege zu ihm zu verbauen gesucht. Systeme der Absonderung dieses Volkes wurden erdacht. Erst | als die religiösen Erschütterungen alle Grenzen verschoben und als für neues Denken ein Raum erstand, ist auch für die Begegnungen ein Platz geschaffen worden. Die zwei religiösen Bewegungen haben eine allgemeine Toleranz nicht gewollt, aber sie ist durch sie bewirkt und ermöglicht worden. Jedoch nur langsam wurde, wie schon gesagt, der Weg zurückgelegt. Die Menschheit hat keinen schnellen Schritt. Eine frühere Philosophie sprach davon, daß die Natur keinen Sprung macht – »natura non facit saltum«. Man könnte hinzufügen, daß auch die Geschichte keine Sprünge macht. Auch eine revolutionäre Kraft bedarf, wenn sie nicht nur erschüttern, sondern schaffen soll, einer langen Zeit, und die Menschen, welche sie von Generation zu Generation für die Aufgabe erwählt, bedürfen der langen Geduld. Mit dem Eifer, welcher vorwärtsdrängt, müssen sie die gelassene Ruhe dessen, der seiner Bahn und seines Zieles sicher ist, verbinden. Gebietende Gesetze geben in einem Volke bisweilen früh Gedanken des Rechtes und Forderungen des Menschentums den bestimmten Ausdruck. Aber das Volk hat dann bald den geruhsameren, bald den trägeren Schritt,
300
zeitweise wendet es sich vielleicht auch rückwärts, und oft muß eine lange Zeit vergehen, bis ein Volk sein eigenes Gesetz, das in ihm gilt, eingeholt hat. Vorurteil, Unrecht und Unverstand behalten so ihre Tage, auch wenn das klare Urteil, das Recht und die Einsicht schon ihren Weg angetreten haben. Das neue Geschlecht wird in sie hineingeboren, die einen, oft nur wenige, überwinden sie, andere, meist die vielen, finden sich mit ihnen ab, und manche umhegen sie, um sie weiterzugeben. So hat diese Toleranz, die sich selbst bejahen kann, ohne den anderen verstoßen oder absondern zu wollen, dieses »agreeing to differ«, an dem eine neue Zeit sich als neu erweisen sollte, ihren mühsamen Weg gehabt. Erst spät hat sie in Länder einkehren dürfen. | Der Weg wäre ein längerer noch und beschwerlicher auch gewesen, hätte nicht die neue Idee einen Bundesgenossen gehabt, der auf sie zu warten schien, den Humanismus oder, wie er später genannt wurde, den Geist der Aufklärung. Er ist die Gabe, mit der ein wiedererweckter Geist Griechenlands und der wiedererwachende Geist Italiens, miteinander vereint, die Völker beschenkt haben. Wohl die stärkste Kraft, die im Humanismus wirkte, ja ihn zu einer Entwicklung befähigte, war das Ferment der stoischen Lehre. Diese Lehre – sie hat in ihrem Eigentlichen mehr von einer Lehre, einer Torah, als von einer Philosophie –, die in der Nachbarschaft des Gelobten Landes entstanden ist und deren Begründer [Zeno] wohl ein Sohn dieses Volkes war, hatte in der alten Welt eine neue geistige Atmosphäre geschaffen. Aus einer Religionslosigkeit wurde hier eine Religiosität, über einer materialistischen Physik erhob sich eine Geistigkeit. Eine eigene Rechtsidee ist hier auch erwachsen, die des Naturrechts, dieses Rechts, das mit dem Menschen geboren wird. Die alte Kirche hatte sie schon in sich aufzunehmen gesucht; im Humanismus ist sie neu, ja revolutionär geworden. Dieser Stoizismus ist der große Beseitiger von Grenzen gewesen. Er hat in seinem Bereiche Scheidewände zwischen Ständen und Völkern niedergelegt und hat den Bürger des Staates zum Bürger der Welt werden lassen. Er hat auch den Humanismus über gewisse Engen seiner Anfänge hinausgetragen, zu einer Breite und Weite hinaus. Auch für die Idee der Toleranz hat er Wege gebahnt. Den Humanismus, der anfänglich nur ein neuer Stil, eine neue Bildung gewesen war, hat er nach und nach zu einer Bewegung werden lassen, zu dem eben, was das Wort Humanismus zu meinen berufen war. Zwei Kräfte wirkten so, bald nebeneinander, bald miteinander, im Humanismus und traten immer wieder aus ihm hervor: die neue klassische Bildungsidee und die erneute stoi|sche Lebensidee. In der
301
224
225
226
einen, der der Bildung, war ein Element des Individualismus, in der anderen, der stoischen, war ein soziales Element. Beide haben sich hier oft miteinander verbunden und sind zur Idee des Menschentums geworden. Sie haben dann dem Humanismus seine lebendigste und segensvollste Kraft verliehen. Dem Worte »Mensch« in seinem individuellen wie in seinem sozialen Sinne wurde die Tiefe seiner Bedeutung wiedergegeben. Der Andersgläubige war nicht nur der Andersgläubige mit seinem Rechte, er war jetzt mehr, er war der andersgläubige Mensch mit seinem Rechte. Als eine neue Zeit anhob, hat dieses Volk, das im Süden und Norden Europas in seinen mannigfaltigen Gemeinden lebte, es so erfahren. Zu seinem Geist und seinem Wesen, in welchem das Individuelle und das Soziale, der Drang zur Erkenntnis und Bildung und der Sinn für die Weiten des Menschentums seit je sich miteinander zu einen gesucht hatten, mußte dieser Humanismus sprechen. Er hat Schranken niedergelegt, und ihm haben sich Tore in den Gemeinden geöffnet. Ein Raum für Begegnungen war bereitet, als dieses Volk nach Tagen seiner Rast dann die Tage einer neuen Wiedergeburt erlebte. Doch schon vorher hatten auf einem besonderen Felde Menschen des Humanismus und Menschen dieses Volkes einander gefunden. Die Wiederbelebung der klassischen Studien hatte zu den alten Texten der Heiligen Schriften der Kirche hingeführt. Das griechische Neue Testament trat wieder vor den Blick, und ebenso die alte Hebräische Bibel. Die »Graeca veritas« und die »Hebraica veritas« sollten den echten Gehalt der Schriften aufzeigen. So haben Humanisten schon früh Beziehungen zu Gelehrten dieses Volkes aufgenommen, um durch sie mit der hebräischen Sprache vertrauter gemacht zu werden. Sie selbst sind dann Lehrer dieser Sprache in den Kreisen des Humanismus geworden. Wie vermöge einer inneren Dynamik erweiterte und verstärkte sich der Bereich der | Verbindung. Nach der Wissenschaft trat bald auch das Leben in ihn ein. Die Frage des Lebensrechtes, des »Naturrechts«, wurde vernommen. Zum ersten Male hat damals ein Mann, dessen Namen dieses dankbare Volk in allen seinen Zeiten mit dankbarer Liebe nennen wird, Johannes Reuchlin, der Humanist aus Pforzheim, die Stimme dafür erhoben, daß den Kindern dieses Volkes ihr Recht wiedergegeben werde, welches römische Konstitution ihnen zugesprochen hatte. Die moralische Begegnung fand statt. Auch für ein Buch, das so fremd erscheinen mußte, weil es fast nur von innen her zugänglich und von außen her so schwer verständlich ist, für den Talmud, hat dieser Mann seine und seiner Freunde Kraft eingesetzt, als diesem Buche der Scheiterhaufen wieder
302
drohte. Der Blick von humanistischen Gelehrten wurde jetzt auf das merkwürdige Buch, das nicht nur ein Buch, sondern ein Schrifttum ist, hingelenkt. Fast staunend fanden sie hier so manches, was sie vorher nicht gewußt hatten, sahen Linien auch, die zu neutestamentlichen Schriften hinführten, und entdeckten Ideen, die, verwandt oder ähnlich, vorher von anderwärts zu ihnen gekommen waren. Die Begegnung von Ideen erfolgte; sie ist, wann immer und wo immer sie stattfand, eine bedeutungsvolle und wirkungsreiche Erscheinung in der Geistesgeschichte. Als das neue Völkerrecht, das »jus gentium«, die erste große Rechtskonzeption nach dem »Römischen Rechte«, wieder geschaffen wurde, standen neben der stoischen Idee vom Naturrecht zwei Rechtsideen aus dem Talmud; aus dem biblischen Boden sind sie in den Talmud hineingewachsen und durch ihn weiterentwickelt worden. Sie sind Ideen, in denen Recht und Moral einander durchdringen – wie der Psalmist es geschaut hat: »Liebe und Wahrheit treffen sich, Gerechtigkeit und Frieden sind beieinander«; nur wenn die Moral zum Recht für alle werden kann, ist sie Lebensmoral, und nur | wenn das Recht auch die Moral verwirklicht, ist es lebendiges Recht. Die eine Idee ist die von dem »Fremdling«, dem »ger«, dem Menschen, der aus anderem Lande gekommen ist, um in neuem Boden Wurzel zu fassen: Ein gleiches Recht soll ihm zuteil sein und ebenso die gleiche Versöhnung, wie die Bibel in einem ihrer wundersamsten, ihrer ergreifendsten Worte sagt und wie es die Gemeinde, wenn der Versöhnungstag beginnt, wiederholt: »Vergeben wird der ganzen Gemeinde der Kinder Israels und dem Fremdling, der in ihrer Mitte seßhaft ist.« Und die andere Rechtsidee aus dem Talmud ist die von den »Kindern Noahs«, diese Idee von der gebietenden Herkunft aller von einem, der gerettet worden war, weil er »ein gerechter Mann gewesen, ein Gerader in seinen Zeiten, und mit Gott wandelte« [Gen. 6,9], diese Idee von dem unzerstörbaren Gepräge sittlicher Verpflichtung, dem »character indelebilis« aller, die das Menschenantlitz auf Erden tragen. Als Hugo Grotius, der erste Autor des neuen Völkerrechts, sein Buch »De jure belli et pacis« schrieb, standen auch diese beiden Rechtsideale aus dem Talmud vor ihm. Die Begegnung in der Universalität hatte stattgefunden. Zugleich hatte, vom Studium der hebräischen Sprache her, auch die Mystik dieses Volkes einen Weg zu Humanisten hin gefunden. Ein großes Wiedererkennen begrüßte sie drüben. Alle Mystik ist in ihrem Grunde die eine, aus einer menschlichen Sehnsucht geboren, ganz zur Gottheit selbst hinzugelangen, in ihrer Unmittelbarkeit zu sein. Es gibt hier die Besonderheiten und Verschiedenheiten auch,
303
227
228
229
alle die Mannigfaltigkeiten, in welche die Geschichte der Mystik hineinblicken läßt. Denn das eine mystische Verlangen ist durch die Religion oder die Philosophie, von der es herkommt, in seinen Zügen bestimmt und in seinen Bahnen gelenkt worden. Aber was so in der geschichtlichen Erscheinung getrennt ist, zeigt sich im Wesen als ein Gleiches. Der Mystiker von hier findet | in dem Mystiker von dort so manches aus seinem Eigenen. Wie Besitztümer in dem einen Eigentum sind die verschiedenen Gebilde. Aber in der Mystik dieses Volkes schien sich noch ein innerstes Besitztum aufzutun. Ein letztes Geheimnisvolles, alles das, was zu einem Jünger aus dem Worte »Kabbalah« hervorklingen konnte, schien sich dort zu bergen. Zu ihm hoffte man den Zugang zu finden. Ein Zauber dämmerte so bisweilen um diese Begegnungen im Reiche der Mystik. Sie gehörten nur engen Kreisen und begrenzten Tagen zu. In eine Breite konnten sie sich dann später in der neuen Gemeinschaft erstrecken, die damals zu entstehen begann, innerhalb der Republik der Gebildeten. Die Geschichte der Erwerbung und Vererbung des Wissens zeigt wandelnde Zeiten. Bald hatte die Erkenntnis für wenige, für Auserwählte nur bestimmt sein sollen, bald wieder für alle, in denen das Verlangen nach ihr erwachte. Auch der Humanismus hatte im Anfang seine Esoterik. Aber in ihm war eine Dynamik, welche einerseits die Kreise dehnte und andererseits Wege, die getrennt waren oder zueinanderstrebten, miteinander verband. Das Wissen sollte die Form finden, in der es eine Allgemeinheit erlangte und zugleich für viele erreichbar wurde; es sollte zur Bildung werden, und das bedeutete, daß es nicht nur in seinem Inhalt, sondern auch in seiner Erstreckung zu den Menschen universal sein sollte. Die vielen sollten es veredeln und dadurch sich einen. Das, was ein individuelles, ein persönliches Bestreben gewesen war, gewann den sozialen Zug und wurde zur sozialen Aufgabe, zum Gebote der Aufklärung. Sie sollte Fesseln lösen, aus der Enge des Sinnes in die Weite des Geistes führen. Für die seelischen Kräfte im Menschen sollte die Bahn bereitet sein, damit auf ihr der Mensch den Menschen finde. Jede Finsternis, die um Menschen und Völker gelegt war, so war es damals die große Gewißheit, würde einer Helle weichen. Zu ihr sie alle hinzuführen wurde das große Gebot. | Zugleich mit dem sozialen Empfinden wurde das moralische Verlangen hier lebendig, und die vielen Begegnungen wurden erlebt, und so die Begegnung schließlich auch, durch die in der Welt der Bildung Menschen dieses Volkes entdeckt wurden und sie selbst andere entdecken konnten. Den ersten Raum für solche Begegnung hatte in der Frühzeit des Humanismus Italien gegeben, dieses europäische Land in Europa,
304
dieses Mittelland im Mittelmeer, nach dem die vielen Straßen hinführten und aus dem Straßen zur Ferne hinauslenkten. Ein wechselvolles Jahrtausend hindurch war in dem Volke dieses Landes das Bewußtsein seiner alten, verpflichtenden Kultur nie erloschen und nie versunken, und so konnte es jetzt sein »rinascimento«, seine Wiedergeburt im Humanismus erfahren. Menschen von Nord und Süd, und von Ost und West trafen sich hier allenthalben, und so auch Menschen dieses Volkes von überallher. Aschkenasim und Sephardim wohnten hier; in vielen der alten Gemeinden wurden alte Kultur und alte Wissenschaft in besonderer Form gepflegt. Männer von hier waren die ersten Führer und Lehrer von Gemeinden in Aschkenas gewesen, und Aschkenas hat später Lehrer aus seiner Mitte hierher gesandt. Männer aus Sepharad haben dann hier einen Platz für ihr Denken erlangt, als der Tag, an dem ein Volk sich gegen sich entschied, sie vertrieb. Für dieses Volk auch war so dort das Gebiet, das nach allen Seiten hinwies, gewissermaßen ein Treffpunkt von Straßen und von Zeiten. Menschen aus seiner Mitte, von überallher, Tage aus seiner Geschichte, von mannigfachen Epochen her, fanden sich hier. Ein eigentümlicher Humanismus hat hier in Menschen der alten Gemeinden sich oft seinen Ausdruck zu bereiten gesucht, und er konnte jetzt zu dem sprechen und den vernehmen, der im »rinascimento« hier wieder hervortrat und im Volk sich so für sich entschied. Die beiden haben einander | verstanden. Ein Reizvolles war darin, aber es war ein Gelegentliches nur, aufgehend und niedergehend. Die vielen und die stetigen Begegnungen auf den vielen Wegen der neuen Bildung, in vielen Ländern und zu vielen Zielen hin, in der Fülle der Wirkung und der Möglichkeit, haben erst später eintreten können. Sie sind erst dann gekommen, als dieses Volk, das gerastet hatte, sich erhob, um in einer Welt, die anders geworden war, hellen Auges um sich zu blicken und, dem Gesetze, dem »Bunde«, der in ihm war, folgend, für seine neue Epoche die Straße zu bahnen. Eine Zeit der Begegnungen hob an. Die Geschichte dieses Volkes ist auch eine Geschichte von Begegnungen. Ihm war es nicht erlaubt, lange aus dem Wege zu gehen, noch auch für eine Länge der Tage sich einzuschließen. Ein bestimmender Zug seines Wesens, zu dem und in dem es geworden ist, sein Universalismus in der Idee und in der Zeit, hat es immer, bald früher allerdings und bald später, gelenkt. In der Begegnung war die Zustimmung, bald stärker, bald schwächer. Aber so stark sie sein konnte, die eine Grenze war immer gesetzt. Dieses Volk durfte seine Existenz nicht aufgeben und nicht verlieren. In allen Zustimmun-
305
230
231
232
gen mußte es sie und den Sinn für sie wahren, um seiner Jahrtausende willen und der Menschheit wegen mußte seine Existenz bestehen. Aber auf die Form, auf den Ausdruck, gewissermaßen auf die Sprache dieser seiner Existenz hat jede wahrhafte Begegnung tief eingewirkt. Die Existenz, diese alte und stetige, blieb und konnte bleiben vermöge der Kraft, die in den Gründen, unterhalb aller Erscheinungen, wohnte und aus ihr immer wieder hervorgebrochen ist. Sie blieb und sollte bleiben, um dieser großen, dieser vielleicht größten Möglichkeit willen, um der Wiedergeburt, der wieder erwachenden Genialität willen. In jeder Begegnung, ganz wie ja auch in jeder Ablehnung, konnte und sollte dieses Volk seiner Existenz bewußt | bleiben, und das heißt doch: vor sich selber über sich selber von neuem Rechenschaft ablegen. Wenn es das vermag, und bisher hat es immer neu es so vermocht, dann wird jede echte Begegnung ihm zum bleibenden Segen, zu einem Segen, nicht zum mindesten auch deshalb, weil es, um zu sich selber und zu anderen zu sprechen, für seine Existenz die neue Sprache, den neuen Ausdruck, die neue Form sich bereiten mußte. Es ist so das Gesetz seiner Existenz. Die großen Begegnungen in seiner Geschichte zeigen es: die Begegnung mit der Reinheit und Kraft Persiens, die mit der Genialität und der Beweglichkeit des griechischen Geistes, die mit der Größe und Stetigkeit Roms und dann die mit der Weite und Erschlossenheit der arabischen Kultur. Und sie alle lassen noch ein anderes sehen. Jede echte Begegnung führt Hoffnungen herauf. Solange sie sich bewegen, droht die eine, die große, die bleibende Hoffnung hinter ihnen zu entschwinden; und wenn sie eines Tages in ein Nichts oder ein Leeres zu zerflattern scheinen, droht in der Enttäuschung auch die eine Hoffnung zu versinken. Jede der Begegnungen zeigt irgendwie den Kampf zwischen der Hoffnung und den Hoffnungen. Aber keine Zeit läßt ihn so deutlich erkennen wie die, welche jetzt, als das vierte Jahrtausend dieses Volkes anstieg, mit einer Fülle der Begegnungen begann; vielleicht kann die griechische Zeit einen Vergleich bieten. Ein Kampf zwischen der Hoffnung und den Hoffnungen hob an, der bisweilen an das Innerste des Volkes griff. In allen diesen Begegnungen und Hoffnungen erfuhr dieses Volk eine Welt, die sich fast von Grund auf gewandelt hatte, aber diese veränderte Welt war die alte Welt, die Welt der bekannten und vertrauten Sphären. Doch jetzt sollte eine ganz andere, eine bisher unbekannte Welt vor den Blick treten, die Welt Amerikas. Das Wort »neu« erfaßte hier die Geister, wie es seit langem nicht geschehen war. Wer die Berichte aus den | Tagen der Entdeckung Amerikas zu sich sprechen läßt, hört noch den Hall des großen Staunens. Eine
306
neue Welt, eine neue Atlantis zeigte ihre Gestade. Ganz neue Sphären der Geschichte eröffneten sich, Sphären auch der Geschichte dieses Volkes. Diese neue Welt hat sich in zwei getrennte Sphären auseinandergelegt, in die des Südens und in die des Nordens. Nach der einen hatte das Begehren nach Gold und nach Macht hingeblickt; sie ist für lange ohne Zukunft geblieben, lange ohne Zukunft auch für die Kinder dieses Volkes, welche dort, fast in einer Verborgenheit, Gemeinden gründen konnten. Nach der anderen Sphäre hat das Verlangen der Seele hingeführt, dort eine Stätte der Freiheit für ihr Leben, für ihren Glauben und auch für ihren Fleiß, den Fleiß der Seele, zu finden. Und hier ist eine Zukunft aufgegangen, eine Sonne der Gerechtigkeit, und hat ihre Strahlen ausgesandt, um neue und wieder neue Tage zu wecken. Während dort in der südlichen Sphäre des Kontinents eine arrivierte Vergangenheit, die nur noch stillstehen konnte, ihre weitere Stätte erhalten hatte, konnte sich hier ein Wille zu dem, was kommen sollte, entfalten. Dorthin hatten Eroberer und ihr Gefolge ein »Mittelalter«, in dem sie gelebt hatten und leben wollten, mitgebracht. Alten Boden wollten sie auf den entdeckten und bezwungenen auflegen, und erstarrte Formen erstarrten auf ihm nur weiter. Die, welche an den nördlichen Gestaden gelandet waren, wollten, hoffend und suchend, um einer Zukunft willen, sich ihre Stätte, ihre »plantation« bereiten; sie sahen das, was sie schaffen wollten, vor sich und erkannten, was vergangen war. Gleichsam eine Geschichte ohne »Mittelalter« begann hier, und eine neue Welt erstand so. Was sie mitgebracht hatten, war nicht ein Boden, sondern eine Saat, die dem neuen, dem jungfräulichen Boden anvertraut werden sollte. Mit sich, ob sie es alle wußten oder nicht, trugen sie die Samenkörner des konstitutionellen, des organischen Staats-| lebens, des gemeinsamen, für alle gleichen Gesetzes, das durch Persönlichkeiten zum Rechte werden soll, der Toleranz, die durch die Mannigfaltigkeit die wahre Einheit schafft, diesen dreifältigen fruchtbaren Samen, der eine große und bleibende Gabe Englands an die Menschheit ist. Sie haben in dem mutigen Glauben an den Menschen und seine Bestimmung hier für eine neue Zeit und eine neue Welt die Furchen gezogen und in sie mit dem großen Vertrauen des Pflügers die Saat hineingelegt. Die Kinder des alten Volkes auch, Sephardim und dann Aschkenasim, welche den Weg wagten, sie auch als Suchende und Hoffende, sind hier im Lande der vielen und mannigfachen Gemeinden mit dem Rechte, das Gott ihnen gegeben. Ihre eigenen Gemeinden begründend, erfuhren sie diese neue Zeit und diese neue Welt. Es war
307
233
die große Begegnung mit Amerika, die wie wenige zuvor zum tiefen Erlebnis wurde und Geschichte schuf. In dem Jahre, in dem die Sephardim aus Sepharad vertrieben wurden, an einer Wende von zwei Jahrtausenden im Leben dieses Volkes, wurde Amerika entdeckt. Wie ein Providentielles, wie ein Vorbereitendes in der Geschichte, will das erscheinen.
234
Als es sich jenseits des Ozeans vollzog, war in Europa die alte Kraft dieses Volkes bereits neu erwacht. Wundersam war sie zuerst in der Welt der östlichen Aschkenasim geweckt worden. Die alte Mystik der »chasside Aschkenas«, der »Frommen in Deutschland«, die nicht ein mystisches System hatte aufbauen, sondern als eine Lehre ein Leben in Frömmigkeit hatte schaffen wollen, wurde hier wiedergeboren. Als ein ganz Neues stand diese rasch aufwachsende bald da, in der Art, wie sie in neuer Rede sprach, wie sie dem Worte der Bibel den neuen Ton gab, wie sie dem Bilde des | »chassid«, des »Frommen«, die neuen Züge verlieh. Wie kaum eine andere zuvor hat sie viele Bedrückte erhoben, viele der Armen beschenkt. Voller Eigenart trat sie vor die Menschen hin, diese Lehre des »Chassidismus«, mit der alten Mystik aus Aschkenas innerlich verbunden und doch wieder ganz in das eigene Wesen emporgewachsen – ein Wundersames in dem Wundersamen dieses Volkes. Es ist ein merkwürdiges Zusammenkommen in der Zeit, daß eben damals im Protestantismus eine Mystik unter dem gleichen Namen, dem Namen »Pietismus«, »Frömmigkeitsleben«, sich ihren Ausdruck bereitete – der Stifter des Pietismus und der Vater des Chassidismus, der »Baal schem«, sind in einem gleichen Jahre geboren und im gleichen Jahre von der Erde gegangen [1700-1770]. Aber wer die beiden Lehren vom Leben, die hier und die dort, betrachtet, blickt in verschiedene Welten hinein. Was dem Chassidismus seine geschichtliche und menschliche Besonderheit gab und was allein Leben und Fruchtbarkeit aus ihm hervorkommen läßt, ist ein Dreifaches. Er ist, und dies ist das erste, eine Mystik der Persönlichkeit und der Persönlichkeitspoesie. Die stärkste Poesie ist doch der Mensch selbst: ein Mensch, der selbstlos ist und eben dadurch immer und überall er selbst ist, ein Mensch aus einer Reinheit, aus einer Tiefe und Unmittelbarkeit hervor, in der gleichsam seelisches Wesen und Quell aus Gott hervor sich berühren, einer, der darum stets ein Mensch ist, aber immer nur ein Mensch, stets so und doch immer nur so, denn er ist einer, in den, wenn die Stunde kommt, die »Schechinah«, die »Gegenwart Gottes«, einkehrt. Was er spricht, ist mehr
308
noch als dieses Wort, denn etwas aus dem Grund dieses Wortes, aus dem Denken und Empfinden dieses Menschen dringt in die, welche ihm nahe sind, hinein, oft ohne daß sie es wissen, und sein Wort will darum nicht wiederholt, sondern empfangen und bewahrt sein. Es gibt keine Poesie, die so stark, so | ergreifend und so festhaltend ist wie diese. Sie schafft gewissermaßen eine Luft und läutert die Luft, so daß Seelen freier atmen und Herzen höher schlagen. Solche Poesie hat in besonderer Art seit altem, bald hier und bald dort, sich in Menschen dieses Volkes offenbart und in so manchen auch, in denen etwas vom Besten dieses Volkes lebte. Lautere Persönlichkeit bezeugt sich in ihr. Solche Persönlichkeiten und damit solche Poesie sind im Chassidismus wiedergeboren worden. Seine Geschichte ist eine Geschichte von Persönlichkeiten und kann nur diese sein: Er ist im Süden des östlichen Aschkenasim-Gebiets aufgewachsen und ist dann auch nach Norden gewandert und hat sich dort mit einer Philosophie verbunden und, in einem gewissen Widerspruch zu seinen Anfängen, einen Gedankenaufbau unternommen. Aber auch hier hat er Persönlichkeiten gehabt und hat durch sie gelebt. Wo sie fehlten, ist er, im Süden wie im Norden des Ostens, zu einem Wortgefüge und Disziplinsystem geworden und erstarrt. Oder, was an sein Mark griff, eine Profanität, eine Unheiligkeit hat sich seiner bemächtigt. Menschen, die keine Persönlichkeiten waren, haben sich den Mantel der Persönlichkeit umgelegt, und unter ihm konnte sich mancherlei, manches Gehaltlose und selbst manches Gewöhnliche, verbergen. Eine Vielgeschäftigkeit breitete sich dann ringsumher aus, und das Schauspiel trat an die Stelle der »Schechinah«. Aber es bleibt die Kraft und die Geschichte des Chassidismus, daß, wie er durch Persönlichkeitspoesie geboren worden war, er sie weiter gezeugt hat. Das andere, was ihm eigen ist und ihn zum Leben werden läßt, ist die Poesie der »kawwanah«, der »Andacht«, der »Richtung zu Gott«, wie im Gebete, so im Leben. Von einer Poesie darf man hier sprechen, um dieses andere zu bezeichnen, aber ebenso von einer Musik. Es sind hier nicht eigentlich neue Gebete geschaffen worden, aber die Worte der alten Gebete, | in welche Geschlecht um Geschlecht in wechselnden Tagen ihr Wissen, ihr Sorgen, ihr Sehnen hineingelegt hatten, öffneten jetzt neue Tiefe, neue Sphären und damit neue Poesie. Und die Rhythmen und Sätze, zu denen die Worte sich einten, in denen jedes Geschlecht etwas von der Harmonie der »Himmel droben« hatte vernehmen wollen, um sie, in jedem Lande nach seiner Weise, mit menschlichen Tönen wiederzugeben, gewannen jetzt im Chassidismus neue, noch nicht gehörte Klänge. Die Geschich-
309
235
236
237
te dieses Volkes ist, mehr noch als die anderer Völker, eine Geschichte auch der Poesie und der Musik; jede Epoche hat hier ihr Eigenes eingefügt, und Poesie und Musik sind einander begegnet. Aber was dem Chassidismus seine Besonderheit gibt, ist, daß Menschen hier dichtend sangen und singend dichteten, um den Quell des Gebetes aufsteigen zu lassen, und daß dann alsbald das Volk mit ihnen singend dichtete und dichtend sang. Zu Gemeinden des Gesanges, der Dichtung wurden die Gemeinden dieser »chassidim«, dieser »Frommen«. In dem Gebete erwachte hier auch wieder ein lebendigerer Sinn für das Geheimnis, für seine Poesie und sein Gebot – in dem Glauben dieses Volkes ist das Geheimnis immer zugleich gebietend und die Poesie aufrufend und verheißend; und alle Verheißung meint zugleich das Gebot. In den Gebieten, in denen der Chassidismus seinen fruchtbaren Samen ausstreute, wurde von den Lehrern, die dort erstanden waren, in einer besonderen Weise die Dialektik gepflegt, welche die feinsten Motive jedes Zusammenhangs sucht und durch eine zerlegende Analyse zu ihnen hingelangen will. In der Dialektik kann das Verständnis für das Geheimnis verkümmern oder verlorengehen; das Geheimnis läßt sich nicht zerspalten, es ist die letzte, vielleicht die eigentlichste Tatsache. Ihm gegenüber hören die aufgerichteten Unterschiede auf und fallen die gegebenen Unterschiede; ihm gegenüber stehen der Geistes|starke und der Schlichte nebeneinander. Es war eine Kraft der Wiedergeburt, vermöge deren der Chassidismus das Geheimnis wiederentdeckt hat. Und er hat damit den schlichten Menschen wiederentdeckt und ihn in sein altes Recht eingesetzt. Der Sinn für das Geheimnis öffnete Pforten des Lebens. Von der »Andacht« führte ein Weg zu den Menschen, den kleinen vor allem, hin; der alte soziale Zug dieser Religion wurde in einer neuen Weise, mit einer neuen Melodie lebendig. In einer »kawwanah« des Lebens fanden sie sich alle, der vermeintlich Große und der vermeintlich Kleine. Es ist kein Zweifel, daß hier bisweilen die Nebel aufstiegen – es gibt ja auch einen Nebel der Mystik – und das Licht verdunkelten. Wie das Gebet, so konnte das Geheimnis, das von ihm hier entsprang und in ihm wieder mündete, zu einer wallenden Unklarheit und die Unklarheit zu einer künstlichen oder gekünstelten Art oder auch zu einem Dünkel werden. Wo die Frömmigkeit ist, kann bei ihr die Scheinfrömmigkeit sich ihren Platz bereiten; neben den Chassidismus stellt sich der Pseudochassidismus mit seinem immer bereiten Vorrat an Worten und Weisen. Aber wenn der Nebel das Licht verdecken kann, das Licht bleibt doch Licht und wartet der Stunde, wo es hervorbricht.
310
Durch ein Drittes noch bewies sich die Kraft der Wiedergeburt im Chassidismus. Er hat die Seelen für das Messianische und das Erlösende geöffnet. Oder, wie auch gesagt werden kann: Er hat die Seelen eines jeglichen bereitmachen wollen und bereitzuhalten gesucht für jenes entscheidende Gebot, ein Messianisches, ein Erlösendes beginnen zu lassen, ihnen ein Jetzt und ein Hier zu geben. Der tiefe Zusammenhang zwischen dem, was Schöpfung besagt, und dem, was Erlösung bedeutet, wurde in den Gemütern wieder lebendig. In einem jeglichen, so wurde in einer Weise der sephardischen Mystik verkündet, wohne, von der Schöpfung her verborgen, ein schöpferischer Strahl wie ein Funke, der dessen harre, der ihn | erwecke, ihn zu einer Flamme, zu einem Lichte sich erheben lasse. Die alte Idee des Talmuds, welcher der alte, der westliche Chassidismus neuen Inhalt und neue Kraft gebracht hatte, daß ein jeder dazu berufen sei, ein Helfer zu werden, gleichsam ein Genosse Gottes im Werke der Schöpfung, diese Idee, in der ein Ethisches, ein Soziales gleichsam kosmisch wird, ein Messianisches aus einer Tiefe hervor in seine Weite tritt, wurde hier neu. Sie wurde zu neuer Poesie und neuem Aufrufe. Sie hat das Erlebnis aufsprossen und hat die Legende erwachsen lassen. Durch diese Erschlossenheit dafür, daß eine Erlösung überall ihre Stätte und immer ihren Tag hat und daß etwas, was erlöst werden will, auf jeden Menschen wartet, gewann die große Erwartung, die eine große Hoffnung ihre stete Gegenwärtigkeit. Das, was in der Ferne geschaut wurde, blickte den Menschen unmittelbar an. In das enge Dasein kam der große Zug. Es war, als begegneten Menschen dem großen Vorläufer und Versöhner, dem Propheten Elijahu, und als sprächen zu ihnen »Tage, welche kommen werden«: groß ist das, was sein wird und doch heute schon da ist. Gewiß, auch hier waren die Tage nicht gleich und die Menschen nicht gleich; auf die Generation der Schöpferischen folgte die der Nachahmer; was dem einen sein Erlebnis gewesen war, das seine Seele erfaßt hatte und von dem er sich nicht loslösen konnte noch wollte, wurde den vielen zum Ersatz des Erlebnisses, zu der wohlgefällig und heiter erzählten Legende. Aber wie immer mit der Poesie der Persönlichkeit, mit der Entflammung der Andacht, waren hier die Strahlen des Messianischen aufgegangen. In diesem Dreifachen hat der Chassidismus seine Kraft. Er hat seine geschichtliche Bedeutung zunächst in seiner Zeit gehabt. In den Folgen einer tiefen Erschütterung war ihm der Boden bereitet gewesen. So war die alte aschkenasische Mystik dort hervorgewachsen, wo die schwere Heimsuchung, | die »geserah« der ersten Kreuzzüge, Gemeinden vernichtete und in die »Memorbücher« Seite um
311
238
239
240
Seite die Namen der Märtyrer einschrieb. So war die Heimsuchung durch eine andere Kreuzzugsleidenschaft – auch sie wurde die »geserah« genannt –, durch den Aufstand der Kosaken über das östliche Land hereingebrochen und hatte Erde, die sicher schien, zerrissen. Zur Zeit der Großeltern war es geschehen, und in den Seelen der Enkel war die neue Mystik erwachsen. In mancher Hinsicht war sie auch mit der Landschaft verbunden. Die weite Fläche, über die das Schweigen hinschreitet, über das Feld, über die Wiese, über die Steppe hin, durch der Wälder Licht und Dunkel hin, ist sie eine Stätte, nach der ein Sinnen und Träumen hinauszieht. Etwas von diesem großen Schweigen scheint hinter manchem in dieser Mystik zu stehen, sosehr sie eine singende und erzählende Mystik ist. In dieser seiner Zeit und in diesem seinem Lande, mit ihnen zusammenhängend, hat der Chassidismus ein Großes vollbracht. Er hat viele, viele Menschen, dies darf wiederholt werden, innerlich glücklich gemacht, und schon das ist ja ein gewiß nicht Geringes. Er hat kleine, beengte und bedrückte Menschen in eine Weite, in eine Welt der Freiheit geführt. Er hat ein Licht sehen lassen, und dieses Licht ist weithin in die Gassen der Gemeinden gedrungen. So viele sangen, wenn sie in der Erinnerung an die Makkabäerzeit die Lichter der Weihe, der »Chanukkah«, angezündet hatten, in der letzten Strophe des Liedes, das mit den Worten: »Feste, Fels meines Heils«, anhebt: »Laß nahen das Ende des Heils ... denn lang ist die Zeit, und kein Ende ist der Tage des Leids«; von ihrem Weg und ihrer Sehnsucht sangen sie so. Ihnen konnte der Chassidismus in seiner Weise neue Gewißheit geben. Er ist zu einem Teile der Existenz dieses Volkes geworden, nicht nur zu einem Stücke seiner Geschichte. Die Kraft, die in ihm hervorkam, wird bleiben, solange dieses Volk lebt. | Schon bald, nachdem der Chassidismus seinen Weg angetreten hatte, brach in dem alten Bereich der Aschkenasim die erwachte Kraft sich ihre Bahn und griff dann auch nach dem Osten und nach Süden hinüber. Die stärkere Dynamik war in ihr, und sie hatte die vielen erstreckten Weiten und Richtungen. Aus den Gassen der Gemeinden trug sie Menschen in die Welt hinaus, in die Welt ringsumher, die voller Bewegung und Erregung war, in der alles Bestehende zu wanken drohte. Problemen und Problemen, von denen sie nicht gewußt hatten, sahen sich diese Menschen jetzt gegenüber; Problemen, die auf sie eindrangen, und Problemen dann, die von ihnen ausgingen. Die vielen neuen Fragen begannen um die alte, die bleibende Gewißheit zu kreisen, und diese selbst schien bisweilen von ihnen erfaßt zu sein.
312
Die Wiedergeburt im Osten hatte ihren Platz in einem Gebiete, das umschlossen blieb. In sein Inneres trat wenig von draußen herein, und diese Umschlossenheit brachte ein Gefühl der Umhegtheit, ja einer Geborgenheit. Es gab hier in den Gemeinden die Konflikte, und sie konnten sich zu Gegensätzen entwickeln. Aber alle diese Unterschiedenheiten und Zwiespältigkeiten waren innerhalb einer Welt, die im wesentlichen für sich blieb, auf sich nur bezogen und in sich bestehend. An ihr zogen die Stürme, die draußen tobten, vorüber. Man hörte sie vielleicht, aber man wurde nicht von ihnen erfaßt. Man erlebte die eigene Welt, aber nicht zugleich die Welt draußen. In den westlichen Gebieten hatten nach und nach sich Tore geöffnet und waren Mauern gefallen; man konnte frei hinausblikken und hinaustreten. Die Welt drinnen begegnete den Welten draußen, die in stetem Wandel waren. Mit ihnen mußte sich das, was jetzt drinnen erwachte, auseinandersetzen, wenn eine Antwort auf die Fragen, die sich hier erhoben, gesucht wurde. Man konnte nicht länger nur sich angehören. An dem eigenen Denken und Hoffen und Fühlen | wollte und sollte man festhalten, die eigene Existenz wahren. Aber wenn sie lebendige Existenz sein, wenn sie nicht erstarren sollte, mußten von ihr jetzt Wege auch zu den Welten draußen hinführen. Mit ihnen mußte man jetzt auch ringen, wenn man zu sich selbst kommen, wenn man des festen Mittelpunkts bewußt bleiben wollte. Der Wandel draußen mußte einen Wandel drinnen bewirken; das große Gebot war, ihn nichts anderes als einen Wandel um den bleibenden Mittelpunkt sein zu lassen. Und die Sphären draußen leuchteten in so manchem Glanze, und Hoffnungen erstrahlten dort, die echten und die trügerischen. Der Kampf zwischen der Hoffnung und den Hoffnungen mußte hier bestanden sein. Den östlichen Gebieten waren solche Lockungen und solche Beirrungen noch nicht genaht; dort war dieser Kampf um die seelische und die geistige Existenz noch nicht gefordert. Er war die Aufgabe, die den Aschkenasim in der westlichen Hälfte des Erdteils gestellt war. Sie haben diese Aufgabe vollbracht, soweit Menschen auf Erden ein solches vermögen. Mit einer Widerstandskraft der Seele und einer Spannkraft des Geistes, die auch in der Geschichte dieses Volkes kaum übertroffen sind, haben sie es so vermocht. Gegenüber alle dem und inmitten alles dessen, was verheißend an sie herantrat oder drohend gegen sie eindrang, was ihnen die Erfüllung versprach, wenn sie nur nicht fernerhin erwarteten, was ihnen den Untergang ankündigte, wenn sie noch weiterhin zögerten, haben sie es so vermocht. Sie haben Menschen verloren, Reihen wankten bisweilen, aber sie sind doch aufrecht, furchtlos vorwärtsgeschritten. Für ihr
313
241
242
243
Volk, das leben soll, für dieses Volk, nicht nur für sich selbst, haben sie es so vermocht und vollbracht. Ohne diesen Kampf, den sie aufnahmen, als der Tag gekommen war, und den sie bestanden haben, hätte dieses Volk nicht in der lebendigen Existenz bleiben können noch auch durch Wiedergeburten für | alle Tage, welche kommen würden, gewiß sein dürfen. Ihre besondere Geschichte ist, ob sie es wußten oder nicht, eine Geschichte um des großen Ganzen willen geworden, so wie in früheren Zeiten der Wiedergeburt es einst in den Landen Judäa und Galiläa und es dann in den Bereichen der Sephardim getragen und bewährt und erlebt worden war. Der Kampf, den diese Menschen jetzt geführt haben, war vorerst der um die Bedeutung eines großen Zusammenlebens im Lande und auf Erden. Die nie endende Frage nach den Grenzen und den Weiten des Daseins trat vor sie hin. Seit der erste Grenzstein aufgerichtet worden war und seit so Menschen, Sippen, Stämme, Nationen, Gemeinschaften beschlossen hatten, nebeneinander zu sein, hat sich immer wieder diese Frage eingestellt, was trotz der Grenzen verbinde und über sie hinaus schließlich doch eine. Eine der bleibenden Antworten der Propheten, die von der einzigen Einheit, welche Bestand haben wird, der Einheit in der Moral, im Gottesgebote, ist von hier ausgegangen. Eine der großen Ideen von Lehrern in China, von griechischen Denkern und von römischen Staatsmännern, die der Vereinigung für gemeinsame Zwecke und Ziele, ist von hier hervorgekommen. Wie im Erdbereich, so standen in der geistigen Welt diese beiden, Recht und Pflicht der Grenze und Anspruch und Wert der Weite, einander gegenüber. Immer wieder hat sich bald die eine Frage erhoben, bis wohin der Platz der Besonderheit reiche, bald die andere, bis wohin das Allgemeine hereindringen dürfe. Für dieses Volk, das seit langem kein Land besaß, waren um so bestimmter und um so bedeutungsvoller im Geistigen, im Religiösen die Grenzen eingezeichnet. Aber zugleich war, da keine sichtbaren Grenzen den Blick bannten, der Geist um so unbehinderter zu dem hinausgezogen, was alle Getrennten zusammenführen werde. In einer Gewißheit dessen lebte es, was ein Neujahrshymnus sang, der wohl am Beginne dieser | Zeitenwende verfaßt wurde: »Kommen werden sie nun alle, Dir zu dienen, o Gott.« Grenzen fielen vor dem Blicke. Aber um so tiefer waren sie hier ringsumher eingegraben. Die Absonderung war die Form der Existenz. In dieser Form fühlte und dachte man und hatte man in den vielen Tagen, deren man sich erinnerte, empfunden und gedacht. So war es wie eine große Revolution, als scheidende Schranken nun sanken und eine Ferne zur Nähe zu werden schien. Es war eine Revolution in der Geschichte
314
dieses Volkes, dessen Glauben einst als die große Revolution in die Geschichte der Menschheit eingetreten war und in ihr sie geblieben ist. Es war eine Revolution, die in das Leben jedes einzelnen hineingriff. Nicht nur die äußeren Bedingungen des Daseins und nicht nur die Bereiche jedes Tages wandelten sich, die Formen der Existenz, die Form, in der sich das Bleibende ausdrücken will, mußte umgestaltet werden. Nur der Mensch selbst, nur das Volk selbst, nur die Gemeinschaft selbst können die Aufgabe solcher Umgestaltung unternehmen. Die Gunst der Stunde kann es hier und dort erleichtern, die Ungunst der Stunde mag es erschweren. Aber geleitet werden kann das Werk nur von denen, seien es viele oder wenige, denen es die Geschichte anzuvertrauen suchte. Auch die Geschichte ist ein großer Experimentator. Die Aschkenasim in den mittleren und westlichen Ländern Europas waren jetzt aufgerufen. Sie konnten der Aufgabe nicht entgehen; denn die Geschichte, die ihren Weg nahm, führte sie zu ihnen hin. Und Geschichte ist beides in einem: das Unabweisbare und die Möglichkeit. Wer die Stunde begreift, macht gleichsam die Notwendigkeit zu seiner Freiheit. In das Neue eines dreifachen Bereiches sollten diese Menschen, in denen das Alte, das Jahrtausend lebte, jetzt eintreten: in eine veränderte Betrachtung der Welt, in eine sich ausbreitende allgemeine Kultur und in das Bürgertum wer|dender Staaten. Ihr Glaube, dieser Standort, auf dem sie ihrer selbst erst ganz bewußt wurden, von dem allein ihr eigentlichstes und eigentümlichstes Sinnen und Hoffen ausgehen konnte, blieb derselbe. Er mußte derselbe bleiben, wenn nicht die ganze Kraft in die Form hineingehen, wenn nicht in der Änderung der Form die Existenz erschlaffen oder zuletzt verlorengehen sollte; es war jetzt oft so, daß in manchen dieser Menschen zuviel der Form und zuwenig der Existenz war. Aber so bestimmend der eine Standort sein sollte, Richtungen, Bestrebungen und Wünsche, die von ihm ausgingen, konnten jetzt nicht mehr die nämlichen wie vorher sein, oder sie hätten verkümmern und schwinden müssen. Und ein Standort, der nicht zugleich ein steter Ausgangspunkt ist, wird selbst wesenlos und bedeutungslos. Das, was von dem einen Standorte, diesem Boden der Gewißheit und der Zuversicht, seine Bahn sich zu bereiten suchte, war so jetzt, wenn es sich überhaupt regen wollte, zu Neuem hingelenkt, zu jenen drei Bezirken einer veränderten Welt. Der erste war der einer neuen Betrachtung und Erforschung des Kosmos. Das Entscheidende war hier nicht die Tatsache, daß die Wissenschaft weite Gebiete erobert hatte und neue beanspruchte. Der Respekt vor der Wissenschaft und das Verlangen nach ihr wa-
315
244
245
246
ren in diesem Volk immer lebendig. Aus demselben einen Grunde, so wurde hier gelehrt, kommen das Verborgene und das Offenbare hervor, die Anerkennung des einen ist zugleich die Anerkennung des anderen. Worin jetzt verlangt wurde, den Blick neu einzustellen, um sich zurechtzufinden, war ein anderes. In der Welt ringsumher bestimmte jetzt ein Rationalismus alles Denken, nicht nur bis zur Poesie und zur Religion hin, sondern in sie hinein. Das breite Rationale, Logische überdeckte die Tiefen des Psychologischen, die Demonstration hieß das Geheimnis vergessen, ein Optimismus, der nur gerade Linien zeigen wollte, zog den Blick von der | Problematik des Erdgebundenen fort. In diese Welt des Rationalismus sollten jetzt die Menschen eintreten, die durch Generationen »homines mystici«, mystische Seelen, geworden waren, diese Menschen, für deren Denken, auch wenn sie der eigentlichen Mystik ferner waren, am Anfange das Geheimnis blieb und alles Gesetz auch im Geheimnis wurzelte. Dem Deutlichen, dem Berechenbaren sollten sie auf allen seinen neuen Wegen, den jetzt erschlossenen, bereitwillig folgen, ohne ihnen eine Grenze des Zieles zu bestimmen zu suchen, und sollten doch unterwegs nie die eine Gewißheit verlieren, die von dem Feststehenden, das kein Rationalismus feststellen konnte, die des Verborgenen, das der Grund von allem ist. Es war dasselbe Problem, wie es Spinoza erfaßt hatte, als er ein Jahrhundert vor den vielen anderen in die neuen Sphären, die er erkannte, hinausgetreten war. Er hatte es zu lösen unternommen, indem er die Fülle der Erscheinungen in eine einheitliche Gesetzmäßigkeit und diese einheitliche Gesetzmäßigkeit in eine unergründliche, alles umfassende Einheit, den »intellectus« in den »amor«, hineinstellte. Über seinem Rationalismus darf das mystische Element nicht vergessen sein. Die Generationen, in denen jetzt die Kraft von den Jahrtausenden her erwachte und sich erhob, haben ihren eigenen Weg sich bereiten müssen. Aber ihr Problem war vorher das seine gewesen. Ihn hatte es am Anfange, sie auf dem Anstiege dieser neuen Zeit ergriffen. In der Aufgabe, die gestellt war, haben er wie sie in einem besonderen Verlangen der neuen Zeit, dem nach der Mathematik und der Ethik, bald ein eigenes wiederfinden können; es war ein altes Besitztum in ihrem Volke. Mathematik und Ethik miteinander zu verbinden, war Spinozas Vorhaben gewesen; die beiden in einem weiten Sinne zusammenzuführen, wurde jetzt ein wesentliches Stück der geistigen Arbeit innerhalb der neuen Generationen dieses Volkes hier. | Die Leistung, die zuerst in der Erringung und dann in der Erweiterung der neuen Wissenschaft von den Aschkenasim hier vollbracht
316
wurde, ist eine große, fast möchte man sagen, eine gewaltige. Wer zurückblickt, steht mit einem Staunen davor. Vier geistige Revolutionen sah ein nun abgeschlossenes Jahrhundert – Revolutionen, das besagt: Beginne von einem neuen Standpunkte her, mit neuen Prinzipien, die eine neue Richtung fordern. Nacheinander, auf dem Gebiete der Biologie [Darwin], der Soziologie [Marx], der Psychologie [Freud], der Physik [Einstein], setzten sie ein, tiefgreifend und weitgreifend, und drei von ihnen, die drei letzteren, gehen auf Männer dieses aschkenasischen Teiles dieses Volkes zurück. Und neben dem Genialen steht das Werk des Talentes auf fast allen Gebieten und in einer seltenen Fülle. Aus der Geschichte der Wissenschaft ist das alles nicht fortzudenken, dieses Vollbringen dieser Menschen aus diesem einen geschichtlichen Raume dieses Volkes. Es war, wie wenn Ströme der Tiefe, die lange zurückgedrängt waren, nun hervorbrachen und hierhin und dorthin ihre Wasser sandten, um den Boden zu befruchten. Auch in die Form der Existenz dieses Volkes und auch in sein Bild vor den Augen der Völker sind damit Züge eingezeichnet worden. Doch bedeutungsvoller für die Existenz war jenes Ringen um den neuen Ausdruck für das geschichtlich bleibende Eigentum, damit es das Eigentum bleibe, um das Erbe der Offenbarung, damit es den Kindern zugehöre, um die Antwort des Geheimnisses auf die Frage der Seele, damit in der Welt der neuen Erkenntnisse und Entdekkungen, der aufgetanen Weiten und Fernen die alte Gewißheit vom Sinne der Welt bestehe. Um die Existenz selber handelte es sich hier, um das Bewußtsein von sich selber, das der wiedererwachte Genius gewinnen sollte. Daß der Genius eines Volkes von sich selber neu zu wissen beginnt, ist die Aufgabe in der Wiedergeburt und ist das Zeugnis von ihr. | Das zweite, was damals durch die Geschichte gefordert wurde, war der Eintritt in die allgemeine europäische Bildungskultur. Gegenüber jenem ersteren war es ein Leichteres. Nicht zu einer Tiefe sollte man hinzudringen wie dort, um eine seelische und geistige Kraft, für den neuen Ausdruck des Bleibenden, zu erlangen. Man sollte hier breite Straßen aufsuchen, auf denen viele, von überallher, sich trafen, Straßen, die zu der überstaatlichen Republik der Gebildeten hinführten. In ihr würde denen das Bürgerrecht zukommen, denen der Staat, in dem sie wohnten, es verweigerte. Bereitwilligen, ja frohen Herzens haben sich in den mittleren und westlichen Ländern Europas viele der Kinder der alten Gemeinden dahin gewandt, und sie haben eine reiche Befriedigung gefunden. Sie blieben in ihrem Land und waren doch gewissermaßen nach einem an-
317
247
248
deren, einem ferneren und helleren, fortgezogen; sie wohnten in ihren alten Gemeinden und wohnten doch zugleich, zusammen mit vielen anderen, in einem geräumigen Reiche, dessen Tore immer offenstanden, das jeden, der eintreten wollte, willkommen hieß. Die Gemeinden dieses Volkes wollten hier oft Gemeinden von Gebildeten sein. Die Geschichte nahm dann auch diesen Weg. Aus den Bürgern der Republik der Gebildeten wurden die Bürger der Staaten; sie hatten sich selbst ein Bürgerrecht gegeben, ehe der Staat es ihnen verlieh. Diese neue Bildung, zu der Suchende, Ausschauende aus den Gemeinden hinauszogen und die dann bald auch in die Gemeinden einkehrte, hat in der Verbindung mit diesen Menschen Eigenartiges und Wertvolles zu oft bewirkt. Werdende, sich weitende Bildung traf hier auf vertiefte, gewordene Bildung. Sowohl eine kluge Weisheit, die prüfend in den Tag hineinblickte und zugleich das sah, was hinter und unter dem Tage war, wie auch ein liebevolles und auch verzeihendes Verständnis für eine Begabung, die des Lichtes bedurfte, haben | hier Männern und Frauen oft einen besonderen Reiz gegeben. Diese Gebildeten aus den Gemeinden dieses Volkes hatten damals ihren eigenen Platz unter den Gebildeten im Lande. Auch so konnte es sich fügen und hat es sich, je länger, desto mehr, hier oft gefügt, daß die neue Kultur, die neue Bildung, der alten den Raum fortnahm oder sie vergessen ließ. Diese alte Kultur war in der inneren Existenz, in der Wesensart verwurzelt, und Wurzeln drohten so zu verkümmern. Es konnte dann und mußte vielleicht, in einem psychologischen Gesetze, so geschehen, daß alte Kultur, alte Bildung, nach der Oberfläche hindrängte und hier glänzte oder glitzerte und die Tiefe sich verlor, der Hintergrund verblaßte. Es konnte dann auch, und wieder in einem psychologischen Gesetze, sich häufig so entwickeln, daß bei den einen das Seelische saftlos und kraftlos wurde und aller Drang in das Verstandesmäßige, das Intellektuelle hineinströmte oder daß in anderen alles Gefühlsleben in eine Empfindsamkeit, eine Sentimentalität auseinanderfloß. Beide, der gesteigerte Intellekt und die dünne Sentimentalität, konnten sich auch verbinden. Die Erscheinungen waren mannigfach. In ihnen zeigte sich das Auf und Nieder, das Hin und Her einer Zeit des Übergangs, die nicht erspart werden konnte, und an ihnen wurde damals die Aufgabe offenbar, die gelöst werden sollte, als die Renaissance ihre Kraft gewann. Der Eintritt in die neue Bildung war zugleich ein Eintritt in die Gegenwartssprachen der Länder. Das Jahrhundert, in welchem dieser Übergang einsetzte, das der sogenannten Aufklärung, ist auch
318
dadurch gekennzeichnet, daß das Landschaftsempfinden einem Staatsempfinden wich. Wie das Landschaftsgefühl trat auch die Landschaftssprache allmählich zurück. Sie gab einer Gesamtsprache des Landes, einer »Schriftsprache« den Raum, die weniger an Behaglichem, an Gelassenheit des Ausdrucks hatte, aber dafür die bestimmtere, die unmittelbare | Linie erstrebte. In den Menschen dieses Volkes ist überall, wo sie heimisch werden durften, ein starkes Heimatsgefühl erwachsen, und ihre Sprache auch pflegte und wahrte den heimatlichen Ton und die alte heimatliche Form, auch wenn ringsumher sich die Weise oder die Klangart schon wandelte. Zumal in dem weiten aschkenasischen Gebiete war es so. Jetzt zogen sie wie zu einer neuen Bildung, so zu der neuen Sprache hin und haben sie bald sich zu eigen gemacht. Meist blieb noch der alte »Dialekt« und mit ihm ein seit alters gehegter biblischer Klang in den Häusern und der Gemeinde wie eine Art von Nachbarschaftssprache. Aber die neue, die mit allen den anderen verbindende Sprache nahm doch schließlich hier überallhin ihren Weg. Aus einem alten Besitztum wurde ein neues, ein neu geformtes. Es ist staunenswert, wie rasch und wie weithin auch hier aus den Lernenden Könnende wurden, Männer auch, die der Sprache ein eigenes Gepräge gaben. Wie von selbst konnte sich dieses vollziehen. Kein innerer Kampf war verlangt, mochten sich auch anfangs Widerstände, aus der Furcht vor jeglichem Neuen hervor, hier und dort erheben. Von der Seele war nichts beansprucht. Um so mehr hatte sie in dem dritten, was jetzt gefordert war, dem Eintritt in die Geschichte der Länder, sich mit Fragen und auch mit Hoffnungen, die in ihr Leben hineinreichten, auseinanderzusetzen. Jahrtausende sollten hier in Jahrzehnte eintreten, um sich mit ihnen zu einen. Jede neue Epoche in der Existenz dieses Volkes hatte die doppelte Aufgabe gestellt. Der alten, bleibenden Offenbarung den neuen Ausdruck zu bereiten war die eine; dem alten, dem bleibenden Wege den Zugang zu neuen Zielen zu bahnen war die andere. In diesen zwei Aufgaben hat sich hier die Existenz immer erneu[er]t. Diese zwei sind untrennbar. Wenn man sie trennen wollte, wenn man nur der einen und nicht zugleich der anderen ins Auge blicken wollte, dann waren beide verkannt. Und wenn | das Erwerben einer neuen Bildung, das nur eine Hilfe für diese beiden sein konnte und sollte, für die eigentliche, die entscheidende Aufgabe angesehen wurde, dann war die Substanz, das Wesen gefährdet. In den verschiedenen Epochen konnten diese Forderungen den verschiedenen Akzent haben, den stärkeren oder schwächeren, und dieser besondere Akzent gibt der Epoche eine Besonderheit. In der, welche
319
249
250
251
jetzt einsetzte, lag ein bestimmender Ton auf der Frage, mit der sich die Geschichte jetzt an dieses Volk wandte. Die vielen, vielen Tage hindurch hatten diese Menschen in den Ländern gewohnt, aber nicht gelebt. Sie hatten an dem inneren Ergehen dieser Länder keinen Anteil; weder durften noch konnten sie ihn haben. Not oder Mißgeschick dieser Länder traf auch sie, und darüber hinaus wurde fast jedes Land ein Schauplatz für Verfolgungen, von denen sie heimgesucht wurden. Sie hatten dort einen Platz und eine Gasse für ihr Dasein, aber sie teilten kein Leben mit allen den anderen, die dort waren. Sie hatten in dem leibeigenen Bauern, dem »glebae adscriptus«, einen Genossen in der Bewegung und Entwicklung, aber eine Ferne lag zwischen ihnen. Ihr Leben hatten diese Menschen in ihren Gemeinden, hier regten sich und webten ihre Gedanken, hier dehnten sich ihre Empfindungen, hier weitete sich die Hoffnung, von hier tat sich ein Zugang auf, hin zu den kosmischen Kreisen, zu mystischen Sphären. Hier war eine Welt für sich, eine Welt, die ihnen ihr Leben barg. Und jetzt öffnete sich ihnen eine neue Welt, die sie aufnehmen konnte, sie, so schien es, aufnehmen wollte. Sie sollten in dem Lande, in welchem sie wohnten, nun auch leben, das miterleben, was dieses in Freude und Leid erfuhr. Sie sollten in die Geschichte des Landes eintreten. Durch eines wurde diese Aufgabe erleichtert. Der Begriff Geschichte gewann damals in den westlichen und östlichen Ländern und der mittleren Halbinsel Europas und auch drü|ben in Amerika einen neuen Gehalt. Er wurde neu, weil die Geschichte selbst neu wurde. Die große Französische Revolution, deren Mutter die Zeit und deren Vater Jean Jacques Rousseau war, vollzog die große »Umwertung« geschichtlicher »Werte«. Eine Vergangenheit wurde verworfen, Grenzen, die sie gezogen hatte, sollten verschwinden, einer Idee sollte die Bahn bereitet sein. Die Geschichte, in die dieses Volk jetzt eintreten sollte, war eine andere, als sie vorher gewesen war. Aber auch in einem ganz Besonderen hat die Geschichte damals die andere Linie erhalten. Die große Revolution hat einem Gedanken das Leben gegeben, welcher die Fülle der Folge und die Fülle des Verhängnisses in sich trug. Dieser Gedanke war der von der Nationalität. Er konnte ein guter Genius sein und konnte ein böser Genius werden. Er hat die Idee vom Volk und die Idee vom Staat und damit die von der Geschichte verwandeln können. Er wollte auch ihr eine veränderte Bedeutung geben; meist ist das zum Schlimmen geschehen. Aber auch er hat zunächst, bevor er den Bund mit der Romantik einging, den Blick zu etwas, was verheißen wurde und kommen sollte, hingelenkt. Es war eine Zeit, welche Tore öffnete.
320
Jede Revolution ist in ihrer Vorbereitung langsam und still, nur der Ausbruch ist dann plötzlich. Dieses Volk hatte wenig von dem, was damals sich angebahnt hatte, um dann hervorzustoßen, miterlebt; es hatte sich innerlich nicht rüsten können. Wie über Nacht kam für sie die neue Zeit und stand plötzlich vor ihnen. Erst allmählich konnten sie der neuen Tage bewußt werden und begreifen, was auch für sie »Freiheit und Gleichheit«, die jetzt verkündet worden waren, fortan zu bedeuten hatten. Sie hatten auch noch nicht zu den bestimmten Fragen hinlenken können, welche dann der Vollstrecker der großen Revolution, Napoleon, ihnen stellte, als er ein Parlament und dann ein Sanhedrin ihrer Gemeinden zusammenberief. Diese Fragen waren mannigfach, sie betrafen die Treue, | die Hoffnung, das Haus, das Erbe, das Gebot, die Gemeinschaft, und ihnen allen lag die eine Frage zugrunde, ob dieses Volk nun bereit sei, in die Länder und ihre Geschichte einzutreten und darin die Zukunft zu sehen. Aus den Antworten, die gegeben wurden, klingt die innere Unsicherheit, etwas wie ein Unbehagen, hervor. Es konnte kaum anders sein. Die Männer, welche hier die Sprache für ein Volk und eine Zeit sein sollten, hatten noch nicht in die ganze Bedeutung des Problems eindringen können. Die Spanne war noch zu kurz gewesen. Sie standen wohl ungläubig ihm gegenüber. Als aber dann eine heranwachsende Generation mit dem Neuen, das hereingebrochen war, von Tag zu Tag vertrauter wurde, ergriff das Verheißende weithin die Gemüter. In den Ländern, in denen die Väter gewohnt hatten, von schwankendem Boden getragen, würden sie fortan leben, so erwarteten und ersehnten jetzt viele. Sie würden Bürger der Staaten sein und alles das erfüllen, was dieses Wort »Bürger« zu meinen begann. Sie würden daran mitarbeiten, daß überall das Neue, das heraufzog, zur Wirklichkeit werde, und sie würden darin Aufgabe und Glück ihrer Tage besitzen, und wie die Geschichte ringsumher würde die ihre, die besondere, auch neu werden. Die Hoffnungen erwachten fast überall. Bald sprachen sie lauter als die alte, die große Hoffnung, die eine, die stete Erwartung; bald, so glaubte man, habe diese, die eine, jetzt in ihnen einen Ausdruck gefunden. Die neue Bildung mit ihrer Sprache, die man erwarb, mit der Kultur, die man zu eigen gewann, sollte dem auch dienen. Viele meinten, vor den Zugängen einer messianischen Zeit zu stehen. Mit allen diesen Fragen, welche die neue Weltanschauung weckte, den Fragen nach dem Sinn des Geheimnisses und der Offenbarung, rangen die wenigen nur, und um die innere Bewegung, das innere Drängen war die äußere Stille gebreitet; ohne das Geräusch kämpfte der Geist, der in Weiten und in | Generationen denkt, für
321
252
253
seinen Weg. Von den Fragen nach der neuen Bedeutung der Geschichte wurden die vielen, fast alle erfaßt, von der Unruhe der Straßen waren sie bedrängt, und Stimmen des Tagen wollten die Antwort geben. Das Nahe und Wechselnde war das Feld der Gedanken; sie traten immer wieder und überall heran. Sie hielten den Vordergrund, während jene anderen in dem Hintergrunde blieben, zu welchem die Tiefe hervorsteigt. So konnte es scheinen, als sei die Existenz dieses Volkes jetzt eine politische, eine nur aktuelle geworden, als wandelte sie mit dem Wandelbaren. Bisweilen drohte es in der Tat, so zu sein. Es war, als begännen Jahrzehnte die Jahrtausende zurückzudrängen. Es war, als könnten die Kräfte der Wiedergeburt dem erliegen, was der Tag hervorbrachte. Aber sie haben sich durchzusetzen vermocht. Sie haben der neuen Epoche mit ihrem dreifachen Aspekt, dem neuer Weltbetrachtung, dem neuer Kulturgebiete und dem neuer Geschichtssphären, den wahren Sinn und den Wert gegeben. Die schwere Probe, eine der schwersten im Leben dieses Volkes, wurde bestanden. Spannkraft und Widerstandskraft fanden einander und schufen Formen der Existenz.
254
Ein Mann, in dem sich der Anbruch der neuen Epoche charakterisiert, Moses Mendelssohn aus Dessau, hat in sich, in einem stillen Leben, das immer vernehmbarer und erkennbarer wurde, die Verbindung von Widerstandskraft und Spannkraft, von Willen zum Gewachsenen und Willen zum Werdenden erreicht. Durch seine Persönlichkeit, die in diesem Bemühen sich formte, hat er es so vermocht. Sie wurde der Erweis neuer Möglichkeit, neuer Weise, neuer Erfassung der Existenz. Er hat die neue Epoche nicht begründet noch auch sie angebahnt, aber er hat denen, die mit ihm lebten, und denen, die nach ihm kamen, es eindrucksvoll dargetan, daß | neue Tage fragend, gebend und fordernd zu ihnen hintraten und daß sie antworten sollten und empfangen könnten. Er ist das Beispiel geworden, das zu vielen sprach, zu Menschen drinnen und draußen, die zögernd und tastend für eine Begegnung den Zugang suchten. Für eine Zeit, die im Ungewissen noch war, wurde er zu einer Vergewisserung. Es war eine segensvolle Fügung, daß ein Mann, wie Mendelssohn es war und geworden ist, dem Beginne der Epoche geschenkt wurde. Erst spätere Tage konnten diese Bedeutsamkeit ganz begreifen. Er hatte nicht die Genialität eines Jehuda Halevi, nicht die große Meisterschaft eines Moses ben Maimon, die auf Probleme, die den seinen gleichen, zu antworten hatten. Sie hatten in einer Hinsicht es leichter gehabt; sie standen in der Mitte einer Epoche. Er hatte nicht
322
den grandiosen Zug des Denkens und Ahnens, wie er Baruch Spinoza verliehen war, der der Epoche voranging; in ihm wohnte nicht der Genius wie in Spinoza, in ihn kehrte der Genius für Tage und Stunden nur ein. Sofern man zu erkennen vermag, hat er mit sich auch nicht gerungen. Er hat es von sich selbst gesagt, daß er zum Heroismus nicht geboren sei. Aber er, der unscheinbare Mann, hatte den großen, nie versagenden Mut zu sich selber, den schlichten Mut, der zur Selbstverständlichkeit wurde, der niemals und nirgends sich darstellen wollte, aber stets und überall sich bewies. Er wollte nie erscheinen, aber man fühlte, daß er da war. In ihm war das, was zu allen Zeiten den Besten dieses Volkes und diesem Volke selbst in besten Tagen zu eigen ist: die Naivität der Reife, die verliehen ist, wenn die wunderbare Gabe der Kindheit, die Naivität, nicht mit der Kindheit endet, sondern in vollbringenden Jahren sich erfüllt. So steht er zwar an einem Beginn erst, Anfänge erst zeigen sich in ihm auf. Aber in seinem Wesen, seinem Menschentum, ist eine Erfüllung. Seine Persönlichkeit ist sein eigentlichstes | Vollbringen, man möchte sagen, sie ist seine geschichtliche Leistung. Aber neben ihr sind die Leistungen, kraft derer er ein Lehrer geworden ist. Er hat die Aufgabe der neuen Bildung und ihrer Sprache für sich gelöst und ist dann darin der Lehrer der Gemeinden im Gebiete der deutschen Sprache geworden. Er ist es dadurch besonders geworden, daß er es unternahm, die Bibel in die deutsche Sprache zu übersetzen. Die Art seiner Übersetzung ist nicht mit der Originalität der alten griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta, zu vergleichen, die schon als erste Übersetzung eines ganzen Schrifttums völlig für sich steht. Sie ist auch nicht neben den Reichtum der aramäischen Bibelübersetzungen, der Targumim, noch auch neben die Majestät der römischen Bibelübersetzung, der Vulgata, zu stellen, auch nicht neben die Kraft und die Poesie, die in der deutschen, der Lutherischen, und in der englischen, der Authorised Version, sind. Aber sie ist der bedeutungsvolle Beginn, in einer neuen Sprache zu dem Volke der Bibel das sprechen zu lassen, was die Bibel sagt. Wie jede echte Bibelübersetzung will sie davon Rechenschaft ablegen, daß die Heilige Schrift in jeder Sprache und zu jeder Zeit redet. Ein mahnendes Wort klingt so auch aus ihr hervor, und es ist auch gehört worden. Fast jedes Geschlecht nach Mendelssohn hat von neuem zu den Gemeinden in den Ländern der deutschen Sprache eine Übersetzung der Schrift hinführen wollen. Auch darin hat hier der Humanismus dieses Volkes sich bewiesen, denn jeder Humanismus ist doch in seinem Grund ein Wille zur Gegenwart, nicht zu einer Vergangenheit. Ein religiöses, ein sittliches, ein geistiges Erbe, ein Be-
323
255
256
257
sitz aus Menschentum und für Menschentum soll lebendig, soll gegenwärtig gemacht werden. Ein Problem trat diesem Manne noch nicht entgegen, das der persönlichen Teilnahme an der Geschichte der Länder. Sein Leben war vor der großen [französischen] Revolution beschlossen, welche | diese Fragen vor die Menschen in den Gemeinden hinführte. Wohl hatte er den Staat in der Form, die dem durch die Revolution geschaffenen voranging, kennengelernt, den absoluten Staat des neuen Merkantilsystems, den Vorläufer des absoluten Staates, des Produktionssystems. Er lebte als ein Zugelassener in der Hauptstadt eines der stärksten dieser Staaten, in Berlin, er hat hier sich die Form seines Lebens bereiten können. Zur Literatur und Philosophie des Landes hat er beitragen dürfen, aber nicht zum staatlichen Leben. Denn für jeden dieser Staaten waren die Menschen in den Gemeinden teils, wie schon vorher, Objekte fiskalischer Absichten, teils nun Instrumente merkantiler Pläne. Sie hatten keine Pflichten im Staate zu erfüllen, sondern wurden nur nutzbar gemacht. Aus den Pflichten hätten Rechte entspringen können; Objekte sind nur ergiebig oder werden unergiebig, Instrumente sind nur brauchbar oder werden unbrauchbar. Eine freie Aktivität kam ihnen allen nicht zu. So hat auch Mendelssohn in dem Staate noch nicht gelebt, er hat in ihm nur gewohnt. Er lebte in dem überstaatlichen Reiche der Gelehrten und Gebildeten, dem eigentlichen »Reiche« dieser Zeit, hier war er ein Bürger, hier traten die Pflichten an ihn heran, hier wurde er seiner Rechte gewiß. Von hier kamen auch die Probleme hervor, die nun der eigentliche Inhalt seines Lebens wurden. Hier lebte er, dessen Wesen seine starken Wurzeln in dem alten Erbe hatte, dessen Persönlichkeit aus diesem tiefen Boden hervorgewachsen war, als dieser Mensch in der Luft der »Aufklärung« und ihrer Wissensart. In diese neue Welt, die er nun innig liebte, waren er und in ihm das alte Erbe, das ihn nie verließ und das er nie verließ, hineingeführt worden. Zwischen diesem Gewachsenen und dem Gewordenen, zwischen diesen Jahrtausenden seines Wesens und den Jahrzehnten seines neuen Daseins, mußte eine Harmonie erreicht werden, | in der beides, jedes in seinem Eigenen, den vollen Klang besaß. Um seinetwillen, damit er innerlich bestehen könne, und um seines Volkes willen, damit es auch in der neuen Zeit Existenz und Weg habe, mußte diese Verbindung erlangt sein. Um seinetwillen und um seines Volkes willen mußte es so sein; denn ohne dieses sein Volk konnte er sich nicht denken, und seine Gedanken konnten sich dem Letzten aller Fragen nicht zuwenden, wenn in ihnen nicht auch dieses sein Volk
324
vor ihm stand. Seine eigene, seine persönliche Existenz konnte nicht ohne die seines Volkes sein. Aber zugleich konnte sie sich nicht ohne die neue Welt entfalten, in die er eingetreten war. Auf ein Problem ging das alles für ihn zurück, auf das des Gesetzes und der im Gesetze gegebenen und aus ihm sich entwickelnden Erkenntnis und Moral. Doch welches ist das Gesetz, welches zugleich aufklärt und verbürgt und damit zugleich verpflichtet und verbindet? Ist es das, welches durch die Vernunft erschlossen wird und durch welches die Vernunft selber sich erschließt? Oder ist es das, welches aus dem Geheimnis hervor diesem Volk offenbart worden war, das »Gesetz vom Sinai«, das in diesem Volke wuchs und ihm die Kraft gab, immer wieder neu zu werden, zu einem Neuen wiedergeboren zu sein? Die Antwort hierauf wurde ihm, als er in der neuen Welt der Aufklärung sich seinen Platz bereitet hatte, zur Aufgabe seiner Tage. In ihr hat er, der bis dahin fast unbewußt seinen Weg dahingeschritten war, diesen seinen Weg erst ganz zu verstehen gelernt. Er wurde seiner selbst und seiner Bestimmung nun deutlich bewußt. Wohl dem, dem es in Wahrheit so zuteil wird! Die Antwort, die er gibt, ist keine neue; sie erinnert in vielem an die früheren Denker. Aber sie ist in neuer Denkweise, in neuer Ausdrucksform gegeben. Nach ihm kamen zwar andere Tage für die Philosophie. Wie sein Leben vor der | Französischen Revolution beendet war, die den neuen Staat heraufbrachte, so war die Entwicklung seiner Methode schon an ihrem Ziele, als der große Revolutionär der Philosophie Immanuel Kant hier neue Wege wies. Aber auch hier steht Mendelssohn an einem Beginne. In eine neue Zeit, die vor ihm angefangen hatte, hat er als erster das alte Problem hineingestellt, und die, die nach ihm kamen, haben von ihm gelernt, auch wenn sie über ihn hinausschritten. Die Antwort, die er zu geben versucht hat, ist die, daß das Gesetz der Vernunft und das »Gesetz vom Sinai« sich innerhalb der Menschheit zueinanderfügen. Das eine ist in alle hineingelegt, damit es sich in allen entfalte und in allen zu einer Kraft und für alle ein Licht werde. Das andere ist als eine besondere Mitgift noch und als ein besonderer Auftrag diesem einen Volke zugeteilt worden, damit es um aller willen eine besondere Kraft hege und ein besonderes Licht hüte, bis die Zeiten erfüllt seien. So soll die Aufklärung für alle aufgehen und allen strahlen, und dieses Volk kann immer zu ihr hingehen und bereitwillig und froh in ihr leben, ohne von sich selber je abzuweichen oder gar sich selber zu verlassen und zu verlieren. Die Verfassung dieses seines Auftrags will dieses »Gesetz vom Sinai« sein,
325
258
259
260
ganz wie die Aufklärung gewissermaßen die Verfassung des Auftrags ist, der immer an alle ergeht. Denker dieses Volkes in früheren und späteren Tagen haben anders geantwortet, sie haben den Grund aller Gesetze und auch den Grund dieses Volkes und seiner Besonderheit im Geheimnis gesucht. Sie haben hier zu Tieferem hindringen wollen. Aber was Mendelssohn sagte, hat nicht nur das Nachsinnen immer wieder angeregt, sondern hat, zu seinem Teile, dazu hingeführt, daß dieses Volk, von einem Neuen umgeben und durch Neues bald bedrängt, bald verlockt, vor sich und der Welt, so wie er es in seinen Tagen getan hat, von der | Pflicht und dem Rechte seiner Existenz ein Zeugnis ablegte. Von sich selber hat dieser Mann, der niemals scheinen und nirgends erscheinen wollte, damals Zeugnis gegeben, die Reinheit und Festigkeit seines Wesens waren der starke Beweis. Zum Zeugnis für sein Volk ist er so auch geworden. Von sich wollte er selten sprechen, aber alles, was er sagt, spricht von ihm, auch hier in seiner Philosophie. Es gibt eine Philosophie – und ja auch eine Theologie –, die neben dem, der sie lehrt, herzieht; die Philosophie oder Theologie und der Mensch haben ein Leben für sich; sie sind feinlich oder peinlich gesondert. Dieser Mann war in allem er selbst. So war es in dem Mann auch gewesen, der vor ihm zur neuen Zeit seinen Weg genommen hatte, in Spinoza. Es braucht nicht gesagt zu werden, wie sehr dieser andere in der Denkkraft ihn überragt. Aber in der Echtheit sind die beiden gleich – in dieser Echtheit, in der die Reinheit und Festigkeit eins geworden sind. Daher hat es für Mendelssohn ein Großes bedeutet, daß ihm der Edelste in den deutschen Landen, Lessing, eine Freundschaft geschenkt hat. In diesem Manne, dessen gleichen es wenige je gegeben hat, trat das Lauterste und Kraftvollste der neuen Zeit zu ihm hin. Er durfte dieser Zeit nun ganz glauben, weil er diesem Manne glauben durfte. Die Zuversicht, die sich in ihm geregt hatte, erstarkte nun; der lebendige menschliche Beweis war ihr jetzt gegeben, an dem nicht gerüttelt noch gedeutelt sein konnte. Und auch das Volk Mendelssohns empfand es weithin so. Zweifel schwanden, wenn man an Lessing dachte. Zudem durfte dieses Volk jetzt ein Seltenes fühlen: Hier hatte ihm ein Mann den Blick zugelenkt, um zu verstehen. Mit jener Sympathie, jener Liebe hatte er es getan, ohne die es kein Begreifen gibt, ohne die das Wesentliche, das Eigentliche niemals erfaßt wird. Dieses Volk hat nicht oft es erhofft noch erlebt, daß Menschen selbstlos ihm halfen – die es taten, sind in die Tafeln seines Her|zens eingeschrieben geblieben. Aber eine Sehnsucht hat dieses Volk immer, fast leidenschaftlich, gehegt und hat davon nie abgelas-
326
sen: Daß seine Seele begriffen werde, hat seine Seele immer begehrt. Von Lessing war es ihr so zuteil geworden, das wußten die Nahen, und das ahnten die Fernen. Solange diese Seele leben wird, von Geschlecht zu Geschlecht, wird sie dankbar, mit einer fast leidenschaftlichen Dankbarkeit, an Lessing denken und in trüben Stunden die Strahlen eines Lichtes sehen, und wo sie bisweilen kaum hoffen kann, wird sie getröstet sein. Durch Mendelssohn und an Lessing haben damals viele in den Gemeinden, die einen froh, die anderen zurückhaltend oder widerstrebend, es erkannt, daß eine neue Zeit an die Tore gepocht hatte. Die Französische Revolution hat dann dort, wohin sie drang, Mauern gesprengt; die Luft der neuen Zeit drang herein, und jeder atmete in ihr, ob er es gewollt hatte oder nicht. Es war, wie wenn nun eine Grenzlinie dieses Volkes in zwei Gebieten sich erkennen ließ, in einem östlichen, wo die Mauern noch standen und wohin auch jenes menschliche Zeugnis nicht hingelangt war, und in einem westlichen und mittleren, das dem Neuen geöffnet worden war. Die beiden Bereiche waren geschieden oder zum mindesten gesondert, aber die Gemeinden blickten zueinander hin, von hüben nach drüben und von drüben nach hüben, bald in den Hoffnungen, bald in einem Leid. Denn sie waren doch die Gemeinden dieses Volkes und wollten allezeit es sein. Sie beteten miteinander und füreinander, im Westen und im Osten, in den Worten des alten Gebetes: »Du, Hüter Israels, behüte den Überrest Israels, daß nicht verloren sei Israel, das doch spricht: Höre, Israel ...!« Dort, wo die neue Zeit herangekommen war oder zu | nahen schien, wurden die Stimmen immer vernehmlicher und immer dringender dann, die Stimmen, die von draußen ertönten, und die, welche sich drinnen erhoben. Sie begegneten einander. Art und Weg des Ausdrucks waren bald nicht mehr dieselben, die sie vorher waren; fast binnen einer Generation hatte sich der Wandel angebahnt. Wer zurückschaut, wird zuerst mit einem Staunen und dann doch mit Respekt dessen gewahr, wie damals Menschen in den Gemeinden zu Schülern wurden, um alles das zu lernen, wodurch sie beginnende Tage verstehen würden, um das zu eigen zu haben, wodurch sie in ihnen einen Platz haben könnten. Ein altes Erbe, der geistige Fleiß, konnte sich beweisen. Bald vermochten sie es, in der neuen Betrachtung der Welt, in der veränderten Bildung, in der werdenden Geschichte der Staaten auch selbst nun zu stehen. Und die große Aufgabe wurde es, auch hier standzuhalten und hier aufrecht zu bleiben.
327
261
262
Hierzu kam, daß sich jetzt auch die Kreise des Wirtschaftlichen dehnten. Auch in ihm bewirkten sowohl die »Aufklärung« wie die Revolution sowohl Wandlung wie Umbruch. Es ist gewiß so, daß alles Wirtschaftliche in das Menschliche hineingreift und es zu bestimmen sucht. Aber es soll doch auch so, und so vor allem, sein, daß das Menschliche in das Wirtschaftliche hineintritt, um zu ordnen und zu veredeln. Es war doch, auch von hier aus betrachtet, kein bloßes zeitliches Zusammentreffen, sondern es ist ein innerer Zusammenhang, daß jetzt in Ländern der Mitte und des Westens des europäischen Kontinents die sogenannte Emanzipation der Bauern und die der Juden die gleichen Tage hatten; die einen wie die anderen waren hier die »glebae adscripti« gewesen. An ihnen beiden hatte der Beginn der neuen Zeit, die Zeit der humanistischen und der religiösen Bewegung, hier die geschichtliche Stunde, welche gesandt war, vorübergehen lassen. Geschichte ist ja viel weniger eine Geschichte von Siegen und Niederlagen | als vielmehr von verstandenen und von verkannten Gelegenheiten. Doch jetzt wandelten sich auch im Wirtschaftlichen die Tage und die Räume, und wie Mächte und Reichweiten der Technik entwikkelt wurden, so wurden hier menschliche Kräfte und Forderungen lebendig. Jene riefen gleichsam nach diesen, damit nicht ein neues Sklaventum, ein Sklaventum der Technik und der Wirtschaft, erstände. Das soziale Gebot, mit dem das Menschliche in das Wirtschaftliche und das Technische eintritt, begann erst leiser und dann immer lauter zu sprechen. Einst hatte es in diesem Volk allein sein Gesetz, seine Mahnung und seine Hoffnung gehabt. Mit der Heiligen Schrift war es hier und dort in Geister und Gemüter hineingelangt. Jetzt wurde es universell, wie alles, was in diesem Volke offenbart ward, es zu sein berufen ist. Von Land zu Land schritt das alte Gebot weiter – wie jedes wahre Gebot zugleich eine Verheißung. Menschen wurden Kämpfer und fanden mehr und mehr die, welche ihnen zur Seite traten, und die, die ihnen folgten. Die Geschichte der Völker ist oft und in mancherlei Art ein Kampf der Ideen und der Interessen, oft auch und in mancherlei Weise, zumal wenn die Besitztümer sich weiten, ein Kampf des Menschlichen und des Wirtschaftlichen. Beides ist in seinem Grunde jener »Kampf zwischen Glauben und Unglauben«. Eintritt in die Geschichte dieser Länder bedeutete jetzt auch Eintritt in diesen Kampf. Auch in ihm sollte sich der Anspruch auf Recht und Platz legitimieren. In manchem der Besten konnte sich die Seele nun neu weiten, manches Gebundene konnte sich lösen. Die Zugehörigkeit zu diesem und jenem konnte eine Enge und Dürftigkeit
328
einschließen, Enge des Horizontes und Dürftigkeit der Begriffe. Und ein Kind dieses Volkes kann auf die Dauer nicht ohne eine Weite des Geistes existieren; wenn vielleicht die Eltern es konnten, die Kinder | oder die Enkel werden es dann nicht mehr können. Sie werden des Größeren und werden des Großen dann bedürfen. Oft ist es so die Geschichte dieses Volkes geworden. So kann es nicht wundernehmen, daß, um nur ein Beispiel anzuführen, unter denen, die in einem der deutschen oder der italienischen Staaten ihren Platz nun hatten, viele dem Rufe nach einem großen Italien, nach einem großen Deutschland begeistert gefolgt sind. Und ebenso war es Geist aus dem alten Geist und Wille aus dem alten Willen, wenn viele sich der großen sozialen Idee hingaben, welche die Länder zu verbinden und die Völker zu einen verhieß. Sie wußten es oft nicht, daß sie hier die alte Stimme vernommen hatten. In dem Ringen um die rechten Formen der sozialen Idee wandten sich Forderung und Lehre sehr bald einem eindringlich zu: Schaffen und Ergebnis des Schaffens, Mühe und Lohn, Arbeit und Eigentum sollten beieinanderbleiben, niemand sollte irgendwo und irgendwie zwischen sie treten, um etwas von dem, wofür der Schweiß vergossen worden war, für sich zu nehmen; der, welcher das Werk getan hatte, sollte der auch sein, der dann besaß und verfügte. So mußte hier der Kampf für ein besseres soziales Gefüge und eine wahre soziale Gemeinschaft auch die Ablehnung des Handels und des Händlertums in sich schließen. Dieses Volk war einst in den Handel zuerst hineingeführt und dann hineingezwungen worden. Als ein Volk von Händlern stand es vor den Augen der Welt da, und auch manchen, die hinausgegangen waren, konnte es von draußen dann so erscheinen. Es ist immer schwer, von draußen das Ganze und damit das Wirkliche zu sehen. Ganz besonders schwierig mußte es gegenüber diesem überall verteilten und überall abgesonderten Volke sein. Es war nicht leicht, dort, wo das Auge zuerst die Händler traf, zugleich die Denker und die Gelehrten, die Mystiker und die Träumer, die Sehnsuchtsvollen und die Schwärmer, die doch auch dort waren, | zu finden, es zu erkennen, wie dort in dem langen Rock vielleicht einer dahinschritt, der beides in einem war, ein Mann des Handelns und ein Mann des Geistes. Auch der Sohn dieses Volkes, ein Nachkomme von Geschlechtern des Geistes, der Revolutionär in der sozialen Philosophie, Karl Marx, hatte es in den Jahren des Werdens von draußen nicht erblickt, als er damals der Abweisung des Händlertums wegen sein Volk abwies. Auch die Wege und Methoden des Handels sind damals andere geworden, die einen haben sie rasch, die vielen allmählich gewählt.
329
263
264
265
Alle mußten auch hier umlernen. Mauern fielen auch hier, und breitere Straßen wurden sichtbar. In einigen konnten Energien, die bisher gehemmt waren, sich nun dehnen und hier Bereiche finden, dort Bereiche schaffen; der Kolonisationsdrang, der Pioniergeist, der seit je in diesem Volke lebte, konnte in neuer Weise lebendig werden. Und in allen konnte ein anderes Erbe, die wirtschaftliche Geduld, die keine Mühe scheut und keinen Versuch fürchtet, sich bewähren. Man sah jetzt die großen Planer, zumal die Fürsten in der Finanz und besonders eine Dynastie in ihr, deren stolze und immer treue Selbstgewißheit von Hauptstadt zu Hauptstadt damals zog. Unter denen, die aufsteigen, sind damals und später auch manche unadlig geworden; sie haben die standhaften Jahrtausende für unstete Jahrzehnte hingegeben. Menschen der Dauer und Menschen des Tages schieden sich auch hier. Auch in den engeren Bezirken regte es sich jetzt vor den oft scheelblickenden Augen der Umwelt. Neue Möglichkeiten wurden von vielen in den Gemeinden erkannt. Sie sahen, wie eine Zeit des langsamen und geruhsamen Schrittes aufhörte. Sie wurden gewahr, wie die Art der Fortbewegung, die seit den frühen Tagen, da zum ersten Male das Tier zum Lasttier und Reittier und dann zum Zugtier gemacht, da der | erste Wagen verfertigt und die erste Straße hergestellt, da zum ersten Mal ein Boot gebaut, ein Ruder bewegt und ein Segel ausgespannt worden war, sich nicht geändert hatte, nun in rascher Entwicklung ganz anders wurde. Sie begriffen, wie die Wirtschaft dem Neuen folgen und vielleicht ihm vorangehen müsse. Sie sahen auch, wie die Maschine in Erfindung auf Erfindung die Fülle der Produkte eilend entstehen ließ, die darauf warteten, zu Verbrauchern hingeführt zu werden. Sie sahen auch, wie das Geld jetzt den rascheren Weg nahm und immer neues Geld und neue Art des Geldes geboren sein ließ. Sie gewannen die volle Einsicht in das Neue im allgemeinen kaum früher als andere. Aber in dem engen Gebiete, in dem allein sich die wirtschaftliche Tätigkeit hätte bewegen dürfen und in dieser Art ihnen zur vererbten Gewohnheit geworden war, mußte es sich ihnen stärker und unmittelbarer aufdrängen. Zudem trat es in ihr Persönliches hinein; denn dieses Neue schien ein Teil der neuen Freiheit zu sein, die sie jetzt gewinnen wollten. Der Welt ringsumher wiederum wurde an ihnen ein Gebiet des Neuen zuerst sichtbar und oft unbehaglich fühlbar; man glaubte oft und gern, daß sie, zu denen und über die dieses Neue gekommen war, eine Schuld an ihm trügen. Alte Vorurteile konnten eine Nahrung finden, neue einen fruchtbaren Boden haben. Es ist auch kein Zweifel, daß nicht immer nur
330
das Vorurteil sprach. Auf Unrechtes, das geübt wurde, konnte hingezeigt werden. Kinder dieses Volkes haben hier und dort die Sünde des Wuchers begangen und haben ihrem Volk ein Leid angetan. Aber wer die Reihe der Generationen und die vielen Gebiete zu überschauen sucht, vor den tritt trotz diesem und jenem eine, oft ergreifende, Rechtschaffenheit hin. Der Weg führte, trotz mancher Abwege, im stetigen Aufwärts. Vertrauen wurde geschenkt und wurde erwidert, und nur selten ist es enttäuscht worden. In | reiner Luft konnte man hier atmen. Und ein tiefes Menschliches offenbarte sich hier so oft auch. Unermüdlich haben diese Menschen gearbeitet, und sie haben es nicht um ihrer selbst willen zuerst getan; um ihrer Kinder und Kindeskinder willen haben sie es vor allem auf sich genommen, damit diese in einem freieren und geräumigeren Bezirke leben und darin ein Höheres leichter pflegen könnten. Dem Leben des kleinen Mannes ist damit ein Zug zum Großen gegeben worden. Für den Geist diente und arbeitete er. Er trug die Last für Tage, welche kommen sollten. Sosehr das Wirtschaftliche derart Tage veränderte und Tage im Lauten oder Stillen erfüllte, so vielfach es in die Häuser hineintrat und aus den Häusern hinauszog, so hat es trotzdem nicht eigentlich die Existenz dieses Volkes bestimmt. In der langen Zeit, in der es seine – so oft bedrückende – Beständigkeit gehabt hatte, war es so gewesen, und so war es in dieser Zeit, die jetzt hereinbrach, Wandel bringend und Wandel fordernd. Nicht das Wirtschaftliche, so stark es oft in alles hineingriff, sondern das Geistige, das Religiöse, war hier der Boden der Existenz. Von seiner Dürre oder Fruchtbarkeit hängt am letzten Ende hier alles ab. Darum kam so viel, fast alles, darauf an, daß eine Antwort gesucht wurde auf die zwei großen Fragen, welche die Zeit stellte: die der besonderen Geschichte innerhalb des jetzt sich bildenden allgemeinen Volks- und Staatsgefüges und die der religiösen, der geistigen Gewißheit innerhalb der jetzt sich formenden Weltanschauung. Viele haben langehin diese Fragen an sich vorbeigehen lassen, sie wollten sie nicht hören, und vielleicht konnten sie es nicht. Die einen wollten oder konnten sie nicht hören, denn sie sollten oder konnten nur inmitten des vertrauten Geheges der Vergangenheit ihren Platz haben. Sie vergaßen oder | wußten es nicht, daß man in einer Vergangenheit noch eine Zeitlang wohnen, aber nicht dauernd in ihr leben kann. Die anderen wollten oder konnten diese zwei Fragen nicht hören; denn sie wollten oder konnten nur der Bildungskultur, die sie jetzt erwarben, nachgehen, um von ihr alles zu emp-
331
266
267
268
fangen. Sie vergaßen oder wußten es nicht, daß die Bildung ein Gefährte eine Strecke weit sein kann, aber niemals ein Führer. Nur die, welche diese Fragen vernahmen und ihnen sich öffneten, um mit ihnen zu ringen, haben die Existenz ihres Volkes neu gefestigt und sind auf dem Wege vorangeschritten. Es war ein Schweres, das gefordert war. Es war ein Umfassendes auch; denn die zwei Fragen und die aus ihnen hervorkommenden zwei Aufgaben ließen sich nicht voneinander trennen, wenn sie nicht beide einseitig und damit unzureichend werden sollten. Das Problem der Geschichte und das des Glaubens, das des Weges und das des Standorts, lassen sich hier nie sondern oder gar scheiden. Nur wer es weiß, wo er steht, wo er die Gewißheit hat, wird es wissen, wohin er gehen, was er erwählen soll. Und nur wer es weiß, daß der Weg vor ihm liegt, wird es wissen, was der Standort, von dem her allein der Weg eine Richtung gewinnt, in allen Tagen bedeutet. Man kann die Geschichte begreifen, nur wenn man in den Glauben eingedrungen ist, und man kann den Glauben verstehen, nur wenn man auch die Geschichte erfaßt. Männer, die dies erlebten und in einer Verbindung von Intuition und Forschung sich darüber immer klarer wurden und immer bestimmter das Ganze überblickten, sind damals in diesem aschkenasischen Gebiete vom Rhein, der Donau entlang, bis zur Weichsel hin aus altem Boden hervorgewachsen. Sie gehören den Geschlechtern nach Mendelssohn an; manches von ihm ist in ihnen auch, aber sie sind doch anders, bisweilen ganz anders als er. Sie gehören den Tagen nach der Kantischen Philosophie und vor allem dann nach der großen Revolution | an, die doch auch zu einer Krise in der ganzen Kultursphäre geworden war. An diesen Männern, von denen jeder sein eigenes Antlitz trägt und die oft gegeneinander zu stehen schienen, wird die Renaissance in ihrer ganzen Tiefe und Weite erkennbar. Sie waren der Beweis dieser Wiedergeburt und sind zu ihrer Bürgschaft geworden – Kraft aus alter Kraft, welche neue Kraft zeugte. In eine Zeit des Übergangs waren sie hineingestellt. Tage gingen und kamen, und man wußte nicht, was das Schwindende und was das Bleibende war; Kreise verschoben sich, und man wußte oft nicht, wo der Mittelpunkt und wo die Peripherie war; Wege kreuzten sich, und es wurde oft schwer, eine Richtung zu sehen. Weithin haben Menschen es damals wieder so erfahren; Geschicke und Perioden hingen davon ab, wohin sie sich wandten. Aber die Menschen dieses Volkes hatten hier jetzt noch mehr zu bestehen als die anderen. Denn in jedem Denkenden und auch in jedem Hinausstrebenden oder Hin-
332
ausgedrängten kämpften jetzt hier stärkere und umfassendere Kräfte miteinander, ihm bewußt oder unbewußt. Jahrzehnte, die langsam oder schnell an ihn herankamen, suchten, ob er es sollte oder nicht, die Jahrtausende zu verdrängen, aus denen er hervorgewachsen war. Nicht um einen Zeitanlauf nur und das Schicksal, das er trug, sondern um die Existenz handelte es sich hier. Die geschichtliche Persönlichkeit war bedroht. So ist es begreiflich, daß von manchem ein Irrweg gegangen wurde und der Weg dann nicht wiedergefunden worden ist oder daß Umwege versucht wurden und darüber die Richtung verlorenging. Ein Mensch in dem alten, abgeschlossenen Bezirke, von dem weder damals noch später diese Kämpfe verlangt wurden, oder eine jüngere Generation, der sie erspart waren, weil die ältere alles für sie durchgerungen hatte, hat es schwer gehabt, diese Zeit zu verstehen, welche bald suchte und sich nicht | zurechtfand, bald gefunden zu haben meinte und zu suchen aufhörte. Auch die Menschen ringsumher haben selten begriffen, obwohl sie in einem ähnlichen, wenn auch nicht so tiefgreifenden Widerstreite standen. Hier, in der Seele dieses Menschen dieses Volkes, in diesem Gebiete, in dieser Zeit des Übergangs, kämpften die Jahrzehnte mit den Jahrtausenden. Das, worauf es in jeder Seele und um jeder Seele willen ankam, war, ob die Jahrtausende zeitweise zurückgedrängt und dann verdrängt wurden oder ob sie sich schließlich durchsetzten, um die Jahrzehnte zu durchdringen und dann zu festigen und zu veredeln. Eine Bewegtheit mit ihrem Hin und Her, ja eine Erregtheit, die nicht zur Ruhe kommen läßt, wird dem, der hinhört, vernehmbar. Eine innere Unsicherheit, die auch zur äußeren werden kann, wird bemerkbar. Der Schritt war oft ohne die Stetigkeit, ohne die Selbstverständlichkeit. Schon wenn Jahrhunderte mit ihren elementaren Empfindungen, mit ihren organischen Denkformen zurückgedrängt werden, sei es durch Ereignisse, die hereinbrechen, sei es durch rasche Entwicklungen, die sich vollziehen, ist das innere Gleichgewicht beeinträchtigt. Die normale, durch alte Menschenart bewirkte Auseinandersetzung zwischen dem Einzel-Ich, das seine Jahre und Jahrzehnte hat, und dem Gesamt-Ich, das seine Jahrhunderte besitzt, ist abgelenkt. Um wieviel mehr mußte es hier hervortreten, wo die Jahrhunderte sich zu Jahrtausenden geweitet hatten. Diese Menschen selbst wußten es nicht immer, aber es war doch so, daß die von jedem mehr oder weniger verlangte Auseinandersetzung zwischen dem Gewordenen und dem Beginnenden in ihrem Verlaufe gestört war. Ein altes, inneres Gleichgewicht ist verloren und das neue noch nicht gewonnen.
333
269
270
271
Ein Mangel an Gleichgewicht oder auch nur an Gleichmaß lenkt die Blicke von Menschen ringsumher rasch auf sich, das Lächeln, der Witz, der Spott werden wachgerufen. Menschen | dieses Volkes sind so damals zum Gegenstande des Witzes und der Posse geworden. Scherz und Posse können ihr Harmloses, bisweilen selbst ihr Freundliches haben und hatten es gewiß auch dort bisweilen gehabt; oft entsprangen sie gewiß auch jener Gedankenlosigkeit freilich, die etwas tut und antut, ohne zu wissen, was sie antut. Doch oft waren sie das Mittel, das die Feindseligkeit und die Bösartigkeit sich herstellten, und Entstellung und Verzerrung wurden das Werkzeug. Auf Schwächen und Mängel wurde nicht hingewiesen, wie die echte, die saubere Satire es tut, sondern sie wurden erfunden und fabriziert. Es ist kein Wunder, daß dann der Gegenwitz und der Gegenspott sich auch regten. Soweit gesehen werden kann, haben sie sich nie zum Bösartigen hinunterziehen lassen. Sie blieben schließlich doch immer oben, schon deshalb, weil ein Gefühl für das, was schließlich Pflicht und Verantwortung für alle ist, sie nie ganz verließ. Eigentümliches zeigt sich auf, wenn man vergleicht. Es war nicht nur der Übergang, der mehrere Generationen hindurch zu bestehen war, und nicht alle vermochten es. Auch den Enttäuschungen, denen von draußen und denen drinnen, mußten diese Menschen gewachsen bleiben, und nicht alle waren dessen fähig. Die Jahrzehnte erzählen von den Müden, die verzagten oder versagten, und mehr noch von den Furchtsamen, welche flüchteten. Es war keine Flucht in den Umweg, um über ihn dann zurückzukehren wie einst die Maranen in Sepharad, eine Flucht gewissermaßen, die in diesem Volke bleiben hieß. Es war eine eigentümliche Flucht, die jetzt hier so manchen verleitete und aus dem Guten seiner Geschichte fortzog. Die aus allem sich nährende Furchtsamkeit war die Mutter, und der Glaube an eine neue Bestimmung war der Vater der Gedanken; und eine Bildung, die romantisch geworden war, konnte immer bereit sein, einen Segen zu spenden. Es war nicht eine Flucht vor bedrängenden | Feinden, sondern eines Menschen Flucht vor sich selbst, eine Flucht vor den Jahrtausenden und aus den Jahrtausenden in wirkliche oder vermeintliche Jahrzehnte. Von einer ergreifenden, ins Innerste und Tiefste hineingreifenden Flucht, der Flucht vor Gott, erzählt die Heilige Schrift. Moses hat vor dem Wege, zu dem ihn Gott rief, zurückgebebt, voll des Zagens. Aber die Stimme Gottes war stärker, und er ist ihr gefolgt. Von dem Propheten Jonah ist erzählt, wie er vor der Sendung, welche Gott ihm auftrug, nach Tarschisch floh, und Gott ihn zurückholte, damit er tue, was Gott gebot, und höre, was Gott verhieß. Und was mag
334
den Psalmisten bewegt und erregt haben, ehe er das Wort fand: »Wohin soll ich vor Deinem Antlitze gehen, und wohin soll ich vor Deinem Geiste fliehen?« [139,7] So manches ging gewiß auch in Menschen dieses Volkes vor, die damals auf diesen und jenen Wegen gleichsam vor Gott flohen, von der großen Treue sich zu kleinen Treuen hinbegaben, von dem ernsten, dem kategorischen Gebote zu freundlicheren und leichteren Geboten hinflüchteten, sich von der einen, der großen, der bleibenden Idee zu wechselnden und schimmernden Gedanken oder einer immer gleichen Gedankenlosigkeit hinwandten und dann den Glauben und die Väter verließen oder verwarfen. Ohne Zweifel hat es Tragödien gegeben, und Komödien, wohl zahlreicher noch, haben sich ereignet. Es ist schwer, über sie alle das gleiche Urteil zu fällen, und schwer auch, über sie alle hart zu urteilen. Schon das Leben ist ja bisweilen wie eine Flucht. Um so freier kann dafür der Blick zu denen hinziehen, die »in schwankender Zeit« fest blieben oder fest wurden. Auch in der Seele dieser Menschen hat es sicherlich Stunden der Ungewißheit und der Krisis gegeben, Stunden, in denen sie vor Gott fliehen wollten. Aber sie vermochten dann doch, den Weg des Bleibenden zu finden oder wiederzufinden; sie haben | an ihm dann festgehalten und haben auf ihm sich selber entdeckt oder neu entdeckt. In ihren Tagen und Nächten mögen sie wohl das erfahren haben, was Salomo Gabirol, der Sephardi, erlebt hatte, als er dichtend sprach: »Ich fliehe vor Dir zu Dir hin, o Gott«. An jenes Psalmwort hat Gabirol wohl angeknüpft, und zu einer höheren Ebene hat er zugleich den Schlußsatz der Lehre Plotins, der ihm ein Meister war, emporheben wollen: den Satz von der »phyge monu pros monon«, der »Flucht des einen zum Einen«, »des Geistes zu Gott«. Das, was Plotin nicht vernommen hatte, die Stimme des Ichs, das aus dem Ich alles Ichs sich gekommen weiß und zu ihm sich hinwendet, hat Gabirol hier sprechen lassen. Auch die Männer und die Frauen, die in der Zeit des Übergangs den Weg erkannten und den Weg bereiteten, haben diese Stimme gehört. In ihrer Zeit, aus ihrer inneren Not hervor, haben sie alle zu ihr hingehorcht, zu dieser Stimme, die den, der vor Gott flieht, zu Gott zurückholt. Jahrhunderte liegen zwischen ihnen und Gabirol, so wie die vielen Jahrhunderte zwischen diesem und dem Manne jenes Psalms waren. Aber zu dem, der liebevoll lauscht, dringt von hier und dort, in allem Wandel des Tones, ein Gleiches heran. Wenn so gesagt werden darf: Dieses Volk mit seinem Erfahren und Leiden und Lernen und dieser Glaube mit seinem Fragen und Suchen und Hoffen behielten ihre Identität. Sie bewahrten ihre Persönlichkeit, und Zeiten konnten nur an ihnen vorübergehen oder in sie eintreten.
335
272
273
274
Nach all der Unrast und dem Wanken steht nun, fast plötzlich, vor dem, der beobachtet, eine Sicherheit, ein Sichfinden mit der Klarheit, die es bringt, ein Sichzurechtfinden mit der Zuversicht, die es schenkt. Die Jahrtausende sind durchgebrochen, die alten Kräfte des Wachstums sind wieder hervorgekommen, die Zeit der Wiedergeburt war da. Wie ein Wunder dünkt es dem, der zwei oder drei Generationen ver|gleicht. Es war, wie wenn über das Land dieser Aschkenasim hin, die damals die Probe zu bestehen hatten, als eine Probe für alle und um aller willen, der Ruf des Propheten Jesajah ertönte: »Dies ist der Weg, den ihr gehen sollt«, so hatte er seinem Volke zugerufen, und mit jenem großen Nein der Beschwörung hatte er gemahnt: »Nicht zur Rechten weichet ab, nicht zur Linken weichet ab!« (Jes. 30,21). Der Ruf wurde gehört wie im Wunder, und er wurde aufgenommen wie im Wunder, und in Sprache um Sprache ist er weitergetragen worden. Eine andere, eine neue Zeit brach an, und sie hat erst begonnen. Es ist die Zeit, in der wir stehen. Eine Fülle von Stimmen ist damals laut geworden; denn die vielen Fragen stellten sich ein, die eine zog die andere und wieder die andere an. Der Geist Europas hatte damals die vielen Philosophien und Soziologien und die vielen Lehren von dem Staat und der Gemeinschaft gezeugt. Dem, der hinausschaute und suchte, schienen die vielen Ausgangspunkte sich zu bieten, viele Richtungen sich zu zeigen. Von überallher glaubten sich die Menschen in den Gemeinden befragt, sie, die immer Befragten in der Menschheit. Mannigfache Antworten sind auch so laut geworden, und sie klingen oft widerspruchsvoll. Aber es ist doch ein Einklang in ihnen, denn in ihnen allen offenbart sich das Wiedererwachen, das Ringen um die Existenz dieses Volkes. Um ein Vierfaches haben die Geister hier gekämpft, ein Vierfaches haben sie erkennen und zu eigen gewinnen wollen: das Werden aller Geschichte und der dieses Volkes; den Sinn aller Religion und der dieses Volkes; den Weg der Gerechtigkeit, die zum Rechte für jeden und so für dieses Volk werden soll; die Kraft der Idee von Zion, von dem »Ende der Tage« und seinem Messias, in denen alle sich | einen werden, Zion und der Erdkreis zu einem geworden und dieses Volk begriffen sein wird. Es ist ein Vierfaches, aber es ist in seinem Grunde wie in seinem Ziel ein Ringen um eines. Es ist hier ein Suchen der großen Linie, in der das Viele zu einem Ganzen wird und die Wege zum Weg werden. Nur wenn es diese große Linie sieht, findet dieses Volk sich selbst.
336
Damals sind auch reiche Erträge der Einzelforschung eingebracht worden, Ernten und Saaten dessen, was jetzt »die Wissenschaft vom Judentum« genannt wurde. Der Respekt vor der Einzelheit, die Andacht zum Kleinen, war hier eine alte Überlieferung; man wußte, daß auch vor der Intuition die Mühe steht und der Intuition auch die Mühe folgt. Eine neue Philologie, Erbin des Humanismus, hatte zudem jetzt neue Methoden gelehrt; auf den altvertrauten Stoff wurden sie angewandt. So manches, was man gekannt hatte, erkannte man nun neu. In Selbstlosigkeit und unermüdlicher Hingebung ist hier eine große und auch bedeutungsvolle Arbeit geleistet worden. Mit den Männern aus dem westlichen Aschkenas haben hier die aus östlichem aschkenasischem Bereich und aus Italien sich zusammengefunden und haben zusammengehalten. Auch hier erfaßt ein Staunen den, der zurückblickt. Voller Bewunderung steht er vor der Fülle dessen, was hier wenige vollbracht haben. Große Namen treten hervor, wenn sich die Betrachtung den einzelnen Gebieten zuwendet. Aber ein Name, dessen Bedeutung erst späteren Jahrzehnten ganz angehört, darf bald besonders genannt werden, weil er ein ganz Charakteristisches innerhalb der Wissenschaft des Judentums bezeichnet. Es ist der Name, der vieles Anonyme umschließt: die Buchdruckerei Romm in Wilna – »Haalmanah wehaachim Romm«, »Die Witwe und die Brüder Romm«. Nur in tiefem Respekt, in tiefer Dankbarkeit darf er erwähnt werden. Eine Gruppe von Männern, die fast im Verborgenen bleiben, die ganz der Sache | dienen wollen, Redaktoren, Setzer, Korrektoren, jeder von ihnen ein Gelehrter, hat hier zusammen gearbeitet, um Werke dieses Volkes, vor allem den Talmud mit seinen Kommentatoren und dann auch das Gebetbuch, den »Siddur«, in seinen Varianten und den Gedanken, die er weckte, kritisch neu herauszugeben. Und auch der Name einer anderen Buchdruckerei, ein Name von populärem Klang, der Druckerei in Rödelheim, darf genannt werden. Hier ist neben dem »Siddur« das Feiertagsgebetbuch, der »machsor«, in wissenschaftlicher Form herausgegeben worden – auch das ein Abschnitt in der großen Geschichte der Wissenschaft vom Judentum. Erbe aus den Tagen des Humanismus ist hier wieder lebendig geworden. Doch so groß diese gesamte wissenschaftliche Leistung ist, sie ist doch nur ein Ausdruck eines weit Größeren. Die Menschen, von denen sie erzählt, waren ihrer selbst gewiß geworden, und sie haben vielen anderen zur Gewißheit geholfen. Sie haben das Werden ihrer Jahrzehnte aus den Jahrtausenden hervor erlebt und erkannt, und dieser Erkenntnis haben sie die wissenschaftliche oder die künstlerische Form, oder auch beides in einem, gegeben. Sie alle haben,
337
275
276
277
jeder mit seiner Gabe und in seiner Weise, auf die Frage, die in ihnen hervorgebrochen war, antworten wollen, ja antworten müssen, auf die Frage: »Wer bist du, und wodurch bist du der geworden, der du bist, und um wessentwillen und wofür bist du es?« Die Frage ihrer Existenz hatte sich erhoben und ließ sich nicht abweisen. Auch sie in ihren Tagen und mit ihrem Ohr haben das alte Israelwort gesprochen: »Ich lasse dich nicht gehen, du hättest mich denn gesegnet.« [Gen. 32,26] Ihre Existenz hatte mit ihnen gerungen. Die Geschichte war zu neuem Leben geworden. Die Seele wurde ihrer selbst gewiß, der Geist erkannte die Bahn vom Einst zum Jetzt. In jenem vierfachen Verstehen, das in seinem Grunde doch | eines war, brach die Epoche an: dem der Geschichte, dem des Glaubens, dem der Gerechtigkeit, dem der Hoffnung. In mannigfachen Stimmen hat das alles gesprochen. Man muß das alles als eines zusammen hören, wenn die Bedeutung der Zeit begriffen sein soll. Und auch das muß festgehalten werden, daß dies alles, so lebendig es wissenschaftlich und literarisch sich darstellt, doch zutiefst der Ausdruck eines großen Erlebens war, des Erlebens auch in denen, denen es nicht gegeben war, zu reden. Die Wiedergeburt war gekommen. Die unmittelbarste Antwort, die für manchen eine persönliche Entscheidung in sich schloß, war durch die Geschichte gefordert. Sie mußte sich auf eine doppelte Frage beziehen. Zunächst war es die nach einem immer wieder Hervortretenden, einem innerlich Identischen in dieser Geschichte, das heißt: die Frage, ob in ihr durch allen Wechsel der Tage hindurch ein Stetiges wirke, durch das sie bestimmt werde und durch das die Gabe der Erneuerung in ihr fortdauere. Es war die Frage nach einer bleibenden schöpferischen Kraft, aus der jede einzelne Zeit und jede einzelne Persönlichkeit das hervorholen könne, was sie in die Gesamtgeschichte, das Gesamt-Ich, hineinstellte und sie zugleich zu einem Eigenen, einem Besonderen, befähige. Es war damit zugleich die Frage nach dem Substantiellen, dem Wesentlichen, und dem Akzidentellen, dem der Veränderung notwendig Unterworfenen, gestellt. In seinen Propheten einst und dann in seinen Lehrern, seinen Dichtern, seinen Denkern, seinen Mystikern hatte dieses Volk eine solche Frage immer wieder an sich gerichtet, wann immer es über sich nachdachte und seines Ichs sich vergewissern wollte. Sodann war es die Frage, die in ihren Tagen immer ganz unmittelbar sprach, ob und wieweit dieses Ich sich mit Welten, die entstanden waren, oder mit Gegenwarten, welche wurden, zusammenfinden und verbinden könne. Diese Frage hatte | sich immer gestellt, wenn dieses Volk ganz oder in einem seiner Teile von einem Staats-
338
oder Kulturgebiete, das alle oder viele in sich einfügen wollte, umschlossen war. In der persischen, in der hellenistischen, in der römischen, in gewissem Maße auch in der arabischen Zeit war es so gewesen. Und so war es jetzt, und zudem jetzt noch problemvoller und drängender als je zuvor; denn nicht ein Gewordenes, ein Bestehendes, trat jetzt an diese Menschen heran, sondern ein Werdendes, ein Revolutionäres, an dessen Werden und Wachsen auch sie mitwirken sollten. Eine deutlich sichtbare Umwälzung vollzog sich. Jeder erfuhr sie und fühlte sich von ihr erfaßt, fast umschlungen. Diese zwei Fragen gehören innerlich zusammen. Die letztere, die nach dem Eintritt in andere Welten, kann beantwortet werden nur, wenn die erstere, die nach dem Stetigen, nach der geschichtlichen Identität, eine deutliche Antwort findet. Und diese wiederum, die in stillen, dranglosen Tagen geruht hatte, tritt unabweisbar hervor, wenn jene andere, die der Verbindung mit einer neuen Welt, drängend sich einstellt. Was muß in jenem Wandel der Tage weiterbestehen? Was ist das Bleibende, das es ermöglicht, ja vielleicht fordert, veränderten Tagen sich einzufügen? Deswegen hatte die eine wie die andere Frage dort geschwiegen, wo, wie im östlichen Europa, die alten Mauern noch standen, und ebenso dort, wohin, wie zu den Gemeinden Asiens und Afrikas, der neue Weg der Geschichte nicht gelangt war. Die Stätte dieser Fragen waren die Gebiete, die irgendwo von der Revolution erfaßt worden waren, das mittlere und westliche Europa daher und dann die sich weitenden Vereinigten Staaten von Amerika. Hier wurden die Probleme durchgekämpft. Diese Fragen waren keine erdachten, und noch viel weniger waren sie gesuchte. Man könnte vielmehr fast sagen, die Existenz dieses Volkes hatte sie gestellt. Sie wandten sich | mehr noch an den Willen als an den Verstand. Wenn der Kopf meinte, sich allein mit ihnen befassen zu sollen, dann war das Ergebnis nur die Dürre, die der unfruchtbaren Gedanken oder der unfruchtbaren Entscheidungen. Aber die meisten im Volke haben diese Fragen doch nicht nur betrachtet, sondern als die Lebensfragen eines jeden wahrhaft empfunden. Von innen her fühlten sie sich von ihnen bedrängt; ihr Herz und ihr Wille verlangten nach einer Antwort. Für sie war es daher ein Befreiendes, als Männer, »in denen ein Geist war«, Wege der Antwort zeigten, Wege, die zu ihnen allen hingeführt hatten, um nun von ihnen zu kommenden Geschlechtern weiterzuleiten. Geist und Wille fanden sich, und neue Form der Existenz erstand, um weitere Form zu schaffen. Manch ein Name könnte erwähnt werden, um Männer zu bezeichnen, die am Werke der Erneuerung mitschufen. Aber drei von ihnen
339
278
279
sind vor allem zu nennen, weil sie die Meister waren. Vornan steht einer, der fast für sich genannt werden darf, Leopold Zunz aus Detmold. Je mehr der Blick aus späteren Tagen sich auf diesen Mann richtet, desto höher wächst seine Gestalt empor. Er war ein Mann, der die Geschichte mit der Fülle ihrer Tatsachen sprechen ließ; sein Ich hat er meist zurücktreten heißen, ja bisweilen es fast versteckt. Aber wer ihm nahe ist, der spürt die Kraft der Persönlichkeit. Sonst ist es oft doch so, daß eine Stärke der Persönlichkeit der wissenschaftlichen Strenge Abbruch tut oder daß eine wissenschaftliche Energie den Willen der Persönlichkeit herabmindert. In Leopold Zunz hat die unbeugsame Persönlichkeit immer neue Kraft in die wissenschaftliche Arbeit einströmen lassen und hat die unbeirrbare Wissenschaftlichkeit immer wieder die Persönlichkeit gefestigt. Ein Pathos wird bisweilen vernehmbar, und es wirkt dann immer ergreifend, weil es ein seltenes ist, weil es niemals herangeholt wurde. Es ergreift uns, weil es ihn ergriffen hatte. | Man kann von Zunz nicht sprechen, ohne Heinrich Heine zu nennen. Der Mann, in dem diese Erneuerung Persönlichkeit wurde, stand diesem Dichter nahe, und dieser blieb ihm nahe, weil er ihm nahe bleiben konnte und nahe bleiben wollte, von Anfang bis zuletzt. Auch Heinrich Heine war einer derer gewesen, welche damals »vor Gott flohen«; er war der einzige unter ihnen, der eine Bedeutsamkeit behielt und eine Größe erwarb; er ist zuletzt »zu Gott geflohen«. Er war vor Gott in die Dichtung geflohen, deren wundersame Gabe ihm verliehen war, die ihm Welten auftat, von denen er singen und sagen konnte, wie kein anderer es vermocht hat; das Geheimnis, doch noch nicht die Gewißheit seines Lebens hat er hier gefunden, aber der Weg zu ihr blieb hier ihm offen. Er war zu einem Griechentum hingeflüchtet, das er in frohen, leuchtenden Farben sah, die er selber ihm gab, entgegen dem dunklen Ernst, mit dem die Geschlechter, aus denen er hervorgekommen war, ihn anzublicken schienen; nicht die Gewißheit, sondern ein Zwiespalt trat damit in ihn ein, und durch ihn hat er dann deutlicher betrachten und schließlich erkennen gelernt. Er hat zur Ironie die Zuflucht genommen, sie sollte ihn zwingen, wahrhaftig zu bleiben – so manchen Irrweg ist er gegangen, aber zu Lug oder Trug hat er sich nie verlocken lassen –, in der Wahrhaftigkeit hat er schließlich den Weg gefunden, den Weg zu seinem Ich, zu seinem Leben und zu seinem Glauben. Er ist »vor Gott zu Gott geflohen«. Er war fortgegangen und ist zurückgekehrt. Es ist ein Eigenes darum, nebeneinander diese zwei Männer, Genossen in Jahren und Genossen in einer Zeit, zu sehen, wie sie im Wandel der Jahre und in allem Wandel der Zeit aneinander festhiel-
340
ten. Zunz war wohl der einzige Mensch jener Tage, welchen Heine ohne ein Mindern und ohne eine Ironie geehrt und verehrt hat. Es will bisweilen scheinen, als habe er sich in Stunden der inneren Not an ihm gefestigt; er blickte | zu ihm auf. Dies ist ein Zeugnis für den einen und für den anderen. Es ist ein Zeugnis auch für die Weite der Seele dieses Volkes, die vieles und viele zu umfassen vermag; ohne diese Weite würde dieses Volk seelenlos. Und es ist ein Zeugnis auch davon, wie jene Zeit der Wiedergeburt eine Zeit ringender Wehen war. Die, welche rangen, welche gewissermaßen es sich schwer machten, sind zum Guten geblieben; auch Heine in seiner Weise war ein Ringender, ganz wie Zunz in seiner Weise ein Ringender war. Die, welche es sich nicht schwer machten, zur Rechten oder zur Linken, hat der Wind der Geschichte »wie die Spreu verweht«. Von Heine wissen viele und von Zunz vielleicht nur wenige, aber die beiden stehen beieinander und reichen einander die Hand. Zunz war ein Mann der Gesamtschau, ein Mann, dessen Wissenschaft in Jahrhunderten dachte, und er war zugleich ein Meister der philologischen Einzelforschung, den jeder einzelne Tag anblickte und jeder einzelne Mensch ansprach. Was in dem allem, dem großen oder kleinen, ihn ansah und anrief, war aber für ihn nicht eine Aufgabe der Forschung nur oder ein bloßes Problem der Wissenschaft, sondern ein jedes, das sich hier an ihn wandte, war zugleich, ja vorerst, das Leben seines Volkes. Die Stimme dieses Lebens, das bestehen sollte, hörte er; die Züge dieses Lebens, das seine Zukunft verlangte, betrachtete er, und er konnte das Ohr und das Auge davon nicht fortwenden. Er wollte jetzt zeigen, wie dieses Leben war: einheitlich in seiner Fülle und mannigfaltig in aller Geschlossenheit, wechselnd in seinen Tagen und doch immer dasselbe in allem Wandel, immer sich gleich und keinem anderen gleich und doch nie in eine starre Form, in ein Schema einzufügen. Er wollte dies darlegen, damit sein Volk sich jetzt zurechtfinde. Bald von hier aus, bald von dort ist er an dieses Leben herangetreten, und in immer neuer Bedeutung stand es vor ihm. Seine Erkenntnis und sein Erlebnis wurde es. So soll|ten auch die, denen er zum Führer werden sollte, es erkennen und dann erleben, damit sie in diesen schwankenden Tagen fest würden. Weithin, vielleicht noch mehr, als er gehofft hatte, hat es sich so erfüllt. Viele, für die er nur ein Name ist, leben in ihrem Denken und auch in ihrem Empfinden von ihm. Neben Zunz tritt so, wie wohl kaum ein anderer aus jener Zeit es wagen darf, Heinrich Graetz, ein Mann aus dem Posener Lande, in welchem damals Ost und West einander unmittelbar ins Auge blickten. Er ist wenig mehr als zwei Jahrzehnte jünger als Zunz. Aber
341
280
281
282
diese zwei Jahrzehnte zwischen dem ersten Werden des einen und des anderen umschlossen eine entscheidungsvolle geschichtliche Periode, die Napoleonische Zeit. Für den einen war sie ein Erlebnis gewesen, für den anderen eine Erzählung nur noch. Mancher Unterschied in der Gesamthaltung dieser zwei Männer, wie ja auch anderer in diesen Tagen, könnte hieraus erklärt werden. Der eine hatte seine ersten Erfahrungen von der Welt ringsumher in einer Zeit überall sich erhebender Hoffnungen, einer hereinkommenden Freiheit, der andere in einer Zeit der Enttäuschung, der erstarkenden Reaktion gemacht. Erste Erfahrungen tragen etwas von ihrem Klang in die späteren hinein, sie lassen den Menschen vertrauensvoll oder mißtrauisch dem Kommenden gegenübertreten. Auch hierdurch sind diese Männer daher unterschieden, daß der eine, der in Tagen der Hoffnungen um sich zu schauen begonnen hat, sein Auge, das den Weg erforschen wollte, vom Gegenwärtigem zu allem Vorangegangenen hinwandte und daß der andere, der in den Tagen der Enttäuschung zu sehen gelernt hatte, im Suchen und Fragen die umgekehrte Richtung nahm: Von Anfängen des Werdens ließ er den Blick zu allem Folgenden hinziehen, bis schließlich zu seinen eigenen Tagen hin. Aber sosehr die Denkart und auch die Empfindungsweise dieser beiden die besonderen Züge zeigt, in dem einen, dem hier Entscheidenden, sind sie gleich. | Sie haben das Leben dieses Volkes zu erfassen gesucht, ihrer Liebe hat es sich erschlossen, und der Hoffnung, die mehr ist als alle Hoffnungen, sind sie gewiß geworden. Der Erneuerung des Lebens haben sie beide gedient. Sie durchforschten die Teile und erkannten dadurch das Ganze. Von dem Ganzen haben sie gewußt und haben sie immer wieder gesprochen. Der Einheit dieses Volkes haben sie gedient. Graetz war einer der Seltenen, der Glücklichen, die von vornherein wissen, was sie wollen und was ihnen gegeben ist. Dieses Wissen sowohl wie vor allem die Aufgabe, die er so als die seine erkannte, haben einen Enthusiasmus in ihm erzeugt, einen Enthusiasmus bisweilen fast zum Explosiven hin. Ohne ihn hätte er es weder unternehmen noch vollbringen können, als erster »eine Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart« vor die Welt hinzustellen. Und sein Enthusiasmus hat dann den Enthusiasmus vieler in diesem Volke geweckt. Als ein Drama, umklungen von endloser Melodie, stand diese Geschichte vor seiner Seele, vor seinem Ich – das größte Drama in der Menschheit, das Drama vieler Zeiten bis zu »kommenden Tagen« hin. In seinem Ganzen und Einen, bis zu seiner eigenen Generation hin, sah er es vor sich, diese Geschichte in ihren bestimmten Epochen und ihren geprägten Menschen, in
342
allen ihren Perioden und ihren Geschicken. Sein tiefstes Empfinden, sein starkes Hoffen und innerstes Nachdenken wurden immer neu wachgerufen; er konnte sich nicht in der Stille ergehen, in die sich so manche für ihr Werk hineinbegeben. Nicht nur um Ereignisse und nicht nur um Persönlichkeiten, sondern um die Existenz seines Volkes und um den Sinn aller Geschichte handelte es sich hier. Graetz mag im einzelnen hier und dort geirrt haben, aber das Eigentliche und Entscheidende in jeder Zeit hat er erkannt. Er vermochte stets, das Ganze zu erfassen. Ein Führer zur Einheit ist er auch dadurch geworden. | Zwischen Zunz und Graetz, den Jahren nach und dem Wesen nach zwischen ihnen, steht der Mann, der als dritter hier zu nennen ist, Zacharias Frankel. Er kam aus Prag, dieser wundersamen Stadt, in der die Gegensätze oft nebeneinander wohnen konnten. Ein nüchterner Realismus und eine schwärmerische Romantik vertrugen sich hier und schienen nicht selten einander zu tragen. Und wie die Stadt, so dünkte oft die Gemeinde zu sein. Und vielleicht hat diese Stadt, diese Gemeinde in ihren Paradoxien, den jungen Frankel schon gelehrt, nach einem Segen der Mitte hinzublicken, nach dieser Mitte, die den Zugang und das Tor offenhält. Diese Mitte war ihm die Richtung, zu der ihm die Geschichte dieses Volkes immer wieder zurückzukehren schien; sie schien ihm der Weg auch zu sein, den die Jahrhunderte des Talmuds, denen sich sein Wissensdrang vor allem zuwandte, immer wieder gegangen sind. Auch die Lehre Hegels, die damals für viele die Antwort war, welche die Geschichte gab, daß alle Bewegungen des Geistes, alle Entwicklung immer wieder zur Mitte, zur Synthese hinführe, könnte auf Frankels Denken eingewirkt haben. Aber im wesentlichen war es sein Charisma, seine Begabung, aus den Tiefen seines Volkes genährt, das ihn bestimmte. In einer schlichten, fast bezwingenden Harmonie tritt sein Denken hervor. Auch in seinem Leben konnte sie, fast mühelos, sein. Es war ihm gewährt, daß das, was er in seiner Weise plante und begann, zum Werke wurde und er eine Erfüllung der Werke sehen durfte. Ihm war es gegeben, Menschen zu finden und Menschen zusammenzuführen. Er führte, indem er zusammenführte. Er fand den Mann für den Platz und den Platz für den Mann und hat dadurch Menschen, im gemeinsamen Vertrauen zu ihm, auch miteinander verbunden. So war er denn auch als erster imstande, in einem Zeitalter neuer Methoden und neuer Anforderung für die Wissenschaft des Judentums eine Stätte neuer Möglichkeiten zu schaffen. Eine | Stätte und eine »Mutter in Israel« ist sie geworden. Eine Gunst des Geschehens hat damals den Tag her-
343
283
284
285
aufgeführt. Aber das Entscheidende war, daß der Tag den Mann fand. Die Fügung der Umstände ist zum Leben geworden. Von der Geschichte her sind Zunz, Graetz und Frankel in das Wesen dieses Volkes eingetreten. Jeder von ihnen, jeder auf seinem Weg und in seiner Weise, hat das Ganze erlebt. Im Neuen haben sie daher das Alte und im Alten das Neue erfahren. Es gab für sie keinen Widerspruch, geschweige denn einen Gegensatz zwischen dem Neuen und dem Alten. Das eine Leben dieses Volkes ergriff sie in seiner Geschichte – wahres Leben beweist sich darin, daß es das eine bleibt. Die Kraft der Wiedergeburt war in ihnen und hat durch sie zu neuer Kraft werden können. Wie im Geheimnis war diese Kraft aufgestiegen, in Persönlichkeiten wie diesen und in denen dann auch, die zu ihnen hingetreten waren, und an den vielen, die von ihnen hergekommen sind, hat sie ihre Deutlichkeit gewonnen. Von Zunz, Graetz und Frankel kann nicht gesprochen sein, ohne drei andere Männer noch zu nennen, die ihre älteren Genossen waren und die jedem, der ihnen zu nahen vermochte, ein Lehrer geworden sind: Nachman Krochmal aus Bordy, Salomo Juda Rappaport aus Lemberg und Samuel David Luzatto aus Triest. Was einst Maimonides im Bereiche der Philosophie hatte sein sollen, »ein Führer der Schwankenden«, der sich nicht Zurechtfindenden, das suchte Krochmal in dem weiten Gebiete der Geschichte seines Volkes zu sein; er wollte Gesetze und Wege in ihr aufweisen. Er war einer der großen Ahner; er hat gesehen, was andere später sahen. Nachdem es so lange fast ein Brauch gewesen war, den Autor hinter seinem Werke zurückstehen zu lassen, über dem, was er vollendet hatte, den Menschen mit seinen persönlichen Zügen zu vergessen, hat Rappaport wieder den Blick zu der | Persönlichkeit hingelenkt, die Einheit von dem, was sie war und was sie schuf, aufgezeigt. Er war einer der großen Methodiker; mit dem Spürsinn des Wissenden hat er Verborgenes, Verstecktes hervorgeholt und zueinandergefügt. In einer Zeit, in der die Genialität, die in der »Sprache des Heiligen«, der Sprache der Bibel, waltet, unbeachtet oder unerfaßt geblieben war, hat Luzatto diese hervorragende Quelle wieder entdeckt und ist von der Quelle her dem Strome gefolgt. Er ist einer jener Poeten, die durch das Gelernte und Erforschte hindurch zur Tiefe dringen können, so daß in ihnen und dann durch sie die Wissenschaft zur Erkenntnis wird. Wer in die Geschichte eintrat und der Grundkräfte, die in ihr wirkten, gewiß wurde, stand auch dem gegenüber, was die Religion und
344
was damit die Gerechtigkeit und die Hoffnung zu den veränderten Tagen sprachen. Die eine Begegnung konnte hier nicht ohne die andere sein. Die Stimme der Geschichte hörte nur der, welcher zugleich die der Religion, der Gerechtigkeit, der Hoffnung vernahm. Aber zu manchem redete die in ein Neues hineingestellte alte Religion ganz besonders; sie vor allem richtete an ihn ihre Frage und verlangte von ihm seine Antwort. Eine neue Situation war jetzt hier gegeben, und sie stellte in einem Zweifachen ihre Ansprüche. Alte geistige Vertrautheit versagte, alte Wege des Antwortens führten nicht mehr zum Ziel. Die Gedanken mußten von dem gegebenen bleibenden Standort aus in eine andere Richtung geführt werden, um einem Zweifachen, das durch die Zeit heraufgeführt worden war, zu begegnen. Das erste, wovor das religiöse Denken sich jetzt gestellt sah und dem es nicht ausweichen konnte, war die neue Philosophie, die besonders in Deutschland ihre Systeme schuf. Sie | wollte nicht nur, wie die Aufklärung, die ja zudem mehr eine Denkweise als ein System hatte schaffen wollen, es unternommen hatte, dem Glauben eine Vernünftigkeit gewährleisten, indem sie ihn vom Mysterium fortlenkte. Es war auch nicht nur das, was frühere Jahrhunderte immer neu versucht hatten, daß die Religion durch die Philosophie oder die Philosophie durch die Religion legitimiert werden sollte. Jetzt wollte die Philosophie eine Vollendung alles Denkens und Glaubens, eine Erfüllung aller Religion und alles Menschentums sein. Die Frage war jetzt nicht mehr, ob die eine Religion oder die andere in die Wahrheit hineinleite, sondern sie lautete jetzt: Religion oder Philosophie? Halbes Wissen oder ganzes Wissen? Und als der gerade und bestimmte Weg zu dem Gipfel hin, der jetzt erstiegen werden sollte, zu der Philosophie hin, wurde das Christentum erklärt, das über das Judentum hinausführe, zur Philosophie empor. Durch die Philosophie, und das hieß damals doch durch ein Denken, welches als das endgültige, das absolute herantrat, nicht wie bisher durch einen Glauben, welcher als das Heil und die Erlösung dastehen wollte, war die Religion dieses Volkes jetzt in das Gebiet des Geringeren hineingewiesen. Ein System des Geistes, welches das System zu sein beanspruchte, wies ihr den Platz an. »Philosophia tanta causa finita.« Es war eine veränderte Situation, eine fast von Grund auf andere, in der man sich befand. Gewissermaßen von einer letzten und befugten Instanz schien das Urteil gefällt zu sein. Auch hierdurch, und hierdurch besonders, war die Zeit eine kritische, eine Zeit der Entscheidung. Manche meinten, von dem Vaterhause des Glaubens Abschied nehmen zu sollen, Abschied zu neh-
345
286
287
288
men, auch wenn sie in der Gemeinde des Glaubens weiter blieben. Doch wer, auch hier, die Stimme aus dem Ganzen hervor vernimmt, der hört, wie hier, in den | Ländern einer neuen Freiheit und der neuen Probleme, dieses Volk den tapferen, großen Willen, den zu seiner Religion, von neuem erwarb. In der Kraft der Wiedergeburt erwuchs die fromme Selbstgewißheit und in ihr die Kraft der Antwort. Mit mannigfacher Stimme, hellerer und stillerer, erhob sich das neue Wort. Bald wandte es sich an den weiten Kreis, bald an den engeren. Wohl immer entsprang es dem tiefen Gefühl für eine Aufgabe, die jetzt gestellt war, jetzt anders als vorher, aber so bedeutungsvoll wie nur je. Für ein altes Besitztum dieses Volkes, für die Predigt, begann jetzt eine andere Zeit, in neuen Formen und in neuer Sprache suchte sie für den alten, den bleibenden Inhalt den Ausdruck zu gewinnen. Sicherlich gab es so manche, die ein Reden um des Redens willen oder ein Reden, nur um gehört zu werden, für sich bereiteten. Aber wer wiederum dem Ganzen sich zuwendet, das mehr ist als die Teile und mehr noch als die einzelnen, der steht einem starken Pflichtbewußtsein gegenüber, das diese Männer bewegte. Sie wußten sich, so klein auch die Gemeinde sein mochte, zu der sie sprachen, für die Erben dieses Volkes und die Aufgabe der Gesamtheit verantwortlich. Die Würde ihres Glaubens wollten sie vor die Ihren und vor die Menschen, in deren Mitte sie jetzt lebten, hintreten lassen. Das Einzelne ist bisweilen mangelhaft, bisweilen unbeholfen und rührend in dieser Unbeholfenheit, aber das Ganze ist etwas Großes, die Wiedergeburt, die gekommen war, offenbart sich in ihm. Auch hier will Glanz auch zu den Kleinen hingelangen. Hinter diesen vielen standen gebend und helfend die wenigen, die »Männer, in denen ein Geist war«, die wenigen oder der eine in jeder Generation. Jeder hatte seinen Weg gesucht. Aber zusammen sind sie, die Früheren und die Späteren, eine bedeutsame Reihe. Kaum einer ist ein Schüler dessen, der vorangegangen war, aber jeder gehörte doch, ob | er es wußte und wollte oder nicht, zu dem hin, der vor ihm war, und sie alle gehören so zusammen als die, in denen das neue religiöse Denken in den Tagen der Wiedergeburt den persönlichen Zug, die bestimmende Linie erhielt. Es war die Linie, die zu ihm hinführte und von ihm weiterführte, die Linie des Denkens ohne Ende, aus dem Glauben hervor, der in sich ruht. Sie waren die Denker der Zeit; denn sie haben etwas von dem Ewigen und Umfassenden in sich aufzunehmen gesucht und haben zugleich ihre Zeit, in die sie hineingestellt waren, durchdacht. Als erster unter ihnen, den Jahren nach und wohl auch dem Range nach, ist Salomon Ludwig Steinheim aus Bruchhausen zu nen-
346
nen, im Geburtsjahr der Französischen Revolution, fünf Jahre vor Zunz, geboren. Wie manche der Denker in der sephardischen Welt war er ein Arzt, und in dem, was er schrieb, tut sich nicht selten auch ein Eros des Heilens kund. In eine Gesundheit des Denkens, zu einer Gesundheit der Selbstgewißheit will er die Kinder seines Volkes hinführen. Auch etwas vom Dichter war in ihm; er wußte, was sich in »dem Erlebnis und der Dichtung« erschließt. Das Problem, das Mendelssohn in der Tatsache des Friedens seiner Persönlichkeit, und in seiner Art so mit Recht, gelöst glaubte oder behoben meinte, das Problem von Offenbarung und Vernunft, trat in seiner unabweisbaren Bestimmtheit vor Steinheim hin. Offenbarung ist das, worin das Ewige, das Jenseitige, in die Menschensphäre eintritt; Vernunft ist das, worin das Menschliche im Bereiche des Ewigen, des Jenseitigen, hinzieht; Offenbarung und Vernunft können so einander begegnen. Wenn Steinheim, in seiner Zeit, die sich bald zum alleinigen Rationalismus, bald zur Romantik allein hinwandte, das Problem auch in anderen Worten ausgedrückt hat, so hat er in seiner Weise doch erkannt, was es für das menschliche Denken bedeutete. Und vor allem hat er erfaßt, wie die Einsicht dieses | Volkes in seine Religion, in sein Wesen, und damit doch seine Existenz auch, davon abhing, daß es den Sinn für die Offenbarung nicht verlor. Man könnte, um dieses Problem zu verdeutlichen, sagen: Gegenüber allen Mythologien, auch denen der Philosophie, gegenüber allen Versuchen auch, im Namen des Staates den Menschen dieses Volkes das Recht auf sich selbst abzusprechen, hat Steinheim in der bleibenden Tatsache der Offenbarung den festen Standort gewonnen, der den sicheren Boden gab und von dem die Wege zur Zukunft ausgehen konnten. Nicht vor den Vernunftlehrern der Länder und Zeiten nur, sondern vor dem Logos, der alles umfaßt, wollte er bestehen. Die Offenbarung wurde ihm so zur Antwort, und die Vernunft schien ihre Seele zu gewinnen. Wohl von wenigen nur ist Steinheim in seinen Tagen ganz erfaßt worden; dafür haben spätere Tage sich ihm erschlossen. Doch das Entscheidende ist die Tatsache, daß schon so bald nach Mendelssohn ein Mann wie er hier erstanden ist. Daß die Wiedergeburt gekommen war, bezeugt sich auch in ihm, und in ihm auch gewann die Wiedergeburt eine neue Kraft. Anders als er, ja ganz anders, aber innerlich zu ihm gehörig, war ein Mann, der nach ihm kam und ohne ihn vielleicht nicht geworden wäre, der er war, auch er ein Mann, in dem die Wiedergeburt erkennbar wird, Samson Raphael Hirsch aus Hamburg. Er hatte den starken Sinn für die Eigentümlichkeit, und kraft dessen hat er ver-
347
289
290
291
mocht, Gewissen zu wecken. In seinem Volke stand die große, die weltgeschichtliche Eigentümlichkeit vor ihm. Hatte Steinheim dadurch, daß er die Offenbarung zu begreifen suchte, dieses sein Volk zu verstehen gelernt, so hat Hirsch darin, daß er sich in dieses Volk vertiefte, sich einen Zugang zum Verständnis der Offenbarung bereitet. Der Zug zum Besonderen bestimmte immer wieder sein Denken und vielfach auch sein Streben. Seiner geschichtlichen Unvergleichbarkeit, immer, auf jedem Schritte seines | Lebens, in allem Wandel des Geschehens, gewiß zu bleiben, das stellte er als die Aufgabe hin, die diesem Volk in den veränderten Tagen, die gekommen waren, mehr noch als je, vor dem Blicke stehen sollte. Die neue Zeit und ihre Bildung hat er anerkannt; er hat sich weder vor ihr versteckt, noch hat er sich in sie hinein verloren. In allem Hange zur Eigentümlichkeit, der ihn kennzeichnet und der bisweilen wie eine Absonderlichkeit erscheinen konnte, sprach er doch, ohne Zögern und Schwanken, die neue Sprache. Sie sollte ihm dazu helfen, die Tiefe der Seele des Wortes der Bibel, den bleibenden Sinn jedes Gebotes dem Menschen seiner Tage aufzutun. Auch die, die ihm nicht folgten, hat er zu ernstem Nachdenken geführt. Neben Hirsch, ein anderer wiederum, in manchem ein ganz anderer, aber wie er aus der Wiedergeburt erwachsen und zu einer ihrer Kräfte geworden, steht Abraham Geiger aus Frankfurt. Auch für ihn ist die wesentliche und entscheidende Frage die nach dem Bleibenden und Unveränderlichen in dieser Religion, und der Mittelpunkt steht so für ihn fest. Aber er will zugleich das erkennen, was sich zu jeder Zeit, und nur dieser einzelnen Zeit zugehörig, um den Mittelpunkt bewegte oder ihm zustrebte. Die Wissenschaft des Judentums sollte es zeigen, zu ihr hat er sich empfangend und gebend immer wieder hingewandt. Sie ist ihm für manche Erkenntnis zu Dank verpflichtet. Aber vor allem hat ihn die Hauptaufgabe erfaßt, die das religiöse Leben in schwankender Zeit stellte. Durch neuen Ausdruck im Denken, durch neue Form in der Gemeinschaft des Betens wollte er dazu helfen, die neue Gewißheit und die Freude an der Gewißheit zu besitzen. Man hat dieses Streben meist mit dem vieldeutigen und daher oft mißverstandenen Worte »Reform« benannt. Das, was damals erstrebt wurde, ist nur dann verstanden, wenn dem Worte sein ursprünglicher sprachlicher Sinn wiedergegeben wird. | Form sollte wieder geschaffen werden: Form, die vielfach an frühere Zeit gebunden war und die zur Formlosigkeit zu werden drohte, sollte zur Form, zum Ausdruck oder Symbol der Idee neu entwickelt werden. Wahre Reform kann daher nicht ohne ein lebendiges Verständnis für das Stetige sein. Sie setzt gewissermaßen
348
den konservativen Zug voraus. Ohne ihn ginge gewordene Formlosigkeit sehr bald in werdende Formlosigkeit über. Es gibt eine Formlosigkeit der verlorenen Form und eine Formlosigkeit der übersteigerten Form. Ganz wie ein Konservatives ohne die Reform versteinern würde, so würde Reform ohne ein Konservatives zur Kruste ohne den Inhalt werden. Der Akzent hier ist von dem Akzent dort verschieden, das Werdende wird hier, das Gewordene dort stärker betont, aber der Wille ist der gleiche. In Geiger ist dieser Wille immer fest geblieben, schon deshalb, weil die Wiedergeburt der Religion in ihm zur Kraft geworden war. Von der Religion, von der Offenbarung, wollte er in der neuen Sprache, die ihm gegeben war, zu den Gemeinden sprechen. Nach Steinheim, Hirsch und Geiger kamen andere, auch sie verschieden von ihnen und verschieden voneinander, aber sie alle im Innersten und Eigentlichsten gleich. In ihnen allen war die Wiedergeburt; von der Offenbarung, die diesem Volke zuteil geworden war, wollten sie Zeugnis ablegen. Der Existenz dieses Volkes haben auch sie alle neuen Bestand zu geben gesucht, jeder in seiner Weise, jeder zu seinem Teile. Unter Männern, die hier genannt sein könnten, treten vor den Blick, der auf ein Jahrhundert zurückzuschauen sucht, einige besonders hin, weil bei aller Besonderheit und aller Unterschiedenheit auch in der Kraft sich ihr Denken in einer gleichen bedeutungsvollen Richtung bewegte. Sie begannen, von der Philosophie her auf ihre Religion hinzublicken, und kamen dazu, von ihrer Religion aus zu der Philosophie hinzusehen. Je mehr sie in die Philosophie eindrangen, desto mehr | wurden sie ihrer Religion gewiß. Das Geheime, das dort, in der Philosophie, die Grenze war und bleiben mußte, wurde ihnen der Mittelpunkt, zur Erfüllung und Bürgschaft des Denkens, zum inneren Heiligtum gleichsam. Von ihm aus, von der Religion her, konnten sie nun alles betrachten und die letzte Sicherheit damit, auch für die Philosophie, erlangen. Auf mannigfachen Wegen haben Männer diese Richtung gewonnen. Manuel Joel aus Birnbaum im Posener Lande hatte als einer der ersten den Blick für die Eigenart der sephardischen Philosophen, bis zu Spinoza hin, erworben, und das Eigentümliche seiner Religion erschloß sich ihm von daher. In der Welt des deutschen Idealismus hatte Moritz Lazarus, auch er aus dem Posener Lande, eine neue Art des Sehens gelernt, und das Bleibende und Beständige seiner Religion erlangte von daher die neue Gewißheit. Zu den seelischen Gründen der Sprache, zu ihrer Philosophie, war Chajim Steinthal aus Gröbzig im Anhalter Lande, in dem Moses Mendelssohn
349
292
293
geboren war, hingezogen, und er hatte von dort einen Weg bereitet zu Tiefen des biblischen Wortes hin, zu dem hin, woher Offenbarendes zur Seele aufsteigen will, zu den Stimmen in seiner Religion, in denen das Unaussprechbare vernommen wird. Und vor allem dann, in einer folgenden Generation, Hermann Cohen, auch er aus dem anhaltischen Lande, aus Coswig, ein ganz Eigener in der Kraft und in der Weite seines Denkens, wahrhaft ein Lehrer der Lehrer, ein Lehrer für Tage, die sind, und für Tage, die kommen werden. Als die Welt der Philosophie, die Welt Platos und Kants vor allem, ihn ganz zu umfangen und zu durchdringen schien, ist seine Religion, ist gleichsam seine Kindheit, ist eine Genialität, eine Naivität in ihm wiedergeboren worden. Die Dynamik der Philosophie hat er in die stärkere Dynamik seiner Religion aufgenommen, daß letzte Reife, letzte in seinen Jahren, Kraft aus alter Kraft durch ihn zu neuer Kraft geworden ist. | Wer in diese Tage hineinblickt, in denen die Religion hier ihre Menschen suchte und Menschen hier ihre Religion suchten, Tage, in denen die Religion dieses Volkes zu neuem Leben erwachte, in neuem Leben sich wiederfand, der hört ein deutliches Zusammenklingen der Klänge. Eines Rhythmus’, fast eines rhythmischen Gesetzes, wird er gewahr. Einstige Tage werden es bestimmter noch vernehmen. Zu dem Ringen um den Sinn der Geschichte dieses Volkes und dem um den neuen Ausdruck seiner Religion kam, mit ihnen sich immer neu verbindend, der Kampf um die Gerechtigkeit. Er war auch ein Kampf, in manchen Ländern ein beständiger, um das Recht dieser Menschen in dem neuen Staate. Aber dieser besondere Kampf um das Recht holte seine Kraft und gewann sein Gewissen aus dem großen Kampf um das Recht aller auf Erden, um die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit in der Menschheit. Er wurde hierdurch legitimiert. Das, was als ein Partikulares erscheinen konnte, erhielt seine Universalität und seine religiöse Bedeutung. So manchen, der in diesem Volke stand oder aus ihm hervorgegangen war, vor allem Karl Marx, hat die große Idee als solche so ganz erfüllt, daß der Sinn für das Recht dieses Volkes als eines solchen, als eines Volkes, das vermocht hatte, Geschichte zu schaffen, und in dem die Geschichte lebte, sehr bald beengt und schließlich verdrängt wurde. Aber auch in ihnen, und zumeist ohne daß sie es wußten, bewegte und erregte und bezwang den Geist doch diese Kraft, welche wie eine Urkraft, schon von Abraham her, in diesem Volke so wie in keinem andern lebte: die immer wiedergeborene Kraft, die von dem Gottesgebote der Gerechtigkeit gezeugt wird. Ohne
350
das ewige Recht konnte und wollte dieses Volk nicht leben. Wenn seine Propheten, seine Dichter, seine Lehrer, seine Fragenden, jeder in seiner Sprache und seiner Weise und in seiner Zeit, ein Hineinkommen des Ewigen, Unendlichen, Absoluten | in die Sphären des Irdischen, Vergänglichen, Begrenzten zu künden versuchten, dann dachten sie nicht zuletzt an das Eintreten einer einzigen Gerechtigkeit in die Bereiche menschlichen Daseins und menschlicher Gemeinschaft. Die Aufgabe, die immer besteht und niemals ganz vollbracht wird, der Weg, der sein festes unverrückbares Ziel behält und doch ohne Ende bleibt, das war ihnen diese Gerechtigkeit, die Gott gebietet, diese Führerin in der Geschichte. In manchen verband sich das beides, das in seinem Grunde nicht getrennt werden kann, das Verlangen nach der großen Gerechtigkeit, welche die Völker umspannt und eint und ein Volk erst zum Volke macht, und das Verlangen nach dem Rechte dieses Volkes inmitten der Völker. Einer ist hier als ein Eigener zu nennen: Moses Heß aus Bonn. Etwas Eigentümliches war an diesem Manne – ein gläubiges Suchen, ein Suchen, das das Ziel erblickte und den Weg erkannte –, der die Bahnen, die zu dem Wege führen würden, zu finden sich bemühte. Er war, auch in der Naturwissenschaft, in die er sich immer vertiefte, einer jener Ahnenden, welche wissen, ehe sie sehen. Aber vor allem lebte in ihm, ein Erbteil von den Propheten her, »Erbteil in der Gemeinde Jakobs«, die tiefe sittliche Sehnsucht, die Sehnsucht nach der großen Gerechtigkeit, der einen Gerechtigkeit für alle Völker und für alle in jenem Volke, für dieses Volk so auch, wo immer es lebe. Von der Zukunft her, »sub specie futuri«, betrachtete er die Gegenwart, auch das ein prophetisches Erbe. Er wollte nicht wie andere, neben die er in der sozialen Aufgabe getreten war, von der Gegenwart aus die Zukunft bestimmen. Auch deshalb hatte er den klaren Blick für dieses sein Volk, und sein Hoffen schaute zu dem Lande hin, das den Ahnen und den Kindern der Ahnen verheißen war. In der Seele dieses Mannes wohnte die ganze, die beständige Treue, die nicht nur an dem Gestern und dem Heute, dem, was war und wurde und was ist, son|dern an dem, was kommen soll, an der wahren Zukunft, festhält. In ihm auch offenbart sich die Zeit der Wiedergeburt. Sie erschließt sich in denen allen, zu denen das große Recht zuerst in einem unmittelbaren Anfang, in einer fordernden ersten Aufgabe sprach, in dem Rechte der Menschen dieses Volkes in den Ländern, in denen sie lebten. Der Kampf um das Recht, das eine und unverrückbare, wurde die Ehre des Lebens. Er gewann die religiöse Würde, ja er dünkte manchen, das Wesentliche ihrer Religion zu
351
294
295
296
sein; ihr Glaube wurde ein Glaube an das Recht, das Gott allen zugeteilt hat. In diesem kämpfenden Glauben finden sie die Erfüllung ihres Lebens, des Lebens in der Gemeinde, in dem Staat und in der Menschheit. Auch hier können die bestimmenden Züge deutlichst an einer geschichtlichen Persönlichkeit erkannt werden, an Gabriel Rießer aus Hamburg. An die Idee des Rechtes war seine Seele hingegeben. Von ihm wurde gesagt, daß »das Recht in ihm zum Gemüte geworden war«, und man könnte hinzufügen: zum religiösen Gemüte. Wie von ihm konnte ein solches Wort noch von manch anderem rühmend gesprochen werden. Auch um des Rechtes willen sollte dieses Volk dasein. Die Sehnsucht erhielt einen neuen Klang, der Wille einen neuen Ton, das Rechtsgefühl gewann seine neue Sprache. In den Ländern, in denen für die Freiheit, die aus dem Recht erwächst, gekämpft wurde, sind die Kinder dieses Volkes in die Reihen der Kämpfenden getreten. Um des Landes willen, in dem sie lebten, und um des Glaubens der Väter willen, aus dem sie ihr Leben hatten, standen sie dort. Aus der alten Treue erhob sich neue Treue. Wo immer eine Treue rief, horchten die Kinder dieses Volkes auf. Es hat damals, wie ja auch einst und später, treue Staaten und untreue Staaten gegeben. Dieses Volk hat aber niemals Untreue mit Untreue vergolten, und auf jede Treue hat es mit seiner Treue, die nie wankte, geantwortet. Auch um der Treue | willen, damit sie sich entfalten könne und die Treue des freien Menschen sei, ist das Recht, dieses Recht des Treuen, gefordert worden. Seit alters lebt in diesem Volke der Bund von Rechtsgefühl und Willen zur Treue. Sein Selbstbewußtsein gründet sich darauf, und sein Weg soll dadurch bestimmt sein. Es gibt eine Rechtschaffenheit auch im Recht, eine Rechtschaffenheit in der Gerechtigkeit. Von ihr spricht ein Satz in dem Buche Deuteronomium, dem Buche der letzten Reden des Moses. Es sagt, in der genauen Wiedergabe, wie die alten Übersetzungen, die griechische, die aramäische, die lateinische, sie haben: »In gerechter Weise – das heißt: rechtschaffen – trachte der Gerechtigkeit nach!« [16,20] »Juste, quod justum est, persequeris!« Die Existenz dieses Volkes gründet sich auch darauf. Dies haben die Besten dieses Volkes erkannt, als sie für das Recht ihres Volkes und das Recht aller Menschen kämpften. Alles dies, dieses wiedergeborene, zu neuer Erkenntnis hinstrebende dreifache Erlebnis der Geschichte, der Religion, der Gerechtigkeit, war von einem durchzogen und durchwoben, durch eines zusammengefügt, durch die eine große Hoffnung, die messiani-
352
sche Gewißheit, diesen Glauben an das Ziel, das feststeht und um dessentwillen Geschichte gefordert werden kann und es sich lohnt, Geschichte zu besitzen und, wenn es not tut, Geschichte zu ertragen. Hoffnungen waren hier und dort erschienen, sie waren aufgegangen und gingen unter. Geschehnissen hatte man hier und dort vertraut, sie waren gekommen und waren versunken. Wege hatte man zu sehen geglaubt, und es zeigte sich, daß sie keine Wege waren. Enttäuschungen erhoben ihre Stimme, und sie übertönte das, was vorher im Herzen gesprochen hatte. Die Einsamkeit, welche die bedrückendste ist, die Einsamkeit in|mitten von Menschen, konnte bisweilen das Gemüt umfangen. Aber wer den Zeugnissen der Zeit nachgeht, sei es denen einer schlichten Frömmigkeit, sei es denen einer suchenden Geistigkeit, der begegnet trotz allem immer wieder dem großen Vertrauen in eine schließliche Zukunft, ohne das es, hier wenigstens, kein wahres Gottvertrauen gibt, diesem Vertrauen, welches etwas ganz anderes ist als das, was Optimismus genannt wird. Es trägt mehr von einem Heroismus der Seele in sich als von diesem Optimismus der Betrachtung. Man fühlte sich oft einmal verlassen, von den Großen und auch von den Kleinen verlassen. Aber man fühlte sich nicht verloren, wenn man nur sich selber nicht verlor. Dies sind die Stimmen dieser Zeit. Von allen den Richtungen her, in denen sich das Erleben, das Sinnen und das Suchen bewegten, sind sie vernehmbar. Die eine Hoffnung bleibt. In ihr wird dann ein Ruf wieder vernommen, der in allen Tagen von Hoffnungen, wenn er auch nur leise sprach, doch nie verklungen war, der Ruf von Zion her und nach Zion hin. Moses Heß hatte ihm Worte gegeben, und in den Gemeinden in südlichen Orten Europas, die dem Meere nahe waren, hatte die Sehnsucht wundersam Menschen sich erheben und aufbrechen lassen – in späteren Tagen hat der große Dichter Agnon, der der hebräischen Sprache einen neuen Klang gegeben hat und die Poesie des Geheimnisses und des Wunders neu entdeckte, so wundersam von ihnen erzählt. Aber das eine wie das andere war ein Einzelnes, eine Episode geblieben. Zu einem Ganzen und Umfassenden und damit zu einer Kraft in der Wiedergeburt ist das Wiedererwachte erst durch einen Mann geworden, in dem die schauende Phantasie, welche findet, ehe sie gesucht hat, zum Willen, zur Tatkraft und zur Spannkraft alsbald wurde, durch Theodor Herzl aus Budapest, einem der starken östlichen Außenposten der Kultur der westlichen Aschkenasim. Er hat das Wort von Zion zum | Aufrufe werden lassen. Viele, im Westen und im Osten, hat er geweckt und hat sie aufhorchen und hinausblicken gelehrt.
353
297
298
299
Aus der Kraft, die in ihm war, ist Kraft in andere hinübergegangen. Aus dem alten »Trost« war in ihm neuer Trost erwachsen und ist vielen zum Trost in oft trostlosen Tagen geworden, zu dem Troste, aus welchem Kraft ersteht. Dieser Mann darf nie vergessen sein, wenn auch die Tage anders wurden, als er gedacht hatte. Er steht nicht nur zwischen den Zeiten und auch nicht nur zwischen den Gebieten. Auch er ist einer derer, in denen sich die Wiedergeburt offenbarte, so daß er erlebte, wo er stand, und von dort aus den Weg seines Volkes erblickte. Er gehört in die Reihe dieser Männer hinein, er schließt sich ihnen an, auch wenn er selbst dessen nicht bewußt war. Ohne sie wäre er nicht der gewesen, der er wurde, und ohne sie wäre die Bewegung nicht geworden, die von ihm ausging. Auch er war unter ihnen ein Eigener, ein Besonderer, und auch er sprach eine eigene, neue Sprache, und er sprach sie aus einer seltenen Reinheit des Denkens, aus einer seltenen Gläubigkeit eines lauteren Willens hervor. Auch er ist einer derer, die der Existenz dieses Volkes einen neuen Sinn und damit neue Kraft zu geben vermochten. Die Zeit der großen Wiedergeburt ist noch nicht abgeschlossen. Die in allen Richtungen wiedererwachte Kraft griff nach dem Osten und dem Westen hinüber. In den Jahren zwischen zwei Weltkriegen hat sie zudem im Lande Aschkenas selbst, ehe die Zeit der Aschkenasim in Aschkenas zu Ende ging, wie einst die Zeit der Sephardim in Sepharad zu Ende gegangen war, ein neues reiches und bedeutungsvolles Leben entfaltet. Manch ein Name, von Dahingegangenen und Lebenden, wäre dankbar zu nennen. Von ihnen werden Spätere erzählen, die den Weg und das Weiterwirken dessen, was damals dort geworden ist, ganz werden überblicken können. Ob aus dieser erneuten Wiedergeburt hervor sich eine Geschichte des Geistes | der Aschkenasim in anderen Ländern, Ländern der Einwanderung, gestalten wird? Ob dort die Aschkenasim des Westens und die Aschkenasim des Ostens in einer großen Begegnung einander wiederfinden werden, damit aus dem Bunde, aus wiedergewonnener Einheit auf neuem Boden eine Kraft der Geschichte erwachse? In manch neuen Boden war inzwischen eine Saat gestreut worden. In dem Vierteljahrhundert vor dem ersten Weltkriege war durch die große Wanderung von östlichen Aschkenasim Amerika wiederum zu einer Stätte der Verheißung geworden. Die vielen, welche so Jahr um Jahr in der Neuen Welt ihren Platz suchten, hatten ein Gebiet verlassen, in das die Revolution der Menschenrechte nicht gedrungen war. Sie wurden nun von einem Land aufgenommen, das seine
354
Geschichte mit einer Revolution im Namen der Menschenrechte begonnen hatte. Sie kamen aus einer Welt der alten Milieufrömmigkeit, in der die alte Weise der Religion durch jede Tür und jedes Fenster hineinwehte und auf jeder Gasse jeden umfing. Sie sollten in einem Lande der Individualfrömmigkeit jetzt leben, in dem ein jeder die Weise seiner Religion wählte, in dem die Religiosität ihn nicht von vornherein erwartete und dann dauernd umfaßte, sondern jeder seiner Frömmigkeit die Stätte bereiten sollte. Es war eine neue Welt, sie waren über den Ozean gezogen. Ehrlich und aufrichtig haben sie den Weg der neuen Welt bejaht, wenn auch bisweilen die Liebe hier und eine Romantik dort Blicke zu Vergangenem hinwandten oder hinsandten. Durch die breiten Einwanderungen ist Amerika das Land von Millionen der Kinder dieses Volkes, das Land der Zehntausenden von Gemeinden geworden. Niemals zuvor haben so viele von diesem Volk innerhalb eines Staates gelebt, der – es | ist ein Erbe vom englischen Ursprunge her – ein Staat und doch nicht nur ein Staat war, der jeder Besonderheit den Rahmen und auch die Zeit gewährte und doch das umfassende Gebiet einer Sprache und einer Bildung, eines Rechtes und einer Reinheit, eines Ausblickes und eines Vertrauens geworden und geblieben ist. Auf diese Millionen, in deren Häuser das Gedeihen dieses Landes einkehrte und auf denen nur die leichten eigenen Bürden ruhen, ist dafür ein großer Teil ernster Verantwortlichkeit, moralischer und geistiger Verantwortlichkeit vor allem für das alte Gesetz, von dem sie ein Teil sind, durch die Geschichte auferlegt. Wir Menschen dürfen uns nicht bloß ein Stück einer Verantwortlichkeit aussuchen; die Verantwortung ist immer die eine und ganze. Das Leben führt den einzelnen, und die Geschichte führt die Gemeinschaften und die Gesamtheiten vor ihre Verantwortlichkeiten hin. Einer der Größten dieses Landes Amerika, einer der Größten aller Zeiten, der Befreier der Sklaven in seinem Lande, hatte seinen Zeitgenossen zugerufen: »Ihr könnt der Geschichte nicht entgehen«, »You cannot escape history.« Wir dürfen uns ihr auch nicht entziehen. Ob ihre Stimme gehört sein wird? Spätere werden die Antwort vernehmen. In den Gemeinden des östlichen Europas, aus denen Jahr um Jahr Menschen nach der Neuen Welt aufgebrochen waren, hatte in all diesen Jahren und schon vorher aus alter Kraft hervor neue Kraft sich zu formen begonnen. Alte Gedanken wurden gegenwärtig, alte Sprache erneuerte sich, eine andere Generation wuchs heran. Es war keine Revolution – die Revolution war vorher geschehen –, kein
355
300
301
302
neues Prinzip wurde aufgestellt, kein neuer Standort wurde gewählt. Aber der Geist weitete sich, um in andere Sphären auch einzutreten; das Gemüt dehnte sich, um anderes noch zu erleben. Ein neues | Frohgefühl kehrte ein. Man verstand sich nun auch hier anders, als man sich vorher verstanden hatte, und sprach daher auch anders als zuvor. Die alte hebräische Sprache, die dieses Volk nie verlassen und nie in ihm stillgestanden hatte, fing so auch wieder neu sich zu regen an. In allen den Epochen hatte sie sich neu gestaltet. Alte Bedeutung des Wortes hatte neuen Sinn und neuen Klang gewonnen, aus alter Form war neue Form hervorgewachsen. Die Sprache hatte sich selbst immer wieder von neuem erlebt. In der neuen Zeit hatte der Kreis um Moses Mendelssohn es so erfahren und das Erfahrene zu prägen gestrebt. Jetzt wurde das alles mit dem neuen Erwachen in den östlichen Gebieten stärker und lebendiger noch. Drei Männer sind hier vor den anderen zu rühmen: der Denker Ginsberg, der sich Achad ha-am nannte, aus Skwira in Podolien, Micha Joseph Berditscheski, der Suchende, aus Meshilosh in der vielgeprüften und bewährten Ukraine, der Dichter Chajim Nachman Bialik, auch er aus der Ukraine, aus Rady. Er, und mit ihm andere, machten damals die Gemeinde Odessa zu einem Mittelpunkte dieses neuen Strebens, ein Glanz und eine Kraft gingen damals von dort aus. Diese Männer, auch sie wieder so verschieden und doch wieder so gleich, und manche, die ihnen folgten, haben der Sprache in ihrem Neuwerden die Bahn bereitet. Sie haben es für eine Gegenwart getan, welche eingetreten war, und zugleich für Tage, welche nahten. Was wird ein einstiger Tag sagen? Auch in der alten Volkssprache, dem einst aus dem Lande Aschkenas mitgebrachten »Jüdisch-Deutschen« oder »Jiddischen«, ist damals neuer Saft in Stamm und Zweige hineingeflossen. Sie ist eine der wärmsten und lebhaftesten Volkssprachen, reich an Ausdrucksformen und Ausdrucksklängen; sie lacht und weint und singt und klagt in eigener Weise und zugleich in der Weise des Landes, in dem sie wohnt. Denn wie | jede Volkssprache hat sie ihre Provinzen, sie verbindet sich mit Klängen und Formen eines Heimatbereichs. Ein Mann steht hier vornan, Mendele Mocher Sepharim aus Kopyl in Weißrußland, dort, wo Litauen, Rußland und das Baltische Land einander treffen. Von ihm stammen andere her, und dankbar haben sie ihn den »Vorfahren« genannt. Ob die Nachkommen auch Nachkommen haben werden, nachdem alter Boden, der Boden alten, in sich erstreckten Zusammenwohnens und Zusammenlebens, der Boden, aus dem solche Sprache ihre Säfte holt, zerstört wurde oder verfiel?
356
Erst spätere Tage werden eine Antwort geben können. Aber wie immer, der Geist wird bleiben, auch der Geist, der sich in dieser Heimatsprache sein Sagen und Singen schuf. Die Zeit schritt weiter in raschem, sich fast überstürzendem Geschehen. Hoffnung stieg am Horizont auf, Rettung hier, Erfüllung dort, so wie einst der Prophet der Heimkehr aus dem Babylonischen Exil es gesagt hatte: »Eine Sonne der Gerechtigkeit, Heilendes in ihren Fittichen« (Mal. 3,20). Die Zuversicht, daß von Zion ein neues Wort ausgehen werde, ein Wort an dieses Volk inmitten der Menschheit und damit an die Menschheit selbst mit allen ihren Völkern, sandte Strahlen aus. »Zion, wirst du nicht fragen um den Frieden derer, die an dich gebunden sind?« so hatte einst Jehuda Halevi fragend und doch zugleich wissend gesungen. Jetzt erklang solche Frage der Zuversicht von neuem. Zu einem Staatsmanne war damals das, was im Geschlechte vorher Theodor Herzl geschaut und gesucht hatte, hingedrungen. Zu einem Staatsmanne war sie hingelangt, und das will doch sagen: zu einem, der von der Idee her sich zur Politik hinwendet, damit diese ein Organ der Idee werden könne, und nicht einem nur, der in der Politik steht und durch sie | umfangen wird und von ihr nach einer Idee Umschau hält, die der Politik dienstbar gemacht werden könnte. Solange in der jüdischen Seele die alte Kraft der Dankbarkeit lebt und Leben gibt, wird der Name dieses Staatsmannes, der Name Arthur James Balfour, nie verlorengehen noch vergessen sein. Aus einem Volke war er hervorgewachsen, das seit langem ein Volk der beständigen, und das bedeutet doch: der konservativen Revolution ist, das ein Volk dieser stetigen konservativen Revolution zu sein vermag, weil auch ihm jene sittliche, künstlerische Gabe eigen ist oder immer wieder eigen wird, jene Gabe, Zeit zu haben, um zurückzutreten und lange zu betrachten, was geworden ist und werden wird. Immer wieder konnte es darum für ein neues Prinzip bereit sein, wenn der Tag gekommen schien. Dieser Staatsmann hatte sich so einer Idee, die zu ihm hingelangt war, und einem Prinzip, das sie enthielt, frei erschlossen. Er hatte sich ihr erschlossen, das heißt: In seine Einsicht und in seinen Willen nahm er sie auf. Gewiß, an sein eigenes Volk dachte er in dem, was er tat, aber doch ebenso an dieses Volk, in das er sich hineindachte. So trat jene »Declaration« in die Geschichte ein, welche im Namen der Geschichte für Menschen dieses Volkes, deren Platz schwankte oder zu schwanken schien, die gesicherte »Heimstätte« innerhalb des alten Landes der Väter forderte.
357
303
304
305
Ein neuer Standpunkt war damit eingenommen worden, ein neues Prinzip war aufgestellt. Und wie jedes echte Prinzip erwies es sich als schöpferisch. Mit anderen Worten, die aber dasselbe besagen: Eine Möglichkeit, auf besonderem Boden schöpferisch zu werden, war jetzt gegeben. In dem großen Werke der Vorbereitung, welche Denker dieses Volkes die »Vorsehung« genannt hatten, war eine neue Aufgabe aufgetan. Kein Fertiges, kein schon Erfülltes wird ja uns Menschenkindern gegeben, sondern nur eine Möglichkeit, die Möglichkeit, in Neuem einen Weg für das Gottesgebot zu bahnen | und damit ein Neues zu schaffen, in Neuem schöpferisch zu sein. Damals sind, aus den Gemeinden des europäischen Ostens vorerst und dann aus den Gemeinden anderer Länder, Menschen nach dem Lande der Väter aufgebrochen, um das Land zu finden und um sich selber zu finden, Junge und Alte, Junge, die an der Aufgabe reiften, und Alte, die in der Aufgabe wieder jung wurden. Harte Arbeit wartete ihrer, und die harte Arbeit hatte neue Begeisterung gezeugt. So begann das, was ein Einmaliges in der Geschichte ist: Kinder der alten Kolonien, die einst von Menschen aus dem alten Mutterlande gegründet waren, und der Kolonien dieser Kolonien zogen aus und kehrten ein, um das alte Mutterland zu kolonisieren, um Kolonisten des Aufbaus zu sein. Eine soziale Ordnung wurde geschaffen, in der es keinen Unterschied der Stände gab und keiner im Lande sich verlassen fühlen sollte. Das Zweifache, das der Prophet verheißen und daher gefordert hatte, wurde vollbracht: »Wüste wurde zu einem Eden« gemacht und »Steppe zu einem Garten Gottes«. Und »Frohempfinden und Freude« wuchsen auf, »Dank und Stimme des Gesanges« (Jes. 51,3). Aus der Welt Europas drangen schon bald andere Stimmen hervor und wollten alles übertönen, Stimmen, die der Verlogenheit dienten, die das Verbrechen priesen und die Rechtschaffenheit verhöhnten. Staaten zerbrachen die Pflicht der Treue gegen ihre Bürger. Häuser des Gebetes, in denen Treue, Gerechtigkeit und Liebe verkündet worden waren, wurden niedergebrannt, Gemeinden, in denen Gottesfurcht, Menschlichkeit, Wohltun und Sinn für die Gesamtheit gepflegt worden waren, wurden zerrissen, Hunderttausende, Menschen dieses Volkes, Menschenleben, in denen eine Seele war, wurden vernichtet. Und die es begingen, wußten, was sie begingen. Und den Mächten, in denen jedes geübte Verbrechen die Bereit|schaft zu neuem Verbrechen zeugte, reichten Mächte, in deren Mitte Recht und Rechtschaffenheit wohnten, im Namen eines Friedens die Hand. Der Friede wurde entweiht, und ein entweihter Friede führt ärgeres Verhängnis noch herauf als eine Zerbrechung des Friedens. Ihm folgt
358
immer der Krieg, mehr an Krieg noch als einem gebrochenen Frieden. So wuchs der zweite Weltkrieg herauf; und als er sein Ende fand, haben die Sieger es unternommen, den entweihten Frieden durch ein Werk reinen Friedens zu sühnen, gleichsam die Menschheit wieder zu weihen. Die »Vereinten Nationen« sollten das Fundament dieser Aufgabe sein, damit ein Heiligtum der Hoffnung erbaut werde. Wird es so sein? Ist eine Menschheitsepoche im Beginnen – eine Epoche, an deren Anfang eine Heimsuchung dieses Volkes stand wie »ein Opfer für viele«? Spätere werden die Antwort hören. Das Tor zu den »Vereinten Nationen«, Tor eines Gebotes und einer Hoffnung, hat sich dem »Staate Israel« aufgetan. Drei Jahre nach dem Weltkrieg war aus der »Heimstätte« ein Staat geworden. Er ist noch gefährdet. Er ist von außen bedroht, so wie so oft ein Kleinerer von Größeren bedroht ist. Er kann von innen bedroht sein, so wie so oft ein jeder Staat von einem »Hinderer«, der die Moral verneint, dem Satan der »Staatsräson«, bedroht wird, dieser Staatsräson, die alles zu rechtfertigen bereit ist, die dem Gegner nichts und sich selber alles verzeiht, die sich in die Ausflüchte begibt und darüber den Weg verliert. Es gibt eine innere Abtrünnigkeit, die sich unter manchem Deckmantel verbirgt. Ein Staat dieses Volkes kann nur ein Staat des »Bundes«, des Gottesgebots sein. Fragen erheben ihr Haupt und blicken den an, den die Liebe zum alten Lande der Väter erfüllt. Länder der Kinder Ismaels umgeben das Gebiet dieses Staates, und neues Volksbewußtsein ist in ihnen erwacht. In dem gleichen Glauben, in dem | missionarischer Eifer sich immer wieder regt, sind sie mit weiten Bereichen in Asien und fast dem ganzen Afrika geeint. Was will es für Israel in ihrer Mitte bedeuten? Wird die Zeit wiederkommen, die soviel an Segen gebracht hatte, in der Ismael und Israel einander innerlich begegneten, Geist zu Geist sich fand, die beiden einander beschenkten und die Menschheit beschenkt haben? Und dann die andere Frage, die sich erhebt? Und es will scheinen, daß die zwei Fragen, die, die von außen, und die, die von innen her hervortritt, ineinandergreifen, so daß sie nicht zu trennen sind. Es ist die Frage: Welche Stimme wird im Staate schließlich die bestimmende sein: die, in der das Bleibende und Verbürgende des Bundes, des Gebotes sein Wort hat, oder die, mit der ein Tag, welcher kommt und geht, einen Nutzen verspricht? Dieses Volk darf nie auf sich selbst nur blicken. Es kann leben, nur wenn es auch immer hinausschaut, wenn es sich selber inmitten der Menschheit sieht, an sich um der Menschheit willen und an der Menschheit um seiner selbst willen festhält. Darin ist sein Vertrauen, auch das auf das Land der Väter, gegründet. Darum hofft es auch hier.
359
306
307
308
Noch eine Frage stellt sich ein, und auch sie will in eine Zuversicht eingehen. Frage und Zuversicht sind hier noch umfassender, und sie umschließen das Geschick dieses Volkes weithin. Wird Getrenntes sich einen, Getrenntes in der Menschheit und Getrenntes in diesem Volk auch? So spricht hier die Frage, und der Zweifel hier und die Hoffnung dort wollen die Antwort geben. In den Jahren nach den Kriegen hatte sich die Scheidung zwischen dem Osten und dem Westen vertieft. Sie ist fast so alt wie unsere Kenntnis der Geschichte. Seit den Tagen, in denen die alte Welt von Stämmen besiedelt wurde und Hirten zu Ackerbauern wurden, besteht sie immer | wieder, wenn sich auch die Formen und die Grenzen änderten. Völker drangen von Ost nach West und von dem Westen nach dem Osten vor, aber sie kehrten schließlich dorthin zurück, woher sie gekommen waren, und die Grenzen von einst blieben. Sind es Grenzen, welche die Natur, die vor der Geschichte schon da war und so oft sie zu bestimmen scheint, von Anbeginn gezogen hat? Ist das Empfinden und ist der Wille dort und hier ein anderer, und haben Empfinden und Willen dort und hier eine andere Art des Denkens und Hoffens geschaffen? Oft einmal hat auch eine Linie zwischen Norden und Süden sich in die Geschichte eingezeichnet, doch die eigentliche Scheidung blieb die zwischen Ost und West. Wird sie weiterhin bleiben? Wird es wahr bleiben: »For East is East, and West is West, and never the twain will meet«, »Denn Ost ist Ost, und West ist West, und nie werden die beiden zusammenkommen«? Eine Statik von Jahrtausenden scheint hier eine Kraft des Beharrens zu zeigen. Sie scheint in sich zu bleiben trotz der Jahrhunderte, welche gekommen und gegangen sind. Wird sich die einzelne Kraft großer, dynamischer Gedanken in der Menschheit als stärker erweisen? Soll für sie eine neue Epoche und für dieses Volk damit eine neue Form seiner Aufgabe anheben? Auch diese Frage greift noch weiter. Denn in dem alten Gegensatze von Ost und West treten nun mehr noch als je zwei Philosophien einander gegenüber; Philosophien, die von der Wirkung ausgehen, welche die Maschine, dieses Werkzeug der Werkzeuge, auf das Zusammenleben der Menschen ausübt. Zu einem System der Gerechtigkeit und damit zu einem System menschlicher Gemeinschaft wollen sie von da aus hinführen. Auch die, welche im Osten ihre Festung errichtete, entstammte dem westlichen Denken. Sie hatte durch einen Sohn dieses Volkes, durch Karl Marx, die erste und bestim|mende Form und zugleich einen messianischen Zug erhalten. Starke, bezwingende Kräfte hatte sie dann aus dem russischen Boden gezogen, der seit alters eine tief menschli-
360
che Mystik, welche einem jeden die Erlösung bringen sollte, und zugleich, wie so manche Mystik, ein Verlangen, dem eigenen Kreis anzugehören, aufwachsen ließ. Eine eigentümliche Mischung von einem immer erneuten Eifer zu missionieren und einem zähen Verlangen, sich abzuschließen, konnte so sich ausbilden und sich ihre Dogmen bereiten. Sie sollten alles zusammenhalten, indem sie dem Glauben seine Grenzen setzten. Werden Dogmen siegen, oder wird ein Glaube siegen? Die Geschichte der Religionen und auch der Philosophien zeigt immer wieder einen Kampf des Glaubens und der Dogmen. Der Wille des Glaubens, Wege zu zeigen, die von ihm ausgehen, ringt mit dem dogmatischen Begehren, zu wissen, daß man angelangt sei und daß jeder fortan eines Festgestellten bewußt sein solle. In dieses umfassende Problem ist eine Frage eingefügt, die sich an dieses Volk noch im besonderen wendet. In dem weiten Bereiche, dessen Tore nun geschlossen sind, lebt ein Teil dieses Volkes, Menschen mit charakteristischen Zügen, Gemeinden mit wertvollen Traditionen. Was werden sie geben können, und was werden sie empfangen wollen, wenn Tage kommen, welche Getrenntes wieder vereinen dürfen? Die Geschichte dieses Volkes erzählt immer wieder von der Gegenseitigkeit, in der die verschiedenen und schließlich auch die getrennten Teile, gewollt oder ungewollt, einander beschenkten. Die Dynamik seiner Lebenskraft und Widerstandskraft gewinnt dadurch immer wieder neuen Antrieb. Wird es sich auch hier wieder bewähren? Frage um Frage tritt so vor den hin, der nach der Zukunft dieses Volkes, in welcher Richtung immer, ausschaut. Doch das ist hier Geschichte: eine Geschichte voll der Fragen auch. Sie kann es sein, und vielleicht muß sie es sein, weil sie sich auf die | eine, die große Gewißheit gründet. Diese bleibt die eine und ganze in allem Wandel des Geschehens. So kann keine Zeit, wie hell sie immer sei, die Gewißheit bedeuten, und keine Zeit, so dunkel sie ist, die Gewißheit erschüttern. Dafür darf Frage um Frage ihr nahen und immer neu es versucht werden, einen Zugang zur Antwort zu öffnen. Inmitten aller Hoffnungen und Enttäuschungen bleibt die Hoffnung. Auf mehr als drei Jahrtausende einer Geschichte und damit einer Arbeit an sich selber sieht dieses Volk zurück. Es hat niemals aufgehört, diese seine Geschichte zu besitzen; denn es ist immer wieder ihrer bewußt geworden. Es hat nie aufgehört, sie zu gestalten; denn es hat die Aufgabe, die durch sie gestellt war, immer neu erfaßt. Der Weg, der durch die Jahrtausende hindurchführt, wird so dem, der
361
309
310
zurückschaut, deutlich erkennbar, er sieht, wie die Enkel in den Ahnen und die Ahnen durch ihre Enkel leben. In allen diesen Jahrhunderten hat es die verschiedenen Tage gegeben, Tage voll der Stärke und Tage in der Schwäche. Tage, in welchen dieses Volk gleichsam in seinem Ich war, und Tage, in welchen es seinem Eigentümlichen fernblieb. Aber das ist das Große dieser Geschichte, daß das Volk immer wieder zu sich selbst zurückgekehrt ist, es hat sich immer neu auf den Boden seiner Existenz gestellt. Es ist zu sich zurückgekehrt, das will sagen: Es ist zur Ehrfurcht vor sich selber zurückgelangt. Ohne die Ehrfurcht vor sich selber könnte dieses Volk nicht leben. Es hat sich auf den Boden seiner Existenz gestellt, das will sagen: Es hat sich dem Gottesgebote, in dem die Verheißung ist, wieder zugewandt. Dieses Volk kann nur ein Volk mit Bezug auf Gott sein. Oder um dieses beides, das doch nun eines ist, noch anders auszudrücken: Dieses Volk kann sein Ich finden nur, wenn es Gott sucht – wenn es Gott | fern ist, wird es zugleich seinem Ich entfremdet. Nur dann kann es die Kraft in seinem Leben haben, wenn »es in den Bund mit Gott eintritt« [Deut. 29,11] – die Nähe zu Gott ist hier Grund und Bedingung der Existenz. Um mit dem Worte des Propheten zu sprechen: Dieses Volk »wird durch seinen Glauben leben« [Hab. 2,4]. Von dem »Gerechten«, dem »Zaddik«, sagt das Prophetenwort solches aus. Es ist schwer, das Wort »Zaddik« so zu übersetzen, daß sein ganzer Sinn wiedergegeben ist. Es meint den, der, wo immer er steht, es weiß, daß er vor Gott steht, der darum die Offenbarung Gottes, das Gebot und die Hoffnung, ernst nimmt, gewissermaßen Gott ernst nimmt und dadurch lernt, sich selber in Wahrheit ernst zu nehmen. Die Gerechtigkeit ist der notwendige Beginn hierzu, und insofern hat die Übersetzung »der Gerechte« einen guten Sinn. Denn die Gerechtigkeit verlangt die ehrliche, die unbeugsame Selbstprüfung, und sie wird darum nie für sich allein einherschreiten wollen. Sie kann ohne die Güte nie ihren Weg finden. Diese Gerechtigkeit ist die erste und oft die entscheidende Probe auf den rechten Standort, auf den Glauben. Ist sie bestanden, dann werden andere auch bestanden werden können. Nur der »Gerechte« wird fest bleiben, »durch seinen Glauben leben«. Es ist eine alte Zuversicht, daß es in diesem Volke niemals ganz an diesen »Gerechten«, diesen »Zaddikim«, fehlen werde. Sehr wenige werden sie vielleicht nur sein oder sogar »sechsunddreißig«, wie eine alte Legende zu dichten wagte; durch sie werde dem Volk seine Lebenskraft erhalten bleiben. Jedes Geschlecht, so hoffte man, werde sie haben, jedes seine eigenen, von ihm und um seinetwillen
362
geboren, die Tröster einer jeden Zeit. Sie müssen immer neu erstehen, für sie gibt es weder einen Erben noch einen Nachfolger. Sie sind oft kaum gekannt, kaum betrachtet, kaum gesehen, irgendwo im Stillen | und im Engen wohnen sie, diese »Zaddikim«; aber um ihr Leben, beachtet oder nicht beachtet von den vielen, breitet sich der Glanz. Sie sind, jeder in seiner eigenen Art, die wenigen oder die »sechsunddreißig« Gerechten, die in jeder Generation die Bürgen des Lebens sind. Mag auch in diesem und jenem das Wissen gering geblieben sein, in jedem von ihnen ist das große Verstehen, und er »lebt durch seinen Glauben«, durch seine »emunah«. Schöpferisch lebt er durch sie, durch diese »emunah«, deren Wert wiederum nicht ganz übersetzbar ist; denn aus der Wurzel des einen Wortes ist Dreifaches aufgestiegen, um kraft der Wurzel eines zu bleiben: die Wahrheit, die Treue, der Glaube. Durch sie lebt der »Zaddik«, der Gerechte. Und wer lebt, gibt Leben. Durch diese Menschen sind in diesem Volke so die Jahrhunderte innerlich zusammengefügt. Als ein Revolutionäres, die Seele und damit das Geistige sowohl wie das Soziale auch ergreifend, war dieser Glaube in die Welt getreten. Ein ganz anderer Standort, der immer festgehalten werden sollte, war gefordert, ein ganz anderer Grundsatz sollte nun immer und überall gelten, ein ganz anderer Maßstab war an alles anzulegen. Es war eine Revolution, die vorerst und vor allem dieses Volk ergreifen und in ihm wirken sollte, um es zu einem besonderen Volk, zu diesem Volk eben, zu machen. Nur wenn ihre Kraft immer wieder erstand, konnte dieses Volk inmitten der Welt und im Wandel der Zeiten bestehen. Die immer neue Wiedergeburt, diese Folge der Epochen, ist darum Bedingung der Existenz und Voraussetzung der Zukunft. Bewegung war so immer gefordert, und sie brachte bisweilen im Beginn eine Erschütterung mit sich. Dieses Volk sollte gleichsam immer »unterwegs« sein. Nur ein Volk mit einem Glauben voller Treue, der den unerschütterlichen Standort zeigte, von welchem der Weg ausging, den jede Generation neu zu wählen und neu zu be|schreiten hatte und der immer neue Aufgaben stellte und neue Ausblicke bot, konnte dem gewachsen sein. Dieses Volk muß den Mut zu immer neuer Aufgabe, diesen Mut, »unterwegs« zu sein, haben. Wenn es die große Treue bewahrt, in der etwas von der letzten Wahrheit sich zu erschließen beginnt, diese »emunah«, wird es ihn besitzen. Diese Treue hält hier alle und alles zusammen, die Menschen und die Zeiten, das Unterschiedene und das Getrennte, ihre Kraft ist stärker als die von Grenzen und Tagen. Die Geschichte dieses Volkes ist eine Geschichte auch von oft so tief sondernden Grenzen und oft so tief gesonderten Tagen, von Ge-
363
311
312
313
bieten und Bereichen, die sich ihre eigene Art bereiteten – Geschichtssphären innerhalb der einen Geschichte. Bisweilen war eine Spannung zwischen ihnen, aber sie sind nie auseinandergefallen, und zuletzt erzeugte die Spannung nur neue Kraft, bald Spannkraft, bald schöpferische Kraft. Die Einheit blieb immer. Sie wird bleiben, und Segen wird von dem Ganzen zu den Teilen und von den Teilen zu dem Ganzen strömen, solange hier Menschen sind und immer wieder erstehen, die »in ihrem Glauben leben«, so daß der Glaube durch sie lebt, sie durch ihn und er durch sie. In dem kurzen Satze, der von ihm spricht, ist alles zusammengefaßt, was viele Sätze der Bibel aussprechen, so hatte einer der alten Lehrer, Rabbi Simlai, gesagt [b. Makk. 23b.24a], der nach dem Osten hinhörte und nach dem Westen hinhorchte. In ihm bekundet sich alles, was als Gewißheit und Erlebnis von Anfang an in diesem Volk eine Stätte auf Erden hat: die Gewißheit von dem Bunde Gottes und der menschlichen Freiheit, von der Offenbarung und der Versöhnung, von dem Boden und der Gemeinschaft, von der Bereitschaft und der Entsagung, der Wille zur Torah und zur Botschaft, zum Gegenwärtigen und zum Kommenden, zur Arbeit und zum Sabbat, die Gabe des Betens und des Erwartens. Es erscheint als Vielfältiges und ist doch, kraft der | Wurzel, nur eines und dasselbe. In diesem allen, diesem einen und durch dieses eine, dieses alles, hat dieses Volk gelebt, Geschlecht um Geschlecht und für Geschlechter – von Mizrajim und »bis hierher« [Num. 14,19]. So und so allein wird es weiterleben. »Von Mizrajim und bis hierher!« Bis in diese Zeit nun, in der wiederum die Menschheit sich wandelt und in der Wandlung ihre Teile sich sondern wollen und dieses Volk, an dem allen teilnehmend oder darin hineingezogen, doch in seinem Eigenen bleiben soll, um von da aus neue Aufgaben zu erkennen und zu erfüllen. Bis in diese Zeit, da wiederum Mittelpunkte sich verschoben oder verrückt wurden und dieses Volk dies alles an sich erfuhr, in einem Erbeben oft, und doch fest stehen sollte, indem es an seinem bleibenden Mittelpunkte, dem einen, immer festhält. Bis in diese Zeit, da die neue Welt im Westen, die eine große geworden war, ein Land der vielen dieses Volkes wurde und in der alten Welt im Osten, wo Völker ringsumher erwachten, auf dem Boden des verheißenen Landes für dieses Volk wie im Wunder neues Leben erwachsen war. Bis in diese Zeit, da auf der einen Seite sich in Völkern und Religionen ein – fast ungeahntes – Verständnis für dieses Volk und seine Religion regt und auf der anderen Seite sich – so bisher unbekannte – Gegnerschaft erhebt und dieses Volk für das eine und das andere bereit sein soll, mit dem Willen dafür zu arbeiten, daß »Gerechtigkeit und Frieden ein-
364
ander nahe seien« [Ps. 85,11]. Bis hierher, da die Menschheit sich sucht und noch nicht finden kann, und dieses Volk daran festhalten soll, daß es in der Menschheit und um der Menschheit willen seine Existenz hat. »Von Mizrajim und bis hierher.« So hatte einst Moses für sein Volk, das irregegangen war, zu Gott gefleht: »Verzeih doch die Schuld dieses Volkes nach der Größe Deiner Liebe und wie Du diesem Volke vergeben hast von Mizjarim und bis hierher!« [Num. 24,19]. Und wenn dieses Volk für sich selbst um Vergebung betet, am Versöhnungstage Jahr | um Jahr, nimmt es diese Worte an. Und wer an die Zukunft dieses Volkes denkt, dem drängen sie sich auf die Lippen und ans Herz. Was wird ein späteres Geschlecht sehen, wenn es umherblickt, und was wird es, wenn es in sich hineinblickt, erkennen dürfen oder erkennen müssen? Es ist eine Frage, welche das Geschlecht, das heute lebt, an sich richten soll, so wie sie jedem früheren zu seiner Zeit sich gestellt hatte, mochte es sie hören oder nicht. Jede Generation wählt, indem sie ihren Weg, diese ihre Gegenwart, wählt, zugleich zu einem wesentlichen Teile die Zukunft, diesen Weg der Kinder. Die Kinder werden sich vielleicht abwenden, aber auch darin werden sie von der Richtung bestimmt sein, in der ihre Eltern gingen oder zu gehen vermeinten. Die Verantwortung für die, die nach uns kommen, ist in die Verantwortlichkeit gegen uns selbst mit eingeschlossen. Der Weg der Kinder, ob er sich zukehrt oder abkehrt, kommt von dem unseren her. Wege binden und winden und wenden sich. Aber immer wieder wird doch ein Kind geboren, oder, was dasselbe meint, eine Individualität, eine Verheißung der Gottesebenbildlichkeit, dieses große Wunder in der Menschheit, wird wiedergeboren. Mit der Geburt eines Menschen wird das ganze Problem der Menschheit wieder neu hingestellt. Die große Möglichkeit, diese Botschaft an die Menschheit, diese Verkündigung von der Zuversicht, die nicht enden soll, wird in dem Kinde neu in das Leben geführt. In der Reihe der Generation, in der Geschichte kehrt sie immer wieder in die Menschheit ein. Es ist ein Wahn von Menschen und Völkern, wenn sie vermeinen, sie könnten Geschichte, diesen Gang der Generationen, in eine Bestimmtheit, die sie sich wünschen, hineinfügen. Sie wollen es damit sich leicht machen; Verantwortung, in der | sich Freiheit an Freiheit wendet, ist so viel schwerer. Doch ihr Streben, und ihr Mühen auch, ist vergebens. Erbe läßt sich nicht herstellen, geschweige denn erzwingen, nur eine Freiheit, die aufzubauen vermag, kann es wahrhaft übernehmen. Das Werk der Klugen und das der Gewaltigen, die
365
314
315
316
ein dauerndes Erbe errichtet zu haben glauben, bricht zusammen, so viel eher meist als das der Einfältigen und das der Geringen. Sie meinten Zukunft zu sichern, und eines Tages, eines meist so nahen, stehen sie oder die, die nach ihnen sind, vor Trümmern. Und die Frage erhebt sich, und viele Fragen treffen in ihr zusammen: Gibt es ein Erbe, etwas, was von Geschlecht zu Geschlecht bleiben kann, zwar nicht in seinen Formen – Wesen der Form ist, daß sie sich wandelt –, aber in seiner Kraft, in seinem Segen bleibt, um jedes Verhängnis zu überdauern? Für dieses Volk ist die Frage der Existenz darin enthalten. In allen den Untergängen, in denen die Geschichte der Menschheit immer wieder sich zu vernichten, gewissermaßen sich zu widerlegen scheint, hat eines sicherlich eine Dauer besessen und Erneuerungen erlebt. Das, was der Geist erforscht und gebildet hat, wanderte aus Trümmern hervor und über Trümmer hinweg von Land zu Land. Überall konnte das alles Menschen anreden, um mit ihnen Zwiesprache zu halten. Die Geschichte dieser Begegnungen mit Werken des Geistes und damit, im Besten und Letzten, mit dem gestaltenden Geiste der Griechen, dem »nus poietikos«, von dem die griechische Philosophie sprach, ist ein wesentliches Stück der wirklichen Geschichte der Menschheit. Was wäre die Menschheit, ja gäbe es eine Menschheit ohne sie? Was das Werkzeug, das der Mensch sich bereitete und durch das er einst, am Anfang der Geschichte, die Herrschaft des Tieres auf Erden beendet hatte, so vielfältig für sich aufbaute, hat das Werkzeug so vielfältig dann wieder zerstört. Was der Geist geformt | hat, ist unzerstörbar; es besteht, auch wenn es abgewiesen wird. In der Bibel hat das Wort »Geist« den Klang des Heiligen. Von Gott kommt der Geist, und in ihm auch kann der Mensch sich heiligen. Aber eines führt höher noch hinauf und zu Umfassenderem hin, als die Begegnung mit dem Geist es vermag. Es ist die »Nähe zu Gott«, die Begegnung mit Gott. Sie kann dem Menschen gewährt sein. Sie ist das Größte in menschlicher Existenz. In ihr »erwirbt ein Mensch seine Welt, seine Ewigkeit in einer Stunde«: so ist es der kühne Satz des alten Lehrers. So hat in einer alles umfassenden Andacht der Psalmist gebetet: »Und ich, Nähe Gottes ist mir ein Gut« (Ps. 73,28). »Und Ich«, mit diesem Worte, mit dem der Prophet Gottes Verheißung emphatisch anheben läßt [Jes. 59,21], beginnt dieses Wort der Zuversicht. Und wie um den Grund zu legen, hat dieser Betende vorher es gesagt: »Denn wer ist mir sonst im Himmel, und wenn ich bei Dir bin, habe ich keine Begehr an der Erde.« [Ps. 73,25] Das ist es, was diesem Volke gegeben sein soll und darum gegeben sein kann. Das ist sein Erbe,
366
durch das es bestehen konnte und durch das allein es bestehen wird, auf welchem Boden immer es seine Stätte haben mag. Denn das ist seine wirkliche Geschichte: eine Geschichte von Begegnungen mit Gott. Um seiner selbst willen und um der Menschheit willen hat es diese Geschichte, sie tragend und von ihr getragen. Jedes Volk in der Menschheit ist eine Frage, welche Gott durch ein Volk an die Menschheit richtet, und jedes Volk soll von seinem Platz aus, mit seinen Gaben und Möglichkeiten, darauf antworten, um seiner selbst willen und um der Menschheit willen. Sie können nicht außerhalb von einander sein, und sie dürfen nicht ohne einander sein; das Volk, welches immer es sei, nicht ohne die Menschheit und nicht außerhalb der Menschheit und die Menschheit nicht ohne alle die Völker noch außerhalb eines von ihnen. Gott befragt die Menschheit durch die | Völker; denn nur durch diese, die gewordenen und die werdenden, hat sie ihr Leben. Jedes Volk ist so dafür verantwortlich, daß es eine Menschheit gibt. Um einer Verantwortlichkeit willen, die es vor Gott hat, durch diese Frage, welche Gott ihm gestellt hat und immer wieder stellt, existiert ein Volk, so wie der einzelne wahrhaft lebt, nur wenn er ihrer bewußt ist und in ihr sein Leben findet. Mensch und Volk selbst sind so eine Frage von Gott, oder wie das wundersame Gleichnis des alten Lehrers zu sagen wagte: Sie sind ein Verzicht, den Gott macht. Hinter allen den besonderen Fragen, die ein Mensch oder ein Volk hegen mag, steht diese eine Frage, die das Leben selbst ist, diese Frage von Gott. Und »dieses Volk« nun, dieses Volk Israel, dieses jüdische Volk in seiner Existenz? Durch ein Jahrtausend hindurch war es geworden und gewachsen und hatte die Frage, die in ihm ist, sich gestaltet. In diesem Volk ist mehr an Frage noch als in anderen Völkern. Immer neu erstand sie dann in Wiedergeburten, in Epochen, nun mehr als zwei Jahrtausende hindurch. Durch seine Propheten, seine Dichter, seine Lehrer, seine Gerechten hat es lernen können, auf die Frage hinzuhorchen, welche Gott in ihm sprach. Sie ist, so haben diese Männer, jeder in seiner Weise, es erlebt, die tiefste der Fragen, die in der Menschheit leben und durch die erst eine Menschheit entsteht. Hoffnung in diesem Volk ist darum die größte der Hoffnungen, ist die große Erwartung, die, zu welcher der Weg aller Wege hinführt. Schuld, welche dieses Volk begeht, ist darum tiefere Schuld noch als eine Schuld sonst. Und Schuld, die an diesem Volke begangen wird, bedeutet mehr noch an Schuld als andere Schuld. Mehr noch an »Versöhnung, die bei Gott ist«, bedarf die eine als die andere. Denn dieses Volk ist, wie der Prophet es benannte, »ein Bund für Völker« [Jes. 42,6; 49,8], ein Gesetz für Völker.
367
317
318
319
So sprechen die Gebete, in denen dieses Volk, wenn sein | Jahr beginnt, sich neu zu Gott erheben will, am »Tage des Gerichtes« und am »Tage der Versöhnungen«. Es weiß, daß es vor Gott im Gerichte steht: Wieviel der Sünde ist doch an diesem Volke, so tönt es durch die Gebete hindurch. Nur weil in Gott die Versöhnung ist, kann es vor Gott hintreten. Und das Gebet fährt dann fort: »Und über die Nationen auch wird Gericht gehalten.« Und es ist, als klänge hier durch alle die Worte die Frage hindurch, Frage an die Nationen, an jede von ihnen: »Was hast du an meinem Volke, diesem jüdischen Volke getan?« Doch auch in das alles hinein dringt und klingt und tönt jener Satz hinein, den an diesen Tagen des Beginns der Betende hier dreimal und viermal spricht, der Satz von der Ehrfurcht, in der sie alle, die Menschen und die Völker, sich zusammenfinden können, dieser Ehrfurcht, die der Anfang und das Ziel der Versöhnungen ist. »Und so sei es: Gib die Ehrfurcht vor Dir, Du, der Du bist, unser Gott, auf alle Deine Gebilde, und die Ehrerbietung vor Dir auf alles, was Du geschaffen hast, und fürchten werden Dich alle die Gebilde, und beugen werden sich vor Dir alle die Geschöpfe, und aus ihnen wird werden ein Bund, Deinen Willen zu tun mit völligem Herzen.« So spricht hier die große Erwartung, die Hoffnung auf die Versöhnung, in der alle Versöhnungen zusammenkommen. Es war die große Aufgabe in den dunklen Tagen und die größere noch in hellen Stunden, dieser Erwartung die Treue zu halten. Der Mensch erwartet gleichsam Gott, und Gott erwartet den Menschen. Die Verheißung spricht hier, und die Forderung spricht hier, beides in einem: die Gnade des Gebotes und das Gebot der Gnade. Beides ist eines in dem einen Gotte. Um den einen Gott ist die Verborgenheit; Er offenbart sich nicht selbst, aber Er offenbart das Gebot und die Gnade, und Er, der Ewige, hat damit den irdischen Menschen eine Freiheit des Willens | gegeben und ein Ziel des Willens gezeigt. Aber das Letzte bleibt dem Menschen verhüllt. So hatte der Prophet das Wort Gottes verkündet: »Denn nicht sind Meine Gedanken eure Gedanken, und nicht sind eure Wege Meine Wege, ist der Spruch dessen, der ist« (Jes. 55,8). Die große Ehrfurcht hat sich daran immer erhoben, und sie hat daran festgehalten, sooft auch Menschen vermeinten, daß Gottes Gedanken ihre Gedanken seien, und Menschen sich dessen vermaßen, daß ihre Wege Gottes Wege wären. Um Gott ist das Geheimnis. Er ist nicht der offenbarte Gott, aber Er ist der offenbarende Gott. Und wo immer in einem Menschen die große Ehrfurcht und, aus ihr erwachsend, die große Bereitschaft lebt, wann immer in einem Menschen diese große Empfänglichkeit für Gott ist, dann ist er und dort ist er in einer Nähe zu Gott.
368
In diesem Volke, in allen seinen Zeiten, sind diese Menschen gewesen. Das ist ein »heiliger Boden«. Davon, und davon allein, lebt dieses Volk. Durch jene zwei Sätze, die Moses zu ihm gesprochen hatte, hat dieses Volk, als es seines Gottes und seiner selbst gewiß geworden war, sich zu Gott und zu sich selber bekannt (Deut. 6,4.5): »Höre Israel, Er, der ist, ist unser Gott, Er, der ist, ist Einer« – das ist der Satz der großen Ehrfurcht, in der die Gewißheit des Glaubens wohnt. »Und liebe Ihn, der ist, Deinen Gott, mit Deinem ganzen Herzen und mit Deiner ganzen Seele und mit Deinem ganzen Können« – das ist der Satz der großen Bereitschaft, in der sich der Mensch für Gott entscheidet. »Gott ist unser Gott« – das ist die Verheißung, die Gnade, in der das Gebot seinen Grund hat. »Liebe Ihn, Deinen Gott« – das ist das Gebot, aus dem neue Gnade wieder zuströmt. Wem sie zur Wahrheit werden, der ist Gott begegnet. Zwei Sätze sind es, aber sie sind nicht nur Sätze, sie sind die Geschichte dieses Volkes. Denn das ist doch diese Geschichte: die Geschichte von Begegnungen mit Gott. Wer sehen will, sieht es. | In einer Deutlichkeit, um die das Geheimnis ist, leben wir – wir Menschen auf dieser Erde. Um ihre Sonne kreist diese unsere Erde, und eines von den vielen Myriaden von Gestirnen ist sie. Ob auf einem von ihnen Wesen sind wie wir, Wesen, die von einer Mutter und einem Vater herkommen und in ihren Kindern fortleben wollen, Wesen, die in ihren Tagen zwischen Geburt und Tod suchen und schwanken und irren, zweifeln und sich fürchten und hoffen, sündigen und doch versöhnt werden können? Doch wie immer es sei, wir sind diese Menschen auf dieser Erde. Sie ist unsere Stätte, und sie zieht den Kreis um uns. Auf ihr werden wir geboren, Geschlecht um Geschlecht, und auf ihr sterben wir, Grab an Grab. Denn sie ist in den vielen Jahren, und wir sind in den wenigen. Sie war vor uns und wird nach uns sein. Sie trägt uns und greift zugleich nach uns. Alles, was auf ihr ist, hält sie fest in der Gewalt ihrer Anziehungskraft. Aber das Wunder ist auf ihr, ist in Menschen, die auf ihr leben. Das Wunder führt hinaus und empor und ist stärker als das Irdische. Es ist das Wunder des Geistes, des geschaffenen Menschen, welcher schöpferisch wird, schaffend im Geschaffenen. Es ist ein Wunder des denkenden Menschen. Der Geist von Menschen, die auf dieser Erde, diesem Gestirne, wohnen, zieht zu dem All hin und nimmt dort seine Standorte. Er denkt dort nach. Den Raum und die Zeit, von denen alle die Gestirne umfangen sind, macht er zu seinem Werkzeuge. Vergleichend und messend, forschend und rechnend, über das nachdenkend, was von der höheren Kraft ge-
369
320
321
322
dacht ist, stellt er Bahn und Dauer fest. Er erkennt die Regel, diese wiederkehrende, dieses Abbild des Bleibenden, des Gesetzes. Eine große Bestimmtheit, eine große Deutlichkeit tritt vor ihn hin, und von Bestimmtheit zu Bestimmtheit, von Deutlich|keit zu Deutlichkeit schreitet er fort. Er steht im All und wandelt im All. Es ist so das Wunder des denkenden Geistes. Doch das größere Wunder tut sich ihm hier auf. Denn hinter jeder Bestimmtheit steht eine Verborgenheit, hinter jeder neuen Deutlichkeit offenbart sich neues Geheimnis. Von einem Unergründlichen, dem Wunder aller Wunder, sind sie alle umfaßt: alle die Deutlichkeiten, alle die Verborgenheiten und der suchende Geist selbst, der zu ihnen hinauszog. Hinter dem allen und vor ihm, über dem allen und unter ihm ist das eine große Geheimnis, das im Jenseits von Raum und Zeit ist, das durch sich selber ist und durch das alles ist, was da ist. Keines Menschen Geist hat es so ergründet und wird es ergründen können. Aber die Ehrfurcht, diese Ehrfurcht, ohne die auch die Liebe nicht lebt und die Treue nicht besteht, darf ihm nahen. Und sie vernimmt das Wort aus dem Geheimnis hervor: »Ich bin, der Ich bin. Ich bin Dein Gott.« [Ex. 20,2] Und das andere große Wunder dann, das in dem Menschen auf dieser Erde ist. Es ist das Wunder, in welchem der künstlerische Geist erwachte. Er sieht nicht hinaus, aber er nimmt Abstand, er tritt zurück, um ein Ganzes zu sehen, ein Ganzes zu hören, ein Ganzes zu erfassen, dieses Ganze, in dem das Einzelne und wieder Einzelne den Sinn und so den Platz und das Recht erhält. Oberhalb der Erde, oberhalb ihres immer Wechselnden steht auch er. In dem höheren Bereiche, dem von Ideen, nimmt er den Standort. Sehend oder hörend oder überdenkend, will er eine Einheit, eine Ganzheit, eine Harmonie dort erfassen, wo er Linien neben Linien erblickt, Klänge neben Klängen vernimmt, Gedanken neben Gedanken erfährt. Indem er das, was so vor ihm ist, bildet, formt, gestaltet, will er eine Einheit, eine Ganzheit, eine Harmonie aufzeigen. Er, der Mensch dieser Erde, hat sich über sie erhoben. Er, der geschaffene Mensch, beginnt, wie in einem Wunder, schöpferisch zu werden. Deutlichkeiten, Bestimmt|heiten nahten ihm, und durch ihn treten sie vor die Tage hin, die nach ihm kommen. Aber auch hier stieg doch wieder hinter dem Bestimmten neu das Verborgene auf, hinter aller Deutlichkeit stand das Geheimnis. Etwas, was hinter den Vorstellungen, hinter den Erscheinungen ist, eine Einheit, eine Ganzheit, eine Harmonie, hatte sich aufgetan, aber hinter ihr, im Geheimen, wurde weitere Ganzheit, umfassende Einheit, tiefere Harmonie noch geahnt. Nur ein Abglanz eines unendli-
370
chen Geheimnisses war das gewesen, was sich eröffnet hatte. Die Ehrfurcht, ohne die das wahrhaft Künstlerische nicht sein kann, konnte es erahnen. Zu ihr hin erklang auch hier aus dem Unergründlichen hervor das Wort: »Ich bin, der Ich bin, Dein Gott.« Und das weitere Wunder dann, das erwächst und das die beiden anderen mit größerer Kraft noch begaben kann; das Wunder des Sittlichen im Menschen. Es ist der große Widerspruch zu dem, was alles Dasein auf dieser Erde zu sagen scheint. Alles, was auf ihr ist, spricht von einem Kampf aller gegen alle, in dem das eine Wesen, um nicht bezwungen zu werden, das andere zu bezwingen sucht. Dasein auf Erden scheint Dasein der Selbstsucht zu sein, sie tritt als das »Natürliche« auf. Der andere ist der Unterworfene oder der Ausgeschlossene, oder er ist der Feind. Und nun erfüllt sich das große Wunder im Geiste, Menschen finden in der Selbstlosigkeit ihr wahres Selbst auf, so daß sie sich zu verstehen beginnen. Sie entdecken am Du ihr Ich, und der andere wird ihnen ihr anderer, zu ihnen hingestellt und ihnen anvertraut. Eine Bestimmtheit, eine Deutlichkeit ist in ihr Wesen, in ihr Leben eingetreten. Nicht die Triebe um die Begierden der Stunde lenken oder bedrängen den Menschen nun, sondern ein Stetiges, ein Bleibendes, eine Kraft von der Kraft des Gesetzes ist nun, wie ein Wunder, in ihm erstanden, um ihn innerlich | stark zu machen, um ihn zu führen, um sein Leben zu ordnen. Ein Schöpferisches ist nun in ihm, er kann sein Ich formen, sein Leben gestalten. Er, der geschaffene Mensch, kann ein Schaffender werden. Ein innerlich Freier kann er sein, frei kraft des Gebotes. Er darf mehr sein als die Erde, auf der er geboren ward und stirbt. Das große Gebot, das nie aufhört und nie sich ändert, dieses Wunder gibt es ihm so. Und wenn er so sein Leben formt, beginnt er Gemeinschaft zu schaffen. Er ist nicht nur in sie hineingeboren wie in ein Geschick, sondern ist dazu jetzt berufen, sie zu gestalten. Als ein Freier steht er in ihr. Den Begegnungen des Ich und des Du, des Wir und des Ihr wird die Möglichkeit des Guten bereitet. Er, der geschaffene Mensch, schafft Freiheit und Frieden. Menschen kehren ein und ziehen fort, Geschlechter kommen und gehen, aber das Gebot bleibt, und immer neu und überall führt es Menschen zueinander, zu einem Frieden hin, zu dem Frieden der Gemeinschaft. Was verworren war, wird bestimmt; an die Stelle dessen, was verwirrt wurde, tritt eine Deutlichkeit. Der Mensch dieser Erde wirkt daran mit, daß etwas werde, was diese Erde selbst nicht gibt. So steht auch hier wieder hinter der Deutlichkeit das Geheimnis. Nur von ihm her kann die Bestimmtheit sich bestimmen. Was von
371
323
324
325
der Erde her, was als das »Natürliche« sich darbietet, widerspricht der schöpferischen Kraft im Menschen, widerspricht dem, daß er sich über die Erde erhebt, indem er etwas, was über ihr ist, das Gebot, in sich aufnimmt und so in sich Freiheit und um sich Gemeinschaft formt. Von der Erde her kommt keine Antwort, wenn er nach dem Grunde fragt. Sie zeigt ihm nur den Kampf und die Unterwerfung, Gewalt, welche aufsteigt und dann zusammenstürzt. Sie stellt vielleicht auch Nützlichkeiten vor ihn hin, um derentwillen es sich lohnt, Rechtes in Frieden und Gemeinschaft zu tun. Aber Nützlichkeiten haben nur ihre begrenzte Zeit, in der sie zusammen|fügen. Früher oder später treten sie auseinander und suchen einander zu verdrängen oder zu vernichten. Wo ist der Grund für das Gebot, welches bleibt, für die Freiheit und die Gemeinschaft, welche bleiben? Nur aus dem Geheimnis her offenbart er sich. Im Geheimnis hat das Gebot seine Wurzel, aus ihm holt es seine Kraft, um ihm, dem Geheimnis, seinen Sinn auf Erden zu geben. Um die Deutlichkeit ist das Verborgene, Verborgenes um Verborgenes, aber von daher kommt die Antwort, in der die Gewißheit ist und von der die Zuversicht auszieht. Die Ehrfurcht erfährt es und begegnet dieser anderen, dieser höheren Welt. Die Ferne wird zur Nähe, und der Mensch vernimmt das Wort: »Ich, der Ich bin, Ich bin dein Gott, du sollst ...!« Das »Reich Gottes«, das dem Menschen verheißen und aufgetragen ist, hat sich zu ihm hingewandt. Und dieses Volk nun inmitten von Völkern, die auf dieser Erde sind, mit ihnen auf einem Gestirn unter Gestirnen? Um jedes Volk, um jedes in seiner Art und auf seinem Platze, ist etwas Geheimes auch. Aber um dieses Volk ist mehr des Geheimnisses noch, als um die anderen ist – Geheimnis aus dem ewigen Geheimnisse hervor. Wenn die Dichter und die Propheten, die Lehrer und die Denker, die hier erstanden sind, über ihr Volk nachdachten, jeder in seiner Zeit und ihrer Form, sannen sie zugleich den unendlichen Welten nach, den Harmonien der Sphären, den »Himmeln, die die Glorie Gottes erzählen« [Ps. 19,2]. Und dann sprachen sie von ihrem Volke, von seinem Weg und seiner Hoffnung, von dem Gebote, dem es nachgehen soll, um dem Frieden zu begegnen. Nur einer, dessen Seele sich dem großen Geheimnis geöffnet hat, das in allem waltet, mag er drinnen stehen oder von draußen her blicken, wird begreifen können, um wessentwillen dieses Volk dasein soll und da ist. Jedes Volk kann zu einer Geschichte berufen sein, zu einem | Anteil an der Geschichte der Menschheit. Ein jedes ist eine Frage, welche Gott gestellt hat, und es soll auf sie die Antwort geben. Aber diesem Volk ist noch mehr an Geschichte aufgetragen als einem Volke
372
sonst. Die Frage von Gott spricht hier stärker noch. Manche Völker haben sich den Geboten von Götzen zugekehrt und haben darüber ihre Geschichte, die ihnen verheißen war, verloren. Zu diesem Volk ist von seinem Beginne her das Wort des einen Gottes hingedrungen. Wenn das Gebot Gottes im Menschen erwacht, hat zugleich die Freiheit ihr Auge aufgeschlagen, und wo Freiheit anhebt, dort fängt Geschichte an. Eine schwere Aufgabe ist diesem Volk in seiner Geschichte zuteil geworden. So leicht ist es, auf die Stimmen der Götzen zu hören, und so schwer, das Wort des einen Gottes in sich aufzunehmen. Es ist so leicht, ein Knecht zu bleiben, und so schwer, ein Freier zu werden. Aber dieses Volk kann nur in dem ganzen Ernste der Aufgabe bestehen. Nur in dieser Freiheit, die über aller Freiheit sonst ist, kann es existieren. Denn seine Geschichte begann, als es, aus dem Geheimnis hervor und zur Deutlichkeit hin, das Wort vernahm: »Ich, der Ich bin, Ich bin dein Gott, der Ich dich aus dem Lande Mizrajim, aus dem Hause der Knechte herausgeführt habe.« So ist es der Grund, und so ist es das Ziel, so die Offenbarung und so die Erwartung. Und zu der Seele des Menschen tritt dann die Zuversicht hin, daß das Beste, das in ihm ist, dort einkehren werde, wo die Nähe zu Gott, die Begegnung mit Gott, zur neuen Wahrheit werden wird. Nur die Ehrfurcht, in der allein der Glaube ist, kann solches vernehmen. In dem Weltall und in der Geschichte ist das Leben des Menschen. Daß sie von Einem zeugen, ein Ganzes und Gefügtes so offenbaren, ist in diesem Volk erfaßt worden. Ein Wort hat gewagt, für das, was alles zusammenhält, das eine Wort zu sein. Es ist das Wort »der Bund«, »das Bestehende«, der Bund | des einen Gottes. Es ist der Bund Gottes mit dem Weltall und darum mit der Erde in ihm, der Bund Gottes mit der Menschheit und darum mit diesem Volk in ihr, der Bund mit der Geschichte und darum mit jedem einzelnen in ihr, der Bund mit den Vätern und darum mit den Kindern, der Bund mit Tagen, welche waren, und darum mit Tagen, welche kommen sollen. »So wahr Mein Bund [mit Tag und Nacht] ist, [so wahr Ich die Satzungen von Himmel und Erde festgesetzt habe, so wahr werde Ich den Samen Jakobs und Davids, Meines Knechtes, nicht verwerfen ...« (Jes. 33,2526)], dieses Wort des Ewigen hatte daher der Prophet vernommen, als er in einer Zeit der Bedrängnisse und der Verhängnisse an sein Volk dachte, und die Gewißheit kehrte in ihn ein. Die Frage aller Fragen, die des Eintritts des Ewigen, des Unendlichen, des Einen in die Bereiche der vielen, des Irdischen, des Vergänglichen, diese Frage, in der das Suchen, das Denken, das Hoffen dieses Volkes seit je lebt, in der es einst wuchs und dann immer wiedergeboren wurde,
373
326
hatte hier das Wort, aus dem die Antwort sprach. An diesem Glauben hält dieses Volk fest, um zu leben. Durch das Leben der Menschheit hindurch ist dieses Volk gezogen, Jahrhunderte um Jahrhunderte, Jahrtausend um Jahrtausend. Zur Führung durch Gott ist ihm seine Geschichte geworden. Einst sangen Moses und die Kinder Israel seinen Gesang zu Ihm, der ist, und sie sprachen: »... Geführt hast Du in Deiner Liebe dieses Volk, das, das Du befreit hast« (Exodus 15,13). Und die Zuversicht, wenn sie zurückblickte und hinausschaute, eine jede in ihren Tagen, sagte dann: »Einst haben sie so zu Ihm, der ist, gesungen, und so werden sie einst singen zu Ihm, der ist.«