Hamanns Briefwechsel: Acta des Zehnten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg 2010 [1 ed.] 9783737004046, 9783847104049, 9783847004042


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Hamanns Briefwechsel: Acta des Zehnten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg 2010 [1 ed.]
 9783737004046, 9783847104049, 9783847004042

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Hamann-Studien

Band 1

Herausgegeben von Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke

Manfred Beetz / Johannes von Lüpke (Hg.)

Hamanns Briefwechsel Acta des Zehnten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2010

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2366-3561 ISBN 978-3-8471-0404-9 ISBN 978-3-8470-0404-2 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0404-6 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. T 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: g Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Briefstil. Hamanns Briefe in der Tradition der Rhetorik Manfred Beetz (Halle) Freundschaftliche Strafgerichte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Ulrich Gaier (Konstanz) Dialogische Vernunft. Hamanns Briefe und Briefpublikationen . . . . . .

41

Eric Achermann (Münster) Verbriefte Freiheiten. Zu Epistolarität und Essay bei Hamann

57

. . . . . .

Ildikj Pataky (Szentendre) »So verrathen Sie mich an keinen Fremden«. Der Brief als Gattung und Hamanns Briefwechsel auf dem Grenzgebiet zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in den 1760er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Anja Kalkbrenner (Münster) Selbstdarstellung und Verstellung in Hamanns Briefen

. . . . . . . . . . 115

Kai Hendrik Patri (Göttingen) Zur Metaphorik des Feuchten und Flüssigen in Hamanns Briefen

. . . . 129

II. Briefgespräche. Hamann und seine Briefpartner Thomas Brose (Berlin) »Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb«. Der frühe Hamann und die Genese seiner Beziehung zu D. Hume im erhellenden Spiegel seiner Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

6

Inhalt

Harald Steffes (Düsseldorf) Der Genius aus der Wolke. Hamanns Brief an Kant vom 27. 7. 1759 als Keimzelle der Sokratischen Denkwürdigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 173 Frank-Joachim Simon (Lüdinghausen) Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

201

Oswald Bayer (Hennef) »Geschmack an Zeichen«. Zweifel und Gewissheit im Briefgespräch zwischen Lavater und Hamann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Annelen Kranefuss (Köln) »Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren«. Zum Briefwechsel Hamanns mit Claudius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Tim Hagemann (Tübingen) »Zur Strafe meiner bösen Laune«. Hamann als Privatkritiker der zeitgenössischen Literatur für Johann George Scheffner . . . . . . . . . . 257 Christian Brouwer (Wuppertal) Sprachprinzip statt Pantheismus. Der Pantheismusstreit im Spiegel des Briefwechsels Hamanns mit Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

III. Der Briefautor. Lebenskontext und regionale Beziehungen Knut-Martin Stünkel (Bochum) Krankheit als Katapher. Briefliche Nosologie bei Johann Georg Hamann . 289 Hans Graubner (Göttingen) Hamanns briefliche Begleitung der Tätigkeit Lindners in Riga

. . . . . . 313

Joseph Kohnen (Luxembourg) Von der Hamann-Forschung zu wenig beachtet: Theodor Gottlieb von Hippel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Raivis Bicˇevskis (Riga) »Seelenmanumission«. Bemerkungen zur Hamann-Forschung in Riga . . 347 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Vorwort

In den Gesamtausgaben eines schriftstellerischen Werkes bilden Briefe zumeist eine eigene Abteilung, den veröffentlichten Werken zugeordnet, aber auch nachgeordnet. Auch das Gesamtwerk des Königsberger Schriftstellers Johann Georg Hamann (1730–1788) liegt in zwei Reihen vor: in der von Josef Nadler herausgegebenen sechsbändigen Ausgabe der Sämtlichen Werke und in der siebenbändigen Ausgabe des Briefwechsels, die von Walther Ziesemer begonnen und von Arthur Henkel weitergeführt und 1979 fertiggestellt worden ist. Diese Aufgliederung kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Übergänge zwischen den Gattungen bei Hamann fließend sind. Mehrere Werke sind von ihm als Briefe stilisiert und schon in ihrem Titel als solche ausgewiesen (Kleeblatt Hellenistischer Briefe, Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend, Hierophantische Briefe, Fliegender Brief); und in Briefen an einzelne Adressaten hat Hamann immer wieder Einsichten formuliert, die zur Veröffentlichung und Diskussion in einer größeren Öffentlichkeit herausfordern und beitragen. Die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit ist ebenso durchlässig wie die zwischen Briefen und Zeitungsartikeln, Essays, Rezensionen und anderen Kleinschriften. Als Schriftsteller sucht und reflektiert Hamann immer auch die dialogische Beziehung, als Briefschreiber nimmt er teil an den großen Diskursen, die das Zeitalter der Aufklärung prägen. In der Vielfalt ihrer Formen zeugen alle Texte Hamanns von der Einsicht: »Der Reichthum aller menschlichen Erkenntnis beruhet auf dem Wortwechsel« (N II, 129,5f). Dabei ist nicht nur an die wechselseitige Mitteilung von Wissen zu denken, vielmehr ist die Vernunft als Erkenntnisvermögen abhängig von der Sprache, durch die sie überhaupt erst gebildet wird. »Ohne Sprache hätten wir keine Vernunft« (N III, 231,10) – diese fundamentalanthropologische These, wie sie Hamann insbesondere auch in seiner Metakritik über den Purismum der Vernunft gegenüber Kant zur Geltung bringt, findet sich in seinem Briefwechsel explizit erläutert und bestätigt. Der Wortwechsel, wie er sich insbesondere auch als Briefwechsel vollzieht, ist der fruchtbare Ort oder in der von Hamann gern gebrauchten Metaphorik: die Gebärmutter, in der sich die individuelle Vernunft

8

Vorwort

des Autors bildet und ihre Ideen hervorbringt. Autorschaft setzt die Rezeptivität des Lesens voraus. Und umgekehrt gilt: die Lektüre fordert zur Antwort heraus. Die Rezipienten werden freigesetzt, ihr eigenes Wort zu finden und mitzuteilen. Briefe sind für Hamann das Medium einer solchen kommunikativen Freiheit, einer Freiheit, die sich dem Wort eines anderen verdankt und sich in der freimütigen Äußerung der je eigenen Individualität bewährt. Hamanns Briefwechsel erlaubt tiefe Einblicke in Bildungsprozesse, aus denen seine Autorschaft hervorgegangen ist, und damit zugleich in Konstellationen der Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Schon die Namen der Briefpartner zeigen die Weite und Vielgestaltigkeit des Beziehungsnetzes an. Hinzu kommen die Autoren, mit denen Hamann als Leser im Gespräch ist. Auf weite Strecken sind seine Briefe auch so etwas wie das Tagebuch eines Lesers, der ungeheure Mengen an Literatur zu verarbeiten sucht, darunter insbesondere auch die biblischen Schriften und theologischen Kommentare, aber auch die klassischen Texte der Antike und nicht zuletzt alles, was an Neuerscheinungen von Messe zu Messe auf den Markt kommt. Ebenso wie die Schriften bedürfen auch die Briefe Hamanns der Kommentierung, um die vielfältigen Zitate und Anspielungen auf Kontexte und Lebensumstände auszuweisen. Das Anliegen, Hamanns Briefwechsel zu erforschen und für die Literatur- und Geistesgeschichte der Aufklärung fruchtbar zu machen, begleitet das Internationale Hamann-Kolloquium seit seiner ersten Zusammenkunft 1976 in Lüneburg. Damals war der letzte Band der Briefausgabe noch nicht erschienen, die Kommentierung aber schon mit gewichtigen Beiträgen zum Briefwechsel zwischen Hamann und Jacobi in Angriff genommen. Das Vorhaben Arthur Henkels, die Briefausgabe mit einem Kommentarband abzuschließen, hat sich freilich nicht so schnell wie erhofft realisieren lassen. Bedenkt man, welche Schwierigkeiten zu bewältigen sind, muss man zuerst das schon Geleistete würdigen. Verwiesen sei auf die kommentierte Auswahlausgabe, die Henkel zum 200. Todestag Hamanns 1988 vorgelegt hat, und auf die Weiterführung der von Henkel begonnenen Kommentierung durch Sybille Hubach. Der Stand der Arbeit ist im Internet unter www.hamann-briefe.de einzusehen. Mit dem 10. Internationalen Hamann-Kolloquium, das vom 23.–25. September 2010 in Halle (Saale) getagt hat und dessen Beiträge hier vorgelegt werden, sollte die überaus anspruchsvolle, aber auch ertragreiche Kommentararbeit weiter gefördert werden. Dabei kann die Hamann-Forschung nicht zuletzt auch von den Kommentierungen profitieren, die im Zusammenhang anderer Briefeditionen entstanden sind. Genannt und empfohlen seien hier vor allem die Editionen der Briefe Herders und des Briefwechsels von Friedrich Heinrich Jacobi. Die hier gesammelt vorgelegten Beiträge des Kolloquiums haben exemplarischen Charakter. Sie wollen Grundlinien aufzeigen und durch mikrologische

Vorwort

9

Lektüren auf Charakteristisches aufmerksam machen. Gerade Studien, die auf das Kleine, ja auf das Minimum gerichtet sind, können immer wieder in große Zusammenhänge hineinführen, getreu dem von Hamann als Leitwort gern zitierten Satz des Persius: »Minimum est quod scire laboro.«. In Hamanns Briefen wird es besonders deutlich, dass und wie er »dem allgemeinen Geschwätze und schön aus der Ferne her, in die weite Welt hinein zielenden Zeigefinger […] nichts besseres als die genaueste Localität, Individualität und Personalität entgegen zu setzen« wusste (N III, 352,23–26). Als Briefschreiber gehört Hamann in die Briefkultur des 18. Jahrhunderts mit ihren Idealen der Freundschaft und der Empfindsamkeit. In diesen Kontext bringt er aber auch eine spezifische Note ein: Brieffreunde können und sollen sich nicht nur Freundliches sagen, sondern gerade als Freunde auch Kritik und Tadel wagen; Briefe werden so zu »freundschaftlichen Strafgerichten« (Manfred Beetz; vgl. zum Freundschaftsverständnis auch den Beitrag von Hans Graubner). Deren stilistische Eigenart ist Ausdruck der Individualität des Autors und dessen Überzeugung, dass die menschliche Vernunft grundsätzlich dialogisch verfasst ist (Ulrich Gaier). Dass in diesem Selbstverständnis und in der Praxis des dialogischen Vernunftgebrauchs die sokratische Tradition lebendig weiter wirkt, ist deutlich. Näherhin dürfte Hamanns Briefstil auch der rhetorischen Tradition der frühen Neuzeit, insbesondere Erasmus und Montaigne, verpflichtet sein; die literarischen Formen von Brief und Essay gehören hier eng zusammen (Eric Achermann). Weitere Studien zum Briefstil Hamanns sind dem Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit (Ildikj Pataky) gewidmet sowie dem für Hamanns Autorschaft insgesamt charakteristischen Rollenspiel zwischen Selbstdarstellung und Verstellung (Anja Kalkbrenner). Eine besondere spielerische Note erhält Hamanns Sprachstil auch durch den Gebrauch von Metaphern, die auf das Selbstverständnis des Autors sowie auf seine konkreten Lebensumstände hindeuten. Unter diesen Gesichtspunkten erweist sich insbesondere die »Metaphorik des Feuchten und Flüssigen« als aufschlussreich (Kai Hendrik Patri). Das weitgespannte Beziehungsnetz, in dem Hamann als Briefschreiber wirkt, kann hier nur in Auswahl präsentiert werden. Thomas Brose und Harald Steffes zeigen beispielhaft, welche Lektüren Hamanns Sokratischen Denkwürdigkeiten zugrunde liegen. Deutlich wird nicht nur, mit welchen philosophischen Konzeptionen sich Hamann explizit und implizit auseinandergesetzt hat (hier insbesondere D. Hume). Sein Brief an Kant vom 27. 7. 1759, der die »Keimzelle« der Sokratischen Denkwürdigkeiten bildet, eröffnet zugleich das Rollenspiel, in dem diese Schrift als Autorhandlung entworfen ist. Beteiligt hat sich Hamann immer wieder an zeitgenössischen Streitgesprächen: So hat die zwischen Winckelmann, Lessing und Herder über die Interpretation antiker Kunstwerke geführte Debatte auch in Hamanns Briefwechsel mit Herder ein Echo gefunden (Frank-

10

Vorwort

Joachim Simon). Im Briefwechsel mit Johann Caspar Lavater gelingt Hamann eine überaus dichte Formulierung seines Verständnisses des Christentums in der Konzentration auf die im »Zeichen« gegebene Gegenwart Gottes (Oswald Bayer). In solcher Wertschätzung des Sinnlichen, Irdischen und Alltäglichen als Medium der Gotteserfahrung konnte Hamann in der Persona des Wandsbecker Boten Matthias Claudius einen Geistesverwandten finden; das Briefgespräch mit ihm verbindet die Sphären der familiären Häuslichkeit und des literarischen Austausches (Annelen Kranefuss). Einem anderen Briefpartner, dem Schriftsteller Johann George Scheffner (Autor u. a. der Gedichte im Geschmack des Gr8court), verdanken wir eine Charakterisierung Hamanns, die nicht zuletzt auch ein Licht auf ihn als Briefschreiber wirft: »ein Mann von eisenfestem Charakter, vom menschenfreundlichsten Herzen, und seiner unbeschränkten Phantasie wegen ein wirklich wunderbares Gemisch von wahrer Kindlichkeit und den Heftigkeiten des leidenschaftlichsten Menschen […], ohne andre meistern oder belehren zu wollen« (zu Hamanns Briefen an Scheffner vgl. Tim Hagemann). Im Briefwechsel mit Friedrich Heinrich Jacobi nimmt Hamann am Pantheismus- bzw. Spinozismusstreit teil (vgl. dazu auch die Hinweise in dem Beitrag von Beetz) und findet hier die Gelegenheit, das »Sprachprinzip« zu verdeutlichen, von dem her er sich in seiner Autorschaft insgesamt leiten lässt (Christian Brouwer). »Ich schleudere meine Gedanken weg«, schreibt Hamann am 21. 3. 1759 in einem Brief an Johann Gotthelf Lindner und fügt erläuternd hinzu: »Von Gebirg zu Gebirg sollte der Odenschreiber gehen, aber nicht der Briefsteller« (ZH I, 304,29f). Der Briefschreiber Hamann führt seine Leser bewusst in die ›Niederungen‹, vom ›Hochgebirge‹ der großen metaphysischen Literatur und Dichtung hin zur Alltagswelt und ihren menschlichen, mitunter allzumenschlichen Sorgen und Nöten. Mit ihnen findet sich der Leser konfrontiert, wenn er den Motiven der Körpererfahrung nachgeht, die in Hamanns Briefen breiten Raum einnehmen und zu sehr grundsätzlichen Einsichten in psychosomatische Zusammenhänge Anlass geben (Knut-Martin Stünkel). Im Briefwechsel mit Johann Gotthelf Lindner sind es vor allem Fragen der Pädagogik und der Anthropologie des Kindes, die Hamann in seiner Tätigkeit als Hofmeister auf baltischen Gütern beschäftigt haben (Hans Graubner ; vgl. zur Pädagogik Hamanns auch den Beitrag von Eric Achermann). In kritischer Perspektive kommen hier auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in den baltischen Provinzen sowie insbesondere auch das Schulwesen in den Blick. Weitere regionalgeschichtlich ausgerichtete Studien betreffen das Verhältnis Hamanns zu dem Königsberger Freund und Lokalpolitiker Theodor Gottlieb von Hippel (Joseph Kohnen) sowie die in Riga lokalisierte Hamann-Forschung in Geschichte, Gegenwart und Zukunft (Raivis Bicˇevskis).

Vorwort

11

Zu den Hamann-Forschern der ersten Stunde zählte bis zuletzt der Luxemburger Kollege Joseph Kohnen. Wir haben die traurige Pflicht, den Lesern sein Ableben am 2. März 2015 mitzuteilen. So wie Hippel Hamann postum ein Denkmal setzte, übernahm diesen Freundschaftsdienst in mehreren Publikationen Joseph Kohnen gegenüber dem ungleichen Freundespaar. Die hier vorgelegten Beiträge des 10. Internationalen Hamann-Kolloquiums dokumentieren eine Etappe auf dem Weg der Hamann-Forschung. Wenn sie hier als erster Band einer neuen Reihe von Hamann-Studien erscheinen, soll damit auch ein Signal gesetzt werden, das zur Fortsetzung einlädt und ermutigt. In dieser Hinsicht sei noch einmal auf das Projekt der Kommentierung des gesamten Briefwechsels hingewiesen. Die Veröffentlichung wäre nicht möglich gewesen ohne einen großzügigen Druckkostenzuschuss, den die Staatsministerin für Kultur und Medien nach den Richtlinien des Bundesvertriebenengesetzes (§ 96) zur Förderung deutscher Kultur und Geschichte des östlichen Europas gewährt hat. Dafür sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Zu danken ist sodann auch denen, die das 10. Internationale Hamann-Kolloquium in Halle (Saale) finanziell und ideell ermöglicht und getragen haben: der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) an der Universität Halle-Wittenberg als Gastgeber. Manfred Beetz und Johannes von Lüpke

Siglen und Abkürzungen Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. Bd. 1–6. Wien 1949–1957. Londoner Schriften Johann Georg Hamann: Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer und Bernd Weißenborn. München 1993. ZH I–VII Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bd. 1–3 hrsg. v. Walther Ziesemer und Arthur Henkel, Wiesbaden 1955–1957. Bd. 4–7 hrsg. v. Arthur Henkel. Wiesbaden 1959, Frankfurt a.M. 1965–1979. HHE I–VII Johann Georg Hamanns Hauptschriften erklärt. Hrsg. v. Fritz Blanke u. a. Bd. 1: Die Hamann-Forschung (Karlfried Gründer : Geschichte der Deutungen). Gütersloh 1956. Bd. 2: Sokratische Denkwürdigkeiten. Erklärt von Fritz Blanke. Gütersloh 1959. Bd. 4: Über den Ursprung der Sprache. [Schriften zur Sprache] erklärt von Elfriede Büchsel. Gütersloh 1963. Bd. 5: Mysterienschriften. Erklärt von Evert Jansen N I–VI:

12

Vorwort

Schoonhoven und Martin Seils. Gütersloh 1962. Bd. 7: Golgatha und Scheblimini. Erklärt von Lothar Schreiner. Gütersloh 1956. Acta 1976

Johann Georg Hamann. Acta des Internationalen Hamann-Colloquiums in Lüneburg 1976. Mit einem Vorwort von Arthur Henkel hrsg v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 1979.

Acta 1980

Johann Georg Hamann. Acta des zweiten Internationalen HamannColloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1980. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Marburg 1983 (Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien. Bd. 2).

Acta 1982

Johann Georg Hamann und Frankreich. Acta des dritten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/ Lahn 1982. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Marburg 1987 (Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien. Bd. 3).

Acta 1985

Hamann – Kant – Herder. Acta des vierten Internationalen HamannKolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1985. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 1987 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 34).

Acta 1988

Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des fünften Internationalen Hamann-Kolloquiums in Münster i.W. 1988. Hrsg. v. Bernhard Gajek und Albert Meier. Frankfurt a.M. 1990 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 46).

Acta 1992

Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft. Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1992. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 1996 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 61).

Acta 1996

Johann Georg Hamann und England. Hamann und die englischsprachige Aufklärung. Acta des siebten Internationalen HamannKolloquiums zu Marburg/Lahn 1992. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 1999 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprachund Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 69).

Acta 2002

Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Acta des achten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2002. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 2005 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 88).

Acta 2006

Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft. Hg. v. Manfred Beetz und Andre Rudolph. Berlin / Boston 2012 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung. Bd. 45).

I. Briefstil. Hamanns Briefe in der Tradition der Rhetorik

Manfred Beetz (Halle)

Freundschaftliche Strafgerichte

In Hamanns ausgedehntem, weit über 1000 Nummern umfassendem Briefwechsel sieht kein geringerer als Josef Nadler dessen eigentliches »Hauptwerk nach Umfang, geistigem Wert und literarischer Vielseitigkeit«, was immer man sich unter letzteren vorzustellen hat.1 Fast alle Briefe des Königsberger Weisen sind Privatschreiben: Freundschafts- und Gelehrten-Briefe. Der Privatbrief, auf den sich die Aufmerksamkeit der Epistolographie im 18. Jahrhundert konzentrierte, wurde schon in der Antike den amtlichen Schreiben gegenüber gestellt: Für die litterae familiares gelten andere Gepflogenheiten als für die litterae negotiales.2 Die Entdeckung von Ciceros Briefen »ad familiares« in der Renaissance weckte das erneute Interesse am Privatbrief im Humanismus. Erasmus nennt neben der rhetorischen Gattungstrias als vierte Textsorte der Epistel das genus familiare, zu dem u. a. die Kontakt anbahnende epistola conciliatoria und der schon den Griechen bekannte Freundschaftsbrief (die epistol8 philik8) gehören.3 Freundschaftsbriefe erfüllen am genauesten die antike Briefdefinition als »amicorum colloquia absentium«.4 In kommunikationstheoretischer Sicht lag die Hauptaufgabe von Briefen darin, die Absenz mündlicher Kommunikationsrahmen zu kompensieren. Die als leichte Aufgabe erscheinende kolloquiale Bestimmung des Briefs war alles andere als einfach zu erfüllen: Der Lernprozess, im Medium der Schrift sich so zu äußern wie in der mündlichen Kommunikation, zog sich über Jahrhunderte hin, und änderte seine Maßstäbe wie ihren Ausdruck. Zahlreiche Merkmale der flüchtigen, gesprochenen Sprache verboten ihre Wiedergabe in der auf Dauer gestellten Schrift. Die mediale Differenzierung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation setzt sich auf einer weiteren 1 Josef Nadler : Die Hamannausgabe (1930). ND hg. von Bernhard Gajek. Bern/Frankfurt a.M. 1978, S. 29. 2 Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2000, S. 28f. 3 Desiderius Erasmus: DE CONSCRIBENDIS EPISTOLIS (1521/1522). In: ders.: Opera omnia I, 2. Amsterdam 1971, S. 311–313, 569. 4 Vellusig (wie Anm. 2), S. 27.

16

Manfred Beetz

Stufe fort, wenn die Briefpublikation vom Schreibenden einkalkuliert ist. Musterbriefe in Briefstellern des 18. Jahrhunderts geben unverkennbar ihre Bestimmung für den Druck zu erkennen. Was den Gesprächston angeht, so berufen sich nicht erst Christian Fürchtegott Gellert und Johann Christoph Stockhausen 1751 auf urbane Umgangsnormen, sondern schon Benjamin Neukirch 1709. Man solle, empfiehlt er, »also schreiben, wie kluge und galante Leute zu reden pflegen«.5 Ähnlich definiert Gellert den Brief als »freye Nachahmung des guten Gesprächs« und erläutert im weiteren, worin die Natürlichkeit, Lebendigkeit, das Zeitgemäße und Treffende in der Diktion eines kultivierten Briefs bestehen.6 Auch Hamanns Freund Johann Gotthelf Lindner, der 1755 als Rektor der Domschule in Riga eine Anweisung zur guten Schreibart publizierte, reflektiert die Übertragung oraler Kommunikationsnormen auf die Schriftlichkeit des Briefs, indem er nach zwei Seiten argumentiert, damit die Orientierung am Gespräch nicht mit der Festschreibung umgangssprachlicher Fehler und Nachlässigkeiten verwechselt werde. Da Briefe einen mündlichen Vortrag ersetzen, müssen sie »ebenso natürlich und ungekünstelt, aber noch etwas zusammenhängender […] als dieser seyn«.7 Mitte des 18. Jahrhunderts begegnen sich im Privatbrief Personen in ihrer Individualität. »Briefe sind Spiegel der Seele, Man sieht darinn Abdrükke des Geistes und des Herzens so völlig wie das leibliche Gesicht eines Menschen«, schreibt Gleim an seinen Freund Uz.8 Der verteidigte individuelle Stil vermittelt Einblicke in die Psyche des Verfassers.9 Um 1770 setzt die Hochphase der Empfindsamkeit ein. Sie verändert die Aufgabe des Privatbriefs zum persönlichen Ausdruck von Emotionen und Stimmungen, zur intimen Verständigung.10 Gegen die Verschlossenheit und Statusfixiertheit des höfischen Diskurses kennt die offene Kommunikation von Mensch zu Mensch kein Ansehen des Standes. Für den Schreibenden bot das Briefgespräch die Chance zu einer klärenden Selbstverständigung. 5 Benjamin Neukirch: Anweisung zu Teutschen Briefen. Leipzig 1727, S. 528. 6 Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751). In: Die epistolographischen Schriften. ND der Ausgaben 1742 und 1751. Hg. von Reinhard M.G. Nickisch. Stuttgart 1971, S. 3ff. 7 Johann Gotthelf Lindner: Anweisung zur guten Schreibart überhaupt und zur Beredsamkeit insonderheit […]. Königsberg 1755. ND Kronberg 1974, S. 298. 8 Briefwechsel zwischen Gleim und Uz. Hg. v. Carl Schüddekopf. Tübingen 1899, Nr. 159, S. 421. 9 Wolfgang Adam: Freundschaft und Geselligkeit im 18. Jahrhundert. In: Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Hg. vom Gleimhaus Halberstadt. Halberstadt/Leipzig 2000, S. 9–34, hier S. 28. 10 Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 77.

Freundschaftliche Strafgerichte

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Hamanns Briefe sind entsprechend ihren unterschiedlichen Adressaten, Intentionen und Themen unter mindestens sechs Gesichtspunkten aufschlussreich: a) als sprachliche Selbstdarstellung eines individuellen Subjekts, das verschiedene Rollen und Masken probiert, b) auf der interpersonalen Beziehungsebene, in der Hamann als Briefschreiber oder Adressat zum Korrespondenzpartner steht: Soziale Abhängigkeit, verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen bestimmen Inhalt und Diktion des Schreibens, c) auf dem existentiellen Anspruch, dem sich Schreiber und Empfänger in verbindlichen Formulierungen unterwerfen. Die Schriftform konnte im Vollzug der Unterschrift eine juristische Festlegung besiegeln, d) auf der Sachebene der verhandelten epistemischen Probleme, die Hamanns oft ausführlichen Briefen Werkcharakter verleihen, so dass sie in Einzelfällen vom Verfasser publiziert wurden. Hier lud wiederum die Schriftform zu ausgewogenen Stellungnahmen ein, e) im expliziten Appell des ›Offenen Briefs‹ an das Schiedsrichteramt der Öffentlichkeit, deren Anliegen aufgegriffen und für die Allgemeinheit relevant erachtet werden. Friedrich Heinrich Jacobi publizierte z. B. in der FebruarNr. 1788 des Deutschen Museums einen Offenen Brief an J.G. Schlosser unter dem Titel »Einige Betrachtungen über den frommen Betrug […]«, zu denen Hamann sich kritische Randnotizen gestattete,11 f) umgekehrt unterlief die klandestine Korrespondenz die Geltung öffentlicher politischer oder moralischer Normen und die Macht der Zensur.

1.

Hamanns Korrespondenz im Rahmen der Briefkultur des 18. Jahrhunderts

1.1

Freundeskreise Hamanns

Die Korrespondenz unter »Freunden« gewann im 18. Jahrhundert eine solche Zugkraft, dass sich das gesamte Säkulum den Ehrentitel eines »Jahrhunderts der Freundschaft« verdiente.12 Hatte die Frühaufklärung noch die Zweckorientierung der Freundschaft im Blick, so akzentuierten die späteren Wortführer der Aufklärung das Konzept der Tugend-Freundschaft. Die Freundschaft spiegelt als

11 ZH VII, 432–438 (an F.H. Jacobi, 22. März 1788), vgl. dazu Johann Georg Hamann: Briefe. Hg. v. Arthur Henkel. Frankfurt a.M. 1988, S. 450. 12 Ute Pott (Hg.): Das Jahrhundert der Freundschaft. Göttingen 2004. Einführung, S. 7.

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sozialethische Kategorie das Selbstverständnis des aufgeklärten Bürgers wider.13 »Freundschaft« implizierte nicht nur emotionale Verbundenheit, sondern beruhte nach Kant, der den zeittypischen Gefühlsüberschwang des Freundschaftskultes zu ernüchtern suchte, auf einem Verhältnis wechselseitigen Respekts.14 Tatkräftige Hilfe überzeugte im Bedarfsfall mehr als die bloße verbale Versicherung der Freundschaft. Als der vermögende junge westfälische Gutsbesitzer Franz Kaspar Bucholtz 1784 Hamann mit einer fürstlichen Spende von 12.600 Gulden aus permanenter Geldverlegenheit befreite, zählt dieser in einem ausführlichen Dankesbrief vom 15. und 20. 12. 1784 weitere Freunde und Gönner auf: »Gott hat mir [!] von Jugend auf durch Freundschaft reich und seelig gemacht«.15 Er nennt seine lebenslange Freundin, die Baronesse Juliane Charlotte Sophie von Bondeli, die Tochter seines Königsberger Hauswirts, drei Mitglieder der weit verzweigten Familie Jacobi: Friedrich Heinrich und seinen Vater Johann Conrad Jacobi, sowie den Bankier Friedrich Conrad Jacobi, dessen Onkel Hamann im Englischen unterrichtete, dann seinen genialen Schüler J.G. Herder, der 1762 nach Königsberg gekommen war und dem Hamann 1764 die Stelle eines Kollaborators an der Domschule zu Riga vermittelt hatte, ferner den um ein Jahrzehnt jüngeren Matthias Claudius, den Theologen und Pädagogen Johann Friedrich Kleuker, die Professoren Immanuel Kant und Christian Jakob Kraus, sowie den Professor für Poesie an der Königsberger Universität Johann Gottlieb Kreutzfeld; den einflussreichen Kommunalpolitiker und Schriftsteller Theodor Hippel, den alten Königsberger Freund Samuel Gotthold Hennings, dem Hamann in jungen Jahren 1751 einen »Freundschaftlichen Gesang« widmete16 und dem er zwei Sammelbändchen eigener Schriften schenkte, nicht zuletzt die Verleger Nicolovius, Hartknoch und Kanter. Im Haus des letztgenannten Verlegers wohnte Kant von 1766–1774. In Kanters Firma arbeitete der junge Herder zeitweilig als Ladengehilfe. Als gute Bekannte Hamanns konnten die Kriegsräte Christian Wilhelm Deutsch und Johann George Scheffner gelten, letzterer ein Schüler des engen Hamann-Freundes Johann Gotthelf Lindner, der sowohl als Rektor der Domschule zu Riga wie als Professor der Poesie und Beredsamkeit und als Pfarrer in Königsberg Hamann stets eng verbunden blieb.17 Dieser ergänzt die Sympathisanten-Liste noch im Brief an Jacobi vom 13 Eckhardt Meyer-Krentler : Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984, S. 20. Wolfram Mauser : Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Karl Eibl (Hg.): Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert (= Aufklärung Jg. 4, H. 1), S. 5–36, hier S. 18, 35. 14 Kant’s Gesammelte Schriften. Hg. von der Kant-Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. [AA] Werke I–IX. Berlin 1902–1912. VI, S. 471f. 15 ZH V, 283–288, hier 286,30. 16 N II, 228f. 17 ZH V, 283–288.

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24. 8. 1786 um die Namen Johann Christoph Mayer, seinen Amtsgenossen und Schreiber Johann Brahl, Abraham Jakob Penzel – nach Nadler ein gelehrter Landstreicher und Privatdozent18 – und den jungen Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, den späteren preußischen Staatsmann und Retter von Hamanns literarischem Werk.19 – Sein Bruder Theodor wurde im Übrigen ein Schwiegersohn Hamanns. Diesem kam es nicht auf die vollständige Erfassung der Königsberger Freunde und Nahestehenden an, sondern er ließ Revue passieren, wer ihn in bestimmten Debatten und Phasen beschäftigte. Die Königsberger Liste hätte noch um den Amtskollegen Johann Friedrich Lauson, und insbesondere um den Kapellmeister Johann Friedrich Reichardt ergänzt werden können. Der 1752 in Königsberg geborene Reichardt wurde schon mit zehn Jahren als musikalisches Wunderkind gefeiert und vom Vater – dem Lautenlehrer und Nachbarn Hamanns – auf seine erste Konzertreise geschickt. 1775 wird Reichardt zum Königlich-preußischen Hofkapellmeister ernannt. Im nämlichen Jahr gesteht Hamann Matthias Claudius, wie stark ihn die Persönlichkeit des 23jährigen Virtuosen fasziniere. Der weit gereiste Komponist gewann einflussreiche Freunde und verkehrte in späteren Jahren im Reich mit den bedeutendsten aufgeklärten Fürsten. Seinen Bemühungen verdankte Hamann den Posten eines Packhofverwalters und später die Genehmigung zum lang ersehnten Sabbat-Urlaub in Münster. In einem seiner letzten Briefe würdigt Hamann Reichardts Vorspanndienste: Seinem »Landsmann, Gevatter und Freunde« J.F. Reichardt verdanke er sein »ganzes Glück«20. Dessen Entwicklung verlief parallel zu der des Älteren. Beide Königsberger Landsleute entfremdeten sich Anfang der 80er Jahre von den Berliner Aufklärern – Reichardt brach mit Nicolai 1781 – und vertieften ihre Kontakte zu den Sturm-und-Drang-Ideologen und Dichtern. Sie fühlten sich Herder, Lavater oder Gegenaufklärern wie F.H. Jacobi und lutherischen Christen wie M. Claudius näher als den Rationalisten von Berlin. Im nämlichen Brief an Kraus vom 2. 6. 1788 deutet Hamann die zarten Bande an, die ihn mit der Kaufherren-Familie Berens in Riga verknüpften. In seinem letzten Brief an Kraus vom 2. 6. 1788 plant er vor der Rückreise in die Heimat in Hamburg Christoph Berens zu treffen, den Kaufmann und Ratsherren, um dessen Schwester Hamann geworben hatte. Er verlieh ihm den Titel des »Dechanten meiner Freunde«21 – in Anspielung auf gemeinsame Studienjahre oder im kirchlichen Sinn auf den Vorsteher eines Kirchenbezirks oder Domkapitels. 18 19 20 21

Nadler : Hamannausgabe (wie Anm. 1), S. 105. ZH VI, 532; 535. ZH VII, 502,22 (an Christian Jakob Kraus, 1.–2. Juni 1788). ZH VII, 502,26.

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»Dechant« meint scherzhaft wohl den Vorsteher eines Kirchenbezirks oder Domkapitels, denkbar auch als Anspielung auf die akademischen Jahre des Juristen. In seinem Lebenslauf bekennt Hamann: »Dieser außerordentliche Freund war einer meiner Lieblinge in Königsberg gewesen«22. Er wäre sogar mit der Heirat seiner Schwester Katharina mit dem mittellosen Hamann einverstanden gewesen, hätte nicht der Firmenchef Arend Berens sein brüskes Veto eingelegt. Der katholische Kreis der Fürstin Adelheid Amalia von Gallitzin und des Ministers und Schulreformers von Fürstenberg ersetzte Hamann in den letzten beiden Lebensjahren die Königsberger Geselligkeit. Dem religiösen und literarischen ›Kreis von Münster‹ gehörten Theologen, Philosophen, Pädagogen und Literaten an, denen es in neuplatonischer Genealogie um eine Reform der Kirche unter ökumenischer Zielsetzung ging. Größten Einfluss auf den Zirkel übte der Philosoph Frans Hemsterhuis aus, dem die Fürstin die Erziehung ihrer Kinder anvertraute. 14 Tage vor seinem Tod gesteht Hamann Kraus in einem Brief vom 1. und 2. Juni 1788, wie wohl, aber auch wie eingeschränkt er sich im provinziellen Münster fühlt: »Frantz, Diotima, Pericles, Sprickmann sind mein ganzes Universum«23. Zu einem Anziehungspunkt von überregionaler Ausstrahlung hatte sich Jacobis Villa Pempelfort bei Düsseldorf entwickelt. Hier verkehrten Wieland, Sophie von La Roche, Diderot, Goethe, J.J.W. Heinse, Hamann, später Georg Forster und die Brüder Humboldt. Mit dem norddeutschen Raum verbanden Hamann weitere freundschaftliche und familiäre Beziehungen: Elise Reimarus, die Tochter des Hamburger Orientalisten und ungenannten Autors von Lessings Wolfenbütteler Fragmenten, wurde im Pantheismusstreit zwischen Moses Mendelssohn und Jacobi zu einer Schlüsselfigur. Im nahegelegenen Wandsbeck gab Matthias Claudius 1771–1775 den Wandsbecker Bothen und 1775 die Text-Auswahl ASMVS omnia sua SECVM portans heraus. Claudius war Taufpate von Hamanns zweiter Tochter. Im regionalen holsteiner Blickfeld liegen die Kontakte Hamanns zu Johann Friedrich Kleuker in Kiel. Der Theologieprofessor kannte Herder persönlich und entwickelte auf dessen Spuren Ansätze zu einer vergleichenden Religionsforschung. Sechs Jahre nach Hamanns Tod suchte Jacobi in den Wirren der Französischen Revolution in Hamburg und Eutin Schutz vor Übergriffen und Plünderungen. Er gründete einen Literaturzirkel, dem unter seiner Leitung die benachbarten Autoren Klopstock, Claudius, v. Gerstenberg und Johann Heinrich Voß angehörten.

22 N II, 26,9f. 23 ZH VII, 501,27f (an Christian Jakob Kraus, 1. Juni 1788).

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1.2

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»Haß gegen die Berliner« und interne Freundlichkeiten

Unter seinen Bekannten und Freunden nahm Hamann Abstufungen vor – weniger nach dem Grad herzlichen Einvernehmens als nach ihrem intellektuellen Format und kreativen Anregungspotential. Herder und Friedrich Heinrich Jacobi waren für ihn die interessantesten Gesprächspartner. Den Ehrentitel »HerzensJonathan« erhielten ausschließlich Jacobi und Herder24 – entsprechend der alttestamentarischen Typologie von 1Sam 18,1f. Hier wird berichtet, wie der älteste Sohn von König Saul einen Herzensbund mit David schließt. Das alttestamentarische Freundespaar David und Jonathan übertrifft für Hamann die antiken Musterpaare berühmter Gefährten wie Achill und Patroklos, Orest und Pylades.25 Jacobi besiegelte zunächst mit Herder die seltene Duz-Brüderschaft (vgl. seinen Brief vom Jahresende 1784 an Hamann)26, bevor er von Hamann am 23. 8. 1786 erinnert wurde, dass sie sich auf die Du-Anrede schon eingelassen hatten: »Unser vertrauliches Du hat lange geschlafen, mein lieber Fritz! und es ist die höchste Zeit, daß ich es aufwecke.«27. Dass es Herder gegenüber bei der SieAnrede blieb, tat der außergewöhnlichen Freundschaft beider keinen Abbruch. Und umgekehrt bot das symmetrische ›Duzen‹ keine Gewähr für eine verlässliche freundschaftliche Beziehung. Wie das wechselvolle Verhältnis zwischen Goethe und Friedrich Heinrich Jacobi demonstriert, konnte es trotz vertrauter Du-Anreden starken Schwankungen unterliegen, bis es schließlich 1811 beim Disput über Schelling zur endgültigen Entfremdung kam. Vorausgegangen waren wiederholte satirische Angriffe Goethes insbesondere gegen den entfernt zu ihm verwandten F.H. Jacobi. Am 15. 9. 1784 zieht Hamann nach seiner ausführlichen Metakritik zu Kants Kritik der reinen Vernunft Herder gegenüber Bilanz: Ich habe hier keinen, einzigen Freund, mit dem ich zu Rath gehen kann – so glücklich ich übrigens mit Freunden versehen bin, aber sie dienen […] nicht zum adiutorio – kein Bein von meinen Beinen, kein Fleisch von meinem Fleisch – keinen animae dimidium meae! keinen Prüf- noch Wetzstein meiner Ideen! keinen arbitrum meiner Einfälle.28

24 Z.B. ZH VI, 153,21 (an Jacobi, 30. November 1785); ZH IV, 457,2 (an Herder, 17.–18. November 1782). 25 Adam (wie Anm. 9), S. 14. 26 Jacobi an Hamann 30./31. 12. 1784, in: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel 1782–1784. Jacobi Gesamtausgabe. Briefwechsel I/3. Hg. von Peter Bachmaier u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 413. 27 ZH VI, 529,8f. 28 ZH V, 220,15–20.

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Hamanns Seufzer nach einem kongenialen kritischen Gesprächspartner setzt sich aus biblischen und profanen literarischen Topoi zusammen, aus Anspielungen auf Gen 2,23, als Adam beim erstmaligen Anblick Evas sich in der »Mennin« wiedererkennt, auf Horaz Carmina I, 3, 8 sowie auf Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624).29 Doch das Patchwork der Klage macht sie nicht gegenstandslos. Dabei gehören zu Hamanns Netzwerk anfangs selbst Berliner Aufklärer. Zu Moses Mendelssohn, den Hamann in Berlin kennen lernte und mit dem er nach gemeinsamen Stunden privater Begegnung korrespondierte, unterhält er längere Zeit gute Beziehungen. Er bezeichnet ihn explizit als »Freund«30. Der namhafte jüdische Gelehrte hatte Hamanns Erstpublikation wohlwollend in den Literaturbriefen besprochen und lieh dem Verfasser 1764 obendrein Geld für seine Rückreise von Berlin nach Königsberg. Auch Nicolai wird von Hamann im Brief an Reichardt vom 16. 12. 1776 ohne ironischen Unterton als »Freund« bezeichnet.31 Neben dem größten Rezensionsorgan der Aufklärung, das Nicolai mit der Allgemeinen deutschen Bibliothek von 1765–1805 herausgab, veröffentlichte er in den 70er Jahren literarische Satiren und Parodien, die die junge Literatur der Empfindsamkeit und des beginnenden Sturm und Drang aufs Korn nahmen. Sein religionssatirischer Erfolgsroman Sebaldus Nothanker (1773–1776), der sich vor allem gegen die protestantische Orthodoxie richtet, enthüllt Kirchen als Herrschaftssysteme, denen Vorurteile zur Festigung eigener Machtansprüche dienen. Der Roman plädiert für ein vernünftiges Christentum, das auf immer schwerer zu vermittelnde Dogmen wie das von der Ewigkeit der Höllenstrafen verzichten kann. Unter den Romanfiguren identifizierten die Zeitgenossen den empfindsamen Dichter Säugling mit Friedrich Heinrich Jacobis Bruder Johann Georg. Hamann nimmt in der Hexe zu Kadmonbor 1773 im esoterischen Spiel Bezug auf Nicolais Satire. Doch als sich satirische und parodistische Texte aus der Feder Nicolais gegen Herder und Goethe häufen, kippt endgültig Hamanns Verständnis dafür. In Briefen der 80er Jahre an Vertraute spricht er unumwunden von seinem »Haß gegen die Berliner«32. Herder und Reichardt vollziehen ähnliche Absetzungsmanöver von der Berliner Aufklärung. Herder bricht 1784 mit Nicolai, drei Jahre nach Reichardt. 29 Horaz bezeichnet seinen engen Freund Vergil als »die Hälfte meiner Seele« und beschwört das Schiff des Abreisenden, den kostbaren Passagier unversehrt nach Athen zu bringen (Horaz: Sämtliche Werke Lat. u. dt. Hg. von Hans Fischer. München 1967, S. 12f). Opitz nennt die Liebe den »wetzstein« der Poeten, »an dem sie jhren subtilen Verstand scherffen« (MARTINI OPITII Buch von der Deutschen Poeterey. Breslaw 1624. In: Marian Szyrocki (Hg.): Poetik des Barock. Reinbek 1968, S. 16). 30 ZH II, 128,1 (an Moses Mendelssohn, 11. Februar 1762). 31 ZH III, 274,4. 32 ZH VI, 162,15f (an Friedrich Heinrich Jacobi, 30. November 1785).

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Das Freundes-Etikett schützte die Auserwählten keineswegs vor Kritik. Im Gegenteil. Es prädestinierte sie zu deren Akzeptanz. Moses Mendelssohn und Lessing, die in Catulls antikem Freundespaar Veranius und Fabullus wiederkehren, hatten sich mit Hamanns »Grille« abzufinden, seine »nächsten Blutsund Muthsfreunde im Apoll […] aufzuopfern.«.33 Aus dem scherzhaften Maskenspiel wurde später bitterer Ernst, als Hamann gerade Mendelssohn zum Opfer ungerechter Verdächtigung wählte. In einem frühen Brief an Kant von 1759 – es geht um die Kooperation am gemeinsamen didaktischen Projekt einer »Kinder-Physik« – beansprucht Hamann, aus Freundschaft ein offenes Wort führen zu dürfen – mit der konzisen Begründung: »Weil ich Sie hochschätze und liebe, bin ich Ihr Zoilus«34. Seine Freundesrolle besteht gerade in der des »Anklägers und Wiedersprechers«[!]. Lust am Widerspruch und rückhaltlose Offenheit können – in Briefen an Herder und Kant – geradezu die Qualität erotischer Intimität gewinnen: »Auf Schwächen und Blößen gründet sich die Liebe, und auf diese die Fruchtbarkeit«35. Übersetzt heißt dies: Erst der wohlmeinende dialogische Austausch generiert etwas Neues. Die offene Auseinandersetzung setzt Vertrauen voraus und erzeugt es. Wolfram Mauser hat unterstrichen, welche bedeutende Rolle in der philosophischen und fiktionalen Literatur des 18. Jahrhunderts dem Vertrauen zufällt, das sich seinerseits auf die Symmetrie der Verlässlichkeit gründet.36 Im Zuge kritischer Äußerungen gegen Jacobi genießt Hamann (im Brief vom 2. u. 22. 11. 1785) die ihn erfüllende »Sorglosigkeit u [den] Freymuth«37 Ein offenes Wort beeinträchtigt nicht die Freundschaft, sondern ist ihre Manifestation. Kritik am »Freund« wird als erstrangiger Freundschaftsdienst verstanden – und dies nicht nur von Hamann. In Freundschaftsbriefen haben Lobeserhebungen nach Ewald von Kleist nichts verloren. »Ich werde Sie zuweilen gar tadeln«, kündigt er Samuel Gotthold Lange am 25. 3. 1746 an.38 Auch für Matthias Claudius impliziert Freundschaft nicht bloß die Lizenz zu nötigen Beanstandungen, sondern ihre Verpflichtung.39 Als Freunde Hamanns gelten Johann Caspar Lavater und Georg Joachim Zollikofer. Lavater wird gemaßregelt wegen seiner Zumutungen an Moses 33 ZH II, 128,4f (an Moses Mendelssohn, 11. Februar 1762). 34 ZH I, 451,35 (an Immanuel Kant, Ende Dezember 1759). 35 ZH I, 448,17f. Vgl. auch Hamann an Herder, 23. Mai 1768 (ZH II, 415,10f): »Vertraulichkeit gewisser Blößen und Schwachheiten« gehört zur Freundschaft. 36 Mauser (wie Anm. 13), S. 16–20. 37 Jacobi: Briefwechsel I/3 (wie Anm. 26), S. 224. 38 Ewald von Kleist: Werke. 2. Tl., S. 30, zit. nach Vellusig (wie Anm. 2), S. 63. 39 Matthias Claudius: Worauf es ankommt (1782). In: Ausgewählte Werke. Hg. von Winfried Freund. Gerlingen 1995, S. 302f: »Zum Freund sein gehört, dass Du’s von Herzen seist und Gutes und Böses mit ihm teilest.« Gegenüber Dritten soll man Fehler und Schwächen des Freundes bemänteln, nicht aber ihm selbst gegenüber.

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Mendelssohn, der sich ohne Berücksichtigung von Machtverhältnissen der Diskurse vor das Dilemma gestellt sah, entweder Bonnets philosophische Beweise für das Christentum zu widerlegen oder zum Christentum zu konvertieren.40 Lavater hatte Hamann seine geradezu masochistische Lust an Züchtigungen durch strenge Freunde gestanden: »Ich lese gern Ihre Bestrafungen und Tröstungen«41, da sie aus dem Geiste Moses und der Propheten stammten. Hamann greift letzteres auf und kontert: Jemand, der sich wie Mendelssohn auf Moses und die Propheten berufen könne, sei anderen Autoritäten vom Schlage Bonnets überlegen.42 Scharfe Stilkritik übt Hamann an Zollikofer im Brief an Scheffner vom 18. 9. 1785. Hamann kritisiert den üppigen Ornatus der Predigten »über die Würde des Menschen und den Werth der vornehmsten Dinge […]«43. Der Magus vermisst angesichts des Reichtums an rhetorischen Figuren »die evangel. Armuth und Einfalt«44 in den Predigten des Leipziger Pastors, der 1771 Lavaters Geheimes Tagebuch herausgab.45 Die Kanzelreden des aufgeklärten Pfarrers lieferten »ein schmeichelhaftes […] Gemälde von der Würde unserer Verstandeskräfte, unserer moralischen Freyheit, unserer Thätigkeit und Perfectibilität«46. Genau diese Beschönigungen fordern Hamanns Kritik an der Aufklärung heraus: »Unsere Würde hängt nach beßern Begriffen nicht von Verstand, Wille, Thätigkeit [ab], sondern bleibt das Geschenk einer höheren Wahl«47.

1.3

Empfindsamer Briefverkehr

Lassen sich trotz einer problemorientierten Kritik gleichwohl Schreibmuster der Empfindsamkeit in Hamanns Korrespondenz ausmachen? Dem Herausgeber des Wandsbecker Bothen vertraute Hamann am 21. 5. 1775 an, er liebe den jungen (dreiundzwanzigjährigen) Reichardt.48 Seine ausgebliebene Antwort auf Hamanns Brief vor einem Jahr fordert eine Erklärung: »es fällt 40 Moses Mendelssohn: Die Lavater-Kontroverse 1769/1770. In: ders.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe. Hg. von Christoph Schulte. Bd. II. Darmstadt 2009, S. 7–48. 41 ZH III, 396,31 (von Johann Caspar Lavater, 26. Dezember 1777). 42 ZH IV, 4,33ff (an Johann Caspar Lavater, 18. Januar 1778). 43 Georg Joachim Zollikofer: Predigten über die Würde des Menschen, und den Werth der vornehmsten Dinge, die zur menschlichen Glückseligkeit gehören, oder dazu gerechnet werden. Leipzig 1784. 44 ZH VI, 66–70, hier 67,20f (an Johann George Scheffner, 18.–19. September 1785). 45 Geheimes Tagebuch. Vom einem Beobachter seiner Selbst. Hg. von Georg Joachim Zollikofer. Leipzig 1771. 46 ZH VI, 68,9ff (an Johann George Scheffner, 18. September 1785). 47 ZH VI, 68,29f. 48 ZH III, 182,3.

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mir schwer, Sünden gegen den Geist der Freundschaft ungerügt zu lassen«49. Die als Allegorie angerufene Freundschaft gewinnt sakralen Status in einer Humanitätsreligion, gegen deren Gebote man sich versündigen kann. ›Freundschaft‹ ist im 18. Jahrhundert ein emphatischer Begriff, der sozialethische Verpflichtungen und utopische Dimensionen schon seit der Antike einschließt: Cicero fundiert ›Freundschaft‹ auf der Tugendbasis, und für Augustinus bleibt Gott der Stifter der Freundschaft.50 Was in Hamanns Beschwerdebrief zunächst nach einer umwerbenden Klage aussieht, wird durch einen Scherz aufgelöst: Da der Adressat die Antwort schuldig bleibt, schreibt sie sich der Adressant notgedrungen selbst.51 Mit der vom Autor übernommenen Doppelrolle scheint jedenfalls die Übereinstimmung der Gemüter garantiert. Die übernommene Antwort antizipiert die Wünsche des Empfängers, der zum Schreibenden wird. Die notorische Ritualität von Briefwechseln sorgt dafür, dass man zu jedem Brief auch schon die Antwort kennt. Wie seine Freunde Herder und Jacobi auch war Hamann bei allem Einspruch gegenüber dem Rationalismus und Materialismus der Aufklärung von der kollektiven Mentalität der Empfindsamkeit getragen, einer genuinen Strömung der Aufklärung. Gegenseitige Anteilnahme, Empathie bezeugten Gellert, Sulzer, Mendelssohn oder Lessing zufolge eine moralische Haltung. Wie gründlich das Geselligkeitsmodell die Briefkultur seit der Jahrhundertmitte veränderte, verraten Umfang, Inhalt, Schreibart, ja selbst die Produktion und Rezeption von Briefen. Der Brief bot sich als »scheinbar transparentes Medium« für eine unmittelbare Artikulation und Übermittlung eigener Gefühlszustände und Motive an.52 Das ausgeprägte Mitteilungsbedürfnis erhöhte in der Epoche der Empfindsamkeit die Anzahl der Briefpartner und die Länge der Briefe. Mit der Sensibilität für die Belange des Partners richtete sich der Lichtkegel der Beobachtung zugleich auf die eigene psychische Verfassung und suchte im gesteigerten Fühlen den Selbstgenuss des Affekts. Empfindsame Gefühle sind reflektierte Gefühle. Hamanns zahlreiche selbstreferentielle Beschreibungen, etwa wenn er die Schreibsituation thematisiert und Unterbrechungen tagebuchartig vergegenwärtigt, wie im Brief an Herder vom 15. 9. 1784 die »curiöse September relation«53, haben die Funktion, Interaktionsnähe und gemeinsam erfahrene Lebensabschnitte zu suggerieren. Wenn der Adressat derart an der Schreibsituation teilnimmt und in ihr berücksichtigt wird, scheint die räumliche Distanz durch den Brief endgültig überwunden. So setzt Hamann nach einwöchiger

49 50 51 52 53

ZH III, 272,1f (an Johann Friedrich Reichardt, 16. Dezember 1776). Adam (wie Anm. 9), S. 14; Pott (wie Anm. 12), S. 7. ZH III, 272,8–28. Wegmann (wie Anm. 10), S. 77. ZH V, 219,19.

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Unterbrechung einen Brief an Jacobi am 29. 6. 1785 mit den folgenden Worten fort: Ich habe diesen Brief angefangen, und liegen lassen, und wollte ihn zerreißen – Wozu soll ich mich schämen deßen, was ich in der Zerrüttung meines Herzens geschrieben habe […]. Ihr freundschaftliches Ohr wird durch meine gebrochene Sprache nicht beleidigt werden […]. Noch denselben Abend, wie ich zur Beichte gegangen war, erhielt ich wieder einen Brief von meinem B[ucholtz] […]. Je länger, je mehr kann ich sagen, wie Horatz zum Mäcen: Vtrumque nostrum incredibili modo / Consentit astrum – – –.54

Wenn Hamann in einer offensichtlich depressiven Phase zu Beginn der Brieffortsetzung an Jacobi Bedenken äußert, einen Klagebrief abzusenden, zeigt er Gespür für die Zumutungen seiner hypochondrischen Laune. Es ist ein marginales Phänomen, aber von versteckter Symbolik, dass Hamann mit »St. Peter und Paul« (1785) datiert, den personalen Polen des Urchristentums und dem ihm wichtigsten Apostelpaar, weil er so seine Freundschaft theologisch begründen und literarisch überhöhen kann. Er konstruiert eine analogia proportionalitatis zwischen seinem generösen Gönner Bucholtz und ihm selbst auf der einen Seite, in denen sich das andere typologische Paar der Antike, Maecenas und Horaz, wiederholt. Horaz geht in Oden II, 17 wie Hamann von der kosmischen Sympathie der Gestirnen-Konstellation bei der Geburt aus und nennt Maecenas »meines Daseins Hälfte«. Dieser Wendung hatte sich schon Wieland 1771 bedient, wie F.H. Jacobi in einem Brief vom 16.6.71 dem Grafen von C[hotek von Chotkowa] über eine Zusammenkunft bei der Familie La Roche in Ehrenbreitstein berichtet, an der neben Wieland und den Brüdern Jacobi noch Leuchsenring teilnahm. Wieland nannte Johann Georg Jacobi »dimidium animae meae« – wie Horaz den Vergil.55 Die Literarisierung der Erfahrungswelt wird greifbar, wenn Lektüreerfahrungen die Wahrnehmung der Wirklichkeit bestimmen. Goethe beschreibt im 10. Buch von Dichtung und Wahrheit, mit welcher Begeisterung Herder in Straßburg Oliver Goldsmith’ Roman The Vicar of Wakefield (1766) in deutscher Übersetzung vorlas und wie er als junger Mann selbst anschließend in Sesenheim Szenerie und Romanpersonal in der Familie Brion wiedererkannte.56 Die Entdeckung literarischer Muster in der sozialen Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts kennzeichnet speziell die Empfindsamkeit. Johann Georg Jacobi schickt Gleim am 4. 4. 1769 eine Schnupftabaksdose mit der äußeren Deckelinschrift »Pater Lorenzo« und den Schriftzeichen »Yorick« auf der Deckelinnenseite. Ein Offener Brief, der zur Gründungsurkunde des Lo54 ZH V, 464,34–465,8. 55 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. III: Quellen und Dokumente. Stuttgart 1980, S. 215–218. Vgl. Horaz (wie Anm. 29): Carmina 1, 3, 8, S. 13. 56 Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. MA Bd. 16. München 1985, S. 457, 470.

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renzo-Ordens wurde, begleitet das Geschenk.57 Die Dose stellt ein literarisches Requisit par excellence dar, das jedem Sterne-Leser aus Sentimental Journey vertraut ist.58 Dort ist sie ein »Symbolon« im ursprünglichen griechischen Wortsinn des ›Zusammenfügens‹, ›Zusammenpassens‹, auch im Sinn des ›Tauschwertes‹, der durch Einigung erreicht wurde. Im Tausch der wertunterschiedlichen Schnupftabaksdosen zwischen Yorick und einem Franziskaner, dem der Erzähler ein Almosen abgeschlagen hatte, wird das »Versöhnungszeichen« zum Erkennungszeichen der Empfindsamen, wie der Begleitbrief belegt.59 Das Kontaktbedürfnis zärtlicher Seelen erstreckte sich bis auf die Positionen aufgehängter Porträts, so dass die räumliche Nähe des eigenen Bildes zu Gemälden von Freunden emotionale und geistige Nähe ausdrückt. Herder verwandelt sich im Brief vom 29. 5. 1783 an Jacobi in dessen empfindsam lispelnden Freund und schwärmt von seinem vierzehntägigen Aufenthalt in Halberstadt und der Porträtsammlung im »Freundschafts-Tempel« Gleims: Ich bat u. bedung mir von Gleim aus, dass mein Bild […] neben Ihrem hangen u. Wieland wegrangirt werden müsse […]. Wollen Sie, liebster Jacobi so schicken Sie mir Ihre Zeichnung, von Hemsterhuis gezeichnet: sie soll über Leßings Büste in meinem Zimmer hangen; in dem nichts ist, als Luther, Hamann, Lessing, der Graf u. die Gräfin von Bückeb[urg] u. die regierende Herzogin […]. Bei Gleim habe ich im Gartenhause mich zwischen Sie u. Leßing geschrieben; geben Sie mir ein Plätzchen bei sich.60

Wenn das Porträt die dargestellte Person ersetzt, wird der Platz, an dem das Bild hängt, für Eingeweihte aussagekräftig. Unter diesem Vorzeichen schreibt Claudius an Herder am 19. 10. 1781: Herders Bild hänge bei ihm in Wandsbeck neben der Tür »zwischen Gevatter Hamann und Freund Jacobi«.61 Die Beispiele belegen zur Genüge die erinnernswerte Warnung von Wolfdietrich Rasch, die Briefe im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als unmittel57 Der im 18. Jh. publizierte Brief von J.G. Jacobi an Gleim ist wiedergegeben in: Sauder : Empfindsamkeit III (wie Anm. 55), S. 213f. Vgl. Achim Aurnhammer : Der Lorenzo-Orden. Ein Kult empfindsamer Freundschaft nach Laurence Sterne. In: Pott (wie Anm. 12), S. 53–60, hier S. 55. 58 Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (1768). Übers. von Siegfried Schmitz. ND München 1963, S. 7–11, 25–27. Auch Jacobi begründet im Brief an Hamann vom 18.–22. 10. 1784 (in: F.H. Jacobi: Briefwechsel [wie Anm. 26]. Bd. I/3, S. 372) mit Onkel Toby aus Tristram Shandy, warum er den Krieg gegen Mendelssohn fortsetzen möchte: »When I was a school-boy …«, vgl. Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Frankfurt a.M. 1998. Bd. VI, S. 124. 59 J.G. Jacobi an Gleim vom 4. 4. 1769 spricht von einem »heiligen Ordenszeichen«, in: Sauder : Empfindsamkeit III (wie Anm. 55), S. 214. 60 Jacobi: Briefwechsel I/3 (wie Anm. 26), S. 156. 61 Claudius an Herder (19. Oktober 1781), zit. nach: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel 1782–1784. Kommentar. Jacobi Gesamtausgabe. Briefwechsel II/3. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 125.

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bare Herzensaussprache misszuverstehen, sondern im Freundschaftskult seinen literarischen Gestus anhand deutlicher Fiktionsmerkmale zu erkennen.62 Wahre Freundschaft setzt in der Epoche der Empfindsamkeit keineswegs persönliche Bekanntschaft voraus; sie ist davon unabhängig, schreibt Ewald von Kleist an Uz am 19. 12. 1746.63 Die Seelenfreundschaft zwischen Sophie von La Roche und der Schweizerin Julie Bondeli beruht allein auf der Korrespondenz beider.64 Hamann lernte den Kreis von Münster und seinen generösen Mäzen F.K. Bucholtz erst brieflich, dann persönlich kennen. Wie ein Maulwurf habe er jahrelang gegraben, schreibt Hamann am 28. 3. 1785 an Herder, um auf einer seit langem erträumten Reise Herders Frau und Kinder sowie Claudius und die Seinen kennenzulernen65. Briefe unterlagen schon darum einer notwendigen Stilisierung, weil man wusste, dass ihre Rezeption sich nicht in der einsamen Lektüre des Adressaten (und seiner Antwort) erschöpfte. Sie trugen wesentlich zu einer Kultur der Geselligkeit bei. Sie wurden vorgelesen, abgeschrieben, weiter gereicht an Dritte.66 Nur in Ausnahmefällen galt das dann eigens angemahnte Briefgeheimnis. Ansonsten sind im Freundeskreis Briefgeheimnisse offene Geheimnisse. Hamann selbst machte einen Brief an Bucholtz zur Beilage eines Briefes an Herder67 und fertigte wiederholt eigenhändige Abschriften von Briefbeilagen an.68 Er schnürte gelegentlich umfangreiche Beilagenpakete von Briefen an Freunde. So gab er einer Briefsendung an Jacobi vom 16. 5. 1788 ein stattliches Bündel an Beilagen mit, das sich aus neun Briefen und Rezensionen, Abhandlungen von Jacobi und August Wilhelm Rehberg sowie Auszügen der Correspondance litt8raire, philosophique et critique von Melchior Baron de Grimm zusammensetzte. In der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige drücken die Herausgeber Georg Friedrich Meier und Samuel Gotthold Lange unbefangen ihre Freude darüber aus, dass nichts die Geselligkeit so gut fördere wie ein Briefwechsel. »Wir theilen sie (die Briefe, M.B.) einander mit, und legen sie in das gemeinschaftliche Archiv des Geselligen«.69 Dies bestätigt Goethe im Rückblick. Er erinnert sich in Dichtung und Wahrheit daran, dass man an keinen Einzelnen ein 62 Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Halle 1936, S. 195f. 63 Ewald von Kleist: Werke. 2. Tl., S. 64, zit. nach Vellusig (wie Anm. 2), S. 62. 64 Adam (wie Anm. 9): S. 18. 65 ZH V, 398,33. 66 Wegmann (wie Anm. 10): S. 79. 67 ZH V, 218,20f (an Johann Gottfried Herder, 15. September 1784). 68 ZH V, 270,3ff (an Friedrich Heinrich Jacobi, 1. Dezember 1784). 69 [Georg Friedrich Meier / Samuel Gotthold Lange:] Von freundschaftlichen Briefen und Besuchen. In: Angelika Ebrecht u. a. (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1990, S. 36f.

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Schreiben aufsetzen konnte, »ohne es zugleich an mehrere gerichtet zu betrachten«. Solche Korrespondenzen seien archiviert worden und »bei freundschaftlichen Zusammenkünften, auszugsweise vorgelesen«.70 Goethe besaß eine stattliche Sammlung von Hamanns Schriften, darunter zwei Briefe Hamanns an Friedrich Karl von Moser, so dass er ernsthafte Schritte zu einer chronologisch geordneten Edition von Hamanns Oeuvre unternahm.71 Darüber hinaus erhielt er Einsicht in weitere Briefe Hamanns: beispielweise durch Herder, der Goethe die Abschrift eines Hamann-Briefes vom 14./15. 11. 1784 an F.H. Jacobi zu lesen gab (und dies Jacobi am 20. 12. 1784 mitteilte)72. Für die Praxis des Vorlesens von Briefen gibt es sowohl im umfangreichen Freundeskreis von Gleim Belege wie im Jacobizirkel. Gleim bevorzugte für Lesungen den sog. »Freundschaftstempel«, so nannte er die beiden mit zeitgenössischen deutschen Schriftstellerporträts reich bestückten Zimmer in seinem Haus am Domplatz in Halberstadt. Mit dem Vorlesen seines Briefs erhält der Abwesende Wort und Stimme, gewinnt so im Freundeskreis personale Präsenz. Das Vorlesen an dem der Freundschaft geweihten Ort machte ihn zu einem Konferenzraum, der die Anwesenden mit den porträtierten Autoren verband – als Absendern oder potentiellen Empfängern von Briefen. Um abtrünnige Freunde zu diskreditieren, griff Gleim gelegentlich zum Instrument der indiskreten Publikation von Privatbriefen73 Was die Inszenierung der gemeinsamen Briefrezeption angeht, stand F.H. Jacobi Gleim im geselligen Rahmen der Lektüre wenig nach. Der Düsseldorfer Philosoph und Literat ruft dem Grafen von Chotkwa 1771 ins Gedächtnis: »ich las Ihnen einst in meinem Hause zwei an meinen Bruder gerichtete Briefe von […] Sophie von La Roche vor.«74 Jacobi war 1788 auch an einer »Circularcorrespondenz« mit Schlosser, Lavater, und Pfeffel beteiligt. Zur Stabilisierung der eigenen Gruppe und zu ihrem Schutz machten Zirkularbriefe die Runde. Sie waren für Freunde und Gleichgesinnte bestimmt und durften nicht den falschen Lesern in die Hände fallen, wie es Lavater und Pfenninger passierte: »Zirkularbriefe« von ihnen landeten bei den Berliner Aufklärern und sorgten für eine öffentliche Fehde.75 Die Kultur der Geselligkeit prägte im 18. Jahrhundert nicht allein die Rezeption von Briefen, sondern auch ihre Produktion. In Gemeinschaftsbriefen

70 Goethe: Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 56), S. 591f. 71 Nadler (wie Anm. 1), S. 92–98. Arthur Henkel: Hamann, Johann Georg. In: Goethe-Handbuch. Hg. von B. Witte. Stuttgart/Weimar 2004. IV/1, S. 452–455. 72 Jacobi: Briefwechsel I/3 (wie Anm. 26), S. 405. 73 Heinrich Mohr: »Freundschaftliche Briefe« – Literatur oder Privatsache? In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 14–75, hier S. 31. 74 Sauder : Empfindsamkeit III (wie Anm. 55), S. 215. 75 Vgl. den Kommentar in: Hamann: Briefe (wie Anm. 11), S. 449, 458.

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erweiterte, korrigierte, kommentierte der Empfänger und Koautor die initiale Textvorlage.76 Hamann wiederum macht sich eigenhändige Abschriften von Briefbeilagen77. Er schickt Jacobi im Brief vom 1. und 5. 12. 1784 dessen Briefbeilagen zum Spinoza-Streit mit Mendelssohn – Briefe u. a. von und an Herder – zurück und macht einen Brief an Bucholtz zur Beilage eines Briefes an Herder.78 Für letzteren fertigte Jacobi im Sommer 1784 eine Abschrift seines Briefes an Mendelssohn an. An Hamann übersandte er im Dezember 1784 als Beilagen einen Brief von Elise Reimarus und einen älteren Brief Jacobis an Lavater79 ; ein halbes Jahr später berichtet er ihm: »Heute erhielt ich einen Brief v Claudius, dem ich den Schluss meines Briefes an Mendelssohn mitgetheilt hatte«.80 Wie lässt sich mit seinem demonstrierten Freundschaftskult Hamanns andere Selbstinszenierung als »Prediger« bzw. »Stimme in der Wüsten« vereinbaren? Wie geht die Isolation der unbequemen Mahnerfigur, auf die keiner hört, zusammen mit einer reichen Korrespondenz, die Geistesverwandte und geselligen Umgang sucht und findet? Nicht nur in Briefen an Claudius vom 21. 5. 177581 oder an Reichardt vom 28. 7. 178282 greift Hamann auf die biblische Formel zurück, deren Deckungsgleichheit von Jesaia 40,3 und Mt 3,3, Mk 1,3, Lk 3,4, Joh 1,23 Altes und Neues Testament typologisch verklammert, wobei »Moses der größte Prophet« im Blickfeld bleibt, weil er sein Amt im »bloßen Vorbilde eines andern Propheten« sieht.83 Warum versteht Hamann seine öffentliche Rolle als die eines desillusionierten Wüstenpredigers, der nicht mehr mit der Resonanz eines interessierten Publikums rechnet? In zwei zentralen Publikationen des Magus, die sich mit Mendelssohns Werk auseinandersetzen – in Golgotha und Scheblimini und in vielfacher Wiederholung im Fliegenden Brief – wählt er diese resignative Selbstbezeichnung für seine Rolle als Publizist.84 Biblische »Prediger« sind Propheten, die im eigenen Land am wenigsten gelten. Ihre unbequeme Botschaft – ein Aufruf zur Umkehr – verhallt im Stimmengewirr der Zeitschriften und Zeitungen des späten 18. Jahrhunderts. Die Wüste gilt traditionsgemäß als Region Satans. In ihr darf der ›Versucher‹ den Gottessohn testen. In kühner Me76 77 78 79 80 81 82 83 84

Adam (wie Anm. 9), S. 29f. ZH V, 270,3f. ZH V, 218,20f (15. September 1784). Jacobi, Briefwechsel I/3 (wie Anm. 26), S. 326 (Jacobi an Herder, 30. Juni 1784); ebd., S. 413 (Jacobi an Hamann, 30.–31. Dezember 1784). Vgl. dazu die Kommentare in: Jacobi: Briefwechsel. II/3 (wie Anm. 61), S. 292, und Hamann: Briefe (wie Anm. 11), S. 413. Jacobi: Briefwechsel I/4 (wie Anm. 26), S. 121 (Jacobi an Hamann, 17. Juni 1785). ZH III, 181,17f. ZH IV, 408,10. N III, 305,37f.39. N III, 291; 358–369; 376f.

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taphernsprache begegnet Hamann seiner unterschwelligen Angst vor drohenden Verletzungen, vor Verrissen seiner Schriften und reiht sich in einem Brief an Herder vom 9. 11. 1785 in die Reihe blutiger Schicksale ein, die Wegbereitern des Herrn (wie diesem selbst) bereitet wurden Nicht ohne Selbstironie übertreibt Hamann die Marterwerkzeuge seiner anstehenden literarischen Hinrichtung durch die Scharfrichter von Berlin: Er sieht »Galgen u Rad auf mein Golgotha«85 zukommen. Jürgen Joachimsthaler hat in seinem Beitrag zu den Hamann-Acta 2006 die Prophetenrolle Hamanns und seine Selbstinszenierung zum Sprachrohr Gottes ideologiekritisch als Selbstermächtigung eines einsamen Rufers beleuchtet, der damit seine gesellschaftliche Außenseiterrolle kompensiert.86 Im Gestus prophetischer Rede greift der inspirierte Sprecher zur kraftvollen BibelDiktion, um seine göttliche Eingebung zu unterstreichen. Seine Einsamkeit und Gottesnähe legitimieren den erhabenen Duktus der Sprache. Die Häufigkeit der Bibelzitate in Hamanns Texten führt vor Augen, dass Gott in Wahrheit der Autor ist, der aus Hamanns Texten spricht.87 Zum Gestus des Propheten gehören die Einsamkeit des Erwählten und sein niedriger sozialer Status.88 Die biographisch, religions- und sozialgeschichtlich fundierte These wird durch den spezifischen Debattenkontext gestützt, in dem Hamanns »Agon« sich abspielt.89 Ins Visier nimmt Hamann ›Berlin‹. Mit der Metonymie der preußischen Großstadt – sie hatte 1786 bereits 147000 Einwohner – zielt er auf die dort aktiven und einflussreichen Wortführer der Aufklärung und der Neologie.

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Hamann im Pantheismusstreit

Die rationalistische Aufklärung hinterlässt mit ihrer Kritik an Vorurteilen und religiösem Dogmatismus, auch mit ihrer profanen Bibelhermeneutik Hamann zufolge eine gottesferne Wüste. Wie schon in vorausgehenden Briefen an Jacobi am 12. 8. 178290 und Herder91 wendet sich Hamann gegen Nicolais Schrift über den Templerorden. Dabei versteht sich Hamann weniger als Einzelkämpfer denn als Vertreter einer gesellschaftlich relevanten Position, der typische Gegenpo85 ZH VI, 125,22. 86 Jürgen Joachimsthaler : Das Prophetische. Zur Funktion einer Textfigur Hamanns. In: Acta 2006, S. 317–333, hier S. 329f. 87 Bernd Weißenborn: Auswahl und Verwendung der Bibelstellen in Johann Georg Hamanns Frühschriften. In: Acta 1992, S. 25–39, hier S. 34. 88 Vgl. N II, 108. 89 N III, 370,6; 403,1. 90 ZH IV, 417,4; vgl. den Kommentar in Jacobi: Briefwechsel II/3 (wie Anm. 61), S. 43. 91 ZH IV, 458–460 (18. November 1782).

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sitionen aufs Korn nimmt, wie sie vom freidenkerischen Hof oder von Nicolai oder Gedike und Biester, den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift, oder von Johann Jacob Engel geteilt wurden. Die im Briefwechsel gepflegten Freundschaften – dies gilt für Hamann wie für seine Gegner – dienten kulturpolitisch als Schutzbündnisse gegen gemeinsame Feinde. Von »Feinden« ist hier mit Blick auf Hamanns Sprachphilosophie in der Tat zu sprechen. Im vertrauten Briefwechsel gesteht Hamann nicht nur eine bloße Abneigung gegenüber Berliner Aufklärern ein; nein, er spricht unmissverständlich von seinem »Haß«!92 Zum verhassten Berliner Klüngel rechnet er auch den Hallenser Popularphilosophen Johann August Eberhard, wirkte dieser doch bis 1777 als Prediger in Berlin und stand mit Nicolai und Mendelssohn in Kontakt. Im Brief an Jacobi vom 30. 11. 1785 modifiziert Hamann die Kritik des Düsseldorfer Freundes an J.A. Eberhards »höchst elender« und seichter Rezension von Hamanns Golgotha und Scheblimini. Die Rezension Eberhards – sie erschien 1785, im 63. Band der Allgemeinen Literaturzeitung – wird vom Betroffenen selbst als »politisch, giftig und fein«93 charakterisiert. Ihr könne man allenfalls auf Umwegen und maskiert beikommen. Als satirischen Umweg erwog Hamann, in den Talar eines kirchlichen Amtsträgers zu schlüpfen, der einen offiziellen Hirtenbrief zu Gehör bringt, um so den Hass politisch werden zu lassen. Wenn dieser uns die Augen schärft für die Wahrheit, kann er Hamann zufolge »wohlthätig für uns selbst und andere werden«94. Im Brief an Jacobi vom 30. 11. 1785 nimmt er sich vor: »Mein Haß gegen die Berliner […] soll mich nicht hindern ihre Klugheit nachzuahmen«95. Nachdem Mendelssohn in den Morgenstunden die zentrale Invektive Hamanns und Jacobis als haltlos erwiesen und den Vorwurf des fanatischen Atheismus entkräftet hat, entwirft Hamann im Brief vom 30. 11. 1785 eine mögliche Strategie für eine Duplik Jacobis. Um Mendelssohns »Metten« – gemeint sind seine kürzlich erschienenen Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (1785) – »eine etwas starke Vesperlektion entgegen [zu] setzen«, sieht Hamann kein beßer Mittel als einen Hirtenbrief an den Prediger in der Wüsten zu entwerfen und ihm alles das in die Nase zu reiben, was der allgemeine Bibliothekar gern gethan hätte, wenn er es nur gedurft – und durch diesen Umweg könnte ich den stummen tückischen Hunden auf das Fell kommen. Eine solche Diversion würde eine sehr heilsame Wirkung thun.96

92 93 94 95 96

ZH VI, 162,15 (an Jacobi, 30. November 1785). ZH VI, 154,9 (an Jacobi, 30. November 1785). ZH VI,159,31f. ZH VI, 162,15ff. ZH VI, 154,30–35.

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Hamann überlegt, mit welchen Verfahren ironischer Selbstbestrafung er sich von einer überzogenen Kritik maßregeln lassen könnte, um an der Übertreibung ihre antichristliche Stoßrichtung kenntlich zu machen. Der offiziöse Hirtenbrief, wie ihn Amtsträger der Kirche ihrer Gemeinde vorlesen (vgl. Joh 21,15f; 1Petr 5,1ff; Apg 20,28), sollte klare Fronten schaffen. Dass der »Hirtenbrief« nicht aus der Sorge eines Guten Hirten um die anvertraute Herde diktiert worden wäre, offenbart der militärstrategische Vergleich mit einer »Diversion«, also einem Ablenkungsangriff und Entlastungsvorstoß. Zu Hamanns wortmächtigen Berliner Gegnern zählte speziell Friedrich Nicolai. Der Freund Lessings und Mendelssohns verdiente sich den Beinamen eines »allgemeinen Bibliothekars« in doppelter Hinsicht: Er edierte und redigierte seit 1765 allein das größte Rezensionsorgan der Aufklärung im Reich, die Allgemeine Deutsche Bibliothek, die inhaltlich ihrem Titel gerecht Beiträge aus allen Wissensgebieten führte. Von einer »heilsamen Wirkung« auf die Berliner war Hamanns Invektive aber weit entfernt. Nach Mendelssohns Tod im Januar 1786 wurde der Todesfall von seinem Arzt Marcus Herz, sowie von Johann Jakob Engel und Karl Philipp Moritz in einen Zusammenhang mit den Aufregungen um Jacobis selbstherrliche Publikation des Briefwechsels gebracht. Die stumme Anklage des Verstorbenen provozierte einen öffentlichen Skandal. Unter dem Schock der Todesnachricht von Mendelssohn wird Hamann bald im Fliegenden Brief den jüdischen Philosophen abheben vom Berliner Rationalismus; dieser sei sein – Hamanns – eigentlicher Widersacher gewesen.97 Für sich beansprucht er wiederum den Ehrentitel eines »Prediger[s] in der Wüsten«98. Zur Bestimmung der Fraktionenbildung unter den Publizisten der Aufklärung und der genaueren Streitpunkte um Lessings Spinozismus sind nicht nur die zwischen Mendelssohn und Jacobi ausgetauschten Briefe relevant; auch Hamanns und Herders Kommentare erweisen sich als unentbehrlich. Die Auseinandersetzung um Lessings Spinozismus spielte sich über zwei Jahre lang in der privaten Korrespondenz ab. Sie gründet sich auf erste briefliche Mitteilungen, wird von Briefsendungen und ihren Beilagen flankiert und in ihrem Verlauf bestimmt, bis Jacobi im Sommer 1785 mit der Korrespondenz an die Öffentlichkeit geht. Für die Entstehungsgeschichte des Pantheismusstreits spielten die Konstellation der wichtigsten Akteure und ihre Rivalität eine maßgebliche Rolle. Beide – F.H. Jacobi und M. Mendelssohn – verfügten über bedeutsame Informationen zu Lessings theologischen Auffassungen, Informationen, die das bisherige Lessingbild abrunden und korrigieren konnten. Beide tauschten ihre Lessing97 N III, 355f. 98 N III, 357,15f.

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erfahrungen nicht im Dialog aus, sondern kommunizierten nach Art einer Dreieckskonferenz über eine dritte Instanz: über Elise Reimarus. Die Tochter des Wolfenbütteler Fragmentisten fungierte als Scharnierstelle des Briefverkehrs. Sie steuerte den Informationsfluss von einem zum andern Kontrahenten, beantwortete Fragen, vermittelte die Publikationsabsprachen. Nachdem Mendelssohn die Aufzeichnungen Jacobis von den bereits 1780 geführten Gesprächen mit Lessing erhalten hat, formuliert Mendelssohn Einwände gegen ein Bild seines Freundes, dessen Religiosität sich in einem vagen Pantheismus verflüchtigt. Mendelssohn hält nicht Lessing, sondern Jacobi für einen wahren Spinozisten. Um ihn zu widerlegen, holt Mendelssohn (auf dem Umweg über Elise Reimarus) von Jacobi die Publikationserlaubnis für dessen philosophische Briefe ein. Dieser erteilt sie, um sich zugleich eine Duplik-Möglichkeit auf Mendelssohns Erinnerungen zu sichern. Mendelssohn kündigt über sein Sprachrohr Elise Reimarus für den Herbst 1785 eine Schrift zum Pantheismus an und bittet Jacobi bis dahin um Geduld. Daraufhin entschließt sich Jacobi zur sofortigen Publikation der Briefauszüge – ohne Mendelssohns Erinnerungen. Jacobi greift bei seinem Werk Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn u. a. auf Schriften und Exzerpte Hamanns zurück.99 Jacobi konnte sich bei seiner unautorisierten Drucklegung fremder Textauszüge auf ein noch unentwickeltes Urheberrecht im 18. Jahrhundert berufen. Erst 1835 verabschiedete bekanntlich der Deutsche Bund ein Gesetz gegen Nachdruck. Dennoch legen zeitgenössische Stimmen gegen Jacobis selbstherrliches Vorgehen Protest ein. Mendelssohn selbst schreibt am 16. 10. 1785 an Kant: Mit welchem Rechte aber man sich jetziger Zeit so allgemein erlaubt, eine Privatkorrespondenz ohne Anfrage u Bewilligung von seiten des Briefschreibenden öffentlich bekannt zu machen, ist mir unbegreiflich.100

Mendelssohn wirft ferner Jacobi einen Vertrauensbruch Lessing gegenüber vor : »Sein [Jacobis, M. B.] Freund legt ein Bekenntniß in seinen Schooß nieder, und er verräth es dem Publikum.«101 Jacobi müsste wissen, so der Vorwurf, dass im 18. Jahrhundert die Brisanz des Themas noch keine öffentliche Diskussion erlaubt. Auch Goethe zeigte sich in Briefen an Jacobi und an Charlotte von Stein befremdet über dessen unabge99 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Darmstadt 2000, S. 125, 234f. 100 Ebd., S. 335; vgl. Kant: Briefwechsel 1747–1788. AA (wie Anm. 14) X, S. 414. 101 Moses Mendelssohn: An die Freunde Lessings. In: ders.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe. Hg. von Christoph Schulte u. a. Darmstadt 2009. Bd. II, S. 348.

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sprochene Veröffentlichung seiner Prometheus-Hymne.102 Den Originalbrief Goethes teilte Jacobi Hamann mit, der seinerseits Verständnis für Goethes Besorgnis zeigte. Hamann erhebt in seiner Abhandlung Golgotha und Scheblimini gegen Mendelssohn den »Vorwurf des heidnischen, naturalistischen, atheistischen Fanatismi« und er ist sich im klaren, dass dieser Vorwurf der »Hauptpunct« des Anstoßes für die Berliner ist.103 Hamann weiß nur zu gut, wie empfindlich seine (ungerechte) Abstempelung von Moses Mendelssohn als fanatischem Atheisten die Berliner Aufklärer getroffen hat.104 Friedrich brachte aus Berlin einen Brief des empörten Biester mit.105 Lessings engster Freund Moses war alles andre als ein Fanatiker oder Atheist. In den Morgenstunden versuchte er, zwei Gottesbeweise vor der Kritik des »alles zermalmenden Kants« zu retten.106 Der erste Gottesbeweis Mendelssohns argumentiert in deutlicher Nähe zur Lettre sur l’homme et ses rapports (1772) von Hemsterhuis aus der Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis und schließt angesichts der Fülle der Welt auf die Notwendigkeit eines unendlichen göttlichen Verstandes. Bei Hemsterhuis tritt als Geschenk Gottes der Glaube ein für die Defizite menschlicher Erkenntnis. Der zweite von Mendelssohn im Disput mit Descartes und Kant akzeptierte Gottesbeweis ist der ontologische: aus der Vollkommenheit des Gottesbegriffs wird auf die Existenz Gottes geschlossen.107 Mendelssohns Werben für Toleranz konnte nicht gründlicher missverstanden werden. In der Vorrede zu Manasse Ben Israel: Rettung der Juden und in Jerusalem plädiert der Verfasser eindringlich für die Anerkennung kultureller und religiöser Vielfalt, für Toleranz.108 Hamann bekennt Jacobi gegenüber, dass ihm bei der Niederschrift seines bösen Verdachts unwohl war109 und vierzehn Tage später verurteilt er selbst den »blinden Angriff« gegen seinen »alten Freund M[endelssohn]«.110 Dieser hatte in den Morgenstunden einen verfeinerten und geläuterten Pantheismus prinzipiell

102 Goethe an Jacobi 26. 9. 1785, an Charlotte von Stein 11.9. 1785, in: J.W. Goethe: Briefe der Jahre 1764–1786. Hg. von Ernst Beutler. Zürich 1965, S. 875, 871. 103 ZH VI, 276,17f (an Friedrich Heinrich Jacobi, 18. Februar 1786), vgl. auch N III, 315. 104 Vgl. N III, 315. 105 Vgl. ZH V, 256,15ff (an Scheffner, 10. November 1784). 106 Moses Mendelssohns Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Berlin 1785. Vorbericht. In: ders.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe Bd. II. Darmstadt 2009, S. 219, 309–322. 107 Ebd., S. 315–322. 108 Ebd., 85, 136, 205. 109 ZH V, 263,28ff (an Jacobi, 14./15. November 1784). 110 ZH V, 270,26 (an Jacobi, 1. u. 5. Dezember 1784).

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für vereinbar mit Religion und Sittenlehre erklärt.111 Was speziell Lessing betreffe, so habe er sich gezielt um die Verbindung pantheistischer Begriffe mit solchen der positiven Religion bemüht.112 Im Übrigen gelte für Lessing, dass er häufig die Lehre von Diskriminierten und Verfolgten verteidigte, selbst wenn er ihr nicht zugetan war.113 Herder ist begeistert, in Lessing durch Jacobis Gesprächaufzeichnung einen Glaubensgenossen seines philosophischen Credo gefunden zu haben.114 Hamann bedauerte mehr und mehr die Ungeheuerlichkeit der Diffamierung Mendelssohns in Golgotha als »beschnittenen Glaubensbruder im Geist und Wesen des heidnischen, naturalistischen, atheistischen Fanatismus«115. Auch über Lessing und Goethes Prometheus-Hymne lässt sich Hamann im Brief an Jacobi vom 1. u. 5. 12. 1784 aus. Hamann ist als einer ihrer ersten Leser von der »Schönheit des Gedichts«116 tief beeindruckt, er kann aus guten Gründen aber nicht Lessings pantheistische Interpretation nachvollziehen.117 Goethe selbst bezieht sich auf die Mythen- und Religionskritik der englischen und französischen Aufklärung. nicht auf Spinoza. Ulrich Gaier hat auf den wichtigen Lukian-Bezug der Hymne aufmerksam gemacht.118 In Hamanns weiteren Ausführungen überrascht zunächst, wie selbstverständlich er Lessings Bekenntnis zum Pantheismus akzeptiert. Kann das Lessings Vermächtnis sein, möchte man fragen, nachdem er sich bis zuletzt intensiv und detailliert mit theologischen Fragen, insbesondere solchen aus der Patristik, und mit Dogmen- und Kirchengeschichte befasst hat? Hamann schreibt: Was Lessing anbetrifft, so beruhigt mich sein letztes Geständnis, vermöge deßen dies sein gewesenes Lieblingssystem, das vermuthl[ich] in seinem Kopf eine ganz andere Gestalt als im Cartesianischen u. Jüdischen gehabt – ihm selbst nichts erklärt hat sondern ihm am Ende nichts mehr als die Substitution einer Formel für die andere zu seyn schien119

Hamann erkannte die Eigenständigkeit Lessings, sein Misstrauen gegenüber erstarrten Systemen und traute seinem Kopf eine andere Prägung des Spinozismus zu »als im Cartesianischen u Jüdischen« System. Leibniz hatte in der Theodizee § 393 den Spinozismus für einen überzogenen Cartesianismus er-

111 112 113 114 115 116 117 118

Mendelssohn: Morgenstunden (wie Anm. 106), S. 345. Ebd., S. 308. Ebd., S. 305. Jacobi: Briefwechsel I/3 (wie Anm. 26), S. 279f (Herder an Jacobi, 6. Februar 1784). N III, 315,18ff. ZH V, 271,19. ZH V, 271. Ulrich Gaier : Vom Mythos zum Simulacrum. Goethes Prometheus-Ode. In: Lenz-Jahrbuch 1 (1991), S. 147–167. 119 ZH V, 271,33–272,1 (an Jacobi, 1. u. 5. Dezember 1784).

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klärt.120 Jacobi zählte seinem Bericht zufolge Spinoza zu den »philosophierenden Cabbalisten« und führte deren Lehre vom »immanente[n] Ensoph« an, was in der Sprache der Kabbala ›ohne Ende‹ bedeute.121 Die terminologischen Klärungsversuche machen für Hamann eine zweite methodische Affinität zu Leibniz sichtbar. Im Kontext seiner sprachphilosophischen Reflexionen zu unterschiedlichen Lektüren der Pantheismusformel kann Hamann einem wertvollen Hinweis von Leibniz nachgehen, der in zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit Spinoza über die Vereinbarkeit von naturwissenschaftlicher Notwendigkeit, Providenz Gottes und menschlicher Freiheit in der Theodic8e (§ 370) zur Erkenntnis gelangte: »daß sich sehr häufig die Schwierigkeiten nur als Wortschwierigkeiten zeigen«.122 Entsprechend verordnet Hamann im Brief an Jacobi vom 1. und 5. 12. 1784 bei philosophischen Problemen eine Sprachtherapie: Die Metaphysik hat ihre Schul- und Hofsprache; beyde sind mir verdächtig […] Daher ich beynahe vermuthe, dass unsere ganze Philosophie mehr aus Sprache als Vernunft besteht, und die Misverständniße unzähliger Wörter […], die gemeinsten Redefiguren des Sensus communis haben eine ganze Welt von Fragen hervorgebracht.123

Wie die Ordinary-Language-Philosophie des 20. Jahrhunderts greift Hamann auf den Common Sense von Begriffen zurück – in der Hoffnung, philosophisch vorbelastete Etikettierungen über die therapeutische Verwendung der normalen Sprache zu klären. Die besondere Prägung des Pantheismus, die Hamann Lessing zutraut, führt ihn auf die Spur von Hemsterhuis. Auch dieser wurde kontrovers nach der jeweiligen Einschätzung Spinozas interpretiert: Hemsterhuis zufolge ist Spinoza kein Atheist. »Für ihn [Hemsterhuis, M. B.] stelle der Spinozismus eine Art Theismus dar«, während er nach Jacobis Einschätzung in die Geschichte des Atheismus gehört.124 Lessing fand in Hemsterhuis »offenbare[n] Spinozismus«.125 Hamann übernimmt Lessings Äußerungen über des »Hemsterhuys System von der Liebe« aus einem Lessingbrief an Jacobi.126 In der Liebe sah Hemsterhuis ein unsichtbares Band der Harmonie, in platonischer Schau ein 120 Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodic8e über die Güte Gottes […]. Hamburg 1996, S. 370. 121 Jacobi: Briefwechsel I/3 (wie Anm. 26), S. 230 (Jacobi an Moses Mendelssohn, 4. November 1783). 122 Leibniz: Theodic8e (wie Anm. 120), S. 357. 123 ZH V, 272,3–9; vgl. Jacobi: Lehre (wie Anm. 99), S. 186. 124 Klaus Hammacher : Hemsterhuis und Jacobi. In: Marcel Franz Fresco / Loek Geeraedts / Klaus Hammacher (Hg.): Frans Hemsterhuis (1721–1790). Quellen, Philosophie und Rezeption. Tagung in Leiden und Münster zum 200. Todestag des niederländischen Philosophen. Niederlande-Studien Bd. 9. Münster 1995, S. 491–525, hier S. 496 und 503. 125 Ebd., S. 72. Fresco u. a. (Hg.): Frans Hemsterhuis (wie Anm. 124), S. 407. 126 Ebd., S. 241.

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verborgenes Weltgesetz des Universums, das von uns die Ausbildung eines moralischen Organs, eines wissenden Einfühlens in die Harmonie verlangt, so in den Dialogen Simon (1780) und Alexis (1782)127. Lessing hat in einem kleinen Dialog Das Testament Johannis die »apokryphische, aber darum nicht weniger göttliche« Quintessenz des Christentums in der johanneischen Formel zusammengefasst: »Kinderchen, liebt Euch!«128 Der Dialog ist im Debattenkontext des Fragmentenstreits entstanden. Auf ihn geht Hamann näher ein, wenn er im nämlichen Brief an Jacobi auf Lessings Hauptgegner Goeze zu sprechen kommt: Wie »urtheilen Sie selbst aber, mein verehrungswürdiger Freund, von des Mannes Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in dem ganzen Handel über die Fragmente? Hat nicht der Hamb.[urgische] Oelgötze bey aller seiner Dummheit im Grunde Recht gehabt? Läst sich wohl mit dem panischen System im Kopf ein christlich Vaterunser beten? Lag nicht im Eifer des unglücklichen Mannes, Feindschaft gegen das Christentum auf dem Boden? War’s die Rolle eines christl[ichen] Philosophen, deßen Maske er brauchte, oder eines Heuchlers und Sophisten, die er spielte?«129

Den Hauptpastor an der Katharinenkirche in Hamburg mit dem Spitznamen »Großinquisitor«, hat Lessing zur komischen Figur gemacht. Hamanns Zweifel, ob Goeze dies verdiene, erscheinen uns heute nicht unberechtigt. Goeze bekämpfte liberale Neologen, die die Bibel als profanes historisches Dokument behandelten und bestand auf der Verbalinspiration der Hl. Schrift, während für Lessing der Buchstabe der Bibel weniger wichtig war als ihr Geist. Er unterstrich – skandalös für die protestantische Orthodoxie – die Bedeutung der mündlichen Tradition vor Aufzeichnung der Evangelien. Lessing setzte für seine Argumentation im Streit gekonnt literarische und rhetorische Stilmittel ein: Ironie, Satire, Gleichnisse, insgesamt eine »Theaterlogik«, die sich schwer fixieren ließ und seine Aussagen immunisierte. Goeze war im Übrigen weniger fanatisch als oft behauptet; er wandte sich z. B. gegen Gewissenszwang. Ja, Lessing selbst hatte früher auf Seiten Goezes gegen junge Neologen gestanden. Helmut Thielicke und der Germanist Peter Michelsen haben gleichfalls eine Lanze für Goeze gebrochen.130 Lessings elastischer Spinozismusbegriff und seine dialektische Gewandtheit verhinderten exakte Festlegungen auf das »panische System« und 127 Frans Hemsterhuis: Simon oder von den Kräften der Seele. In: ders.: Vermischte Philosophische Schriften II. Leipzig 1782, S. 314. Ders.: Alexis oder Von dem goldenen Weltalter. Übers. von F.H. Jacobi. Riga 1787, S. 48. 128 Gotthold Ephraim Lessing: Werke in 8 Bd. Hg. von Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1970, Bd. VIII, S. 17f. 129 ZH V, 274,19–26. 130 Vgl. Helmut Thielicke: Lessing und Goeze. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur H. 26/ 27. Lessing contra Goeze. Stuttgart 1970, S. 39–52. Peter Michelsen: Der Streit um die christliche Wahrheit. Lessing, mit den Augen Goezes gesehen. In: Lessing Yearbook/Jahrbuch 25 (1994), S. 1–24.

Freundschaftliche Strafgerichte

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seine Losung des »Hen kai pan«. Lessing provozierte im Gespräch mit Jacobi, als er wahrnahm, dass dieser ›Spinozismus‹ mit Atheismus und Fatalismus gleichsetzte. Er übernahm die Rolle des »advocatus diaboli«, machte in der Konversation ironische Einwürfe und stellte insgesamt mehr Fragen als sich in Antworten genauer festnageln zu lassen. Mendelssohn, der Lessing besser als Jacobi kannte, billigte seinem verstorbenen Freund einen »verfeinerten Pantheismus« zu, womit ein Panentheismus gemeint war : Welt und Gott gelten nicht als identisch; sondern bilden nur eine Schnittmenge, alles auf der Welt ist in Gott enthalten. Die Kluft, die Jacobi zwischen rationaler Erklärung und der für die Ratio unzugänglichen Zone religiöser Wahrheit annahm, warf für Lessing einen allzu breiten Graben auf. Über ihn hinweg half sich Jacobi mit einem bravourösen »Salto mortale«, während Lessing den Sprung seinen »alten Beinen« und seinem »schweren Kopf nicht mehr zumuten« wollte.131 In einem Brief an Hamann vom 16. 6. 1783 geht Jacobi angesichts der Hilflosigkeit Woldemars in seinem gleichnamigen Roman auf die Intentionen des Erzählers ein. Er wollte »in der edelsten Philosophie […] das große Loch, das ich selbst darin gefunden habe, zeigen […] dieses ungeheure Loch« habe er nur noch als einen »finstern Ungeheuern Abgrund« vor sich gesehen.132 Schon im Fragmentenstreit hatte Lessing in einer anderen Konstellation – es ging um die Unterscheidung notwendiger Vernunftwahrheiten von kontingenten Geschichtswahrheiten gegenüber dem Neologen Schumann – von einem »garstigen breiten Graben« gesprochen, über den er nicht kommen könne.133 Dieser Abgrund bleibe zwischen Philosophie und Glaube rational nicht zu überbrücken. Hamann bestätigt dies in seiner Antwort vom 2. und 22. 11. 1783 mit einem Verweis auf Pascal, der die relative Stellung des Menschen paradox als ein Nichts gegenüber dem Universum und als ein All, einen Kosmos in der mikroskopischen Welt sieht.134 Da dem Menschen hier nichts weiterhilft als ein mutiger Salto mortale, wagt ihn Hamann nach alter Familiendevise135, während Goethe und Lessing Luftsprüngen zur Begründung der Religiosität nichts abgewinnen können.136 Auch Mendelssohn äußert sich skeptisch: Lessing habe »Miene«

131 So berichtet Jacobi: Lehre (wie Anm. 99), S. 36. 132 Jacobi: Briefwechsel I/3 (wie Anm. 26), S. 163f. 133 Lessing: Über den Beweis des Geistes und der Kraft. In: Werke (wie Anm. 129) Bd. VIII, S. 11f. 134 ZH V, 94,27f (an Friedrich Heinrich Jacobi); vgl. Blaise Pascal: Pens8es. Hg. von L8on Brunschvicg. Paris 1972, Nr. 72, S. 28f. 135 ZH VI, 165 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 30.11–3. 12. 1785). 136 Goethe an Herder : »der gute Fritz ist glücklicher andrer Leute Meynungen als seine eigne anschaulich zu machen. Die Stellen wo er seinen Salto mortale produzirt sind nichts weniger als einleuchtend.« (21. 10. 1785, Goethe: Briefe [wie Anm. 102], S. 880). Goethe distanziert sich von Jacobi, hält Spinozismus und Atheismus für zweierlei Dinge. Goethe hält

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gemacht, »gleichsam über sich selbst hinauszuspringen« und sei »eben deswegen nicht von der Stelle« gekommen; ein »Sprung über sich selbst hinaus«, also etwas anzunehmen, das »völlig außer dem Begriffe liegt«, erscheint ihm ebenso unmöglich wie sinnlos.137 Hamann deutet das Bild des Luftspringers anders: Er traut der Vernunft lediglich die Erkenntnis von Irrtümern zu, nicht die Weglenkung zur Wahrheit. Sein Kompass bleibt die Sprachphilosophie. Nachdem er die Spekulationen über die Sagbarkeit des Unsagbaren aufgegeben habe, halte er sich an das sichtbare Element der Vernunft: die Sprache. »Ohne Wort, keine Vernunft – keine Welt«138 Hamann, der Maskenspieler, verstand Lessings Rollenspiel möglicher Weise besser als Jacobi. Der Magus von Norden berichtet einmal von einer Fast-Begegnung mit Lessing: Was L[essing] betrifft, so bin ich beynahe überzeugt ihn persönl[ich] etwa zur Fastenzeit 57 in Amsterdam auf einem öffentl[ichen] Concert gesehen zu haben. Ich hatte eine Unruhe den Mann anzureden, dass ich ihn nicht aus den Augen ließ und beym Ausgange noch einige Straßen verfolgte, aber zu blöde war auf eine bloße Ahndung ihn u mich in Verlegenheit zu setzen.139

Lessing hielt sich Ende Juli 1756 in Amsterdam auf. Er plante mit Winkler eine Europareise. Sie musste bald abgebrochen werden, denn Ende August brach der Siebenjährige Krieg aus und zwang Lessing zur Rückkehre nach Leipzig. Etwas von der Unruhe, die Hamann bei der fiktiven Begegnung mit Lessing verspürte, sollte bei der Begegnung mit Hamanns Briefpartnern auf unsere Tagung überspringen.

sich »an die Gottesverehrung des Atheisten«; statt schlicht zu glauben, bevorzuge er das Schauen (Goethe an Jacobi, 5. Mai 1786, ebd., S. 924). 137 Jacobi: Lehre (wie Anm. 99), S. 186. 138 ZH V, 95,21 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 2.–22. November 1783). 139 ZH V, 274,14–19 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 1.–5. Dezember 1784).

Ulrich Gaier (Konstanz)

Dialogische Vernunft. Hamanns Briefe und Briefpublikationen

Der Brief als Form der Mitteilung hat im 18. Jahrhundert eine erstaunliche Konjunktur nicht nur im privaten Bereich, für den unzählige Briefsteller, Briefromane und sogar der Leipziger Professor für Poesie, Eloquenz und Moral Christian Fürchtegott Gellert mit seiner Praktische[n] Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen Anleitung zu geben suchten, sondern auch bei Gelehrten: von Alexander Gottlieb Baumgartens Briefen des Aletheophilus über Mendelssohns Briefe über die Empfindungen, Lamberts Kosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaus bis zu Herders Briefen zu Beförderung der Humanität oder Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Nicht zu vergessen sind in Frankreich Diderots Lettre sur les aveugles / l’usage de ceux qui voient und Lettre sur les sourds-et-muets / l’usage de ceux qui entendent et qui parlent oder Lockes Epistola de tolerantia und Swifts Drapier Letters. Was bedingt diese Konjunktur? Die Gründe liegen in der erkenntnistheoretischen Opposition des 17. Jahrhunderts zwischen Rationalismus und Empirismus, zwischen Descartes’ eingeborenen Ideen und Lockes tabula rasa, vermittelt durch Leibniz’ neuplatonische Monadologie. Geht man cartesisch von der gegebenen Einheit der Vernunft aus und strebt quasi absolutistisch eine Vereinheitlichung des Denkens aller Menschen an, so heißt es bei Locke quasi demokratisch im Einleitungsbrief zum Essay concerning Human Understanding: We have our understandings no less different than our palates; and he that thinks the same truth shall be equally relished by every one in the same dress, may as well hope to feast every one with the same sort of cookery.1

Wenn es auch »the same truth« gibt, so sind doch unsere »understandings« unterschiedlich ausgerüstet (»fitted«), mit ihr umzugehen.2 Bei Leibniz ist die 1 John Locke: An Essay concerning Human Understanding. Abridged and edited by Raymond Wilburn. London 1947, S. XXI. 2 Ebd., S. XX.

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Individualität in der Einheitlichkeit darin begründet, dass jede Monade die ganze Welt, aber aus einem individualisierenden Gesichtspunkt, in sich trägt. Jede der hier angedeuteten Grundpositionen hat Konsequenzen für die Verständigung: der Cartesianer verlangt Einheit und Konformität des Partners mit seinen wohlbegründeten Einsichten, Locke strebt Plausibilität der Erfahrung an – »I have taken some pains to make plain and familiar to their thoughts some truths which established prejudice, or the abstractedness of the ideas themselves, might render difficult«3 – Leibniz entwirft Konjekturen und Bildvorstellungen, die durch ihren denkrhetorischen »Ausdruck« auf die Partner wirken.4 Sein Gleichnis von den zwei gleichgebauten ganggenauen Uhren (des Körpers und der Seele)5 wird auch für Hamann interessant: Descartes fand keine Lösung für die Wechselwirkung zwischen res extensa und res cogitans; Spinozas Konzept konnte durch die Uhr mit zwei Zifferblättern, das okkasionalistische durch den geschickten Mechaniker vorgestellt werden, der in jedem Moment den Gleichlauf der beiden Uhren gewährleistet. Leibniz sicherte sowohl Gleichlauf wie Unabhängigkeit der Uhren durch Annahme selbständiger genau gebauter Uhrwerke, die sowohl jeweils den eigenen Gesetzen wie auch der prästabilierten Harmonie des Ganzen folgen, welche allerdings aufgrund der notwendigen Mängel der Welt störanfällig ist. Einen Schritt weiter gehen die Empiristen, etwa Alexander Pope im Essay on Criticism: ’T is with our judgments as our watches, none Go just alike, but each believes his own.6

Die literarischen Formen der Mitteilung sind auf rationalistischer Seite der demonstrierende Traktat, die Abhandlung, auf empiristisch-individualistischer Seite im Extrem die Aphorismen der französischen Moralisten oder Lichtenbergs und die Fragmente Novalis’ oder Friedrich Schlegels. Dazwischen liegen die Formen des auf Verständigung verschieden Denkender gerichteten Briefs, des Essays, des Discours oder der Rede, bis hin zur Rhapsodie bei Mendelssohn und Hamann. Auch hinsichtlich des Uhrengleichnisses finden wir Hamann bei den empirischen Individualisten – er machte seinem Freund Kant deutlich, dass er nicht dümmer war, sondern anders dachte: 3 Ebd., S. XXI. 4 Ulrich Gaier : Rhetorisierung des Denkens. In: Stefan Metzger / Wolfgang Rapp (Hg.): homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik. Tübingen 2003, S. 19–31, bes. S. 27f. 5 Abgedruckt in einem Brief Leibniz’ an den Herausgeber der Histoire des Ouvrages des Savants, 1695 von diesem veröffentlicht. Vgl. z. B. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Hauptwerke. Zusammengefasst und übertragen von Gerhard Krüger. Stuttgart 31949, S. 105. 6 Alexander Pope: Essay on Criticism, V. 9f, zitiert bei Christian Fürchtegott Gellert: Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Vorrede. Sämmtliche Schriften. Bd. 4. Leipzig 1769, S. VIII.

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Nicht Ihre Sprache, nicht meine, nicht Ihre Vernunft, nicht meine: hier ist Uhr gegen Uhr. Die Sonne aber geht allein recht; und wenn sie auch nicht recht geht, so ist es doch ihr Mittagsschatten allein, der die Zeit über allen Streit eintheilt.7

In diesen Empirismus spielt nicht nur die Lektüre von Popes Essay herein, sondern Hamanns Aufenthalt in England 1756–58 und das Studium Humes, von dessen skeptischer Erkenntnistheorie er Herder, Jahre später erst Kant, überzeugte. Folge dieser Lehre von Vernunft gegen Vernunft, Uhr gegen Uhr ist die dialogische, adressierte Anlage aller Schriften Hamanns, meist in der literarisch stilisierten Form des Briefs, und die besondere Bedeutung, die er dem Briefgespräch mit Freunden zumisst. Wir beleuchten in gebotener Kürze diese Positionen im Einzelnen aus Hamanns publizierten Schriften und einigen Briefen und behandeln zunächst Hamanns Abwertung der Menschenvernunft, ihre Geteiltheit, die Notwendigkeit ihrer Bereicherung im Dialog, dann die Rollen des Rezipienten und des Produzenten, endlich den Logos als Ziel der dialogischen Vernunft.

Die »Schalkheit« der Vernunft Seit den Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759) und der Aesthetica in nuce (1762), die unter anderem als Antworten auf Versuche z. B. Kants zu verstehen sind, den in London religiös gewordenen Hamann wieder zur Aufklärung zurückzubekehren, verschärfen sich die Angriffe auf das Konzept der Einheit der Vernunft bis zum Höhepunkt in der Mitte der 1780er Jahre. Hamann beklagt zunächst die Verstümmelung der »durch Sinne und Leidenschaften« wirkenden Natur durch die »mordlügnerische Philosophie« mit ihren begrifflichen Abstraktionen;8 statt der Aufklärung des Verstandes klagt er die höhere Aufklärung des Logos und ganzen Menschen ein.9 Nachdem er sich mit seinem Schüler Herder wegen dessen als einseitig rationalistisch verstandener Abhandlung Über den Ursprung der Sprache versöhnt und das Missverständnis seiner Angriffe in mehreren Schriftchen eingesehen und eingestanden hatte, ärgerte ihn die der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1789/90 von Friedrich II. aufoktroyierte Preisfrage »Est-il utile au peuple d’Þtre tromp8?«10 Der aufgeklärte Monarch wollte sich damit die allgemeine und auch der Akademie auf7 ZH I, 451,27–30. 8 N II, 206,1.4. 9 Ulrich Gaier : Gegenaufklärung im Namen des Logos: Hamann und Herder. In: Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, S. 261–76. 10 Hans Adler (Hg.): Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au peuple d’Þtre tromp8? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007.

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erlegte Zensur rechtfertigen lassen. Hamanns Empörung war grenzenlos, als Kant sich mit seiner Schrift: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? im Dezember 1784 auch noch zum König schlug und zynisch die von oben verordnete Unmündigkeit als selbstverschuldet anprangerte. Keineswegs, so schrieb Hamann gleich darauf an den gemeinsamen Königsberger Bekannten Prof. Kraus, überließen sich die Untertanen dieses Königs entschlusslos und denkfaul der Leitung eines Vormunds: Worinn besteht nun das Unvermögen oder die Schuld des fälschlich angeklagten Unmündigen? In seiner eigenen Faulheit und Feigheit? Nein, in der Blindheit seines Vormundes, der sich für sehend ausgiebt, und eben deshalb alle Schuld verantworten muß. Mit was für Gewißen kann ein Raisonneur u Speculant hinter den Ofen und in der Schlafmütze [Kant, U.G.] den Unmündigen ihre Feigheit vorwerfen, wenn ihr blinder Vormund [Friedrich II., U.G.] ein wohldisciplinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen seiner Infallibilität und Orthodoxie hat, […] [nämlich eine Gendarmerie von, U.G.] selbst unmündigen aber mit couteaux de chasse und Dolchen versehnen Vormünder,11

die die »Infallibilität und Orthodoxie« des Königs mit Gewalt schützen und die gewährleisten, dass der Unmündige auf dem Thron und der sich selbst in der Öffentlichkeit unmündig stellende Kant sich nicht irren können und immer Recht haben. Über Kants »Distinction zwischen dem öffentl. und privat Dienst der Vernunft«,12 also die Rechtfertigung der Zensur und der »Vormünder, die höchstens den Leib tödten und den Beutel aussaugen können«13 kann Hamann nur sarkastisch lachen. Es ist die Dialektik der Aufklärung und vor allem der aufgeklärten Monarchie, die die Menschen von Vorurteil und Glauben frei machen will, ihnen zugleich Freiheit des Selbstdenkens verbietet und sie zur blinden Ausführung des vom Herrscher für vernünftig Gehaltenen zwingt. Das erstaunlichste Monstrum der modernen Gesellschaft, so Hamann14 in dem offenen Brief Au Salomon de Prusse »est un esclave, qui pense librement«.15 Suffisant macht er darauf aufmerksam, dass der Prediger »avtomatischer«16 Vernunft Rebellion und Insubordination predige,17 dass er über Religion richte18, aber in poetischer Anthropomorphie die Vernunft vergöttere,19 dass sie unter der petitio principii ihrer Allgemeinheit und Einheit durch willkürliche Setzungen alles vereinheitliche und gleichschalte: die Sprache vom Buchstaben 11 12 13 14 15 16 17 18 19

ZH V, 290,20–27; 291,6f. ZH V, 291,29. ZH V, 291,26f. Den Ausdruck übernimmt er aus den Nouvelles Lettres Persannes. N III, 58,3. N III, 31,15. N III, 193f. N III, 94,29. N III, 105.180.225.

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h bis zur Einebnung von Er, Sie und Es, die Religionen, die Vernunft selbst in ihrer Geteiltheit und Vielfältigkeit.20 Dagegen weist Hamann den Verfechtern der allgemeinen, einen, gesunden Menschenvernunft die Dehnbarkeit ihrer Begriffe und Setzungen nach und fragt: »Ist eure Menschenvernunft kein unbestimmtes Organ, keine wächserne Nase, kein Wetterhahn« der sich nach der »Mehrheit der Stimmen und Heller« dreht?21 Die Gesundheit der Vernunft ist der wohlfeilste, eigenmächtigste und unverschämteste Selbstruhm, durch den alles zum voraus gesetzt wird, was eben zu beweisen war, und wodurch alle freye Untersuchung der Wahrheit gewaltthätiger als durch die Unfehlbarkeit der römisch-katholschen Kirche ausgeschloßen wird.22

Was Hamann angreift, ist die Vorstellung der einen allgemeinen absoluten und absolutistisch durchgesetzten Vernunft. Auch Kants Kritik der reinen Vernunft besteht »in dem theils misverstandenen, theils mislungenen Versuch, die Vernunft von aller Ueberlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen. Die zweite [»Reinigung« der Philosophie, U.G.] ist noch transcendenter und läuft auf nichts weniger als eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltäglichen Induction hinaus […]. Der dritte höchste und gleichsam empirische Purismus betrift also noch die Sprache, das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum.«23

Drei Gegenpositionen baut er hier zu Kant auf: die Bildung der Vernunft und ihrer Begriffe durch Tradition, zweitens die ständige Umbildung der Begriffe durch Erfahrung und induktive Revision der bisherigen Erkenntnis, drittens die Lenkung der Vernunftbegriffe durch die von Tradition und gesellschaftlichem Gebrauch gestaltete und umgestaltete Sprache; das sind drei Argumente zur Geschichtlichkeit, Teilbarkeit und individuellen Geteiltheit der Vernunft. Kant wird dies hinsichtlich seiner Kritik der reinen Vernunft wenig berührt haben, ging es ihm doch um die Formen der Wahrnehmung und des Erkennens und nicht um die Inhalte der Erkenntnis. Wie Hamann sich deshalb Herders Metakritik an der Zweistämmigkeit der Erkenntnis und der Transzendentalphilosophie anschloss, wie er mit dem lang benagten »Markknochen«-Satz »Vernunft ist Sprache Kocor«24 die These von der prinzipiellen Sprachlichkeit der Vernunft verschärfte, brauche ich hier nicht wieder aufzufächern.25 20 21 22 23 24 25

N III, 97.179. N III, 107,8.18. N III, 189,18–22. N III, 284,7–26. ZH V, 177,18. Ulrich Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 183–209; ders.: Hamann und Herder – eine philosophische Alternative zu Kant? In:

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Denkungsarten Für die Geteiltheit der Vernunft verwendet Hamann als Gegenbegriff zur einen allgemeinen Vernunft gern den Begriff der »Denkungsart«, welche wiederum einen »Einfluß in die Sprache« hat – übrigens spricht auch Kant hinsichtlich seiner Kopernikanischen Wende von »Umänderung der Denkungsart«.26 Individuell und gesellschaftlich entsteht und wandelt sich eine Denkungsart mit den äußeren Bedingungen: Wenn unsere Vorstellungen sich nach dem Gesichtspunct der Seele richten, und dieser nach vieler Meynung durch die Lage des Körpers bestimmt wird; so läßt sich ein gleiches auf den Körper eines ganzen Volkes anwenden. Die Lineamente ihrer Sprache werden also mit der Richtung ihrer Denkungsart correspondiren; und jedes Volk offenbart selbige durch die Natur, Form, Gesetze und Sitten ihrer Rede eben so gut als durch ihre äußerliche Bildung und durch ein Schauspiel öffentlicher Handlungen.27

Der alte Etrusker Ennius habe »mit einem dreyfachen Herzen« geprahlt, weil er Griechisch, Oskisch und Lateinisch sprach, denn »Jede Sprache fordert eine Denkungsart und einen Geschmack«, »Wer in einer fremden Sprache schreibt, der muß seine Denkungsart, wie ein Liebhaber, zu bequemen wissen«.28 Hans Graubner hat auf das Projekt der Kinderphysik hingewiesen, das Kant Hamann 1759 vorschlug und wieder aufgab, als dieser ihm in seinen zwei »Liebesbriefen« klarmachte, er halte es offenbar für eine Kleinigkeit, »sich in ein Kind zu verwandeln«. »Fontenellischer Witz und eine buhlerische Schreibart« würde »an Kindern die Majestät ihrer Unschuld beleidigen«; man müsse vielmehr »mit einer freywilligen Entäußerung aller Überlegenheit an Alter und Weisheit, und mit einer Verläugnung aller Eitelkeit darauf anfangen […]. Nun prüfen Sie sich, ob Sie so viel Herz haben, der Verfasser einer einfältigen, thörichten und abgeschmackten Naturlehre zu seyn? Haben Sie Herz, so sind Sie auch ein Philosoph für Kinder.«29 Kant hätte hier seinen Begriff von der Allgemeinheit der Vernunft, genau genommen auch von den Formen der Wahrnehmung und der Verstandeserkenntnis inclusive der transzendentalen Synthesis der Apperzeption aufgeben müssen, wenn er 1759 seine Philosophie schon so weit entwickelt hätte. Hamann wiederholt seine Argumente in den Fünf Hirtenbriefen das Schuldrama betreffend. Die gesunde Vernunft mag »das tägliche Brodt aller Weltweisen und Kunstrichter vorstellen«; Säuglinge, Melancholiker und Halb-

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Tilman Borsche (Hg.): Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre. München 2006, S. 103–125. KrV B XXIII. N II, 122,25–32. N II, 126,31.30.9f. N II, 371f, 371,29, 372,9.15–21.

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götter brauchen jeweils ihre besondere Nahrung. Mehrfach verwendet Hamann das rhetorisch-theologische Konzept der »freywilligen Entäußerung«, der Herunterlassung Gottes um der Erträglichkeit seiner Offenbarung für die Menschen willen. Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist GOttes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, sich eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist. […] Wenn also die göttliche Schreibart auch das alberne – das seichte – das unedle – erwählt, um die Stärke und Ingenuität aller Profanscribenten zu beschämen: so gehören freylich erleuchtete, begeisterte, mit Eyfersucht gewaffnete Augen eines Freundes, eines Vertrauten, eines Liebhabers dazu, in solcher Verkleidung die Strahlen himmlischer Herrlichkeit zu erkennen. DEI Dialectus, Soloecismus.30

Es ist die communicatio idiomatum, ein theologischer Begriff für die paradigmatische Wechselbeziehung zwischen Mensch und Gott in Jesus dem Christus und Sohn Gottes, zweier »Dialecte« Gottes, der auch in Natur, Geschichte und heiligen Schriften spricht.31 »Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung.«32 Sie ist zugleich der Hauptschlüssel zu Hamanns Werk in veröffentlichten und privaten Briefen. Machen wir uns den Gedankengang noch einmal klar : Wenn die Vernunft materialiter historisch ist und ihre Begriffe wie »Münzen nach Ort und Zeit wandelbar« sind, wenn sie formaliter nach Hume eine mesokosmische Übereinkunft nach der Mehrheit der Stimmen und oft genug auch »der Heller«, d. h. Besitzverhältnisse ist, die für Kinder, Melancholiker, Genies nicht gilt, wenn es also keine eine, allgemeine und reine Vernunft gibt, hat prinzipiell jeder Mensch, jede Gesellschaftsgruppe und Nation ihre eigene Denkungsart und Sprache. Sie speist sich aus der Lage des Körpers und Volkskörpers, aus der Vielfalt der sinnlichen Anregungen und Herausforderungen für ihre Bewältigung, so dass die »gemeine[.] Volkssprache das schönste Gleichnis für die hypostatische Vereinigung der sinnlichen und verständlichen Naturen, den gemeinschaftlichen Idiomenwechsel ihrer Kräfte« gibt,33 also die communicatio idiomatum innerhalb des Individuums über die Nation bis hin zur Schöpfung. Nun spricht Gott mehrere Dialekte, und entsprechend kann nicht nur Ennius drei Sprachen und ihre Denkarten, ja tria corda haben, sondern auch innerhalb einer Sprache gibt es einerseits den Sprachgebrauch, dem Hamann mit einem 30 31 32 33

N II, 171,4–17. N II, 204,8. N III, 27,11–14. N III, 287,17–19.

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Horaz-Zitat immanente (Vor-)Urteile, Rechtsvorstellungen und normierte Hermeneutik zutraut34 und damit die ordinary language philosophy vorwegnimmt, der aber andererseits durch »freywillige Beyträge« ausgebildet werden kann.35 Ein Kopf, der auf seine eigene Kosten denkt, wird immer Eingriffe in die Sprache thun; ein Autor hingegen auf Rechnung einer Gesellschaft, läßt sich die ihm vorgeschriebene Worte wie ein Miethsdichter die Endreime (bouts-rim8s) gefallen, die ihn auf die Gleise derjenigen Gedanken und Meynungen bringen, so sich am besten schicken.36

Hamann, von den Zeitgenossen wegen seiner »Eingriffe in die Sprache« attackiert und verlacht, hat sich hier als selbstdenkender Kopf verteidigt; der allgemeine Sprach- und der allgemeine Vernunftgebrauch sind nach seiner Argumentation Durchschnitts-Normierungen, die sich mit der Zeit wandeln und von denen in jedem Einzelgebrauch abgewichen werden kann, wenn auch unter Androhung gesellschaftlicher Sanktion und der Gefahr, nur schwer verstanden oder missverstanden zu werden.

Rezipienten im Dialog Hier sind wir bei den Chancen und Problemen dialogischer Vernunft. Die Chancen liegen darin, dass sie Lernen ermöglicht, weil »der Reichthum aller menschlichen Erkenntnis […] auf dem Wortwechsel« beruhet37 und »Sprache und Schrift die unumgänglichste Organa und Bedingungen alles menschlichen Unterrichts« sind.38 Probleme aber entstehen durch die prinzipielle Individualität der Vernunft bei jedem Teilnehmer am Dialog, sowohl im rezeptiven wie im produktiven Sinn. Lernen geschieht weder rein aktiv noch rein passiv, weder durch Erfindung noch durch Wiedererinnerung, vielmehr dadurch, dass »jeder Lehrling zu seinem Unterrichte mitwirkt nach Verhältnis seiner Neigung, Fähigkeit und Gelegenheiten«.39 Die Antwort eines Unbekannten »Ich spiele nicht« auf das Angebot eines Kartenspiels »würden wir […] entweder auslegen müssen, daß er das Spiel nicht verstünde, oder eine Abneigung dagegen hätte, die in oekonomischen, sittlichen oder andern Gründen liegen mag«, oder seine Ablehnung ließe sich ergänzen: »Ich spiele nicht, nämlich, mit solchen als ihr seyd,

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VSVS Quem penes arbitrium est et ius et norma legendi (Horaz A.P. 71f). N III, 234,15. Dort auch das Horaz-Zitat (N III 234,20f). N II, 126,12–16. N II, 129,5f. N III, 130,6f. N III, 41,9f.

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welche die Gesetze des Spiels brechen und das Glück desselben stehlen.«40 Unkenntnis, Abneigung gegen das Spiel, Misstrauen oder Ablehnung der Spielpartner sind mögliche Auslegungen der Antwort des Fremden, mithin mutmaßende Ergänzungen seiner Aussage unsererseits. Wir könnten um Bestätigung einer der Alternativen bitten und wären zufrieden, wenn sein und unser Beitrag zu dem gemeinsamen Vernunftprodukt, d. h. seine Antwort und unsere Auslegung, chemisch sozusagen das entstandene Molekül von dialogischer Vernunft, eine größere Festigkeit hätte als die bloße Mutmaßung. Hamann verwendet das Beispiel zum Verständnis von Sokrates’ Satz »Ich weiß nichts« gegenüber den Sophisten und erklärt sich daraus deren Zorn auf den Philosophen, der ihre zweifelhaften Argumentations- und Beweisverfahren als solche nicht anerkennen und dabei nicht mitspielen wollte. Denn »Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung«, Glaube wie etwa »[u]nser eigen Daseyn und die Existentz aller Dinge ausser uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden«: »Der Glaube ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angrif derselben unterliegen.«41 Die Skepsis gegenüber den Leistungen der Vernunft dringt hier wieder durch, wie ja die »Erkenntnißkräfte […] den zufälligsten und abstractesten modum unserer Existenz ausmachen«.42 Beleg für diese Unzulänglichkeit und zugleich Bereicherung durch den erkenntnisfördernden »Wortwechsel« sind bei einem geäußerten Satz »unendlich viel Nebenbegriffe, welche ihm die geben, so ihn annehmen«,43 die im wortwechselnden Dialog zutage gefördert werden und eine höhere gemeinsame Vernunftleistung erzeugen.

Produzenten im Dialog Zur dialogischen Vernunft tragen natürlich auch die Produzenten bei, denn »Schriftsteller und Leser sind zwo Hälften, deren Bedürfnisse sich aufeinander beziehen, und ein gemeinschaftliches Ziel ihrer Vereinigung haben, wo Fülle und Hülle, Blöße und Hunger vier Räder, und Rad im Rade ein einziges Rad sind«.44 Diese Anspielung auf die Hesekiel-Vision (Ez 1,16; 10,9f) weist darauf, dass durch die Vereinigung von Produzent und Rezipient mit ihren unterschiedlichen Begriffen, Denkarten und Sprachen eine höhere Form der Einsicht entsteht, die bei Hesekiel als »Herrlichkeit des Herrn« zu dem auserwählten Menschenkind spricht (Ez 1,28; 2,1; 11,2). Ähnlich wie die Rezipienten durch ihre Nebenbe40 41 42 43 44

N II, 72,19–22.31ff. N II, 73,10.21f; 74,2f. N III, 191,32ff. N II, 72,7f. N II, 347,22–25.

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griffe und Auslegungen die Vernunft-Vorgabe des Produzenten nur als Hälfte einer höheren Einsicht nehmen, sie für sich auslegen und gegebenenfalls bereichert oder missverstanden zurückstrahlen, so haben wir in Bezug auf Kinderphysik, Schuldrama und Weltschöpfung gesehen, wie der Produzent sich um des Rezipienten willen entäußert und herablässt, um ihn nicht zu überfordern. Generell muss ein Autor sich nach seinem Publikum richten; wenn es ein Pfau ist, muss er sich in seine hässliche Stimme und unansehnlichen Beine »verlieben«; oder er gibt sich wie Zeus auf Abwegen die Gestalt eines Kuckucks, wenn er ein Magus ist und die Antike liebt wie Hamann. Und macht sich ein Bild: Die Idee des Lesers ist die Muse und Gehülfin des Autors; die Ausdehnung seiner Begriffe und Empfindungen der Himmel, in den der Autor die Idee seines Lesers versetzt und in Sicherheit bringt.45

Nach diesem Bild vom Leser wählt der Autor wie Gott in Schöpfung, Geschichte und Schriften seinen »Dialekt«, der wie bei Gott in vielen Fällen wegen der nötigen Entäußerung »Soloecismus« ist, d. h. Knechtsgestalt der Offenbarung, notwendige Ironie, wie sie Friedrich Schlegel und Hölderlin46 später zum Prinzip ihrer Poetik machten. Hamann seinerseits inszeniert in den publizierten Schriften durch ihre Brief- und Anredegestalt mit der Annahme von Rollenfiguren des Autors und damit Rollenzuteilungen an den Leser die besprochenen Bedingungen des Dialogs und nötigt ihn zur vielfachen Auslegung im Dienst dialogischer Vernunft: der Rezipient hat ja wie in einem Dramentext zwei charakterisierte Figuren und den zwischen ihnen wechselwirkenden Text vor sich und muss die Konsistenz der Figuren mit sich selbst und diejenige des Textes mit den Figuren im Auge behalten. Dann sind die Figuren mit bestimmter Absicht gewählt und stellen den ganzen Text wie auch jede Einzelaussage unter die Perspektive dieser Absicht, wie zum Beispiel in der Aesthetica in nuce ein »Rabbi« und »Meister in Israel« angeredet wird,47 jedoch von einer »Nuss«, die kabbalistisch das Kern-Schale-Problem personifiziert. Hinter der anthropomorphen Nuss steckt Hamann, hinter dem angeredeten Meister der Orientalist Johann David Michaelis, der einen wichtigen Kommentar zu Robert Lowths Werk De sacra poesi Hebraeorum geschrieben hatte. Durch diese Realbeziehung der Rollenfiguren referiert wiederum jede Aussage des Anrede-Textes, die Wahl 45 N II, 348,10ff. 46 Friedrich Schlegel und Hölderlin verwenden den schon in sich ironischen Begriff der »notwendigen Willkür«; Schlegel für das prometheische »Geheiß« an den Geist der Liebe, seine durch Katabasis erzeugten Tonfiguren zu beleben (Werke in zwei Bänden. Hg. von Wolfgang Hecht. Berlin/Weimar 1980, S. 159); Hölderlin sieht die »nothwendige Willkühr des Zevs« als Anfang der »wirklichen Trennung« als der in der Tragödie wiederholten Schöpfung (Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. München 1992. Bd. 2, S. 106). 47 N II, 201,18–23.

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der Figuren und ihres Bezugs zueinander auf Hamann und Michaelis, deutet deren Verhältnis allegorisch und wird zur kaum lösbaren Auslegungs-Aufgabe für den Leser. Hamanns Privatbriefe kommen im Allgemeinen ohne den »künstlichen Unsinn seiner Schreibart«48 aus, denn hier kennen Absender und Empfänger einander. Man kann dennoch Nadler nicht zustimmen, wenn er meint: »Der Briefschreiber Hamann ist eine ganz andere Erscheinung als der Schriftsteller. Sein Briefstil ist sein organisch weiterentwickelter Jugendstil und läuft vom Stil seiner Schriften in einem rechten Winkel ab.«49 Christina Reuter sieht die Briefgespräche dagegen als Begleitung und Fortsetzung: »Neben dem eher öffentlichen, vermeintlich anonymen Gespräch Hamanns mit seinen Zeitgenossen in Form von publizierten Schriften, führt er zusätzliche, intensive und ergänzende Dialoge in Briefform mit sehr vielen der am Zeitgespräch Teilnehmenden.«50 Das Ziel der höheren dialogischen Vernunft ist aufgrund der nicht mehr erst herzustellenden Rollen ohne Umstände zu erreichen, aber Hamann schreibt den verschiedenen Partnern schon von den Anreden und Schlussformeln her mit anderer Sprachwahl, vor allem mit anderen Ansprüchen. Herder gegenüber klagt er einmal, in Königsberg habe er »keinen Prüf- noch Wetzstein meiner Ideen! keinen arbitrum meiner Einfälle.«51 Einen solchen hat er auch unter den Brieffreunden fast nur in Herder, vielleicht noch in dem Königsberger Christian Jacob Kraus, »Prof. der Moral u Politik«,52 den er üblicherweise mit »Liebster Freund«53 o. ä. anredet. Ihn tituliert er in dem schon zitierten Zornesausbruch über Friedrichs II. und Kants politischen Aufklärungs-Zynismus in einem wie die publizierten Schriften mit »maccaronischem Gänsekiel« geschriebenen Brief gleich mit »Clarissime Domine Politice!« und setzt ihn damit angesichts des Skandals in die Rolle des Sachverständigen und Betroffenen hinsichtlich Politik und Moral, d. h. Sitten- und Verhaltenslehre.54 Dieser Brief ist aber diesbezüglich Ausnahme; fast immer vertraut Hamann auf das schon etablierte Verhältnis mit dem jeweiligen Briefpartner, um den bestimmten »Wortwechsel« mit ihm fortzusetzen und den Dialekt gemeinsamer Vernunft weiterzuentwickeln, der mit ihm möglich ist.

48 N III, 188,26. 49 Josef Nadler : Die Hamannausgabe. Vermächtnis – Bemühungen – Vollzug (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse 7/6 [1930], 279–508). Halle 1930, S. 309. 50 Christina Reuter : Autorschaft als Kondeszendenz. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität. Berlin / New York 2005, S. 154. 51 ZH V, 220,19f (15. 9. 1784). 52 ZH V, 141,3 (an Johann Georg Müller, 30. 4. 1784). 53 ZH IV, 158,22.199,2. 54 ZH V, 289.

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Verdichtung und Steigerung Denn darum geht es Hamann. Wenn, wie gezeigt, die Erkenntniskräfte und die Vernunft mit ihren Abstraktionen bloß »den zufälligsten und abstractesten modum unserer Existenz ausmachen«,55 ist es in einem ersten Schritt notwendig, durch den Wort- und Erkenntniswechsel wenigstens die Einzelvernunft zu kritisieren und zu relativieren, zugleich in dem entstehenden dialogischen Einverständnis den »Reichthum«56 an Erkenntnis zu steigern. Dieser Bereicherung dienen in den publizierten und privaten Briefen zweitens die fremden Sprachen und die jeweils mit ihnen verwachsenen Denkungsarten, aus deren Richtung »der vergleichungsweise Reichthum in einigen, und die damit parallel laufende Armuth in andern Fächern eben derselben Sprache« entsteht.57 Dieser Bereicherung dienen drittens die vielen z. B. von Manfred Beetz in der Aesthetica in nuce mit erhellendem Blick auf die Literaturtheorie beschriebenen Zitate und intertextuellen Markierungen.58 Sie holen mit den Kontexten der angespielten Werke, mit der Denkungsart ihrer Sprachen die ganze Tradition der literarischen, philosophischen und theologischen Vernunft in den Dialog herein. Da nun Vernunft auf Tradition beruht, sind sie nicht nur die stilistischen oder ästhetischen Phänomene, als die sie schon vielfach beschrieben worden sind, sie sind nicht der »französische und lateinische Speck meiner Mundart«, vor dem es nach Hamann vielen »graulet«, die nur davon probieren.59 Vielmehr dienen die aufgezählten Mittel ganz konsequent dazu, den Reduktionismus der Vernunft und überhaupt der Erkenntniskräfte zu kompensieren. Darum ging es auch Diderot, mit dessen Lettre sur les sourds-et-muets Hamann sich befasste,60 in denen der Philosoph an mehreren Beispielen folgendes ausführt: Die Bildung der Sprachen verlangte die diskursive Zerlegung; aber einen Gegenstand sehen, ihn schön finden, ein angenehmes Gefühl verspüren, seinen Besitz wünschen, das ist der Zustand der Seele in einem einzigen Augenblick und das, was das Griechische oder Lateinische mit einem einzigen Wort ausdrücken. Dieses Wort ausgesprochen: alles ist gesagt, alles verstanden. Ah! mein Herr, wie stark wird unsere Erkenntnis durch die Zeichen modifiziert.61

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N III, 191,33f. N II, 129,5. N II, 122,36ff. Manfred Beetz: Dialogische Rhetorik und Intertextualität in Hamanns »Aesthetica in nuce«. In: Acta 1992, S. 79–106. 59 N III, 33,22f. 60 N II, 124,30. 61 »La formation des langues exigeait la d8composition; mais voir un objet, le juger beau, 8prouver une sensation agr8able, d8sirer la possession, c’est l’8tat de l’.me dans un mÞme instant, et ce que le grec et le latin rendent par un seul mot. Ce mot prononc8, tout est dit, tout

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Diese Dichte ist auch bei Diderot kein archaisches, sondern umgekehrt ihre diskursive Dekomposition ein modernes Defizit. Die Neu-Verdichtung in einer Formulierung, die die Dinge »auf einmal sagt und darstellt, bei denen gleichzeitig der Verstand sie begreift, die Seele davon gerührt wird, die Einbildungskraft sie sieht und das Ohr sie hört«,62 nennt Diderot poetisch.63 Sicher hat deshalb Diderots Beobachtung der archaischen Dichte und der modernen poetischen Verdichtung bei Hamanns berühmtem Satz mitgespielt: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts«,64 denn wie Diderot und anderen (z. B. Condillac) geht es ihm am Anfang der Aesthetica um das höhere Alter verschiedener Kulturleistungen. Und wie Diderot neue Verdichtung mit seinen »expressions 8nergiques«65 anstrebt, können wir Hamanns geschilderte Methoden der dialogischen Verdichtung der zur »flüßigen Prose der Coffekreyse«66 verwässerten Vernunft als Schritte in der Restaurierung der ursprünglichen Sprachleistung verstehen. Hamann fährt in der Aesthetica fort: »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.«67 Hier geht Hamann über Diderot hinaus, der, wie zitiert, die rationale Verdichtung, durch Anschaulichkeit und Lautwerte gesteigert, als Poesie sieht. Hamann aber kehrt die rationalistische Erkenntnishierarchie aus Sinnen und Leidenschaften, Einbildungskraft und Verstand/ Vernunft um, wenn er wie gezeigt die Vernunft beschuldigt, mit ihren Abstraktionen und ihrer »mordlügnerischen Philosophie« die Natur zu schinden und aus dem Weg zu räumen. Dagegen wirke doch die Natur »durch Sinne und Leidenschaften«, die durch die Philosophie »verstümmelt« werden,68 und »Leidenschaft allein giebt Abstractionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; – Bildern und Zeichen Geist, Leben und Zunge«.69 Hamanns Hierarchie stellt Sinne und Leidenschaften an die Spitze, die Einbildungskraft als Vermögen der Bilder und Zeichen in die Mitte, die Vernunft mit ihren Abstraktionen und Schlüssen ganz unten in die Klimax.70 Damit folgt er Klopstocks Abhandlung Von der besten Art, über Gott zu denken (1758),71 der seinerseits wohl dem

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est entendu. Ah! monsieur, combien notre entendement est modifi8 par les signes«. Denis Diderot: Œuvres complHtes. Pd. par Philippe Daudy. Bd. 2. Paris 1969, S. 543f. (Übers. U.G.). Ebd., S. 549. Ebd., S. 549. N II, 197,15. Diderot: Œuvres complHtes (wie Anm. 61), S. 541, vgl. S. 549. N II, 94,21. N II, 197,22ff. N II, 206,1f. N II, 208,20ff. Vgl. Gerhard Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963, S. 100. Friedrich Gottlieb Klopstock: Sämmtliche Werke. Bd. IX. Leipzig 1839, S. 155–161.

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Magier Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim mit seinem Büchlein De triplici ratione cognoscendi Deum gefolgt ist.72 Für Klopstock gibt es »eine kalte metaphysische [erste Art über Gott zu denken], die Gott beinahe nur als ein Objekt einer Wissenschaft ansieht, und eben so unbewegt über ihn philosophirt, als wenn sie die Begriffe der Zeit oder des Raums entwickelte«. Die zweite Art der »Betrachtungen« verbindet »eine freiere Ordnung mit gewissen ruhigen Empfindungen«, verleitet aber oft zur Meinung, »Gottes Gedanken seyen wie unsre Gedanken«. Die dritte Art ist die »Erhebung zu Gott«, getragen von Erstaunen und Liebe, »wenn die ganze Seele von Dem, den sie denkt (und wen denkt sie?), so erfüllt ist, daß alle ihre übrigen Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in eine solche Bewegung gebracht sind, daß sie zugleich und zu einem Endzwecke wirken.«73 Wie man an diesen Quellen erkennt, steht an der Spitze der umgekehrten Hierarchie der Seelenkräfte nicht etwa nur eine davon, wie bei den Rationalisten, sondern unter der bewegenden Kraft der Sinne und Leidenschaften die »ganze Seele«, der »ganze Mensch« und damit für Hamann das harmonische, diesem Bilde Gottes74 entsprechende Zusammenwirken aller Kräfte: das ist dann wieder dialogische Vernunft und mehr : Logos, der eben nicht nur Begriff und Idee ist, sondern nach Fausts korrekter Übersetzung Wort, Sinn, Kraft und Tat. In Hamanns anfangs zitiertem »Markknochen«-Satz »Vernunft ist Sprache Kocor« erkennen wir damit neben anderen Lesarten eine deutliche Klimax, die von der reduzierten Menschenvernunft über deren »Gebährmutter«,75 die Gebrauchssprache, und die Vielzahl der Sprachen und der Dialekte Gottes bis zum %qqgtom,76 dem Unsprechbaren, dem schweigenden und nur mit Schweigen zu nähernden Einen Allmittelpunkt aufsteigt. Die communicatio idiomatum hat nämlich nicht nur die Richtung der Herunterlassung und Kondeszenz,77 der Menschwerdung des Christus im Jesus, sondern auch die Richtung der Auferstehung und Ver-

72 Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim: Opera II. Lyon (1600?). ND Hildesheim / New York 1970, S. 454–481. Er zählt zwar die Folge der Heiden, des ATund des NTauf, ordnet den Heiden jedoch die naturphilosophische Erkenntnis, dem AT die Hermeneutik und Kabbala, also die Erforschung der heiligen Weisheit in der analogischen Durchdringung der exoterischen Aussagen, dem NTaber die Liebe zu, die alle rationalen Operationen hinter sich lässt, nur im Geist (mens) lebt und mit ganzem Herzen Gott ergreift (468f). 73 Klopstock: Werke (wie Anm. 71), S. 157, 158f, 160. Diese Bewegung und Wechselwirkung der Seelenkräfte wird in der Abhandlung Über die heilige Poesie als Poetik beschrieben und bildet eine der Grundlagen für Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. 74 N II, 198. 75 N II, 97,23; III, 239,24. 76 Vgl. Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt a.M. 1985, S. 103. 77 Dieser Aspekt wird in dem Buch von Christina Reuter (wie Anm. 50) wegen der Fixierung auf den rhetorischen Katabasis-Begriff fast ausschließlich fokussiert.

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klärung des Jesus in den Christus.78 So wie das Denken geschichtlich absteigend von Poesie über Historie zur Philosophie, das Zeichen von kyriologischem über hieroglyphisches zum charakteristischen,79 von Sache über Symbol zu Buchstabe, von Adam Kadmon80 über den hieroglyphischen Adam zur Eva81 führt, so war aufsteigend dem neugeschaffenen Adam »jede Erscheinung der Natur« in aszendierender Klimax »Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigern Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen«82 – dreimal steigt in diesem Satz die Klimax bis zur intensivsten Dichte, dem was Plotin als !hq|or bezeichnet und zu dem nur »ein gedrängtes Sichhinwerfen auf das selbst in Eins Gedrängte« hinführt,83 hinauf. Diese Rückwendung zum Einen ist unverzichtbar in Hamanns neuplatonisch johanneischer Ontologie84 von lom^, pqood|r, 1pistqov^, Beharrung, Hervorgang und Rückwendung. Nun aber sind wir nicht mehr der neugeschaffene Adam, sondern »haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil.«85 Hamann suchte sie in seinen Briefen und Briefpublikationen mit der dialogischen Verdichtung der Vernunft zum Logos wieder »in Geschick zu bringen«.

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N II, 213f. N II, 199,6f. N II, 198. N II, 200,11f. N III, 32,22ff. Plotin: Enneaden V 8; IV 4,1, vgl. Beierwaltes: Denken (wie Anm. 76), S. 20f. Nennung Plotins: N III, 254,36, Ficinos: ZH IV, 355,22. Zu »Ficino« sind auch alle Stellen zu rechnen, an denen Hamann von Platon redet, denn dessen Übersetzung und Kommentare waren maßgebend bis zur Zweibrücker Ausgabe 1782. Die ontologische Trias von Hypostasen wird erläutert bei Beierwaltes: Denken (wie Anm. 76), S. 11–13, 31f u. ö. 85 N II, 198,33–199,3.

Eric Achermann (Münster)

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Toklgqoteqom de ecqaxa – – »gar kühn habe ich geschrieben«, setzt Hamann mit Paulus (Röm 15,15) vor sein Kleeblatt Hellenistischer Briefe. Und Kühnheit darf in der Tat erwartet werden von einem, der als philologischer Kreuzritter auszog, mit dem Wort und für das Wort zu kämpfen. Diese Kühnheit aber ist nicht nur polemischer Affekt, sondern mehr noch Charakteristikum einer Schreibart, deren Eigenheit zu bestimmen und Wirkung zu erproben, Hamann nicht müde wird. Seine »Panische Schreibart […] und der Magische Styl«2 kombinieren und parodieren so manche der rhetorischen Tugenden, die den Zeitgenossen als Leitvorstellung gelungener Briefkunst und essayistischer Gedankenführung gelten: Nachlässigkeit, Natürlichkeit, Einfalt, Freiheit, Gleichheit.

Empfindsame Leutseligkeit Hamann kennt sich in Dingen, die wir als »empfindsame« zu bezeichnen pflegen, gründlich aus. 1749/50 erscheint die von ihm mitverfasste3 Daphne im gewiss etwas fadenscheinigen, nichtsdestoweniger modischen Kleid einer von einer Frau initiierten und größtenteils auch redigierten Wochenschrift. Die lebensfrohe Daphne erweist sich darin als das Zentrum eines geselligen Kreises junger 1 Für wichtige Hinweise danke ich Nadine Lenuweit, Marco Bunge-Wiechers und Janina Reibold. 2 Johann Georg Hamann: Entkleidung und Verklärung. Ein fliegender Brief (1786/87). Zit. nach Reiner Wild: ›Metacriticus bonae spei‹. Johann Georg Hamanns ›Fliegender Brief‹. Einführung, Text und Kommentar. Frankfurt a.M. 1975, S. 4/5 (entspricht N III, 350). – Zu Konzept und Quellen der panischen Schreibart vgl. ebd., S. 469f; sowie Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997, S. 155–159. 3 Nach eigener Aussage (Fliegender Brief, Zweite Fassung, Wild: ›Metacriticus bonae spei‹, S. 29; entspricht N III, 369,21) hat Hamann »ein paar Stücke[.] in einer hiesigen Wochenschrift: Daphne 50« verfasst.

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Königsberger und Königsbergerinnen, die ihre Meisterschaft im Schreiben von Briefen, Gedichten, Porträts und Übersetzungen unter Beweis stellen. Ganz im Stil der Vernünftigen Tadlerinnen und der Matrone, die ihrerseits in englischen Zeitschriften wie The Lady’s Mercury, The Female Tatler und The Female Spectator ihre Vorbilder finden,4 erhebt die Daphne den Anspruch, jene delikate Empfindsamkeit zum Ausdruck zu bringen, die vorzugsweise Frauen zukommt und moralische Probität sowie gesundes Urteilsvermögen garantieren. Während die Mehrheit der Beiträge praktische Fragen zu angenehmen Umgangsformen im Freundeskreis, zu Gelingen und Misslingen amouröser Avancen, Moden, Tanz u. a.m. erörtern,5 soll Hamann diejenigen Beiträge verfasst haben,6 deren Hauptthemen zum einen die natürliche Harmonie von Vernunft und Empfindung,7 zum anderen ein geselliges, wohltemperiertes Vergnügen sind, das mit einer weltoffenen Frömmigkeit einhergehen kann und darf. Proklamiert wird 4 Zur selbstdeklarierten gegenseitigen Abhängigkeit der Zeitschriften vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 27f; zur Beziehung von Brief und Wochenschrift, ebd., S. 57–60; zur deutschsprachigen Tradition der »Frauenzeitschrift« vgl. Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000, insbesondere S. 49–74. 5 Zur Selbstschilderung des Unternehmens vgl. Daphne, Zweeter Theil, Sechzigstes Stück. Königsberg 1750, S. 118. 6 Nadler attribuiert Hamann die Beiträge 5, 9, 11, 43f, 50 und 55f. Er weicht nach eigener Angabe (N IV, 465) von der Zuweisung Rudolf Ungers (Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. Bd. II. Halle an der Saale 2 1925, S. 923–925) sowie einer weiter nicht bezeichneten Seminararbeit Adolf Becks ab. Nadlers Urteil haben sich in neuerer Zeit Thomas Kracht (Erkenntnisfragen beim jungen Hamann. Frankfurt a.M. 1981, S. 67–69) sowie Wolfgang-Dieter Baur (Hamann als Publizist. Berlin 1991, S. 7–10) angeschlossen. Kritik an Nadlers Zuweisung sowie eigene Vorschläge finden sich bei Joseph Kohnen: Nachwort zu: Daphne. Nachdruck der von Johann Georg Hamann, Johann Gotthelf Lindner u. a. herausgegeben Königsberger Zeitschrift (1749–1750). Frankfurt a.M. 1991, [o.S.]; sowie ders.: Die Königsberger ›Daphne‹. Eine ungewöhnliche Kulturzeitschrift der Frühaufklärung. In: Recherches Germaniques 19 (1989), S. 3–30. Ob sich Vorlieben und Interessen des späteren Hamann als Grund, oft gar als sicheren Grund für solche Zuweisungen bewerten lassen, bleibt zumindest fragwürdig; vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 136. 7 Im Sinne eines »moral sense«, der die Willensneigung vorgängig zur diskursiven Erkenntnis setzt; Daphne, Erster Theil, Fünftes Stück, S. 18; N IV, 16,8: »Wenn auch die Vernunft nichts von der Fürtrefflichkeit der Tugend wüste, so wären doch schon meine Empfindungen hinreichend mich zu überführen, daß die Tugend liebenswürdig sey.« Auf eine mögliche Vermittlung einer englischen »moral sense«-Philosophie über Spalding (1714–1804) verweist Kracht (Erkenntnisfragen beim jungen Hamann, S. 109). Ein Vergleich zwischen Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748), die hier als einzige unter den Schriften Spaldings in Frage kommt (ggf. gar mit dem wichtigen Anhang von 1749), und den religiösen Erwägungen in der Daphne ergibt mit Ausnahme der häufigen Verwendung von »Empfindung« keine Übereinstimmungen. Der »Antiluther von Böhmisch-Breda« (Brief an Johann Gottfried Herder vom 20. Dezember 1774, ZH III, 131,9) scheint im Übrigen für Hamann vor dessen Auseinandersetzung mit Herder von keinerlei Bedeutung zu sein.

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eine Religion nach menschlichem Maßstab, welche die Geselligkeit nicht etwa beschränkt oder gar verbietet, sondern als das eigentliche Mittel eben dieser Mäßigung erkennt, die den Menschen als wahrhaft tugendhaften ausweist. Die Briefschreiberin geht gar soweit, in der »Leutseligkeit« nicht nur eine menschliche Tugend, sondern gar ein göttliches Attribut zu entdecken: Daß meinem Geist die Empfindungen der Freude so natürlich sind, als dem Leibe die Bewegung ist, dieses habe ich GOtt zu danken; und diesem GOtt lehrt mich meine Religion dienen. Seine Befehle vernichtigen die Empfindungen der Freude gar nicht. Ich könte es nie begreifen, daß sie von einem leutseligen Urheber herrühreten, wenn sie mich traurig und unruhig machen sollten, wenn ich in einer Welt voller Anmuth ein unglückliches und niedergeschlagenes Geschöpf wäre, welches sich durch Unwissenheit oder Furcht des Vergnügens beraubte.8

Es ist der esprit des Hl. Franz von Sales (1567–1622),9 der einem hier im Gewand Thomasianischer Begrifflichkeit entgegentritt.10 Nicht bloß und einzig in der asketischen Abwendung von, sondern auch in einem zarten und gemäßigten Umgang mit der Welt finde der wahre Christ, mehr noch die wahre Christin rechtschaffene Betätigung.11 Diese Legitimierung einer geselligen Frömmigkeit führt über die Spiritualisierung des Vergnügens.12 Dass Daphne diese mit körperlicher Bewegung vergleicht, soll ihre eigene Naivität, ihre nicht reflektierende »Einfalt« also, illustrieren und erfassen. Die Einfalt nämlich verrät eine unverdorbene Natur und begründet so das Maß der Menschlichkeit; sie ist ihrerseits 8 Daphne, Erster Theil, Fünftes Stück, S. 20; N IV, 16,40–46. 9 In seiner einflussreichen und stark verbreiteten Introduction / la vie d8vote entwirft der Hl. Franz ein Ideal der Konversation, das mit der genannten Temperierung des Vergnügens einhergeht: »En toutes conversations, la na"vet8, simplicit8, douceur et modestie sont toujours pr8f8r8es. […] Il faut pour l’ordinaire qu’une joie mod8r8e pr8domine en notre conversation.« [In jeder Konversation werden Einfalt, Einfachheit, Sanftheit und Bescheidenheit immer bevorzugt. /…/ Normalerweise sollte ein gemäßigtes Vergnügen in unserer Unterredung vorherrschen.] FranÅois de Sales: Introduction / la vie d8vote, III, 24, in: ders.: Œuvres. Hg. von Andr8 Ravier. Paris 1969, S. 201. 10 Zum Begriff der »Leutseligkeit« vgl. Christian Thomasius: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben/Als dem eintzigen Mittel zu einem glückseeligen/galanten und vergnügten Leben zu gelangen; Oder Einleitung Zur SittenLehre (1692), V, § 21. Halle 41706, S. 208f. 11 Zur »spiritualit8 mondaine« und der Bedeutung des Hl. Franz von Sales für die Konversationskultur vgl. Marc Fumaroli: Le Prot8e franÅais et ses moralistes. In: ders.: La diplomatie de l’esprit. De Montaigne / La Fontaine. Paris 1994, S. 341–375, hier S. 355. Zu Franz von Sales’ Einfluss auf die Entwicklung des Galanten im deutschen Sprachraum, namentlich mit Bezug auf Thomasius vgl. Florian Gelzer : Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007, S. 48–50. 12 Daphne, Erster Theil, Fünftes Stück, S. 19; N IV, 16,21–26: »Ein gutherziger Mensch ist dahero denen Entzückungen der Freude beständig näher, als einer von bösem Gemüthe. Die Vernunft verträgt sich auch vollkommen mit seinem Vergnügen. Sie vermehrt, sie erhöhet dasselbige. Eine tugendhafte Freude kan also nur allein den ganzen Menschen einnehmen, wenn ein Lasterhafter mehr dem Leibe als der Seelen in seinen Empfindungen gehorchet.«

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Ausdruck einer grundlegenden psycho-physischen Harmonie. Um diese Harmonie ist es im geselligen Umgang zu tun, und sie heißt Natürlichkeit. Die Daphne greift so gleich haufenweise auf geschmackstheoretische Prämissen zurück, die sich ganz wesentlich in einer jahrhundertealten Auseinandersetzung mit mündlicher und schriftlicher Unterredung, mit Gesprächen und Briefen also, etabliert und tradiert haben. Sowohl die hier vertretene gesellige Anthropologie als auch die literaturästhetischen Kriterien sind einem esprit de conversation verpflichtet, welcher Einfalt, Einfachheit und Freiheit miteinander ins Geschick bringt. Und nirgends widerspricht der Student Hamann in den Beiträgen, die ihm mit mehr oder weniger guten Gründen attribuiert werden, den Wertvorstellungen einer sowohl galanten als auch empfindsamen Konversationskultur, deren Programmatik auf Einfalt, Leichtigkeit, Reiz, Nachlässigkeit, Freiheit und Natürlichkeit im geselligen Umgang zielt.13 Es mag denn auch nicht überraschen, dass eine solch leutselige, dabei immer fromme und tugendliebende Mondänität in den ebenfalls tändelnden, scherzhaften, frommen und tugendliebenden Gellert (1715–1769) und Hagedorn (1708–1754) die eigentlichen Sprachrohre wahrer Empfindung erkennt.14 Bei Gellert nämlich sehe »man die Ansprüche, die wir auf den Beyfall der Welt machen können, wenn wir die Natur erreichen«, während Hagedorn sich durch »[e]ine liebenswürdige Nachlässigkeit, ein lachendes leichtes Wesen« auszeichne, »das einem spitzfindigen und verdorbenen Geschmack, einem übertrieben und unnatürlichen Witz freylich nicht gefallen kan«.15 Wer jedoch den 13 Als deklariertes Vorbild erscheint die von Johann Andreas Cramer (1723–1788), Johann Arnold Ebert (1723–1795), Nikolaus Dietrich Giseke (1724–1765) und Gottlieb Wilhelm Rabener (1714–1771) in den Jahren 1747 und 1748 verfasste Wochenschrift Der Jüngling aus Leipzig, der u. a. »galant und schmeichlerisch« über die Vorzüge blauer und schwarzer Augen zu debattieren verstehe und die fingierte Herausgeberin (Daphne, Erster Theil, Erstes Stück, S. 2) geradezu in Begeisterung versetzt: »Was für feine Scherze! Welche unerwartete Niedlichkeiten! Welche ganz durchgeführte Charactere von Sitten und Lebensarten! Seine Moral ist frölich und gesellig; man wird ihrer nicht müde.« Der Jüngling wird später (1768, 1775) bei Kanter in Königsbergs neu aufgelegt. 14 Zu Gellerts christlicher Anthropologie vgl. Katrin Löffler : Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfinn von G*** im Kontext der zeitgenössischen philosophischen und theologischen Anthropologie. In: Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austausch- und Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur. Hg. von Sibylle Schönborn / Vera Viehöver. Berlin 2009, S. 99–116, insbesondere S. 110–116; sowie Eckhardt Meyer-Krentler : Zwischen Aufklärung und Frömmigkeit. Gellert oder Über die Möglichkeit, Literatur zu leben. In: Literatur und Theologie. Vier Vorträge und eine Laudatio für Friedrich Kienecker. Hg. von E. Meyer-Krentler. Paderborn 1990, S. 13–29; Wolfgang Martens: Gellert zwischen Frömmigkeit und Tugend. Sein Leben von der schwedischen Gräfin von G. vor pietistischem Hintergrund. In: ders.: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989, S. 199–213. – Zu Hagedorn vgl. Steffen Martus: Friedrich von Hagedorn – Konstellationen der Aufklärung. Berlin 1999, S. 323–416. 15 Daphne, Zweeter Theil, Fünfzigstes Stück, S. 77 u. 79; N IV, 28,26.

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Kanon dieser oft zitierten Vorbilder mit Übersetzungen aus weitaus gefährlicheren Autoren wie Saint-Pvremond (1613–1703), dem jüngeren Cr8billon (1707–1777),16 dem Marquis d’Argens (1703–1771)17 und der Mme Deshoulieres (1638–1694)18 erweitert, der lässt zumindest erahnen, dass es ihm bisweilen um mehr als eine bloße Lizenz zu unschuldigem Vergnügen zu tun ist, nämlich um Satire sowohl auf allzu strenge Sittenrichter als auch auf junge Stutzer, die statt der prätendierten Natürlichkeit nur affektierte Hohlheit zu liefern vermögen.19 Überdeutlich tritt dies in der Übersetzung von Saint-Pvremonds (1613–1703) De la conversation zutage, der als Verfechter eines christlichen Epikureismus und als gelegentlicher Briefpartner der viel bewunderten Ninon de l’Enclos (1620–1705) im Zentrum der französischen Briefkultur steht. Ungeachtet wer denn nun Saint-Pvremonds Über den Umgang auszugsweise für die Daphne übersetzt hat,20 belegt der Bogen, dass in unserem Königsberger Kreis ganz

16 Daphne, Zweeter Theil, Vierzigstes Stück, S. 37–40. Es handelt sich um die Übersetzung der ironischen Ratschläge, die M. de Versac Claude-Prosper Jolyot de Cr8billons bedeutenden Roman Les Pgarements du cœur et de l’esprit (1736) dem Memorialisten M. de Meilcour gibt. 17 Daphne, Vier und vierzigstes Stück, Zweeter Theil, S. 54; N IV, 25. Die wenigen Zeilen sind einer recht freien und anzüglichen Darstellung des Liebeslebens und der Sitten der Franzosen entnommen, in der die relativ seltene Untreue der Frauen mit dem Argument gefeiert wird, sie wüssten zumindest worauf sie verzichteten; vgl. Jean-Baptiste Boyer d’Argens: Lettres juives. Correspondance philosophique, historique et critique, entre un Juif Voyageur / Paris & ses Correspondans en divers Endroits. Bd. II. 42. Brief. Den Haag 1736, S. 92f. 18 Daphne, Erster Theil, Neunzehntes Stück, S. 77–80. Es handelt sich der Reihe nach um Prosaübersetzungen folgender Gedichte von Antoinette (du Ligier de la Garde) DeshouliHres: Les Moutons, Idyle (1673), Celimene, Eglogue (1680), A Mademoiselle de la Charce. Pour la Fontaine de Vaucluse (1673). Die Gedichte erscheinen teils im Mercure Galant, teils in den Po8sie de Mme DeshouliHres (1688) und finden in zahlreichen Anthologien bis weit ins 18. Jahrhundert Verbreitung. Es dürfte die gepflegte Einfalt sowie die ausgeprägte Empfindsamkeit sein, die Anlass zur Übersetzung dieser gefeierten, aufgrund ihrer epikuräischen Vorlieben auch angefeindeten Dichterin geben; hinzu kommt, dass in dem Gedicht Pour la Fontaine de Vaucluse die Adressatin Mlle de la Charce im Original tatsächlich »Daphn8« heißt. Zu DeshouliHres vgl. Antoine Adam: Les Libertins au XVII siHcle. Paris 1964, S. 252–257. 19 Im Licht der für die Galanterie charakteristischen »m8diocrit8« lässt denn auch Lisimon, einer von Daphnes Freunden, sein Selbstportrait erscheinen (Daphne, Sieben und funfzigstes Stück, Zweeter Theil, S. 108): »So viel ich von einem schönen und zugleich scharfsinnigem Geiste, von Witz und Vernunft halte: so viel halte ich auch von Tugend und Aufführung, von Zärtlichkeit und Großmuth, von einem wahren Freunde, und von einem artigem verdienstvollen Frauenzimmer. Nach dem Begriff, den ich von der Tugend aus Moralisten, Kennern der Welt und des Herzens, und aus Dichtern gelernet, ist sie keine Feindin der Freude, des Scherzes und des Vergnügens; ihr eckelt aber für allem Unmäßigen. Meinem Verstande gefällt die Freyheit zu denken, und meinem Herzen die Freymüthigkeit.« 20 Das Stück findet sich bei Nadler als Hamanns Leistung abgedruckt (N IV, 32–34).

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offensichtlich nebst dem Geselligkeits- auch das Freundschaftsideal französischer Prägung in hohem Ansehen stand:21 Der Umgang mit einem Menschen, an dem man eine allgemeine Anmuth findet, ist etwas hauptseltnes; und die gesunde Vernunft leidet nicht, daß man das, was man fast immer antrift, gar zu genau untersuche. Man verlangt ein recht köstliches Vergnügen, welches man sich immer einbildet, und sehr selten genüßt; der Geist aber, welcher dieser Zärtlichkeit müde wird, bekömmt einen Eckel an solchen, die er zeitlebens haben könnte. Die Wahrheit zu sagen, es ist nicht unmöglich, solche kostbare Freunde zu finden; aber die Natur bildet sie selten, und das Glück schenkt sie nur selten.22

Freundschaft wird im Gegensatz zum gewöhnlichen Umgang als Ort imaginiert, in welchem sich eine ideale Konversation frei, weil in Sicherheit entfalten kann.23 Die Zeilen, die der Übersetzung kommentierend folgen, knüpfen die vorausgehenden Elemente – köstliches Vergnügen, seltene Anmut und natürliche Begabung – eng an den Begriff der Wahrheit: Die Freundschaft und der bloße Umgang sind so unterschieden, wie das Ceremoniel und das Wesentliche, wie ein Kompliment und die Wahrheit.24

Noch einmal ist es Christian Thomasius (1655–1728), der die Begriffe vorgibt.25 Die Wahrung eines bloß äußerlichen Dekorums kommt einem Handeln ohne 21 Bernhard Gajek (Die Sprache beim jungen Hamann. Diss. München 1959, S. 38) behauptet gegen Rudolf Unger (Hamann und die Empfindsamkeit. Ein Beitrag zur Frage nach der geistesgeschichtlichen Struktur des neueren deutschen Irrrationalismus. In: Aufsätze zur Literatur- und Geistesgeschichte. Bd. 2. Berlin 1929, S. 18), dass es vielmehr die Engländer gewesen seien, welche den größten Einfluss auf die Daphne gehabt haben. Dies mag allenfalls auf die Publikationsform der »wöchentlichen Moralisten« (so die Selbstbezeichnung in Daphne, Zweeter Theil, Sechzigstes Stück, S. 118) sowie auf den »kleinen Roman« Clarice (ebd., Zweeter Theil, das 32–35ste Stück, S. 5–20) zutreffen, nicht aber für den vermittelten ideologischen Gehalt gelten. Vgl. auch Joseph Kohnen (Die Königsberger ›Daphne‹. In: Recherches germaniques 19 [1989], S. 3–30, hier S. 21): »Überhaupt zeichnet sich das Blatt aus durch eine allgemeine Hinwendung zur französischen Kultur.« 22 Daphne, Zweeter Theil, Sechs und fünfzigstes Stück, S. 101. 23 [Jean-FranÅois ?] Trotti de la Ch8tardie: Instructions pour un jeune seigneur; ou l’id8e d’un galant-homme (1683). Teil I. Paris 1702, S. 55f: »Heureux qui peut trouver un Amy qui soit un autre luy-mÞme, / qui il puisse confier ses plus secrettes pens8es; & plus heureux encore, qui le peut rencontrer dans sa Famille! il peut se vanter d’avoir trouv8 un tr8sor inestimable; mais oF les trouve-t-on ces Amis & ces Proches, avec qui il y ait se0ret8 de parler / cœur ouvert de toutes choses?« [Glücklich wer einen Freund findet, der sein anderes Selbst ist, dem er seine geheimsten Gedanken anvertrauen kann; und glücklicher gar, wer diesem in seiner Familie begegnet! Er kann sich rühmen einen unbezahlbaren Schatz gefunden zu haben. Wo aber findet man diese Freunde und Verwandten, bei denen wir uns in Sicherheit wähnen, von allen Dingen offenherzig sprechen zu können?]. 24 Daphne, Zweeter Theil, Sechs und fünfzigstes Stück, S. 104. 25 Für Thomasius ist das Zeremoniell in den meisten Phasen seiner Auseinandersetzung mit dem Dekorum nicht normativ, sondern empirisch begründet; vgl. Milosˇ Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation. Frankfurt a.M. 1998, S. 49–54 u. 354–356.

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Wahrhaftigkeit gleich, ist also ein bloßes In-Erscheinung-Treten, das ohne entsprechende Intention substanzlos bleibt.26 Gerade darin besteht die Eigenart von Thomasius’ Klugheitslehre, dass sie zwar die Art und Weise zu ihrem Gegenstand hat, diese aber einzig und allein durch eine moralische Entität an Wesen gewinnt.27 Letztlich bedeutet dies, dass die Klugheit im täglichen Umgang sowie die Befolgung der Regeln und Sitten nur in Beziehung zu einer alles begründenden Liebesethik Objekt eines moralischen Urteils sein können. Die »Leutseligkeit« stellt in der bisweilen unüberschaubaren Begrifflichkeit der Thomasianischen Klugheitslehre ein begriffliches Scharnier dar, das zwischen der Befehlsgewalt als Ausdruck vertikaler gesellschaftlicher Abhängigkeiten und der impliziten Gleichheit des freundschaftlichen Rates fungiert.28 Hinter der Leutseligkeit zeichnet sich so eine erzieherische Intention ab, ist doch jeder gehalten, sich bei aller Ungleichheit im Umgange dem »Niedrigen« gleich zu machen. Denn genau dies besagt »Leutseligkeit« für Thomasius: eine Herunterlassung,29 das heißt die Bereitschaft, denjenigen Unterstützung in Dingen 26 Zu diesem Argument vgl. Eric Achermann: Substanz und Nichts. Überlegungen zu Baltasar Graci#n und Christian Thomasius. In: Thomasius im literarischen Feld. Hg. v. Manfred Beetz / Herbert Jaumann. Tübingen 2003, S. 7–34. 27 Christian Thomasius: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen, Und zu einer gescheidten Conduite zu gelangen; Allen Menschen, die sich klug zu seyn düncken, Oder die noch klug werden wollen, zu höst-nöthiger Bedürffniß und ungemeinem Nutzen. Franckfurth 1728. Cap. V, § 23, S. 146f: »In der Natur-Lehre hat man eine Regul, daß das Wesen einer Sache durch die Art und Weise derselben nicht verändert werde; welche Regul in der Lehre der Klugheit durchaus falsch ist, und allhier vielmehr auf die Art und Weise, als auf die Sache selbst gesehen werden muß. Ehrerbietung, Höffligkeit, Leutseligkeit und Vermeidung grosser Familiarität sind Arten eines Wesens, die nicht nur die Sache gäntzlich verändern, sondern an welchen auch das Wesen der Sache im gemeinen Leben einzig und allein erkannt wird; Ein uns sonst höchst angenehmer Dienst verliehret den Namen einer Gutthat oder Freundschaffts-Bezeigung, wenn er uns mit widerwärtigen oder traurigen Hertzen geleistet wird; hingegen wird uns etwas unangenehmes annehmlich gemacht, oder wenigstens der Eckel davon benommen, wenn man es uns mit auffrichtiger Freundlichkeit vorstellet, […].« 28 Daphne, Zweiter Theil, Fünf und fünfzigsten Stück, S. 99; N IV, 31,20ff: »Je mehr Kinder ihre Vernunft brauchen lernen, und ihre Freyheit nicht übel anzuwenden scheinen; desto leutseliger müssen die Eltern werden, und wenn sie ja noch gebieten wollen, so nehmen sie nur die Mine eines Rathgebers an.« Die Dichotomie von Befehl (imperium) und Rat (consilium), die hier zur Erklärung einer freiheitlichen Erziehung dient, dürfte auf Christian Thomasius’ (z. B. Fundamenta iuris naturae et gentium [1705]. I, iv, § 50–65. Aalen 1979 [Repr. der Ausgabe Halle 41718], S. 133–136) höchst einflussreiche Überlegungen zurückgehen. Zum Verhältnis dieser Dichotomie zur Liebesethik sowie des zufälligen, nicht wesentlichen Charakters des Befehls vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 177–179. 29 Thomasius: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit. Cap. V, § 19, S. 144f: »In täglicher Conversation finden wir entweder höhere oder niedrigere, oder unsers gleichen; gegen die Letzern soll man freundlich, gegen die Andern leutselig und gegen die Ersten ehrerbietig seyn, solcher gestalt erweiset man jeden was ihm zukommt, […].«

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zukommen zu lassen, die das Gesetz nicht erfasst. Die Leutseligkeit ist so eine erste und notwendige Stufe hin zu einer gesellschaftlichen Tugendhaftigkeit, da sie durch Bescheidenheit und maßvolle Vertraulichkeit das Angemessene, das decorum, im alltäglichen Umgang und damit Selbsterhalt und Soziabilität zu wahren erlaubt.30 Leutseligkeit bedeutet im Umgang mit dem andern, diesen im Wissen um die fundamentale menschliche Bedürftigkeit als Seinesgleichen zu ästimieren. Denn nur Gleichheit stellt Natürlichkeit, Freiheit und damit auch eine tugendhafte Charakterbildung in Aussicht. Eine so verstandene Leutseligkeit ist denn auch nicht weit entfernt von dem für den späteren Hamann so zentralen Theologumenon der Herablassung oder Kondeszendenz, über welches noch zu sprechen sein wird.31

30 Thomasius: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Kap. V, § 22, S. 209: »Alle diese Dinge [die durch leutselige Dienstfertigkeiten zu teil werden] sind so beschaffen/ daß ein jeder Mensch/ er sey so mächtig/ tugendhafft/ weise/ vermögend als er wolle/ dieselben oder derer etliche vonnöthen habe; und ob es schon gewiß ist/ daß er dieselbigen in der That von allen Menschen nicht fordern werde/ oder daß alle Menschen in der That dieselbigen nicht von ihm fordern werden/ so weiß er doch nicht/ wer diejenigen künfftig seyn möchten/ derer Hülffe er/ oder sie der seinigen in diesem Stück vonnöthen haben möchten; massen denn der allerelendeste Bettler/ oder ein Kerl/ der jetzo in Japan ist/ in etlichen Jahren heraus kommen/ und mir einen dergleichen Gefallen erweisen kan. Und dannenhero erfordert die Gleichheit der menschlichen Dürfftigkeit/ daß ein jeder einem jeden dergleichen Dienste erweise.« 31 Tatsächlich findet sich der Kenosis-Gedanke in der Daphne und zwar in dem versifizierten Schreiben an die Daphne, das in genauer thematischer Entsprechung den Strophen von Voltaires offenbarungskritischer Epitre / Uranie als Zeugnis der Rechtgläubigkeit vorangestellt wird. Daphne, Erster Theil, Zehentes Stück, S. 40: »Es war ein Volk schwach, irr, und ungenannt,/ Vom Aberglauben schwer zu bringen,/ Dies wählte GOtt, und gab ihm das geschworne Land,/ Und machte sich durch Bilder ihm bekannt./ […]/ Des Höchsten Sohn, GOtt selbst, wird ja mit ihm verwandt,/ Vergißt die Macht, kömmt ohne Prangen/ In einer Jüdin Schooß die Menschheit zu empfangen«; ebd., 42: »Vor dir sind Herzen so wie Welten aufgedeckt./ Ein Undankbarer klage dich nur an;/ Für mich bist du gewißlich kein Tyrann./ Ich finde stets in dir die besten Vatertriebe.« Es handelt sich bei diesem Gedicht nicht um eine Übersetzung, wie Joseph Kohnen (Die Königsberger ›Daphne‹. Eine ungewöhnliche Kulturzeitschrift der Frühaufklärung. In: Recherches Germaniques 19. Straßburg 1989, S. 1–30, 22) behauptet, sondern um eine Palinodie, einen Anti-Voltaire. – Bemerkenswert erscheint im Übrigen, dass der Übersetzer von Cr8billons satirischem Angriff auf den »guten Ton« den Begriff »Herunterlassung« für »condescendance« zur Bezeichnung des Mittels gegen den Vorwurf eines starren, inflexiblen Geistes (»harter Kopf, der nicht zu Gesellschaften taugt«; »esprit dur et peu fait pour la soci8t8«) verwendet. Daphne, Zweeter Theil, Vierzigstes Stück, S. 40; vgl. Cr8billon fils: Les 8garements du cœur et de l’esprit, in: Romans libertins du XVIIe siHcle. Hg. von Raymond Trousson. Paris 1993, S. 140.

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Gepflegte Lässigkeit Niemand Geringeres als Gellert, für viele der Erneuerer der deutschsprachigen Briefkunst schlechthin, empfiehlt im Jahr nach Erscheinen des letzten DaphneBeitrags den Deutschen einen Kanon, der mancherlei Übereinstimmung mit den stilistischen Vorlieben und der epistolographischen Praxis der Königsberger Freunde aufweist. In einer mehrseitigen Fußnote seines Von dem guten Geschmacke in Briefen liefert er ein »Who’s who« des natürlichen Stils in Briefen, wobei Avantgarde und Hauptheer wie selbstverständlich von den Franzosen gestellt werden: Unter der großen Menge Französischer Briefe sind diejenigen, die wir von der Babet, der Marqvisinn von Sevigne, von ihrem Vetter, dem Grafen Büssy=Rabütin, von den Grafen von Estrades, von Crebillon, dem Jüngern, von Racinen, dem Aeltern, von Rousseau, und von Voltairen, in seinen Werken haben, unstreitig die besten. […] Sie [die fingierten Briefe Cr8billons]32 sind natürlich geschrieben, so bald man ein Frauenzimmer vom Verstand und von der Gemüthsart der Marqvisinn voraus setzt. Eben so genau schildern die Briefe der Ninon L’Enclos33 […] das menschliche Herz ab, und sie würden es noch genauer abschildern, wenn sie nicht manchmal besondre Wahrheiten in allgemeine verwandelten.34

Die Briefkunst, die nach Ansicht Gellerts und einer Mehrheit seiner Zeitgenossen in der Konversationskultur des siHcle de Louis XIV ihren Höhepunkt findet, greift auf eine Tradition zurück, die dem Geist der Freiheit und Natürlichkeit verpflichtet bis in die frühe Renaissance reicht. Es ist Petrarca (1304–1374), der seiner Begegnung mit dem bis dahin weitgehend unbekannten Cicero der privaten Briefe35 seinen eigenen Versuch folgen lässt, es Cicero hierin 32 Gemeint ist: Claude-Prosper Jolyot de Cr8billon: Lettres de la marquise de M*** au comte de R***. [o. O.] 1732. Es handelt sich bei diesem höchst kunstvollen und erfolgreichen Werk um einen »einstimmigen« Briefroman; die Tatsache erscheint deshalb interessant, da Gellert als Muster für echte Briefe mitunter fingierte empfiehlt. 33 Die Echtheit der Briefe Ninon de l’Enclos, die einen der bedeutendsten Pariser Salons hält, ist umstritten. Die erste Sammlung dieser Briefe wurde 1750 von Cr8billon herausgegeben. Betrachten wir aber nur schon die Namen der erwiesenen Salonbesucher, so begegnen wir den großen Mustern der französischen Briefkultur des »ffge classique«. Dass Gellert hier, wie bei Cr8billon, moralische Bedenken äußert, überrascht nicht, viel eher, dass er die berüchtigte und von frömmelnden Kreisen verfemte Kurtisane mit relativ geringer Zurückhaltung empfiehlt: »Sie [die Briefe] offenbahren in einer muntern und oft boshaften Schreibart die verborgensten Geheimnisse der Liebe so scharfsinnig, daß man die erhabne Enthusiasterey der platonischen Liebe nicht mit stärkern Waffen hätte angreifen können.« (Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751, S. 68). 34 Gellert: Von dem guten Geschmacke in Briefen (wie Anm. 33), S. 67f. 35 Zur Wiederentdeckung der Epistolae ad Atticum durch die Veroneser und deren Vermittlung im Jahre 1345 an Petrarca vgl. Remigio Sabbadini: Le Scoperte dei Codici Latini e Greci ne’ secoli XIV e XV. Florenz 1905, S. 26f. Zur literarhistorischen Bedeutung dieser Entdeckung

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in den Familiares gleichzutun. Zwar kannten auch die spätantiken und mittelalterlichen Rhetoriken und Briefsteller den Unterschied zwischen den negotiales und den familiares,36 und auch Briefe wie etwa diejenigen Abaelards (1079–1142) an Heloisa (~1095–~1164) legen ein beredtes Zeugnis dafür ab, dass die mittelalterlich epistolarische Praxis nicht einfach und ausschließlich durch die ars dictaminis bestimmt wird,37 nichtsdestotrotz bleibt das Novum bemerkenswert, das Privatheit und Häuslichkeit zu eigentlich literarischen Qualitäten erhebt.38 Die Wiederentdeckung der Konkurrenz zwischen sermo und contentio,39 zwischen Gespräch und Rede, gehört wohl zu den bedeutendsten Ereignissen in der Entwicklungsgeschichte neuzeitlicher Kunstprosa. Im familiären oder privaten Brief erhalten formale Ungezwungenheit und thematische Zufälligkeit den

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vgl. Peter L. Schmidt: Die Rezeption des römischen Freundschaftsbriefes (Cicero – Plinius) im frühen Humanismus (Petrarca – Coluccio Salutati). In: Der Brief im Zeitalter der Renaissance. Hg. von Franz Josef Worstbrock. Weinheim 1983, S. 25–59; Karl Enenkel: Die Grundlegung humanistischer Selbstpräsentation im Brief-Corpus: Francesco Petrarca’s Familiarium rerum libri XXIV. In: Self-Presentation and Social Identification. The Rhetoric and Pragmatics of Letter Writing in Early Modern Times. Hg. von Toon Van Houdt / Jan Papy / Gilbert Tournoy / Constant Matheeussen. Löwen 2002, S. 367–384. Weitere Angaben bei Eric Achermann: Unähnliche Gleichungen. ›Aemulatio‹, ›imitatio‹ und die Politik der Nachahmung. In: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Hg. von Jan-Dirk Müller / Ulrich Pfisterer /Anna Kathrin Bleuler / Fabian Jonietz. Berlin 2011, S. 35–73. Die Unterscheidung findet sich schon bei Cicero und wird über Julius Victor (Ars rhetorica, 36f) zu einem Topos der Brieftheorie: »Epistolarum species duplex est; sunt enim aut negotiales aut familiares.« [Die Art der Briefe ist eine doppelte: Sie sind nämlich entweder geschäftliche oder familiäre.] Vgl. Hans-Wolfgang Krautz: Nachwort zu: Abaelard: Der Briefwechsel mit Heloisa. Stuttgart 1989, S. 380f. – Ganz allgemein scheint die Forschung zum Privatbrief des späten Mittelalters, trotz der frühen umfangreichen Sammlung Georg Steinhausens (Deutsche Privatbriefe des Mittelalters. 2 Bde. Berlin 1899 u. 1907), stark vernachlässigt. Ein differenziertes Bild hinsichtlich Inhalt und Form mittelalterlicher Briefe vermittelt Christine Wand-Wittkowski: Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur. Herne 2000, z. B. S. 255–266. Vgl. Gideon Burton: From ›Ars dictaminis‹ to ›Ars conscribendi epistolis‹. Renaissance Letter-Writing Manuals in the Context of Humanism. In: Letter Writing Manuals and Instruction from Antiquity to the Present. Hg. von Carol Poster / Linda C. Mitchell. Columbia 2007, S. 88–101, hier S. 93: »Attitudes about letter writing would not change until humanists began to observe the sharp distinction between the kinds of letters produced through the formal, oratorical dictaminal tradition and the letters of Cicero himself, newly rediscovered. They found Cicero’s letters more powerful and flexible, more subtle, reflective, and personal than medieval letters.« Zur Bedeutung dieser Dichotomie in der Antike vgl. die Ausführung zum »sermo cotidianus« bei Roman Müller : Sprachbewußtsein und Sprachvariation im lateinischen Schrifttum der Antike. München 2001, S. 167–175; zur frühneuzeitlichen Rezeption in Hinsicht auf die Bestimmung des Briefes E. Catherine Dunn: Lipsius and the Art of Letter-Writing. In: Studies in the Renaissance 3 (1956), S. 145–156, insbesondere S. 152.

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Rang eines Ideals expressiver Natürlichkeit. Der inhärente Widerspruch, der allen Vorstellungen natürlicher Zivilisation und zivilisierter Natürlichkeit eignet, ist hierbei nicht das Ergebnis unreflektierter Sorglosigkeit, sondern Programm. In dem vielsagenden Oxymoron einer neglegentia diligens,40 mit welchem Cicero den Kern der Attischen Schreibart zu treffen sucht, erkennen noch Generationen nach Petrarca den Topos zur Bezeichnung der Kunst, in der Gesellschaft von Menschen Mensch zu bleiben. Lang ist denn auch die Liste an Begriffen, die in den romanischen Sprachen die sichtbare Verabschiedung repräsentativer Zwänge variantenreich zum Ausdruck bringen: sprezzatura, nonchalance, gracia, candore, na"vet8, desenvoltura und andere mehr. Die »liebenswürdige Nachläßigkeit«, welche die Daphne an Hagedorn zu loben weiß,41 wird zum Ausweis einer weltoffenen Höflichkeit. Es handelt sich hierbei um das wohl meistzitierte Konzept der sogenannten Hofmann-Literatur, um die sprezzatura Castigliones (1478–1529).42 Sprezzatura, von den französischen Übersetzern gern auch mit non chalance wiedergegeben,43avanciert zum Schlagwort eines ungezwungenen, dabei aber kunstvollen Benehmens, das durch die Leichtigkeit, mit welcher sich der Höfling in die Situation fügt, und die Angemessenheit, mit welcher er sich der Themen der Unterredung annimmt, nicht nur den Wert oder Kredit des Sprechers vergrößert, sondern gleichzeitig auch die Zuhörer vergnügt. Dieses weltmännische Wesen, das seinen Erfolg im Übrigen nicht zuletzt den Damen verdankt,44 findet nach der Drucklegung des Libro del Cortegiano45 im Jahre 1528 durch zahlreiche Übersetzungen rasche Verbreitung.46 Der idealisierte Hof in Urbino wird zu einem vielbewunderten 40 Cicero: Orator, 23 (78); zur Identifikation dieser künstlichen Schlichtheit mit der Attischen Schreibart vgl. ebd., 25 (83). 41 Daphne, Zweiter Theil, Fünfzigstes Stück, S. 79; N IV, 28,26. 42 Baldessare Castiglione: Il libro del Cortegiano, I, 26. Hg. von Ettore Bonora. Mailand 1972, S. 61f. 43 Zu den verschiedenen Übersetzungen von »sprezzatura« vgl. Eric Achermann: Otium und nobilitas. Freizeit, Lust und Würde in der Frühen Neuzeit. In: El sabio y el ocio. Zu Gelehrsamkeit und Muße in der spanischen Literatur und Kultur des Siglo de Oro. Hg. von Martin Baxmeyer / Michaela Peters / Ursel Schaub. FS für Christoph Strosetzki. Tübingen 2009, S. 39–53, hier S. 48f. 44 Vgl. Marc Fumaroli: L’empire des femmes ou l’esprit de joie. In: ders.: La diplomatie de l’esprit. De Montaigne / La Fontaine. Paris 1994, S. 321–339. 45 Die Biga (165/576; N V, 102) verzeichnet die Ausgabe Venedig [In Vinegia] 1559. 46 Zur Verbreitung des Libro del Cortegiano vgl. Peter Burke: Die Geschicke des ›Hofmann‹. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten. Berlin 1996. Zu »sprezzatura« und dem Einfluss von Castigliones Modell auf die französische Hofkultur vgl. Aldo Scaglione: Knights at Court. Courtliness, Chivalry, & Courtesy from Ottonian Germany to the Italian Renaissance. Berkeley 1991, S. 233f u. 279–304; zu Castigliones Konversationstheorie vgl. Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 110–138. Zur Rezeption im deutschen Sprachraum Klaus Ley : Castiglione und die Höflichkeit: Zur Re-

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Modell geselliger Konversation, die zum Hauptinhalt sowohl einer höfischen Muße als auch einer – gegen den Ort aller Gefahr, den absolutistischen Hof gerichteten – Salonkultur wird. Scheint auch das wirkungsmächtige Libro del Cortegiano als Ausgangs- und unbestrittener Referenzpunkt der aulischen Ratgeberliteratur die sprezzatura ganz nahe an Vorstellungen höfischen Betragens zu binden, so darf darüber nicht vergessen werden, dass Castiglione hierin ein humanistisches Ideal freundschaftlicher und freier Konversation fortschreibt.47 Einer der wirkungsvollsten humanistischen Auseinandersetzungen mit der Vorstellung gepflegter Lässigkeit begegnen wir in Erasmus’ (1465–1536) De conscribendis epistolis, das der Petrarkischen Invention des briefschreibenden Privatiers mehr als nur ansatzweise die theoretischen Ehren erweist.48 Ganz richtig bemerkt Erasmus, dass die Mehrheit der tatsächlich verfassten Briefe sich der rhetorischen Trias von genus suasorium, demonstrativum und iudiciale entzieht, welche die Systematik der meisten Briefsteller wie auch des eigenen bestimmt.49 Gleichsam als generisches Residuum bleibt die »Art« übrig, »in welcher wir einem Freund mitteilen, ob eine neue Sache bei uns vorgefallen sei«.50 Die Folge zeigt, dass diese species sich hauptsächlich durch thematische und formale Heterogenität ausweist und somit dem allgemeinen Character epistolae wohl am nächsten ent-

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zeption des Cortegiano im deutschen Sprachraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. von Alberto Martino. Amsterdam 1990, S. 3–92. Zu Adaptation und Transformation antik rhetorischer Vorlagen im Konzept der sprezzatura vgl. Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, S. 26f; zum Einfluss humanistischer egalitärer Dialogvorstellungen auf die Hofmannliteratur vgl. Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes, S. 67–72. Zur Bedeutung von Erasmus’ Convivium religiosum für die Herausbildung des literarischen Gesprächs sowie des Hofmannsideals vgl. Marc Fumaroli: Otium, convivium, sermo. In: Rhetorica. A Journal of the History of Rhetoric XI/4 (1993), S. 439–443. Zu Erasmus’ Fortführung des Petrarkischen Programms vgl. Nancy S. Struever : Theory as Practice. Ethical Inquiry in the Renaissance. Chicago 1992, S. 35–56; Marc Fumaroli: GenHse de l’epistolographie classique. Rh8torique humaniste de la lettre, de P8trarque / Juste Lipse. In: Revue d’historie litt8raire de la France 78 (1978), S. 886–905. Vgl. hierzu Jacques Chomarat: Grammaire et rh8torique chez Prasme. Bd. 2. Paris 1981, S. 1003–1051; Judith Rice Henderson: Humanism and the Humanities. Erasmus’s Opus de conscribendis epistolis in Sixteenth Century-Schools. In: Letter Writing Manuals and Instruction from Antiquity to the Present, S. 141–177, hier S. 147. Diese Einteilung, die der rhetorischen Genus-Lehre des »deliberativum«, »demonstrativum« und »iudiciale« folgt, kennt changierende Bezeichnungen und Erweiterungen sowie zahlreiche weitere Unterteilungen; zu ihrer Verbreitung vgl. Maud Bingham Hansche: The Formative Period of English Familiar Letters and Their Contribution to the English Essay. Diss. Philadelphia 1902, S. 14. Vgl. Erasmus von Rotterdam: De conscribendis epistolis. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. von Werner Welzig. Bd. 8. Darmstadt 1980, S. 276: »ea species, qua significamus amico, si quid nouae rei gestum sit apud nos, […]«. Alle Übersetzungen, wo nicht anders bezeichnet, stammen vom Verfasser.

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spricht:51 Privates und Öffentliches werden mitgeteilt, die Kommunikationsziele sind mannigfaltig und der Stil entsprechend changierend. Gerade in dieser nicht oder nur schwer zu fassenden Gattung der familiaria liegt das Novum, das am deutlichsten die Distanz zur angestammten ars dictaminis anzeigt, setzt Erasmus doch an den Anfang seines Briefstellers die allgemeine Regel, allgemeine Regeln nicht zu befolgen. Analog zu seinem späteren und durchaus epochemachenden Feldzug gegen einen sklavischen Ciceronianismus52 warnt Erasmus vor einer Rhetorik, welche die Situation, den jaiq|r, verkennt und wider die rhetorische Tugend des aptum (pq]pom oder decorum) das Urteil den Umständen enthebt. Wer nicht seine Fähigkeit zur personen-, sach- und situationsadäquaten Rede übt, sondern seine Entscheidungen von einem verabsolutierten Muster abhängig macht, der verstößt gegen die wahre Beredsamkeit, wie er sie gerade von den antiken Vorbildern zu erlernen hat: Und freilich glaube ich, dass die nicht weniger unsinnig handeln, als wenn ein Schuster einem jeden Fuß einen Schuh über einen Leisten zusammennähen wollte.53

Es geht dieser anspruchsvollen Pädagogik also nicht um das Erlernen einer richtigen Form, sondern um die Fähigkeit, situations- und inhaltsadäquat zu wählen. Die Wahl des Angemessenen setzt zum einen Freiheit voraus, zum andern Selbsterkenntnis, Erkenntnis des Anderen sowie der Dinge. Das gesunde Urteil, das iudicium also, steht im Zeichen der Selbsterkenntnis, die in der Tradition eines Erasmus jedem anderen menschlichen Wissen vorausgeht. Dass besagter Schuh zu passen hat, das wusste bezeichnenderweise schon Sokrates, der die oratorische Kunst eines Lysias zwar recht schön, für sich selbst aber als unangemessen erachtete.54 51 Bereits die ersten Zeilen von De conscribendis epistolis (ebd., 8) sprechen »de re tam multiplici, propeque in infinitum varia«, »von einer so vielfältigen, ja geradezu ins Unendliche unterschiedlichen Sache«, die der Brief sei. 52 Vgl. dazu zusammenfassend Jörg Robert: Die Ciceronianismus-Debatte. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin 2010, S. 1–54. Zum Verhältnis von De conscribendis epistolis und Ciceronianus vgl. Judith Rice Henderson: Erasmus and the Art of Letter Writing. In: Renaissance Eloquence. Studies in the Theory and Practice of Renaissance Rhetoric. Hg. von James J. Murphy. Berkeley 1983, S. 331–355, hier S. 351f. 53 Erasmus: De concribendis epistolis, 8: »Neque sane ita multo minus absurde facere eos existimo, quam si sutor omni pedi ad eandem formam crepidam velit consuere.« 54 Cicero: De oratore, I, 231. Hier zit. nach der Übers. von Harald Merklin, Stuttgart 21976, S. 179: »Als /…/ ein so wortgewandter Redner wie Lysias [Sokrates] eine schriftlich formulierte Rede brachte, die er, wenn es ihm richtig schien, auswendig lernen sollte, um sich ihrer vor Gericht zu seinem Schutze zu bedienen, da las er sie nicht ungern und erklärte, sie sei recht gut aufgesetzt; ›doch‹, fuhr er fort, ›so wie ich keine Schuhe aus Sikyon anziehen würde, falls du mir die brächtest, seien sie auch noch so angenehm und passend für den Fuß, weil sie nicht männlich wären‹, so sei in seinen Augen jene Rede zwar wohlgesetzt und kunstgerecht, charakterfest und männlich sei sie freilich nicht.«

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Auf eben diesem Fundament einer von der oratorischen Beredsamkeit befreiten, bisweilen gar regelfeindlichen Rhetorik55 im Dienste eines Sokratischen »nosce te ipsum« errichtet Montaigne (1533–1592) sein stupendes Projekt einer neuen literarischen Form. In dem eigentlichen Programm, das er seinen Essais vorausschickt, kombiniert er gekonnt Topoi des Privaten und Vertraulichen mit Konzepten des Zufälligen und Planlosen: Hier hast Du ein ehrliches Buch, Leser. Es warnt Dich von Beginn weg, dass ich mir kein anderes Ziel vorgenommen habe als ein häusliches und privates. Darin habe ich keinerlei Rücksicht weder auf Deine Verdienste, noch auf meinen Ruhm genommen; meine Kräfte reichen für ein solches Vorhaben nicht aus. Ich habe es der besonderen Annehmlichkeit meiner Verwandten und Freunde gewidmet, damit sie – sobald sie mich verloren haben (was sie bald werden) – Züge meiner äußeren Umstände [conditions] und meiner inneren Anlagen [humeurs] finden werden und dadurch die Kenntnis, die sie von mir hatten, vollständiger und lebendiger genährt wird. Wäre es mir darum zu tun gewesen, die Gunst der Welt zu erlangen, so hätte ich mich schöner geschmückt und mich in einem eingeübten Gang präsentiert. Ich will, dass man mich in der einfachen, natürlichen und gewöhnlichen Art ohne Vorsatz und Kunstfertigkeit sieht: Mich nämlich male ich. Meine Fehler, meine Mängel und meine naive Form werden bis zu eben dem Grad an Lebhaftigkeit zu lesen sein, den die öffentliche Rücksichtnahme mir erlaubt hat. Wäre ich unter den Völkern gewesen, von denen man sagt, dass sie noch unter der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, so versichere ich Dir, dass ich mich sehr gerne ganz abgemalt hätte. Und ganz nackt. So bin ich also, Leser, der Stoff meines Buches. Es gibt keinen Grund, dass Du Deine Muße für einen solch frivolen Gegenstand aufwendest. Mit Gott denn; aus Montaigne, den 1. März 1580.56 55 Vgl. die deutliche Absage an eine Rhetorik, die sich selbst zum Gegenstand macht, zugunsten einer Beredsamkeit, die Inhalte vermittelt: Michel de Montaigne, Essais, I, 40 (Consid8ration sur Ciceron/ Betrachtung über Cicero). In: ders.: Œuvres complHtes. Hg. von Albert Thibaudet / Maurice Rat. Paris 1962, S. 246. Zur Opposition einer »rh8torique de l’eloquentia« und einer »rhetorique du sermo« vgl. Marc Fumaroli: De l’Age de l’8loquence / l’Age de la conversation. La conversion de la rh8torique humaniste dans la France du XVIIe siHcle. In: Art de la lettre, Art de la conversation. Hg. von Bernard Bray / Christoph Strosetzki. Paris 1995, S. 25–59, hier S. 38 u. 41f. 56 Montaigne: Essais (Au lecteur / An den Leser), 9: »C’EST icy un livre de bonne foy, lecteur. Il t’advertit d8s l’entr8e, que je ne m’y suis propos8 aucune fin, que domestique et priv8e: je n’y ay eu nulle consideration de ton service, ny de ma gloire. Mes forces ne sont pas capables d’un tel dessein. Je l’ay vou8 / la commodit8 particuliere de mes parens et amis: / ce que m’ayans perdu (ce qu’ils ont / faire bien tost) ils y puissent retrouver aucuns traits de mes conditions et humeurs, et que par ce moyen ils nourrissent plus entiere et plus vifve, la connoissance qu’ils ont eu de moy. Si c’eust est8 pour rechercher la faveur du monde, je me fusse mieux par8 et me prestenterois en un marche estudi8e. Je veus qu’on m’y voie en ma faÅon simple, naturelle et ordinaire, sans contantion et artifice: car c’est moy que je peins. Mes defauts s’y liront au vif, mes imperfections et ma forme na"fve, autant que la reverence publique me l’a permis. Que si j’eusse est8 entre ces nations qu’on dict vivre encore sous la douce libert8 des premieres loix de nature, je t’asseure que je m’y fusse trHs-volontiers peint tout entier, et tout nud. Ainsi, lecteur, je suis moy-mesme la matiere de mon livre: ce n’est pas raison que tu

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Das Zwiegespräch mit dem Leser, das wir im Vorwort finden, die Vertraulichkeit, mit der sich Montaigne eröffnet, die besondere Hervorhebung der Partikularität, des Zufälligen und Situativen, sie alle belegen die enge Verwandtschaft zwischen Brief und Essai, zwischen dem Erasmianischen aptum als Fähigkeit sich selbst auszudrücken und einer Montaigneschen Beweglichkeit und Schmiegsamkeit (souplesse) der Seele. Hinter den Gemeinsamkeiten verbirgt sich eine tiefgreifende Aversion gegen die sklavische Befolgung rhetorischer Präzepte und Vorbilder, eine Aversion, welche die Stoßrichtung der gesamten Argumentation bestimmt. Diese ihrerseits ist Ausdruck eines tieferliegenden Konflikts, sind es doch offene Widersprüche, welche die eigene Programmatik artikulieren. Für Erasmus nämlich ist es ausgemacht, dass Regeln Gewalt gegen die eigene Person üben und die Absicht behindern, sich selbst auszudrücken und den anderen als einen Sich-SelbstAusdrückenden zu verstehen: Bulephorus: […] Wenn Du Dich nicht selbst ausdrückst, so wird Deine Rede ein trügerisches Spiegelbild abgeben und nicht weniger widersinnig erscheinen, als wenn Petronius mit Farben bedecktem Gesicht sich für Nosoponus ausgeben würde. Nosoponus: Du sprichst in Rätseln. Bulephorus: Ich will es härter ausdrücken. Närrisch sind diejenigen, die sich quälen, um Cicero derart ganz zum Ausdruck zu bringen, was unmöglich ist, wäre es opportun, noch opportun, wäre es möglich.57

Das aenigma ist in Wahrheit ein Paradox: Dem Vorbild gleichzukommen, bedeutet sich selbst zu bleiben. Und sich selbst zu bleiben, bedeutet Freiheit und Vertrauen auf das eigene Urteilsvermögen. Erasmus erkennt hinter dem Nachahmungsgebot eine Pädagogik des »double bind«, da niemand vollständig frei und souverän sein kann, der sich einen Freien und Souveränen zum Vorbild nimmt. Eine humanistische Erziehung muss aber vorgängig im Selbstdenken gründen, in der Herausbildung und der Pflege des iudicium, jenes jugement also, das in Montaignes Essais zum wichtigsten Vermögen des Menschen avanciert. Und auch Montaignes gattungskonstitutiven Überlegungen, sich selbst zur Lektüre freizugeben, beruhen auf einer paradoxen Erkenntnis, dass der eigene »Vorsatz« der »natürlichen Art« entgegengesetzt sei, dass die bewusste Absicht employes ton loisir en un subject si frivole et si vain. A Dieu donq; de Montaigne, ce premier de Mars mille cinq cens quatre ving.« 57 Desiderius Erasmus von Rotterdam: Ciceronianus sive De optimo dicendi genere. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Lateinisch und Deutsch. Hg. von Werner Welzig. Bd. 7. Darmstadt 1972, S. 186: »Bulephorus: Si te ipsum non exprimis, mendax speculum tua fuerit oratio nihiloque minus absurdum videbitur, quam si coloribus oblita facie te pro Nosopono Petronium esse simules. Nosoponus: Aenigmata loqueris. Bulephorus: Dicam crassius. Ineptiunt qui se torquent in hoc, ut Ciceronem istis rationibus totum exprimant, quod fieri nec potest, si expediat, nec expedit, si fieri possit.«

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also die eigene Natur zu knebeln droht. Das Selbstbewusstsein steht in einem widrigen Verhältnis zur Selbsterkenntnis, nur im Kontrollverlust, in einem Moment des Selbstvergessens leuchtet die Partikularität auf, die den Menschen unverwechselbar in seiner Personalität und Individualität zeigt. Das aporetische Verhältnis zu den Regeln und den Mustern scheint unüberwindliche Schwierigkeiten aufzuwerfen: Wie nämlich kann Petrarca mit Verweis auf den neuentdeckten Cicero der Atticus-Briefe die Mustergültigkeit des hochangesehenen Cicero der öffentlichen Rede behaupten? Wie kann Erasmus Cicero zur Autorität eines anti-autoritären Imitationsverständnisses erheben? Und wie kann schließlich die eigentliche Abneigung des Essayisten Montaigne gegen den Periodenstil Ciceros mit seiner steigenden Bewunderung für Ciceros Verständnis von iudicium vereinbart werden?58 Als einzige Lösung bietet sich an, das neuentdeckte Feld des Briefes und des Essays von jeglichem Purismus und definitorischen Beschränkungen frei und für eine als natürlich behauptete Heterogenität offen zu halten. Kurz, es ist Willkür, die Brief und Essay auszeichnet. In dieser freien Wahl aber erscheinen beide als im Wesentlichen anti-ciceronianisch, immer vorausgesetzt wir verstehen unter »ciceronianisch« die Modellund Regelhaftigkeit der klassischen Oratorie, wobei wir sicherlich besser daran täten, den Cicero der öffentlichen Rede und den Cicero des geselligen Gesprächs als die zwei Seiten der Medaille zu betrachten, die den eigentlichen Charakter der frühneuzeitlichen Cicero-Rezeption ausmachen.59

Vergesellschaftete Natur Nicht ohne Grund hat man Montaignes Essais das Brevarium der honnÞte gens genannt.60 Sie zeichnen das neue Prosaideal eines angeregten, scheinbar ziellosen Gesprächs mit einem abwesenden Freund vor, das die Digression nicht scheut, sondern freudig aufnimmt und mit der ganzen Muße eines Mannes von Welt weiterspinnt. In dieser mäandernden Disposition, in den fantasies (Einfälle) und saillies (Scherze),61 entdeckt sich der Privatmann, der die Pedanterie des Gelehrten ebenso verwirft wie die Ostentation des Höflings. 58 Raymond C. La Charit8: The Concept of Judgment in Montaigne. Den Haag 1968, S. 11f. 59 Zu Cicero als Theoretiker des »sermo« sowie den einschlägigen Stellen vgl. Fumaroli: De l’Age de l’8loquence / l’Age de la conversation, S. 31–35. 60 Die Formulierung geht auf den Kardinal du Perron und Jean Pierre Camus, Bischoff von Bellay, zurück, welche die Essais als »br8vaire des gentilshommes« bezeichnen; vgl. Alan M. Boase: The Fortunes of Montaigne. A History of the Essays in France, 1580–1669. New York 1970, S. 116f. Zur Bedeutung Montaignes für »honnÞtet8« und Mondänität »/ la franÅaise« vgl. Marc Fumaroli: Le Prot8e franÅais et ses moralistes. In: ders.: La diplomatie de l’esprit (wie Anm. 44), S. 341–375. 61 Zu den poetischen Einfällen, die ein Analogon zu den ebenfalls unabsichtlichen, unvor-

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In seiner Paraphrase eines französischen Neologismus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verrät einer der bedeutendsten und stark in Mode gekommenen Briefsteller des frühen 17. Jahrhunderts, Jean-Louis Guez de Balzac (1597–1654), worauf es bei der Konversation eines galant homme ankomme: [Urbanität] nämlich nannten sie [die Römer] die liebenswerte Tugend des geselligen Verkehrs, die sie zwar schon manche Jahre hindurch geübt hatten, ohne ihr jedoch einen festen Namen verliehen zu haben. Und sobald der Sprachgebrauch ein Wort so schlechten Geschmacks bei uns zur Reife gebracht und die Bitterkeit der Neuheit, die wir hierin finden mögen, behoben haben wird, werden wir uns daran gewöhnen, ebenso wie es mit den anderen Wörtern geschehen ist, die wir der gleichen Sprache entliehen haben. Mag dieses Wort also in unserer Sprache ein gewisses weltmännisches Ansehen und eine gewisse Farbe und Färbung des Hofs ausdrücken, die nicht nur die Worte und Meinungen, sondern auch den Ton der Stimme und die Bewegungen des Körpers auszeichnen; mag es einen noch unmerklicheren Eindruck bezeichnen, den nur der Zufall entdeckt, dem nichts anhaftet, das nicht edel und erhaben ist, nichts, das einstudiert oder erlernt schiene, während ihm hingegen etwas zukommt, das man spürt, nicht aber sieht, und das einen geheimen Genius vermuten lässt, der sich verliert, falls man ihn sucht; mag es, in einer allgemeineren Bedeutung, die Wissenschaft von der Konversation und die Gabe in guter Gesellschaft zu gefallen ausdrücken; oder mag es, in einem engeren Sinne, als Fertigkeit verstanden werden, den Geist durch ein gewisses Etwas [je ne scay quoy] zu sticheln, wobei die Stiche aber demjenigen, der sie erhält, angenehm sind, weil sie kitzeln und nicht ritzen, weil sie einen Stachel ohne Schmerzen zurücklassen und denjenigen Teil erwecken, den die üble Nachrede verletzt.62 hersehbaren Leidenschaften des Redners bilden, vgl. Montaigne: Essais, I, 24 (Divers evenemens de mesme conseil / Verschiedene Folgen aus einerlei Ratschlägen), S. 126. Zu den »fantasies« als Mittel der Selbstdarstellung, ebd., I, 28 (De l’amiti8 / Von der Freundschaft), S. 182. 62 Jean-Louis Guez de Balzac: Svite d’vn entretien de vive voix ov de la conversation des Romains. Discovrs devxiesme (1644). In: ders.: Œuvres. Hg. von L. Moreau. Bd. I. Paris 1854, S. 234: »C’est ainsi [Vrbanit8], Madame, qu’ils appellerent cette aimable vertu du commerce, apres l’avoir pratiqu8e plusieurs ann8es sans luy avoir donn8 de nom asseur8. Et quand l’vsage aura meury parmy nous vn mot de si mauvais goust, et corrig8 l’amertume de la nouveaut8 qui s’y peut trouver, nous nous y accoustumerons, comme aux autres que nous avons empruntez de la mesme langue. / Or, soit qu’en la nostre ce mot exprime vn certain air du grand Monde et vne couleur et teinture de la Cour, qui ne marque pas seulement les paroles et les opinions, mais aussi le ton de la voix et les mouvemens du corps, soit qu’il signifie vne impression encore moins perceptible, qui n’est reconnoissable que par hazard, qui n’a rien qui ne soit noble et relev8, et rien qui paroisse ou estudi8 ou appris, qui se sent et ne se voit pas, et inspire vn genie secret que l’on perd en le cherchant; soit que, dans vne signification plus estendu[, il veuille dire la Science de la Conversation et le don de plaire dans les bonnes compagnies. Ou que, le mettant plus / l’estroit, on le prenne pour vne adresse / toucher l’esprit par je ne scay quoy de piquant, mais dont la piqueure est agreable / celui qui la reÅoit, parce qu’elle chatoüille et n’entame pas, parce qu’elle laisse vn aiguillon sans douleur et resveille la partie que la medisance blesse.« – Zum Konzept der »urbanit8« bei Balzac vgl. Alain G8netiot: Les Romains de Balzac aux origines de la conversation classique.

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Die galante Natürlichkeit ist eine delikate, eine empfindsame und gleichzeitig tändelnde, dabei aufs äußerste bedacht, heiteren Affekt zu erregen und aggressives Pathos zu meiden. In deklariertem Gegensatz zum Hof und seinen Gefahren ist das urbane Betragen darum bemüht, das vis-/-vis gleichsam mit einer Schutzhülle zu umgeben, die zu verletzen oder gar zu durchdringen als grobe Missachtung der honnÞtet8 erscheint. Galanterie berührt ohne zu verletzen. Kurz, in den Augen ihrer Verfechter ist Galanterie die Kunst natürlichen Betragens.63 Trotz der recht klaren Programmatik gibt es jedoch kaum eine andere stilgeschichtliche Bezeichnung, die zu gröberen Missdeutungen und stereotyperen Werturteilen verleitet hat – und sowohl diese als auch jene halten sich, zumindest in der deutschsprachigen Historiographie, bis heute hartnäckig.64 Grund hierfür ist zum einen die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks galant: Er bezeichnet bereits im 17. Jahrhundert mancherlei,65 wobei es hauptsächlich die moralisierende und kulturpatriotisch motivierte Identifizierung mit Liebessachen und Wollust (den sogenannten Galanteriehändeln), mit dem französischen Alamode-Wesen sowie In: Fortunes de Guez de Balzac. Hg. von Bernard Beugnot. Litt8ratures classiques 33 (1998), S. 45–66. Hamann besaß neben dem Socrates Chr8tien auch die Œuvres diverses in der Ausgabe 1658 (vgl. Biga 57/627 u. 176/754) und damit neben dem zitierten Text eines der einflussreichsten Zeugnisse französischer Konversations- und Briefkunst. Zu Balzacs Stiltheorie vgl. Jean Jehasse: Guez de Balzac et le G8nie romain (1597–1654). Saint-Etienne 1977, insbesondere S. 416f u. 441–444. 63 Die Beziehung zwischen urbanit8 und galant kommt deutlich zum Ausdruck in: Pierre Richelet: Dictionnaire de la langue franÅoise ancienne et moderne (1680). Bd. II. Amsterdam 1732, S. 929: »Urbanit8, s. f. (Elegantia, comitas.) […] signifie, Une raillierie ingenieuse, agr8able & polie, Civilit8 galante.« [Urbanität, f. (Elegantia, comitas.) /…/ bezeichnet ein einfallsreiches, angenehmes und gesittetes Scherzen, galantes Wohlverhalten.] 64 Für eine hervorragend informierte Darstellung der Grundlagen galanten Wesens vgl. Florian Gelzer : Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Berlin/New York 2007, S. 27–145. 65 Vgl. Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Bd. X, Halle: Johann Heinrich Zedler 1735, Sp. 78f: »Galant, ist ein Wort, welches aus dem Frantzösischen ins Teutsche übernommen ist, dessen Bedeutung aber vielerley, und in guten oder bösen Verstande genommen wird. In einem guten Verstande begreifft es eine anständige, es sey angeborne oder angenommene Weise, in Worten, Reden, Umgang, Kleidung und seinen gantzen Wesen, sich klüglich freudig und ungezwungen aufzuführen, und dadurch bey jedermann beliebt zu machen. Thomasius von Nachahmung derer Frantzosen. In einem bösen Verstande wird galant und Galanterie genommen, vor unzüchtige Liebe und derselben Früchte. Die Frantzosen machen einen Unterscheid unter einen homme galant, und galant-homme, davon jenes die erwehnte böse, dieses aber eine gute Bedeutung hat. […] Man könnte also galante Leute eintheilen in Schein-galante und wahrhafftige galante. Durch diese verstehet man solche Leute, die alles dasjenige wodurch ein kluger Mensch sich vor der Welt sehen lässet, nach den durch die Gewohnheit politer Welt=Leute hergebrachten Manieren und Gesetzen der Wohlanständigkeit artig und angenehm darzustellen. Hingegen ein Schein-galanter ist, der zwar ein angenehmes Exterieur an Sitten, Reden und Gebährden hat, allein nicht reelles dahinter ist.«

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einem neuen »politischen« (das heißt auf soziale Anerkennung hin ausgerichteten) Bildungsziel sind, welche Begriff und Sache in Verruf bringen. Dass ein solcher Galantismus, wie das von Hübner (1668–1731) geprägte Schimpfwort heißt,66 in Tat und Wahrheit eine polemische Verzerrung darstellt, die im krassen Widerspruch zu den hehren Tugendidealen der Ratgeberliteratur steht, dürfte seinen Grund nicht zuletzt in der anspruchsvollen und hoch problematischen Vermittlung von Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Regulativen finden, die dieses Denken ausweist. Es gehört mit zu der gern apostrophierten Ironie der Geschichte, dass es just die deklariert unprätentiöse und unaffektierte Geselligkeit französischer Provenienz ist, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einer eigentlichen Zivilisationskritik unterzogen wird. Die von den honnÞtes- und galants-hommes mit Nachdruck geforderte Natürlichkeit wird hierbei bewusst oder unbewusst an eigenen Maßstäben gemessen und für affektiert befunden, ganz ebenso wie die Überwertigkeit des französischen kulturellen Selbstverständnisses als prätentiös und die so charakteristische d8licatesse im gesellschaftlichen Umgang als preziös verworfen werden. Diese Kritik, die sich etwa in den Angriffen auf ein verweiblichtes Gesellschaftsideal durch so namhafte Autoren wie MoliHre (1622–1673)67 und Boileau (1636–1711)68 äußert, wird in Deutschland fast unverändert auf Poeten der sogenannten Zweiten Schlesischen Schule, allen voran Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679) und Lohenstein (1635–1683), appliziert.69 Die Polemik, die um den Begriff des Galanten in Frankreich entfacht, befördert jedoch keinen Umsturz der Werte im Reich des Geschmacks; und auch in Deutschland dient die erwähnte Polemik mehr der Durchsetzung galanter Geschmacksnormen als deren Beseitigung, wäre doch ein Autor wie Lohenstein dem französischen Publikum des ausgehenden 17. Jahrhunderts wohl kaum als nachahmenswertes Muster erschienen. Die Kriterien des Natürlichen, Einfachen, Freien und Edlen, sie alle sind seit den humanistischen Querelen um den

66 Johann Hübner: De duabus Scholarum pestibus Paedantismo & Galantismo. In: Miscellanea lipsiensia. Bd. 4. Leipzig 1717, S. 72–85, zu »Galantismus«: S. 79–85. 67 In seinen Pr8cieuses ridicules (1657). 68 Insbesondere in seiner X. Satire (1767) geht Boileau mit den Frauen und deren Galanterie hart ins Gericht. Der Zusammenhang zur Entwicklung neuer Stil- und Geschmacksnormen ist bedeutend, steht die Satire doch im Zusammenhang mit der »Querelle des Anciens et des Modernes«, die eine entscheidende Vorlage für die Angriffe gegen die modernistische französische Kultur darstellt; zusammenfassend vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart 1995, namentlich S. 78f. 69 Vgl. hierzu Alberto Martino: Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Bd. I. Tübingen 1975, S. 291–365.

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guten Stil bekannt und sie alle stehen auch fürderhin in hohem Ansehen.70 Dies zeigt sich etwa bei einem so bedeutenden und erfolgreichen Exponenten der Brieftheorie und -praxis wie Gellert. In seinen kurzen Gedanken von einem guten deutschen Briefe sowie in dem viel zitierten Von dem guten Geschmack in Briefen gibt er zwar elegant und ungezwungen die bekanntesten Loci der antiken, humanistischen und galanten Briefliteratur wieder – er gibt sie aber bloß wieder. Sowohl das Setting – der Austausch mit einer Freundin, die spontane Redaktion, die zufällige Aufbewahrung, die Veröffentlichung – als auch die programmatischen und stilistischen Präzepte sind nicht nur bekannt, sondern Stereotype galanter Literatur. Und dies ist Gellert ja auch durchaus bewusst. Von seinen deutschsprachigen Vorgängern Talander (i. e. August Bohse, 1661–1740), Menantes (i. e. Christian Friedrich Hunold, 1680–1721), Christian Weise (1642–1708), Christian Juncker (1668–1714) u. a. weiß er, dass »sie darinnen unglücklich [sind], daß sie den Geschmack aller alten und neuen Ausländer wider sich haben.«71 Was er empfiehlt ist Imitation und Aemulation, und er tut dies unter Anführung der einschlägigen loci classici aus dem Quintilian.72 Mit geradezu Erasmianischem Verve verwirft er vorgängige Leistungen und reduziert diese in den Gedanken auf eher seltene Glückstreffer,73 wobei sogar diese Konzession in Von dem guten Geschmacke zurückgenommen wird.74 Betrachten wir die hier zugegebenermaßen sehr kursorisch behandelte Vorgeschichte der Briefgattung und ihrer engen Verbindung zu den Vorstellungen von Freiheit und Natürlichkeit, so mag die verschiedentlich geäußerte Ein70 Zur Tradition des Attizismus, den verschiedenen Musterautoren, siehe nach wie vor Morris W. Croll: ›Attic Prose‹ in the Seventeenth Century (1921). In: ders.: ›Attic‹ and Baroque Prose Style. The Anti-Ciceronian Movement. Hg. von J. Max Patick / Robert O. Evans. Princeton 1966, S. 51–101; sowie ders.: Attic Prose. Lipsius, Montaigne, Bacon (1923), ebd., S. 167–202. 71 Christian Fürchtegott Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe. In: Belustigungen des Verstandes und Witzes. Auf das Jahr 1742. Hornung / Leipzig 1742, S. 179. 72 Gellert: Von dem guten Geschmacke in Briefen (wie Anm. 33), empfiehlt recht konventionell Imitation durch Übersetzung und Aemulation (ebd., S. 68): »Will man sich selber im Briefschreiben üben: so wird man sehr wohl thun, wenn man im Anfange gute Briefe übersetzt.«; sowie ebd., S. 72: »Wer sich gar nicht, sondern alles seinem Originale zutraut; wer im Nachahmen nichts thun will, als nur seinem Beyspiele kümmerlich folgen, der wird ihm nicht allein nicht gleichen, sondern auch stets unter ihm seyn.« Als Autoritäten für diese Haltung führt er neben Quintilian auch Erasmus an (ebd., S. 72 u. 49). 73 Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe (wie Anm. 71), S. 181: »Ich weis wohl, daß in dem Neukirch hin und wieder, in dem Patrioten, dem Biedermanne, den Tadlerinnen, dem Freymäurer und andern solchen klugen Blättern gute Stücke anzutreffen sind: Allein dieses sind einzelne Blumen, wobey man lange suchen muß, ehe man einen ganzen Straus winden kann. Neukirchs Anleitung ist freylich die beste, die wir noch zur Zeit haben, und der Werth von diesem Buche, wird vielleicht durch nichts so sehr verringert, als daß es undendlich weitläufig, und doch gleichwohl für Anfänger geschrieben ist.« 74 Gellert: Von dem guten Geschmacke in Briefen (wie Anm. 33), S. 16: »Ein Exempel von der unnatürlichen Schreibart wollen wir aus Neukirchs galanten Briefen nehmen, die man jungen Leuten zum Unglücke immer, als Muster guter Briefe, angepriesen hat.«

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schätzung überraschen, die in Barocker Titulaturwut erstarrte Mumie des deutschen Briefes erwache erst durch die sogenannte Empfindsamkeit zu neuem Leben.75 Eine solche Ansicht ist nicht bloß überraschend, sondern schlichtweg falsch: Nicht nur kennt die Frühe Neuzeit auch in den deutschsprachigen Gebieten eine intensive Produktion humanistischer Briefe in lateinischer sowie eine viel zu wenig beachtete deutsch- und französischsprachige Privat-Korrespondenz,76 sondern auch eine epistolographische Rezeptur, die in den zahlreichen programmatischen Äußerungen das Gegenteil von Perioden, Titeln oder maßlosen Komplimenten fordert.77 Die wesentliche Frage liegt vielmehr darin, 75 Welch unverblümten (und mitunter in sich widersprüchlichen) Bewertungen der Forschung zu Brief und Briefstellern auch heute noch unterkommen, zeigt etwa folgender Passus (Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003, S. 67): »Die von Vogt schon für Harsdörffer und Stieler attestierte ›Wendung zum Besseren‹ (Martin Vogt, Die deutschen Briefsteller, in: Archiv für Post und Telegraphie 8 [1935], 219) setzt jedoch erst mit der Orientierung an der galanten Sprache des Hofes – nach französischem Vorbild – ein. Waren es zuvor die Kanzleien, die mit ihren Geschäftsbriefen auch jeglichen anderen Briefverkehr bestimmen sollten, so ergibt sich nun eine Orientierung am Gesellschaftsideal der Galanterie. Nickisch (Reinhard M.G. Nickisch, Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts, Göttingen 1969, 87) weist darauf hin, daß sowohl die Orientierung am Galanten als auch am Devoten strukturell das gleiche seien: ›Da das Galante mit dem Devoten soviel gemeinsam hat, daß beide im Grunde auf Schmeichelei hinauslaufen, kann man das Galante als eine eigentümliche Spielart des Devoten ansprechen.‹ Letztlich wird auch hier nur ein Stilvorbild durch ein anderes ersetzt bzw. ergänzt. ›Galant‹, als Bestimmungsmerkmal der Literatur zwischen 1675 und 1730, bezeichnet dabei je nach Standpunkt eine mehr oder weniger definitive Strömung innerhalb barocker oder aufklärerischer Literatur und die in ihr vermittelten Kulturmuster.‹ Bis weit ins 18. Jahrhundert wird über seine Deutung gestritten (Uwe-Karsten Ketelsen, Art. ›Galante Literatur‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin 1997, 649–651, hier 649). Der kleinste gemeinsame Nenner ist dabei, daß es sich um ein an Frankreich orientiertes ›Bildungsideal und Lebensprogramm‹ (Ulrich Wendland, Die Theoretiker und Theorien der sogenannten galanten Stilepoche und die deutsche Sprache. Ein Beitrag zur Erkenntnis der Sprach-Reformbestrebungen vor Gottsched. Leipzig 1930, 1) handelt.« 76 Darauf hat bei allen nationalistischen Vorurteilen gegen ein seicht plauderndes Franzosentum bereits Georg Steinhausen (Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. II. Teil. Berlin 1891, S. 149–153) aufmerksam gemacht. Bezeichnenderweise werden auch noch in neueren Arbeiten die Briefe der Liselotte von der Pfalz (1652–1722) etwa als »Ausnahmeerscheinungen« behandelt; Regina Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese. In: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Hg. von Angelika Ebrecht / R. Nörtemann / Herta Schwarz. Stuttgart 1990, S. 211–224, hier S. 215. 77 So finden wir im Kapitel »Von dem Stylo in teutschen Briefen« des viel gescholtenen Talander (Gründliche Einleitung zu Teutschen Briefen [1706], S. 241–246) die gängigen Regeln eines attizistischen Briefstils wiedergegeben: »REGULA III. Die Phrases werden geändert/ nachdem daß die Personen seynd/ welche schreiben/ und an die man schreibet. […] REGULA IV. Der Stylus in teutschen Briefen soll deutlich seyn. […] Es wird immittelst die Deutligkeit erlanget/ wenn man (1.) Die hohen und allegorischen Redens-Arten meidet. Denn ein Brieff muß nicht anders abgefasset seyn/ als wie man in höflicher und galanter Conversation zu

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welchen Zweck eine jeweilige Regel und ein jeweiliges Muster in den zahlreichen Briefstellern und Sekretären erfüllen soll. Die an den Schulen gelehrte Sekretariatskunst zielt in erster Linie auf die ständisch geregelten negotia, mögen diese in ihrem Umfang auch weiter gefasst sein als nach antikem Verständnis;78 doch hieraus können beim besten Willen keine Geschmacksvorstellungen bezüglich freundschaftlicher Briefe abgeleitet werden, da diese – wenn überhaupt – nur am Rande im Blickfeld didaktischer und methodischer Erwägungen auftauchen. Unterrichtsliteratur neigt dazu, sich der Regel zu verpflichten, und diese gilt naturgemäß weit eher dem gesellschaftlich-repräsentativen Umgang als dem individuellen oder dem geselligen Ausdruck. Dass Gellert aber eben gerade dort, wo seine Vorgänger auf Natürlichkeit pochen, Zierlichkeit und Witz eines Menantes oder Neukirchs tadelt, mag eine Veränderung der Geschmacksvorstellung belegen, nicht aber deren Normen. Natur oder Freiheit sind ubiquitär. Viel zu oft hat die Literatur- und Kulturgeschichte mal das bloße Auftreten, mal den tieferen Sinn solcher Begriffe als Etappensiege auf dem Weg zur Individualität gefeiert, ohne die krassen Widersprüche der eigenen Befunde zu der jeweils vorherrschenden historischen Semantik näher zu erörtern, oder auch nur schon zu bemerken. Noch heute können wir in unrichtiger Verkürzung lesen, dass erst die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts der Vorstellung von Natürlichkeit und Individualität zum Durchbruch verholfen hat, obwohl es genau dieselben Argumente sind, die als zentrale Topoi eines bestimmten humanistischen sowie des gesamten galanten Kunstverständnisses fungieren. Ganz deutlich, ja ganz zuvorderst äußert sich dieses Kunstverständnis in den Leitvorstellungen der Epistolographie sowie der Essayistik. Und so ist auch die vorsichtigere Formulierung, welche die genannte Datierung auf die deutsche Kultur – mit ihrer notorischen Verspätung – beschränkt, problematisch, das heißt sie lässt sich kaum mit solcher Eindeutigkeit, oder besser : Einseitigkeit halten. Die Unterschiede in der ästhetischen Orientierung liegen nicht in der Entdeckung der Natur, was auch immer das heißen mag, sondern in den konkurrierenden Vorstellungen von Natur und einem daraus abgeleiteten Ethos natürlichen Lebens. Für den galanten Menschen bezeichnet Natürlichkeit etwas reden pfleget. Was Poetisch und allzu Oratorisch klinget/ das schickt sich in keinen Brieff. […]. REGULAVI. Man soll in teutschen Briefen die Construction nicht verwerffen/ sondern selbige sowohl der Deutlichkeit/ als Zierlichkeit halben nach ihrer natürlichen Eigenschaft behalten.« – Einen guten Einblick in die bereits bei den Humanisten topischen Invektiven gegen gotische Barbarei, Pedanterie und Formelwesen in Briefen liefert Kurt Smolak: Einleitung zu ›De conscribendis epistolis‹. In: Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Bd. 8. Darmstadt 1995, S. XLII–LIX. 78 Von alters her gelten für die »negotiales« oratorische Regeln, für die »familiares« aber die Tugenden des attischen Stils; vgl. Smolak: Einleitung zu ›De conscribendis epistolis‹, S. XVf.

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Leichtes, dem pedantische Regelhaftigkeit, fanatische Rechthaberei und ostentative Machtansprüche Feind sind. Im Begriff der Urbanität verbinden sich Scherz, Anstand, ästhetische Qualität, der Zufall, die Einbildungskraft und der gute Geschmack zu einer Kunstauffassung, der eine delikate Anthropologie und eine gepflegte Soziabilität inhäriert. Gerade in der stets betonten Zentralität von aptum und iudicium wird die Flexibilität und damit die anthropologische Grundvoraussetzung für ein Leben in der Gesellschaft hervorgehoben. Wer nicht in Ansehung oder Rücksicht auf den Anderen reden oder schreiben kann, der weiß nicht, was »Rücksicht« heißt. Der Brief erscheint in dieser Kunstauffassung als privilegiertes Medium, simuliert er doch durch die Lebhaftigkeit, die durch die bloße Vorstellung eines vis-/-vis in den eigenen Formulierungen bewirkt werde, nicht nur die Präsenz dieses anderen, sondern befördert durch die Simulation die eigentliche Lebendigkeit des Menschen als sozialen Wesens. Geradezu unausweichlich begegnen wir in den Briefstellern dem Topos des Gesprächs mit einen abwesenden Freund,79 und dies nicht etwa erst im 18. Jahrhundert. Dieses Gespräch aber erscheint, solange es aptum und iudicium fordert und damit ingenium voraussetzt, nicht etwa als inhaltsleere Floskel, sondern bezeichnet eben genau dasjenige, was diese Anthropologie als Natur vorsieht.

Denkwürdiger Sokrates Hamann ist die Rolle, die Erasmus und Montaigne in der Transformation des witzigen Gesprächspartners und höflichen Tischbruders Sokrates zu einem Ideal humanistischer Soziabilität und christlicher Lebensführung spielen, offensichtlich bewusst. In der Einleitung zur Erstgeburt seiner »eigentl. Autorschaft«80, den Sokratischen Denkwürdigkeiten, bemerkt er, dass »Erasmus im Spott sein Knie für den heiligen Sokrates« biege, wodurch er auf nichts anderes anspielt als auf den berühmt-berüchtigten Ausruf Nephalius’ in Erasmus’ Colloquium religiosum: »Sancte Socrates, ora pro nobis«.81 Welche zentrale Rolle die Figur des Sokrates für Erasmus’ humanistisches Christentum spielt, wird 79 Beispiele bei Wolfgang G. Müller : Art. »Brief«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gerd Ueding. Bd. 2, Sp. 61 u. 67; Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien 2000, insbesondere S. 26–32. 80 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 6. Januar 1785, ZH V, 315,21f. 81 Desiderius Erasmus von Rotterdam: Colloquium religiosum. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. von Werner Welzig. Bd. 6. Darmstadt 1967, S. 86. Erasmus’ Ausspruch findet sich im Übrigen auch bei Jean-Baptiste Boyer d’Argens kommentiert: Lettres juives. Correspondance philosophique, historique et critique, entre un juif voyageur / Paris & ses correspondans en divers endroits. 44. Brief. Bd. II. Amsterdam 1736, S. 110.

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jedem Leser bewusst, der neben das Enchiridion militis Christiani den Anfang des dritten Buches der Apophthegmata hält,82 in welchem der weise Athener als Verkünder einer christlichen Sittenlehre erscheint.83 Ebenso bekannt dürfte Hamann das Sokrates-Bild sein, das die Essais zeichnen. Ihnen nämlich verdankt Sokrates in erster Linie seine Karriere als Erzvater attischer Urbanität und Schutzpatron einer weltgewandten, asystematischen Philosophie im Dienste lebendiger Unterredung. Ganz analog zu Erasmus’ Insistieren auf der Vorgängigkeit der Selbsterkenntnis wird Montaigne nicht müde, die Herabholung der Philosophie aus dem Himmel auf die Erde mit der Forderung nach einer Sittenlehre in Ansehung der grundlegenden Soziabilität des Menschen zu verbinden. Wer aber eine Philosophie nach menschlichem Maß vertritt, der misst sich an den Menschen; und so sind die »schönsten Seelen diejenigen, die am meisten Abwechslung und Schmiegsamkeit haben.«84 Auch hier findet das epistolarische aptum über den Begriff der Konversation sein Regulativ in einer Leutseligkeit, deren Prüfstein das Gewöhnliche und Niedrige ist: Wir leben und verkehren mit dem Volke. Wenn seine Unterredung uns verstimmt, wenn wir es verachten, uns den niedrigen Seelen zuzuwenden – und die niedrigen und gewöhnlichen sind oft ebenso wohlgeraten wie die allersubtilsten (alle Weisheit ist fade, die sich nicht der allgemeinen Fadheit anzupassen weiß) –, so brauchen wir uns nicht mehr in unsere eigenen, noch in fremde Angelegenheiten zu mischen, denn sowohl die öffentlichen als auch die privaten werden mit diesen Menschen ausgehandelt. Die am wenigsten forcierten und natürlichsten Bewegungen unserer Seele sind die schönsten, die beste Beschäftigung die ungezwungenste. Mein Gott, was für gute Dienste erzeigt die Weisheit jenen, deren Begierden sie nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten ordnet! Es gibt kein nützlicheres Wissen. »Sofern man kann«, war Sokrates’ Kehrreim und Lieb-

82 Desiderius Erasmus von Rotterdam: Apophthegmatvm ex optimis vtrvsqve linguae scriptoribus, III. Lyon 1558, S. 161–184. 83 Ebd., 1, S. 161: »Dicebat Deos omnium optimos ac felicißimos, ad horum similitudinem quk quisq; propius accederet, hoc & meliorem esse & beatiorem. Si corrigas unius uocis numerum, nihil dici potest Christianius.« (Er sagte, dass die Götter im höchsten Maße gut und glückselig seien, und was ihrer Ähnlichkeit am nächsten komme, das sei sowohl besser als auch seliger. Wenn Du bloß den Numerus des Ausdrucks korrigierst, so kann nichts Christlicheres gesagt werden.) – Vgl. Marc Fumaroli: De l’Age de l’8loquence / l’Age de la conversation (wie Anm. 55), S. 30: »Le sermo cic8ronien, h8ritier latin de la parole socratique, qui pour Erasme est l’8quivalent pa"en de la parole de vie 8vang8lique, […].« (Der »sermo« Ciceros, lateinisches Erbe des sokratischen Wortes, ist für Erasmus die heidnische Entsprechung des evangelischen Wortes des Lebens.) – Auf die zentrale Rolle der Selbsterkenntnis im Augustinismus, insbesondere bei Montaigne und dessen »Wahltochter« (fille d’alliance), Mme de Gournay (1565–1645), verweist Jean Jehasse: La renaissance de la critique. L’essor de l’Humanisme 8rudit de 1560 / 1614. Saint-Ptienne 1976, S. 318–321. 84 Montaigne: Essais, III, 3 (Des trois commerces), S. 796: »Les plus belles ames sont celles qui on plus de variet8 et de soupplesse.«

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lingswort, ein Wort von großer Substanz. Wir sollten unsere Begierde auf die einfachsten und naheliegendsten Dinge richten und zielen.85

Sowohl Erasmus’ aptum als auch Montaignes souplesse stellen wiederkehrende Momente, ja geradezu charakteristische Kennzeichen der intensiven literarischen Rezeption dar, die dem attischen Unterredungskünstler Sokrates im 17. und 18. Jahrhundert zuteilwird.86 Nach Hamanns eigener Aussage87 lagen ihm beim Verfassen der Denkwürdigkeiten nur gerade zwei Werke als Quellen vor, nämlich Christian Thomasius’ Übersetzung von Charpentiers (1620–1702) La vie de Socrates88 sowie Coopers (1722–1769) The Life of Socrates.89 Beide Werke stehen, bei allen Unterschieden, im Zeichen einer grundlegenden und konfliktträchtigen Frage, ob es nämlich möglich sei, auch ohne Kenntnis der christlichen Offenbarung sittliche Wahrheit zu lehren und ein tugendhaftes Leben zu führen.90 Hamanns zustimmender Verweis auf Georg Ludwig von Bars 85 Ebd., S. 797f: »Nous vivons, et negotions avec le peuple; si sa conversation nous importune, si nous desdaignons / nous appliquer aux ames basses et vulguaires, et les basses et vulgaires sont souvent aussi regl8es que les plus d8liees (est toute sapience est insipide qui ne s’accommode / l’insipience commune) il ne nous faut plus entremettre ny de nos propres affaires, ny de ceux d’autruy ; et les publiques et les privez se demeslent avec ces gens l/. Les moins tendues et plus naturelles alleures de nostre ame sont les plus belles; les meilleures occupations, les moins efforc8es. Mon Dieu, que la sagesse faict un bon office / ceux de qui elle renge les desirs / leur puissance! il n’est point de plus utile science. »Selon qu’on peut«, c’estoit le refrain et le mot favory de Socrates, mot de grande substance. Il faut addresser et arrester nos desirs, aux choses les plus ays8es et voysines.« 86 Zu Sokrates’ Weiterleben vgl. die immer noch sehr lesenswerte Untersuchung von Benno Böhm: Sokrates im Achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegang des modernen Persönlichkeitsbewußtseins. Leipzig 1929. 87 Brief an Johann George Scheffner vom 11. Februar 1785, ZH V, 358,20ff. 88 Der Text erscheint ein erstes Mal anonym und zwar als Einleitung zu einer Übersetzung von Xenophons Memorabilia (Francois Charpentier): Les choses memorables de Socrate, ouvrage de Xenophon Traduit du Grec en FranÅois. Avec La Vie de Socrate, Nouvellement compos8e & recueillie des plus celebres Autheurs de l’Antiquit8. Paris 1650. Die Biga (111/ 222) verzeichnet die deutsche Übersetzung als Hamanns Besitz: Ebenbild eines wahren und ohnpedantischen Philosophi, oder Das Leben Socratis, Übers. von Christian Thomasius, Halle 1720. Blankes (HHE II, 43–45) Einschätzung dieses Werkes ist nicht nur aufgrund der Wertung unhaltbar, die er Benno Böhm (Sokrates im Achtzehnten Jahrhundert [wie Anm. 86], S. 80) nachschreibt, sondern auch inhaltlich und formal vollkommen unzutreffend. 89 John Gilbert Cooper : The Life of Socrates, collected from the Memorabilia of Xenophon and the Dialogues of Plato. London 1750. 90 Vgl. Christian Thomasius: Vorbericht an den Leser, unpag. Thomasius verwirft die Position eines Ficino oder eines Champier, in Sokrates eine Präfiguration des Erlösers zu sehen. – Zur Auseinandersetzung um Sokrates’ »Christlichkeit« vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Sokrates im Dickicht der deutschen Aufklärung. In: Der fragende Sokrates. Hg. von Karl Pestalozzi. Stuttgart 1999, S. 132–151, vor allem S. 137f u. 143f; zu Hamanns Sokrates-Bild vgl. S. 145–151; zu den Debatten vgl. auch Böhm: Sokrates im Achtzehnten Jahrhundert, S. 134–160.

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(1701–1762) elegante, fingierten Adressaten zugedachte Versepisteln91 zeigt zumindest an, wie er die Frage entschieden sehen möchte: Die Geschichte steht im Zeichen der göttlichen Vorsehung, und so erscheint Sokrates als einer, der durch seine denkwürdigen Taten und Aussprüche zu uns spricht.92 In der Paulinischen Einsicht, die den Geist (das iudicium) über den Buchstaben (die äußere Form) setzt, entdeckt Erasmus den Ausweis wahrer Freiheit, die das Christentum mit einer wohlverstandenen Antike zu vereinen versteht.93 Und hierbei vermag es kein anderer auch nur annähernd Sokrates den Rang streitig zu machen, in seiner Vernunftskepsis und seiner Tugendhaftigkeit den Geist des Christentums genauer präfiguriert zu haben. Die Sokratische Methode der ironischen Distanzierung fungiert als Korrektiv einer sich selbst behauptenden Vernunft, zwingt sie den Menschen doch der angeblichen Gewissheit als einem starren Götzen zu misstrauen. Nicht anders begründet Montaigne sein Sokrates-Bild, das in der Folge eines der beliebtesten Modelle für den honnÞte homme liefern wird. Die politisch-ethische Absicht, der Staatsräson den Spiegel republikanischer Gleichheit, den prunkvollen grand d%ners attische Symposien, der auf Prunk bedachten Repräsentation eine natürliche Lebensführung entgegenzuhalten, findet bezeichnenderweise in Sokrates ihre eigentliche Galionsfigur. Für Montaigne erscheint er als Inbegriff der na"vet8 sowie als Lehrmeister einer recht verstandenen humanitas, der gegen die ostentation der Welt die Weisheit vom Himmel auf die Erde holt: 91 Hamanns Verweis bezieht sich wohl auf eine Fußnote von Bars zu einem Vers, in welchem dieser die antiken Philosophen zu Instrumenten der Offenbarung analog zum auserwählten Volk der Juden erklärt: »Que le Ciel aux Gentils choisit pour InterprÞtes. Ceux qui pourroient penser qu’on fait ici trop d’honneur aux Sages du Paganisme, sont pri8s de considerer qu’on n’avance rien qui soit indigne de la Providence divine. La pens8e appartient / Sextus l’Empirique, & quand elle seroit absolument fausse, le Sage est toujours un Present du Ciel; heureux le Climat qui en profite!« [Dass der Himmel die Heiden zu seinem Übersetzer wählte./ Diejenigen, die glauben könnten, dass wir hier den Weisen des Heidentums zu große Ehre erweisen, bitten wir zu bedenken, dass wir nichts vorbringen, das der göttlichen Vorsehung unwürdig wäre. Dieser Gedanke stammt von Sextus Empiricus, und wäre er auch vollkommen falsch, so bleibt der Weise immer ein Geschenk des Himmels. Selig das Klima, dem dieser Vorteil zukommt!] Georg Ludwig von Bar : Ep%tres diverses sur des sujets diff8rens. 2. Brief (an Thomas Diaforius). Bd. II. London 1745, S. 37. 92 Zu Hamanns Geschichtstheologie vgl. Oswald Bayer: Scheidekunst und Ehekunst. Glaube und Geschichte bei Kant und Hamann. In: Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung. Hg. von Jörg Frey / Stefan Krauter / Hermann Lichtenberger. Tübingen 2009, S. 611–632, hier S. 624–631. 93 Chris L. Heesakkers: Erasmus and the Philological Study of the New Testament. In: Between Scylla and Charybdis. Learned Letter Writers Navigating the Reefs of Religious and Political Controversy in Early Modern Europe. Hg. von Jeanine de Landtsheer / Henk Nellen. Leiden 2011, S. 35–52, hier S. 40: »Erasmus’ further life and ideal: to put the gifts of the Muses, the knowledge of ancient culture and the philological means to acquire it, for the benefit of the sacred writings.«

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Wir nehmen die Anmut nur zugespitzt, aufgedunsen und durch Kunstgriffe aufgeblasen wahr. Diejenige aber, die unter der Oberfläche von Naivität und Einfachheit dahingleitet, entzieht sich leicht dem groben Auge, wie es das unsrige ist. Sie hat eine delikate und verborgene Schönheit; es bedarf eines klaren und gereinigten Auges, um dieses geheime Licht zu entdecken. Ist es nicht so, dass bei uns Naivität mit Dummheit verwandt und Gegenstand des Tadels ist? Sokrates bewegt seine Seele mit natürlicher und gemeiner Bewegung: So spricht ein Bauer, so spricht eine Frau. Nie hat er etwas anderes im Mund als Fuhrleute, Tischler, Schuhmacher und Maurer. Es sind Schlüsse und Vergleiche, die aus den gewöhnlichsten und bekanntesten Handlungen der Menschen gezogen werden. Jeder versteht ihn. Unter einer solch verächtlichen Form hätten wir niemals die Würde und Pracht seiner bewundernswerten Vorstellungen wahrgenommen, wir, die wir all diejenigen für platt und niedrig erachten, die von keiner Lehrmeinung erhoben werden, wir, die wir den Reichtum nur im Wunderbaren und im Pomp wahrnehmen. Unsere Welt ist nur zur ostentativen Schau gebildet: Die Menschen blasen sich mit blossem Wind auf und bewegen sich hüpfend wie Ballone. Dieser aber, Sokrates, nimmt sich keine leeren Einbildungen vor. […] Er ist es, der die menschliche Weisheit vom Himmel, wo sie ihre Zeit verplemperte, zurückholte, um sie dem Menschen wiederzugeben, wo ihre richtigste und anspruchsvollste Aufgabe liegt, und ihre nützlichste. Seht ihn, sich vor seinen Richtern verteidigen, seht, durch welche Gründe er seinen Mut gegen die Fährnisse des Krieges anstachelt, welche Argumente seine Geduld gegen Verleumdung, Tyrannei, Tod und den Starrsinn seiner Frau härten. Nichts ist der Kunst oder Wissenschaft entliehen; auch der einfachste erkennt darin seine Mittel und seine Kraft. Es ist nicht möglich, sich weiter zurück und tiefer zu stellen. Der menschlichen Natur hat er einen grossen Dienst erwiesen, denn er hat ihr gezeigt, wie viel sie von sich aus kann.94

94 Montaigne: Essais, III, 12 (De la Physionomie), S. 1013–1015: »Nous n’appercevons les graces que pointues, bouffies, et enfl8es d’artifice. Celles qui coulent soubs la nayfvet8, et la simplicit8 eschapent ays8ement / une veu[ grossiHre comme est la nostre; elles ont une beaut8 d8licate et cach8e; il faut la veu[ nette et bien purg8e pour descouvrir cette secrette lumiHre. Est pas, la na"fvet8, selon nous, germaine / la sottise, et qualit8 de reproche? Socrates faict mouvoir son ame d’un mouvement naturel et commun: Ainsi dict un pa"san, ainsi dict une femme. Il n’a jamais en la bouche que cochers, menuisiers, savetiers et maÅons. Ce sont inductions et similitudes tir8es des plus vulgaires et cogneues actions des hommes; chacun l’entend. Soubs une si vile forme nous n’eussions jamais choisi la noblesse et splendeur de ses conceptions admirables, nous, qui estimons plates et basses toutes celles que la doctrine ne releve, qui n’apercevons la richesse qu’en montre et en pompe. Nostre monde n’est form8 qu’/ l’ostentation: les hommes ne s’enflent que de vent, et se manient / bonds, comme les balons. Cettuy-cy ne se propose point des vaines fantasies: […]./ C’est luy qui ramena du ciel, oF elle perdoit son temps, la sagesse humaine, pour la rendre / l’homme, oF est sa plus juste et plus laborieuse besoigne, et plus utile. Voyez-le plaider, devant ses juges, voyez par quelles raisons il esveille son courage aux hazards de la guerre, quels argumens fortifient sa patience contre la calomnie, la tyrannie, la mort et contre la teste de sa femme; il n’y a rien d’emprunt8 de l’art et des sciences; les plus simples y recognoissent leurs moyens et leur force; il n’est possible d’aller plus arriere et plus bas. Il a faict grand faveur / l’humaine nature de montrer combien elle peut d’elle mesme.«

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Sokrates steht für ein Menschsein nach menschlichem Massstab, für ein Menschsein, das keinem Menschen fremd ist: »Homo sum, nil humanum a me alienum puto«.95 Darin unterscheide sich Sokrates von dem sittenstrengen Cato, dem die Rolle des Vorbilds aberkannt wird. Unbestechliche Tugendhaftigkeit nämlich überschreite die Grenzen, welche die Natur dem Menschen setzt: »unsere ganze Befähigung, die über die natürliche hinausgeht, ist mehr oder minder eitel und überflüssig.«96 Sokrates aber ist allem Starren und Strengen Feind.97 Ganz in dieser Tradition können wir bei Charpentier und somit auch bei Thomasius lesen, dass Sokrates »mit einer wundersamen Freundligkeit/ und grossen Klugheit begabet gewesen/ daß Er sich so wohl in Zeit und Ort schicken/ und doch dabei allenhalben das Ansehen eines Weisen Mannes erhalten konnte«.98

Stylus atrox Hamanns Sokratismus, der nichts, aber auch gar nichts von einem Platonismus hat, muss in diese Tradition eines Montaigne, eines Charron (1541–1603) und eines Guez de Balzac (1597–1654)99 gestellt werden, die ihrerseits allesamt der Xenophonischen Überlieferung der Memorabilia verpflichtet sind. Sokrates dient ihnen als Muster eines Rollenspiels, das im Wissen um die condition hu95 »Ich bin ein Mensch; nichts Menschliches erachte ich als mir fremd.« Der Ausspruch aus Terenz’ Heautontimorumenos (77) tritt bei Hamann und seinen Zeitgenossen geradezu leitmotivisch auf. Hamann zitiert ihn in seiner Beylage zum Dangeul (N IV, 229,12f) sowie wohl ein gutes Dutzend Mal in seinen Briefen (aus allen Phasen seines Lebens). 96 Montaigne: Essais, III, 12 (De la Physionomie), S. 1016: »Toute cette nostre suffisance, qui est au del/ de la naturelle, est / peu prHs vaine et superflue.« 97 So findet sich bei einem der meist gelesenen Autoritäten der »honnÞtetH«, dem Chevalier de M8r8 (1607–1684), das Sokrates-Bild kurz und bündig auf ein geselliges Ideal reduziert: »Je voudrois qu’un honnÞte home f0t plus doux & caressant, qu’.pre & severe, & qu’il aim.t / s’insinuer d’une maniHre agreable & commode pour tout sorte de personnes, comme en usoit le bon Socrate.« (Ich möchte, dass ein »honnÞte homme« sanfter und schmeichelnder als rauh und streng sei und dass er sich gern auf angenehme und gefällige Weise bei allen Arten von Menschen einschmeichle, wie es Sokrates zu tun pflegte.) Antoine Gombaud Chevalier de M8r8: De la vraie HonnÞtet8. II. Discours. In: ders.: Œuvres posthumes. Paris 1700, S. 64. – Zur Tradition eines »honneten« Sokrates in der Nachfolge Montaignes vgl. Boase: The Fortunes of Montaigne, S. 316; Maurice Magendie: La politesse mondaine et les th8ories de l’honnÞtet8, en France, au XVIIe siHcle, de 1600 / 1660. Paris 1925. Bd. I, S. 378. 98 Francois Charpentier: Ebenbild eines wahren und ohnpedantischen Philosophi, oder Das Leben Socratis, S. 71. 99 Jean-Louis Guez de Balzac: Socrate chr8tien (1655). Hamann zitiert in einer späteren Anmerkung zu den Sokratischen Denkwürdigkeiten aus dem fünften Discours. In unserem Zusammenhang ist neben der von Hamann angeführten Vernunftkritik vor allem auf den zweiten Discours zum »Ego sum« zu verweisen, in welchem Balzac gegen die Schulrhetorik den »sermo humilis« Jesus Christus als »abaissement« (Herunterlassung) verteidigt; vgl. Œuvres, II/1, S. 214–216.

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maine100 bald naiv, bald ironisch, bald derb, bald schmeichelnd, bald fintenreich, bald ungekünstelt, bald freundschaftlich, bald strafend ist. Diese hypokrisis will Hamann als wesentliche Qualität einer lebendigen Konversation, nicht als höfische Verstellung verstanden wissen. Sie ist – in seiner Wortwahl – Handlung (actio) und damit die wahre »Seele der Beredsamkeit«.101 Das Sokratische Gespräch reflektiert so das Sokratische Wort »Rede, daß ich Dich sehe«,102 welches Erasmus dem Vater der Maieutik in den Mund legt und Hamann ihm nachspricht.103 Das Sokratische Gespräch reflektiert aber auch 100 Vgl. etwa Pierre Charron: De la sagesse (1601), I, 1 (Qui est la cognoissance de soy, et de l’humaine condition). Hg. von Barbara de Negroni. Paris 1986, S. 47: »Socrates fut jug8 le plus sage des hommes, non pour estre le plus sÅavant et plus habile, ou pour avoir quelque suffisance par dessus les autres, mais pour mieux se cognoistre que les autres, en se tenant en son rang, faire bien l’homme. […] car estant homme comme les autres, foible et miserable, il le sÅavoit bien, et recognoissoit de bonne foy sa condition, se regloit et vivoit selon elle.« (Sokrates wurde für den weisesten Menschen gehalten, nicht weil er der gelehrteste und der geschickteste war, oder weil er Fähigkeiten besessen hätte, die über diejenigen der anderen hinausgingen, sondern weil er sich besser kannte als die anderen, weil er zu seinem Rang hielt, sich ganz Mensch gab. /…/ da er nämlich Mensch war wie die anderen, schwach und armselig, so wusste er dies wohl, und akzeptierte aufrichtig seinen Zustand, passte sich an und lebte diesem gemäß.). 101 Dem Leser unter der Rose! In: Kreuzzüge des Philologen, N II, 116,17f. Hamann fügt zu »Handlung« den späteren Nachtrag »Upojqisir« hinzu. Dass die »actio« das erste, das zweite und das dritte eines Redners sei, ist ein Ausspruch des Demosthenes, den sowohl Cicero als auch Quintilian überliefern; vgl. Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997, S. 164. Der Ausspruch findet sich auch in Erasmus: Apophthegmatvm, IV, 19, 329: »Cuidam percontanti, quid esset in eloquentia praecipuum, respondit [Demosthenes] hypocrisis, hoc est, actio. Roganti quid proximum, respondit actio. Roganti qui tertium, nihil aliud respondit qu/m actio: tantum tribuens pronuntiationi, ut in ea totum situm existimaret. Actio autem multa complectitur, uocis moderationem, oculorum uigorem, uultus habitum, et totius corporis gestum.« (Als sich jemand bei Demosthenes erkundigte, was in der Beredsamkeit das Wichtigste sei, antwortete er ›hypocrisis‹, das heißt Handlung. Als er gefragt wurde, was als Nächstes käme, antwortete er ›Handlung‹. Als er gefragt wurde, was als Drittes käme, antwortete er nichts anderes als ›Handlung‹. So viel gestand er der ›pronuntiatio‹ zu, dass ihm in ihr alles enthalten dünkte. Die Handlung nämlich umfasst vieles, die Führung der Stimme, die Stärke des Blickes, den Ausdruck des Gesichtes und die Gebärde des ganzen Körpers.). 102 Erasmus: Apophthegmatvm, 177: »Loquere igitur, inquit, adolescens, ut te uideam: significans ingenium hominis non tam in uultu relucere, qu/m in oratione, qukd hoc sit certißimum minim8q; mendax animi speculum.« (Rede also, sagte er /Sokrates/, Jüngling, dass ich dich sehe, was so viel heißt, als dass das Naturell des Menschen nicht so sehr im Gesicht als vielmehr in der Rede widerscheint, denn diese ist ein sicherer und weniger trügerischer Spiegel des Geistes.). 103 Zum Topos, weiteren Stellen und der diesbezüglichen Forschung vgl. Joachim Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff. Bd. II: Klassiker der Neuzeit. Tübingen 2005, S. 6–12; zur Bedeutung der Stelle für Hamann vgl. Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988, S. 93–99 u. 247; zur Verbreitung des Apophthegmas in der Frühen Neuzeit vgl. Kenneth Haynes: Loqvere vt te videam. Towards

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Hamanns eigene Rede, die fundamental durch die Form des schriftlichen Gesprächs, des Briefes also, bestimmt ist. Und es reflektiert schließlich die sprechenden Zeugnisse der Geschichte, die sich dem »Liebhaber der langen Weile« in den historisch, räumlich und zeitlich bedingten Worten einer ungeordneten Überlieferung essayistisch erschließen. Mag die Ansicht auch noch so verbreitet sein, dass Hamanns erste Versuche in der schönen Literatur, seine mutmaßlichen Daphne-Beiträge also, wenig bis nichts mit Inhalt und Stil jenes Werkes zu tun haben, dessen Anfang Hamann selbst bekanntlich auf das Erscheinen der Sokratischen Denkwürdigkeiten datiert, so erweist sich die gesellige Anthropologie und die stiltheoretische Figur der natürlichen Nachlässigkeit bei näheren Hinsehen als wesentlich langlebiger. Hamanns Autorschaft ist und bleibt grundlegend dialogisch.104 Sie will hauptsächlich Rede sein, und diese Rede ist sermo, nicht contentio. In voller Übereinstimmung mit der Tradition eines Cicero oder Quintilian, die für den sermo das genus dicendi humile vorsehen,105 hebt Hamann immer wieder die Eigenheiten seines Stils hervor, dessen Niedrigkeit, Individualität und spontane Bewegtheit. Es ist die Sprechhandlung, der Wortwechsel, der alle Erkenntnis begründet, ja Hamann präzisiert mit Young (1683–1765) bekanntlich, dass speech (also sermo) sowohl Mittel als auch Maßstab sei.106 Und so ist für the Life of an Apophthegm. In: Literary Imagination. The Review of the Association of Literary Scholars and Critics 4/2 (2002), S. 266–271. Zur Popularität dieses Apophthegmas in der deutschsprachigen, nicht zuletzt galanten Literatur und der Verbindung des Topos mit der »actio«-Lehre vgl. Manfred Beetz: Dialogische Rhetorik und Intertextualität in Hamanns ›Aesthetica in nuce‹. In: Acta 1992, S. 79–106, hier S. 94. Harsdörffer etwa, der den Ausspruch im Übrigen Alcibiades zuspricht, erkennt den Zusammenhang mit dem Problem der »hypokrisis« sehr genau: »Gleichwie man die Kräuter an ihren Blättern unterscheidet/ die Thiere an ihrer Stimme erkennt/ die Metall nach der Farbe und dem Gewicht beurtheilt: Also sihet man von den Worten/ was dieser und jener im Schilde führet/ und was von seinem Verstand für ein Urtheil zu schopffen: Deßwegen Alcibiades zu einem Jüngling recht gesagt: Rede/ daß ich dich sehe. Daß aber unter solcher Höflichkeit zu weilen eine Falschheit verborgen/ so muß man solches Gott/ als aller Menschen Hertzenkündiger/ heimstellen/ und sich für so verdächtigen Freunden hüten/ so viel man kann und mag.« [Georg Philipp Harsdörffer :] Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil. Oder : Allen Cantzleyen/ Studier= und Schreibstuben dienliches Titular und Formularbuch. Vorrede deß andern Theils. Bd. II. Nürnberg 1661, Aiiv–Aiiir. 104 Vgl. den hervorragenden Beitrag von Beetz: Dialogische Rhetorik und Intertextualität (wie Anm. 103); sowie Christina Reuter : Autorschaft als Kondeszendenz. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität. Berlin 2005, passim; im Hinblick auf die Epistolarität namentlich ebd., S. 130–156. 105 Was Hamann natürlich bewusst ist (Kleeblatt Hellenistischer Briefe, Erster Brief, N II, 171,30f): »Der Zeitungs- und Briefstyl gehören nach allen Rhetoricken zum humili generi dicendi«. Er erkennt in dieser Stillage »die Schreibart der Bücher des N.[euen] B.[undes]« sowie den Erweis ihrer Originalität (ebd., 172,1f). 106 Vermischte Anmerkungen, N II, 129,5f: »Der Reichthum aller menschlichen Erkenntnis beruhet auf dem Wortwechsel;* / * Speech, thought’s canal! speech, thought’s criterion

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Hamann – auch hierin ganz in der geschilderten Tradition – unter den partes rhetoricae die actio oder pronuntiatio die wichtigste. Fragte man Daphne, und mit ihr wohl eine ganze Reihe der Exponenten der Konversationstheorie,107 so fügte sie wohl hinzu, dass die durch actio mitgeteilten und verursachten Empfindungen eben »so natürlich sind, als dem Leibe die Bewegung«.108 Der Unterschied in stiltheoretischer und poetologischer Hinsicht zwischen den Wertvorstellungen, die hinter einem Projekt wie der Daphne stehen, und dem späteren Werk Hamanns liegt nicht in der Wiederentdeckung von Natürlichkeit oder Individualität, sondern in einer vorbehaltlosen Annahme des Erasmischen und Montaigneschen Erbes. Aus den geschilderten Aporien heraus argumentiert er für einen Kommunikationsbegriff, der die innere Zerrissenheit nicht überspielt, sondern zur unvermeidlichen Bestimmung aller Mitteilung und Konversation macht: Das Gespräch erfordert Individualität und Anpassung. Und diese Gleichzeitigkeit ist und bleibt problematisch, ja das Problem selbst bildet das arcanum, das den Kern der Kommunikation ausmacht. Es geht Hamann also weder um die Entdeckung noch um die Verbannung der Empfindung, sondern um die Eliminierung einer Empfindsamkeit, die ihm gar zu empfindlich erscheint. Die delicatesse gilt ihm als eine falsche Natürlichkeit, da sie den notwendig mitzudenkenden Adressatenbezug des sermo nicht in dessen Ursprung erkennt, das heißt bei dem Autor aller Autoren. Gottes too!« Wieso diese ganze Gedankenentwicklung ironisch sein soll (der folgende Satz kommt zudem ja auf Luther zu sprechen), wie Elisabeth Leiss behauptet (›Die Vernunft ist ein Wetterhahn‹. Johann Georg Hamanns Sprachtheorie und die Dialektik der Aufklärung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 19 (1991), S. 259–273, hier S. 265), vermag sich mir nicht zu erschließen. 107 Hamanns Insistieren auf dem Begriff der »actio« lässt sich z. B. bei einem der bedeutendsten Theoretiker der französischen Hofmann-Literatur wie Faret (1596–1646) nachweisen; Nicolas Faret: L’Honneste-homme ov, l’Art de plaire / la covrt. Paris 1630, S. 234f: »L’action […] se doit aussi grandement considerer, estant comme elle est, l’ame de tous les discours que nous faisons. En effect nos paroles languissent si elles n’en sont secourue¨ s, & l’on voit plusieurs personnes en la bouche de qui les plus belles choses semblent estre mort, ou du moins sont si froides qu’elles ne touchent point; & d’autres sÅauent animer les moindres de tant de grace, qu’elles delectent tous ceux qui les entendent. Mais afin de vaincre deux sens tout / la fois, & d’assieger 8galement les esprits par les yeux & par les oreilles, il faut [….].« (Die Handlung muss ebenfalls hochgeachtet werden, ist sie doch die Seele aller Reden, die wir machen. Unsere Worte nämlich wirken schleppend, wenn sie keine Unterstützung erhalten, und man sieht viele Personen, in deren Mund die schönsten Dinge tot scheinen oder zumindest so kalt, dass sie nicht zu berühren vermögen; andere aber verstehen es, die geringsten Worte mit so viel Anmut zu beleben, dass sie alle, die diese hören, ergötzen. Um zwei Sinne gleichzeitig zu bezwingen und die Geister sowohl durch die Augen als auch durch die Ohren zu belagern, so ist es nötig, dass /…./.) Zur Bedeutung der »actio«-Lehre in der Hofmann-Literatur und der frühneuzeitlichen Kardodiagnostik vgl. Ursula Geitner : Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 80–106. 108 Daphne, Erster Theil, Fünftes Stück, S. 20. Zur Stelle vgl. oben, Fußnote 8.

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Sanftmut und Demut, die sich im aptum oder decorum seiner Offenbarung äußern, folgen nicht dem Diktat eines zur Konvention erstarrten gesellschaftlichen oder geselligen Wesens, sondern wissen um die Dramatik eines himmelweiten Unterschieds. Wohin die langewährende und sich zunehmend aus dem eigenen Selbstverständnis heraus legitimierende Vorherrschaft des französischen Geschmacks führt, ist aus solcher Optik ein Verrat an der Natur, da sie das Gebot der Anpassung an den Adressaten zu verabsolutieren und darüber die Individualität des Autors zu vergessen droht, womit die notwendige Entsprechung von Empfangen und Hervorbringen zerstört erscheint. Hinter den Mauern einer höflichen Zuchtanstalt aber kann keine spontane Erfahrung von Einfällen erfolgen, da für Hamann die Freiheit der Empfängnis auf der Freiheit des Zeugens und vice versa beruht.109 Und auch die von den Zeitgenossen immer lauter geforderte »Redlichkeit« und »Offenherzigkeit«110 kann ihm nicht genügen, da diese seines Erachtens von einer allzu einfachen Prämisse ausgehen: dass ein Sprechen ohne Maske und in einem Idiom, das sich des fremden Wortes entschlägt, von sich aus in der Lage sei, die eigene Personalität und Individualität auszudrücken.111 Diese aber resultieren einzig und allein aus einem ununterbrochenen Austausch von gesprochenen und geschriebenen Worten, und sie leben einzig und allein in einem solchen Austausch fort. Die Produktivität des Genies nämlich besteht nicht ohne seine Rezeptivität, die von Hamann wiederholt in Analogie zum Akt der Begattung gesetzt wird. Gegenüber Herder bekennt er, dass die Vertraulichkeit des epistolarischen Austausches den Geheimnissen der Liebe ähnlich sei. Die Privatheit oder SemiPrivatheit der Zweisamkeit, die den Brief als generische Vorstellung wie keine andere konstituiert, wird zu einer Intimität, von der uns die Natur lehrt, dass sie einzig und allein fruchtbar ist: Mein alter lieber Freund Herder. Für Ihre Briefe können Sie sicher seyn; ich habe und werde mich kaum merken laßen, daß Sie mir geschrieben; geschweige daß jemand Ihre Briefe sehen sollte. Ein wenig Geheimniß gehört zur Freundschaft wie zur Liebe. Ohne die Vertraulichkeit gewißer Blößen und Schwachheiten findet kein Genuß der Geister Statt. […] Der Anfang Ihres Briefes schmeckt mehr nach einem süßen als alten Wein. Schonen Sie also Ihren Kopf. Ohne an ihrer Schmeicheley einigen Antheil zu nehmen, als den mir die Wahrheit erlaubt, so habe ich mit Moses, Homer und Plato, warum nicht 109 Vgl. Reuter : Autorschaft und Kondeszendenz (wie Anm. 104), S. 81–87. 110 Vgl. die sehr gute Darstellung der Redlichkeitsforderung um 1750 bei Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung (wie Anm. 107), S. 149–163. 111 Zur Sorgfalt, die Hamann dem fremden Wort und dessen philologisch präziser Erfassung zukommen lässt, vgl. Volker Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik. Stuttgart 1972, S. 101–119.

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gar mit Christo und Belial, mit dem Gesetz und den Propheten, und leider auch mit Weltweisen und Dichtern gebuhlt, und mehr die inferna eines Torso als die superna einer Büste zu erkennen und zu unterscheiden gesucht. Und meine grobe Einbildungskraft ist niemals im Stande gewesen, sich einen schöpferischen Geist ohne genitalia vorzustellen. (Ich hoffe, daß Sie so klug seyn werden, secretis arbitris mich zu lesen, und unter dieser Bedingung will ich fortfahren so lange ich kann.)112

Es liegt auf der Hand, dass die hier bezeichnete Natur sich nicht nur im Ton von einem delikaten Natürlichkeitsideal weit entfernt. Im »Laconismus und stylus atrox poetischer Bilderschrift«,113 die Hamann gegen die »Kunstzeichen« einer »populair, philosophirenden Sprache« hält, klingt nicht nur leise die von alters her geforderte und häufig auch kritisch debattierte Kürze des Briefes an,114 sondern wesentlich lauter die Drastik einer sinnlich körperlichen Sprechweise, die mitunter souverän die Grenzen des Anstandes überspringt. Der stylus atrox bedeutet für Hamann nicht nur unerbittliches Korrekturwerkzeug, sondern auch furchterregende, panische Schreibart, die der Wahrheit zuliebe auch Beleidigungen nicht scheut, kurz, welche »die Freymüthigkeit biß zur Frechheit überspannt.«115 Hamann entlehnt den Ausdruck stylus atrox seinem frühen Lieblingsautor Petronius,116 genauer der Diatribe gegen die oratorische Rhetorik, die das Satyricon eröffnet. Diese Ausführungen, aus welchen Hamann

112 Brief an Johann Gottfried Herder vom [23. Mai 1768], ZH II, 415,6–25. 113 Über den Styl (1776), N IV, 421,53f. 114 Zur klassischen brevitas-Forderung, insbesondere für Briefe, vgl. Ioannis Sykutris: Art. ›Epistolographie‹. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Suppl. Bd. 5. Stuttgart 1931, Sp. 185–220, hier Sp. 193; Craig Kallendorf: Art. ›Brevitas‹. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gerd Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 57f. 115 Kleeblatt Hellenistischer Briefe, Nachschrift, N II, 183,16; vgl. auch ebd., 16ff: »Man ist jetzt so blöd im Denken oder so sittsam im Reden, daß man beleidigen muß, wenn man die Wahrheit sagen oder hören will.« 116 Brief an Johann George Scheffner vom 24. Januar 1785, ZH V, 342,8; Brief an dens. vom 11. Februar 1785, ZH V, 358,5–11: »Nicht nur Persius sondern auch Petron sind meine erste Lieblingsautoren gewesen. – Ich habe sehr spät den Horatz lesen gelernt, und ich habe ihn Jahre lang in einem Zuge, ohne seiner müde werden zu können, Tag für Tage widerholt. Ohngeachtet ich alle 3 ausgeschwitzt: so haben sie doch in meine schedia Lucilianeae humilitatis vielen Einfluß gehabt und mich auf die effectus artis seuerae und die Handhabung atrocis styli aufmerksam gemacht.« Beide Zitate stammen aus Petronius, Satyricon, 4. Es handelt sich um Agamemnons Ausführungen zur rechten rhetorischen Unterweisung der Kinder. Es sei notwendig, dass die Kinder stufenweise zur Reife geführt werden. Der »gnadenlose Griffel« dient der Korrektur der Fehler. Die Improvisation in der Art des nachlässigen und bescheidenen Lucilius hingegen führt Agamemnon an um zu beweisen, dass er auch im niedrigen Stil zu glänzen versteht. Zur umstritten Interpretation der Ausdrücke atrox stilus und der schedium Lucilianae humilitatis, namentlich auch was die attizistische Interpretationstraditon des letzteren betrifft, vgl. Natalie Breitenstein: Petronius, Satyrica 1–15. Text, Übersetzung, Kommentar. Berlin 2009, S. 63f u. 65f.

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wiederholt zitiert,117 überträgt jedoch bereits Saint-Pvremond als Manifest seiner eigenen stiltheoretischen Überzeugungen frei ins Französische.118 Hierbei wandelt er in den Fußstapfen Montaignes, schreibt er doch Argumente fort, die sich in dem Essai Sur Cic8ron finden. Es ist denn auch bezeichnend, dass die Essais nicht nur zum Vorbild französischer Mondänität und deren Verachtung von Pedanterie und Gelehrsamkeit avancieren, sondern zudem und gleichzeitig auch einen der zentralen Bezugstexte für eine eigenartige Traditionsreihe bilden, die aus Namen wie Petronius, Rabelais (1494?–1553), Cervantes (1647–1616), dem Scriblerian Club (ab ca. 1712) und Sterne (1713–1768) besteht.119 Wie Montaigne erscheinen sie alle als Autoren, die den Ziegensprüngen des Geistes, den caprices, ihr satirisches Recht einräumen, und sich weigern, den freien Spaziergang des Geistes durch majestätsvolles Schreiten oder kontemplatives Verharren zu domestizieren. Schon Huarte de San Juan (1529–1588) wusste in seiner Examen de ingenios: Die erfinderischen Geister werden auf toskanisch caprichosos genannt wegen der Ähnlichkeit, die sie mit der Ziege im Gehen und im Weiden haben. Diese verharrt nie in der Ebene; sie ist immer eine Freundin von einsamen Gängen zwischen Klippen und Höhen und vom Herabsehen auf große Tiefen. Deshalb folgt sie auch keinem Pfad, noch will sie in Gemeinschaft gehen. Eine solche Eigenschaft findet sich in dem Verstand, wenn dieser ein wohl geordnetes und ausgewogenes Gehirn hat: Sie verharrt nie in der Betrachtung [contemplacijn], sondern ist vollauf damit beschäftigt, unruhig umherzuschweifen, um neue Dinge zu erfahren und zu verstehen. Von dieser Art Seele bewahrheitet sich jener Ausspruch des Hippokrates: »Ein Spazieren der Seele ist das Denken des Menschen.« Doch gibt es andere Menschen, die nie aus einer Betrachtung herauskommen und auch nicht auf den Gedanken kommen, dass es in der Welt mehr zu entdecken gäbe. Diese haben die Eigenschaften des Schafs, das nie aus den Stapfen des Leithammels ausbricht, weder in verlassene Orte, noch ohne Weg zu gehen wagt, es sei denn auf ausgetretenen Pfaden und wenn ihm jemand vorausgeht.120 117 Vgl. etwa das Motto zu den Vermischten Anmerkungen (N II, 127) sowie die weiter unten angeführte Briefstelle. 118 »j’ay l’esprit tellement n8 poru la libert8, qu’il n’est pas en mon pouvoir de l’assujettir aux regles d’une traduction fidelle« (mein Geist ist so für die Freiheit geboren, dass es nicht in meiner Macht steht, ihn unter das Joch einer getreuen Übersetzung zu zwingen); Charles de Marguetel de Saint-Denis, seigneur de Saint-Pvremond: Fragment de P8trone de l’8loquence. In: ders.: Œuvres mesl8es. Bd. III. Paris 1681, S. 39–118, hier S. 45. Es handelt sich bei diesem Text um eine eigentliche rhetorische Abhandlung, in deren Kern Saint-Pvremond den besagten Anfang des Satyricon stellt. 119 Zum Einfluss Montaignes und einiger der genannten Autoren vgl. Sven-Aage Jørgensen: Exkurs I zu: Johann Georg Hamann: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend. Hg. u. komm. von dems. Kopenhagen 1962, S. 165–168. 120 Juan Huarte de San Juan: Examen de ingenios (1575). Hg. von Guillermo Ser8s. Madrid 1989, S. 344f: »A los ingenios inventivos llaman en lengua toscana caprichosos,[1] por semejanza que tienen con la cabra en el andar y pacer. Esta jam#s huelga por lo llano; siempre es amiga de andar a sus solas por los riscos y alturas, y asomarse a grandes

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Und so finden wir in der Poetik, welche Briefe und Essais auszeichnet, die beiden Eckpunkte der Genres repräsentiert im mondänen Ideal des Schafes, das einzig dem aptum und der Konvenienz gehorcht, sowie in der egoistischen Vereinzelung der Ziege, die Einfällen und Launen folgt. An die Stelle einer geglätteten, harmonisierenden Einordnung in die Gemeinschaft setzt der erfinderische Geist, der ingenio inventivo, auf das Sprunghafte und Asystematische, das in dem fragmentarischen Charakter der Essais und Hamanns gesamter Palette (pseudo-)generischer Bezeichnungen von »Anmerkung«, »Einfällen«, »Phantasien«, »Rhapsodien«, »Näschereyen« sowie deren Attributen »vermischt«, »zusammengeflickt«, »zusammengeworfen« etc. zum Ausdruck kommt. In dieser Zerrissenheit nämlich zwischen Soziabilität und Vereinzelung schreibt ein Montaigne, der zum einen die gefährliche Unbotmäßigkeit unseres vagabundierenden Geistes erkennt121 und dessen Domestizierung fordert, gleichzeitig aber – wie gesehen – den naiven Ausdruck der eigenen Individualität und Personalität gerade in diesem Kontrollverlust der Klugheit über unsere Natur einfordert. Die Produktivität dieses Geistes aber ist immer und notwendig reproduktiv, ist doch jeder Einfall und jede Assoziation gleichzeitig Findung und Erfindung: Gleiches [wie von den verschiedenen Dialekten] sage ich von der Philosophie: Sie kennt so viele Gesichter und Erscheinungsweisen, dass alle unsere Träume und Träumereien sich drin finden. Die menschliche Einbildungskraft kann nichts – weder im Guten noch im Schlechten – erzeugen, was sich darin nicht fände: »Nihil tam absurde dici potest, quod non dicatur ab aliquo philosophorum.« [Es kann nichts auch noch so Absurdes gesagt werden, dass nicht von irgendeinem Philosophen bereits gesagt wäre]. Und so lasse ich meine Capricen in die Öffentlichkeit, um so lieber noch, da ich weiß, dass sie, obwohl bei mir geboren und herrenlos, zu irgendeiner antiken Laune ein Verhältnis finden werden, und so braucht bloß noch jemand zu sagen: »Da also hat er es her.«122 profundidades; por donde no sigue vereda ninguna ni quiere caminar con compaÇa. Tal propriedad como esta se halla en el #nima racional cuando tiene un celebro bien organizado y templado: jam#s huelga en ninguna contemplacijn, todo es andar inquieta buscando cosas nuevas que saber y entender. De esta manera de #nima se verifica aquel dicho de Hipjcrates: animae deambulatio, cogitatio hominibus. Porque hay otros hombres que jam#s salen de una contemplacijn ni piensan que hay m#s en el mundo que descubrir. Estos tienen la propiedad de la oveja, la cual nunca sale de las pisadas del manso, ni se atreve a caminar por lugares desiertos y sin carril, sino por veredas muy holladas y que alguno vaya delante.« Hamann besaß das Werk auf Spanisch in einer Ausgabe von 1603, vgl. Biga 123/ 361. – Die Ableitung »capriccio« von »capra« ist im Übrigen falsch; richtig wohl eher von »capo« (Haupt) und »riccio« (gesträubt); vgl. Joan Corominas: Art. »Capricio«. In: Diccionario cr&tico etimoljgico castellano e hisp#nico. Bd. I. Madrid 1991; Sp. Johannes H. Terlingen: Los italianismos en espaÇol desde la formacijn del idioma hasta principios del siglo XVII. Amsterdam 1943, S. 301. 121 Montaigne: Essais, II, 6 (De l’exercitation / Von den Geistesübungen), S. 358: »alleure si vagabonde […] de nostre esprit«. 122 Montaigne: Essais, II, 12 (Apologie de Raimond S8bond), S. 528: »Je dis de mesme de la

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Der stylus atrox steht im Zeichen der Ziege; der Spaziergang des Essayisten geht über Klippen und schaut in furchterregende Tiefen. Folglich muss Hamann in seiner »Palinodie des Philologen«123 Moses Mendelssohn (1729–1786) in jedem Punkt widersprechen, welcher der Kraft des Genies das Maß des Geschmacks entgegensetzt und in der zufälligen Übereinstimmung beider das glückliche Moment einer »unnachahmlichen Leichtigkeit« entdecken möchte: Das Mittel zwischen beyden Extremitäten zu finden und zu halten, ist kein Werk des Genies, sondern des Geschmacks. T) Das Genie kennet nur seine eigene Kräfte, und nimmt die Größe derselben allezeit zum Maasstabe an. S) Es urtheilt von der Faßungskraft anderer nach der seinigen R) oder vielmehr es siehet gar auf andere nicht, Q) und weiß niemals das rechte Maaß der Einsicht zu treffen, die es bey seinen Lesern voraussetzen kann. P) Daher kommen die Ungleichheiten, die man in dem Vortrage desselben zu bemerken pflegt. O) Wo das Genie zufälliger Weise N) nicht mehr voraussetzt als die Leser wißen, da druckt es sich mit einer unnachahmlichen Leichtigkeit aus. Wo es dieses Ziel überschreitet, wird es dunkel, und wo es von seinem Feuer verlaßen wird, weitschweifig und verwirrt. M) Daher scheinen die großen Genies bald für Engel, bald für Kinder zu schreiben. L) Hingegen lehret uns der Geschmack K) unser Absehen allezeit auf eine gewiße Reihe von Lesern zu richten, durch Beobachtung und Nachdenken die höchsten und niedrigsten Stuffen von Einsichten zu erfahren, die man ihnen zutrauen kann, und endlich im Durchschnitt denjenigen Ausdruck zu wählen, bey welchem der Geringste aus dieser Reihe nicht weniger, der Aufgeklärteste aber weit mehr denkt, als geschrieben steht. J)124

Hamann protestiert, will er doch den glücklichen Zufall nicht in einem voraussetzungslosen Verstehen verorten, sondern das Gelingen von Kommunikation einer radikalen Subjektivität überantworten, die nicht durch die Norm des Geschmacks, sondern durch die Freiheit des Genies Intersubjektivität konstiPhilosophie: elle a tant de visages et de variet8, et a tant dict, que tous nos songes et resveries s’y trouvent. L’humaine phantasie ne peut rien concevoir en bien et en mal qui n’y soit: ›Nihil tam absurde dici potest, quod non dicatur ab aliquo philosophorum.‹ Et j’en laisse plus librement aller mes caprices en public: d’autant que bien qu’ils soyent nez chez moy, et sans patron, je sÅay qu’ils trouveront leur relation / quelque humeur ancienne, et ne faudra quelqu’un de dire: ›Voyl/ d’oF il le print.‹« Es handelt sich hier um eine der frühesten Verwendungen von »caprice« im Französischen. Das Zitat findet sich bei Cicero (De divinatione, II, 58). 123 So bezeichnet Hamann die Beurteilung in einem Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 5. Januar 1763, ZH II, 183,23. 124 Beurtheilung der Kreuzzüge des Philologen, nach dem zwei hundert und vier und fünzigsten Briefe die neueste Litteratur betreffend, welcher der letzte Brief des XVten Theils ist (1763), N II, 259,38–260,7. Der Auszug entspricht bis auf kleine Abweichungen der bezeichneten Rezension der Kreuzzüge durch Moses Mendelssohn (254. Brief, 15. Teil, 9. September 1762, 172f), wobei Hamann Mendelssohns Rezension jedoch mit Verweislettern in umgekehrter alphabetischer Folge versieht. Ich zitiere hier und im Folgenden nach den Erstdrucken, die zum Teil erheblich von Nadlers Ausgabe abweichen; zur Orientierung füge ich die Paginierung der Ausgabe Nadler an.

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tuiert. Voraussetzung und Zufall sind einzig vom jeweiligen Leser abhängig, da der Autor in seiner produktiven Freiheit sich weder zum Zufall noch zur Norm verhält: N) Durch die vorigen Bestimmungswörter allezeit und niemals ist der gegenwärtige Nachdruck des Zufalls bey einem Genie aufgehoben worden. Der Satz wird also den zufälligen Leser näher angehen und so heißen müßen: »Wo das Genie nicht mehr voraussetzt, als die Leser zufälliger Weise wißen, da druckt es sich (für sie) mit einer unnachahmlichen Leichtigkeit aus« Oder auch: wo die Leser (nämlich die Aufgeklärtesten auf den hohen Stuffen von Einsichten) zufälliger Weise weit mehr voraussetzen (oder hinzudenken) als (niemals) das Genie (allezeit) weiß, da drückt es sich (für den Geschmack der ersteren) mit einer unnachahmlichen Leichtigkeit aus; vermuthlich weil das Maas ihrer Einsicht durch diese Paralaxin125 geschmeichelt wird. M) Lies: Wo es dieses (von einer Reihe zufälliger Leser gesetzte) Ziel überschreitet, wird es weitscheifig und verwirrt, und wo es von seinem Feuer verlaßen wird, dunkel. […] L) Daher scheint den Augen der Engel das Dunkle, und den Füssen der Kinder ein weitschweifiges und verwirrtes Herumlaufen am besten zu gefallen.126

Das Drama des Pädagogen Gegen das Diktat des Geschmacks und den von Mendelssohn so präzise benannten »Durchschnitt« von Autor und Leser, hält Hamann an den Extremwerten fest, an eben der »Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde« ist. Die beiden Enden des unendlichen Unterschieds dieser Kommunikation erkennt er scharfsinnig in den »Augen der Engel«, als dem subtilsten Sinn der subtilsten Wesen, »und den Füssen der Kinder«, als dem erdhaftesten Glied der noch unvernünftigen Vernunftkreaturen. Und beiden ist actio gemein, wobei diese weniger Handlung, denn reine Tat ist, das heißt plan- und ziellos. In zwei nachträglichen Notizen127 verbindet er diese Vorliebe für das Herumlaufen treffsicher mit dem Meister vagabundierenden Schreibens, Montaigne, und 125 Lambert, auf den eine nachträgliche Fußnote verweist, schreibt korrekt »Parallaxe«; Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein (1764), Phänomenologie oder Lehre vom Schein, II, § 56. Hg. von Günter Schenk, Bd. II, Berlin 1990, S. 673. Der Ausdruck bezeichnet Wahrnehmungsillusionen, die sich aus der Veränderung des Beobachterstandorts ergeben. 126 Beurtheilung der Kreuzzüge des Philologen (1763), N II, 261,29–262,2. 127 Es handelt sich um zwei getrennte handschriftliche Nachträge; der erste findet sich in der Herderschen Sammlung, der zweite in einem Bonner Exemplar, das nicht mehr erhalten ist. Nadler kompiliert die beiden zu einer einzigen Fußnote und setzt das entsprechende Fußnotenzeichen nach dem ersten Satz von »L)«; das Herdersche Exemplar hingegen führt die Marginalie unter dem vorausgehenden Buchstaben »P)« (S. 45f), wobei jedoch ein marginaler Querverweis »ad pag. 49« sowie eine marginaler Rückverweis unter »L)« auf »p. 45.46« verweist.

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einem satirischen Pamphlet für eine libertäre Erziehung, das unter dem Patronat des unzüchtigen Pietro Aretino (1492–1556) zirkuliert: Verstand und Erfahrung lehren, das Genie ergreift die Menschen bei den Füßen. Deshalb also ergötzen Springen, Rennen, Spielen die Kinder dermaßen. Die zappeligsten Kinder sind die geistreichsten. – L’Arretin / Rome. Aux depens de la Congregation de L’Index. 1763. S. 7,8.128 Natürliche Hitze, sagen die lustigen Gesellen, ergreift vorerst Mal die Füße; sie betrifft die Kindheit. Von dort aus steigt sie in die mittlere Region, wo sie lange verharrt und die einzigen wahren Vergnügen des körperlichen Lebens hervorbringt. Die anderen Genüsse schlafen auf deren Kosten. Ganz in der Art des Dampfs, der steigt und verdunstet, gelangt sie schließlich zum Hals, wo sie einen letzten Halt macht. Montaigne Liv. II. cap. II. Tom. III. p. 276. 277. Edition de Coste.129

Der menschliche Reifeprozess wird als eine Art Re-Emanation einer produktiven Energie charakterisiert, wobei die originäre Natürlichkeit und Produktivität ihren Ausgang im Niedrigsten nimmt. Die Gleichsetzung von Engel und Kind liegt dabei nicht etwa in der Unschuld, sondern vielmehr in der primitivistischen Überzeugung, dass die produktive Einbildungskraft, die Phantasie, bei den originären Wesen viel stärker und lebhafter ausgeprägt ist, als bei zivilisierten, die den individuellen Alterungsprozess gleichsam kollektiv repräsentieren.130 128 Die korrekte Quellenangabe lautet »L’Arretin. Rome, aux d8pens de la congr8gation de l’Index. [Amsterdam] 1763, S. 7f.« Es handelt sich um ein anonym erschienenes Werk des Skandalautors Abb8 Henri-Joseph Dulaurens (1719–1763), das später auch unter dem Titel »L’Arretin moderne« (1776) zirkuliert. Vgl. Antoine-Alexandre Barbier: Dictionnaire des ouvrages anonymes et pseudonymes. Bd. I. Paris 21822, S. 86. Hamann zitiert handschriftlich im Exemplar Herders korrekt bis auf die fehlenden Akzente aus dem ersten Kapitel »L’8ducation des enfants« [Die Erziehung der Kinder] des französischen Textes: »La raison et l’experience vous demontre, que le Genie prend aux hommes par les pieds; voil/ pourquoi les enfans ont tant de plaisir / sauter, / courir, / jouer. – Les enfans les plus remuans sont les plus spirituels.« Die anschließenden Zeilen bei Dulaurens sind praktisch inhaltsgleich mit dem Montaigne-Zitat, das Hamann in dem anderen erwähnten Exemplar handschriftlich hinzufügt. 129 Hamann zitiert nach einer der zahlreichen Ausgaben, die Pierre Coste (1668–1747) zwischen 1723 und 1745 von den Essais veranstaltet hat. Viele Ausgaben und Übersetzungen folgen dieser kommentierten Edition, die maßgeblichen Anteil am Montaigne-Revival hat. Zu der verwendeten Ausgabe vgl. Nadler : Der Schlüssel, N VI, 256. Band und Seitenzahlen stimmen mit folgender Ausgabe überein: Essais de Montaigne. Avec les Notes de M. Coste, Bd. III, London 1769. Der von Nadler abgedruckte Text weist jedoch einige Abweichungen auf: »Chaleur naturelle, disent les bons compagnons, se prend premierement aux pieds: celle-l/ touche l’enfance. De l/ elle monte / la moyenne region ouelle [sic!] se plante longtems, et y produit selon moy les seuls vrais plaisirs de la vie corporelle: les autres voluptez dorment au prix. Sur la fin: / la mode d’une vapeur qui va montant et s’exhalant, elle arrive au gosier ou elle fait la derniere pose.« Entspricht Montaigne: Essais, II, 2, (S. 326f) der hier verwendeten Ausgabe. 130 Vgl. hierzu die autoritative Untersuchung von Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin 2007, so etwa S. 334–356.

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Hinter dieser anthropologischen Vorstellung steht bei Hamann die Grundannahme der Kondeszendenz, die das Zentrum seiner Theologie bildet131 und die Analogie zwischen Geist und Leib sowie eine dialogische Sprachauffassung begründet. Sie steht bei Hamann ganz wesentlich in der Pflicht der Akkomodation und folgt also der rhetorischen sowie ethischen Konversationsmaxime, aptum und decorum zu wahren: Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte – wie die Schöpfung eine Rede ist, deren Schnur von einem Ende des Himmels biß zum andern sich erstreckt. Der Geist Gottes allein hat so tieff sinnig und begreiflich uns das Wunder der sechs Tage erzählen können. Zwischen einer Id8e unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht wird ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde. Was für ein unbegreiflich Land verknüpft gleichwol diese so von einander entfernte Dinge? Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie nicht anders sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen und was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht – und Demuth – daß er die Tiefen seiner Geheimniße, die Schätze seiner Weisheit in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen der Menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt. So wie also ein Mensch den Thron des Himmels und die Herrrschaft deßelben einnimmt: so ist die Menschensprache die Hofsprache – im gelobten – im Vaterlande des Christen. Heil Uns! Freylich schuf er uns nach Seinem Bilde – weil wir dies verloren, nahm er unser eigen Bild an – Fleisch und Blut, wie die Kinder haben, lernte weinen – lallen – reden – lesen – dichten wie ein wahrer Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern. Auch die Heyden hatten ein Wörtchen von diesen Geheimnißen, in ihre Mythologie einzuflechten, vernommen. Jupiter verwandelte sich um die Gunstbezeigungen seiner rechtmäßigen Gemalinn zu genüßen, in einen elenden, von Regen träufenden, zitternden und halbtodten Guckuck – Der Jude, der Christ verwirft daher seinen König, weil er wie eine Henne um seine Keuchlein girrt, und in sanftmüthiger, elender Gestalt um die Rechte seiner Liebe wirbt. Der Heyde, der Philosoph erkennt die Allmacht, die Hoheit, die Heiligkeit, die Güte Gottes; aber von der Demuth seiner Menschenliebe weiß er nichts. Als ein schöner Stier, als ein Adler, Schwan und güldener Regen theilte sich Jupiter seinen Bulerinnen mit.132

Die Akkommodationslehre spiegelt für Hamann das ganze Drama der Schöpfung und der menschlichen Natur, der Koexistenz von Körper und Geist sowie des Einzelnen mit Seinesgleichen. Die ursprüngliche paradiesische Natur und Freiheit – erschaffen zu sein und zu leben nach Gottes Bilde – sind verwirkt; die verlorene Wahrheit lebt jedoch in Residuen fort wie etwa in gewissen Mythen der Alten, die das Göttliche in der niedrigen, ja gar bestialischen Gestalt körperlicher 131 Zur Bedeutung und den Quellen von Hamanns Kondeszendenz-Theologie vgl. bereits Karlfried Gründer : Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns ›Biblische Betrachtungen‹ als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg 1958, S. 21–92. 132 Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. [3.?] August 1759, ZH I, 393,28–394,19.

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Kreatürlichkeit zeigen. Sie lebt darüber hinaus fort in den Ideen, den spontanen Eingebungen und Einfällen derjenigen, die Genie haben oder Genie sind. Genau zu einer solchen Figur aber, die den Naturzustand natürlicher Freiheit auch noch im Zustand der Vergesellschaftung aufscheinen lässt, hat Montaigne Sokrates gemacht. Die Anpassung an die äußeren Umstände, die aus der geselligen Natur des Menschen abgeleitet wird, steht in einem spannungsvollen Verhältnis, wenn nicht im Widerstreit mit einer primitivistischen Vorstellung, die ein goldenes Zeitalter der Freiheit als eigentliche Natur des Menschen in dessen Vereinzelung und Selbstliebe erkennt. So bemerkt Hamann in seinem Kommentar zu dem berühmten Diktum Buffons, »der Styl ist der Mensch selbst, ganz und gar«: Das Leben des Styls hängt folglich von der Individualität unserer Begriffe und Leidenschaften ab, und von derselben geschickten Anwendung zur Erkenntniß und Offenbarung der Gegenstände durch gleichartige Mittel. Die einheimische Selbsterkenntniß scheint die Einheit zu seyn, welche das Maaß und Gehalt aller äußerlichen Erkenntnis bestimmt; so wie die Selbstliebe der Grundtrieb aller unserer Wirksamkeit ist.133

Es gilt also zu vermitteln, zwischen dem Samen einer eingepflanzten Wahrheit und Freiheit einerseits und der erworbenen oder zu erwerbenden Fähigkeit andererseits, diesen Samen durch Anpassung an die Umstände gedeihen zu lassen.134 Das Problem gründet letztlich in einer Frage, die das gesamte 18. Jahrhundert beschäftigt: Wie verhält sich Selbstliebe zu Soziabilität? Wie kein anderer erscheint Sokrates einerseits als der Verkünder eines Logos spermatikos, eines Samens der Tugend und der Wahrheit,135 andererseits aber auch als das Muster weltläufiger Anpassungsfähigkeit. Und so überrascht es auch 133 Über den Styl, N IV, 424,43–47. Eine Einsicht, die Hamann bereits in den Brocken (1758) entwickelt hatte: »Hieraus sieht man, wie nothwendig unser Selbst in dem Schöpfer desselben gegründet ist, daß wir die Erkenntnis unserer Selbst nicht in uns.[erer] Macht haben, daß um den Umfang desselben auszumäßen, wir biß in den Schooß der Gottheit dring[en] müssen, die allein d[as] ganze Geheimnis uns.[eres] Wesens bestimmen und auflösen kann. […] Gott und mein Nächster gehören also zu meiner Selbsterkenntnis; zu meiner Selbstliebe.«; zit. nach: Londoner Schriften, S. 409f (entspricht N I, 301,18–23; 302,22f). 134 Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 1. Juni 1759, ZH 1, 335,22–25: » Die Wahrheit ist also einem Saamenkorn gleich, dem der Mensch einen Leib giebt wie er will; und dieser Leib der Wahrheit bekommt wiederum durch den Ausdruck ein Kleid nach eines jeden Geschmack, oder nach den Gesetzen der Mode.« 135 Zur Bedeutung von Sokrates’ »Samen« für Montaigne vgl. Maryanne Cline Horowitz: Seeds of Virtue and Knowledge. Princeton 1998, S. 212: »The Stoic image of the ›imprinted‹ notions reinforces the imagery of natural ›seeds‹ of virtue having ›roots‹ in the natural human being. Furthermore, [Montaignes] ›On Physiognomy‹ begins with the admonition that we need clear sight to find the secret light hiding underneath our artifice of opinions; secret light, indicating, for example, the true remains of nature in the soul and the words of Socrates, is a standard abbreviated Stoic phrase for the light of virtue shining in human nature.« – Zur Bedeutung der »Samen« für Erasmus’ pädagogische Überlegungen, ebd., S. 155–158.

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nicht, dass eine der bekanntesten Stellen aus Hamanns gesamten Werk,136 welche die Brücke von der Sprache zur Rede und von der Rede zur Kondeszendenz schlägt, sich in der Sokrates-Literatur des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts nachweisen lässt. Sokrates’ Daimon ist hier bereits Engelsprache. So will es Thomasius, der nicht nur Simmias’ Erzählung in Plutarchs De genio Socratis in ein christliches Gewand hüllt, sondern auch Charpentiers Bericht christlich verklärt: Simmias der Philosopus [sic!] leget es beym Platone137 noch viel geistreicher aus/ und sagt/ daß es eine Intelligentia Divina (oder/ nach unserer Art zu reden/ ein Engel)138 gewesen/ der den Verstand des Socrates unmittelbar erleuchtet/ ohne daß er sich einer gewissen Stimme oder einiges anders Zeichens/ das man mit den Sinnen begreiffen kann/ bedienet habe. Denn es ist gewiß/ sagt er/ daß wir Menschen zwar unsere Gedancken vermittelst der Sprache ein ander entdecken und erklären müssen/ weil sie sie an sich selbst gleichsam mit Finsternüß umwickelt wären; alleine weil die Gedancken der Engel139 lauter Licht wären, so würffen sie auch ihre Strahlen biß in das innerste des Verstandes/ und brauchten zu ihrer Erklärung weder Nahmen noch Worte die bey den Menschen gebräulich sind. Es wäre genung/ wenn man nur ein vollkommenes ruhiges Gemüthe hätte/ und daher käme es/ daß vielmehr Zeit wehrendes Schlaffes als zu einer andern Zeit diese Engel vermittelst der Träume mit uns redeten/140 weil in der süssen Ruhe der man im Schlaffe geniesset/ unsere Seele viel fähiger sey/ ein so subtiles Licht anzunehmen/ welches uns im Wachen wegen des Tumults der Gemüths=Bewegungen und der vielfältigen und unruhigen Geschäffte gleichsam entwischt.141

Die Stimme ist hörbar und also sinnlich, das Licht jedoch subtil; reden heißt also, dem Licht Körper geben, das Licht in Finsternis hüllen. Die Freiheit des Gedankens muss sich – so Luthers Übersetzung der Kernstelle – in »Knechtsgestalt« »entäußern«.142 Die Verkörperung ist Bedingung aller Offenbarung und aller Mitteilung; wer den Körper aus dem Geist verbannt, negiert die Doppel-

136 Aesthetica in nuce, N II, 199,4: »Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; […].« 137 Es handelt sich hier um einen Irrtum des Übersetzers Thomasius; bei Charpentier (La Vie de Socrates, S. 124) heißt es korrekt: »Dans Plutarque, le Philosophe Simmias«. Charpentier bezieht sich auf Plutarch: De Genio Socratis, 588C–589F. 138 Der ganze Zusatz ist von Thomasius; bei Charpentier (ebd.): »vne inteligence diuine qui frappoit directement son entendement, sans se seruir d’vn certain son«. 139 Bei Charpentier (ebd., S. 125): »les pens8es des Dieux«. 140 Bei Charpentier (ebd.): »nous ressentons cette communication des Dieux«. 141 Charpentier/Thomasius: Ebenbild eines wahren und ohnpedantischen Philosophi, S. 93f. 142 Phil 2,7f. Es handelt sich um die zentrale Stelle aller Kondeszendenz- und Akkommodations-Vorstellung.

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natur des Menschen, dessen wesenskonstituierende Disharmonie dem Sündenfall folgt.143 Der Individualität des Schreibenden entspricht die Individualität des Lesers, nicht aber die Instanz eines namhaften, jedoch anonymen Publikums, das als Träger der Geschmacksnorm fungiert. Die Wahl der Schreibart liegt also im Widerspiel doppelter Nachahmung: Der Autor passt sich dem Leser an, der sich wiederum in Kenntnis und Erkenntnis dieser Nachahmung dem Autor anpasst. In dieser doppelten Nachahmung liegt Hamanns sprachtheoretische, mehr noch rhetorische Ausdeutung der Offenbarung. In ihr liegt aber auch die fundamentale Übereinstimmung die Hamann zwischen Sprechen, Schreiben und Unterrichten zu erkennen glaubt. Das Gefälle nämlich, das jeder Vorstellung von Kondeszendenz notwendig eignet, erscheint als eine pädagogische Herausforderung, sich im guten Wissen um den Unterschied von Oben und Unten mitzuteilen und sich dennoch im Unterricht dem Schüler »an Gebärden«144 gleichzumachen. Das Drama der Kondeszendenz ist ein Schuldrama, ein Problem pädagogischer Vermittlung also. Die Gleichheit nämlich ist – und dies ganz im Gegensatz zu einer optimistischen, harmonisierenden Vorstellung von Geselligkeit – eine Gleichheit, die notwendig Kondeszendenz voraussetzt und also erst aus Kommunikation resultiert, und nicht etwa eine, die der Kommunikation vorausgeht und diese ermöglicht. Actio und decorum stehen folglich am Anfang und am Schluss allen Redens und Unterrichtens. Bezeichnenderweise setzen Hamanns Überlegungen zum Schuldrama genau hier an, teilt er Lindner doch in einem langen Auszug seine Lieblingsstelle des Petronius mit und appliziert diese sowohl auf das erwähnte Diktum des Demosthenes’ als auch auf das gesamte Problem von aptum und decorum. Als wahrhafter Lehrer erscheint dabei Petronius, »dieser arbiter elegantiarum, […] der bey aller Galanterie seines Amts ein Schulmeistergesicht zu rechter Zeit, und nicht zur Unzeit zu schneiden weiß«: Ich habe auch Zeit gehabt Ihre Schulhandlung etwas mehr als die vorigen überlesen zu können. Da ich die Regeln eines Schuldrama nicht kenne; so bin nicht im stande von der Vollkommenheit oder Güte Ihres Alberts145 zu beurtheilen. Das Decorum, sagt Milton, ist das große Meisterstück, das ein Autor und Kunstrichter zu beobachten. Das Decorum ist vielleicht auch die Seele der Action, die Demosthenes so erhob. In der eilften Sammlung erscheint endlich eine kleine Blüthe ihrer Mühe, die wie die Aloe

143 Zum Problem des Bösen im Menschen vgl. Sven-Aage Jørgensen: Exkurs V zu: Johann Georg Hamann: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend (wie Anm. 119), S. 182–185. 144 Ebd., Phil 2,7. 145 Gemeint ist das Schuldrama Albert, oder die Gründung von Riga, ein Schuldrama (1760), das Lindner später auch in seinen Beitrag zu Schulhandlungen (Königsberg 1762, S. 109–148) aufnehmen wird.

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anzusehen ist.146 Es herrscht viel Nachahmung in diesem kleinen Briefe, wie alle Schulexercitia darauf führen. Ich kann mich nicht entbrechen die Kritik des Petrons über den Gegenstand anzuführen: […]147 Petron ist aber so liebreich die Lehrmeister zu entschuldigen. »Am wenigsten148 aber liegt die Schuld in diesen Übungen bei den Schulmännern, die gezwungen sind, mit Wahnsinnigen zu wüten. Sagten sie nämlich nicht, was den Zöglingen gefällt, so würden sie, wie Cicero sagt, ›ALLEIN IN DER SCHULE SITZEN BLEIBEN‹. – So würde denn der Lehrer der Beredsamkeit nicht anders als ein Fischer, der keinen Köder auf den Haken setzte, wohlwissend dass es den Fischchen danach gelüstet, ohne jede Hoffnung auf Beute auf einer Klippe ausharren. Nun was also? Es gilt die Eltern zu tadeln, die nicht wollen – – Ließen sie es wenigstens zu, dass die Aufgaben gestuft, so dass die studierenden Jünglinge durch strenge Lektüre« (ein sehr räthselhafter Ausdruck) »besänftigt würden« (seuera und mitigarentur ist ein schön Oxymoron),149 sodass die Geister durch weise Lehren geformt würden« (dies ist dem Wirbel der tragischen Leidenschaften, die man in Kindern anzündt, und wenn sie uns hernach brennen, verdammt, nicht sehr günstig), »sodass sie mit unerbittlichem Griffel ausmerzten« (was Petron durch den atrocem stilum eigentlich versteht, abermal ein Haaken!), »und lange hörten, was sie nachahmen wollten; wenn sie sich überzeugen ließen, das es nichts Erhabenes gibt, was Knaben gefällt. – – Heutzutage spielen die Knaben in der Schule, die Jünglinge werden auf dem Forum ausgelacht und was schlimmer als beides, was einer falsch gelernt, dass will er im Alter nicht eingestehen.« So weit Petron, dieser arbiter elegantiarum, der in meiner Jugend 146 Als Rektor der Rigaer Domschule ließ Lindner Sammlungen von Schulhandlungen und Redeübungen erscheinen, die er zu weiten Teilen selbst redigierte. Gemeint ist hier : [Lindner, Johann Gotthelf:] Albert, oder die Gründung der Stadt Riga. Ein Schuldrama, bey der Gedächtnißfeier der hohen Gelangung zum Throne Ihrer Kaiserl. Majestät unserer allergnädigsten Kaiserin und grossen Frauen Eilisath Petorwnen […], vorgestellt in der hiesigen Stadt- und Domschule den 27. Novem 1760, Eilfte Sammlung, Riga [1760]. Der Inhalt der Sammlung ist beschrieben in: Slavica Gottingensia. Ältere Slavica in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Hg. von Reinhard Lauer. Bd. I. Wiesbaden 1995, S. 832. Um welchen Brief es sich handelt, kann ich nicht entscheiden, da mir die Sammlung nicht einsehbar ist. – »Aloe« gilt gleichzeitig als Heil- und Giftpflanze; für Hamann gehört sie zu den »bittere[n] Wahrheit[en]«, die »rothe Wangen […] macht«, Beurtheilung der Kreuzzüge, N II, 258,44. 147 Hamann zitiert hier in etwas gekürzter Form die Klage Encolpius’ über den dumm machenden und geschmacksverderbenden Unterricht (et ideo ego adolescentulos existimo […]; Petronius: Satyricon, 1f. 148 Die Übersetzung folgt Hamanns Lesart »minimum«, die damals auch die verbreitete war (heute hingegen »nimirum«). 149 Bei Hamann lateinisch: »Minimum in his exercitationibus Doctores peccant, qui necesse habent cum insanientibus furere. Nam ni dixerint, quae adolescentuli probent, vt ait Cicero, SOLI IN SCHOLIS RELINQVERENTUR. – Sic Eloquentiae Magister, nisi tanquam piscator, eam imposuerit hamis escam, quam scierit appetituros esse pisciculos, sine spe praedae morantur in scopulo. Quid ergo est? Parentes obiurgatione digni sunt, qui nolunt – – Quod si paterentur laborum gradus fieri, vt studiosi iuuenes lectione seuera mitigarentur : vt sapientiae praeceptis animos componerent, vt verba atroci stilo effoderent, vt quod vellent imitari, diu audirent; sibi nil esset magnificum, quod pueris placeret. – – Nunc pueri in scholis ludunt, iuuenes ridentur in foro et quod vtroque turpius est, quod quisquis perperam discit, in senectute confiteri non vult.« Entspricht Petronius: Satiricon, 3f.

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ein Liebling meiner Zuchtmeister gewesen, und der bey aller Galanterie seines Amts ein Schulmeistergesicht zu rechter Zeit, und nicht zur Unzeit zu schneiden weiß.150

Um als Pädagoge Wirkung zu entfalten, ist Kondeszendenz notwendige Voraussetzung. Sie folgt der Erkenntnis, dass sprachliche Mitteilung aus Differenz und Trennung sowie dem Willen, beide zu überwinden, resultiert. Differenz und Trennung implizieren ihrerseits ein Innen und Außen sowie Distanz, und dieses Innen kann nur Außen werden, die Distanz nur überwunden, wenn Körper als Vehikel das Innere den äußern Sinnen des Andern zugänglich machen und als Körper den Raum durchmessen.151 Die Möglichkeit der Engelsprache aber ist verwirkt. An die Stelle einer unmittelbaren geistigen Kopräsenz tritt die sinnliche Erfahrung, die in einer als unmittelbar empfundenen Sprache von Gesten und Gebärden sowie der sinnlichen Lust, die daraus hervorgeht, die Bedingung und Bestimmung der Natur des Menschen ausmachen: Der Unterricht in Schulen scheint recht dazu ausgesonnen zu seyn, das Lernen zu vereckeln und zu vereiteln. Alle unsere Erkänntnißkräfte hängen von der sinnlichen Anschauung ab; diese wiederum beruht auf Lust des Gemüths an den Gegenständen selbst. […] Empfindung des Affects und Geschicklichkeit der Declamation sind allerdings Übungen, die dem todten Gedächtnißwerke der Regeln und dem mechanischen Tagewerke der Lectionen, wohin alle Methoden ausarten, vorgezogen oder entgegengesetzt zu werden verdienen. Gefühl aber und Ausdruck zu bilden; dazu gehört eine höhere poetische Analysis, die der Zusammensetzung des Dialogs vorhergehen muss, wenn tieffsinnige Einfalt und krystallene Schönheit den Dialog klar und lebhaft machen sollen. Wer Schriftgelehrten und Sophisten den Mund stopfen will, muß […] entweder Handlungen zu Hülfe nehmen, oder Fragen zu erfinden wissen. Kindern zu antworten ist in der That ein Examen rigorosum; auch Kinder durch Fragen auszuholen und zu witzigen ist ein Meisterstück, weil eben Unwissenheit der große Sophist bleibt, der so viele Narren zu starken Geistern krönt – & addit cornua pauperi.152

Das Schuldrama, das für kurze Zeit eher zufällig in den Fokus des Hamannschen Denkens rückt,153 wird ihm zur Chiffre einer dramatischen Poetik, in welcher er 150 Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. März 1761, ZH II, 69,6–70,4. 151 Zur Körperlichkeit von Hamanns Zeichenbegriff vgl. Eric Achermann: Hamanns Insistieren auf der sinnlichen Wirkkraft der Zeichen im Hinblick auf neuere Zeichentheorien, in: Acta 2002, S. 37–57. 152 Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend (1763), Dritter Brief; N II, 358,16–359,3. – Das Schlusszitat stammt aus Horaz’ Ode an den Weinkrug (Oden, III, 21, v. 17), eigentlich »addis«, also: »und fügst dem Armen Hörner zu«. 153 Zu den Umständen und der Polemik um Lindners Schulhandlungen vgl. Sven-Aage Jørgensen: Einführung zu: Johann Georg Hamann: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend (wie Anm. 119), S. 79–83; sowie Albert Meier : Verdruss und Vergnügen. Über Hamanns problematisches Interesse an Drama und Dramentheorie, in: Acta 2002, S. 245–255. Meiers Schlussfolgerung (249): »Viel lässt sich auch hieraus nicht ableiten:

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alle seine theologischen, sprachphilosophischen und gesellschaftlichen Überzeugungen wie in einem »Urbild« repräsentiert sieht. In seinem Versuch, Lindners Bemühungen und Sorgen hinsichtlich der pädagogischen Eignung der Schulhandlung nicht nur nachzuvollziehen, sondern intellektuell zu befördern, versammelt er seine Überlegungen zum dialogischen Wesen der Sprache, zur angemessenen Schreibart, zur Sokratischen Einfalt als Elemente einer eigentlichen »poetischen Analysis«. Im Unterricht nämlich erkennt er das notwendige Gefälle zwischen Lehrer und Schüler, woraus die Forderung nach Akkommodation folgt; im Drama die dialogische Gestaltung und das Widerspiel der Akteure, die nicht in illusionärer Harmonie verharren, sondern »handeln«; in den Schülern schließlich die Kindheit, deren Originalität eine Wiederbelebung toter und erstarrter Formen bewirken kann: Ohne Selbstverleugnung ist kein Werk des Genies möglich, und ohne Verleugnung der besten Anmerkungen, Regeln und Gesetze kein Schuldrama noch Urbild desselben. Kinder müssen wir werden, den Zweck der Poesie an Schülern zu erreichen. […] so bleibt uns noch übrig das zu erfüllen, was Amos Comenius conuertere ludicra in seria154 nennt, weil wir Schulhandlungen als ein außerordentlich bequemes und vortheilhaftes Werkzeug vorausgesetzt haben, um die dramatische Poesie in ihre Kindheit zurückzuführen, sie zu verjüngen und zu erneuren.155

Hamann hat keine Dramen verfasst, dafür ein ganze Menge Briefe und Essais und zahlreiche Dinge, die von beiden etwas haben. So überraschend es auch scheinen mag, so findet Hamann in seinen Spekulationen zu dem als antiquiert und untauglich verschrieenen Schuldrama156 die gattungskonstitutive Freiheit von Brief und Essais wieder : Erasmus’ Paradoxon, dem Vorbild gleich zu werden, indem man sich selbst ist und bleibt; Montaignes Paradoxon, sich selbst zu vergessen, um sich selbst darzustellen; Erasmus und Montaignes Aversion gegen Regeln, die der Bedingung und dem Ziel einer Erkenntnis des Selbst vorgelagert wären; die Erkenntnis schließlich, im eigenen Wort das Wort des Andern immer mitzusprechen. Allzu deutlich ist das private Interesse, dem öffentlich desavouierten Freund beizuspringen«, erscheint mir wenig überzeugend. 154 Lindner hatte auf dem Titelblatt seines Beitrag zu Schulhandlungen (Königsberg 1762), um die es Hamanns Hirtenbriefen ja zu tun ist, »– – Quamquam vere hi ludi in seria ducant. Comenivs.« (obwohl in Wirklichkeit diese Spiele ins Ernste führen). Der Ausspruch findet sich bei Johann Amos Comenius: Novissima lingvarum methodus (1648), S. XXV. In: Opera omnia. Bd. 15/2. Prag 1989, S. 311. 155 Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend (1763), Vierter Brief; N II, 363,10ff; 363,15–19. 156 Zur Kritik an Lindners Schulhandlungen vgl. die Rezension von dessen Beytrag durch Thomas Abbt, in: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 231. Brief, 14. Teil, 6. Mai 1762, S. 249–258.

Ildikj Pataky (Szentendre)

»So verrathen Sie mich an keinen Fremden«. Der Brief als Gattung und Hamanns Briefwechsel auf dem Grenzgebiet zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in den 1760er Jahren

»Einem hinter die Briefe kommen, oder dessen Briefe finden, im gemeinen Leben, figürlich, seine Geheimnisse ausforschen, hinter seine Heimlichkeiten kommen.«1

Die biographische Literatur – also Monografien, Lebensbeschreibungen – sowie die autobiographische Literatur – Brief, Tagebuch, Bekenntnis – erleben heute ihre Renaissance. Auf den Regalen der Buchhandlungen findet man zahlreiche Bücher, in denen man die intimsten Ereignisse des Alltags einer Familie oder die vertrautesten Gedanken einer längst verstorbenen Tagebuchautorin kennen lernen kann, und vertieft sich in eine Realität, von der man weiß: Es geschah wirklich; diese Geschichte ist kein bloßes Produkt der Phantasie. Was erwartet man von Briefen? Man hofft, das Leben, die Geheimnisse, die intimsten Gedanken zweier längst verstorbener Personen kennen zu lernen, ihre Beziehung, ihre Kommunikation zu belauschen. Man hofft mehr über ihre Beziehung aus der Korrespondenz zu erfahren, als es aus irgendeinem Lexikon oder einer kulturgeschichtlichen Studie möglich wäre. Ein solches instinktives Interesse2

1 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Hg. v. D.W. Soltau / F.X. Schönberger. 4 Bde. Wien 1811. Bd. 1, Sp. 1191. 2 Martin Simons hat meinen Gedanken bekräftigt, dass es in diesem Fall wirklich um eine zutiefst instinktive menschliche Eigenschaft (d. h. die Neugierde) geht: »Der russische Schriftsteller Michael Bulgakow behauptete Anfang des letzen Jahrhunderts, wenn wir die Wahl hätten zwischen der Entdeckung eines noch unbekannten Shakespeare-Sonnets und seinem Waschzettel, würden wir uns immer für letzteren entscheiden. Diese Behauptung war seiner Zeit so wahr, wie es dieser Tage ist, aber darüber hinaus war sie eben auch provokant; heute dagegen erscheint sie als Tatsache evident, dass man bloß innerlich mit den Achseln zuckt und denkt: Ja, selbstverständlich wollen wir den Waschzettel.« (Martin Simons: Vom Zauber des Privaten. Was wir verlieren, wenn wir alles offenbaren. Frankfurt a.M. / New York 2009, S. 46). Über die Briefeditorischen Überlegungen des 18. Jahrhunderts schreibt Winfried Woesler : »Was aus den zeitgenössischen Zeugnissen spricht, ist zunächst die Faszination durch die Möglichkeit, über den Brief Zugang zu personalen Welten zu gewinnen, die sonst schlechterdings unerreichbar wären.« (Winfried Woesler : Der Brief als Dokument. In: Wolfgang Frühwald [Hg.]: Probleme der Briefedition. Kolloquium d. Dt. Forschungsge-

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motiviert wohl auch die Wissenschaftler bei der Erforschung und Veröffentlichung von Briefwechseln. Heutzutage hält man es als Wissenschaftler für natürlich, dass man die Briefe – nicht nur öffentliche, literarische Briefe, sondern gar Privatkorrespondenz – von bekannten (verstorbenen oder noch lebenden) Persönlichkeiten liest; denkt man aber daran, dass die eigenen Briefe und EMails von Anderen gelesen werden könnten, so erscheint diese Annahme keineswegs so natürlich. Die Geschichte des Briefes als Gattung liefert zahlreiche Beispiele dafür, dass die ambivalenten Gefühle, d. h. die Faszination und die Zweifel hinsichtlich der Rechtfertigung des Lesens und der Veröffentlichung von Privatbriefen, nicht ohne Vorläufer sind – und dass diese Debatte zwar an sich immer ändernden Scheidelinien, jedoch seit dem Jahrhundert des Briefes3, also seit dem 18. Jahrhundert, geführt wird. In der einen Epoche stellte sich die Frage, was ein Brief ist, in der andren aber, was man überhaupt unter Öffentlichkeit versteht, und inwieweit eine öffentliche Angelegenheit von einer privaten unterscheidbar wäre. Gegenwärtig ist die gesellschaftswissenschaftliche Diskussion von der Frage geprägt, inwieweit die vom Internet geschaffene neue Form der Öffentlichkeit das Leben der Einzelnen beeinflusst. In den 70er Jahren des 20. Jh. schrieb Richard Sennett noch über die »Tyrannei der Intimität«4. Die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre – aus der sich die von Sennett beschriebene Polarität der beiden Sphären entwickelte – kam erst im 18. Jahrhundert zustande, parallel zur Entstehung einer neuen bürgerlichen Lebensform und der Urbanisation. Die Basis für die Privatsphäre bildete die Familie. »Sie war nicht mehr – oder nicht mehr ausschließlich – eine Wirtschaftseinheit […] Vielmehr wurde sie zum Refugium, wo man sich vor den Blicken der anderen verbarg.«5 Die »moderne Kernfamilie«6 galt aber nicht nur als Schutzraum vor der Außenwelt, sie gab dem Individuum auch Raum und Gelegenheit für Einsamkeit, Selbstprüfung und Selbsterkenntnis. Infolgedessen gewann das Privatleben an Bedeutung und wurde ein wirklicher Gegenpol zur öffentlichen Sphäre und zum Zentrum des Alltags. In unserer Zeit ist wiederum eine neue

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meinschaft, Schloss Tutzing am Starnberger See, 8.–11. September 1975. Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 66.) Matthias Rothe: Lesen und Zuschauen im 18. Jh. Die Erzeugung und Aufhebung von Abwesenheit. Würzburg 2005 (Studien zur Kulturpoetik 8), S. 66ff. Richard Sennett: Verfall und Ende des Öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a.M. 1983. Philippe AriHs / Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 5 Bde. Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung. Frankfurt a.M. 1991, S. 15. Silke Wegner : »Ein wenig zärtliches Techtelmechtel …«. Der Brief als Medium privater Kommunikation, Gegenstand der Veröffentlichung und Mittel des Streits. Dargestellt am Beispiel des Briefwechsels zwischen Monika Maron und Joseph von Westphalen. InauguralDissertation Münster 1993, S. 72.

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Tendenz der Kommunikation wahrnehmbar, nämlich die Versetzung der Intimitäten in die Öffentlichkeit.7 Um den Brief in die Reihe der öffentlichen oder privaten Angelegenheiten einordnen zu können, ist zunächst eine präzise Definition dessen erforderlich, was unter einem Brief überhaupt verstanden werden soll. Zwar erscheint auf den ersten Blick die Definition des Briefes ganz einfach und eindeutig, jedoch sind nach Inhalt und Form Differenzierungen vorzunehmen, unter anderem zwischen wirklichen und fingierten Briefe, sowie zwischen öffentlichen und privaten Briefen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der ›moderne‹, alltägliche Brief als Privatbrief verstanden.8 Dies setzt eine reale Kommunikationssituation voraus. Er ist eine schriftliche Mitteilung zwischen zwei, voneinander räumlich entfernten, Personen, und ist in dieser Form nicht zur allgemeinen Mitteilung oder gar zur Publikation bestimmt.9 Das 18. Jahrhundert nennt man mit Vorliebe das Jahrhundert der Öffentlichkeit10, des Buches und des Lesens11 oder des Briefes12. In dieser Epoche wird der Brief »zum Medium der Geselligkeit«13 ; man »entdeckt die poetischen Qualitäten der personalen Interaktion und steigert sie in der Briefkultur. (…) Der private Briefwechsel entwickelt sich als eigenständige kommunikative Praxis in geltungsbewusster Abgrenzung von den rhetorischen Mustern und den konventionalisierten Schreibplänen des stylus curiae.«14 Hans Herbert Ohms formuliert etwas pathetischer, aber dieser alltäglichen Bedeutung zustimmend: »Ausgeschieden sind diejenigen Abarten, die wohl noch seinen Namen führen, ihn aber nicht mehr verdienen, also die geschäftlichen Zweck-, die gesellschaftlichen Konventions-, die organisierten Massen7 Vgl. Simons: Zauber des Privaten (wie Anm. 2), S. 47–53. 8 Vgl. Peter Bürgel: Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells. In: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 281–297, hier S. 281f. Winfried Woesler nennt ihn Originalbrief, vgl. Woesler : Brief als Dokument (wie Anm. 2), S. 41. 9 Vgl. Christel Laufer : Probleme der Briefedition. Arbeitstagung der Gruppe Textologie im Zentralinst. f. Lit.-gesch. der Akad. der Wissenschaften der DDR am 20. Okt. 1981 in Berlin. In: Zeitschrift für Germanistik 3 (1982), S. 342–344. 10 Vgl. Sennett: Verfall und Ende (wie Anm. 4). 11 Vgl. u. a. Dominik von König: Lesesucht und Lesewut. In: Herbert G. Göpfert (Hg.): Buch und Leser. Vorträge d. 1. Jahrestreffens d. Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte d. Buchwesens, 13. u. 14. Mai 1976. Hamburg 1977, S. 89–125. 12 Vgl. Rothe: Lesen und Zuschauen (wie Anm. 3), S. 66–71. 13 Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2000, S. 56. 14 Ebd. Vgl. auch den Stil und die äußere Form der privaten und Dienstbriefe Hamanns, z. B. den Brief an die Königlich Preußische Kriegs- und Domänen-Kammer zu Königsberg i.Pr., 29. Juli 1763, ZH II, 225.

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briefe. Am Rande bleibt, auf der anderen Seite, der Kunstbrief, z. B. im Briefroman und im philosophischen Traktat. Gemeint ist eben nur der ›echte‹: die Urkunde des Herzens, das natürliche und persönliche Zwie›Gespräch‹.«15 Diese Stimmen skizzieren die herkömmliche Definition des Briefes als Gespräch (seine Dialogizität betonend) zweier voneinander räumlich entfernter Personen. Diese Dialogizität wird allerdings von anderen Forschern bestritten, denkt man nur an die Feststellung von Luise Rinser, der Brief sei ein »Monolog, der ein Dialog sein will«.16 Richard Sennett versteht die Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert als einen Raum, der, geprägt von Konvention und Künstlichkeit, dem Menschen die Möglichkeit bot, mit Fremden in irgendeiner Form in Kontakt zu kommen. Dies geschah u. a. durch »ein Repertoire formelhafter Begrüßungen […] die um so akzeptabler waren, je unspezifischer und eigenständiger als Redewendungen sie waren«.17 Auf der Straße war man bestrebt, sich durch das Benehmen, die Sprache und die Kleidung im gesellschaftlichen Koordinaten-System zu positionieren und so den Mitmenschen ein klares Zeichen zu geben, um die Kontaktaufnahme mit Fremden zu erleichtern.18 In der Privatsphäre – d. h. zu Hause – lebte man ohne diese gesellschaftlichen Fesseln, und diese natürliche Freiheit war nicht nur an der Kleidung sichtbar.19 15 Hans Herbert Ohms: Die weiße Brücke. Eine Studie über den Brief. Göttingen 1948, S. 6. 16 Luise Rinser : Der Brief des Schriftstellers. In: Jahrbuch 1975 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt 1976, S. 107–112, hier S. 108. 17 Vgl. Sennett: Verfall und Ende (wie Anm. 4), S. 90. 18 Vgl. ebd., S. 95: »Wir haben es hier mit einem ersten Moment der Trennung zwischen öffentlichem und privatem Bereich zu tun – der Privatbereich galt als ›natürlicher‹, und der Körper erschien dort als an sich ›ausdrucksvoll‹. […] Auf der Straße hingegen trug man Kleider, die den eigenen Platz in der Gesellschaft deutlich sichtbar machten – und dazu musste die Kleidung bekannt und vertraut sein.« 19 Vgl. Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. 3 Bde. Band II: Von der Königskrönung bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges. Köln/Graz 1968, S. 265: »Zu Hause passten sich die Kleider dem Körper und seinen Bedürfnissen an; ging man auf die Straße, so hüllte man sich in eine Kleidung, die es anderen ermöglichen sollte, sich so zu verhalten, als wäre man ihnen bekannt. Man wurde zur Figur in einer Kunstlandschaft.« Diese Freiheit, die auch Hamann zu Hause genoss beschreibt Fritz Gause in einer witzigen Anekdote: »Es war an einem strahlenden Septembertage, als vor dem Hause am Alten Graben ein Wagen hielt und der Lakai sich vom Bock schwang, um dem bei einer Pfeife Tabak und schwarzer Grütze in seiner Küche sitzenden Hamann zu melden, daß der Reichsgraf Keyserling mit seinen Damen darum bitte, dem Herrn Packhofverwalter seine Aufwartung machen zu dürfen. Als Hamann, der den Grafen nicht kannte, zur Gartentür stürzte, stieg der Graf in Gala und im Schmucke seiner Orden schon aus dem Wagen, und die Gräfin musste den ›seiner Sinne nicht mächtigen‹, natürlich wie immer nachlässig gekleideten Hamann lachend daran erinnern, dass auch sie auszusteigen wünsche. Die Gäste wurden, so gut es ging, im Garten auf den schlechten Bänken und einem eilends herbeigeschafften Lehnstuhl placiert, und das Gespräch drehte sich sogleich um den Hamann befreundeten Herder und die Seinen. Die Gräfin bat sich von Hamann Herders Lied der Liebe und seine Betrachtungen über

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In diesem Sinne gilt der Brief keinesfalls als eine öffentliche Angelegenheit, denn es existieren zwar Formkonventionen – wie Anrede- und Abschiedsformen usf. – aber der Brief in seiner eigentlichen, oder natürlichen Funktion ist keineswegs geeignet, durch ihn mit Fremden in Kontakt zu kommen. In der Post- und Briefgeschichte fällt die Tendenz zur Intimisierung ins Auge,20 die von der Beobachtung ausgehen kann, dass »bis ins 18. Jahrhundert die eingetroffene Post im Postamt öffentlich zum Aushang gebracht wurde.21 […] Es ist sicher kein Zufall, dass (das spätere) Aufkommen des Briefträgers im 18. Jahrhundert zusammenfällt mit Überlegungen zur Einführung des Briefkastens.«22 Der geschlossene Briefumschlag – oder in der früheren Zeiten die Versiegelung der Sendungen – drückten ebenfalls den Anspruch aus, den eigenen Brief (sowohl als Briefschreiber als auch als Adressat) vor der Außenwelt zu verbergen, und zu verhindern, dass Unbefugte vom Briefinhalt Kenntnis nehmen können.23 Diese allgemeine Auffassung der Zeit Hamanns kommt in dem – im Motto zitierten – Artikel des Adelung-Wörterbuches zum Ausdruck. Dies gilt aber nur für den so genannten eigentlichen Brief, nicht aber für diejenige Briefform, die von vornherein publizistische Absichten verfolgte: den fingierten Brief. In dieser literarisierten Form des Briefes vermochte der Autor, seine Intentionen sich an fiktiven oder nur scheinbar vorhandene Adressaten wendend und sich der gattungseigentümlichen Vorteile der Briefform bedienend, wirksamer zu realisieren. In Hamanns Werk findet man zahlreiche Beispiele für den so genannten uneigentlichen Brief, sowohl als eigenständige Schrift (z. B. Fünf Hirtenbriefe, Fliegender Brief I–II, Briefwechsel die Bücher-

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das Universum aus. Am Schluß der fast einstündigen Visite lud das Ehepaar Hamann zum folgenden Tag zur Tafel ein.« (Ebd., S. 96.) Jürgen Schiewe zeichnet den parallelen Vorgang auf, von der Neuen Zeitung, die noch allgemeine Nachrichten enthielt durch die für die literarische Öffentlichkeit geschriebene Literaturbriefen bis zur modernen Presse, die im 18. Jahrhundert um sich griff und die vertrauten und intimen Gelegenheiten in die Sphäre der Privatheit verbannte. Vgl. Jürgen Schiewe: Öffentlichkeit. Entstehung und Wandel in Deutschland. Paderborn 2004. Dafür ein Beispiel aus Hamanns Briefen: ZH II, 292,11–13. »Den 7’’ brachte mir HE Fischer eine Einlage von HE Herder, die schon zieml. alt geworden war, weil sich der Brief am schwartzen Brett aus Mangel der addresse umtreiben müßen.« (an Johann Gotthelf Lindner, 16. Jan. 1765). Klaus Beyer: Der alte Weg eines Briefes. Von der Botenpost zum Postboten. In: ders. / HansChristian Täubrich (Hg): Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Heidelberg 1996, S. 11–24, hier S. 24. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe von Verstorbenen und noch Lebenden? In: ders.: Werke. Hg. v. Klaus Hammacher / Walter Jaeschke. Bd. 5,1: Kleine Schriften II (1787–1817). Hg. v. Catia Goretzki / Walter Jaeschke. Hamburg 2007, S. 259–324, hier S. 263: »Die Absicht des Senders bestimmt den Gebrauch, und der Empfänger soll sich durch jene in diesem streng gebunden achten. Dies ist die Bedeutung des Siegels welches nur Einem zu erbrechen erlaubt ist.«

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zensur betreffend) als auch als Briefeinlagen in anderen Texten (z. B. in der Aesthetica in nuce). Geht es um solche Briefe, so neigt die Literaturwissenschaft dazu, sie »als literarische Phänomene« anzusehen. »Aus den Eigenschaften des Briefs geht jedoch hervor, dass er [die] periphere Stelle nicht verlassen kann, egal wie weit der Begriff der Literatur definiert wird. Die wesentlichen Bestimmungs- und Unterscheidungsmerkmale des Briefes als Gattung sind nämlich zum einen der auf persönliche Anliegen bezogene Inhalt und die Zeitbezogenheit, zum anderen der persönliche Charakter der Beziehungen zwischen Absender und Empfänger«24. In der Hamann-Forschung ist die im zwölften Buch von Dichtung und Wahrheit abgefasste Goethesche Meinung über den Briefwechsel Hamanns ein Gemeinplatz geworden, nämlich, dass die Briefe viel verständlicher seien als die anderen Schriften – und so für das breitere Publikum leichter zu verdauen und deshalb unbedingt zu publizieren.25 Diese Meinung Goethes beeinflusste nicht nur das Schicksal der Hamannschen Briefe26, sondern auch die briefeditorischen Sitten der späteren Epochen im Allgemeinen. Kein Zufall, da Goethe einer der ersten Persönlichkeiten war, der seine Briefe »zum Träger gemeinsamen Denkens, Fühlens und Strebens, somit zum Zentrum gesellschaftlichen Lebens erhob.«27 Seine Korrespondenz gilt als Muster für den von Anfang an mit editorischer Überlegenheit geschriebenen und sortierten d. h. für den so genannten literarischen Briefwechsel.28 Viel enthusiastischer, die Intentionalität der Briefe tiefer berücksichtigend – und mit persönlicher Betroffenheit – erschien 1806 Jacobis weniger berühmt 24 R8ka B#rtfay : Nur ein Brief ? Über die Literarizität des Briefwechsels zwischen Rainer Maria Rilke und Marina Zwetajewa. Quelle: www.kakanien.ac.at/beitr/emerg/ RBartfay1.pdf. 25 »Persönlich habe ich ihn nie gesehn, auch kein unmittelbares Verhältnis zu ihm durch Briefe gehabt. Mir scheint er in Lebens- und Freundschaftsverhältnissen höchst klar gewesen zu sein und die Bezüge der Menschen unter einander und auf ihn sehr richtig gefühlt zu haben. Alle Briefe die ich von ihm sah, waren vortrefflich und viel deutlicher als seine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit und Umstände so wie auf persönliche Verhältnisse klarer hervortrat.« (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Bd. 14. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a.M. 1986, S. 561.) Dieser Feststellung widerspricht eine allgemeine Aussage über die Natur des Briefes von Winfried Woesler (Der Brief als Dokument [wie Anm. 2], S. 49): »Einzelne briefliche Mitteilungen ergeben allein vor dem besonderen Verstehenshorizont des Empfängers ihren Sinn. Der spätere Leser, für den solche Mitteilungen nicht bestimmt waren und der den Hintergrund kaum rekonstruieren kann, muß sie falsch interpretieren, wenn ihm der Kommentar des Editors nicht zusätzliche Informationen liefert.« 26 Siehe auch Salmonys Meinung über die Bedeutung des Lebenslaufes Hamanns: Hansjörg A. Salmony : Johann Georg Hamanns metakritische Philosophie. Zollikon 1958, S. 120. 27 Paul Raabe: Die Briefe Hölderlins. Studien zur Entwicklung und Persönlichkeit des Dichters. Stuttgart 1963, S. 9. 28 Reinhard M.G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 53.

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gewordene Schrift gegen die kritiklose Veröffentlichung von vertraulichen Briefen mit dem Titel: Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe von Verstorbenen und noch Lebenden?29 In seinem Werk unterscheidet Jacobi nach Inhalt und Intention publizierbare und eher geheim zu haltende Briefe. Die Kategorisierung der Briefe – wie der Anlass zur Schrift – ist zwar sehr persönlich, sie spiegelt aber eine gesunde und einfache Moral wider. Von seiner eigenen Erfahrung ausgehend grenzt er den Kreis der publizierbaren Briefen in folgender Weise ab: »Nicht vertrauliche Briefe, von blos literarischem oder gelehrtem Inhalt; solche überhaupt, die so abgefaßt wurden, daß sie keines Siegels bedurften, und eben so gut gedruckt als geschrieben gleich anfangs hätten abgesendet werden mögen – nehmen sich von sich selbst aus.«30 An Jacobis Schrift hebt Nickisch unter anderem hervor, dass er sich mit seiner »Gelegenheitsschrift« »erbittert dagegen zur Wehr gesetzt [hat], dass der ihm als unantastbar geltende private Freiraum, innerhalb dessen man unbehelligt durch unbefugte Dritte freundschaftlich-vertrauliche Briefe wechseln konnte, durch die Furcht vor späterer Publizierung solcher ganz persönlicher Mitteilungen verloren gehen sollte. Aber mit seinem rigorosen Eintreten für eine Trennung zwischen Persönlich-Privatem und Literarisch-Öffentlichem stand Jacobi praktisch allein. […] Das Bedürfnis nach Ermöglichung der Anteilnahme an privater brieflicher Mitteilung war schlechterdings allgemein. Man befriedigte es vielfach nicht erst durch Veröffentlichung von Sammlungen privater Briefe, sondern schon vorher durch das Vorlesen, Herumreichen und Austauschen frisch empfangener vertraulicher Schreiben. Insofern muss man bei den meisten Autoren solcher Schreiben davon ausgehen, dass sie die (ihnen selbstredend bekannte) ›sekundäre‹ Verwendung ihrer Briefe a priori mit ins Auge fassten und diese dementsprechend stilisierten.«31 Aus briefgeschichtlicher Sicht mag diese Feststellung zwar stimmen, aus wertsoziologischer oder moralischer Sicht gibt es aber Bedenken: »Die Bitte um vertraute Korrespondenz gehört zu den Selbstverständlichkeiten des Freundschaftskults«32. Doch die moralischen Bedenken wurden durch ästhetische Überlegungen und das Interesse an Bildung verdrängt, und der Brauch, private Briefe interessanter Autoren zu drucken, ist im 18. Jahrhundert durchaus gewöhnlich geworden. Natürlich stellt sich die Frage: inwiefern gelten diese Behauptungen für Hamann? Haben seine Briefe an vertrauliche Freunde an Intimität wegen der Furcht vor der späteren Veröffentlichung etwa verloren? Übte er in seiner Alltagspraxis das oben erwähnte »Vorlesen, Herumreichen und Austauschen frisch 29 30 31 32

Jacobi: Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht (wie Anm. 23). Ebd., S. 264. Nickisch: Brief (wie Anm. 28), S. 129. Vellusig: Schriftliche Gespräche (wie Anm. 13), S. 63.

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empfangener vertraulicher Schreiben«? Sind Themen wie Briefschreiben, Briefgeheimnis überhaupt präsent in seinen Briefen? Die Antwort auf diese Fragen – vielleicht mit der Ausnahme der Ersten – ist: ja! Denn Hamann beschäftigte sich kaum mit der Möglichkeit der Ausgabe seiner Briefe; umso öfter kommen in seinen Schreiben Metatexte (selbstreflektierende Brieftexte) vor33, und solche Textstellen, in denen er die materiellen und praktischen Umstände der Korrespondenz beschreibt: so z. B. das Funktionieren der Post34, der Zustand der empfangenen Sendungen35, und das Briefschreiben selbst ist ebenfalls ein häufiges Thema. Er schenkte der Versiegelung der Sendungen viel Aufmerksamkeit.36 Die geöffneten Pakete oder Briefe galten als Zeichen des offiziellen und staatlich organisierten Zensur37– was Hamann in den sechziger Jahren sowieso beschäftigte.38 Wie oben schon erwähnt: anscheinend kümmerte sich Hamann in den sechziger Jahren um die Möglichkeit des Sammelns und der Herausgabe seiner Briefe überhaupt nicht. Es gibt zwar Andeutungen darauf, dass er von der Gewohnheit des oben erwähnten »Herumreichen[s] und Austauschen[s]« oder Vorlesens frisch empfangener Briefe wusste, z. B. an Johann Gotthelf Lindner schreibt er : »behalten Sie dies für sich«39, oder »unter uns, liebster Freund«40, oder er berichtet Lindner von seinem Umgang mit dem empfangenen Briefen folgendermaßen: »Von meiner Vorsicht, bey Empfang Ihrer unschuldigen Nachrichten können Sie versichert seyn.«41 Eine der ersten betont ernsten Mahnungen schreibt er während seiner Reise 33 Vgl. ZH II, 282,17–19: »Ist das der Sinn meiner letzten beyden Briefe gewesen: so weiß ich nicht was Sie gelesen noch was ich geschrieben habe. Lesen Sie selbst, was Sie mit einer gar zu frommen Mine mir berichten …« (an J.G. Lindner, 19. Dez. 1764); ZH II, 287,32–34.: »Ein Brief wird mir jetzt würkl. schwer und überlästig, und ich finde mich an Begriffen und Ausdrücken ganz erschöpft.« (an J.G. Lindner, 2. Jan. 1765). 34 ZH II, 306,34–307,1: »Die Post muß aber sehr spät angekommen seyn; denn eine halbe Stunde nachher kam der Briefträger.« (an Johann Gotthelf Lindner, 30. Januar 1765); ZH II, 292,11–13. Zum schwarzen Brett vgl. Anm. 21. 35 Vgl. ZH II, 197,28–30 (an J.G. Lindner, 5. März, 1763): »Gestern Ihren Brief erhalten und kurz darauf ein Päckchen aus Berlin, welches ich aber alles offen und ohne Umschlag erhielt, weil jetzt die schärfste Untersuchung auf der Post für nöthig gefunden wird.« 36 Vgl. ZH II, 275,9–14 (an J.G. Lindner, 28. Nov. 1764): »Weil ich selbigen ohnmögl. erbrechen konnte ohne das Siegel der Einlage zu beschädigen, so wurde selbige aufgerißen und ich daher genöthigt mit dem beschädigten Briefe selbst zur Mama zu laufen, um mich theils zu entschuldigen, theils durch den Augenschein von der Unmöglichkeit mehrerer Vorsicht, als ich wirklich anwenden können, zu überführen.« 37 ZH II, 197,28–30 (s. Anm. 35). 38 ZH II, 194,14–19 (an J.G. Lindner, 26. Jan. 1763). 39 ZH II, 190,14. 40 ZH II, 211,29 (an J.G. Lindner, 17. Juni 1763). 41 ZH II, 211,12–13. Vgl. auch ZH II, 235,35: »Ich vertraue Ihnen diese Angelegenheiten unter der Rose«.

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durch Lübeck nach Frankfurt und Berlin im Jahre 1764 an den jungen Herder: »Gewöhnen Sie sich aber, meine Briefe für sich zu lesen. Ich schreibe teils mit einer Nachlässigkeit, von der ich keine andere Zeugen als einen Vertrauten haben mag, theils könnte es sich treffen, daß ich einmal Dinge schreibe, die Sie allein angiengen.«42 Hiermit formuliert er zwei wichtige Gründe, welche vierzig Jahre später Jacobi in seiner Schrift ebenfalls erwähnt: einerseits die Nachlässigkeit, die man sich nur unter vertrauten Freunden erlaubt, und andererseits das Briefgeheimnis selbst, d. h. also, dass der Inhalt des Briefes nur den Schreiber und den Empfänger allein angeht. Der damals knapp 20 Jahre alte Herder hat diese ziemlich strengen Zeilen vielleicht mit etwas Verwunderung gelesen und war in seinen Gefühlen sogar verletzt – obwohl sein empfindsamer – man könnte beinahe sagen, mit schmachtender Stimme43 geschriebener – Abschiedsbrief44 auf Hamann vermutlich den Eindruck machte, dass Herder mit dem von seinem älteren Freund frisch empfangenen Brief in Freude schwimmend, in den Kanterschen Buchladen eilt und allen Anwesenden den Brief vorliest. Allerdings konnte Herder Hamanns Bedenken spätestens fünf Jahre darauf vollständig nachvollziehen. 1768 schrieb er an Hamann: »Hören Sie mich, oder kein andrer muss mich lesen, ja, wenn es Ihnen gefällt: so schicken Sie mir durch Hr. Hartkn. selbst diesen Brief zurück.«45 Worauf Hamann antwortet: »Für Ihre Briefe können Sie sicher seyn; ich habe und werde mich kaum merken lassen, dass Sie mir schreiben; geschweige dass jemand Ihre Briefe sehen sollte. Ein wenig Geheimnis gehört zur Freundschaft wie zur Liebe, Ohne die Vertraulichkeit gewisser Blößen und Schwachheiten findet kein Genuss der Geister Statt.«46 Herder begründet diesmal seine Bitte noch nicht. Vielleicht hat er einfach daran gedacht, Hamann vergesse wegen seiner Zerstreuung seinen Brief, und die Schrift könnte aus bloßem Versehen einem Dritten in die Hand geraten. Hamann aber formuliert in seiner Antwort ganz klar seine Meinung, nämlich, dass es ihm Freude bereitet, mit Gleichgesinnten offen und ehrlich zu kommunizieren, ohne sich wegen der eigenen Schwächen und Blößen schämen zu müssen. Eine ähnliche Begründung – sogar auf der Ebene der Wörter und des Wortlautes – erscheint etwa vierzig Jahre später bei Jacobi,47 obwohl er wahrscheinlich diese Briefe zwischen Hamann und Herder nicht kannte. Dass Herder doch bittere Erlebnisse in Hinsicht des Briefgeheimnisses hatte, zeigt sein Schreiben etwa ein 42 ZH II, 260,9–12 (an Johann Gottfried Herder, Lübeck, 26. Juni 1764). 43 Vgl. z. B. das Gedicht über Hamanns Genius in dem Brief von Herder, den Hamann am 8. Juni 1764 erhielt, ZH II, 258–259. 44 ZH II, 258f; ZH II, 262–266. 45 ZH II, 408,29–31 (von Herder, April 1768). 46 ZH II, 415,6–10 (an Herder, 23. Mai 1768). 47 Jacobi: Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht (wie Anm. 23), S. 266–269.

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Jahr später, in dem er schon mit dem Bewusstsein der Prominenz sich entschuldigend und rechtfertigend schreibt: So lange ich nicht assecurirt bin, daß meine Briefe nur von zwei Augen gelesen, u. von Einer Rechte, von der die Linke nichts weiß, zerrißen, oder verbrannt, oder sonst abgethan werden: so lange bin ich nicht über Sie, sondern über die Unvorsichtigkeiten Ihrer Freunde ungewiß, u. freilich so lange muss ich auch an meinen Hamann nur stammeln, u. hergestammeltes Gespräch ist freilich mühsam dem Stammlenden und dem Hörenden widrig. Setzen Sie sich in meine Stelle, von dem man so viel falsche oder halbwahre Anekdoten in Deutschland weiß, als ich selbst nicht weiß; nach dem man bei allen meinen Schülern u. Bekannten in Halle u. Leipzig u. Jena spioniret, dem man Gedichte und Abhandlungen aufhängt, die nur für diesen Ort geschrieben sind […] nehmen Sie nun diese u. andre Verräthereien; soll ich nicht beinahe über jeden Federzug sorgsam werden, u. wenn sich aus meinen Briefen nach Deutschland auch eine Ängstlichkeit der Mine in die Briefe meines Hamanns wiewohl wider Wissen u. Willen einschleicht, ist das mehr als ein pecatillum?48

Das heißt also, dass der Verdacht, dass der Brief von Unbefugten hätte gelesen werden können, nicht nur den Inhalt, sondern auch den Stil der Schrift beeinflusst. Die Manieriertheit hätte das persönliche Zwiegespräch töten können. Hamann antwortete wieder beruhigend: »So viel kann ich Ihnen auf Treue und Redlichkeit meines alten Namens versichern, daß ich mit Ihren Briefen bis zum Aberglauben gewissenhaft umgehe, hauptsächlich Ihrer und dann auch meiner Selbst willen, und daß sich keiner meiner hiesigen Freunde rühmen kann jemals Ihre Hand gesehen zu haben.«49 In Hamanns zwei Antworten ist ein Hauch biblischer Terminologie vernehmbar. Der Ausdruck: »Blöße«, und der Halbsatz: »daß sich keiner meiner hiesigen Freunde rühmen kann jemals Ihre Hand gesehen zu haben« erinnerten an das neunte Kapitel des ersten Buch Mose, in dem »Noahs Fluch und Segen über seine Söhne« folgenderweise beschrieben wird: »Noah aber, der Ackermann, pflanzte als erster einen Weinberg. Und da er von dem Wein trank, ward er trunken und lag im Zelt aufgedeckt. Als nun Ham, Kanaans Vater, seines Vaters Blöße sah, sagte er’s seinen beiden Brüdern draußen. Da nahmen Sem und Jafet ein Kleid und legten es auf ihrer beider Schultern und gingen rückwärts hinzu und deckten ihres Vaters Blöße zu; und ihr Angesicht war abgewandt, damit sie ihres Vaters Blöße nicht sähen. Als Noah erwachte von seinem Rausch und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte, sprach er : Verflucht sei Kanaan und sei seinen Brüdern ein Knecht aller Knechte! Und sprach er weiter : Gelobt sei der Herr, der Gott Sems, und Kanaan sei sein Knecht!«50

48 ZH II, 437,17 (von Herder, März 1769). 49 ZH II, 443,19–22 (an Herder, 9. April 1769). 50 Gen 9,18–26. In der Übersetzung der Elberfelder-Bibel Gen 9,21f: »Und er trank Wein und

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Warum wurde Ham der Fluch zuteil, obwohl er wahrscheinlich unvermutet die Blöße seines Vaters erblickte? Noch 1758 deutet Hamann Hams Benehmen in den Biblischen Betrachtungen so: »Cham sieht die Blöße v alle die Umstände, womit selbige begleitet war[en], mit einer Art von Augenweide, die man daraus schlüßen kann, daß er seinen 2 Brüdern Nachricht davon giebt um wie es scheint, sie an dem Schauspiel theilnehmen zu lassen, das er genossen hatte.«51 Die Textstelle, die über die Umstände schweigt – oder euphemistisch und taktvoll nur so viel sagt: »er sagte es seinen Brüdern« – legt Hamann so aus, dass Ham sich des Gesehenen praktisch rühmte. Der Wortgebrauch und die Sprache verbinden die verschiedenen Bereiche und Schichten des Lebenswerks, und dadurch können solche Zusammenhänge zum Vorschein kommen, die zwar nur unbewusst aber das ganze Lebenswerk durchweben. Diesen Gedanken konzipiert Hans Herbert Ohms – wiederum in seinem poetischen Stil – wie folgt: »Kraft der Person oder der Dinge, die hinter ihm stehen, kann der Brief über den persönlichen Wert hinaus einen allgemeinen bekommen: als Theil des künstlerischen Werkes oder des großen Lebens, als historische Quelle.«52 Doch inwieweit kann man Hamanns Briefe als Teil seines Schaffens betrachten? Für Hamann war der vertrauliche Brief (und vielleicht noch das Tagebuch) das adäquate Medium, seine »Blöße und Schwachheiten« aufzudecken. Nicht aber seine philosophischen, literarischen und kritischen Werke! Hamann der Briefschreiber unterscheidet sich wahrlich nicht sehr von Hamann dem Autor. Die in seinen Schriften vertretenen Ideen sind nicht gespielt, er trägt zwar Masken, aber er ist ehrlich: er spielt mit dem Publikum, aber belügt es nicht. Doch es ist bestimmt kein Zufall, dass die Brieftexte im Hamannschen Werk nicht zitiert werden. Hamann sagt über die Kreuzzüge des Philologen, die ein Sammelband waren: »Weil es aber durchaus ein Bändchen seyn soll: so werde auch crambem bis coctam zum Umschlage brauchen und Sie nachahmen, aber (nach meiner Art) unverschämter, alles zusammenraffen biß auf GelegenheitsGedichte und ein lateinisch Exercitium.«53 Es ist kein Zufall, dass Hamann nicht auf den Gedanken verfiel, in diesem Band aus seinen bisherigen Briefen zu zitieren oder diese gar einzufügen. Autor zu sein bedeutete für Hamann: Gott ähnlich sein – dem großen Schriftsteller des Buches der Natur und der Geschichte, dem »Poet am Anfange der Tage«54. Das hieß auch, dass Hamann als

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wurde betrunken und lag entblößt in Innern seines Zeltes. Und Ham, der Vater Kanaans, sah die Blöße seines Vaters und berichtete es seinen beiden Brüdern draußen.« Londoner Schriften, 86,13–17 (N I, 28,2–5). Ohms: Die weiße Brücke (wie Anm. 15), S. 8. ZH II, 125,32–36 (an Lindner, 19. Dezember 1761). N II, 206,20 (Aesthetica in nuce).

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Autor sich des ganzen Ausmaßes seiner Verantwortung bewusst war. Ebenfalls vor dem Erscheinen der Kreuzzüge schreibt er an Lindner : Mein Wahlspruch bleibt: Was ich geschrieben hab, das decke zu Was ich noch schreiben soll, regiere Du.55

Wird man zum Autor, so wird man Gott ähnlich. Dieser Gedanke ist für die schaffende Person bestimmt berauschend, doch ist es eine verantwortungsvolle Aufgabe – denn man schafft gottähnlich mit Worten. Dies betreffend erinnert uns Hamann: »Unter allen Eitelkeiten, die Salomo begangen, weiß ich keine Größere, als seine Schwachheit, Autor zu werden.«56 Er hat diese Eitelkeit ebenfalls begangen, wobei sich seine Werke deutlich von den Briefen unterscheiden: durch seine änigmatische Schreibweise, durch das dichte Gewebe der Andeutungen und Zitate, durch den dunklen Stil, worüber auch Goethe klagte. Diese dienten ihm als Kleidungsstücke oder mindestens Feigenblätter, um seine »Blöße und Schwachheiten« zu bedecken. Von dieser Manieriertheit war in den Briefen keine Spur zu sehen. Natürlich bedeutet es auf keinen Fall, dass man als Hamann-Forscher auf das Lesen und Studieren des Briefwechsels verzichten sollte, denn in der Wissenschaft gelten andere Konditionen. Tritt man aber ins Zelt Hamanns ein, wo er mit aufgedeckten Blößen liegt, sieht man nicht nur seinen jämmerlichen Zustand und seine Schwachheiten, sondern die Fülle menschlicher Beziehungen; man sieht Dokumente eines schaffenden Lebens, Quellen der gesellschaftlichen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Forschung und das Gewebe von Sprache und Text, das die Erforschung der Hamannschen Philosophie immer neu zu inspirieren vermag.

55 ZH II, 145,12–18 (an Lindner, 26. März 1762). 56 ZH II, 143,19f (an Moses Mendelssohn, [21. oder 25.] März 1762).

Anja Kalkbrenner (Münster)

Selbstdarstellung und Verstellung in Hamanns Briefen

Lesen wir die Briefe eines Menschen, so tun wir dies in der Regel mit der Erwartung, in und durch sie etwas über die Person des Schreibenden erfahren zu können und zwar auf eine verlässliche Art und Weise, ist doch ein Brief ein Text, den jemand für einen Anderen schreibt, um sich ihm mitzuteilen. Anders als etwa bei Texten, die wir literarisch nennen, erscheint es uns nicht sinnvoll, den Text mit einem Vorbehalt hinsichtlich der Frage nach der Erkennbarkeit der authentischen, eigentlichen Meinung oder Person ihres Verfassers zu begegnen. Dieser Lesegewohnheit entsprechend schreibt Seneca an Lucilius: Daß du mir häufig schreibst, dafür danke ich dir : denn auf diese Weise – die einzig dir möglich ist – zeigst du dich mir. Niemals empfange ich einen Brief von dir, ohne daß wir nicht sofort zusammen sind. Wenn uns Bilder abwesender Freunde willkommen sind […], wie viel willkommener ist ein Brief, der echte Spuren des abwesenden Freundes, echte Zeichen beibringt! Denn was beim Anblick das süßeste ist, das gewährt des Freundes Hand, dem Briefe aufgedrückt – wiederzuerkennen.1

Ein Brief macht also einen Schreibenden dem Empfänger und gegebenenfalls auch einem dritten Leser auf besondere Weise gegenwärtig. Hamanns Briefe entsprechen gewiss zum Teil einer solchen aus unserer Alltagsintuition und unseren Lesegewohnheiten entspringenden Rezeptionshaltung, erfahren wir in ihnen doch Einiges über die Person Hamanns, das wir aus seinen Werken nicht erfahren können, wie er etwa den Tag verbracht hat, wie seine Gesundheit ist, wofür er sich interessiert und dergleichen mehr. Und dennoch übt Hamann auch in seinen Briefen eine Praxis der Verstellung, des enigmatischen Ausdrucks, also paradoxerweise eine Art und Weise, sich dem Anderen zu zeigen, die eben aufgrund ihrer nicht unmittelbaren Verständlichkeit eher als ein Verbergen zu bezeichnen wäre. Wenn einen Brief zu schreiben, wie es Foucault in einem Aufsatz formuliert hat, heißt »sich zeigen, 1 Seneca: An Lucilius. Briefe über Ethik. In: ders.: Philosophische Schriften. 5 Bde. Hg. v. M. Rosenbach. Darmstadt 1999. Bd. 4, S. 223.

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sich sehen lassen, sein eigenes Gesicht vor dem des anderen erscheinen lassen«2, so müsste man für Hamann sagen, dass er seinen Briefpartnern gewissermaßen ›andere Gesichter‹ zeigt, indem er etwa mit verschiedenen Rollen, personae spielt. Wichtig ist dabei aber eine Eigentümlichkeit, und zwar, dass in Hamanns Schreiben das Zeigen anderer Gesichter, das Verstellen als etwas dem Schreibenden Eigentümliches deutlich wird, nämlich als ein Teil seiner selbst, als identitätskonstitutiv. Deutlich wird dies in einer Antwort Hamanns auf eine Beschwerde Herders über seinen änigmatischen, schwer zugänglichen Briefstil, d. h. darüber, dass Hamann, der Magus, »selbst in Wegen u. Bestellungen solche krause Anomalische Allegorische Figuren liebt, wo doch Er nur allein das Ganze übersieht.«3 Hamanns schelmische Antwort lautet: »Die krause anomalische allegorische Figuren sind mir zum Element worden, ohne das ich weder athmen noch denken kann.«4 Andererseits ist der Aspekt der Verständlichkeit für Hamann selbst durchaus zum Anliegen und Problem geworden. So schreibt er an Lavater : »Auch mir ist es bald wie ein Traum, bald ein Geheimniß oder trait de g8nie, wodurch ich […] so tief verborgen meinen sulx}woir bleibe.«5 Im Jahre 1785, als eine Gesamtedition seiner Schriften ansteht, bemerkt Hamann, er könne »weder einem Verleger noch dem Publico zumuthen unverständliches Zeug zu lesen.«6 Verständlichkeit ist also sowohl Ziel als auch eine geradezu ethische Anforderung an einen Autor. Oder wie Hamann es formuliert: »Also Schreiben bleibt immer für mich eine Gewißenssache.«7 Es erscheint mir daher sinnvoll, folgende Fragen an seinen Briefwechsel zu richten: 1.) Wie stellt Hamann sich selbst seinen Briefpartnern dar? Welche ›Rollen‹ bzw. personae nimmt er ein und wie verhalten sie sich zu seinem Selbstverständnis als Autor? Gerade nach dieser Doppelseitigkeit von Selbstverhältnis und Mitteilung gegenüber einem Anderen ist ja zu fragen, wenn für die briefliche Korrespondenz gilt, was Seneca an Lucilius schreibt, dass »wir beim Schreiben lesen, was wir schreiben, wie wir ja auch beim Sprechen hören, was wir sagen.«8

2 Michel Foucault: Über sich selbst schreiben. In: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert / Francois Ewald. Übers. v. Michael Bischoff u. a. Frankfurt a.M. 2003, S. 350–367, hier S. 361. 3 Von Johann Gottfried Herder am 11. 3. 1773, in: ZH III, 37,21ff. 4 An Johann Gottfried Herder am 20. 3. 1773, in: ZH III, 38,8f. 5 An Johann Caspar Lavater am 18. 1. 1778, in: ZH IV, 4,9ff. 6 An Johann George Scheffner am 11. 2. 1785, in: ZH V, 358,32f. 7 An Johann Gottfried Herder am 3. 2. 1785, in: ZH V, 351,7. 8 Seneca: An Lucilius. Briefe über Ethik (wie Anm. 1). Bd. 3, S. 313.

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2.) Wie lässt sich an einem konkreten Beispiel – der Entstehung von Konxompax – eine Dialektik von Zeigen und Verbergen beschreiben?

I.

›Verbergen‹ als Teil der Autoridentität

In einem Brief an Lavater, den Hamann in seiner Krisenzeit von 1778 verfasst, in der er wiederholt über »Armuth des Geistes« klagt,9 findet sich eine Passage, in welcher ›Verbergen‹ als Teil der eigenen Autoridentität benannt wird: Mir Ignoranten ist, nächst dem Prediger des alten Bundes, der weiseste Schriftsteller und dunkelste Prophet, der Executor des neuen Testaments, Pontius Pilatus. Ihm war vox populi vox Dei, ohne sich an die Träume seiner Gemahlin zu kehren. Sein güldenes quod scripsi scripsi ist das Mysterium Magnum meiner epigrammatischen Autorschaft: was ich geschrieben habe, das decke zu; was ich noch schreiben soll, regiere du!10

Es sind mehrere Aspekte, die Fragen aufwerfen: Offenbar ist hier in doppelter Hinsicht von ›Verbergen‹ die Rede, nämlich einmal im Bezug auf die eigene Autorschaft als etwas Geheimnisvolles, ›Mysteriöses‹, zudem in Form einer Aufforderung an ein anonymes Du, das Geschriebene zu verbergen. Letzteres wirkt auf den ersten Blick merkwürdig. Bei Pilatus drückt das »quod scripsi scripsi« sein Bestehen darauf aus, das Geschriebene eben so stehen zu lassen, es nicht zu verändern, und ist dadurch ein selbstbewusstes Stehen zu dem von ihm als Autor Gewolltem. Indem Pilatus sich weigert, anstelle von Igsour Mafyqaior o Basikeur tym Ioudaiym zu schreiben oti ejeimor eipem basikeur eili tym Ioudaiym,11 macht er sein Geschriebenes für jeden lesbar, verbirgt es also gerade nicht. Hamann hingegen fordert zum einen explizit zu einem Verdecken auf und überantwortet zum anderen das Geschriebene an jemand Anderen, scheint sich selbst als Autor also gerade nicht – wie Pilatus – als diejenige Instanz zu verstehen, die intentional und verantwortlich das Geschriebene bestimmt. Der bekannte Satz aus der Aesthetica in Nuce »[d]erAutor ist der beste Ausleger seiner Worte«12 scheint sich demnach auf Hamanns eigenes Schreiben also gerade nicht anwenden zu lassen. Mehr noch: Indem Hamann von sich behauptet, »bey allem guten Willen ein 9 Vgl. an Johann Caspar Lavater am 6. 1. 1779: »Bin arm, liebster Lavater, auch am Geist –« (ZH IV, 42,21) sowie an Johann Gottfried Herder am 24. 3. 1779: »Einlage habe diese Woche erhalten und giebt mir Anlaß zu ein paar Zeilen trotz meiner Armuth des Geistes.« (ZH IV, 60,22f). 10 An Johann Caspar Lavater am 18. 1. 1778, in: ZH IV, 4,16–21. 11 Joh 19, 21, in: Novum Testamentum Graece. Hg. v. Eberhard Nestle / Kurt Aland, Stuttgart 26 1979. 12 N II, 203,18–204,1 (Aesthetica in Nuce).

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völliger imbecille und zu allem untüchtig«13 zu sein, wird für ihn selbst – und somit auch für den Leser seiner Briefe – zweifelhaft und problematisch, was zu unserem Begriff eines Autors gehört, dass nämlich der Autor derjenige ist, »dem man das zuschreiben kann, was gesagt oder geschrieben wurde«14. Hamann schreibt nicht nur und nicht einfach als Autor Briefe, sondern im Zug des Briefschreibens und der dabei sich vollziehenden Selbstreflexion über das Geschriebene entsteht für ihn die Frage, wer und was er selbst als Autor ist. Innerhalb dieser fragenden und skeptischen Erkundung der eigenen Autoridentität lassen sich zwei grundlegende Ebenen unterscheiden, die der Produktion, der Veräußerung von Gedanken in einen Text und die der Veröffentlichung oder Vermittlung. Für beide Ebenen lässt sich sagen, dass Hamann gewissermaßen einen Teil seiner Funktionen als Autor an andere Instanzen abgibt. Es scheint mir sinnvoll, zunächst von dem Begriff ›Zurechnung‹ auszugehen. Bei Kant wird er folgendermaßen definiert: »Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung […] angesehen wird.«15 In Hamanns brieflicher Selbstdarstellung wird jedoch genau dieser Aspekt der Urheberschaft, die aus freiem Willen und einer bestimmten Absicht erfolgt, problematisiert: »Doch manum de tabula! Was kommt aus allem Bücher- und Briefschreiben heraus? Das ist der Wurm der mich nagt, – Gehts mir doch wie St. Paulo Rom. VII. 15. Denn ich weiß nicht was ich schreibe und ich schreib nicht was ich will.«16 Hamann charakterisiert sein Schreiben hier als etwas, dass sich erstens unwillkürlich vollzieht und bei dem zweitens er nicht in der Lage ist, Gemeintes auszudrücken. Anders als sein Freund Herder versteht er sich offenbar nicht als denjenigen, der souverän »das Ganze übersieht.« Dennoch lässt sich bei näherer Betrachtung Hamanns Vergleich seiner Situation mit der des Paulus als Teil einer Strategie lesen, die aus einer persönlichen Krisensituation erwachsenen Schreibprobleme in einen durch den biblischen Text vorgegebenen, aber durch Übertragung in die eigene Lebenswirklichkeit neu interpretierten Sinnzusammenhang einzuordnen und somit zu überwinden. Bei Paulus steht der Satz »Denn ich weiß nicht was ich tue und ich tue nicht was ich will« (Röm 7,15) im Kontext von Überlegungen über den Zustand des Menschen unter dem Gesetz. Die Einsicht in die unwillkürliche und dem guten Wollen entgegen gesetzte Sündhaftigkeit des eigenen Handelns ist dabei zwar etwas, dem der Mensch sich so nicht entziehen kann, aber ihr steht positiv die Perspektive der Erlösung durch das Vertrauen in Christus gegenüber. In ähnlicher Weise sind für Hamann seine Schreibblocka13 An Johann Gottfried Herder am 8. 8. 1779, in: ZH IV, 95,31f. 14 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zu Literatur (wie Anm. 2), S. 234–270, hier S. 234–235. 15 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Hg. v. Hans Ebeling. Stuttgart 1997, S. 63. 16 An Johann Caspar Lavater am 6. 1. 1779, in: ZH IV, 43,36–44,2.

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den kein zufälliger Umstand, keine grundlos auftretende Widrigkeit, sondern Teil einer göttlichen Absicht: »Bin nicht im stande das geringste vernünftige zu Papier zu bringen, mag sinnen, wie ich will. Also Gott befohlen.«17 Solchermaßen eingeordnet in einen zwar inhaltlich nicht erfassbaren Sinnzusammenhang verliert die »Lähmung meiner Zunge«18, die Hemmung der geistig-kreativen Tätigkeit ihren beängstigenden Charakter und kann durch eine Haltung des Vertrauens und der Geduld mit sich selbst ersetzt werden. So schreibt Hamann an Herder: »Meine Geduld wird Frucht bringen und meine Hoffnung gleich dem Stabe Mosis u Aarons ausschlagen.«19 Indem Hamann also die Geschichten biblischer Figuren ›auf sich selbst deutet‹, d. h. metaschematisierend liest, gelingt es ihm, trotz der Frustriertheit über die Unfähigkeit, seine schriftstellerischen Pläne wie geplant umzusetzen, einen affirmativen Begriff seiner Autorschaft zu bewahren. Nicht in der Lage zu sein, eigene Pläne schriftstellerisch in die Tat umzusetzen, bedeutet nicht, als Autor gescheitert zu sein, sondern ist eine vorübergehende Situation, in der man sich auf die göttliche Mitwirkung verlassen kann. Hamann vergewissert sich seiner Autoridentität dadurch, dass er dasjenige, was ihm widerfährt – sowohl was er tut als auch was er an gesundheitlichen und ökonomischen Widrigkeiten leidet – auf teleologische Art und Weise seinen Briefpartnern erzählt und dabei als Teil einer göttlichen Intention versteht, die letztlich auf eine produktive Verwirklichung hingeordnet ist: ich habe die ganze Woche an diesem Briefe zugebracht […] Weder gleqai noch eqca. – Ganz gewiß alles ein Plan einer höheren Hand, der ich meine ganze Erziehung zu verdanken habe, und die meinen Beruff, ohne ihn selbst zu kennen, entwickeln wird. – […] – Er wolle uns beyde zum reinen Pfeil machen und in Seinen Köcher stecken! Auch Er dachte, ich arbeitete vergeblich und brächte meine Kraft umsonst und unnützlich zu. Jes. XLIX.20

Dabei ist es bezeichnenderweise nicht notwendig, sich diese ›höhere Hand‹ vorzustellen als eine Instanz, die ihrerseits ›das Ganze übersieht‹, die also Hamanns Autorschaft in ihrem Werdegang mit Hilfe eines souveränen Bewusstseins lenken würde. Indem sie den Beruf des Autors entwickelt »ohne ihn selbst zu kennen«, lässt sie Raum für die Eigentätigkeit und freie Selbstverwirklichung des Subjekts. Die Vorstellung, von göttlicher Seite her gelenkt zu werden, bedeutet so nicht, sich als Autor als ausschließlich passiv verstehen zu müssen: »Zum Empfangen gehört mehr Leere als Kraft – mehr Ruhe, als Mitwirkung.«21 Nun gehört zur ›Entwicklung‹ der eigenen Autorschaft aber nicht allein die 17 18 19 20 21

An Johann Gottfried Herder am 17. 4. 1779, in: ZH IV, 71,27f. An Johann Gottfried Herder am 25. 11. 1778, in: ZH IV, 31,2. An Johann Gottfried Herder am 21. 2. 1779, in: ZH IV, 57,11f. Ebd., 57,29.34–58,2. An Friedrich Heinrich Jacobi am 22. 1. 1785, in: ZH V, 332,14f.

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göttliche Hilfe, sondern insbesondere und vor allem auch diejenige der Briefpartner. Hamanns Briefe sind so – an den Stellen, wo er sich über seine Projekte austauscht, von ihnen berichtet, Freunde um Rat und Meinung bittet und Entwürfe verschickt – nicht nur Texte, in denen ein Autor von einer Metaebene aus über seine Werke spricht, sondern im Gegenteil Medien des dialogischen Austauschs, der Kooperation, in denen dasjenige, was später durch Veröffentlichung und Rezeption als Werk wahrgenommen wird, allererst konstituiert wird: »Muß alles dem Schicksal überlassen – und gebe ihnen carte blanche es zu unterdrücken und zu befördern, weil ich mir selbst nicht zu rathen noch zu helfen weiß.«22 An anderer Stelle heißt es: »Sie kennen meine Autor-Pietät und imbecillität. Was wird aus dem Kindlein werden? Wenn es Ihnen u mir nicht Schande macht; so adoptiren Sie’s oder seyn Hebamme – oder Gevatter – oder alles wozu ein Freund gebraucht oder gemisbraucht werden kann.«23 Entscheidend ist an dieser Passage die Metaphorik der familiären Beziehungen und Verantwortungsverhältnisse. Wie ein ›Adoptivvater‹ oder ›Gevatter‹ den Eltern durch die übernommene Verantwortung für das Kind nahezu gleichgeordnet wird, so scheint hier Hamann seinem Freund Herder Anteil an seinen Werken zu geben, ihn, der ihm Hilfe und Rat gibt, gleichsam als einen ›Mitautor‹ anzusehen. Ausgehend von Hamanns seit den Frühschriften vorhandenen Interesse an der Figur des Sokrates und seiner vielfachen Deutung der sokratischen Freundschafts- und Gesprächsbeziehungen auf seine eigenen freundschaftlichen Verhältnisse kann man die in den Briefen wiederholt verwendete Geburts- und Hebammenmetaphorik24 als eine aneignende Deutung der sokratischen Maieutik lesen.25 So wie eine Hebamme aktiven Anteil an der Geburt des Kindes hat, so wie die Fragen des Sokrates ein entscheidender Faktor dafür sind, dass seine 22 An Johann Gottfried Herder am 18. 4. 1779, in: ZH IV, 71,1ff. 23 An Johann Gottfried Herder am 17. 4. 1779, in: ZH IV, 68,26–29. 24 Vgl. »Bin über 2 Jahr mit blinden Wehen, (falschen) leeren Sechswochen, schwindenden Hüften und schwellendem Bauche der Autorschaft heimgesucht worden, auch noch nicht im stande einen Wechsel meines Wittwengrams und Waysenleiden abzusehen.« (ZH IV, 42,22–26); in einem Brief an Hartknoch (Mitte Februar 1779) zitiert Hamann Jes 37,3: »Das ist ein Tag des Trübsals p und gehet gleich als wenn die Kinder bis an die Geburt kommen sind und ist keine Kraft da zu gebären« (ZH IV, 48,13f). 25 Im hea_tgtor sagt Sokrates: »Zum Hebammendienst zwingt mich der Gott (laieueshai le o heor amacjafei), das Gebären dagegen hat er mir vorenthalten. Ich selber bin also überhaupt nicht klug und kann auch keinen Fund als Erzeugnis meiner Seele vorweisen. Dagegen lassen einige von denen, die mit mir zusammen sind, anfangs zwar recht wenig an Klugheit sehen, aber im Laufe unseres Zusammenseins machen alle, denen es der Gott vergönnt, für sich selbst und andere überraschende Fortschritte. Und dabei lernen sie offensichtlich nie auch nur irgendwas bei mir, sondern finden selber viele hervorragende Wahrheiten bei sich heraus und bringen sie hervor (autoi paq autym pokka jai jaka euqomter jai tejtomter). Urheber der Entbindung jedoch sind der Gott und ich (Tgr lemtoi laieiar o heor te jai ecy aitior).« (Platon: Theätet. Griechisch-deutsch. Übers. u. hg. v. Ekkehard Martens. Stuttgart 2003, 150 c–d, 31).

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Gesprächspartner zu bestimmten Einsichten gelangen oder vorhandene Überzeugungen verwerfen, sind die brieflich geleisteten Ratschläge, Kommentare und Vermittlungen nichts der ›eigentlichen‹ Tätigkeit eines einzelnen, autarken Autorsubjekts Äußerliches, sondern ein Teil dessen, was es überhaupt erst möglich macht, als ein Autor tätig zu sein.26 Ausgehend von dieser Überlegung müsste man die Vorstellung vom Autor als demjenigen, welchem man allein und ausschließlich das, was gesagt oder geschrieben wurde, zuschreiben kann, korrigieren. ›Autor‹ im Sinne von Urheber eines konkreten Textes, eines Werkes wäre so streng genommen nicht mehr nur eine Einzelperson, sondern diese Person in und mit ihren freundschaftlichen Beziehungen und Austauschverhältnissen. Für die Autorschaft gilt damit dasselbe, was Hamann für die Selbsterkenntnis der Menschen formuliert hat, dass für diese Gott und der Nächste entscheidend sind, etwas, ohne dass der Einzelne nicht auskommen kann. Aus dieser Perspektive betrachtet sind die beschriebenen Strategien der Hamannschen Selbstdarstellung – als jemand, der als Autor von göttlicher Seite gelenkt wird, als ein imbecille, der auf Hilfe angewiesen ist – nicht allein der spontane Ausdruck von Befindlichkeiten und emotionalen Dispositionen. Sie sind viel eher in einer zwar nicht begrifflich explizierten, aber dennoch erkennbaren und deutlich konturierten Vorstellung von Selbst und Subjektivität begründet. Hamanns briefliche Äußerungen zu seiner Autoridentität haben, anders gesagt, eine anthropologische Fundierung. Letztere besteht in der Einsicht, dass der Mensch sich erst dadurch als Subjekt, als eine die Vielfältigkeit und Verschiedenheit seiner Fähigkeiten, Beziehungen und Rollen aufhebende Einheit verstehen kann, indem er den Bezug zu einem Anderen herstellt. In den Philologischen Einfällen heißt es, dass die den Menschen auszeichnende Dreiheit von Sinnlichkeit, Verstand und Wille erst dadurch zu einer Einheit wird, indem der Mensch als heo} ce~qciom verstanden wird.27 In einem Brief an Lindner schreibt Hamann: Den Begriffen des Klopstocks zu Folge besteht das physische Wachen in demjenigen Zustande eines Menschen, da er sich seiner selbst bewußt ist; dies ist aber der wahre Seelenschlaf. Unser Geist ist nur alsdann wachend anzusehen, wenn er sich Gottes bewusst, ihn denkt und empfindt; und die Allgegenwart Gottes in und um sich erkennt,

26 Von daher ist der Vergleich mit der sokratischen Maieutik nur mit einer Einschränkung gültig: Während es bei Sokrates darum geht, dass etwas im Prinzip schon Gewusstes im Gespräch ›hervorgebracht‹, also artikuliert wird, geht es bei Hamann darum, im Austausch mit den Briefpartnern neue Erkenntnisse und Perspektiven zu gewinnen. 27 N III, 40,22 (Philologische Einfälle und Zweifel). Vgl. dazu Johannes von Lüpke: Anthropologische Einfälle. Zum Verständnis der ›ganzen Existenz‹ bei Johann Georg Hamann. In: NZSTh 30 (1988), S. 225–268, hier S. 238f.

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wie die Seele eines wachenden ihre Herrschaft über den Leib und der Leib die Eindrücke eines geistigen Willens ausdruckt.28

Der Mensch ist also nur dann in der Lage, seine ihn auszeichnenden Fähigkeiten (hier den Geist) einzusetzen, wenn er über sein Selbst hinaus denkt und eine Beziehung herstellt zu dem Wesen, das seine Existenz bedingt und lenkt – wie die Seele den Leib.

II.

Verbergen und Zeigen in der Entstehung von Konxompax

Seinen Entwurf zu Konxompax einleitend schreibt Hamann: »Dum moliantur, dum comantur annus est – Es ist würklich über Jahr und Tag, daß ich Ihnen liebster Freund, auch meine Gedanken über die Mysterien der Heiden versprochen.«29 Anlass für die Arbeit ist demnach ein Gedankenaustausch unter Freunden, an den sich Hamann nun erinnert und den er fortzusetzen beabsichtigt. Liest man den Untertitel, fallen zwei rhetorische Aspekte auf: zum einen eine rhetorische Spannung zwischen einer Geste des Verbergens und einer des Zeigens, welche beide über die griechischen Adjektive hergestellt werden, zum anderen eine paradox anmutende Formulierung.30 Der ›apokryphischen‹ Sibylle als Autorpersona31 wird die Ebene des Verbergens, der Thematik, den ›apokalyptischen Mysterien‹ die des Enthüllens zugeordnet. Während sich die Charakterisierung als verborgen oder dunkel leicht mit der traditionell änigmatischen Rede der Figur der Sibylle verbinden lässt,32 liegt bei den als apokalyptisch bezeichneten Geheimnissen ein Oxymoron vor. Denn was sollte man unter einem Geheimnis verstehen, das entweder als solches schon enthüllt ist oder im Begriff ist enthüllt zu werden, es sei denn, dass sein apokalyptischer Charakter darin bestehe, etwas anderes zu enthüllen, zu offenbaren, kundzutun. Eine mögliche Lesart dieses inneren Widerspruchs bestünde darin, ihn auf Hamanns Gegner in der Auseinandersetzung um die Bedeutung der Mysterien zu beziehen, nämlich auf die von Starck vertretene Position in seiner Apologie, 28 An Johann Gotthelf Lindner am 16. 7. 1759, in: ZH I, 369,13–19. 29 An Johann Gottfried Herder am 24. 3. 1779, in: ZH IV, 61,27ff. 30 Zur Interpretation des Untertitels im Kontext des Fragmentenstreits vgl. Johannes von Lüpke: Hamann und die Krise der Theologie im Fragmentenstreit. In: Acta 1988, S. 345–383, insbes. S. 350–359. 31 Für eine ausführliche Diskussion der Bedeutung dieser Figur bei Hamann vgl. Ingrid Altenhöner : Die Sibylle als literarische Chiffre bei Johann Georg Hamann – Friedrich Schlegel – Johann Wolfgang Goethe. Frankfurt a.M. u. a. 1997, S. 19–186. 32 An Hartknoch schreibt Hamann am 18. 5. 1779: »Es ist ein Nachtstück Ihrer Adelgunde, die sich s.v. flöht, unterdeßen unsere Orthodoxen und Dramaturgen sich am hellen Mittage die Kolbe lausen. Mit einem Wort: Gottes Finger!« (ZH IV, 85,5ff).

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nicht zuletzt, da auch für Herder dieser Bezug aufschlussreich war : »Je mehr ich ihre Sibylle frage u. sie mir hie u. da näher wird, desto mehr geht mir auf, zumal ich Starcks Schriften nochmals gelesen. Der Kern von ihr ist Milch u. Honig, Würze u. Balsam.«33 Starck sieht in den Mysterien eine Verhüllung christlicher Glaubensüberzeugungen, und gerade dies ist aufschlussreich für das von ihm vertretene Religionsverständnis. So fasst er nach Behandlung der eleusinischen Mysterien zusammen: »Man merket genug, dass die Erkenntniß eines einigen göttlichen Wesens, der Unsterblichkeit der Seele, der Stufen und Belohnungen in einem künftigen Leben, der vornehmste Gegenstand dieser Geheimnisse gewesen sind.«34 Worum es hier geht, ist die Vorstellung von einer natürlichen Religion, die »conforme / la nature de l’homme comme Þtre raisonnable« ist und eine »connaissance naturelle de Dieu que l’homme tire des seules forces de sa nature«35 konstituiert. In diesem Sinn kann August Friedrich Wilhelm Sack wünschen, dass Starck die Stelle des Oberhofpredigers zukomme, da dieser die »jetzt mehr als jemals nötigen Erkenntnis einer vernünftigen und nach der Schrift mehr gereinigten Theologie«36 befördern werde. Die genannte Religion wird ihrerseits Starck zufolge über eine Traditionslinie, die der antiken Mysterien, dem Christentum vermittelt. Weil nun sowohl die Mysterien als auch das Christentum es im Wesentlichen mit gemeinsamen Begriffen philosophischer Art zu tun haben, sind spezielle Glaubenssätze nicht relevant. Starck selbst formuliert in Erwiderung des Vorwurfs des religiösen Indifferentismus: Wir erwählen denjenigen [Mittelweg, A.K.] der der Natur der Gottheit am gemäßesten ist; wir erlauben allen Christen […] den Eintritt in unseren Orden, wir lieben sie mit brüderlicher Liebe, ohne uns durch einen blinden Eifer dahin bringen zu lassen, uns um eines jeden seine besondere Meynung zu bekümmern.37

Wenn Hamann nun seinerseits von enthüllten Mysterien spricht, so könnte gemeint sein, dass die Mysterien eben keine Mysterien in Starcks Sinn sind, also nicht unter einer sinnlichen Oberfläche etwas verbergen. In Ansehung dieses Arguments erscheint es sinnvoll zu fragen, was Hamanns Wahl der persona einer Sibylle motiviert haben könnte, kontrastiert doch das33 Von Johann Gottfried Herder am 17./19.–21. 5. 1779, in: ZH IV, 83,7ff. 34 Johann August von Starck: Apologie des Ordens der Frey-Maurer. Von dem Bruder xxxx Mitgliede der xx Schottischen Loge zu P. x Philadelphia, im Jahre 5651. d.i. 3882 [Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1770 ohne die Oden], S. 30. 35 Jacqueline Lagr8e: La Raison Ardente. Religion Naturelle et Raison au XVIIe SiHcle. Paris 1991, S. 29. 36 Zitiert nach Paul Koschel: Hamanns Gegner, der Kryptokatholik D. Johann August Starck, Oberhofprediger und Generalsuperintendent von Ostpreußen. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungszeit. Königsberg 1912, S. 18. 37 Starck: Apologie des Ordens (wie Anm. 33), S. 88.

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jenige, was wir mit dieser Figur assoziieren – das rätselhafte, dunkle Sprechen als einem Orakel – mit demjenigen, was Hamann gegenüber seinen Briefpartnern als seine Absicht darstellt, nämlich Fehler in der Argumentation des zeitgenössischen Diskurses über die Mysterien zu thematisieren und zu Bewusstsein zu bringen: »Meine Sache ist eigentl. nur die falsche Folgerungen die man aus den wenigen u dunkeln Datis zieht, zu berühren und in ein ander Licht zu bringen.«38 Wichtig für das Verständnis dessen, was mit den als Gegenstand der Schrift, der ›Mysterien‹ gemeint ist, ist, dass Hamann seine Aufmerksamkeit nicht auf die Data, sondern umgekehrt auf die Folgerungen lenkt. Thema ist nicht so sehr das historische Phänomen antike Mysterien, sondern die zeitgenössische philosophisch-theologische Rede darüber. Hamann erhebt zwei Einwände, die eine geschichtsphilosophische und eine anthropologische Dimension haben: Ohngeachtet es weder an Heiden noch an Mysterien bis auf den heutigen Tag fehlt noch fehlen kann: so kann uns doch weder Induction noch Analogie, weder Schlüsse aus den Begriffen der Unter und Nebenarten zur gewissen Erkenntnis jener allgemeinen Wahrheit verhelfen, ob die Mysterien der alten Heiden Nichts oder Etwas und ob letzteres gut oder böse gewesen, so leicht auch die Frage in Ansehung unserer Zeitverwandten und Vorfahren entschieden werden kann durch die Homogenität oder durch das Beständige u Gemeinschaftliche des Aberglaubens in der ganzen Menschlichen Natur trotz des Zufälligen und Besondern in der äußern Lage u Cultur der Individuen, Arten u Gattungen.39

Während Starcks Deutung der Mysterien in der Tradition der philosophia perennis stehend eine Kontinuität annimmt, die es erlaubt, erstens über vergangene historische Epochen zu urteilen und zweitens in ihnen gleichsam unter einer sich wandelnden Oberfläche einen selbigen Inhalt zu ermitteln, geht Hamann von einer Diskontinuität aus. Während wir zuverlässig urteilen können über unsere Zeitverwandten und Vorfahren, also über das, was innerhalb unserer historischen Gegenwart liegt und ethnologisch mit uns in Beziehung steht, sind für uns die Gebräuche und Rituale anderer Epochen und Ethnien nicht beurteilbar. Es gibt zwar zu den verschiedenen geschichtlichen Zeitpunkten immer bestimmte Verhaltensweisen zur Religion, die aber einen jeweils historisch spezifischen Inhalt haben. ›Aberglaube‹ ist zwar in allgemeiner Hinsicht ein Teil der menschlichen Natur, was aber nicht heißt, dass er nicht ganz verschiedene und je einmalige Inhalte haben kann. In erkenntnistheoretischer Hinsicht sind daher weder Induktion noch Analogie verlässliche Methoden, um über historische Phänomene zu urteilen: Man kann nicht von besonderen Mysterien, der von Eleusis etwa, auf ›die‹ Mysterien allgemein schließen und 38 An Johann Gottfried Herder am 26. 11. 1778, in: ZH IV, 35,12ff. 39 An Johann Gottfried Herder am 24. 3. 1779, in: ZH IV, 62,30–63,2.

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dabei eine alle Verschiedenheit aufhebende Gleichheit der Bedeutung unterstellen; noch berechtigen Ähnlichkeitsbeziehungen dazu, ein Urteil zu fällen. Aus dieser Perspektive lässt sich die Charakterisierung der Sibylle als ›apokryphisch‹ beziehen auf ihre erkenntnisskeptische Argumentation, die eben dem Verborgensein des Charakters der Mysterien für uns entspricht.

III.

Verstellung als ethisches Problem

Es fragt sich jedoch, wie sich Hamanns Praktiken der Verstellung vereinbaren lassen sowohl mit seiner religiösen Orientierung als auch mit seiner sozialen Position. Müsste es die christliche Verurteilung und Assoziation von Lüge und Verstellung nicht verbieten, sich der dissimulatio zu bedienen?40 Würde es das Verständnis bürgerlicher Konversation als idealerweise ›offen‹ und ›deutlich‹ nicht nahe legen, möglichst verständlich zu schreiben?41 Oder implizieren diese Einwände etwa Voraussetzungen und Unterscheidungen bzw. Zuordnungen, die für Hamann nicht oder nicht ausschließlich gelten? Wieland etwa beschreibt die Offenlegung des Inneren in der Rede als Kennzeichen menschlicher Kommunikation im prälapsarischen Zustand: Die ersten Menschen haben bei ihren Reden keinen anderen Zweck haben können, als einander ihre Gedanken bekannt zu machen, und wenn sie und ihre Kinder die angeschaffne Unschuld bewahrt hätten, so wäre ihre Rede nach ihrer wahren Bestimmung ein offenherziges Bild dessen, was in eines jeden Herzen vorgegangen wäre, und ein Mittel gewesen, Freundschaft und Zärtlichkeit unter den Menschen zu unterhalten. Jedermann weiß, dass die Sprache von den itzigen Menschen meistenteils gebraucht wird, andern zu sagen, was sie nicht denken.42

Dem kann entgegenhalten werden, dass es bei Hamann in den diskutierten Beispielen nicht darum geht, anderen zu sagen, ›was er nicht denkt‹, sondern dass die Wahl eines dunklen Stils, ausgehend von philosophischen und poetologischen Kriterien, ihrerseits eine Mitteilungsfunktion hat. So lässt sich die dunkle Redeweise der Sibylle verstehen als programmatische Entgegensetzung zur ›Helligkeit‹ der Vernunft, wenn sie etwa bei Starck danach trachtet, religiöse Gebräuche anderer Zeiten zu beurteilen. Auf ähnliche Weise setzt Hamann, indem er als Motivationsquelle seines Schreibens den »furor vterinus kranker, 40 Vgl. dazu Lutz Danneberg: Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert. Dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale. In: Claudia Benthien / Steffen Martus (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 45–92. 41 Für den Hinweis auf diesen Zusammenhang danke ich Manfred Beetz. 42 Christoph Martin Wieland: Abhandlung vom Naiven. In: Prosaische Jugendwerke. Abt. I. Bd. 4. Berlin 1916, S. 15–16.

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(sich) ihrer selbst nicht mächtiger Einbildungskraft«43 nennt, die Imagination – gerade mit ihren in der zeitgenössischen Diskussion oft beklagten pathologischen Eigenschaften – der ›Gesundheit‹ der Vernunft entgegen. Dabei ist auf das eigene Schreiben immer auch eine selbstironische Perspektive gerichtet, so zum Beispiel in einem Brief an Kraus: »ein Autor ist immer das possierlichste Geschöpf der Kunst, wie der Affe das komische Meisterstück der Natur.«44 Anders gesagt: Hamann nimmt sich selbst bewusst nicht allzu ernst und schafft es gerade dadurch, die von ihm diskutierten Themen ›in ein ander Licht‹ zu bringen. Schließlich bedient sich Hamann des auch aus theologischer Sicht »gerechtfertigte[n] Verschweigen[s] und Verstellen[s],«45 um eine Verständigung zu ermöglichen, welche ausgehend von den lebensweltlichen Beziehungen und weltanschaulichen Differenzen nicht möglich wäre. Ein gutes Beispiel dafür findet sich im Selbstgespräch eines Autors, einem Text, der durch die Form des ›Briefes im Brief‹ die Problematik von Autorschaft im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit thematisiert. Das Selbstgespräch wird erstens brieflich ›veröffentlicht‹, indem Hamann es an Herder und Nicolai schickt. Es enthält zweitens einen inneren Brief, in welchem sich Hamann als Mien Man Hoam46 an Nicolai wendet, um ihn dazu zu bringen, seine Kritik an Herders Sprachursprungsschrift, die Philologischen Einfälle, zu drucken. Anlass für das von Hamann inszenierte Rollenspiel ist die Vergeblichkeit von Versuchen, als Autor anerkannt zu werden: »Hältst du noch fest an deiner Schwachheit, liebes Herz! Ein öffentlicher Autor in groß Quart zu werden, und – welchen dein Horaz, die feige Memme, besungen, Justum et tenacem propositi virum zu spielen?«47 Indem Hamann das Selbstgespräch als Brief verschickt, durchbricht er die durch die Textgattung Selbstgespräch vorgegebene Privatheit der Mitteilung: Er lässt seine Briefpartner teilhaben an seiner Sichtweise der Beziehung zwischen ihm als Autor und einer Öffentlichkeit, die ihm die Anerkennung versagt. Diese 43 An Johann Gottfried Herder am 10. 8. 1784, in: ZH V, 178,26f. Vgl. auch: An Johann Gottfried Herder am 3. 2. 1785: »Nicht eine bloße oqlg – sondern ein furor vterinus hat mich zu den meisten Aufsätzen getrieben. Anstatt Geld zu nehmen, hätte ich lieber Geld gegeben – und das Widerspiel vor andern Schriftstellern getrieben. Gott hat meine traurige finstre Autorschaft zum Werkzeuge gebraucht, den Kindern meines Leibes wohl zu thun und ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Erziehung zu befördern.« (ZH V, 350,29–34). 44 An Christian Jacob Kraus am 17. 4. 1779, in: ZH IV, 74,27f. 45 Danneberg: Aufrichtigkeit und Verstellung (wie Anm. 40), S. 62. 46 Zu dieser Persona vgl. Jörg-Ulrich Fechner : Mien Man Hoam. Philologischer Steckbrief zu einem Pseudonym oder die Lust des Autors an der Maske. In: Hamann. Insel Almanach auf das Jahr 1988. Hg. v. Oswald Bayer, Bernhard Gajek u. Josef Simon. Frankfurt a.M. 1987, S. 149–161. 47 N III, 69,3–7.

Selbstdarstellung und Verstellung in Hamanns Briefen

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Sichtweise ist jedoch durch Verfremdung und Anspielung verschlüsselt. Hier also dient die dissimulatio dazu, einen »Mangel an Vertrauen«48 auszugleichen. Statt die Verleger direkt anzugreifen, vergleicht er das Verhältnis zwischen ihnen und sich selbst mit dem der Böotier und der Athener. Hinter die Selbstanrede »liebes Herz« ist eine Fußnote gesetzt: »Pindar nennt philon etor sein böotisches Ich. – – Boiytiam um – – Olymp. VI. 152. 153.«49 Hamann verbindet hier zwei Bezeichnungen, die so bei Pindar nicht vorkommen. Bei Boiytiam um (böotisches Schwein) handelt es sich um eine Spottbezeichnung. Die Böotier wurden als dumm und bäuerlich angesehen, vor allem von den Athenern, wie Platon berichtet.50 Pindar, der ja aus Böotien kam, bezieht diese Spottbenennung nicht auf sich selbst.51 In dem zitierten Text greift er lediglich das Klischee über die Böotier auf, ohne es direkt zu bestreiten. Er bittet den Chorleiter, Hera zu preisen, so dass sich zeigt, dass die Sänger, obwohl sie aus Böotien kommen, feine Sitten haben und kultiviert sind.52 Indem Hamann sich selbst mit Pindar, die Verleger hingegen – implizit – mit den Athenern identifiziert, fordert er den Leser auf, die ihm als Autor fehlende Anerkennung als Unrecht anzusehen und ihn, wie den griechischen Dichter, zu schätzen.53 Indem Hamann Nicolai nun die Rolle des Coelius, eines Freundes Ciceros54 48 Danneberg: Aufrichtigkeit und Verstellung (wie Anm. 40), S. 63. 49 N III, 69,27f. 50 Platon: Symposion. Hg. u. übers. v. Franz Boll. Neu bearb. v. Wolfgang Buchwald. München 1969, 182 b: »In Elis nämlich und bei den Böotern und wo man im Reden nicht geschickt ist (jai ou lg sovoi keceim), gilt es einfach für schön (apkyr memolohetgtai jakom), sich den Liebhabern hinzugeben, und niemand, weder jung noch alt, würde das als schimpflich (aiswqom) bezeichnen, und zwar, meine ich, damit sie sich keine Mühe machen mit Überredungsversuchen bei den jungen Menschen, denn sie haben ja nicht die Gabe der Rede.« 51 Die Selbstanrede vikom gtoq findet sich in der ersten olympischen Ode. Vgl. Pindar : Olympian 1. For Hieron of Syracuse. In: ders.: Olympian Odes. Pythian Odes. Hg. u. übers. v. William H. Race. London 1997, S. 44–59, hier S. 47: »But if you wish to sing/ of athletic games, my heart (vikom gtoq),/ look no further than the sun.« 52 Pindar : Olympian 6. For Hagesias of Syracuse. In: Olympian Odes. Pythian Odes (wie Anm. 51), S. 100–117, hier S. 112–115: »Now, Aineas, urge your companions/ first to celebrate/ Hera the maiden,/ and then to know if by your truthful words/ we escape the age-old taunt of ›Boiotian pig‹, (aqwaiom omeidor ei veucolem, Boiytiam um)/ for you are a true messenger.« 53 Vgl. dazu etwa Herders späteres Urteil über Pindar : Johann Gottfried Herder: Pindar. In: ders.: Zerstreute Blätter. Erste Sammlung. Gotha 1785, S. 78: »Wie die Tuba den Klang/ der kleinen ländlichen Flöte/ übertönet: so tönt, Pindar,/ dein hoher gesang/ Ueber alle Gesänge. Vergebens trugen/ die Bienen dir, dem Kinde,/ nicht schon Honig im Schlummer herbey./ Selbst der Mänalische Pan/ vergisset seine Gesänge, singt statt ihrer anjetzt,/ Pindar, dein heiliges Lied.« 54 Coelius scheint seine Freundschaft zu Cicero so wichtig gewesen zu sein, dass er ihn bat, darüber etwas zu schreiben. Vgl. Marcus Tullius Cicero: An seine Freunde. Hg. u. übers. v. Helmut Kasten. München/Zürich 1989, S. 436f: »Ich möchte, unter Deinen zahlreichen literarischen Produkten fände sich etwas, was die Erinnerung an unsre Freundschaft auch der Nachwelt überlieferte (quod nostrae amicitiae memoriam posteris quoque prodat).«

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zuweist, setzt er ein neues Paradigma für die Korrespondenz, das der freundschaftlichen Konversation. Im Rollenspiel entsteht so eine Ebene der Vertrautheit,55 welche im lebensweltlichen Kontext nicht besteht. Anders gesagt: Erst das im Rollenspiel imaginierte Verhältnis der Freundschaft ermöglicht es Hamann, Nicolai auf eine durchaus offene, direkte Weise das zu sagen, was außerhalb des Spiels unter Umständen schädlich sein könnte.56

IV.

Zusammenfassung

Die diskutierten Beispiele haben gezeigt, dass Hamann sich zu unterschiedlichen Zwecken der Verstellung bedient: Er spielt mit verschiedenen personae, um seine Identität als Autor zu erkunden und zu reflektieren, um seine engsten Freunde, allen voran Herder, spielerisch an seiner Autorschaft teilhaben zu lassen, aber auch um Verärgerung und Kritik auf eine zwar indirekte, aber nicht weniger pointierte Weise zu äußern, so dass sowohl die Adressaten als auch heutige Leser aufgefordert sind, sich der »Lektüre als provozierte Arbeit«57 zu widmen. Hamanns (Brief-)stil lässt sich so, wie er selbst sagt,58 »epigrammatisch« nennen: Die Kürze, in der Form von Anspielungen oder der Einführung von personae ohne weitere Erklärungen, fordert den Leser dazu auf, das Gemeinte zu entschlüsseln. Statt das von ihm Geschriebene weitläufig zu erklären oder sich gar dafür zu rechtfertigen, überlässt es Hamann dem Leser, selbst nach Verstehensmöglichkeiten zu suchen: »Weder ein ehrlicher noch ein kluger Mann erniedrigt sich zu Rechtfertigungen, geschweige zu Delationen.«59 55 Vgl. dazu: Friedrich Gottlieb Klopstock: Über die Freundschaft. In: Ausgewählte Werke. Hg. v. Karl August Schleiden. München 1962, S. 934–942, hier S. 215; 217: »Freunde hingegen, ob sie gleich nicht ohne Anstand sprechen, sagen sich immer ihre völlige Meinung, und sagen sie fast ohne Einkleidung. […] Wie beseelt es den Umgang der Freundschaft, wenn keiner von seiner Meinung etwas zurückhält; aber zugleich nicht so sehr von derselben ist, dass er unbiegsam sein sollte, sich von stärkern Gründen, als die seinigen sind, überzeugen zu lassen. Wenn ich mir diese Freimütigkeit, diese Biegsamkeit und die Freude, dass unser Freund unsrer Meinung wird oder das wir die seinige annehmen, als Gefährtinnen der Freundschaft vorstelle, so denke ich sie mir unter ihren Grazien.« 56 Wenngleich Nikolai auf Hamanns Rollenspiel eingeht, indem er ihm als Coelius einen Brief schickt, warnt er ihn auch davor, zu direkt seine Meinung zu sagen. Vgl. Friedrich Nicolai: An den Magum im Norden. In: ders.: Opera Minora I. Gesammelte Werke. Hg. v. Bernhard Fabian / Marie-Luise Spiekermann. Bd. 12. Hildesheim 1995, S. 183: »erinnern Sie sich, wie den Philalethen von je her begegnet worden, besonders wenn sie arme Stümper waren, die weder auf der Börse noch in der Antichambre sonderlich viel gelten. […] Ich komme immer darauf zurück que toutes les verit8s ne sont pas bonnes / dire.« 57 Fechner: Mien Man Hoam (wie Anm. 46), S. 151. 58 Vgl. oben Anm. 10. 59 An Johann Friedrich Reichardt am 2. 1. 1778, in: ZH IV, 2,17f.

Kai Hendrik Patri (Göttingen)

Zur Metaphorik des Feuchten und Flüssigen in Hamanns Briefen

Im Titel des Vortrags auf dem Hamann-Kolloquium in Halle 2010, der diesem Aufsatz zugrunde liegt, war zunächst nur von der Metaphorik des »Feuchten« die Rede. Freilich ging es auch darin schon keineswegs ausschließlich, nicht einmal in erster Linie um Metaphern des Feuchten im strengen Sinne (feucht bedeutet ja so viel wie ›ein wenig nass‹), sondern um das Bildfeld des Feuchten, Nassen, Flüssigen insgesamt. Dass der spontane Titelvorschlag sich seinerzeit gerade auf das »Feuchte« kaprizierte, hängt mit der Entstehungsgeschichte der Themenidee zusammen. Sie verdankt sich den Ausführungen des dänischen Literaturwissenschaftlers Per Øhrgaard zu einem anderen Autor deutscher Zunge, der mit Johann Georg Hamann nicht nur seine Herkunft aus der Ostseeregion, sondern auch die Vorliebe für Sinnlichkeit, Körperliches, Derbes und »Barockes«1 teilt: Günter Grass nämlich. Øhrgaard hat in mehreren Zusammenhängen auf Grass’ Vorliebe für das Bedeutungsfeld des Feuchten verwiesen2 – des »weich warm Feuchte[n] […], das unzureichend beschrieben wäre, wenn ich es weiblich nennen wollte«, wie es in Aus dem Tagebuch einer Schnecke heißt.3 Auch Øhrgaard freilich berücksichtigt in diesem Zusammenhang ebensosehr Bilder und Handlungselemente (bei ihm nicht unbedingt Metaphern), auf die noch besser der Begriff des Nassen zutreffen würde, wie etwa die Tauchleidenschaft Joachim Mahlkes in Katz und Maus.4 Dass die Termini ohnedies nicht 1 Siehe Hamanns gleich auch noch im Haupttext zu zitierende Briefstelle an Herder vom 28. 3. 1785 über den »Character meines barocken Geschmacks« (ZH V, 403,3f), angeführt auch bei Josef Nadler : Die Hamannausgabe. Halle 1930, S. 346. Zum »Derben« siehe u. a. Till Kinzel: Johann Georg Hamann – ein Sokrates des 18. Jahrhunderts (www.international-journal-ofaxiology.net/articole/nr4/art09.pdf, abgerufen am 15. 9. 2010), S. 172. 2 Siehe u. a. Per Øhrgaard: Zum Eskapismus im Werk von Günter Grass. In: Marion Brandt / Marek Jaroszewski / Mirosław Ossowski (Hg.): Günter Grass – Literatur, Kunst, Politik. Dokumentation der Internationalen Konferenz 4.–6. 10. 2007 in Danzig. Sopot 2008, S. 57–64. Vgl. dazu auch Stefan H. Kaszyn´skis Tagungsvortrag zum »Kleckerburg«-Gedicht auf der Grass-Tagung in Łjdz´ 2008. 3 Günter Grass: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Neuwied 1972, S. 333. 4 Øhrgaard: Zum Eskapismus (wie Anm. 2), S. 59.

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strikt voneinander zu scheiden sind, liegt auf der Hand; als Beispiel sei hier eine Erläuterung von Arthur Henkel im Kommentarteil seiner einbändigen InselBriefausgabe zitiert, wo er im Einklang mit Jacobis und Hamanns eigenen Formulierungen vom »›feuchten‹ Wasserschloss[] Welbergen« spricht.5 Auf die entsprechenden Stellen in der Korrespondenz zwischen Hamann und Jacobi wird später noch einmal zurückzukommen sein.

»Beständig nur in einer Wanne«: Hamann als Baderssohn Die Idee, analog zu Øhrgaards Befunden zu Grass der Bedeutung von Metaphern des Feuchten und Flüssigen in Hamanns Briefen nachzugehen, ergibt sich aus einem Umstand, der in der Hamann-Literatur häufig Erwähnung gefunden hat, nämlich der Berufung Hamanns auf das Metier seines Vaters als Bader. Trotz ihrer Bekanntheit sollten die einschlägigen Stellen als Grundlage hier noch einmal kurz zitiert werden. 1784 schlug Hamann für eine geplante Auswahlsammlung seiner Schriften den doppeldeutigen Titel »Sa[a]lbadereyen«6 vor und begründete ihn Herder gegenüber mit den Worten, »In diesem eckeln Titel liegt zugl. eine Rücksicht auf meinen sel. Vater, deßen Andenken mir so lieb ist als dem Horatz, und dem Sokrates seine Mutter mit ihren Hebammenkünsten – wie auch auf das alte Sinngedicht, welches Vater Hagedorn übersetzt7: Der Bader u die H.– baden den reichsten Mann den schlechtsten Kerl beständig nur in einer Wanne.«8 Als Herder ihm die »Saalbadereyen« auszureden bemüht war, hielt Hamann mit dem zweiten Vorschlag »Metakritische Wannchen« hartnäckig an der Metaphorik des Badens fest9 ; bei dieser Gelegenheit erläuterte er gegenüber Herder auch gleich den Sinn seiner Bezugnahme auf das bei Hagedorn gefun5 Johann Georg Hamann: Briefe. Ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Arthur Henkel. Frankfurt a.M. 1988 [im Folgenden zitiert als: Briefe], S. 436. Henkel deutet hier die »drollige[] Ortsangabe Castor« im Brief an Jacobi vom 27. 4. 1787 als Anspielung »auf das lateinische Wort für Biber«, eben »wegen des ›feuchten‹ Wasserschlosses Welbergen«. 6 Von den »S a a l b a d e r e y e n « sprach Hamann bereits in seinem Brief an Johann Friedrich Hartknoch vom 24. 7. 1784, die Stelle unter dem 25.7. (ZH V, 170,21). Die Variante »S a l b a d e r e y e n « findet sich im Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 22. 1. 1785, unter dem 23.1. (ZH V, 331,27). 7 Wie Henkel in seinem Kommentar (Briefe, S. 403f) schreibt, stammte die Übersetzung des von Athenaeus überlieferten griechischen Dreizeilers von Ebert, zitiert dann im zweiten Teil von Friedrich v. Hagedorns Sammlung Neuer Oden und Lieder. 8 Hamann an Herder, 5. 9. 1784 (ZH V, 204,24–28). Zitiert auch bei Nadler : Hamannausgabe (wie Anm. 1), S. 67 (345). 9 »Sie wollen also nicht S a a l b a d e r e y e n – könnten es denn nicht Wa n n c h e n , etwa m e t a k r i t i s c h e oder sonst etwas. Meines seel. Vaters Badwanne ist mir so heilig, als dem alten Sokrates seiner Mutter Stuhl.« (ZH V, 350,19–22). Auch die Eröffnung der Saalbadereyen hätte schon den Untertitel »E r s t e s Wa n n c h e n « tragen sollen (ZH V, 204,20).

Zur Metaphorik des Feuchten und Flüssigen in Hamanns Briefen

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dene Zitat: »Wie meine Muse eine der barmherzigen Schwestern ist; so läuft der Innhalt aller meiner Blätter auf eine barmherzige Kunstrichterey heraus, aber ohne Ansehen der Person, – beständig nur in Einer Wanne.«10 Waschen wolle er darin, so am 23. 1. 1785 an Jacobi, »die Füße = medios terminos progressus unsers aufgeklärten Jahrhunderts«.11 Im selben Zusammenhang fiel später dann auch die Formulierung – reagierend auf Herders Missbilligung des ostpreußisch-regionalen, an die Vorliebe des Litauischen für Verkleinerungsformen erinnernden Diminutivs »Wannchen« –, »Das provinzielle gehört wie das individuelle zum Character meines barocken Geschmacks, den ich wohl nicht zu verleugnen jemals im stande seyn werde.«12 (Man könnte an dieser Stelle übrigens, ohne die Parallele zwischen den beiden Autoren allzu weit ausziehen zu wollen, die schöne Passage aus Grass’ Kleckerburg-Gedicht mit hinzunehmen: »Mein Zungenschlag ist baltisch tückisch stubenwarm.«)13 Gegenüber Jacobi betonte Hamann: »Mein seel. Vater war ein sehr beliebter Wundartzt – Der alte Kantzler von Schlieben frug ihn einmal, ob er nicht einen Doctor oder HofrathTitel (welches damals Mode wurde) haben wollte. Er antwortete, daß er bereits einen Titel hätte. Er hatte seit kurzem 2 Leichen zu folgen gehabt, bey der einen wär er im ersten und bey der andern im letzten Paar gegangen. In beyden Fällen hätten ihn die Leute nachgeruffen: da geht der altstädtsche Bader! Das bin ich im ersten und letzten Paar, und der will ich leben und sterben.«14 Den Beruf des Vaters hatte Hamann auch schon früher emphatisch hervorgehoben; im 1. Band der Ausgabe von Ziesemer und Henkel findet sich ein Brief Hamanns an seine Eltern, in dem er schildert, die väterliche Berufsehre gegen den Dünkel eines studierten Chirurgen verteidigt zu haben: »mein Wirth [in Libau, khp], der Herr Wintziger, war ein grober Windbeutel, der sich auf die Ehre bey dem Herrn D. Bohlius Collegia gehört zu haben, und ein Chirurgus zu seyn so viel einbildete, daß ich ihm den Abend vorher den Badern zum besten einige Pillen geben und einige Grobheiten für lieb nehmen muste.«15 Und in seinem Brief an Johann Friedrich Hartknoch vom 8. 12. 1781 schrieb Hamann, er habe seinem Sohn als Grundlage seiner Bibliothek auch eine »Samml. von Balneis […] geschenkt, weil ich ebenso stoltz darauf bin eines Baders Sohn zu seyn, wie mein Vater war Altst. Bader zu heißen, u wie Sokrates die Hebammenkunst seiner Mutter nachahmte; so meine kritische Wanne, nach dem alten von Hagedorn 10 11 12 13

Hamann an Herder, 3. 2. 1785 (ZH V, 350,24–27). ZH V, 331,28f (der gesamte Brief datiert auf den 22. Januar 1785). ZH V, 403,3–5 (vgl. oben Anm. 1). Günter Grass: Kleckerburg. In: Werkausgabe Bd. 1: Gedichte und Kurzprosa. Hg. von Volker Neuhaus / Daniela Hermes. Göttingen 1997, S. 196–199, hier S. 197f. 14 Im schon angeführten Brief vom 22. 1. 1785 (die zitierte Stelle wiederum am 23.1.), ZH V 331,11–17. 15 ZH I, 15,11–15 (vom 25. 11. 1752).

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übersetzten Sinngedichte: Der Bader und die Hure baden / Den reichsten Mann den schlechtsten Kerl / Beständig nur in einer Wanne.«16 Kurzum, es läge nahe, vor diesem Hintergrund eine besondere Vorliebe für Bilder des nassen Elements in Hamanns Briefen überhaupt zu mutmaßen. Diese Ausgangshypothese hat sich jedoch bei der Durchsicht der Briefe nicht bestätigt; der Bildbereich des Flüssigen und Feuchten nimmt gegenüber anderen Metaphernfeldern in Hamanns Briefen keine allzu auffällig privilegierte Stellung ein. Immerhin sei – ohne dass ich dies mit einer Statistik, und sei es auch nur mit einer selbst gefälschten, belegen könnte – der Eindruck hinzugefügt, dass das genannte Wortfeld in der Insel-Auswahlausgabe sowie bei anderen für die Hamannforschung zentralen Briefen17 verglichen mit der Gesamtausgabe leicht überrepräsentiert ist. Davon aber ganz unabhängig erlaubt die Untersuchung der einschlägigen Metaphern einen Blick in die Schreibwerkstatt Hamanns18, auf die mehr oder weniger absichtsvollen Strategien, Arten und Weisen, wie Hamann mit Metaphern umgegangen ist19 oder wie man überhaupt mit Metaphern umgehen kann.20 Die ausgewählten und im Folgenden zu präsentierenden Beispiele erheben keinen Anspruch auf Systematik, sind aber doch hoffentlich in manchen Punkten erhellend.

16 ZH IV, 351,14–21 (diese Passage am 9. Dezember). 17 So etwa der »ich l u t h e r i s i r e «-Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. 3. 1759 (ZH I, 302–309, Zitat 307, 32). 18 Siehe dazu u. a. Volker Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik. Stuttgart 1972; Wolfgang-Dieter Baur : Johann Georg Hamann als Publizist. Zum Verhältnis von Verkündigung und Öffentlichkeit (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 49). Berlin 1991. 19 Siehe im Umfeld dieses Themas u. a. Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997; Andre Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006, bes. S. 184–186 und 225–230; Jens Wolff: Ästhetische Nuss oder Reliquie – Hamanns christologischer Symbolismus. In: Acta 2006, S. 334–345. Eine detaillierte, wirkungsästhetisch sehr aufschlussreiche Beispielanalyse der »strengen motivischen Arbeit« und Metaphernbehandlung Hamanns in der »Sündfluth«Passage der Aesthetica in nuce liefert Reiner Wild: »Jede Erscheinung der Natur war ein Wort«. In: Oswald Bayer / Bernhard Gajek / Josef Simon (Hg.): Johann Georg Hamann. InselAlmanach auf das Jahr 1988. Frankfurt a.M. 1987, S. 91–103, Zitat S. 94. 20 Zu Hamanns eigener Einschätzung der Bedeutung von Bildlichkeit siehe die vielzitierte Passage der Biblischen Betrachtungen über die Abhängigkeit unserer Vorstellungen »von körperl. Bildern«: Johann Georg Hamann: Londoner Schriften. Hg. von Oswald Bayer / Bernd Weißenborn. München 1993, S. 70.

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Konvention, Entfaltung, Reaktualisierung Dass die überwiegende Zahl der Fundstellen auf konventionelle bzw. schon verblasste Metaphern entfällt, wird – nicht als symptomatisch für den Hamannschen Individualstil, sondern für den Gebrauch von Metaphern in der Sprache generell – kaum erstaunen. Wendungen wie der wäßrige Mund in Erwartung einer Büchersendung, die Canäle, über die man Informationen erhält, Wasser auf die Mühle des Schreibers, das Fischen im Trüben oder Pläne, die zu Waßer werden (d. h. »ins Wasser fallen«, wie wir heute sagen würden), um nur einige zu nennen, machen das Gros der einschlägigen Verwendungen aus und sind als solche nicht weiter bemerkenswert. Schon ein Stück weit interessanter sind die, ebenfalls nicht seltenen, Fälle, in denen Hamann eine konventionelle Metapher zu einem komplexen Bild ausfaltet, das – wie Gerhard Kurz dies als Leistung von Metaphorik schlechthin herausgestellt hat – beim Leser eine »konstruktive Bedeutungserzeugung« in Gang setzt, ihn »eines Übertragungsaktes bewußt« macht und auf der Suche nach dem Sinn »alle möglichen Bedeutungen und Konnotationen der beteiligten Wörter und Wortverbindungen« aktualisieren lässt.21 Hier können nur einige wenige Exempel angeführt werden. Über das Predigtbuch von Georg Joachim Zollikofer schreibt Hamann beispielsweise am 18. 9. 1785 an Johann George Scheffner, »Auch nach meinem Geschmack ist Z. eine natürlich warme und klare Qvelle, aber nicht mehr unter den Händen derer, die aus selbiger schöpfen oder wol, gar wider von sich geben«.22 Seinem Zögling Baron von Witten versucht Hamann die Schwierigkeiten, den vorliegenden Brief erst einmal anzufangen – nicht wissend, worüber er zuerst schreiben sollte –, mit folgendem Bild plausibel zu machen: »Wir wollen das Faß erst wo anzapfen; wenn die erste Probe ein wenig trübe aussieht, so wird es bald klarer laufen.«23 Gleich zwei konventionelle Metaphern, die vom »Wasser auf der Mühle« und vom »faulen Wasser«, baut Hamann in einem Brief an Gottlob Immanuel Lindner (September 1758) in einem größeren Bild zusammen. In einer eingerückten Passage an den Kaufmann Bassa24, bei dem 21 Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol (= Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1486). Göttingen 1982, S. 18. Vgl. auch Michael Wetzel: »Geschmack an Zeichen«. Johann Georg Hamann als der letzte Denker des Buches und der erste Denker der Schrift. In: Acta 1992, S. 13–24. 22 ZH VI, 68,25–27. 23 ZH I, 247,26–28 (vom 15. 9. 1758). 24 Siehe dazu: hamann-briefe.de/brkomm/1/brk-1,119.html (zuletzt abgerufen am 12. 7. 2014). Dass es sich bei ZH I, 259,5–31 um einen nicht an Lindner gerichteten Einschub handelt, ist eigentlich nur durch die Grußformel am Ende der Passage sowie durch den Wechsel der Anrede vom »Sie« zum »Du« erkennbar ; Bassas Name fällt hier nicht. Vgl. aber die Ankündigung des eingerückten Schreibens in Hamanns vorhergehendem Brief an Lindner (ZH I, 246,17–20).

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Kai Hendrik Patri

Hamann – inzwischen gerade beglichene – Schulden hatte, grantelt er : »Du meynst wohl gar daß ich Papiermüllerchen mit Dir im Briefe spielen will. Warum nicht gar? Keine Papiermühle, noch weniger eine Windmühle, eine Waßermühle soll es seyn.« Wenn Bassa ihn denn endlich »nach langen Jahren« einmal besuchen wolle, dann müsse er »nichts anders als Holtz mahlen und mein ganzes Haus frey an Sägespäne halten. Willst Du? Ich muß aber erst Waßer zu meiner Mühle haben. Waßer ist da, aber wir wißen nicht wie viel? Deins ist faul, das weiß ich auch, güße es aber nicht eher aus biß – Ein guter Amtmann weiß alle Sprüchworter im Dorf. Man darf keins anfangen, in das er nicht einzufallen und zu schlüßen weiß.«25 In der augenzwinkernden Selbstreflexivität, mit der Hamann im Verweis auf den sprichwortkundigen »guten Amtmann« seine eklektisch-assoziative Bilderfolge begleitet, ließe sich durchaus ein weiterer Beleg für die im 8. Hamann-Kolloquium 2002 thematisierte26 »Gegenwärtigkeit« Hamanns, hier die partielle Nähe seines Schreibstils zu Verfahrensweisen der Moderne und Postmoderne, sehen. Hamanns Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 16. 7. 1759 enthält die Passage, »Freundschaft – unter jedem Contrast – Harmonie – die im Gebrauch der Dissonantzen besteht und wie die Italiener halbe Töne liebt – das sind die Qvellen, die mich so briefreich an Sie allein machen, unterdeßen ich andern, wie eine lybische Wüste, auf den Scheitel und unter den Fußsohlen brenne – ohne Schönheiten der Aussicht, und ohne Früchte weder der Sonne noch des Monds.«27 Die klischeehafte, verblasste Metapher der Quelle wird durch die folgende Antithese (Wüste, Fruchtlosigkeit), mehr noch aber durch die Pointe der Vertauschung von Agens und Patiens gegenüber dem Konventionellen (Hamann dürstet nicht selbst in der Wüste, sondern lässt die anderen unter seiner Glut ächzen) spürbar reaktualisiert. Dass Hamann, wie Arthur Henkel und Sybille Hubach in ihrem hilfreichen Kommentar auf der Webseite www.hamann-briefe.de erläutern, »das Gleichnis der Öde […] später mit Mt 33,3 (die Stimme eines Predigers in der Wüste) positiv applizieren wird«28, verleiht der Stelle, perspektivisch gesehen, noch eine weitere Volte. In diesem Sinne kann auch der Zusammenhang zwischen unserer Fragestellung und dem für Hamann so charakteristischen Centostil hervorgehoben werden. In seinem bekannten Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. 3. 1759 kontrastiert Hamann sich und Berens mit den Worten, »Ein Pardel bin ich, seine Seife wird meine Flecken nicht anders machen. Ein Hofmann, wie er, erniedrigt sich sehr biß auf meine Geschwüre, seine Hunde werden mir selbige nicht heil 25 26 27 28

ZH I, 259,20–30. Siehe: Acta 2002. ZH I, 367,1–6 (die zitierte Stelle am 20.7.). http://hamann-briefe.de/brkomm/1/brk-1,152.html (zuletzt abgerufen am 12. 7. 2014).

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lecken.«29 Zwei gleichermaßen aus dem Bildbereich des Feuchten stammende, aber doch sehr unterschiedliche Metaphern (Seife und Ablecken), aus Jeremia und dem Lukas-Evangelium ›geborgt‹30, werden von Hamann – trotz des oder gerade durch das Centoprinzip – zu einem kohärenten Ganzen verbunden. Überhaupt tendiert Hamann gelegentlich dazu, verschiedene Metaphern mit derselben Stoßrichtung miteinander zu koppeln: In seiner Auseinandersetzung mit Kants Kritik der reinen Vernunft (Brief an Herder vom 15. 9. 1784) veranschaulicht er die Unfruchtbarkeit der »Metaphysik« respektive der »unbefugte[n] Scheidung« von Sinnlichkeit und Verstand in den alternativen Bildern der »leere[n] Schläuche« sowie der »verdorren[den]« Stämme.31 Im Brief an Johann Gottlieb Steudel vom 4. 5. 1788 wiederum wird der umgekehrte Vorgang, das Flüssig-Werden (hier im Sinne einer Reinigung und Läuterung), durch die konkurrierenden Metaphern der »Kelter« und des »Schmeltztiegels« illustriert.32 Wie oben schon angedeutet, lässt Hamann bei dieser Strategie multipler Veranschaulichung dem Bildfeld des Feuchten und Flüssigen freilich keine Vorzugsbehandlung angedeihen. Es finden sich auch hinreichend Beispiele, wo zwei oder mehrere sinnähnliche Metaphern von Hamann alternativ benutzt werden, bei denen die eine dem hier untersuchten Bildbereich entstammt, die andere eben nicht: Die »Kelter« wird auch mit der »Treschtänne« kombiniert (in einem Atemzug: »Eine solche Kelter und Treschtänne«, als Bilder für Hamanns Mühe, den Brief an Franz Kaspar Bucholtz vom 6. 9. 1786 fertig zu bekommen, und für das darin herrschende Chaos)33 ; die Stagnation beim Schreiben des Fliegenden Briefs kann wahlweise als Windstille (an Hartknoch, 3. 1. 1787)34 oder mit den Worten »wie angenagelt und gebunden« (an Herder, 28. 1. 1787, mit dem Doppelsinn der erhofften »Entbindung«)35 bezeichnet werden. 29 ZH I, 307,18–21. Vgl. http://hamann-briefe.de/brkomm/1/brk-1,139.html (zuletzt abgerufen am 12. 7. 2014). 30 Jeremia 2,22; Lukas 16,21. 31 ZH V, 213,13 und 214,8–11. Wie ›eklektisch‹ Hamann mit dem Bildfeld des Flüssigen umgeht, zeigt sich in diesem Brief recht deutlich: Er benutzt zweimal in kurzer Folge Metaphern und Vergleiche, denen die Opposition »flüssig vs. fest« bzw. »flüssig vs. trocken« zugrundeliegt, konnotiert dabei aber das Flüssige wechselweise negativ (das Unstete des Quecksilbers im Vergleich zu anderen Metallen: ZH V, 212,28–30) und positiv (die Fülle als implizites Gegenbild zu den »leeren Schläuchen«). Siehe zu diesem zentralen Text auch Arthur Henkels Kommentar : Briefe, S. 390–394. 32 ZH VII, 460, 11 (wobei mit der »Kelter«, wie Hamann sogleich hinzufügt, die »KreutzesTaufe« gemeint ist) und 14f. 33 ZH VII, 6,7f. 34 ZH VII, 93,24–26: »So lavire ich und liege vor Anker 2 Jahr mit meinem Urlaub und meinem fliegenden Briefe ohne Wind noch Licht, kann weder den Knoten auflösen noch zerhauen.« (auch hier potentiell schon zwei Bildbereiche nebeneinander, sofern man bei dem »Knoten« nicht an ein Ankertau denkt). 35 ZH VII, 97,18–21: »Meine lächerl. Autorschaft ist ins Stecken gerathen, zu meinem Glück und mit meinen Reiseentwürfen geht es eben so wenig vom Fleck. Ich bin wie angenagelt und

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An dieser Stelle ist nun endlich der Hinweis auf einen Umstand angebracht, der sich für hamannkundige Leserinnen und Leser freilich von selbst verstehen dürfte: derjenige nämlich, dass Hamann sich auch im Gebrauch, in der Auswahl und in der Kombination seiner Metaphern sehr oft an das biblische Vorbild anlehnt (so wie eben zitiert bei »Tenne und Kelter«, vgl. Hosea 9,2; 5. Mose 16,13). Das Spannungsfeld zwischen der Übernahme vorgegebener Angebote von Bildlichkeit einerseits und ihrer sprachschöpferischen, kreativen An-Eignung andererseits36 für die zahllosen Formeln biblischer Provenienz in Hamanns Texten auszuleuchten, wäre Stoff genug für einen gesonderten Beitrag.

Metapher und Kontext Über seinen Schreibstil äußert sich Hamann gegenüber Jacobi am 23. 4. 1787 mit den Worten: »Ist die Rede von einem jungen Most, so verseht euch mit neuen Schläuchen. Ist die Rede von einer bloßen Einkleidung alter Wahrheiten; so braucht keine neue Lappen, durch die der Riß des Alten ärger wird. In meiner Materie und Form ist die Rede von beyden; und die Anwendung verhältnismäßig, hypothetisch, nicht einfach und absolut.«37 Diese Stelle ist insofern besonders interessant, als der Eklektizismus der Metaphorik (die Verwendung zweier unterschiedlicher Bildbereiche in ein und derselben antithetischen Reihung) mit dem inhaltlichen Bekenntnis zum Stilrelativismus korrespondiert. An einem Topos, der in Hamanns Briefen sehr oft wiederkehrt, lässt sich das Nebeneinander unterschiedlicher Metaphorik sowie des völligen Verzichts darauf exemplarisch darstellen: an Hamanns wiederholter Klage nämlich, dass ihm Bücher eigentlich nur beim Lesen präsent seien und es ihm schwer falle, sich später eine klare Vorstellung des Gelesenen zu machen. Gegenüber Lavater bekennt Hamann am 18. 1. 1778, »So ein großer Bücherwurm ich auch bin, so hängt doch meine Lesesucht von Umständen ab, und seit langer Zeit genieße ich einen Schriftsteller bloß, so lange ich das Buch in der Hand habe. Sobald ich es gebunden, nicht im stande mich zu rühren, und muß stille halten, die Entbindung ruhig abwarten.« 36 Wie Oswald Bayer und Bernd Weißenborn es in ihrer Einführung zu den Londoner Schriften (wie Anm. 20) formulieren: »Diese Vielzahl der Anspielungen, die verschiedenen Formen des Zitierens und die häufigen Um- und Abwandlungen biblischer Zitate lassen sich kaum vollständig erfassen und etwa von Hamanns eigener Sprache abgrenzen – spricht er doch auch dann, wenn er selbst spricht, in der Sprache der Bibel.« (S. 48). Vgl. auch ebd., S. 49, über bestimmte Bibelzitate, die Hamann »sprachlich immer wieder anders faßt, umarbeitet oder in andere Zusammenhänge einarbeitet – ja, geradezu verfremdet –, teilweise besonders betont, teilweise als Anschauungsmaterial in die Argumentation nur nebenbei einfließen läßt.« 37 ZH VII, 158,11–15 (der gesamte Brief datiert auf den 22. 4. 1787).

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zumache, fließt alles in meiner Seele zusammen, als wenn mein Gedächtnis Löschpapier wäre.« (Dem folgt dann noch die aus Hiob 40,23 entnommene Metapher, »Ungeachtet ich von Jugend auf nicht habe Wörter behalten können, so habe ich mich doch ziemlich spät auf todte Sprachen gelegt, und ließ mich dünken, den Jordan mit meinem Munde auszuschöpfen.«)38 Die LöschpapierMetapher benutzt Hamann auch in seinem Brief an Hartknoch vom 24./25. 7. 1784, dort allerdings bezogen auf das Verständnis seiner eigenen Texte: »Ich weiß (und könnt es beschwören) kaum selbst mehr was ich zusammen geschwitzt und geschnitzt habe. Ein solches Löschpapier ist mein Gehirn.«39 Jacobi (am 1. 12. 178440 und am 16./17. 2. 178541) und Steudel (4. 5. 1788) müssen ohne eine solche bildliche Stütze auskommen; im Brief an letzteren heißt es beispielsweise, »So lange ich ein Buch in der Hand habe, währt mein Genuß. Leg ich es weg, so bin ich beynahe eben so klug wie ich gewesen bin.«42 In einem späteren Brief an Jacobi, am 26. 10. 1786, wählt Hamann wiederum eine andere Metaphorik: »Ich genieße nur ein Buch, so lang ich es in der Hand habe; so bald ich es weglege, bleibt mir nichts als ein wahres Gespenst übrig.«43 – vermutlich im Doppelsinn von Spuk und Gespinst. 38 ZH IV, 6,37–7,7. Hamann steht mit seiner Übernahme dieser plastischen (im Buch Hiob auf Behemot bezogenen) Wendung beileibe nicht allein. Die Worte »läßt sich dünken, den Jordan mit dem Mund auszuschöpfen« finden sich gleichlautend etwa in Bettina von Arnims Gesprächen mit Dämonen (1852), dort in den Worten des Dämons auf den »umherwütend [en]« und das »Entscheidungsrecht« der Völker an sich reißenden Nimrod gemünzt. Siehe Bettina von Arnim: Gespräche mit Dämonen. Des Königsbuches zweiter Band. In: Sämtliche Werke Bd. 7. Hg. von Waldemar Oehlke. Berlin 1922, S. 155. Und schon die Lebensläufe nach Aufsteigender Linie von Hamanns Freund Theodor Gottlieb von Hippel (1778) enthalten in einem von der Mutter des Ich-Erzählers vorgelesenen Unterweisungstext den Satz »Schlucke nicht, und wenn’s auch Wasser wäre, daß es aussiehet, als woltest du den Jordan austrinken.« (Lebensläufe nach Aufsteigender Linie nebst Beylagen A, B, C. Meines Lebenslaufs Erster Theil. Berlin 1778, S. 310). Charakteristisch ist freilich, dass das, was bei Hippel als bildliche Ausschmückung einer Benimmregel daherkommt (oder umgekehrt bei Bettina von Arnim mit dem Übersinnlichen verknüpft bleibt), von Hamann in eine Metaphorik des ›Bildungsdurstes‹ eingeblendet wird – wobei der nahöstliche Fluss mit seinem biblischen und zugleich die Wüstenumgebung evozierenden Kolorit die Rede von den »todte[n] Sprachen« gleich in zweifacher Weise adäquat illustriert. – Die Entlehnung Hamannscher Metaphern durch Hippel behandelt der lesenswerte Aufsatz von Joseph Kohnen: Das Dreiecksverhältnis Lauson – Hamann – Hippel. In: Acta 2006, S. 139–151, bes. S. 145. 39 ZH V, 170,2–4. Siehe ferner ZH V, 440,1–7: »denn ich habe die Gabe wie ein Raubvogel und wie ein Krebs oder Schnecke zu lesen; aber mein m ü r b e r K o p f ist gegenwärtig zu nichts aufgelegt. […] Aber mein Gedächtnis ist lauter Löschpapier, und meine Säfte lauter zäher Schleim.« (an Friedrich Heinrich Jacobi, 17. 5. 1785). 40 ZH V, 270,13f. 41 ZH V, 369,27–30 (es sei denn, man nähme die verblasste Metapher, die »Güte oder Mängel« eines gelesenen Buches zu »schmecke[n]«, auch als eine derartige Visualisierung). 42 ZH VII, 459,28–30. 43 ZH VII, 27,35–37 (der gesamte Brief datiert auf den 5. 10. 1786, Hamann nahm das Schreiben nach einem »Flußfieber« zwanzig Tage später wieder auf). Auch die konventionellere Sieb-

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Auch der umgekehrte Fall begegnet in Hamanns Briefen, d. h. eine Metaphorik, bei der der Bildspender zumindest überwiegend gleich bleibt, der Bildempfänger variiert wird. Ein von Hamann gern benutztes Bild – angelehnt an Hiob 38,11 – ist dasjenige von den Wellen, die »eine Grenze finden« bzw. denen man »eine Grenze setzt«. Am 28. 9. 1759 schrieb Hamann an Johann Gotthelf Lindner, »Distinctionen Affecten entgegen zu setzen, heist den Wellen des Meers den Sand zur Gränze setzen.«44 Bei Hiob ist es freilich Gott, der den Wellen – effektiv – eine Grenze setzt; Hamann variiert das Bild, indem er aus dem biblischen Beispiel für Gottes Allmacht implizit-kontrastiv ein Anschauungsmittel für die Ohnmacht begrifflicher Unterscheidungen (?)45 macht. Kaum zwei Wochen später, am 12. 10. 1759, und wiederum an J.G. Lindner gerichtet benutzt Hamann dieselbe Metaphorik, bezieht ihre beiden Teile (Wellen und Grenze) aber auf andere Größen: statt den Affekten allgemein fungiert nun speziell Hamanns Stolz als erster Bildempfänger, während die im vorherigen Beispiel von den »Distinctionen« eingenommene Rolle des Ufers gänzlich unbestimmt bleibt, eine rhetorische Leerstelle: »Da unser Briefwechsel immer mehr ausarten möchte […]« und »Da ich die Gränzen ehre, für denen sich die Wellen meines Stoltzes legen müßen […] so wünschte ich, daß wir uns eine Weile ausruhten.«46 An den Beispielen des Löschpapiers und der »Grenzsetzung« für das Meer dürfte schon klar geworden sein, dass bei Hamann (wie vielleicht überhaupt) die Metaphorik der Flüssigkeiten oft auch eine Metaphorik der sie eingrenzenden oder sonstwie aufnehmenden Gefäße ist, zugleich eine Metaphorik der funktionalen Eignung dieser Gefäße.47 Offensichtlich ihrem Zweck gerecht werden

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Metaphorik begegnet zu diesem Zweck: »weil mein alter Kopf ein Sieb ist und ich nur so lange ein Buch genieße, als ich es unter Händen habe.« (ZH V, 225,7–9, Brief an Johann Georg Müller vom 3. 10. 1784). ZH I, 417,2f. Die Verwendung des Wortes »Distinctionen« im fraglichen Brief wirkt mehrdeutig (erschwert dadurch, dass sich Hamann in seinem Gedankengang wiederum auf Ausführungen und Formulierungen Lindners bezieht). Dass Hamann an der oben zitierten Stelle mit »Distinctionen« begriffliche Unterscheidungen oder Ausschmückungen meint, scheint aus dem unmittelbaren Fortgang der Passage hervorzugehen: »Wenn Gesichterschneiden zweydeutig ist; so geht es den Distinctionen nicht beßer. Es ist also recht sehr gut, daß man die Wahrheit von Herzen redet weder durch Geberden noch durch Distinctionen sie verfälschet.« (ZH I, 417,3–6). Wo er kurz zuvor Lindners Brief referiert hat (ZH I, 416,34f), bezieht sich das »distinguo« freilich auf Unterschiede und Ungleichgewichte in zwischenmenschlichen Beziehungen. ZH I, 430,21–28. Vom Stellenwert der Gefäß-Bildlichkeit für Hamann zeugt auch eine Passage aus den Gedanken über meinen Lebenslauf: »Gott hat mich aus einem Gefäs in d[as] andere geschüttet, damit ich nicht zu viel Hefen ansetzen und ohne Rettung versauren und stinkend werden sollte.« (Londoner Schriften, S. 345). Bayer und Weißenborn erläutern diese Stelle in ihrer Einführung (8f) prägnant wie folgt: »Der Text bleibt. Der Leser aber wird durch ihn ver-

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Badewannen, ebenso das von Xanthippe über Sokrates und seinen Freunden ausgeleerte Nachtgeschirr, eine von Hamann mit spürbarem Genuss erzählte Geschichte48 (wobei man hinzudenken sollte, dass Hamann Christian Jacob Kraus in seinem Brief vom 23. 11. 1787 schrieb, »Sie wißen daß meine Freundschaft etwas von der Xantippe an sich hat.«49), simplere Krüge ebenso wie Amphoren (an Jacobi, 4. 3. 1788)50, Fässer zumindest dann, wenn man den dazugehörigen »Zapfen einstecken« kann51. Ungeeignet oder zumindest weniger geeignet sind die aus Jeremia 2,13 entlehnten »durchlöcherte[n] Cisternen«52, ebenso »durchlöcherte Rinnen« (wenngleich Hamann hierzu schreibt, dass sich in der Frühgeschichte »noch unendl. vieles entziffern ließe, wenn wir servum pecus wären, die mit durchlöcherten Rinnen für lieb nähmen«53), Sanddünen oder Löschpapier – letzteres jedenfalls, wenn der Zweck in der Aufbewahrung, nicht in der Tilgung besteht.

Metapher und Lebenswirklichkeit Ein weiterer allgemeiner Befund, der sich aus der Durchsicht von Hamanns Briefen auf Bilder des Feuchten hin ergibt, ist der, dass Hamann seine entsprechenden Metaphern nicht selten direkt an konkret erfahrene Wirklichkeit anschließt bzw. offenkundig von ihr zur metaphorischen Weiterführung einer Szenerie motiviert wird. Natürlich bleibt Metaphorik auch an vielen Stellen aus, wo man sie sich potentiell erwarten könnte – genauer gesagt, wo der Verfasser dieses Beitrags sie sich gerne gewünscht hätte, etwa wenn das Baden der Baronin v. Budberg, die Hamann gerade von seiner Hofmeisterstelle entlassen hat, nur

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ändert. In einem anthropologischen Kontinuum ist diese Veränderung nicht verständlich zu machen. Der Bruch zwischen dem Selbstverständnis des alten und neuen Lesers ist so tiefgreifend und scharf, daß das Alte mit dem Neuen nur durch den im Text redenden und begegnenden Gott vermittelt werden kann«. ZH I, 329,36–330,6; vgl. die entsprechende Anspielung in einer Rezension der Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen vom 27. 1. 1774, bezeichnenderweise der Besprechung eines Buches von Georg Jakob Decker über die Taufe (N IV, 383f, hier 384,4–7). ZH VII, 344,21f. ZH VII, 425,1–3 über seine schriftstellerische »Eitelkeit«: Diese sei »zwar gekreuzigt, aber weder tod noch schon begraben. Wenn ich nicht an amphoras denken kann, liegen mir doch immer noch vrcei im Sinn –« (die entsprechende Passage am 10. 3. 1788). 16. 10. 1787 an Gottlob Immanuel Lindner: »Auch mein Faß ist voll; aber ich muß den Zapfen einstecken.« (ZH VII, 311,11f). ZH VII, 24,28f. ZH III, 34,21–23 und Briefe, S. 59; bezogen auf die Lektüre von Johann Thunmann: Untersuchungen über die alte Geschichte der Nordischen Völker. Berlin 1772. »Servum pecus« spielt an auf Horaz, Epist. I, 19,19 (die Nachahmer als »Sklavenherde«), siehe Arthur Henkels Kommentar, Briefe, S. 362.

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nebenbei erwähnt wird, anstatt der dazugehörigen Wanne eine Rolle als Bildspenderin zukommen zu lassen54 –, aber es fällt doch auf, dass sich Metaphern des Flüssigen und Feuchten bei Hamann gerne dort sammeln, wo es auch im Bereich des sinnlich Wahrgenommenen und empirisch Nachprüfbaren Flüssiges und Feuchtes gibt. Das geht bisweilen so weit, dass übertragene und ›buchstäbliche‹ Bedeutungselemente ihrerseits ›zusammenfließen‹, zusammen intendiert sind, was die Rhetorik als Syllepse bezeichnet.55 Einige der schönsten Beispiele seien hier angeführt. Am 21. 3. 1762 beklagt sich Hamann bei Friedrich Nicolai, warum die Rezensenten seiner Briefe, die neueste Litteratur betreffend in Preußen (gemeint natürlich Ostpreußen) »meines Wissens noch gar keine Beute […] gemacht« hätten. Er fragt rhetorisch: »Sollte man nicht denken, daß Alpengebirge, ja, daß zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt wäre? Sind wir nichts als Siberier? oder denkt man von unserem Pregel, wie jener gewaltige Mann, der deutsch zu reden die F… hatte, und die Wasser Amona und Pharphar zu Damaskus für besser ansah, denn alle Wasser in Israel? Vergeben Sie das kleine Brausen, mit dem mein Brief aus seinen Ufern tritt, um die Aufmerksamkeit Ihrer Briefsteller dadurch mehr nordwärts zu ziehen […]«.56 Die Bildlichkeit des Wassers, die ihren Ausgangspunkt im Geographisch-Konkreten nimmt (Pregel), das freilich von Anfang an metaphorisch imprägniert ist (die geographische, aber vielleicht doch eher mentale, auf die Wahrnehmung bezogene Kluft), ›verselbständigt‹ sich nach dem Bibelzitat und der Anspielung auf Friedrich II. zu einer originellen Satzmetapher (der brausend über die Ufer tretende Brief), wobei die Metapher performativ eben dies tut, was sie in Worte fasst. Hamanns Brief an den Vater vom 15.(26.)2.1753 berichtet von der durch anderweitige Termine und das einsetzende Tauwetter einstweilen verhinderten Reise nach Riga mit den Worten: »Da meine erste Hoffnung also zu Waßer geworden ist […]«57 – das ist buchstäblich und metaphorisch zugleich. Ganz ähnlich der Brief an die Eltern vom 5. 4. 1755: Hamann berichtet über die Rückreise von Mitau nach Meyhof, »wir kamen mit Lebensgefahr biß an die Bäche und mit noch größerer, die Gott Lob glücklich überstanden, des Abends hier wieder zurück. […] Dem Himmel sey Dank, daß ich nur für Angst gebadet hier mit meiner gnädigen Gesellschaft wieder angelandet bin.«58 Hamann ist also nur »vor Angst« nass, vom Schweiß, wäre aber beinahe wörtlich im Wasser der zu überquerenden Bäche »gebadet« worden. Übrigens korreliert der konkrete 54 ZH I, 53,17–20 und 54,19f. 55 Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol (wie Anm. 21), S. 14. Vgl. zum Thema Grenzverwischung auch Andre Rudolphs Befund (Figuren der Ähnlichkeit, [wie Anm. 19], S. 184): »Vielmehr arbeitet Hamann mit Metaphern so, als handle es sich um ›eigentliche‹, begriffliche Rede.« 56 ZH II, 141,21–29. 57 ZH I, 20,9f. 58 ZH I, 96,27–32.

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Anlass (Regenfälle, Hochwasser) mit mehrfacher, auch davon losgelöster Wassermetaphorik im ganzen Text: »In ihren Mantel [der Vorsehung] gewickelt und von ihr geführt geben uns Meere v. Klüfte sichere Fußsteige« oder gar, bezogen auf den Umgang mit seinen Hemden, »Unterdeßen kleine Stürme machen gute Schifsleute« ( = aus Schaden wird man klug).59 In einem anderen Beispiel bekommt die Verschränkung von konkreter Erfahrung und möglicher Metaphorik beinahe slapstickartige Züge: Im Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 27. 4. 1787 (die fragliche Passage vom 29.4.) schreibt Hamann, »Kraus fand kein Waßer im Hause wegen der Gartenarbeit, nach dem Buch konnt ich auch nicht schicken wegen der Gartenarbeit. Er setzt sich an das Clavier, springt eine zweite Saite. Sein erstes Wort ist immer Waßer, er würdigte kaum mein edles Bier des Schmeckens; und meine Gäste giengen im grösten Regen weg«.60 Ob hier überhaupt Metaphorik mitklingt, ist schwer entscheidbar. Dasselbe gilt für eine Stelle in Hamanns Brief an Jacobi vom 18. 2. 1786: »Verzeyhen Sie, daß Sie Beylage mit einem Macul meiner triefenden Nase zurück erhalten, auf deren Ausflüße ich nicht Zeit hatte Acht zu geben. Es ist alles gut gemeynt, und weiter geht menschl. Freundschaft nicht.«61 Sind die tropfende Nase und der Rotzfleck auf dem Brief nur buchstäblich zu verstehen, oder doch auch metaphorisch?62

In Sümpfen und andernorts Das eingangs schon einmal erwähnte, im Besitz von Hamanns Wohltäter Franz Kaspar Bucholtz befindliche Wasserschloss Welbergen spielt im Hinblick auf die Metaphorik des Feuchten in Hamanns späten Briefen eine zentrale Rolle. Jacobi hatte Hamann am 21. 12. 1787 geschrieben, »Wegen Deiner Gesundheit bin ich äußerst besorgt. Lieber, das kann unmöglich gut gehen in dem feuchten morastigen Welbergen«.63 Hamann griff diese Formulierung in seinen folgenden Briefen immer wieder ironisch auf; am 16. 5. 1788 schrieb er beispielsweise, »es fehlt […] nicht an Nahrung in der Wüste, so wenig sans comparaison wie dem kleinen Görgel [Hamann selbst, khp] in den abscheuligen Sümpfen die Du Dir in Welb. einbildetest.«64 Stilistisch noch interessanter zusammengeführt werden 59 60 61 62

ZH I, 98,33f und 99,23f. ZH VII, 171,12–16. ZH VI, 275,21–23. Ein weiteres Beispiel dieser Art aus dem Bereich des Körperlichen wäre ZH II, 48,27–29 (an Johann Gotthelf Lindner, 5. 11. 1760): »Grüßen Sie den Grillenfänger Baßa. Ich will ihm schreiben, so bald ich einen Rausch haben werde, und kurz seyn muß, weil ich mein Wasser nicht werde halten können.« 63 ZH VII, 384,4f. 64 ZH VII, 474,27–29.

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die Begriffe des Sumpfes und der Wüste in Hamanns Brief an Jacobi vom 4. 3. 1788: »Lieber Fritz Jonathan! Heute ist es ein rundes volles Vierteljahr, daß ich in dieser feuchten und morastigen Wüste und Burg residire, nicht wie Du sie schiltst, sondern wie in einem lustigen Gefilde und fruchtbaren Thal, wo ich meine Palingenesie und |kojkgqiam Act. III. 16 meines Heils, statt des Frühlings, erwarte.«65 Abgesehen davon, dass Hamann die Jacobische Einschätzung von Welbergen ja ohnehin ironisiert und zurückweist, kann man diese Stelle wahlweise als Oxymoron (Wüste im Sinne von: unfruchtbares, trockenes Land) lesen oder nicht (Wüste im Sinne von dünn besiedeltem, ungenutztem Land, was dann eben auch ein Sumpf sein könnte). Jedenfalls betont Hamann, dies sei der Ort, nach dem er gesucht habe: »Vlubris est E}qgja meum.«66 Im Rahmen dieses Themas könnte man noch zahlreiche weitere Unterpunkte anreißen, etwa die (in den Briefen überraschenderweise nicht allzu häufige) Verbindung des Feuchten mit dem Geschlechtlichen – so an Johann Friedrich Reichardt, 16. 12. 1776: »Dein Brunn sey geseegnet und freue Dich des Weibes Deiner Jugend. Ein Wort alter Lehre aus den Sprüchen Salomons, statt einer Empfehlung an Ihre Gemalin.«67 (Sprüche 5,18) –; die zu Hamanns Lieblingsmetaphern zählende maritime Doppelformel vom »Lavieren und vor Anker liegen«68 ; die besondere Faszination Hamanns für die Figur des händewaschenden Pilatus69 oder für seinen seereisenden »Leib-Propheten Jonas«70 ; das bei Hamann mehrfach betonte Epitheton »von Regen träufend/triefend« für die Elendsgestalt Jupiters als Kuckuck71, als Versinnbildlichung des Prinzips der Herunterlassung72 ; drastisch-körperliche Bildlichkeit73 wie das Niederschlucken 65 ZH VII, 410,3–7. 66 ZH VII, 411,21f. Hamann hatte den Brief auch mit »Vlubris den 4. März 88« überschrieben (ZH VII, 410,2). Zum – wiederum von Horaz inspirierten – »Ulubris« für Welbergen siehe Arthur Henkels Kommentar : Briefe, S. 367 und 450. 67 Briefe, 78. ZH III, 274,19–22 hat hier »Werkes« statt »Weibes«. 68 ZH VI, 278,27f (an Friedrich Heinrich Jacobi, 18. 2. 1786); ZH VII, 93,24–26 (an Johann Friedrich Hartknoch, 3. 1. 1787); ZH VII, 533 (Pro Memoria für Minister von Werder, 26. 5. 1787): »Hierauf habe ich 10 Jahre, wie ein unverdroßener Charon, auf einem Uebersetzer Schiffl. gerudert […] habe also 20 köstl. Jahre meines mühseel. Lebens laviert und theils am Vorgebirge guter Hoffnung vor Anker gelegen«. ZH VII, 100,19f (an Friedrich Heinrich Jacobi, 30. 1. 1787) variiert das Bildpaar zu »den 15 d. gieng zum ersten mal aus dem Hause, und habe seit dem immer lavirt, sitze nun wider fest auf dem Strande.« Im selben Brief findet sich kurz zuvor auch der Satz: »Die Wellen gehen so hoch, und sinken so tief, daß ich mir vornahm das Sonntags Evangelium von Petri Schifflein recht andächtig zu feyern« (ZH VII, 100,10–12). 69 ZH VI, 370,15–18 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 30. 4. 1786). 70 ZH IV, 7,16 (an Johann Caspar Lavater, 18. 1. 1778). 71 So 1759 im zweiten Kinderphysik-Brief an Kant (ZH I, 446,9–13); Anfang August 1759 an Gottlob Immanuel Lindner (ZH I, 394,11–13); vgl. auch N II, 348 und 429. 72 Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrich Gaier in diesem Band. 73 Das oben geschilderte Verschwimmen der Grenze von Lebenswirklichkeit und Metaphorik

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der Wahrheit »wie Speichel«74 ; so originelle Metaphern wie Hamanns »magische[] Wünschelruthe«, mit deren Hilfe er Jacobis Leidenschaft im Starck-Streit verwässern könnte75, und manches andere mehr. Dafür reicht der Platz natürlich nicht aus. Abgeschlossen werden soll dieser Beitrag mit einem scheinbar unspektakulären Wörtchen, nämlich mit der verblassten, lexikalisierten Metapher des »Gewäschs«76 als Synonym für unnützes, unsinniges, niveauloses Gerede. Das Wort – auch verwandte Ausdrücke wie »Waschhaftigkeit« – fällt in Hamanns Texten des Öfteren, aber eine Stelle ist besonders aufschlussreich: In seinem Brief an Franz Kaspar Bucholtz vom 28. 7. 1786 meint Hamann zunächst, »alles was jetzt die Philosophie über Gott und Natur schwatzt, komt mir so abgeschmackt vor u. ist mir so eckel als das Gewäsche des Gesindes über ihre Herrschaft auf dem Fisch- oder Fleischmarkt.« Doch die Pointe folgt sogleich im Anschluss: »Verzeihen Sie, mein auserwählter und erwünschter! das Gewäsche eines alten Mannes, der aufs Gerathewohl hin schreibt, um zum Theil sich selbst zu zerstreuen und aufzumuntern.«77 Auch wenn dabei Koketterie mitschwingen mag, mit dem Gebrauch des Wortes »Gewäsche« für beide Seiten badet Hamann den verhassten philosophischen Mainstream seines Säculums und sich selbst tatsächlich in derselben Wanne.

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ist auch dort zu beobachten, wo bei den von Hamann in ZH VI und VII in extenso geschilderten »Visceral-Lavements« (i. e. seinen Einläufen) metaphorische Bedeutungen mitschwingen. An Johann Gotthelf Lindner, 27. 4. 1759, im Kontext der Auseinandersetzung mit Berens: »Wenn Sie die Wahrheit niederschlucken wollen, als wenn es Ihr Speichel wäre, so muß uns beyden freylich nichts als die Schaalen derselben übrig bleiben. Und in dieser Theilung sind Sie freylich neutral.« (ZH I, 321,11–14). Dass bei der »Wünschelruthe« wohl nicht nur an eine Wegweisung für Jacobi, sondern auch an eine zu findende Wasserader gedacht werden darf, ist indirekt aus dem vorhergehenden Teilsatz zu erschließen: »Ist es denn nicht möglich Dich ein wenig kälter in der Sache zu machen, oder soll ich selbst mit der magischen Wünschelruthe kommen?«. ZH VII, 483,15–17 (21. 5. 1788). Zum »Gewäsch« siehe Jörg R. Bergmann: Klatsch: zur Sozialform der diskreten Indiskretion. Berlin 1987, bes. S. 86. Auf die Frage nach der Etymologie des Wortes braucht hier wohl nicht detailliert eingegangen zu werden; der Hinweis des Grimmschen Wörterbuches möge ausreichen: »ein bedeutungszusammenhang zwischen der thätigkeit des waschens, des wäschers und dem heutigen gebrauch von gewäsch im sinne von geschwätz ist also gesichert; er fuszt aber nur auf einem engeren sprachgebiet, und es ist nicht gewisz, ob er primärer oder secundärer art ist.« (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Vierten Bandes Erste Abtheilung. Dritter Theil: Getreide – Gewöhniglich. Leipzig 1911 [= Bd. 6 des Reprints München 1984], Sp. 5361). ZH VI, 496,27–33.

II. Briefgespräche. Hamann und seine Briefpartner

Thomas Brose (Berlin)

»Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb«. Der frühe Hamann und die Genese seiner Beziehung zu D. Hume im erhellenden Spiegel seiner Briefe

Was bewegt Johann Georg Hamann, sich mit Vehemenz auf David Hume einzulassen? Wieso beruft sich der Glaubensdenker auf den Naturalisten? Warum drängt es den religiösen Autor, Argumente eines notorischen »Freygeists« zu propagieren? Vor allem: Auf welche Weise ist sein Diktum zu deuten: »Ich war von Hume voll«, wie ich die Sokratischen Denkwürdigkeiten schrieb?1 Mit andern Worten: Ist es möglich, Hamanns Hume-Konzept zu rekonstruieren?2 Die Vorgehensweise des Englandreisenden und späteren Hume-Übersetzers hat zwar kopfschüttelnde Verwunderung provoziert, jedoch lange Zeit kaum Kräfte mobilisiert, um die Genese der Hamann-Hume-Beziehung zu entschlüsseln. Für diese Forschungssituation wurde vor allem Rudolf Ungers Habilitationsschrift zu Hamanns Sprachtheorie (1905) sowie seine monumentale Darstellung Hamann und die Aufklärung (1911) prägend.3 Darin vertritt der 1 Das Zitat lautet präzise: »Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb, und darauf bezieht sich S. 49 meines Büchleins. Unser eigen Daseyn und Existenz außer uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art bewiesen werden.« (an Friedrich Heinrich Jacobi, 27. 4. 1787, ZH VII, 167,9–12). 2 »Trotz mancher Vorarbeiten«, räumen Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl ein, bleibe es ein Desiderat der Forschung, »eine umfassende Untersuchung der Bedeutung, die Hume für Hamann« gespielt habe, auszuarbeiten. (Günter Gawlick / Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 88.) Das Verdienst der Autoren besteht darin, den lange vernachlässigten Einfluss des skeptischen Philosophen innerhalb der deutschsprachigen Diskussion minutiös zu dokumentieren – und damit einen entscheidenden Anstoß zur Identifizierung der Hamann-HumeBeziehung zu geben. 3 Folgenreich für die gesamte Hamann-Literatur des 20. Jahrhunderts resümiert Rudolf Unger : »Allein seinem alle Unterschiede verwischenden Einheitsdrange, dem die ganze Wirklichkeit, wie gezeigt wurde, unter religiösem Gesichtspunkte sich darstellte, verschmolzen eben beide Glaubensbegriffe [der Humes und Hamanns, T.B.] alsbald in ein untrennbares Eins«. (Rudolf Unger : Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens. Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgeschichtlichen Stellung des Magus in Norden. München 1905, S. 98.) Die Bezugnahme des Magus auf den Metaphysikkritiker wird von Unger nicht als erkenntnisfördernde Irritation angesehen, sondern mangels begrifflicher Mittel als schlichte Fehldeutung abgetan.

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Literaturwissenschaftler die These: Das gesteigerte Interesse des Aufklärungskritikers an Humes Glaubensbegriff gehe klar in die Irre; seine Bezugnahme stelle eine völlige Fehldeutung dar : Hamann sei Irrationalist.4 Bei Isaiah Berlin, der den Erkenntniszuwachs der Hamann-Forschung nicht rezipiert5, sondern an der Sichtweise Ungers festhält, erscheint Hamanns als simple, gegenaufklärerische Gestalt. Sein Scherbengericht über den »Magus in the North« fällt vernichtend aus.6 »Der moralische und geistige Abstand« zwischen Hume und den »deutschen Irrationalisten«, als deren Speerspitze er Hamann identifiziert, »hätte größer kaum sein können.«7 Nach Berlins Urteil 4 Rudolf Unger bezeichnet Hamann als »gleicherweise antiintellektualistischen und gleicherweise mystischen Irrationalisten der Aufklärungsperiode« – und prägt damit den wirkmächtigen Topos von »Hamanns Irrationalismus«. (Rudolf Unger : Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. 2 Bde. [ND der 2. Aufl. Halle 1925; Darmstadt 1963], Jena 1911, S. 581.) Es verdient Beachtung, dass noch Rudolf Lüthe die hamannsche Rezeption des »belief«-Theorems – im Anschluss an Unger und Isaiah Berlin – als simples Missverständnis disqualifiziert: »Generally, English is not regarded as an extremely difficult language. But even philosophy written in English can only be understood correctly by people who have some knowledge of English. […] The problem with the term ›belief‹ is that the most common German translation ›Glaube‹ has normally the meaning of religious belief or faith. Now, Sir Isaiah Berlin has described how the German CounterEnlightenment misunderstood Hume’s term belief willingly, in order to make his criticisms of dogmatic rationalism a weapon against all rationalism and also against Hume’s own philosophical intentions.« (Rudolf Lüthe: Misunderstanding Hume. Remarks on German ways of interpreting his Philosophy. In: Vincent Hope [Hg.]: Philosophers of the Scottish Enlightenment. Edinburgh 1984, S. 105–115, 106f) Diesem Deutungsmuster folgt auch Gerhard Streminger (David Hume. Sein Leben und sein Werk. Paderborn/München/Wien/ Zürich 1994, S. 205, Anm. 20): »Während im Englischen auch sprachlich genau zwischen religiösem (faith) und nicht-religiösem Glauben (belief) unterschieden wird, ist dies im Deutschen nicht der Fall, was in der Rezeption der Humeschen Philosophie (etwa bei Hamann) zu Fehldeutungen geführt hat.« Dass der Englandreisende jedoch die Sprache sehr gut beherrscht und in Königsberg durch seine Übersetzungen zu einem zentralen Vermittler englischer Philosophie und Kultur avanciert, wird nicht weiter erörtert. 5 Es ist das Verdienst von Erwin Metzke als Vertreter der älteren Hamann-Forschung, auf der Grundlage von Quellenstudien (Londoner Schriften) eine bedeutsame Korrektur an Ungers Sichtweise einzuleiten: Der Versuch, literaturwissenschaftliche Zusammenhänge darzustellen, so der Philosoph, dürfe nicht dazu verführen, »Hamann auf einen der üblichen Nenner zu bringen und etwa von einem Irrationalismus, Individualismus, Symbolismus, Sensualismus und anderen ›Ismen‹ zu sprechen. Denn durch solche Festlegungen, die schon bei den Systemen der Philosophie wenig sagen, wird bei Hamann – zumal mit den genannten Begriffen – die Sache selbst, um die es Hamann geht, völlig verdeckt.« (Erwin Metzke: J.G. Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. Halle 1934, S. 5). 6 Vgl. Isaiah Berlin: The Magus in the North. J.G. Hamann and the Origins of Modern Irrationalism. Ed. H. Hardy. London 1993; ders.: Der Magus in Norden. J.G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Hg. v. Henry Hardy, aus d. Engl. v. Jens Hagestedt. Berlin 1995. 7 Isaiah Berlin: Hume und die Quellen des deutschen Irrationalismus. In: ders.: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte. Hg. v. Henry Hardy, mit einer Einf. v. Roger Hausherr, aus dem Engl. v. Johannes Fritsche. Frankfurt a.M. 1994, S. 259–290, Zitat S. 259.

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spielten Hamann und Hume in völlig unterschiedlichen Leistungsklassen. Der Oxforder Gelehrte hält es geradezu für einen Treppenwitz der Geistesgeschichte, dass der philosophische Skeptiker aufgrund von Hamanns Intervention zum »Schutzpatron des deutschen Fideismus und Irrationalismus« avancieren konnte.8 Berlin macht darin eine schändliche Manipulation aus, die auf Ignoranz und Missverständnissen beruhe; das »Rätsel« der Hamann-Hume-Beziehung wird von ihm nicht aufgeklärt.9 Wie die Hume-Kenntnis des jungen Hamann zur Entstehungszeit der Sokratischen Denkwürdigkeiten im Jahr 1759 konkret aussah, spielte trotz schwerpunktmäßiger Auseinandersetzung der Internationalen Hamann-Forschung (Acta VII) mit der Problematik Johann Georg Hamann und England10 noch in jüngster Vergangenheit kaum eine Rolle. »Im Verhältnis dazu, wie intensiv gegenwärtig David Hume in allen philosophischen Diskussionen der Hamann-Zeit war«, resümiert Endre Kiss, »ist die Anzahl derer, die heute der Ansicht sind, daß Hamanns Hume-Rezeption wesentlich für seine Philosophie war, erstaunlich gering.«11 Zu recht bemerkt der Forscher : »Wie anders wirkt das sokratische Fragen, wenn man Humes Kritik an der empiristischen Epistemologie kennt!«12 Aber auch Kiss leistet keinen Beitrag, diese Problematik aufzuklären. Die tatsächliche Hume-Kenntnis des jungen »Sokrates«-Autors blieb Gegenstand der Spekulation.13 Wovon der Autor in Briefen zwischen 1756–1759 mehrfach handelt und auf welche Weise er während der Abfassung seines ersten Werks von dem »Frey-

8 Ebd., S. 282. 9 Im Vorwort zum Tagungsband des Internationalen Hamann-Kolloquiums 1996 (Acta 1996, S. 9–14, Zitat S. 11) erklärt der Herausgeber Bernhard Gajek: »Zwei andere Einladungen waren leider erfolglos – die des englischen Philosophen und Ideengeschichtlers Isaiah Berlin und seines Herausgebers Henry Hardy. Dieser edierte Hamann-Interpretationen, die Berlin seit 1956 vorgetragen hatte, 1993 auf englisch. Zwei Jahre später erschienen sie auf deutsch. Angesichts des Themas [Hamann und die englische Aufklärung, T.B.] wären Berlin und Hardy erwünschte Gesprächspartner gewesen. Berlins Buch hat jedenfalls den Namen Hamanns in der britischen Diskussion belebt.« 10 Vgl. Acta 1996: Für die Frage zur Genese der Hamann-Hume-Beziehung sind die in dem Band dokumentierten Aufsätze von Johannes von Lüpke, Kenji Tokiwa, Kai Hendrik Patri, Endre Kiss und Hans Graubner von besonderem Interesse. Zu weiteren einschlägigen Studien von Graubner s. u. Anm. 58. 11 Endre Kiss: David Humes Argumentation in Hamanns philosophischem Diskurs. In: Acta 1996, S. 367–380, Zitat S. 374. 12 Ebd., S. 373, Anm. 10. 13 Vgl. z. B. Kenji Tokiwa (David Hume und Johann Georg Hamann in Hinblick auf die skeptische Tradition. In: Acta 1996, S. 305–317, Zitat S. 313.): »Obgleich Hamann also an diesem Ort in den SD [Sokratischen Denkwürdigkeiten] auf einen Absatz in der Enq [Enquiry Concerning Human Understanding] aufmerksam macht, ist er sich sicherlich der Auseinandersetzung im THN [Treatise of Human Nature] tief bewußt.«

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geist« erfüllt war, befand sich daher weiter in einer Grauzone; es wurde nicht als Schlüssel zu Hamanns früher Hume-Kenntnis identifiziert. Es ist jedoch möglich, die Genese der Hamann-Hume-Beziehung mit bisher nicht erreichter Genauigkeit nachzuzeichnen. Anhand brieflicher Äußerungen ist ein philologisch belastbarer Nachweis der Referenztexte des frühen Hamann zu erbringen.14

14 Zunächst hat sich der Verfasser der englischen Hume-Forschung zugewandt: Vgl. Thomas Brose: David Humes geistesgeschichtliche Zäsur. Das Umschlagen von aufgeklärter Religionsphilosophie in Religionskritik. In: ders. (Hg): Religionsphilosophie. Europäische Denker zwischen philosophischer Theologie und Religionskritik. Würzburg 22001, S. 131–158. Auf diesem Fundament wurde es möglich, deutschsprachige Hume-Texte des 18. Jahrhunderts in Hinblick auf Hamann einzuordnen: Vgl. Thomas Brose: Johann Georg Hamann und David Hume. Metaphysikkritik und Glaube im Spannungsfeld der Aufklärung (zit.: Hamann und Hume). 2. Bde. Frankfurt a.M. u. a. 2006. In dieser Untersuchung gelingt es – entgegen der bisher in der Forschung geltenden Überzeugung – den seitengenauen Nachweis zu erbringen, dass der junge Hamann als Autor der Sokratischen Denkwürdigkeiten nicht den Treatise studiert hat, sondern die Philosophischen Versuche, genauer : die deutsche, mit Anmerkungen von Johann Georg Sulzer versehene Übersetzung von Humes An Enquiry Concerning Human Understanding (Titel bis zur 5. Aufl. 1758: Philosophical Essays Concerning Human Understanding). Hans Graubner kritisiert: »Insgesamt empfinde ich Broses Umgang mit meinen Untersuchungen über das Verhältnis von Hamann zu Hume als etwas befremdlich. Ohne darauf hinzuweisen kommt er in vieler Hinsicht begreiflicherweise zu den gleichen Ergebnissen, weil sich Humes philosophischer Grundansatz in der Enquiry und anderen Schriften ja aus dem Treatise herleitet. Insofern kann daraus, dass ich dem Treatise ein größeres Gewicht beigemessen habe als der Enquiry, wohl kaum behauptet werden, dass erst die Berücksichtigung der letzteren einen ›Bedeutungshorizont‹ eröffne, ›der von der Forschung bislang nicht aufgezeigt werden konnte.‹« (Hans Graubner : »Gott sagt selbst: Ich schaffe das Böse«. Der Theodizee-Entwurf des jungen Hamann in der Auseinandersetzung mit Hume, Sulzer, Shuckford und Hervey. In: Acta 2006, S. 255–291, Zitat S. 262f, Anm. 39). Graubners kritische Bemerkung hinsichtlich des neu eröffneten Bedeutungshorizonts erscheint paradox: Tatsächlich ist der Unterschied zwischen Treatise und Enquiry von entscheidender Bedeutung (»belief«-Theorem). Erst die Wahrnehmung dieser Differenz ermöglicht den Perspektivenwechsel weg vom Treatise hin zur Enquiry. Die veränderte Blickrichtung stellt die Bedingung der Möglichkeit dar, die entsprechende Hume-Lektüre des frühen Hamann aufzufinden. Der Durchgang durch das Gesamtwerk des schottischen Philosophen und die Problematik, wie Humes Werke innerhalb der deutschen Aufklärung rezipiert wurde (vgl. zur Bedeutung des Treatise: Thomas Brose: Hamann und Hume, bes. das Kapitel »Hamann und Kant mit Blick auf Hume«, S. 607–654), bilden die Voraussetzung, um Hamanns Textreferenzen bis zur Abfassungszeit der Sokratischen Denkwürdigkeiten 1759 zu identifizieren und damit den Satz zu »entschlüsseln«: »Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb« (an Friedrich Heinrich Jacobi, 27. 4. 1787, ZH VII, 167,9–12). Die Kritik des Verfassers gilt vor allem der Überzeugung von Hans Graubner, den Nachweis erbracht zu haben, dass bereits der junge Hamann den Treatise of Human Nature studiert hat.

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1.

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Hamanns Hume: Tragende Elemente eines hermeneutischen Konzepts

Dass der Vermittler englischer Sprache und Kultur für das intellektuelle Leben weit über Königsberg hinaus Bedeutung erlangt, wird von Hamann-Opponenten, die eine manipulative Hume-Rezeption kritisieren, kaum gewürdigt. Für den Autor selbst besitzt die Auseinandersetzung mit Hume zentralen Stellenwert. Aus ihr gewinnt Hamann enormes intellektuelles Kapital; es verhilft ihm dazu, seine vernunftkritische Grundoption gegenüber der Religionsphilosophie der Aufklärung auszuarbeiten und darzustellen. Bereits die früheste, 1739 in Leipzig veröffentlichte deutsche Hume-Rezension wirft Licht auf wiederkehrende Interpretationsmuster. Die anonyme Besprechung des Treatise wertet den Empirismus des antimetaphysischen Denkers als Vorstufe eines religionsfeindlichen Skeptizismus.15 Im Urteil seines Kritikers entpuppt sich der Philosoph als gefährlicher Freigeist. Mit der »in feindseligem Tone verfaßten Rezension«, so Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, »sind bereits zwei wichtige Punkte des Koordinatensystems gefunden, in dem die Beurteilung der Humeschen Philosophie bis in die siebziger Jahre hinein erfolgen wird: Indem Hume mit der ganz und gar negativ besetzten Bezeichnung eines Freigeistes belegt wird, erheben sich zum einen Zweifel an der sittlichen Integrität seiner Person, und zum anderen sind als Folge hiervon seine Schriften dem Vorwurf ausgesetzt, sie versuchten den Naturalismus, Deismus, ja sogar Atheismus zu etablieren.«16 Es ist bemerkenswert, dass der junge Hamann dieses geistige Korsett für seine Hume-Lektüre ablehnt. Angesichts der Dominanz rationalistischer Philosophie Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt er eine eigenständige Lesart. Damit gelingt ihm ein folgenreicher Coup: Er schafft die Voraussetzung, um Humes Potential, Ausdruck »modernster« Philosophie, für seinen Ansatz zu erschließen, die eigene metaphysikkritische Position zu stärken und damit einen bedeutenden Alliierten zu gewinnen. Selbst Isaiah Berlin teilt diese Sichtweise: »In this way Hamann turns those very empirical weapons that were earlier used against dogmatic theology and metaphysics against rationalist epistemology«.17

15 »Gleich die erste Rezension einer Humeschen Schrift, auf die wir im deutschen Sprachraum stoßen und die naturgemäß dem Treatise of Human Nature gilt, versucht bei aller Kürze – sie ist nur eine Druckseite lang – den Treatise als das Werk eines ›neuen Freygeistes‹ suspekt zu machen und ihm das Fluidum der Anrüchigkeit zu geben.« (Gawlick/Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung [wie Anm. 2], S. 45). 16 Ebd. 17 Berlin: The Magus in the North (wie Anm. 6), S. 34.

152 1.1

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Hume-Kenntnis als Kapital: Hamann besetzt ein intellektuelles Feld

Hamann, in London gescheiterter Kaufmann und Handelsemissär, dann »Liebhaber der langen Weile«, später in untergeordneter Stellung tätiger Secr8taire-traducteur seiner Heimatstadt, muss in bedrängter Lebenslage Außergewöhnliches leisten, um sich ein intellektuelles Podium zu verschaffen. Seine Rolle als akademischer Außenseiter wird durch die subalterne Tätigkeit verschärft; sie lässt ihn zeitweise um das Existenzminimum seiner Familie bangen. »Endlich wurde aus einem welschen Charon und Uebersetzer [1]777 Königl. Packhofverwalter«18. In weitaus stärkerem Maß als die Berliner Intelligenzia oder die Königsberger Aufklärer mit gesichertem Amt und Auskommen ist Hamann als randständige Figur des Wissenschaftsbetriebs darauf angewiesen, ein »intellektuelles Feld«19 zu besetzten. Dieser Aspekt schwingt mit, wenn der theologisch-philosophische Denker eine in der deutschen Aufklärung schwer zu gewichtende geistige Zelebrität wie Hume als »seinen Mann« ins Spiel bringt. An Herder schreibt er : »Hume ist immer mein Mann, weil er wenigstens das Principium des Glaubens veredelt und in sein System aufgenommen.«20 Oswald Bayer bemerkt, der spätere Magus sei weder »akademisch zünftiger Theologe« noch »ordentlich berufener Mann der Kirche« gewesen.21 Dieses Außerhalb-Stehen wird dadurch gesteigert, dass er, an der östlichen Peripherie Preußens angesiedelt, auch geografisch weitab vom Zentrum agieren muss. Angesichts dieser Ausgangslage ist es nicht verwunderlich, dass Hamann seine in England erworbenen Spezialkenntnisse von Landeskultur, Sprache und Philosophie ständig auf dem Laufenden hält.22 Er setzt dieses Kapital gezielt ein. Es eröffnet ihm die Möglichkeit, schneller als seine Konkurrenten auf publizistische Chancen zu reagieren. Der Übersetzer macht sich z. B. schon wenige Monate nach Veröffentlichung der Dialogues concerning Natural Religion im Jahr 1779 an ihre Übertragung und kann diese Kant alsbald zur Verfügung stellen: »Kant hat mich darum gebeten, u liest sie jetzt zum 2ten mal.«23, teilt er

18 An Bucholtz, 7. 9. 1784, ZH V, 208,21f. Auf Kants Vermittlung hin erhält Hamann 1767 zunächst die Stelle eines Übersetzers bei der von französischen Experten dominierten Zollverwaltung. Erst zehn Jahre später (1777) wird er zum »Packhofverwalter« befördert. 19 Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 1991. 20 An Herder, 10. 5. 1781, ZH IV, 294,7f. 21 Oswald Bayer : Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988, S. 29. 22 Aufgrund der Analyse von Hamanns Bibliotheksbestand gelangt Barbara Belhalfaoui zu dem Befund, dass knapp ein Drittel seiner Bücher – 29 % – von englischen Autoren stammt; vgl. Barbara Belhalfaoui: La ›Biga Bibliothecarum‹. Recherches sur un cataloque des livres 8tabli par J.G. Hamann en 1776. In: Ptudes germaniques 31 (1976), S. 128–148, 128ff. 23 An Hartknoch, 16. 12. 1780, ZH IV, 249,32f.

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dem Verleger Hartknoch mit. Hamanns Dialogues-Übersetzung zirkuliert in Königsberg in einem Kreis gelehrter Zeitgenossen.24 Zu den Stärken, die Hamann in die intellektuelle Auseinandersetzung einbringt, zählt sein Gespür für Mechanismen öffentlicher Wahrnehmung. Bereits als Redakteur der Daphne, später in seiner Erstlingsschrift, den Sokratischen Denkwürdigkeiten, bis hin zur langjährigen Mitarbeit an Kanters Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen, beweist der Autor außergewöhnliche Sensibilität für die Macht von Öffentlichkeit: »Überhaupt sind sie [die »Zeitungs-Schreiber« T.B.] in ihren Gedancken nicht nur fast allwissend, sondern auch sehr mächtig, und können in wenigen Augenblicken mehr ausrichten, als der gröste Monarch in vielen Jahren.«25, heißt es im Zedler, der führenden Enzyklopädie der Zeit. An Herder teilt der Autor in diesem Kontext mit: »[I]ch habe mich auch zu 12 Auszügen aus dem Engl. das Jahr durch anheischig gemacht, die aus Mangel der Materialien vor der Hand nicht viel auf sich haben werden, weil das Gentleman’s Magazin allein nicht ergiebig genug ist.«26 Analysiere man auch nur einige von Hamanns Rezensionen, so WolfgangDieter Baur, zeige sich rasch, »daß Rudolf Ungers zu Beginn dieses [des 20., T.B.] Jahrhunderts gefaßtes Urteil, Hamann habe ›kaum je eine Kritik im streng sachlichen Sinn des Wortes verfaßt‹, alles in diesen Zeitungsartikeln sei ›rätselvoll verworren und abstrus mikrologisch‹ sowie von ›marternder Weitschweifigkeit‹ und ›stürmischer Hast‹, sich nicht halten läßt. Vielmehr entwickelt Hamann, der nicht nur als Zeitungsbeiträger, sondern auch als Autor und Briefschreiber dauernd kritischer Leser und Rezensent war, ein eigenes Verständnis von Kritik.«27 Insgesamt bescheinigt Bauer Hamanns publizistischer Wirksamkeit eine prägende Bedeutung. Dieser habe sich »in den Jahren 1765–1779 an beinahe achtzig Nummern mit Beiträgen, Übersetzungen und Auszügen, teilweise in langen Fortsetzungsreihen«, an Kanters Blatt beteiligt.28 Gezielt setzt der Religionspublizist sein intellektuelles Kapital ein, um Aner-

24 Zu diesem informellen Kreis gehören neben Lindner, Kraus, Kant und dessen Freund, dem Engländer Green, auch Hippel und Kreutzfeld. Es verdient Interesse, dass Hamann ihnen allen – neben Kant – die Dialogues-Übersetzung zum Durchlesen aushändigt und damit zugleich markiert, wer diesem Zirkel zugehörig ist; vgl. an Hartknoch, 29. 7. 1780, ZH IV 205,29. 25 Art. »Zeitungs-Schreiber«. In: Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Halle/Leipzig 1732–1734 [Reprint: Graz 1961ff]. Verl. J.H. Zedler. Bd. 61, Sp. 920. 26 An Herder, 17. 1. 1769, ZH II, 431,29–32. 27 Wolfgang-Dieter Baur : Die falschen Götzen macht zu Spott. Hamann als Publizist. In: Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit«. Hg. v. Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 80–105, Zitat S. 82. 28 Wolfgang-Dieter Baur : Johann Georg Hamann als Publizist. Zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Verkündigung. Berlin 1991, S. 32.

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kennung, Einfluss und Wirkmöglichkeiten innerhalb der Königsberger Scientific Community zu erlangen.

1.2

»Tiefsinnig« und »giftig«: Hamann bändigt Humes gefährlichen Genius

Sein Hume-Konzept ist für Hamann nicht nur inhaltlich von großer Tragweite. Es erhält auf formaler Ebene – als Kampf um Anerkennung gegenüber der aufgeklärten Öffentlichkeit – zentrale Bedeutung. Dabei ist in Anschlag zu bringen, was Olaf Briese hellsichtig für die philosophische Kultur in Deutschland nach 1830 konstatiert und anhand überraschender Allianzen erläutert: »Der Zug zu philosophischer Selbstbehauptung brachte es nicht nur mit sich, Konkurrenten zu überflügeln bzw. sich bestimmte ihrer Anregungen stillschweigend anzueignen, sondern auch mit offensichtlich scharfen Widersachern überraschende Zweckbündnisse einzugehen.«29 Als Mitarbeiter der Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen bietet sich dem Autor ein Medium, seine literarisch-philologische sowie theologisch-philosophische Sprach- und Deutungskompetenz zu demonstrieren. Zwar gelingt es Hamann nicht – wie gegenüber Herder angekündigt – zwölf Übertragungen englischer Werke vollständig zu realisieren, aber mit mehreren Auszügen und Übersetzungen bekräftigt er seinen Anspruch, dieses intellektuelle Feld zu überschauen und zu kontrollieren. Wiederholt bringt der Aufklärungskritiker die Rede auf David Hume: Angesichts umstrittener Wunderkritik konfrontiert er den Skeptiker mit einem, den er als sein ganzes Gegenteil darstellt: den »allzuleichtsinnigen La Metrie« und charakterisiert den schottischen Religionskritiker als »allzutiefsinnigen Hume«30. Der Autor greift damit eine Formel auf, die er bereits 1759 – das ist ein Schlüsseljahr für Hamanns Beschäftigung mit Hume – in einem bedeutsamen Brief an Johann Gottlieb Lindner verwendet. Darin urteilt Hamann über Of Miracles: »Hume mag das mit einer hönischen oder tieffsinnigen Mine gesagt haben: so ist dies allemal Orthodoxie«.31 Neben den für Hume gebräuchlichen Topos der »Tiefsinnigkeit« tritt als ergänzendes Charakteristikum bei Hamann seine »Giftigkeit«. Wiederum ist das zitierte Schreiben an Lindner zum Vergleich heranzuziehen: »Wie die Natur den Boden giftiger Kräuter mit Gegengiften in der Nähe beschenkt; und der Nil den 29 Olaf Briese: Felder und Konstellationen. Zur philosophischen Kultur in Deutschland zwischen 1830 und 1850. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22 (1997), S. 141–166, hier S. 160. 30 N IV, 285,20f (Königsbergsche Zeitungen). 31 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 356,19f.

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Crocodil (sic!) mit seinem Meuchelmörder zu paaren weiß: so fällt Hume in das Schwerdt seiner eigenen Wahrheiten.«32 In einer Ausgabe der kanterschen Zeitung vom Januar 1774 bespricht Hamann Schlözers Entwurf einer »Universalhistorie«. Der Rezensent kritisiert: Schlözer verfasse eine Universalgeschichte »im Geschmack eines Erz Bellettristen«, anstelle Voltaire zu studieren oder »anstatt die noch weit gefährlichere und giftigere philosophische Geschichtskunst unserer Humen zu analysiren«.33 Es verdient Beachtung, dass sich Hamann in diesem Fall – wiederum – gegen die Mehrheitsmeinung stellt, wonach die von dem Geschichtsphilosoph verfasste History of England aufgrund formaler Schönheit und inhaltlicher Unvoreingenommenheit nicht hoch genug zu loben sei. Humes Geschichtssicht, die den christlichen Glauben desavouiert, erscheint dem Religionspublizisten dagegen keineswegs harmlos, sondern destruktiv und gefährlich.34 Sein Verdikt über Humes »Giftigkeit«, urteilen Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, stehe ziemlich vereinzelt da.35 Bündelt man Hamanns Äußerungen und Analysen – Briefzitate, Zeitungstexte und Bemerkungen in Büchern – zu David Hume, gewinnt darin das Bild einer gefährlich-angriffslustigen Zelebrität der Zeit an Kontur. Der Königsberger Autor aber scheut nicht davor zurück, diesem Drachen in den Rachen zu fassen.

1.3

»Aneignung« statt »Rezeption«: Hamann im »Wortwechsel« mit Hume

Um die umstrittene Hamann-Hume-Connection genauer zu verstehen, ist es – auch in Hinblick auf die Hume-Forschung – notwendig, ein Sensorium zu entwickeln, Hamanns Transformations-Leistung begrifflich differenzierend darzustellen. Anders gesagt: Der Hume-Kenner sollte nicht mit fremden Maßstäben gemessen werden, die seine eigene Intention konterkarieren. Daher wird vorgeschlagen, den Ausdruck »Rezeption« zu meiden. Treffender erscheint es, von »Aneignung« zu sprechen. Denn der Ausdruck »Hume-Rezeption« determiniert die Perspektive. Dabei liegt der Akzent präskriptiv auf Kontinuität, Homogenität und bruchloser Übermittlung – dieser Ansatz lässt Hamann trotz penibler Arbeit auf der Grundlage umfassender Textkenntnis aber als uninformierten, verständnislosen Rezipienten bzw. Verfälscher humescher Philosophie erscheinen. Demgegenüber ist der deskriptive Begriff »Aneignung« ein ange32 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 355,27–29. 33 N IV, 382,18–23 (Königsbergsche Zeitungen). 34 Dass Hamann darin völlig zutreffend urteilt, belegt insbesondere eine Analyse der Natural History of Religion: Vgl. Brose: Hamann und Hume (wie Anm. 14), S. 277–327. 35 Vgl. Gawlick/Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung (wie Anm. 2), S. 164.

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messener Terminus für Hamanns Strategie, sich Hume partiell anzuverwandeln und mit ihm in einen »Wortwechsel« zu führen. Hamann ist kein Hume-Epigone, sondern eine eigenständige Größe. Er ist nicht nach Art eines Kopisten zu beurteilen, dessen Aufgabe darin besteht, detailgetreu nachzuahmen, dem jedoch aufgrund handwerklicher Unzulänglichkeiten Fehler unterlaufen. Hamann selbst ist Autor. Er ist vertraut mit diversen Techniken, die er von Fall zu Fall meisterlich und treffsicher einzusetzen vermag. Hamann ist Meister des Zitierens. Dabei verhält er sich – mit Johannes von Lüpke – wie ein »Experimentalphilologe«, der fremde und eigene Texte miteinander reagieren lässt, um sie in dieser Art von »Wortwechsel« zum Sprechen zu bringen: »Wie die experimentierenden Naturforscher ›einen Körper in allerhand willkürliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen‹, so macht es der Philologe mit seinem Texte. Er versetzt ihn in andere Kontexte, in denen dieser seine ›Energie‹ erweisen, in denen er aber auch seiner Bedeutungsarmut oder gar der Lüge und des Trugs überführt werden kann.«36

2.

Hamanns »Aneignung« David Humes im Spiegel seiner Briefe: Schlüssel zur Lösung eines ungeklärten Problems der Forschung

Der zweite Hauptpunkt bietet Raum, gerafft darzustellen, wie es gelungen ist, die Hume-Lektüre des Königsberger Theologen, Philosophen und Philologen so zu rekonstruieren, dass sich die Möglichkeit eröffnete, seinen zuvor nicht aufgespürten Referenztext zu ermitteln, seitengenau zu zitieren und damit ein ungeklärtes Problem zu lösen. Dazu war es für den Verfasser nötig, Hamanns Briefwechsel zwischen 1756–1759, also vor und während der Abfassung der Sokratischen Denkwürdigkeiten, auszuwerten und in Beziehung zu Erkenntnissen der Hume-Forschung zu setzen.

2.1

Zum Kontext der Hume-»Aneignung«

In seinem »Vorbericht« zum I. Teil von Humes Vermischten Schriften37 feiert der namentlich nicht genannte Übersetzer und Herausgeber [Hermann Andreas 36 Johannes von Lüpke: Zur theologischen Dramaturgie in Hamanns Autorschaft. In: Acta 1992, S. 305–329, Zitat S. 305 (zitiert sind hier Formulierungen Hamanns aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten, N II, 71,25–31). 37 Herrn David Hume, Esq. Vermischte Schriften über die Handlung, die Manufacturen und die

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Pistorius]38 den Autor als brillanten Stilisten, »dessen schöne Feder bey den Engländern in einem großen Ansehen steht, und die auch außer dieser glückseligen Insel denen wenigen nicht unbekannt geblieben ist, welche sich um die besten Schriftsteller anderer Nationen bekümmern.«39 Neben der ästhetischen Komponente wird zugleich ein zweites Publikationsmotiv erkennbar : die freie Luft, die seine Politischen Essays atmeten, sollten in Deutschland einen erfrischenden Zug entfachen – es geht um politische Aufklärung. Die Wahrheit bleibe »eine Wahrheit, ob sie gleich bisher noch vorzüglich über Großbritannien ihre kräftigsten Strahlen und ihren wohltätigen Einfluß ohne Hindernisse verbreitet.«40 Zum Schluss des »Vorberichts« wird die Übertragung weiterer Werke in Aussicht gestellt: »Der Beyfall welchen dieser erste Theil bey den deutschen Lesern finden wird, soll uns ermuntern, die drei übrigen Theile […] zu übersetzen; als welche Versuche über die Staatskunst, die Sittenlehre, die Religion und die Litteratur enthalten«.41 Angesichts ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz stoßen Humes Essays in Deutschland zunächst auf beträchtliche Zustimmung.42 Das gilt keineswegs in gleicher Weise für seine theoretische Philosophie. Der Metaphysikkritiker stößt mit seinen andern Schriften auf weit weniger Wohlwollen. Sein erklärter Antirationalismus sowie die Akzentuierung des Glaubens-Begriffs (»belief«) erregen Argwohn. In welchem Maß Humes Rekurs auf »Glaube« für die führenden Köpfe des siHcle des lumiHres ein anstößiges Unterfangen darstellt, erweist der Blick in das ambitionierteste Wörterbuch der Zeit, die Enzyklopädie43. In dem maßgeblichen

38 39 40 41 42

43

andern Quellen des Reichthums und der Macht eines Staates. Aus dem Englischen übersetzt (zit.: Vermischte Schriften I). 1. Aufl. Hamburg/Leipzig 1754 (die erste Aufl. entspricht der vom Verfasser herangezogenen 2. Aufl.), 2. Aufl. Leipzig 1766. Der Inhalt der deutschen Ausgabe entspricht den zwölf Essays der Political Discourses von 1752: »I. Von der Handlung«; »II. Von der Ueppigkeit«; »III. Von dem Gelde«; »IV. Von den Zinsen«; »V. Von der Balanz der Handlung«; »VI. Von der Balanz der Macht«; »VII. Von den Auflagen«; »VIII. Vom öffentlichen Credit«; »IX. Von einigen merkwürdigen Gewohnheiten«; »X. Von der Menge der Menschen bei den alten Nationen«; »XI. Von der protestantischen Thronfolge in England«; »XII. Entwurf einer vollkommenen Republik«. Vgl. die Angabe zu dem Theologen und Übersetzer Pistorius: Gawlick/Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung (wie Anm. 2), S. 24. Vermischte Schriften I, If. n.p. Vermischte Schriften I, IIf. n.p Vermischte Schriften I, IIIf. n.p. Dies belegt das rasche Erscheinen der zweiten Auflage im Jahr 1766 (1. Aufl. 1754). Zum Publikumserfolg seiner Essays bemerkt Hume (My own Life. In: The letters of David Hume. Ed. John Young Thomson Greig. 2 Bde. Oxford 1932, S. 1–8, Zitat S. 3f): »1752, were published […] my Political Discourses, the only work of mine, that was successful on the first Publication: It was well received abord and at home.« Emphatisch vermerkt Diderot in dem Artikel »Enzyklopädie« über dieses Unternehmen, an dem neben d’Alembert, Voltaire, Montesquieu, Rousseau sowie Holbach etwa weitere 160

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Artikel stellt Diderot »Glaube« konsequent als etwas mit Mängeln Behaftetes dar. Dieser Begriff stehe im krassen Gegensatz zum menschlichen Vermögen par excellence: der Vernunft. »Man ist nur selten zufrieden mit sich selbst, wenn man keinen Gebrauch von seiner Vernunft gemacht hat oder wenn der Gebrauch, den man von ihr gemacht hat, schlecht ist. »Wer glaubt, ohne einen Grund zum Glauben zu haben, fühlt sich auch dann, wenn er zufällig die Wahrheit gefunden hat, immer schuldig, weil er das wichtigste Vorrecht seiner Natur vernachlässigt hat«.44 Dem Begriff »Glaube« hafte ein bleibender Makel an: der des Nichtwissens. Demgegenüber steht Hamanns Hume-Aneignung für ein anderes Verständnis des Glaubens.

2.2

Ein Desiderat der Forschung: Zur Hume-Kenntnis des jungen Hamann

2.2.1 Zur Identifizierung des Problems: Hamann schreibt 1759 »Ich war von Hume voll« »Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb, und darauf bezieht sich S. 49 meines Büchleins. Unser eigen Daseyn und Existenz außer uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art bewiesen werden.«45 Fast dreißig Jahre nach Abfassung der 1759 erschienenen Sokratischen Denkwürdigkeiten reflektiert diese briefliche Äußerung die katalytische Wirkung, die der Verfasser Humes Philosophie für den Beginn seiner Autorschaft zuschreibt. Philip Merlan erklärt: »Hamann invites us to look up his reference to Hume in his Socratic Memorabilia. Here is the context in which it can be found.«46 Wie die Hume-Kenntnis des jungen Hamann zur Entstehungszeit der Sokratischen Denkwürdigkeiten tatsächlich aussah, verblieb noch hundert Jahre nach Ungers Irrationalismus-Vorwurf im spekulativen Bereich. Offene Fragen lauten: Spricht Hamann im Rückblick bloß allgemein von früher Schwärmerei? Welchen Platz beansprucht das Erfüllt-Sein mit der Lektüre des Philosophen innerhalb seiner Lesebiografie? Bezieht sich seine Hume-Begeisterung auf ein konkretes Werk? Auf den Treatise oder die Enquiry? Damit stellt sich für die Forschung eine klare Aufgabe: nach Möglichkeit jenen Text zu identifizieren, von dem der angehende Autor 1759 »voll« war. Mitarbeiter beteiligt waren: »Schwerlich hätte man sich eine umfangreichere Aufgabe stellen können als die, alles zu behandeln, was sich auf die Wißbegierde des Menschen, seine Pflichten, seine Bedürfnisse und Vergnügen bezieht.« (Denis Diderot u. a. (Hg.): Artikel aus Diderots Enzyklopädie. Ausw. u. Einf. v. Manfred Naumann. Übers. v. Theodor Lücke. Leipzig 21984, S. 314–416, Zitat S. 315). 44 Denis Diderot: Art. »Glauben« – Croire«, ebd., S. 221f. 45 An F.H. Jacobi, 27. 4. 1787, ZH VII, 167,9–12. 46 Philip Merlan (Hg.): Kleine philosophische Schriften. Hildesheim/New York 1976, S. 507.

»Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb«

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Die Lösung des Problems, den Referenztext zu identifizieren, ist für die Aufklärungsforschung von enormer Bedeutung. Es liegt auf der Hand, dass der Nachweis der fraglichen Lektüre unmittelbar dazu verhilft, die »Sokrates«Schrift genauer zu interpretieren. Weiter eröffnet sie die Möglichkeit, von einem festen Punkt aus die Genese von Hamanns Hume-Beziehung zu rekonstruieren – und damit weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen. Hätte bereits der junge Hamann, wie Hans Graubner behauptete, den Treatise studiert, wäre diese Erkenntnis folgenreich für die Kant-Forschung.47 2.2.2 Zur Identifizierung der Hume-Lektüre in der Lesebiografie des jungen Hamann Der erste, philologisch klar zu identifizierende Nachweis einer Lektüre David Humes ist für das Jahr 1756 zu führen. In seiner Beylage zu Dangeuil erwähnt der an ökonomischen Zusammenhängen interessierte Hamann, der sich im Oktober des gleichen Jahres auf seine Reise nach London begibt, Humes Vermischte Schriften. Er meint: Kaufleute stellten die »Unterhändler« zwischen den verschiedenen Gliedern des Staates dar und merkt an: »Hume in der Abhandlung seiner vermischten Schriften.«48 Dieser Hinweis bildet – wie der Fortgang der Argumentation zeigen soll – für den Nachvollzug seiner Werk-Kenntnis des skeptischen Philosophen einen festen Ausgangspunkt. Durch den Bezug auf dieses Buch wurde es möglich, Hamanns briefliche Äußerungen zwischen 1756 bis 1759 klar zuzuordnen – und seine Hume-Lektüre erstmals eindeutig zu bestimmen.49 47 Lothar Kreimendahl sieht die Kant- und Hamann-Forschung in einem engen Zusammenhang. Er konstatiert (Kant. Der Durchbruch von 1769. Köln 1990, S. 83f): »Daß eine höhere Gewißheit in diesem Punkt [der Kenntnis des Treatise, T.B.] bei dem gegenwärtig zur Verfügung stehenden Quellenmaterial nicht erreichbar erscheint, mag man beklagen, doch der Philosophiehistoriker hat sich an die überlieferten Quellen zu halten, und diese sprudeln spärlich. Gäbe es aber ein Dokument, daß Kants Kenntnis des Treatise offenkundig schon für den Zeitraum Ende der sechziger Jahre belegte, dann hätte die Kant-Forschung wohl kaum so lange vor dem Rätsel gestanden, wie Humesche Erinnerung, Antinomieproblematik und das große Licht des Jahres 1769 zusammenzubringen seien.« 48 N IV, 235, Anm. 16. 49 Vgl. ausführlich: Brose: Hamann und Hume (wie Anm. 14), bes. S. 331–353. Hans Graubner hat die dargestellten Forschungsergebnisse zur Identifikation von Hamanns früher deutschsprachiger Hume-Lektüre mittlerweile rezipiert – beharrt jedoch auf seiner Annahme einer frühen Treatise-Lektüre. Er macht ergänzend darauf aufmerksam: »In seinen Briefen nennt Hamann Humes Namen erstmals aber schon am 28 May 1755, wenn er an Lindner schreibt: ›Den verlangten Hume sollen Sie mit erster Gelegenheit haben‹ (ZH I, 112,28f). Es ist nicht klar, welches Werk Humes Hamann hier aus der Hand zu geben verspricht. Danach folgt ein Hinweis im Dezember 1755 auf ›den Hume französisch‹ (ZH I, 127,18); hier ist ebenfalls nicht deutlich, welches Werk gemeint ist.« (Graubner : Der Theodizee-Entwurf [wie Anm. 14], S. 262f, Anm. 39).

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Hamann kommt mit dieser Erwähnung Humes auf den zwei Jahre zuvor, also 1754, publizierten I. Band der Vermischten Schriften50 des Antimetaphysikers zu sprechen. Diese Feststellung ist für die Forschung bedeutsam. Denn am 10. 4. 1756 teilt Hamann seinem Bruder in einem Brief mit: »Ich will es [ein Buch, T.B.] mit dem anderen Theil von Hume vermischten Schriften abwechseln, den ich heute erhalten«.51 Der erwähnte »andere Theil«, den der eifrige Leser soeben bekommen hat, lässt sich auf dieser lesebiografischen Grundlage genau bestimmen: Es ist der II. Band der Vermischten Schriften. Die Redeweise, mit der Hamann hier von »dem anderen Theil« spricht, ist ein deutlicher Hinweis. Er bedient sich des bestimmten Artikels, um die Alternative zu dem ersten, in Zusammenhang mit der »Dangeuil«-Beilage studierten Band von Humes Vermischten Schriften auszudrücken. Der erhobene Befund gewinnt durch eine Äußerung Hamanns weitere Evidenz: »Hume habe selbst. Sulzers Anmerkungen sind nichts weniger als überflüßig, aber nicht vollständig genung.«, schreibt er am 1. 6. 1756 an seinen Freund Lindner.52 Weiterhin erklärt Hamann am 3. 7. 1759 nach Erwähnung des II. Teils der Vermischten Schriften: »Da ich den dritten Theil von Hume nicht Gelegenheit gehabt zu bekommen: so ist jetzt Baco mein Philosoph, den ich gleichfalls sehr schmecke.«53 Noch erörterungsbedürftig erscheint im Licht dieser Aussagen die Frage, ob der London-Heimkehrer das englische Äquivalent der Vermischten Schriften II (= Enquiry Concerning Human Understanding bzw. Philosophical Essyas Concerning Human Understanding) ebenfalls zur Hand nimmt, um daraus ohne deutsche Anmerkungen (ohne Sulzer) zu übersetzen.54 Tatsächlich ist auch die Suche nach einer englischen Ausgabe in Hamanns Bücherkatalog erfolgreich. Dort sind die Philosophical Essays Concerning Human Understanding ohne Angabe einer Jahreszahl verzeichnet.55 Da der Titel der Philosophical Essays bekanntlich erst 1758 in Enquiry Concerning Human Understanding (EHU) umbenannt wurde, ist zu vermuten, dass der für Humes Bedeutung schon vor seiner Abreise sensibilisierte Leser die 1748 erschienene, in Deutschland rare Erstausgabe vor ihrer Umbenennung, also möglicherweise während seines London-Aufenthaltes, erworben hat. Der Titel findet sich auch unter Hamanns Büchern: vgl. N V, 264,28–30. An den Bruder, 10. 4. 1756, ZH I, 178,26f. An Lindner, 1. 6. 1756, ZH I, 205,28f. An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 356,27f. Diesen Stand der Forschung referiert Oswald Bayer in seiner monumentalen Untersuchung zur Metakritik (Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 41, Anm. 98): »ZH I, 355,32 (an Lindner am 3. 7. 1759). Hamann zitiert David Hume: An enquiry concerning human understanding (ursprünglich zweibändig: 1748 und 1751).« 55 Vgl. Nora Imendörffer : Johann Georg Hamann und seine Bücherei (Schriften der AlbertusUniversität, Geisteswiss. Reihe 20). Königsberg/Berlin 1938, S. 107. 50 51 52 53 54

»Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb«

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Unter Hamanns Bänden findet sich weiterhin der – im Jahr 1756 gegenüber dem Bruder erwähnte – »andere Theil« [II. Band] der Vermischten Schriften56. Dieser bietet die deutsche Übersetzung der Philosophical Essays (= Philosophische Versuche). Hamanns briefliche Äußerungen von 1756 und 1759 lassen sich damit so aufeinander beziehen, dass sich in Umrissen ein gesichertes Wissen über seine Hume-Kenntnis zur Entstehungszeit der Sokratischen Denkwürdigkeiten abzeichnet: Er war »voll« der Philosophical Essays Concerning Human Understanding (= EHU) bzw. der Philosophischen Versuche (= Vermischte Schriften II)57. Der Schlüssel zur Lösung des bisherigen Forschungsproblems war damit in dieser Richtung zu suchen: Die bisherige Konzentration darauf, Hamann eine frühe Kenntnis des Treatise nachzuweisen58 und diese mit Hilfe seiner Texte zu belegen, ließ sich mit den Tatsachen nicht in Übereinstimmung bringen.

56 Ebd. 57 Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl erklären zum Charakter der Vermischten Schriften (Hume in der deutschen Aufklärung [wie Anm. 2], S. 18): »Unter diesem Titel wurde 1754 bis 1756 in Hamburg und Leipzig eine vierbändige Übersetzung der Essays and Treatise on Several Subjects publiziert, die mit Ausnahme des desavouierten Treatise das gesamte damals vorliegende Oeuvre Humes umfaßten.« 58 Hans Graubner, der sich ausdauernd mit Hamanns früher Hume-Kenntnis auseinandergesetzt hat, meint, eine Nachricht an Jacobi so interpretieren zu müssen, dass der Autor sich im Zusammenhang mit seiner »Sokrates«-Schrift auf das humesche Frühwerk beziehe: »Wenn Hamann an Jacobi 1787 schreibt, er habe die ›Treatise‹ von Hume ›studiert, ehe ich noch die Sokrat. Denkw. schrieb, und meine Lehre vom Glauben eben derselben Quelle zu verdanken‹, so heißt das nicht, er habe seinen Glaubensbegriff dieser Quelle entnommen, sondern ihm sei beim Studium dieser Quelle der Zusammenhang zwischen epistemischer und religiöser Gewißheit aufgegangen.« (Hans Graubner : Erkenntnisbilder oder Bildersprache. Hamann und Hume. In: Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit«. Hg. v. Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 135–155, Zitat S. 142.) In der von dem Germanisten angeführten Briefstelle ist allerdings nirgendwo vom Treatise die Rede. Die fragliche Briefpassage (an Jacobi, 22. 4. 1787, ZH VII 155,26–29) lautet: »Du mußt also Crispus [Crispus bzw. Crispin ist Hamanns Bezeichnung für seinen Vertrauten Christian Jakob Kraus, T.B.] abwarten. Er ist vvus ex professo und kann den Hume auswendig. Ich habe ihn [also Hume, nicht den Treatise, T.B.] studiert, ehe ich noch die Sokr. Denkw. schrieb, und meine Lehre vom Glauben eben derselben Quelle zu verdanken.« Graubner erklärt weiter (Erkenntnisbilder, S. 136): »Hamanns erste Lektüre dieses Werks fällt in seine Hofmeisterzeit in Livland.« Er erbringt dafür jedoch keine philologischen Belege. Hätte Hamann bereits als Hofmeister den Treatise gekannt, wäre zu fragen, warum er über das skeptizistisch endende Frühwerk (THN I, IV, 7) so lange schweigt, diesen kostbaren Wissensschatz nicht mit Vertrauten teilt oder die Erstlingsschrift mit der anders gearteten Enquiry konfrontiert. Es verdient weiterhin Beachtung, dass der junge Hamann, der geistige Großereignisse ausführlich würdigt, nirgendwo ein Wort zur intellektuellen Begegnung mit dem Treatise anklingen lässt. Aber der mikrologische Leser schweigt keineswegs zu Hume, sondern äußert sich offen in seinen Briefen.

162

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2.2.3 Zur Identifizierung eines verschlüsselten Zusammenhangs: »Ich bin mit Humes zweyten Theil fertig, die ich ohne Sulzer gelesen.« Unmittelbar vor der Abfassung seiner »Sokrates«-Schrift teilt der Autor im Sommer 1759 über seine aktuelle Hume-Lektüre an Lindner mit: »Ich bin mit Humes zweyten Theil fertig, die ich ohne Sulzer gelesen. Seine Versuche habe mehrentheils zum Frühstück gelesen, oder wie man bei Remus Schach spielt«.59 In der Forschungsliteratur wurde die Bedeutung des Fertigseins mit »Humes zweyten Teil« und der Lektüre »ohne Sulzer« nicht als ein zu entschlüsselnder Zusammenhang begriffen, der, richtig verstanden, den entscheidenden Hinweis auf Hamanns Referenztext enthält. Der genaue Titel des von Hamann erwähnten »zweiten Teils« lautet: Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntniß von David Hume, Ritter. Als dessen vermischter Schriften zweyter Theil. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet, Hamburg/Leipzig 1755. Damit die nicht offen zutage liegende Verbindungslinie zwischen Hume und Sulzer identifizierbar wird, ist es notwendig, auf Ergebnisse der Hume-Forschung zu rekurrieren. Danach ist Johann Georg Sulzer, der namentlich nicht erwähnt wird, Herausgeber und Verfasser von Anmerkungen/Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln dieser deutschen HumeAusgabe. In der Forschung blieb weiter der Umstand unkommentiert, dass Hamann unmittelbar vor seiner Abfahrt Richtung England neben Moses Mendelssohn auch mit dem Editor der Philosophischen Versuche zusammentrifft. In Berlin lernt er Sulzer im Herbst 1756 persönlich kennen. Der Gelehrte soll den Königsberger dort zur Akademie geführt haben.60 Es liegt nahe, dass Hamann diese Begegnung nutzt, um mit ihm über sein Hume-Verständnis zu sprechen, da er – für den diskutierten Zusammenhang von entscheidender Bedeutung – schon im Sommer 1756 Kenntnis davon besitzt, dass dieser Gelehrte der namentlich nicht genannte Herausgeber des II. Teils der Vermischten Schriften ist. Hamann pflegt den Kontakt zu Sulzer über Jahre hinweg; er bleibt dem angesehenen Akademiemitglied auch nach seiner Heimkehr aus London verbunden.61 59 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 355,25–27. 60 Josef Nadler : Johann Georg Hamann. Der Zeuge des Corpus Mysticum [zit. Zeuge]. Salzburg 1949, S. 71). Nadler bleibt den Beleg für eine Berliner Begegnung zwischen Hamann und Sulzer schuldig. Allerdings lässt sich diese Bekanntschaft erschließen, da Hamann dem Hume-Herausgeber 1760, wie nur wenigen anderen Vertrauten in der Hauptstadt, ein »Exempl. seines Versuches [über eine akademische Frage, T.B.]« schickt: an Lindner, 2. 7. 1760, ZH II, 33,16–18. 61 »Nach B. [Berlin] habe vorige Post einige Exempl. des Versuchs […] an die HE Merian, Sulzer, Rammler, pour mon ami Moyse, le philosophe circioncis und 10 an die Voß. Buchh. geschickt.« (an Lindner, 2. 7. 1760, ZH II, 33,16–18.) Nachdem Hamann gegenüber Nicolai

»Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb«

2.3

163

Die Identifizierung: Hume-Zitate aus den von Johann Georg Sulzer herausgegebenen Philosophischen Versuchen (=Enquiry)

Der Ausdruck »Ich war von Hume voll« bezieht sich, so die auch philologisch zu untermauernde These, exklusiv auf die Enquiry (Philosophical Essays), präziser ausgedrückt: auf die deutsche Ausgabe der Philosophischen Versuche. »Ich bin mit Humes zweyten Theil fertig, die ich ohne Sulzer gelesen. Seine Versuche habe mehrentheils zum Frühstück gelesen, oder wie man bei Remus Schach spielt«62. Die Erwähnung von »Humes zweyten Theil« besagt aufgrund der Quellenlage, dass Hamann hier die gängige deutsche Klassifikation verwendet, die auf das englische Original, die Enquiry (Philosophical Essays), verweist. Bekanntlich hat Hamann Sulzers Versuche, also den II. Band der Vermischten Schriften, schon 1756 besessen.63 Offen bleibt zunächst, was die Wendung »ohne Sulzer gelesen« zu besagen hat. Sie lässt – zumindest theoretisch – offen, ob Hamann auch das in seinem Besitz befindliche englische Original studiert hat. »Seine Versuche habe mehrenteils zum Frühstück gelesen, oder wie man bei Remus Schach spielt.« Bei den in entspannter Atmosphäre gelesenen »Versuchen« handelt es sich wahrscheinlich eher um die Lektüre der deutschen HumeÜbersetzung als um die Beschäftigung mit dem starke Konzentration abverlangenden englischen Original. Aufgrund dieser Sachlage ist nicht von vornherein festzustellen, ob es sich bei den von Hamann brieflich wiedergegebenen Hume-Stellen um eigenständige, freie Übersetzungen aus dem englischen Original handelt oder ob der Briefschreiber aus Sulzers Edition der Philosophischen Versuche zitiert. Diese Fragestellung, einmal gefunden, war auf philologische Weise zu beantworten – und musste durch Recherche geklärt werden. Die an Lindner adressierten Briefauszüge lauten: »I. ›Die letzte Frucht aller Weltweisheit ist die Bemerkung der Menschlichen Unwissenheit und Schwachheit.‹«64 – so bringt Hamann die erkenntnistheoretische Skepsis des Philosophen in seinem Brief zum Ausdruck. Diese Passage ist als Zitat gekennzeichnet. Aufgrund der Architektonik der Enquiry ist zu vermuten, dass es sich hier um einen Gedanken aus dem IV. Kapitel – »Sceptical doubts concerning the operations of the understanding« – handeln kann. Dort findet sich der Satz: »Thus the observation of human blindness and weakness is the result of all philosophy«.65 Der

62 63 64 65

seine Berliner Bekanntschaft mit Moses Mendelssohn – dem »ältesten dortigen Freund« – erwähnt hat, zählt er auf: »Kenne übrigens keine Gelehrten als die HE Prof. Ramler, Sulzer und Merian« (an F. Nicolai, 18. 8. 1776, ZH III, 246,21–23). An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 355, 25–27. Vgl. an den Bruder, 10. 4. 1756, ZH I, 178,26f. An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 355,32f. Lewis Amherst Selby-Bigge / Peter H. Nidditch (Hg.): Enquiries Concerning Human Un-

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Begriff »philosophy« wird zu dieser Zeit bekanntlich mit »Weltweisheit« wiedergegeben. Wer sich unter diesem Gesichtspunkt bei der – anonym – von Sulzer herausgegebenen Übersetzung auf die Suche macht, findet tatsächlich eine Übereinstimmung. In der in Hamanns Besitz befindlichen Ausgabe der Philosophischen Versuche heißt es: »Also ist die Bemerkung der menschlichen Unwissenheit und Schwachheit die letzte Frucht aller Weltweisheit«.66 »II. im Versuch von den Wunderwerken: ›Die christliche Religion ist nicht nur mit Wunderwerken am Anfange begleitet gewesen; sondern sie kann auch selbst heut zu Tage von keiner vernünftigen Person ohne ein Wunderwerk geglaubt werden. Die bloße Vernunft ist nicht zureichend uns von der Wahrheit derselben zu überzeugen; und wer immer durch den Glauben bewogen wird derselben Beyfall zu geben, der ist sich in seiner eigenen Person eines beständig fortgesetzten, ununterbrochenen Wunderwerkes bewust, welches alle Grundsätze seines Verstandes umkehrt, und demselben eine Bestimmung giebt das zu glauben, was der Gewohnheit und Erfahrung zuwieder und entgegen gesetzt ist.«67

Da die erste Stelle als echtes Zitat identifiziert werden konnte, erscheint es sinnvoll, bei der fraglichen Hume-Passage nicht auf das englische Original zurückzugehen, sondern diesmal gleich Sulzers deutsche Ausgabe zu konsultieren. Mit dem »Versuch von den Wunderwerken« ist bekanntlich das X. Kapitel der Enquiry angesprochen.68 Die Spurensuche gestaltet sich dort erfolgreich! In der von Sulzer edierten Ausgabe heißt es: »[…] die christliche Religion sey nicht allein im Anfange mit Wunderwerken begleitet gewesen, sondern sie könne, auch selbst heut zu Tage, von keiner vernünftigen Person ohne ein Wunderwerk geglaubet werden. Die bloße Vernunft ist nicht zureichend, uns von der Wahrheit derselben zu überzeugen; und wer immer durch den Glauben bewogen wird, derselben Beyfall zu geben, der ist sich in seiner eigenen Person eines beständig derstanding (zit.: EHU) and Concerning the Principles of Morals. Oxford 161997, EHU IV, 1 31. 66 Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntniß von David Hume, Ritter. Als dessen vermischter Schriften zweyter Theil. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet, Hamburg/Leipzig 1755 (zit.: Philosophische Versuche), IV, 75. 67 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 356,10–19; in Hamanns Brief an Kant (27. 7. 1759, ZH I, 380,10–18) findet sich eine fast hundertprozentige Übereinstimmung des Wortlauts. Im Schlusssatz des Zitats fügt er noch »am meisten« ein, was Sulzers Vorlage ganz präzise entspricht. 68 Zum Vergleich sei das X. Kapitel der Enquiry angeführt. Hier (EHU [wie Anm. 65], X, 2 131) heißt es: »[W]e may conclude, that the Christian Religion not only was at first attended with miracles, but even at this day cannot be believed by any reasonable person withaut one. Mere reason is insufficient to convince us of its veracity : And whoever it moved by Faith to assent to it, is conscious of a continued miracle in his own person, which subverts all the principles of his understanding, and gives him a determination to believe what is most contrary to custom and experience.«

»Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb«

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fortgesetzten, ununterbrochenen Wunderwerkes bewußt, welche (sic!) alle Grundsätze seine Verstandes umkehret, und denselben eine Bestimmung giebt, das zu glauben, was der Gewohnheit und Erfahrung am meisten zuwider und entgegen ist.«69 Fazit: Hamanns Briefe an Lindner und Kant70 stimmen in den Hume-Stücken fast hundertprozentig überein. Im Kant-Schreiben fügt der Autor sogar »am meisten«71 ein, was der deutschen Hume-Vorlage noch genauer entspricht. Außerdem bietet Hamann im Kant-Brief die schwierigere Lesart: »welche alle Grundsätze seines Verstandes umkehrt«72. Damit gibt er Sulzer ganz präzise wieder – ein deutliches Indiz für die fortgesetzte, intensive Beschäftigung mit dessen kommentierter Ausgabe. Das Ergebnis der knappen Textanalyse fällt eindeutig aus. Hamann ist wörtlich zu verstehen, wenn er gegenüber Kant äußert: »Ich will ihnen eine Stelle abschreiben«.73 Er übersetzt die von ihm angeführten Hume-Stellen nicht aus dem englischen Original, der Enquiry, sondern schreibt den Wortlaut genau aus den von Sulzer herausgegebenen Philosophischen Versuchen ab. Die Übereinstimmung erlaubte nach fast 250 Jahren eine zweifelsfreie Identifikation der angeführten Stücke: Es sind Zitate aus einer deutschen HumeQuelle. Durch die Relecture von Hamanns Briefen wurde eine lange unbemerkt gebliebene Forschungslücke geschlossen.

3.

Hamann deutet Hume theologisch

Als Antimetaphysiker und Kritiker natürlicher Religion wird Hume im Kontext offenbarungskritischer Aufklärung für Hamann zu einer theologisch relevanten Figur. Er hat eine prophetische Mission zu erfüllen.74 Der »Freygeist« soll die 69 Philosophische Versuche (wie Anm. 66), X 297. 70 Im Brief an Kant vom 27. 7. 1759 (ZH I, 380,10–18) lautet Hamanns Hume-Zitat folgendermaßen: »›Die chr. Religion ist nicht nur mit Wunderwerken am Anfange begleitet gewesen, sondern sie kann auch selbst heut zu Tage von keiner vernünftigen Person ohne ein Wunderwerk geglaubet werden. Die bloße Vernunft ist nicht ausreichend uns von der Wahrheit derselben zu überzeugen, und wer immer durch den Glauben bewogen wird, derselben Beyfall zu geben, der ist sich in seiner eigenen Person eines beständig fortgesetzten ununterbrochnen Wunderwerkes bewust, welche alle Grundsätze seines Verstandes umkehrt und demselben eine Bestimmung giebt das zu glauben, was der Gewohnheit und Erfahrung am meisten zuwieder und entgegen ist.‹« 71 Ebd., Z. 18. 72 Vgl. ebd., Z. 16; an Lindner (ZH I, 356,17) schreibt Hamann Sulzers Bezugstext leicht korrigierend ab: »welches alle Grundsätze seine Verstandes umkehrt«. 73 ZH I, 380,6f. 74 Vgl. Hamanns Brief an Kant vom 27. 7. 1759 (ZH I, 380,5f): »Alle[r] seine[r] Fehler ungeachtet ist er [Hume] wie Saul unter den Propheten.«

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selbstherrliche Religionsphilosophie der Aufklärung mit ihren ureigensten Waffen, also den Mitteln der Vernunft, bezwingen. Hume ist für Hamann der konsequente Vollstrecker einer »gesetzlichen« Logik der Vernunft, die sich selbst zugrunde richtet. Der Durchschlagskraft der humeschen Skepsis sicher – Johann Georg Sulzer spricht von einem der »gefährlichsten Zweifler unsrer Zeit«75 – ist der Königsberger Denker in der Nachfolge Luthers davon überzeugt: Die Argumente des »Gesetzesphilosophen« kehrten sich schließlich gegen ihn selbst.76 Der »Eckstein« seines Denkens werde ihm zum »Mühlenstein«. Denn dieser Prophet wider Willen kenne bloß das Gesetz, nicht aber das Evangelium.

3.1

Die »gesetzliche« Logik der Vernunft: Von der Skepsis zur Glaubensgewissheit

»›Die letzte Frucht aller Weltweisheit ist die Bemerkung der Menschlichen Unwißenheit und Schwachheit.‹«77 – zitiert Hamann aus dem IV. Abschnitt der deutschen Enquiry-Übersetzung. Seine Auswahl ist geschickt. Dass es sich hierbei um ein Schlüsselkapitel handelt, unterstreicht auch das angestrengte Bemühen des geplagten Kommentators, die antimetaphysische Skepsis einzudämmen.78 Sulzer sieht in diesem Stück nämlich die Voraussetzungen des wolffschen Vernunftoptimismus fundamental gefährdet. Hamann führt aus: »Derjenige Theil, der sich auf unsere Verstandeskräfte und Erkenntnis beziehet, zeigt uns, wie unwißend, der sittl. wie böse und seicht unsere Tugend ist.«79 Er durchschaut, in welchem Ausmaß Humes Basis-Theoreme aufgeklärtes Philosophieren unterminieren: Einerseits rückt der Skeptiker die menschliche Erkenntnisschwäche ins Licht – aber : Vertrauen in die rationale Erkenntniskraft ist Voraussetzung, um Gottes Existenz (und Eigenschaften) aufzuweisen. Andererseits treibt der Vernunftkritiker die Destruktion metaphysisch begründeter 75 Philosophische Versuche, »Anmerkungen über den vierten Versuch« (wie Anm. 66), S. 91. 76 Hamanns Haltung gegenüber Hume ist zwiespältig. Er gibt zu erkennen, dass er die religions- bzw. christentumskritische Grundhaltung des Antimetaphysikers durchschaut. Darum merkt er angesichts der Sprachursprungsdiskussion (Herder) 1772 beispielsweise ironisch an: Ihm habe »der handveste Glaube eines Voltaire und Hume an diese Theorien ihre evangelische Gewißheit mehr als einmal verdächtig gemacht« (N III, 28,5–7; Ritter von Rosencreuz). 77 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 355,32f. 78 »Weil dieser vierte Versuch das eigentliche Fundament aller künftigen Zweifel und Verwirrung ist, […], so verdient er eine genaue und ausführliche Prüfung.« (Philosophische Versuche, »Anmerkungen über den vierten Versuch« [wie Anm. 66], S. 91.) 79 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 355,32–25.

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Moraltheorie80 voran – aber : Vertrauen in die moralisch-praktische Vernunft gelangt nur an ihr Ziel, sofern der Zusammenhang von Sittengesetz und Glückseligkeit durch die postulierte Erkennbarkeit eines höchst vollkommenen Wesens zu gewährleisten ist. Nach dem auf die Destruktion aller Metaphysik ausgerichteten IV. Kapitel der Enquiry entwirft Hume einen gedanklichen Marshallplan. Er betreibt damit die Grundlegung einer fundamental neuen, auf »belief« gegründeten Weltsicht.81 Wie Descartes auf der Suche nach unumstößlicher kognitiver Sicherheit, setzt Hume sein Vertrauen auf »natürlichen Glauben«. Dieses philosophisch getriebene Gewissheitsstreben, das auf abschüssigem Terrain neuen Halt sucht, beurteilt Hamann zwiespältig. Er kommentiert: »Dieser Eckstein ist zugleich ein Mühlenstein, der alle seine Sophistereyen zertrümmert.«82 Damit ist zweierlei gesagt: Einerseits gebühre Hume das Verdienst, auf philosophischem Weg eine fundamentale Erkenntnis (»Eckstein«) herausgearbeitet zu haben: die begrenzte Reichweite menschlicher Rationalität. Andererseits wirft ihm Hamann vor, er habe aus dieser Erkenntnis nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Darum scheitere der Skeptiker selbst an seiner Einsicht (»Mühlenstein«). Weil er die Aufdeckung menschlicher Erkenntnisschwäche nicht als unmissverständlichen Hinweis begreife, philosophische Denkfiguren grundsätzlich zu überwinden, verwandle sich der »Eckstein« in einen »Mühlenstein«. Vermeintlich gewonnene Sicherheit entpuppe sich – unter den von Hume aufgedeckten Konditionen hilfebedürftiger Vernunft – selbst als haltlos. Vom eigenen Ballast in die Tiefe gezogen, würden »alle seine Sophistereyen zertrümmert«.

80 Hume diskreditiert die klassische Moraltheorie, indem er postuliert: Ein Analogieschluss, der die moralische Vollkommenheit des Schöpfers zu erweisen suche, sei angesichts menschlicher Erkenntnisschwäche nicht zu rechtfertigen. An diesem Punkt stimmen Hamann und Hume überein. Skeptisch gegenüber dem Vermögen spekulativer Vernunft, lehnen die beiden heterogenen Denker eine Beziehung zwischen Welt-Wissen und Glauben, Moralität und Religion ab. Sofern jedoch moralische Attribute Gottes nicht mehr aufweisbar sind, verlieren die von der natürlichen Religion postulierten ethischen Pflichten ihr Fundament. 81 Im Gegensatz zum Treatise, der in philosopischem Zweifel endet, ist die Enquiry schon auf Grundlegung neugewonnener Gewißheit (»natural belief«) hin komponiert: Dies zeigt sich insbesondere in Kap. V. »Sceptical solution of these doubts« und Kap. IX. »Of the reason of animals« (EHU [wie Anm. 65], S. 40; 104). 82 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 355,35f.

168 3.2

Thomas Brose

Der tiefere Sinn von »Glaube«: eine paulinisch-lutherische Perspektive

»›Die christliche Religion ist nicht nur mit Wunderwerken am Anfange begleitet gewesen; sondern kann auch selbst heut zu Tage von keiner vernünftigen Person ohne ein Wunderwerk geglaubt werden. Die bloße Vernunft ist nicht zureichend uns von der Wahrheit derselben zu überzeugen; und wer immer durch den Glauben bewogen wird derselben Beyfall zu geben, der ist sich in seiner eigenen Person eines beständig fortgesetzten, ununterbrochenen Wunderwerkes bewußt, welches alle Grundsätze seines Verstandes umkehrt, und demselben eine Bestimmung giebt das zu glauben, was der Gewohnheit und Erfahrung zuwieder und entgegen gesetzt ist.‹«83 Hamann zitiert seinen Gewährsmann Hume an diesem Punkt gemäß Sulzers Ausgabe der Philosophischen Versuche84. Hume selbst geht es an diesem Punkt um zugespitzte Religionskritik. Hamann dagegen löst die ironische Sentenz aus ihrem ursprünglich intendierten Zusammenhang. Im Anschluss an Martin Luther will er sein theologisches Interpretament des »usus elenchticus legis/rationis« zur Geltung bringen. Gemäß der antithetisch-relationalen Denkfigur von »Gesetz und Evangelium« versucht er, Gesetz und Vernunft zu parallelisieren, um angesichts ihrer Selbstwidersprüchlichkeit Raum für den Glauben zu gewinnen. Aus der Perspektive der Hume-Forschung kritisiert Rudolf Lüthe daher : »While this misunderstanding of Hume’s doctrine is to be regarded as the result of what I would like to call a ›willing suspension of honesty‹ a second major misunderstanding might be due to the fact that some people, Hamann among them, do not understand irony. Hume’s famous final passage in ›Of miracles‹ contains the sentence: ›And whoever is moved by Faith to assent to it (i. e. the belief in miracles) is conscious of a continued miracle in his own person […]‹. Hamann takes this passage as a proof for his idea, that even Hume, the critic of religion and of all belief in wonders, cannot avoid looking at faith as a miracle of the spirit.«85

Lüthe beanstandet, der theologische Denker habe die Intention des Philosophen in ihr Gegenteil verkehrt. Aber sein Vorwurf, diese Art des Umgangs mit einer Geistesgröße lasse – als »willing suspension of honesty« – auf einen Mangel an moralischer Integrität86 schließen, verkennt die unterschiedlichen Ebenen der 83 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 356,10–19; vgl. Philosophische Versuche (wie Anm. 66), X 297. 84 »[W]e may conclude, that the Christian Religion not only was at first attended with miracles, but even at this day cannot be believed by any reasonable person without one. Mere reason is insufficient to convince us of its veracity : And whoever it moved by Faith to assent to it, is conscious of a continued miracle in his own person, which subverts all the principles of his understanding, and gives him a determination to believe what is most contrary to custom and experience.« (EHU [wie Anm. 65], X, 2 131.) 85 Lüthe: Misunderstanding Hume (wie Anm. 4), S. 107. 86 Isaiah Berlin, auf den sich Lüthe beruft (Misunderstanding Hume [wie Anm. 4], S. 106.), vertritt bekanntlich die Auffassung: Der »moralische und geistige Abstand zwischen ihm

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Diskurse, auf denen sich die beiden heterogenen Denker bewegen. Hamann und Hume gehören unterschiedlichen Gesprächskulturen an, sind aber dennoch miteinander verbunden: durch ihre Kritik am Apriorismus aufgeklärter Religionsphilosophie. Dem »Sokrates«-Verfasser ist nicht einfach vorzuwerfen, er habe keinen Sensus für Humes ironischen Ton. Tatsächlich hört der sprachsensible Autor Doppeldeutigkeiten durchaus heraus: »Hume mag das mit einer hönischen oder tiefsinnigen Mine gesagt haben: so ist dies allemal Orthodoxie und ein Zeugnis der Wahrheit in dem Munde eines Feindes und Verfolgers derselben«.87 Weiter ist festzuhalten, dass Hamann mit Humes »belief«-Theorem kein dogmatisch abgesichertes System etablieren möchte. Er bleibt nachdenklich darüber, was »Glaube« eigentlich beinhalte: »Noch weiß ich weder, was Hume, noch was wir beide unter Glauben verstehen. Je mehr wir darüber reden oder schreiben würden, desto weniger würde uns gelingen, diesen Quecksilber fest zu halten – Sat prata biberunt. Glaube ist nicht jedermanns Ding, und auch nicht communicable, wie eine Waare, sondern das Himmelreich und die Hölle in uns. Glauben daß ein Gott sey und Glauben, daß keiner sey ist ein identischer Widerspruch. Zwischen Seyn und Glauben ist eben so wenig Zusammenhang als zwischen Ursache und Wirkung, wenn ich das Band der Natur entzwey geschnitten habe – Incredibile, sed verum.«88

Die Rekonstruktion der Hamann-Hume-Beziehung ergibt folgenden Befund: Sofern der Interpret bereit ist, sich auf Hamanns paulinisch-lutherische Perspektive einzulassen, erscheint seine Indienstnahme humeschen Denkens auf dieser Grundlage weder dunkel bzw. irrational (Unger) noch unmoralisch (Berlin; Lüthe), sondern im theologischen Erkenntniskontext nachvollziehbar und plausibel. Eine ansonsten in Ausweglosigkeit endende Vernunftkritik verlange nach theologischer Überbietung. Darum avanciert Hume für Hamann zu einem Glaubenszeugen wider eigenen Willen. Für den Religionspublizisten besteht kein Zweifel daran, dass der Philosoph nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit wahrnehme. Als Skeptiker, dem die religiöse Dimension des Ganzen verschlossen bleibe, gelange er nur in den Vorhof wahren Wissens. Da dieser dem Vermögen des »natural belief« nur Triviales, nämlich Essen und Trinken zutraue, verschließe er sich einer durch religiösen Glauben eröffneten umfassenden Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis. Diese Überzeugung des Glaubensdenkers schlägt sich in jenem bemerkens[Hume, T.B.] und diesen deutschen Irrationalisten [Hamann und Jacobi, T.B.] hätte kaum größer sein können.« (Berlin: Hume und die Quellen des deutschen Irrationalismus [wie Anm. 7], S. 259). 87 An Lindner, 3. 7. 1759, ZH I, 356,19–22. 88 An Jacobi, 30. 4. 1787, ZH VII, 176,3–11.

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werten Brief an Kant nieder, den er Ende Juli 1759, also unter dem Eindruck seiner Hume-Lektüre, verfasst. Für den hamannschen Umgang mit seinem Königsberger Antipoden aufschlussreich, greift er in dieser Gesprächssituation auf Luthers Denkfigur des »usus elenchticus« zurück.89 Er geht davon aus, dass eine Parallelisierung von philosophischer Vernunft und mosaischem Gesetz auch Kant einzuleuchten vermag. »Der attische Philosoph, Hume, hat den Glauben nöthig, wenn er ein Ey eßen und ein Glas Waßer trinken soll. Er sagt: Moses, das Gesetz der Vernunft, auf das sich der Philosoph beruft, verdammt ihn. Die Vernunft ist euch nicht dazu gegeben, dadurch weise zu werden, sondern eure Thorheit und Unwißenheit zu erkennen; wie das Mosaische Gesetz den Juden nicht sie gerecht zu machen, sondern ihre Sünden sündlicher.«90

In diesem Kommentar schlägt sich Hamanns Wirklichkeitsdeutung nieder : Er verbündet sich mit dem Metaphysikkritiker, weil diese Allianz aus seiner Perspektive die Möglichkeit bietet, Anmaßungen aufgeklärter Vernunft aufzudecken, Scheinwissen zu entlarven und damit die Unabdingbarkeit einer Glaubensentscheidung aufzuzeigen – eine theologisch motivierte Absicht, die seine »Sokrates«-Schrift entscheidend prägt.91 Neben das elenchtische Element tritt ein kritischer Impuls: »Wenn er [Hume, T.B.] den Glauben zum Eßen und Trinken nöthig hat: wozu verleugnet er sein eigen Principium, wenn er über höhere Dinge, als das sinnliche Eßen und Trinken urtheilt.«92 Wie schon im Brief an Lindner greift Hamann auf die Argumentationsfigur zurück, wonach der »belief«-Denker als widerwilliger Prophet Wahrheit verkünde. »Alle[r] seine[r] Fehler ungeachtet ist er wie Saul unter den Propheten.«93 Hamann spricht Hume das Verdienst zu, das Konzept des natürlichen Glaubens entwickelt zu haben. Er konstatiert aber einen gedanklichen Bruch in seiner Anwendung, wenn es um »höhere Dinge« geht. Es erscheint ihm inkonsequent, dass der schottische Autor auf der Ebene der Religion nicht bereit sei, seine Prämissen folgerichtig anzuwenden.94 Konsequent umgesetzt, müsste sich gerade »Glaube« – als ein bewusster Reflexion vorgeordneter Akt des Sinnenwesens Mensch – zuerst auf die Gottesfrage erstrecken.95 89 Noch in seiner Spätzeit charakterisiert er diesen Topos als sein »kurze[s], alte[s] u ewige[s] Glaubensbekenntnis« (an F.H. Jacobi, 16. 1. 1785, ZH V, 326,26). 90 An Kant, 27. 7. 1759, ZH I, 379,30–35. 91 Vgl. Brose: Hamann und Hume (wie Anm. 14), bes. S. 374–439. 92 An Kant, 27. 7. 1759, ZH I, 379,35ff. 93 An Kant, 27. 7. 1759, ZH I, 380,5f. 94 »Wenn Hume nur aufrichtig wäre, sich selbst gleichförmig« (ebd., ZH I, 380,5). 95 Mit seiner Kritik trifft Hamann einen zentralen Punkt: Aufgrund von Inkonsistenzen bietet der humesche Glaubensbegriff Anlass zum Streit innerhalb der Forschung. Rational nicht zu rechtfertigende Grundannahmen würden bekanntlich, so Hume, in der Art einer unabweisbaren Überzeugung (»belief«), erlebt. Natürlicher Glaube erscheint demnach als etwas,

»Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb«

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das dem erkennenden Subjekt widerfährt und nicht seinem Willen unterstellt ist. »Der Denker entwickelt einen Dualismus, der einen skepsisresistenten Bereich alltäglicher Praxis dem Raum philosophischer Reflexion – hier sind stets nur skeptische Resultate zu erwarten – unvermittelbar gegenüberstellt.« (Brose: David Humes geistesgeschichtliche Zäsur [wie Anm. 14], S. 137).

Harald Steffes (Düsseldorf)

Der Genius aus der Wolke. Hamanns Brief an Kant vom 27. 7. 1759 als Keimzelle der Sokratischen Denkwürdigkeiten

Es gibt verschiedene Gründe, den Briefwechsel Johann Georg Hamanns zu studieren. Gerüchteweise sollen seine Briefe leichter zugänglich sein als seine Werke. Dieser Eindruck entsteht vor allem dann, wenn man aufgrund eingeschobener Nebengedanken und häufig sehr pragmatischer Passagen und Nachrichten, die Briefe als weniger »komponiert« wahrnimmt als die Werke und ihnen folglich eine weniger gezielte Autorintention unterstellt. Die Briefe erfreuen sich auch deshalb vieler Leser, weil sie biographisches Material und immer wieder Hinweise zur Interpretation der Schriften liefern. Auch erlauben sie zuweilen systematische Rekonstruktionen von Rezeptionszusammenhängen, da der Magus im Briefwechsel deutlich großzügiger mit Nachweisen seiner Lektüren umgeht als in den gedruckten Opera. All dies ist bekannt, gilt auch für zahlreiche andere Autoren, kann exemplarisch an etlichen Briefen Hamanns gezeigt werden und soll anhand desjenigen an Kant vom 27. 7. 1759 auch andeutungsweise geschehen. Dabei soll kein durchgehender Kommentar erstellt werden. Stattdessen liegt der Akzent auf bestimmten Kontextualisierungen. Diese erfolgen durch Hinweise vor allem auf solche Referenztexte, die bislang in der Hamannforschung meines Wissens kaum oder noch gar nicht ernsthaft befragt worden sind. Zugleich soll die Eigenständigkeit des Briefes betont werden. Denn vor allem sind die Briefe des Magus selbständige Sprachhandlungen mit ganz eigenen Strategien. Das heißt: sie haben Werkcharakter. Die Beachtung dieser Strategien lässt die Briefe zu mehr werden als nur zu Quellen zur Erschließung der Genese von beispielsweise den Sokratischen Denkwürdigkeiten. Der zur Debatte stehende Brief ist zwar eine reiche Fundgrube für die Untersuchung einzelner Motive, aber er ist eben noch mehr : Er ist eine hermeneutische Sonde, die dazu verhilft, gerade in der etwas anders gelagerten Strategie des Briefes auch eine Stoßrichtung der Denkwürdigkeiten in den Blick zu bekommen. Dies soll in den folgenden drei Schritten geschehen:

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Harald Steffes

1. Ein erster Blick auf den Brief vom 27. Juli 1759 versucht die bekannten biographischen Hintergründe zu umreißen. Insbesondere die ›Regieanweisung‹: »Sind Sie Socrates und will Ihr Freund Alcibiades seyn: so haben Sie zu Ihrem Unterricht die Stimme eines Genii nötig. Und diese Rolle gebührt mir …«,1 erlaubt Rückschlüsse auf Hamanns Selbstverständnis während der Zeit der Abfassung. 2. Der Schlusscento, so man in einem Brief von einem solchen reden will, vertieft das Selbstverständnis, das sich in jenem Eingangspassus angedeutet hat. Dabei bedient sich der Magus einiger literarischer Strategien, die so gezielt eingesetzt sind, dass dieser Brief einen sehr eigenständigen Charakter bekommt. 3. Diese Strategien des Briefes dokumentieren sich in Schreibhaltungen, die sich im Schlusscento bündeln. Vielleicht kann ein Blick auf den inneren Zusammenhang dieser Schreibhaltungen ein Doppeltes wahrscheinlich machen: So sehr der Brief manchen Gedanken der Sokratischen Denkwürdigkeiten in nuce bereits enthält, so sehr ist er eben auch ein eigenständiger Sprachgestus, mit dem Hamann besondere Akzente setzt.

1.

Ein erster Blick auf den Brief vom 27. Juli 1759

Die historischen Hintergründe dieses ältesten überlieferten Briefes Hamanns an Kant sind einigermaßen rekonstruierbar. Nach Hamanns Londoner Lebenswende kam es bekanntlich zu einer Entfremdung im Verhältnis zu einigen aufgeklärten Zeitgenossen, insbesondere in demjenigen zu Johann Christoph Berens. Als dieser im Juni 1759 in Familienangelegenheiten nach Königsberg kommt, gelingt es ihm, auch den Magister Kant in seinen Versuch einzubeziehen, den Freund zur gesunden Vernunft zurückzubekehren.2 Hamann selbst berichtet seinem Bruder von einem »bäurisch Abendbrodt« mit Berens und Kant in einer Windmühle.3 Dem hier näher zu betrachtenden Brief ist zu entnehmen, dass es auch zu einem Besuch des Gespannes Berens und Kant in Hamanns »Einsiedlerey« gekommen war. Es wurde ein »Colloquium« verabredet, bei dem Hamann mutmaßlich weiter seinen Standpunkt hätte darlegen sollen. Der Magus verzichtet jedoch auf dieses Gespräch zugunsten unseres Briefes. Welchen Stellenwert diese Begegnungen im Verhältnis Hamanns zu Kant haben, lässt sich schwer einschätzen. Einerseits ist klar, dass man sich in Kö1 ZH I, 373,28f. 2 ZH I, 398,28ff. 3 ZH I, 362,14ff.

Der Genius aus der Wolke

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nigsberg immer wieder schon zuvor begegnet war. Für den Sommer 1756 z. B. belegen dies verschiedene Notizen.4 Auch waren Kant und Hamann beide Schüler Martin Knutzens. Beide gehörten wohl (wie auch Lindner und Lauson) zu Knutzens physico-theologischer Gesellschaft5, deren Hamann in den Gedanken über meinen Lebenslauf6 gedenkt. Der Magus hat manches von Kants frühen Publikationen wahrgenommen und bittet seinen Bruder, ihm Kants Arbeiten zu besorgen7, vor allem seine erste Dissertation. Auf Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, 1755 anonym erschienen, wird in den Sokratischen Denkwürdigkeiten angespielt. Andererseits lässt sich aus diesen Data keine Verhältnisbestimmung der beiden Denker für die Zeit vor Juli 1759 vornehmen. In jedem Fall beginnt also spätestens mit diesem ›Bekehrungsversuch‹ und dem daraus resultierenden Brief das intensivere Gespräch zwischen den beiden Königsbergern. Und dieses Gespräch beginnt mit einem Paukenschlag. Hamanns Zeilen an Kant, immerhin acht Druckseiten, sind in einem gleichermaßen kämpferischen wie werbenden Ton gehalten. Kämpferisch in der Sache. Werbend um Verständnis für die eigene Position und um die Gunst des gemeinsamen Freundes Johann Christoph Berens. Ob auch um die Sympathie Kants geworben wird, oder ob er gerade auf Distanz gehalten werden soll, muss offen bleiben. Drei Wochen nach diesem Brief berichtet Hamann J.G. Lindner von den Ereignissen, und nennt den Kantbrief eine »Granate, die aus lauter kleinen Schwärmern bestund«8. Im selben Brief berichtet er, dass er den Anfang gemacht hat »zu einem kleinen Aufsatz über einige Denkwürdigkeiten in Sokratis Leben«9. Die Charakterisierung des Briefes an Kant als »aus lauter kleinen Schwärmern« bestehende »Granate« ist treffend. Eine Betrachtung wird sich bemühen, das Licht einiger ausgewählter Schwärmer erneut zum Leuchten zu bringen. Sie kann aber auch versuchen, eine mögliche Stelle zu lokalisieren, an der die Granate zur Explosion kommt. Die Frage ist, ob diese mit der Veröffentlichung der Sokratischen Denkwürdigkeiten erfolgt, ob mithin der Brief an Kant eine Art Vorstufe zu jenen ist, oder ob er eine ganz eigene Wirkung hat. Die enge thematische und zeitliche Verbundenheit jedenfalls ist offensichtlich. Hier wie da geht es um Sokrates, hier wie da wird den Götzen der Kampf angesagt.10 Beide Texte sind in einem »mimischen Styl« abgefasst11, beide neh4 ZH I, 224,15f und 226,15. 5 Vgl. Hans Graubner : Physikotheologie und Kinderphysik. Kants und Hamanns gemeinsamer Plan einer Physik für Kinder in der physikotheologischen Tradition des 18. Jahrhundert. In: Acta 1988, S. 117–145, hier S. 124f. 6 Londoner Schriften, S. 321. 7 ZH I, 191,6ff. Hamann nennt Kant hier einen »fürtrefl. Kopf«. 8 ZH I, 398,37–399,1. 9 ZH I, 400,15f. 10 ZH I, 381,1; vgl. N II, 59,9; 62,20; 77,8 u. ö. 11 ZH I, 378,24f; vgl. N II, 61,17.

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men auf ihre Weise teil am europäischen Diskurs über das Wesen des Genies. Hier wie da geht es um die Begrenzung der Reichweite der Vernunft, wenn es um die Erfassung der Wahrheit geht. Beide Male wird darauf insistiert, dass die Wahrheit niemals nackt begegnet, sondern eingekleidet. Auch unscheinbarere Motive wie die jeweilige Nennung Peter des Großen fallen auf.12 Diese und zahlreiche andere Parallelen haben dazu geführt, dass in aller Regel unser Brief gleichsam als Vorspiel der Sokratischen Denkwürdigkeiten verstanden wird. So schreibt z. B. Arthur Henkel: [Der] »Brief erlaubt einige Rückschlüsse auf die Themen des Dreiergesprächs, wie er zugleich die platonisierende und aristophanisierende Szenerie entwirft, auf der bald darauf die Sokratischen Denkwürdigkeiten sich ereignen werden, das Spiel in der Sokrates-Maske mit dem Publicum, als Niemand, dem Kundbaren und den Zween«13.

Henkel bezieht sich dabei auf den zweiten Absatz des Briefes. Nachdem der Magus im ersten Absatz Kant einerseits als »Nebenbuler« um die Gunst von Berens bezeichnet, und ihn gleichermaßen versichert, dass er ihm das nicht zur Last legt, verschiebt er das Bild für jene Dreierkonstellation im zweiten Absatz gewaltig. Stünde bei der Rede von Buhler und Nebenbuhler zwangsläufig der zweifach umworbene Berens im Mittelpunkt, so wird er im folgenden Bild kraftvoll an den Rand gerückt: Sind Sie Socrates und will Ihr Freund Alcibiades seyn: so haben Sie zu Ihrem Unterricht die Stimme eines Genii nötig. Und diese Rolle gebührt mir, ohne daß ich mir den Verdacht des Stolzes dadurch zuziehe – Ein Schauspieler legt seine Königliche Maske, seinen Gang und seine Sprache auf Stelzen ab; so bald er den Schauplatz verlässt – Erlauben Sie mir also, daß ich so lange Genius heißen und als ein Genius aus einer Wolke mit Ihnen reden kann, als ich Zeit zu diesem Brief nöthig haben werde.14

Wenn der Genius, das Daimonion, mit Sokrates redet, hat Alkibiades zu schweigen. Und wenn Sokrates seinen Lieblingsschüler unterrichten will, so ist er wiederum zunächst auf die Unterstützung des Genius angewiesen. Wie das? Und vor allem: welcher Alkibiades ist eigentlich genau gemeint? Welche Charakterzüge und Begebnisse verbinden Briefschreiber und Leser mit der Nennung dieses Namens? Spielt der Magus hier auf den Alkibiades an, der im Symposion die tiefste Einsicht in das Wesen des Sokrates hat? Mit Sicherheit nicht. Hamann hat einen anderen Dialog im Blick. Dieser ist ihm im Jahr 1759 per Zufall in die Hände gefallen und hat ihn so beeindruckt, dass er ihn drei Zeitgenossen ans Herz legt, zweien davon, indem er ihnen sein Exemplar ausleiht. Bei dem Dialog handelt es sich um den (pseudoplatonischen) Alkibiades. 12 ZH I, 377,7; vgl. N II, 62,7. 13 Arthur Henkel: Online-Kommentar zum Brief. 14 ZH I, 373,28–34.

Der Genius aus der Wolke

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Die beiden Leser sind Johann Christoph Berens und Immanuel Kant. Am 22. Juni 1759 schreibt Hamann an Lindner. Fast am Ende des Briefes berichtet er von der Rückkehr Berens’ nach Königsberg und von seiner ganz persönlichen Begrüßungsgeste: HE.[rr] B.[erens] ist vorige Woche angekommen. Ich habe ihn weder den ersten noch zweyten Jahrmarktstag zu Hause finden können. Mein Vater hat ihn begegnet, dem er versprochen uns zu besuchen; das will ich also abwarten. Ich fand hier von ungefehr eine Uebersetzung eines platonischen Gesprächs zwischen Sokrates und Alcibiades über die Menschliche Natur ; das ich ihm zu lesen gebracht, weil die jetzigen Conjuncturen darin sehr genau mitgenommen sind.15

Im Jahr 1755 war eine Übersetzung des pseudoplatonischen Alkibiades I unter dem Titel Lehrreiches Gespräch über die Menschliche Natur in Leipzig erschienen. Eine leichte bibliographische Unklarheit besteht darin, ob hier – wie in anderen Ausgaben – auch der deutlich kürzere Alkibiades II beigegeben ist.16 Wie dem auch sei: das Buch kursiert und Berens soll den Dialog lesen, weil die »jetzigen Conjuncturen«, also die gegenwärtigen »Begebnisse, Zufälle, Beschaffenheit und Umstände der Zeit«17 darin »sehr genau mitgenommen sind«. Inwiefern? Und wie ist das Ende dieses Briefes zu verstehen? Neben den üblichen Grüßen beschließt ihn ein merkwürdiger Satz: »Leute, die wißen, warum sie niesen, danken auch für den Seegen.«18 Zum »Niesen« komme ich später, zu den »Conjuncturen« direkt: Worum geht es im ersten und zweiten Alkibiades? Welche Rollenanweisung verbirgt sich hinter Hamanns Zuordnung von Alkibiades/Berens und Sokrates/Kant? Sokrates ist dem Alkibiades gedanklich weit überlegen. Gewisse Dinge kann er ihm beibringen beziehungsweise maieutisch entlocken. Das führt immerhin dazu, dass am Ende des Dialogs Alkibiades den Vorschlag unterbreitet, die Rollen zu tauschen. Von nun an will er derjenige sein, der sich dem Sokrates zuwendet und sich um Gerechtigkeit kümmert. Fraglich ist allerdings, ob damit schon etwas gewonnen ist. Denn der Dialog hatte erwiesen, dass es eben nicht die Absichtserklärungen des Alkibiades oder eines anderen Menschen sind, die etwas bewirken, sondern der Einfluss Gottes. Dieser Einfluss auch und vor allem 15 ZH I, 353,6–12. 16 Zuweilen wird der Titel auch als Platos lehrreiches Gespräch über die Menschliche Natur angegeben. Der Übersetzer ist mutmaßlich Christian Friedrich Günther. Ob hier der deutlich kürzere Alkibiades II beigegeben ist, ließ sich nicht ermitteln. Der Umfang des Druckes wird mit 112 Seiten angegeben. Neuere Ausgaben benötigen für beide Texte zusammen ca. 80 Seiten. Nora Imendörffer : Johann Georg Hamann und seine Bücherei. Königsberg 1938, S. 100, verzeichnet Platos lehrreiches Gespräch von [!] der Menschlichen Natur und identifiziert den Glogauer Druck als Alcibiades I. 17 So die Erklärung Zedlers zu »Conjuncturen«, Bd. 6, 980. 18 ZH I, 353,20f.

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in Gestalt des Daimonions bleibt die conditio sine qua non. Zu Beginn des Dialogs erklärt Sokrates, dass er lange Zeit nicht das Gespräch zu Alkibiades suchen konnte, weil sein Daimonion dagegen war. Am Ende fragt Sokrates den sich seiner Nichtswürdigkeit nunmehr bewusst gewordenen Alkibiades, ob er denn wisse, wie er von seinem jetzigen Zustand loskomme. Auf die Frage nach dem »wie« gibt Alkibiades eine vertrauensvolle und dennoch falsche Antwort: Alkibiades: Wenn d u willst, Sokrates. Sokrates: Das heißt nicht wohl gesprochen, mein Alkibiades. Alkibiades: Nun, wie soll ich denn sprechen? Sokrates: Wenn G o t t will.19

Das ist der Hintergrund für Hamanns Regieanweisung. Sokrates/Kant kann Alkibiades/Berens nicht unterrichten, wenn der Genius/Hamann nicht hilft: »Sind Sie Socrates und will Ihr Freund Alcibiades seyn: so haben Sie zu Ihrem Unterricht die Stimme eines Genii nötig. »20 Im Rahmen dieser Einschränkung, der Abhängigkeit des Sokrates von seinem Gott, der ihm in Gestalt des Genius beisteht, kann Sokrates einige Themen anschneiden, deren Bedeutung für das Gespräch zwischen dem Magus und den Zween evident ist. So bescheinigt Sokrates seinem Schüler, dass er an der einzig wirklich gefährlichen Form des Nichtwissens leidet, der Doxosophia. Diesem Wissensdünkel rückt Hamann in den Denkwürdigkeiten bekanntlich scharf zuleibe. Zwar lehrt Sokrates den Alkibiades vor allem dem delphischen Spruch »Erkenne dich selbst« zu vertrauen. Aber er macht wie der Autor der Londoner Brocken deutlich, dass zur Selbsterkenntnis notwendig die Gotteserkenntnis und die Erkenntnis des Gegenübers hinzugehören: Sokrates: Blickt einer […] auf alles von göttlicher Art, so erkennt er Gott und das Wirken der Vernunft und eben damit erkennt er am sichersten auch sich selbst.21

Wer dieser Selbsterkenntnis teilhaftig wurde, ist in der Lage für das Seinige zu sorgen. Diesbezüglich setzt Sokrates zwei Akzente, die dem Magus wohl nicht unsympathisch waren. Zum einen betont er, dass echte Freundschaft eine Einheit der Denkungsart voraussetzt, die nicht möglich ist hinsichtlich solcher Dinge, die einer von zweien versteht, der andere aber nicht. Dennoch handeln beide recht, wenn jeder das Seinige tut. Keiner wird gezwungen, gegen den derzeitigen Stand seiner Erkenntnis oder Selbsterkenntnis zu handeln. Zugleich aber wird eine gewich19 Ich zitiere die beiden Alkibiades nach der leicht zugänglichen Übersetzung von Otto Apelt in: Platon. Sämtliche Dialoge […]. Hg. v. Otto Apelt. Hamburg 2004, hier S. 212f. 20 Das könnte heißen: Kant kann Berens den Sinneswandel Hamanns nicht begreiflich machen. Dazu müsste dieser selbst befragt werden. 21 A.a.O.

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tige Differenz eingeführt: »Es ist eben allem Anschein nach nicht dieselbe Kunst, durch die man für sich selbst und durch die man für das Seinige sorgt.«22 Das kann und soll wohl heißen: Es mag Situationen geben, in denen ein Mensch für sich selbst sorgt, obwohl er das Seinige, seinen Besitz, sein Ansehen etc., vernachlässigt. Eingeleitet wird der Gesprächsgang über das »Für-sich-selbst-Sorgen« mit einigen Einschärfungen, die unmittelbaren Eingang in Hamanns Briefwechsel gefunden zu haben scheinen: Alkibiades: Ach, bei den Göttern, mein Sokrates, ich weiß selbst nicht mehr was ich rede. Es ist ein ganz erbärmlicher Zustand, in dem ich mich befinde, und ich hätte mir das längst klar machen sollen. Sokrates: Nur nicht verzagt. Denn hättest du erst im fünfzigsten Jahre dies dein Leiden wahrgenommen, dann wäre es schwer noch für Abhilfe zu sorgen; aber jetzt stehst du gerade in dem Alter, in dem man so etwas merken muß. Alkibiades: Und wer es gemerkt hat, mein Sokrates, was muß der tun? Sokrates: Antwort geben auf das, was man dich fragt, mein Alkibiades, und wenn du dem folgst, so wird das mit Gottes Hilfe, sofern mich auch die wahrsagende Stimme in meinem Innern nicht völlig trügt, uns beiden, dir und auch mir, zur Besserung verhelfen.23

Sokrates und Alkibiades, alle »zween«, sind also nach Auffassung des Genius auf dem Weg der Besserung. Drei Voraussetzungen sind allerdings zu erfüllen. Zum einen muss der eigene erbärmliche Zustand anerkannt werden. Zum zweiten muss dies im rechten Alter geschehen. Und zum dritten erfolgt die Besserung zuerst und zunächst dadurch, dass man Antwort gibt auf das, was man gefragt wird. Wenn es aber ein rechtes Alter gibt, zur Selbsterkenntnis zu kommen, und wenn dies vor dem 50. Lebensjahr liegt, warum nennt dann der Magus Berens im Kantbrief einen alten Mann?24 Möchte er im Sinne einer paradoxen Intervention eine Gegenreaktion herausfordern, nämlich den Beweis, dass Berens sehr wohl noch in der Lage zu einem Gesinnungswandel ist? Dann aber müsste dieser der Briefempfänger sein. Oder aber Hamann geht davon aus, dass Kant den Brief auch Berens zur Lektüre überlässt. Nahe liegend ist aber auch die Lesart, dass Alkibiades nicht mehr aufgrund seiner jugendlichen Schönheit zu lieben ist, sondern nur noch durch aufrichtige Verbundenheit. Auch dies wäre ein klares Signal an Berens, die lange währende Freundschaft nicht einfach über Bord zu werfen. Ähnlich dicht ist das Netz der Zusammenhänge zwischen dem zweiten 22 A.a.O., 198. 23 A.a.O., 196. 24 ZH I, 374,32.

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Alkibiades und der Gesprächslage Berens – Kant – Hamann. Es handelt sich um einen Dialog, der aporetisch bleibt und bleiben muss, bevor und sofern nicht eine göttliche Macht eingreift. Sokrates rät dem Alkibiades zu Geduld, bis die Zeit gekommen sein wird, da er über das Wesen Gottes letzte Klarheit bekommen kann. Alkibiades will natürlich Genaueres wissen: Wann wird diese Zeit kommen, mein Sokrates? Und wer soll mein Lehrer sein? [Sokrates antwortet:] Der, dem dein Wohl am Herzen liegt. Aber der Fall liegt hier, wie es scheint, so wie beim Diomedes, dem, wie Homer sagt, Athene erst den Nebel von den Augen nehmen mußte.25

Das bedeutet: Ohne den entsprechenden Beistand, kann Sokrates den Alkibiades nicht belehren. Mit den Worten des Kantbriefes in dem auch die »Nebel« an anderer Stelle zu ihrem Recht kommen26 : »Sind Sie Socrates und will Ihr Freund Alcibiades seyn: so haben Sie zu Ihrem Unterricht die Stimme eines Genii nötig.« Was aber ist das Thema, das Alkibiades und Sokrates in Alkibiades II besprechen, bevor Alkibiades vertröstet wird auf den göttlichen Beistand? Sokrates trifft Alkibiades, als dieser ein Opfer darbringen will. Bald diskutieren sie die Frage, ob Raserei wirklich das Gegenteil von Vernünftigkeit ist. Im Laufe des Gespräches kommt man dann auf das Phänomen der Unwissenheit zu sprechen. Und wer sich schon bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Raserei und Vernünftigkeit an die Sokratischen Denkwürdigkeiten und die Wolken erinnert fühlte, der glaubt beim Votum des Sokrates zur Frage der Unwissenheit nun vollends Hamann selbst zu hören: Vielleicht, mein Bester, würde ein Mann von höherer Einsicht als ich und du sagen, wir täten nicht recht, so schlechthin die Unwissenheit zu tadeln, sondern müssten wenigstens hinzusetzen, daß die Unwissenheit in manchen Dingen und für gewisse Leute unter gewissen Umständen heilsam sei.27

Wenn also Unwissenheit heilsam sein kann, dann wäre doch eine Schrift denkbar, die den allzu wissenden Zeitgenossen in Form von das überflüssige oder gar falsche Wissen abführenden Pillen zu Hilfe kommt? Und wenn gar Sokrates und Alkibiades auf jemanden warten müssen, der von »höherer Einsicht« her die Unwissenheit betrachtet, wäre dann nicht vielleicht ein Genius ein geeigneter Kandidat? Und dieser Genius würde mit Paulus (1Kor 8,2f) die Bedeutung der Unwissenheit betonen: »So jemand sich dünken läßt, er wisse etwas,

25 Alkibiades der Zweite (wie Anm. 19), S. 249. 26 Zum Motiv des Nebels: ZH I, 376,18ff und Anmerkung 61. 27 Alkibiades der Zweite (wie Anm. 19), S. 238.

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der weiß noch nichts, wie er wissen soll. So aber jemand Gott liebt, der wird von ihm erkannt.«28 Nachdem Hamann im Oktober 1759 auch seinen Freund Lindner auf den kleinen pseudoplatonischen Dialog hinweist29, ist dann im Dezember noch einmal Kant an der Reihe, der offensichtlich mehr als nur einen bibliographischen Hinweis von Hamann bekommen hatte. In jenem Brief, in dem Hamann auch auf das gemeinsame Projekt der Kinderphysik zu sprechen kommt, zieht er einen interessanten und aufschlussreichen Vergleich und kommt dabei auch noch einmal auf den Julibrief zu sprechen: Ich sage es Ihnen mit Verdruß, daß Sie meinen ersten Brief nicht verstanden haben; und es muß doch wahr seyn, daß ich schwerer schreibe, als ich es selbst weiß, und Sie mir zugeben wollen. Es geht meinen Briefen nicht allein so, sondern mit dem platonischen Gespräch über die Menschl. Natur kommen Sie auch nicht fort. Sie saugen an Mücken und sch[l]ucken Kamele. Steht nicht drinn geschrieben und ist es nicht gründlich genung bewiesen, daß keine Unwissenheit uns schadet?30

Es ist also deutlich mehr als eine Laune des Augenblicks, wenn der Magus zu Beginn des ersten Kantbriefes jene Szenerie umreißt, in der er selbst als Genius den »Zween« gegenübersteht. Warum sich Hamann als Genius zur Verfügung stellt, kann man bei Plutarch nachlesen. In dessen kleiner Abhandlung über den Genius des Sokrates, auf die der Magus 1759 zuweilen anspielt, heißt es, dass jedem Genius eine andere Seele zugeteilt ist, die er zu retten hat.31 Zum Genius des Sokrates im Speziellen führt Plutarch aus, dass eine der möglichen Interpretationen dieses Phänomens darin besteht, dass den Sokrates zuweilen ein besonderes Niesen befiel, das ihn davor zurückhielt, einen Fehler zu begehen. Dieses Niesen rettet also. Darum gilt: »Leute, die wißen, warum sie niesen, danken auch für den Seegen.«32 Aber nicht jeder, dem Hilfe angedeihen soll, ist dafür dankbar. Das gilt besonders dann, wenn nicht klar ist, wer eigentlich von wem Hilfe empfangen muss. Zuweilen wird die Weigerung desjenigen, der keine guten Ratschläge annehmen will, gar als Stolz interpretiert. Dies ist nun ein besonders interessantes Motiv im Zusammenhang mit Kant: Sind Sie Socrates und will Ihr Freund Alcibiades seyn: so haben Sie zu Ihrem Unterricht die Stimme eines Genii nötig. Und diese Rolle gebührt mir, ohne daß ich mir den Verdacht des Stolzes dadurch zuziehe. 28 29 30 31

N II, 74. ZH I, 428,34. ZH I, 451,13–19. Plutarch: Ueber den Genius des Sokrates. In: Moralisch-philosophische Schriften. Übersetzt von Johann Friedrich Salomon Kaltwasser. Band IV. Wien/Prag 1797, S. 382–459, hier S. 444. 32 ZH I, 353,20f.

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Das Thema des Stolzes wird dann am Ende des Julibriefes, vor allem in jenem schon zitierten Dezemberbrief vertieft. Wir aber wollen im Sommer dieses Jahres verweilen: Die Kraft der Trägheit und die ihr entgegengesetzt scheinende Kraft des Stolzes, die man durch so viel Erscheinungen und Beobachtungen veranlasset worden in unserm Willen anzunehmen, bringen die Unwissenheit, und die daraus entspringende Irrthümer und Vorurtheile nebst allen ihren schwesterlichen Leidenschaften hervor.33

Diese Zeilen aus dem 1. Abschnitt der Sokratischen Denkwürdigkeiten könnten die Vermutung nahe legen, dass Berens und Kant zwei Vorwürfe an Hamann richteten: zum einen den des Stolzes, zum anderen den der Trägheit.34 Die Pointe 33 N II, 66,20–24 [Hervorhebung HS]. 34 Der im Laufe des Jahres vor allem im Gespräch mit Kant aber auch in den Sokratischen Denkwürdigkeiten immer wiederkehrende Zusammenhang von Stolz und Trägheit ist bei einem anderen Autor in sehr eindrücklicher Art und Weise entfaltet. Im Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne inszeniert kein anderer als Pascal eine Konstellation, die wir an dieser Stelle weder entfalten noch völlig unerwähnt lassen wollen. Die Nähe zu Hamanns Gesprächskonstellation ist jedenfalls verblüffend, besonders wenn man den Schlusscento des Briefes analysiert. Pascal erläutert, warum gerade Epiktet und Montaigne seine bevorzugten Autoren sind. Diese Begründung ist auch notwendig, denn es liegt auf der Hand, dass die Thesen eines Stoikers zu denjenigen eines Skeptikers zwangsläufig immer wieder in Widerspruch geraten müssen. Die Widersprüche beginnen aber bereits früher, wie es im Blick auf Montaigne geäußert wird: »Ich gestehe Ihnen, Monsieur, ich kann nicht ohne Freude sehen, wie bei diesem Autor die hochmütige Vernunft mit ihren eigenen Waffen so unausweichlich gedemütigt wird« (Blaise Pascal: Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne. In: Pascal. Ausgewählt und vorgestellt von Eduard Zwierlein. München 1997, S. 165). Auch Epiktet hat seine Schwächen, aber sie scheinen die Fehler Montaignes ausgleichen zu können: »Indem Epiktet […] die Trägheit bekämpft, führt er zum Stolz, und daher kann er jenen sehr schädlich sein, die nicht von der Verderbnis selbst der vollkommensten Gerechtigkeit überzeugt sind, wenn diese nicht aus dem Glauben kommt. Und Montaigne ist ganz und gar unheilvoll für jene, die eine gewisse Neigung zur Gottlosigkeit und zu den Lastern haben. Darum muß eine derartige Lektüre mit großer Sorgfalt, Mäßigung und Rücksicht auf die Stellung und die Sitten jener, denen man sie anrät, geregelt werden. Es scheint mir lediglich, wenn man die Lektüre des einen und des anderen miteinander verbindet, so könnte das nicht allzu übel ausgehen, weil die Lektüre des einen sich der Schädlichkeit des anderen widersetzt: nicht, daß sie zusammen Tugend geben können, doch sie können immerhin Verwirrung stiften, wenn man den Lastern ergeben ist: Die Seele wird ja von diesen Gegensätzen bedrängt, deren einer den Stolz und der andere die Trägheit vertreibt; und durch ihre Überlegungen kann sie keine Ruhe bei einem dieser Laster finden und auch nicht vor ihnen allen fliehen.« (ebd., S. 171f) Pascal legt dar, wie beide Autoren zu falschen Schlüssen kommen, weil sie jeweils die Natur des Menschen verkennen, da sie ihn ontologisch zu fassen suchen und nicht historisch reflektieren. Soll heißen: sie beschreiben den Menschen ohne Berücksichtigung des Sündenfalls: »Wie mir scheint, besteht die Quelle der Irrtümer dieser beiden Philosophenschulen darin, nicht gewußt zu haben, daß der gegenwärtige Zustand des Menschen sich von jenem seiner Schöpfung unterscheidet; derart, daß der eine gewisse Spuren der ursprünglichen Größe des Menschen bemerkt und dessen Verderbnis verkannt hat, und deshalb hat er die Natur so behandelt, als sei sie gesund und brauche keinen Heiland, was ihn auf den Gipfel des Hochmuts führt; der andere hat um-

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im Rahmen der Denkwürdigkeiten wird sein, dass es verschiedene Formen des Stolzes und der Trägheit zu unterscheiden gibt, je nach dem Kontext in dem sie erscheinen. Was im Rahmen der Natur (als Hochnäsigkeit) zu kritisieren ist, kann im Stand der Gnade geradezu eine Auszeichnung der Standhaftigkeit sein. Diese Differenz zwischen Natur und Gnade wird der Magus in seinem Brief an Kant durch zwei biblische Texte inszenieren. Während der Turmbau zu Babel davon erzählt, wie Verständigungsversuche zwischen den Menschen auf der Grundlage ihrer postlapsarischen Natur im Chaos enden, erzählt die Pfingstgeschichte von der heilsamen Einwirkung der Gnade. Die beiden Texte sind in den Schlusscento des Julibriefes eingewoben, in dem auch Pope begegnet. Pope gilt schon früh als einer der Lieblingsdichter Kants. Hume sollte es bekanntlich erst etwas später werden. Und somit beweist der Magus ein sicheres Gefühl für den Geschmack seines Bekehrers, wenn er auf der letzten Seite seines ersten Briefes an ihn sowohl Hume als auch Pope zu Worte kommen lässt. In diesen Schlusscento sind dann neben jenen beiden biblischen Texte auch Anspielungen auf zwei Fabeln mit eingewoben.

2.

Der Schlusscento

Wie so oft bei Hamann findet sich gerade im Schlusscento ein Schlüssel für das Verständnis des Ganzen. Von hier fällt auch noch einmal ein besonderes Licht auf jene Szenerie, die der Magus eingangs mit wenigen Pinselstrichen entworfen hatte. Wenn ich wie eine Nachtigall schlagen könnte; so muß sie wenigstens an den Vögeln Kunstrichter haben, die immer singen, und mit ihrem unaufhörlichen Fleiß prahlen. Sie wißen, HochzuEhrender Herr Magister, daß die Genii Flügel haben und daß das Rauschen derselben dem Klatschen der Menge gleich kommt. Wenn sich über Gott mit Anmuth und Stärke spotten läßet; warum soll man mit Götzen nicht sein Kurzweil treiben können. Mutter Lyse singt: Die falschen Götzen macht zu Spott

gekehrt das gegenwärtige Elend des Menschen empfunden und dessen ursprüngliche Würde verkannt, und deshalb behandelt er die Natur so, als sei sie notwendig schwach und heilsunfähig, was ihn daran verzweifeln läßt, ein wahrhaftiges Gut zu erreichen, und das läßt ihn in äußerste Willenlosigkeit versinken. Da diese beiden Zustände des Menschen, die man zusammen erkennen müßte, um die ganze Wahrheit zu erfassen, also getrennt erkannt wurden, führen sie zwangsläufig zu einem dieser zwei Laster, dem Stolz und der Trägheit, denen alle Menschen unfehlbar verfallen sind, bevor die Gnade sie erleuchtet; wenn sie nämlich nicht aus Willenlosigkeit in ihren Ausschweifungen verharren, so überwinden sie diese durch ihre Eitelkeit.« (ebd., S. 168f).

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Ein Philosoph sieht aber auf die Dichter, Liebhaber und Projecktmacher, wie ein Mensch auf einen Affen, mit Lust und Mitleiden. Sobald sich die Menschen verstehen einander können Sie arbeiten. Der die Sprachen verwirrte – und die Schemata des Stolzes aus Liebe und politischen Absichten, zum Besten der Bevölkerung, wie ein Menschenfreund strafte – vereinigte sie an jenem Tage, da man Menschen mit feurigen Zungen als Köpfe berauscht vom süßen Wein lästerte. Die Wahrheit wollte sich von Straßenräubern nicht zunahe kommen laßen, sie trug Kleid auf Kleid, daß man zweifelte ihren Leib zu finden. Wir erschraken [sie], da sie ihren Willen hatten und das schreckl. Gespenst der Wahrheit, vor sich sahen. Ich werde diesen Brief ehstes Tages in Person abholen kommen.35

Auffällig ist, dass im Schlusscento Texte aus verschiedenen Textgattungen miteinander korrespondieren. Die biblischen Texte gehen quasi ineinander über, die beiden philosophischen und die beiden literarischen Texte hingegen werden über Kreuz dargeboten. Schon die Breite der Textgattungen ist symptomatisch. Zwar geht der Magus auf den Philosophen ein, indem er Texte aus dessen Disziplin zitiert. Aber er erspart ihm auch nicht, biblische Quellen zur Kenntnis zu nehmen. Außerdem werden noch zwei Fabeln verwendet, was vor dem Hintergrund der Sokratischen Denkwürdigkeiten und der Wolken nicht verwundern kann. Letztere rechtfertigen explizit den sokratischen Gebrauch von Fabeln. Erstere verbinden mit den Fabeln einen erkenntnistheoretischen Diskurs, genauer : Hinweise auf den Umgang mit Paradoxen und Widersprüchen: Die Heyden waren durch die klugen Fabeln ihrer Dichter an dergleichen Wiedersprüchen gewohnt; bis ihre Sophisten, wie unsere, solche als einen Vatermord verdammten, den man an den ersten Grundsätzen der menschlichen Erkenntnis begeht.36

Der Magus bringt gegen den Aufklärer zwei Fabeln zu Gehör, in denen das Fragmentarische und Bildliche dieser Gattung nicht nur aufscheint, sondern gerade das Fragmentarische und Bildliche sind auch das Thema der Fabeln. Zuerst wird auf Gellerts Fabel von der Nachtigall rekurriert, anscheinend um sich erneut gegen den Vorwurf der sehr fragmentarischen Tätigkeit, oder sagen wir : Trägheit, zu verwahren: Wenn ich wie eine Nachtigall schlagen könnte; so muß sie wenigstens an den Vögeln Kunstrichter haben, die immer singen, und mit ihrem unaufhörlichen Fleiß prahlen.37

Gellerts Nachtigall wird von der Lerche zur Rede gestellt. Sie singe zwar sehr schön, aber man wundere sich doch sehr, dass sie ihre Tätigkeit zeitlich so sehr 35 ZH I, 380,31–381,12. 36 Vgl. auch N II, 79,7–9 die Hinweise darauf, dass Sokrates Gebrauch von Fabeln machte: »Bey dieser Gelegenheit entdeckte er in sich eine Trockenheit zu erfinden, der er mit den Fabeln des Äsops abzuhelfen wuste.« 37 ZH I, 380,31–33.

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eingrenze. Die Antwort der Nachtigall ist im engeren Sinne genial: nur solange sie von der Natur inspiriert wird, singt sie. Und sie singt nicht für ihren Ruhm, sondern zum Lobe der Göttin: Denn auch die Götter rührt der Schall Der angenehmen Nachtigall; Und ihr, der Göttinn, ihr zu Ehren, Ließ Philomele sich noch zweymal schöner hören. Sie schweigt darauf. Die Lerche naht sich ihr, Und spricht: Du singst viel reizender, als wir ; Dir wird mit Recht der Vorzug zugesprochen; Doch Eins gefällt uns nicht an dir, Du singst das ganze Jahr nicht mehr, als wenig Wochen. Doch Philomele lacht und spricht: Dein bittrer Vorwurf kränkt mich nicht, Und wird mir ewig Ehre bringen. Ich singe kurze Zeit. Warum? Um schön zu singen. Ich folg im Singen der Natur; So lange sie gebeut, solange sing ich nur. So bald sie nicht gebeut, so hör ich auf zu singen; Denn die Natur lässt sich nicht zwingen.38

Nachdem mit Gellert das Verhältnis von vermeintlicher Trägheit und Inspiration geklärt ist, setzt der Magus mit einer Fabel Lichtwers einen anderen, aber korrespondierenden Akzent. Nicht nur die Tätigkeit des Menschen ist begrenzt, sondern auch seine Erkenntnis. Wer gierig nach der ganzen Wahrheit greift, wird von ihrem Stolz beschämt werden. In größter Nähe zu den Reflexionen in den Denkwürdigkeiten darüber, warum Sokrates die Grazien gegen den Geschmack der Zeit bekleidet darstellt, und in mannigfacher Korrespondenz zu den vielfältigen Textilmetaphoriken der Londoner Schriften, gibt der Magus eine prosaische Kurzfassung Lichtwers: Die Wahrheit wollte sich von Straßenräubern nicht zunahe kommen laßen, sie trug Kleid auf Kleid, daß man zweifelte ihren Leib zu finden. Wir erschraken, da sie ihren Willen hatten und das schreckl. Gespenst der Wahrheit, vor sich sahen.

Kant konnte in dieser Andeutung hoffentlich folgenden Text wieder erkennen: 38 Christian Fürchtegott Gellert: Die Nachtigall und die Lerche, hier zitiert nach: Sämmtliche Schriften. Erster Theil. Leipzig 1769, S. 3f (vgl. S. 125f). Dazu die »Moral« des Ganzen: »O Dichter, denkt an Philomelen,/Singt nicht, so lang ihr singen wollt./Natur und Geist, die euch beseelen,/Sind euch nur wenig Jahre hold./Soll euer Witz die Welt entzücken:/So singt, so lang ihr feurig seyd,/Und öffnet euch mit Meisterstücken/Den Eingang in die Ewigkeit./Singt geistreich der Natur zu Ehren;/Und scheint euch die nicht mehr geneigt:/So eilt, um rühmlich aufzuhören,/Eh ihr zu spät mit Schande schweigt./Wer, sprecht ihr, will den Dichter zwingen?/Er bindet sich an keine Zeit./So fahrt denn fort, noch alt zu singen,/Und singt euch um die Ewigkeit.«

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Magnus Gottfried Lichtwer : Die beraubte Fabel Es zog die Göttin aller Dichter, Die Fabel, in ein fremdes Land, Wo eine Rotte Bösewichter Sie einsam auf der Straße fand. Ihr Beutel, den sie liefern müssen, Befand sich leer ; sie soll die Schuld Mit dem Verlust der Kleider büßen, Die Göttin litt es mit Geduld. Hier wies sich eine Fürstenbeute, Ein Kleid umschloß das andre Kleid; Man fand verschiedner Tiere Häute, Bald die, bald jene Kostbarkeit. Hilf Himmel, Kleider und kein Ende! Ihr Götter schrien sie, habet Dank Ihr gebt ein Weib in unsre Hände, Die mehr trägt als ein Kleiderschrank. Sie fuhren fort, noch mancher Plunder Ward preis; doch eh’man sich’s versah, Da sie noch schrien, so stund, o Wunder! Die helle Wahrheit nackend da. Die Räuberschar sah vor sich nieder Und sprach: Geschehen ist geschehn, Man gibt ihr ihre Kleider wieder, Wer kann die Wahrheit nackend sehn?39

Genau dieses Doppelthema, Grenzen des Erkennens und Verstehens einerseits, Grenzen der sinnvollen Tätigkeit andererseits, wird nun mit Hilfe von Gen 11 (Turmbau zu Babel) und Apg 2 (Pfingstgeschichte) biblisch koloriert: Sobald sich die Menschen verstehen einander können Sie arbeiten. Der die Sprachen verwirrte – und die Schemata des Stolzes aus Liebe und politischen Absichten, zum Besten der Bevölkerung, wie ein Menschenfreund strafte – vereinigte sie an jenem Tage, da man Menschen mit feurigen Zungen als Köpfe berauscht vom süßen Wein lästerte.40

In den richtigen Konstellationen können Menschen miteinander Großes bewirken. Allerdings sind diese Konstellationen stets gefährdet, weil der Mensch ein Zwischenwesen ist: Er steht zwischen Natur und Gnade. Zur Natur des Menschen gehört, sich aus dieser Zwischenstellung herausarbeiten zu wollen: Sollte es nicht möglich sein, sich solchermaßen ein Denkmal zu setzen, dass man 39 Aus: Vier Bücher aesopischer Fabeln in gebundener Schreib-Art. Leipzig 1748. 40 ZH I, 381,4–8.

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keiner Gnade mehr bedarf ? Auf solche babylonische Hybris kann nur mit einer energischen Form von Kondeszendenz reagiert werden: Gott straft aus »Liebe und politischen Absichten, zum Besten der Bevölkerung« indem er die »Schemata des Stolzes« solange verwirrt, bis sich neue Gesprächskonstellationen ergeben, in denen eine Korrektur möglich wird. Ob diese Konstellationen immer schon Wirklichkeit sind, darf bezweifelt werden. Denn noch begegnet man sich nicht auf der heutigentags sprichwörtlichen Augenhöhe, sondern der Philosoph blickt auf andere herab: Ein Philosoph sieht aber auf die Dichter, Liebhaber und Projecktmacher, wie ein Mensch auf einen Affen, mit Lust und Mitleiden.41

Stand der Mensch bislang zwischen Turmbau und Pfingsten, soll er sich nun auch noch zwischen Philosoph und Affe positionieren. Warum? Schon bei und seit Heraklit ist der Affe ein beliebter Gast in anthropologischen Diskursen, weil er eine wunderbare Kontrastfolie abgibt, auf der die Zwischenstellung des Menschen zwischen Gott und Tier illustriert werden kann.42 Auch in Popes Essay on Man begegnet im zweiten Brief ein Affe, der dort mit Newton in Verbindung gebracht wird. Jenem Newton, dem sich Kant schon 1755 so verbunden wusste, dass der Magus in den Denkwürdigkeiten einen Vergleich zwischen beiden Denkern anstellt.43 Nun darf man dem Magus einige Pope-Lektüren unterstellen, wie es verschiedene Anspielungen des Julibriefes belegen.44 Aber es scheint einen besonderen Grund dafür zu geben, warum er gerade in diesem Brief auf diesen Passus anspielt. Es handelt sich um eine jener typischen Stellen, an denen der Magus einen Philosophen »in das Schwerdt seiner eigenen Wahrheiten«45 fallen lässt: Im dritten Teil von Kants Allgemeine[r] Naturgeschichte und Theorie des 41 ZH I, 381,2f. 42 Vgl. das 82. und 83. Fragment Heraklits: »Der schönste Affe ist häßlich mit dem Menschengeschlechte verglichen.« »Der weiseste Mensch wird gegen Gott gehalten wie ein Affe erscheinen in Weisheit, Schönheit und allem andern.« Heraklit aus Ephesus: Fragmente, in: Diels: Fragmente der Vorsokratiker. Bd. 1, S. 94. Später taucht der Affe als anthropologischer Vergleichspunkt auch bei Herder immer wieder auf. 43 Dass es hier um anthropologische Zuordnungen geht, beweist bereits ein kurzer Blick auf den Eingang jenes zweiten Briefes: »Erkenn dich selbst, erforsch nicht Gottes Kraft! /Der Mensch ist erstes Ziel der Wissenschaft. /Er steht am Isthmus, ist ein Mittelding – /An Größe grob, an Weisheit Däumeling. /Für einen Skeptiker ist er zu klug, /für einen Stoiker nicht stolz genug.« Alexander Pope: Vom Menschen / Essay on Man. Übersetzt von Eberhard Breidert. Hamburg 1993, S. 39. Die Einleitung von Wolfgang Breidert weist auf die Linie von Pascal zu Pope hin. Demnach galt zuzeiten der Essay on Man als »versifizierter Pascal«, ebd., S. XIII. 44 Vgl. einige Nachweise in Henkels Online-Kommentar 45 ZH I, 355, 29 (über Hume). Hier sei nochmals (s. o. Anm. 34) erinnert an Pascals Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne, S. 165. Über letzteren heißt es: »Ich gestehe Ihnen, Monsieur, ich kann nicht ohne Freude sehen, wie bei diesem Autor die hochmütige Vernunft mit ihren eigenen Waffen so unausweichlich gedemütigt wird.«

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Himmels finden sich (anthropologische) Reflexionen im Bezug auf die äußeren Umstände, denen eine denkende Natur ausgesetzt ist. Kant kommt zu dem Schluss, daß die Treflichkeit der denkenden Naturen, die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit der Begriffe, die sie durch äusserlichen Eindruck bekommen, sammt dem Vermögen sie zusammen zusetzen, endlich auch die Behendigkeit in der wirklichen Ausübung, kurz, der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit unter einer gewissen Regel stehen, nach welcher dieselben, nach dem Verhältniß des Abstandes ihrer Wohnplätze von der Sonne, immer treflicher und vollkommener werden.46

Je weiter eine Kreatur sich der Sonne nähert, desto schlechter wird ihr das bekommen.47 Das führt zu Abstufungen zwischen den Wesen, und dem Menschen wird eine Zwischenstellung bescheinigt: Die menschliche Natur, welche in der Leiter der Wesen gleichsam die mittelste Sprosse inne hat, siehet sich zwischen den zwey äussersten Grenzen der Vollkommenheit mitten inne, von deren beyden Enden sie gleich weit entfernet ist. Wenn die Vorstellung der erhabensten Classen vernünftiger Creaturen, die den Jupiter oder den Saturn bewohnen, ihre Eifersucht reitzet, und sie durch die Erkenntniß ihrer eigenen Niedrigkeit demüthiget; so kan der Anblick der niedrigen Stufen sie wiederum zufrieden sprechen und beruhigen, die in den Planeten Venus und Merkur weit unter der Vollkommenheit der menschlichen Natur erniedrigt seyn. Welch ein verwunderungswürdiger Anblick! Von der einen Seite sahen wir denkende Geschöpfe, bey denen ein Grönländer oder Hottentotte ein Newton seyn würde; und auf der andern Seite andere, die diesen als einen Affen bewundern. Da jüngst die obern Weisen sahn, Was unlängst recht verwunderlich, Ein Sterblicher bey uns gethan, Und wie er der Natur Gesetz entfaltet; wunderten sie sich, Daß durch ein irdisches Geschöpf dergleichen möglich zu geschehn, Und sahen unsern Newton an, so wie wir einen Affen sehn. Pope.48

Hamann konfrontiert Kant also mit dessen eigenen Ausführungen! Angenommen Kant erinnert sich bei der Lektüre des Briefes an dieses wenige Jahre zuvor von ihm selbst gebrauchte Pope-Zitat, das Newton in die Nähe eines Affen rückt: wie wird ihm dann wenig später zumute gewesen sein bei der Lektüre der So46 Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), A 186f. In: Werke in zehn Bdn. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 41975. Bd. 1, S. 386. 47 Auch Herder stellt in der Eingangspassage der Ideen zur Philosophie zur Geschichte der Menschheit mit Verweis u. a. auf Newton und Kant ähnliche Gedanken an. 48 Kant: Naturgeschichte (wie Anm. 46), A 186–188, in der Ausgabe von Weischedel Bd. 1, S. 386f.

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kratischen Denkwürdigkeiten, in denen Hamann ihm unterstellt »einen so allgemeinen Weltweisen und guten Münzwaradein abgeben [zu wollen], als Newton war«49, oder bei der Lektüre der Wolken, die noch deutlicher die Verwandtschaft mit dem Affen betonen?50 Kant selbst beschreibt den Menschen als Zwischen-Wesen: je nachdem, ob er sich richtig positioniert sein lässt, einem Newton oder einem Affen ähnlich. Hamann unterstreicht Kants Einsicht in die Zwischenstellung des Menschen, wird diese aber im Rahmen des Centos bald biblisch entfalten. Spätestens dann gilt mit den Worten Hamanns an Kant: Mancher Philosoph ist aller seiner Fehler ungeachtet wie Saul unter den Propheten dazu berufen, die Wahrheit voran zu treiben. Wenn Hume nur aufrichtig wäre, sich selbst gleichförmig – Alle[r] seine[r] Fehler ungeachtet ist er wie Saul unter den Propheten. Ich will ihnen eine Stelle abschreiben, die ihnen beweisen soll, daß man im Scherz und ohn sein Wißen und Willen die Wahrheit predigen kann, wenn man auch der größte Zweifler wäre und wie die Schlange über das zweifeln wollte, was Gott sagt. Hier ist sie: »Die christliche Religion ist nicht nur mit Wunderwerken am Anfange begleitet gewesen, sondern sie kann auch selbst heut zu Tage von keiner vernünftigen Person ohne ein Wunderwerk geglaubt werden. Die bloße Vernunft ist nicht zureichend uns von der Wahrheit derselben zu überzeugen, und wer immer durch den Glauben bewogen wird derselben Beyfall zu geben, der ist sich in seiner eigenen Person eines beständig fortgesetzten ununterbrochenen Wunderwerkes bewusst, welche alle Grundsätze seines Verstandes umkehrt und demselben eine Bestimmung giebt das zu glauben, was der Gewohnheit und der Erfahrung am meisten zuwieder und entgegen ist.«51

Hamann weist also Kant darauf hin, dass die »bloße Vernunft« kein geeignetes Forum ist, um über den Glauben und die Wahrheit der Religion zu urteilen. Kants spätere Erörterungen dieses Sachverhaltes sind bekannt. Noch scheint er aus Sicht des Magus aber auf entsprechende Hinweise angewiesen zu sein. Deshalb übersetzt er Hume für ihn und ruft ihn zugleich wider dessen Intention gegen Kant zum prophetischen Zeugen für die Wahrheit der christlichen Religion im Allgemeinen und der Bedeutung der Wunder im Besonderen auf. 49 N II, 60,10f. 50 N II, 60,10f und 100,13–17: »Meine Absicht ist es unterdeßen gar nicht […] irgend einem Kleinmeister sieben brotloser Künste seine Verwandschaft mit Newton in Zweifel zu ziehen; Da dieser weise Gelehrte den Scherz, zum poßierlichen Geschlecht der Affen gezählt zu werden, großmüthig hat auf sich sitzen lassen.« Die Affinität zwischen Physikern und Affen findet sich immer wieder und auch noch bei Max Scheler : »Zwischen einem Schimpansen und Edison, dieser nur als Techniker genommen, besteht nur ein – allerdings sehr großer – gradueller Unterschied.« (Max Scheler : Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn 121991, S. 37). 51 Vgl. ZH I, 380,5–18. Dieses Motiv des Propheten wider Willen findet sich des Öfteren bei Hamann und auch schon in den Londoner Schriften.

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Der Passus mit dem Hume-Zitat zum Verhältnis von Wahrheit und Vernunft findet sich vor dem Schlusscento, wird aber in diesem durch den Verweis auf Johann Jakob Schütz und dessen Lied Sey Lob und Ehr dem höchsten Gut wieder aufgegriffen. Wie Hume so bringt auch Schütz (gleich mit der ersten Zeile) Gott mit den Wundern in Verbindung: »Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte, dem Gott, der alle Wunder tut.« Hamann zitiert im Brief nun die achte der neun Strophen: Wenn sich über Gott mit Anmuth und Stärke spotten läßet; warum soll man mit Götzen nicht sein Kurzweil treiben können. Mutter Lyse singt: Die falschen Götzen macht zu Spott52

Während sich Schütz in den übrigen acht Strophen damit begnügt, jeweils in der letzten Halbzeile zur Ehrerbietung gegenüber Gott aufzufordern, tut er es in der achten und somit vorletzten Strophe gleich dreimal. Diese deutliche Betonung des ersten Gebotes scheint Hamann im scharfen Kontrast zu Humes und Kants Versuchen zu sehen, einen anderen Ton anzuschlagen. Gott wird nicht erkannt, sondern bekannt: Ihr, die ihr Christi Namen nennt, Gebt unserm Gott die Ehre! Ihr, die ihr Gottes Macht bekennt, Gebt unserm Gott die Ehre! Die falschen Götzen macht zu Spott. Der Herr ist Gott, der Herr ist Gott! Gebt unserm Gott die Ehre!

Nicht jeder der Gott im Munde führt, ist wirklich an seinem Dienst interessiert. In der richtigen dialogischen Konstellation kann ein Satz der Wahrheit dienen, während der gleiche Satz in der falschen Konstellation verheerende Wirkungen haben wird. Denn bei den Worten ist es gemäß des Autors der Sokratischen Denkwürdigkeiten wie bei den Zahlen: Ihren Wert erhalten sie durch die Stelle, an der sie stehen: Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar.53

Wer sollte das besser wissen als der »Münzwaradein« Newton und jener Königsberger Philosoph, der ihm nach Hamann diesbezüglich gleichzukommen sucht? »Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen«. 52 ZH I, 380,36–381,1. Bei »Mutter Lyse« dürfte es sich um eine Verlesung von »Mutter Kirche« handeln. Roth liest »Lise«, R I, 455. 53 N II, 71,32–34.

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Das gilt auch für Zitate und für den Ort, an dem Hamann beispielsweise das Pope-Zitat platziert: Er montiert es quasi als Vorstufe einer biblischen Erkenntnis in seinen Schlusscento. Das gilt aber eben nicht nur für den Ort, an dem Hamann ein Zitat platziert, sondern auch und gerade für die Orte, denen er unter Umständen Zitate entnimmt. Ausgerechnet ein Zitat aus Kants eigener Naturgeschichte, von Kant selbst seinem Lieblingsautor entlehnt: das treibt den ›Wechselkurs‹ des Zitates deutlich in die Höhe. Ein ganz ähnlicher Fall findet sich in den Sokratischen Denkwürdigkeiten an profilierter Stelle: die hermeneutische Grundanweisung, mit dem, was zunächst noch unverständlich erscheinen mag, so wohlwollend und respektvoll umzugehen wie Sokrates mit den Schriften des Heraklit, entnimmt der Magus einem besonderen Kontext. Zwar findet sich diese Episode in den einschlägigen Quellen zur Biographie des Sokrates. Interessanter ist jedoch, dass sie auch von Hamanns und Kants gemeinsamen Lehrer Martin Knutzen in seinem Philosophische[n] Beweis von der Wahrheit der christlichen Religion angeführt wird. Diese Schrift bietet einige Einsichten und Einschätzungen, die auch vom Magus vertreten werden, wie z. B. jene Freude darüber, dass ausgerechnet die Feinde der christlichen Religion immer wieder unfreiwillig Zeugnis für deren Wahrheit ablegen. Hier nennt Knutzen neben dem klassischen Beispiel Pilatus auch jenen Kaiser Julian, auf den Hamann in den Sokratischen Denkwürdigkeiten zu sprechen kommt.54 Im Rahmen kondeszendenztheologischer [sic!] Überlegungen reflektiert Knutzen das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Dabei stützt er sich dort, wo der Verstand an seine Grenzen stößt, auf jene Episode aus der Vita Socratii des Diogenes Laertios: Möchten leichtsinnige Leute nicht GOTT und den Erlöser aus dem beurtheilen, was sie thun würden, wenn sie mit ihren verderbten Neigungen an deren Stelle wären, so würden sie den Ungrund ihrer Einwürfe leichtlich einzusehen im Stande seyn. […] Bleiben denn in diesem geheimnißvollen Begnadigungsmittel noch einige Tiefen übrig, die unser eingeschränkter Verstand nie völlig ergründen wird, wie es auch der Göttlichkeit desselben gemäß ist; so glaube, Vernunft und Wahrheit gebieten uns, nach so viel wahrgenommenen Proben der Glaubwürdigkeit von diesen großen Wahrheiten, so wie Socrates von den Schriften des Heracliti zu urtheilen. Ea quae intellixi, egregia sunt; puto his similia esse, quae non intellixi. D.i. Was ich davon verstanden habe, ist vortrefflich; ich glaube, das übrige, so ich nicht einzusehen vermögend, werde von gleicher Art seyn.55

54 N II, 62,8 und 94,16; vgl. auch ZH I, 170,17. 55 Die erste Auflage war 1740 erschienen. Ich zitiere nach der Neuedition der maßgeblichen 4. Auflage von 1747: Martin Knutzen: Philosophischer Beweis von der Wahrheit der christlichen Religion (1747). Eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Ulrich L. Lehnert. Nordhausen 2005, S. 105.

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Kant hätte mithin schon auf der philosophischen Schulbank von Knutzen den nötigen Respekt vor solchen Wahrheiten lernen können, »die unser eingeschränkter Verstand nie völlig ergründen wird, wie es auch der Göttlichkeit desselben gemäß ist«. Kein Wunder also, dass der Magus »beynahe über die Wahl eines Philosophen zu dem Endzweck eine Sinnesänderung in [ihm] hervor zu bringen, lachen«56 muss. Besonders brisant werden diese beiden Kontexte, denen der Magus seine Zitate entnimmt, durch ihre innere Verbundenheit, also dadurch, dass Knutzens Philosophischer Beweis »zum Anlaß und Bezugspunkt für Kants […] ›Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels‹«57 geworden war. Hamann bedient sich also bereits 1759 einer Technik, die er dann in Golgatha und Scheblimini zur Vollendung führt. Gerne montiert er Stellen aus den Schriften des Gegners, um diesen »in das Schwerdt seiner eigenen Wahrheiten«58 fallen zu lassen. Aber nicht nur das: im Falle unseres Kantbriefes mit seinem »Buhlen« um die Nähe zu Berens, die Hamann offensichtlich durch Kant bedroht fühlt, greift er nun seinerseits mitten in dessen näheres Umfeld hinein. Zum einen bedient er sich jenes Zitates, welches Kant seinem Lieblingsautor Pope entlehnt hat.59 Zum anderen benutzt er in den Denkwürdigkeiten strategisch ungeheuer wirkungsvoll ein Zitat, welches Kant sicherlich aus dessen Schrift, vielleicht sogar aus dem Unterricht seines Lehrers Knutzen kennt. Immer ist es der paulinische Gestus vom Areopag aus dem 17. Kapitel der Apostelgeschichte: ›Was ich euch zu sagen habe, ist euch nicht unbekannt. Ihr kennt es schon lange, habt euch aber bislang geweigert, die entsprechenden Rückschlüsse daraus zu ziehen.‹60 Das heißt im Falle der anthropologischen Bestimmung des Menschen als eines Wesens zwischen zwei Polen, dass es gerade Kant ist, der dieses wissen muss, da er es selbst mit Pope belegt. Bevor man sich wie Kant einer allgemeinen Natur-Geschichte zuwendet, sollte man sich zudem die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis vergegenwärtigt haben: Die Selbsterkenntnis ist die schwerste und höchste, die leichteste und ecke[l]hafteste NaturGeschichte, Philosophie und Poesie. Es ist angenehm und nützlich eine Seite des Pope zu übersetzen – in die Fibern des Gehirnes und des Herzens – Eitelkeit und Fluch hingegen einen Theil der Enzyklopedie durchzublättern.61 56 57 58 59

ZH I, 378,31f. Graubner : Physikotheologie (wie Anm. 5), S. 120, mit Hinweis auf Hans-Joachim Waschkies. ZH I, 355,29. Die Bedeutung Popes für Kant lässt sich auch an dem Umstand ablesen, dass auf allen drei Zwischentiteln der drei Teile der Naturgeschichte ein Zitat Popes als Motto dient. 60 Im Kontext der Sokratischen Denkwürdigkeiten heißt das zuvörderst: Wer die Wahrheit erkennt, muss noch lange nicht bereit sein, sie zu tun, d. h. ihr zu dienen. 61 ZH I, 374,11–15. Dieser Abschnitt mündet in einen in der Regel »historisch« ausgelegten Passus: »Ich bin noch gestern Abend mit der Arbeit fertig geworden, die Sie mir in Vorschlag gebracht. Der Artikel über das Schöne ist ein Geschwätz und Auszug von Hutchinson. Der

Der Genius aus der Wolke

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Im Rahmen des Schlusscentos setzt der Magus nun allerdings sehr gezielt einen anderen, nämlich einen biblischen Akzent. Die Selbsterkenntnis des Menschen entspringt nämlich nicht der naturwissenschaftlichen Forschung, sondern der Gotteserkenntnis.62 Fürwahr steht der Mensch – hier ist Hamann bei Kant – zwischen zwei Polen. Aber diese sind mit der Alternative, entweder ein Affe oder ein Newton zu sein, zu knapp bemessen, weil diese Alternative sich ausschließlich auf die Natur des Menschen bezieht. Der Affe bezeichnet das untere, Newton das obere Ende des Spektrums der Möglichkeiten der menschlichen von der Kunst ist seichter also süßer als das Gespräch des Engl. über nichts als ein Wort. Bliebe also noch einziger übrig, der würklich eine Uebersetzung verdiente. Er handelt von dem Schaarwerk und Gehorcharbeitern.« (ZH I, 374,15–20) Aus dieser Passage wird gefolgert, dass Kant dem Magus den Vorschlag gemacht habe, seine Sprachkenntnisse für Übersetzungen zu nutzen, um erstens etwas zu arbeiten und dabei zweitens auf andere Gedanken zu kommen. So weit, so gut. Es dürfte aber deutlich sein, dass Kant dem Magus keine Übersetzung von Pope vorgeschlagen haben wird. Eher darf man hier mit einer sehr spitzen Polemik Hamanns rechnen, der gerade noch einmal die Bedeutung Popes gegen Kant hervorheben möchte. Der Akzent wäre etwa der folgende: »Wenn ich etwas übersetze, dann lieber aus Pope als aus der Enzyklop8die. Denn Pope ist, wie ich dir gleich mit einem von dir selbst gewählten Zitat beweisen werde, viel eher ein Prophet als die Enzyklopädisten.« Auch muss offen bleiben, welche Artikel der Enzyklop8die Kant und/oder Berens für eine Übersetzung vorgeschlagen haben, so sie denn überhaupt konkrete Vorschläge unterbreiteten. »Das Schöne« und »die Kunst« mögen noch nahe liegend erscheinen. Aber traut man den beiden ernsthaft zu, Hamann die Übersetzung des Artikels zu »Schaarwerk und Gehorcharbeitern« zuzumuten? Wiederum liegt die polemische Lesart näher : da Hamann sich der Ästhetik der Enzyklop8die nicht unterwerfen will mit ihrer Forderung der Nachahmung des Schönen, betont Hamann: wenn schon Unterordnung unter eine fremde Macht, dann wenigstens offen und ehrlich. Dann lieber gleich »Gehorcharbeiter« als ein nützlichs Stück Vieh, wie er an anderer Stelle des Briefes (ZH I, 377,35–37) betont: »Der eines andern Vernunft mehr glaubt als seiner eigenen, hört auf ein Mensch zu seyn und hat den ersten Rang unter das seruum pecus der Nachahmer.« 62 Man vergleiche – dagegen – Kants Vorrede zur Naturgeschichte, in der er sehr deutlich und explizit die Naturgeschichte von der Schöpfungstheologie unterscheidet. Dabei kommt er (neben dem Areopag) auch auf »Nebel« zu sprechen, die Hamann in unserem Brief polemisch aufzugreifen scheint: »Ich habe nicht eher den Anschlag auf diese Unternehmung gefasset, als bis ich mich in Ansehung der Pflichten der Religion in Sicherheit gesehen habe. Mein Eifer ist verdoppelt worden, als ich bei jedem Schritte die Nebel sich zerstreuen sahe, welche hinter ihrer Dunkelheit Ungeheuer zu verbergen schienen und nach deren Zerteilung die Herrlichkeit des höchsten Wesens mit dem lebhaftesten Glanze hervorbrach. Da ich diese Bemühungen von aller Sträflichkeit frei weiß [anders Hamann!] so will ich getreulich anführen, was wohlgesinnete oder auch schwache Gemüter in meinem Plane anstößig finden können, und bin bereit, es der Strenge des rechtgläubigen Areopagus mit einer Freimütigkeit zu unterwerfen, die das Merkmal einer redlichen Gesinnung ist. Der Sachwalter des Glaubens mag demnach zuerst seine Gründe hören lassen.« (Kant: Naturgeschichte [wie Anm. 46], A X–XI; in der Ausgabe von Weischedel Bd. 1, S. 227f.) Beinahe wie ein Echo auf diesen Passus aus Kants Vorrede klingt eine Stelle aus unserem Brief (ZH I, 376, 18–20): »An einer solchen Apologie mag ich […] nicht denken. Der Gott, dem ich diene, und den Spötter für Wolken, für Nebel, für vapeurs und Hypochondrie ansehen wird nicht mit Bocks- und Kälberblut versöhnt«.

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Natur. Nach Hamann aber schwindet die Bedeutung dieses Spektrums der verschiedenen Ausprägungen der Natur des Menschen angesichts der Verortung des Menschen zwischen Natur und Gnade, oder hier konkreter illustriert anhand der biblischen Erzählungen zwischen Turmbau und Pfingsten. Der Mensch, der sich turmbauend über die eigene Natur erheben will, wird in das Chaos einer absoluten Kommunikationsunfähigkeit gestürzt. Der Turmbau zum eigenen Ruhm führt in die Verständnislosigkeit. Diejenigen aber, die zu Pfingsten jenseits aller Verdächtigungen der Außenstehenden ein tiefes Verständnis erleben, erleiden dieses Verstehen und haben es eben nicht eigenen Anstrengungen zu verdanken. Blickt man von diesen Bestimmungen aber noch einmal auf die eingangs gestellte Szenerie zurück, dann wird das Selbstbewusstsein des Magus deutlich. »Sokrates« als Inbegriff der vollendeten menschlichen Natur ist eine Rolle, die man gerne dem Gesprächspartner überlassen kann, wenn man sich selbst – vorübergehend – als Repräsentant einer ganz anderen Macht wahrnimmt. Wie die junge Kirche vom Heiligen Geist beflügelt wird, so Sokrates vom beflügelten Genius. Verständnis und Verständigung sind keine Möglichkeiten des Menschen. Beides – so es sich denn einstellt – fliegt ihm gleichsam zu von einem Ort, zu dem kein methodischer Weg hinführt. Das macht die Doppeldeutigkeit jener Wolken aus, aus denen heraus der Magus mit Kant für die Dauer dieses Briefes als »Genius aus einer Wolke«63 spricht. Ob man solche Haltung zwangsläufig als Einladung zum Mitwirken an der Dialogizität der Vernunft werten muss, darf offen bleiben. Jedenfalls ist ein Antwortbrief Kants nicht belegt. Und der Magus scheint mit einer solchen auch nicht gerechnet zu haben. Warum sonst holt er den Brief wieder ab? Vielleicht konnte er sich bei dieser Gelegenheit davon überzeugen, in welchem Zustand sein Leser sich nach dem Einschlag der »Granate« befand. Nach seiner eigenen Angabe hoffte er, durch diesen Schrecken, den »kleinen Magister« (bei aller Sympathie) auf Abstand zu halten. Das könnte funktioniert haben.64

63 ZH I, 373,33. 64 Am 18. August, gute drei Wochen nach dem Kantbrief, schreibt er an Lindner (ZH I, 398,34–399,5): »Ich versprach mich bey seinem [Berens] neuem Freunde […] zu einem Colloquio einzustellen. An statt dessen selbst zu kommen, rief meine Muse den Kobold des Sokrates aus dem Monde herab und schickte ihn in meinem Namen mit einer Granate, die aus lauter kleinen Schwärmern bestund. Weil ich seinen kleinen Magister so sehr liebe und hochschätze, als ihr Freund; so macht ich ihm dies Schrecken, um zu verhindern, daß er sich nicht weiter einlassen sollte. Sie sagen ganz recht: Mund gegen Mund, denn ist freylich die dritte Person nicht nöthig. Und dies gab ich auch dem kleinen Socrates und dem großen Alcibiades so gut zu verstehen als ich konnte.«

Der Genius aus der Wolke

3.

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Schreibhaltungen

Während also im Gespräch mit Kant das Verhältnis von Glaube und Vernunft thematisch zu sein scheint, geht es mit Berens um das Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Vernunft. Für Berens hat Hamann im unmittelbaren Anschluss an die Ausführungen über Hume einen Hinweis, der in eine bemerkenswert andere Richtung als diejenigen für Kant geht: Bitten Sie Ihren Freund, daß es sich für Ihn am wenigsten schickt über die Brille meiner ästhetischen Einbildungskraft zu lachen, weil ich mit selbiger die blöden Augen meiner Vernunft wafnen muß.65

Diese Differenz zwischen erkenntnistheoretischen und ästhetischen Fragen ist so banal, dass man sie leicht ignorieren könnte, wenn nicht dem Thema der Einbildungskraft in den Sokratischen Denkwürdigkeiten eine besondere Bedeutung zukäme. Dort betont der Magus mit Psalm 139, dass die Einbildungskraft selbst in dem Fall, dass sie ein Sonnenpferd wäre und »Flügel der Morgenröte [hätte], keine Schöpferinn des Glaubens seyn« könnte.66 Gegen Berens wird betont: Einbildungskraft kann den Glauben nicht begründen. Gegen Kant wird betont: Vernunft kann den Glauben nicht begründen. Beide Betonungen ergänzen einander. Beide werden nicht einseitig und exklusiv im Hinblick auf nur einen der beiden zu äußern gewesen sein, aber es zeichnen sich doch Tendenzen ab. Diese Tendenzen haben entscheidenden Einfluss auf die beiden zentralen Konstellationen des Kantbriefes und der Sokratischen Denkwürdigkeiten. Erst von hier aus lässt sich die so offensichtlich differenzierte Bildlichkeit deuten. In den Denkwürdigkeiten trägt der Magus die Maske des Sokrates. Im Brief an Kant tut er genau das eben nicht: er lässt Kant Sokrates sein, und beansprucht für sich stattdessen die Rolle des Genius. Warum? Weil es jeweils darum geht, ähnlich wie Pascal, die passende Dialogszene zu erstellen. Und so ähnlich die Szenerien auf den ersten Blick erscheinen mögen, so verschieden sind sie doch. Wenn es mit Kant um die Fragen des Verhältnisses von Glaube und Vernunft geht, dann genügt es nicht, in die Rolle des Sokrates zu schlüpfen. Es muss vielmehr gezeigt werden, dass auch die skeptische Bescheidenheit des Atheners noch keine Gewähr für gelingende Erkenntnis ist. Dazu bedarf es des Genius aus der Wolke. Diese Rolle übernimmt der Magus. Er ist nach seiner eigenen Wahrnehmung der für Kant zuständige Genius aus der Wolke der Zeugen. Dass es also zwei verschiedene Sokrates-Rollen gibt, eine die Hamann im Brief Kant 65 ZH I, 380,19–21. 66 N II, 74,17–19.

196

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überlässt, und eine die er selbst in den Sokratischen Denkwürdigkeiten ausfüllt, findet seinen Niederschlag in der nur scheinbar nebensächlichen Schreibweise des Namens des griechischen Weisen. Geht beim Magus andernorts die deutsche Variante Sokrates mit der englischen Socrates munter Hand in Hand, so achtet er hier nun auf strenge Unterscheidung. Während die Denkwürdigkeiten bis auf einzelne Fußnoten durchgehend von Sokrates reden, findet sich im Brief nur der ins Schottland Humes und ins England Newtons und Popes weisende Socrates. Für Kant also legt Hamann den Akzent auf das Verhältnis von Glaube und Vernunft, indem der Genius die Abhängigkeit der Vernunft von etwas zu Vernehmendem betont. Für Berens hingegen, und mit ihm für den Großteil des Publikums, ist ein anderer Akzent wichtig. Nicht umsonst weist der Magus in den Denkwürdigkeiten ironisch darauf hin, dass die Frage nach dem Ursprung des sokratischen Daimonions offen bleiben muss. In diesem Zusammenhang verwirft er dann auch die mögliche These, dass das Daimonion, der Genius, des Sokrates eine »hervorragende Idea seiner Einbildungskraft«67 sein könnte. Soll heißen: Hamann steigt hier sehr gezielt und sehr massiv in den Genie-Diskurs ein, positioniert sich wie bekannt auf der Seite derjenigen, die gegen die Regelpoetik auf das Wirken des Genies setzen. Aber : die christologische Füllung des Geniebegriffes verhindert die Verwechselung von Ästhetik und Religion, beziehungsweise von Einbildungskraft und Glaube. Genie ist nicht Begabung, sondern Gabe. Genauer genommen eine Aufgabe. Diese Aufgabe interpretiert der Magus für sich nun so, dass bestimmte Haltungen einzuüben sind. Der Genius bleibt bezogen auf Alkibiades, oder Sokrates (oder wem auch immer er beigegeben ist), um dessen Selbsterkenntnis zu unterstützen. Dazu bedarf es bestimmter Haltungen, die für einen Autor primär Schreibhaltungen, – stilbildende Vorgaben, wenn man so will – sein werden. Sie prägen sich aus in späteren Schriften. Insofern kann dieser Brief an Kant getrost als Keimzelle der Sokratischen Denkwürdigkeiten betrachtet werden. Sie prägen aber auch schon diesen Brief, sodass er eben mehr ist als ein Entwurf oder eine Vorstufe. Sein Werkcharakter zeigt sich in den zahlreichen

67 N II, 75,17 im Kontext N II, 75,14–31: »Ob dieser Dämon des Sokrates nichts als eine herrschende Leidenschaft gewesen und bey welchem Namen sie von unsern Sittenlehrern geruffen wird, oder ob er ein Fund seiner Staatslist; ob er ein Engel oder Kobold, eine hervorragende Idea seiner Einbildungskraft, oder ein erschlichner und willkührlich angenommener Begrif einer mathematischen Unwissenheit […]hierüber ist von so vielen Sophisten mit so viel Bündigkeit geschrieben worden, daß man erstaunen muß, wie Sokrates bey der gelobten Erkenntniß seiner Selbst, auch hierinn so unwissend gewesen, daß er einem Simias darauf die Antwort hat schuldig bleiben wollen. Keinem Leser von Geschmack fehlt es in unsern Tagen an Freunden von Genie, die mich der Mühe überheben werden weitläuftiger über den Genius des Sokrates zu seyn.«

Der Genius aus der Wolke

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Motivverknüpfungen mit späteren Schriften, vor allem aber in der Verwendung eben jener Schreibhaltungen, die abschließend angedeutet sein mögen. Genie ist nicht Begabung, sondern Gabe.68 Darum wird es nie das beifällige Klatschen der Menge sein, das den Genius bestätigt. Nicht der allgemeine Beifall erweist den Genius als solchen, sondern das Rauschen seiner Flügel: Sie wißen, HochzuEhrender Herr Magister, daß die Genii Flügel haben und daß das Rauschen derselben dem Klatschen der Menge gleich kommt.

Dieses Flügelrauschen ist hörbar nur für den, dem sich der Genius zuwendet, und sei es auch nur für die Dauer eines Briefes.69 Diese Zuwendung geschieht in zwei sich ergänzenden Bewegungen: Kondeszendenz und Mimesis.

3.1

Kondeszendenz

Karlfried Gründer hat die zentrale Bedeutung des Begriffs der Kondeszendenz für das Denken des Magus dargelegt.70 Inwiefern sie als theologische Figur das 68 So sehr insbesondere die Sokratischen Denkwürdigkeiten gerne als Programmschrift im europäischen Geniediskurs verstanden werden, so sehr ist zu betonen, dass Hamann hier eine sehr eigenständige Interpretation vertritt. Dies wird umso deutlicher, je genauer man die einschlägigen Quellen seines Genie-Verständnisses betrachtet. Es sind die biblischen, vor allem paulinischen Ausführungen über den Geist, von denen her er die zeitgenössischen Texte liest. Zu nennen sind: The Spectator. Hg. von Addison, vor allem Volume the Second, London 1713, Nr. 160 aus dem Jahr 1711. Der Spectator findet sich in der BiGa sowohl in der Originalfassung (174/711) als auch in deutscher Übersetzung (136/109). Auf Klopstock kommt Hamann verschiedentlich im Briefwechsel zu sprechen, die Kenntnis von Lessings 17. Literaturbrief darf vorausgesetzt werden. Der wirkungsgeschichtlich wohl bedeutendste Text, Youngs Conjectures, liegt in einer deutschen Ausgabe vor, die neben der klassischen Übersetzung von Teubern weitere rund 20 einschlägige Textauszüge von Warton, Gottsched, Herder u. a. bietet: Edward Young: Gedanken über die Originalwerke. Aus dem Englischen von H.E. von Teubern (1760). Faksimiledruck. Heidelberg 1977 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Goethezeit. Hg. von Arthur Henkel. Nachwort und Dokumentation zur Wirkungsgeschichte in Deutschland von Gerhard Sauder). 69 Dass das Genie zeitlichen Grenzen unterliegt und nur für den aufmerksamen Zeitgenossen wahrnehmbar ist, betont auch – bei allen auffälligen Differenzen zu Hamanns Genieauffassung – der betreffende Artikel der Encyclop8die: »Der Geschmack ist oft getrennt vom Genie. Das Genie ist ein reines Geschenk der Natur: Was es hervorbringt, ist das Werk eines Augenblicks. Der Geschmack dagegen ist das Produkt des Studiums & der Zeit […]. Die Bewegung, die sein natürlicher Zustand ist, ist zuweilen so sanft, daß es sie kaum bemerkt. Meistens ruft diese Bewegung jedoch Stürme hervor […].« Die Welt der Encyclop8die. Ediert von Anette Selg u. Rainer Wieland. Aus dem Französischen von Holger Fock, Theodor Lücke, Eva Moldenhauer und Sabine Müller. Frankfurt a. M. 2001, S. 126–129, Zit. S. 127f. 70 Karlfried Gründer : Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns »Biblische Betrachtungen« als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg i.Br. 1958. Die Kondeszendenz dient Hamann als ausgesprochene Gegenbewegung zu allen menschlichen Bemühungen, sich in den Himmel »hinein zu spekulieren«. Besonders schön geschieht das in einer weiteren

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Werk Hamanns prägt, muss hier also nicht erneut entfaltet werden. Was aber sind die stilistischen Konsequenzen eines Glaubens, der sich der Kondeszendenz einerseits, der Nachfolge andererseits verpflichtet weiß? Gott hat durch eine tiefe Herunterlassung vielleicht an seinem eigen[en] Beyspiel uns die Demuth lehr[en] woll[en].71

Das heißt für unseren Brief: ich glaube wie Socrates alles, was der andere glaubt72

In letzter pädagogischer Konsequenz wird dieses sich Einlassen auf den Standpunkt und das Fassungsvermögen des Gesprächspartners erst in den Fünf Hirtenbriefen entfaltet. Dort findet sich dann auch die klassische horazsche Begründung, warum diesbezüglich keinerlei Scheu und Zurückhaltung herrschen muss: »Et ab hoste concilium«73. Dies heißt in letzter Konsequenz darauf zu vertrauen, dass selbst die Feinde der Wahrheit zu Verkündern derselben werden können. Genau in diesem Sinn hatte sich Hamann – wie oben gesehen – fleißig auf Hume und auf das, was der junge Kant selbst zu Papier gebracht hatte, eingelassen.74

3.2

Mimesis

Verschiedentlich reflektiert Hamann seine Schreibart. Im Rahmen unseres Briefes prägt er das Bild von der Blindschleiche und der Heuschrecke, um die Unterschiedlichkeit der Stile zu illustrieren.75 Während erstere der Sicherheit wegen in den bekannten Fahrgleisen verharrt, bewegt sich die letztere in Sätzen und Bögen, die für andere nicht kalkulierbar sind. Dieses Bild erinnert an jene

71 72

73 74 75

Auslegung der Turmbaugeschichte aus Gen 11 (Londoner Schriften, S. 89): »Kommt, sagt Gott, wir wollen uns vom Himmel herunterlassen, last uns niederfahren. Dies ist d[as] Mittel, wodurch wir dem Himmel näher gekommen sind. Die Herunterlassung Gottes auf diese Erde; kein Thurm der Vernunft dess[en] Spitze bis an den Himmel reicht, v durch dessen Ziegeln v Schleim wir uns ein[en] Nam[en] zu mach[en] gedenken, v dessen Fahne die irrende Menge zum Wahrzeichen dienen soll.« Londoner Schriften, S. 113 ZH I, 377,26. Auf dem Hintergrund der Sokratischen Denkwürdigkeiten darf nicht verwundern, dass auch Sokrates mit der Haltung der Kondeszendenz in Verbindung gebracht wird. Allerdings darf auffallen, dass im Rahmen des Briefes ja eigentlich Kant »Sokrates« sein sollte. Lesen wir den Passus als Seitenhieb des Magus, dass sich Kant nicht hinreichend auf seinen Gesprächspartner einlässt? – Am Rande sei noch ein letztes Mal (s. o. Anm. 34) auf Pascal hingewiesen: »Herr de Saci verfuhr gewöhnlich so, wenn er sich unterhielt, dass er seine Gespräche jenen anpasste, zu denen er redete.« (A.a.O., S. 156). N II, 356,34. Vgl. auch ZH I, 356,20ff. ZH I, 379,24–27.

Der Genius aus der Wolke

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Inseln der Sokratischen Denkwürdigkeiten, zwischen denen Brücken und Fähren der Methode fehlen. Wenn Hamann sich mit dem assoziativen und sprunghaften Stil der Heuschrecke identifiziert, dann hat diese Sprunghaftigkeit einen Hintergrund: der mimische Stil kann nicht gradlinig sein, weil er nicht plan entfaltet wird, sondern verschiedene Bezugspunkte miteinander verbinden muss. Die Mimesis versteht Hamann eben nicht im Sinne der aristotelischen Nachahmungstheorie, sondern mit Johann Gotthelf Lindner als einen metakritischen Ansatz. Bei der Unterscheidung verschiedener Stilmittel gebraucht Lindner in seinem ersten Rhetoriklehrbuch eine Definition, welche sich sein Freund vollständig zueigen gemacht hat. Beinahe wie eine Definition von Metakritik erscheint es, wenn Lindner die Mimesis als »spöttische Wiederholung der Worte des andern« versteht. Mit dieser Formulierung unterscheidet Lindner verschiedene Unterarten der Ironie voneinander. Ironie tritt in Erscheinung als Sarkasmus, als Diasyrmus und eben als Mimesis. Lindners Definition dieser Unterart der Ironie ist bei Hamann auf fruchtbaren Boden gefallen: »Mimesis [ist] eine spöttische Wiederholung der Worte des andern.«76 Daher also nennt der Autor der Sokratischen Denkwürdigkeiten sein Werk im Zusammenhang mit der sokratischen Ironie eine »mimische[] Arbeit«!77 Sehr genau nämlich antwortet er mit seinem »Nachspott« auf zuvor Gehörtes und Gelesenes. Diese eigenwillige Logik, das aus verschiedenen Quellen Vernommene wiederholend in einen gezielten Kontrast zu stellen, ist das Stilmittel der Denkwürdigkeiten schlechthin. Das heißt: Hamann bemüht sich erst gar nicht – wie es eine bestimmte »Logic« von ihm erwartet – um Definitionen oder Begriffe, sondern stellt im Gegenteil vorgefundene Begriffe aus der sokratischen, philosophischen und christlichen Tradition in neue Verbindungen, um sie so einer Prüfung unterziehen zu können.78 Auch in unserem Brief an Kant hat Hamann seinen Stil diesbezüglich definiert: »In meinem mimischen Styl herrscht eine strengere Logic und eine geleimtere Verbindung als in den Begriffen lebhafter Köpfe.«79 Und auch an Lindner selbst schreibt Hamann unmittelbar nach Abschluss der Sokratischen Denkwürdigkeiten, dass das ganze Werk mimisch sei.80 Bleibt die Frage, ob es zwischen den verschiedenen »Schreibhaltungen« einen 76 Johann Gotthelf Lindner: Anweisung zur guten Schreibart überhaupt und zur Beredsamkeit insonderheit. Königsberg bey Johann Heinrich Hartung 1755. Ich zitiere nach dem photomechanischen Reprint, Kronberg/Taunus 1974, S. 28. Die Schrift ist unter anderem Gottfried Berens gewidmet. 77 N II, 61,10–17, Zit. Z.17. 78 Vgl. die grundsätzliche Ausführung in N II, 71,25–34. 79 ZH I, 378,24f. 80 ZH I, 404,11.

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inneren Zusammenhang gibt. Wie sieht die Verbindung zwischen dem kondeszendenzimitierenden sich Einlassen auf die Gedankenwelt des Gesprächpartners und der Mimesis aus? Hätte man diese Frage dem »Hochzuehrenden Herrn Magister« Kant vorgelegt, so würde dieser vielleicht geantwortet haben: Wie man sich auf jemanden einlässt, um ihn dann spöttisch ins Schwert der eigenen Wahrheiten fallen zu lassen? Zum Beispiel indem man einen wohlmeinenden Philosophen dessen eigenes Zitat aus dem großen Pope vor dessen eigener Nase wie eine Granate explodieren lässt … Alle diese Zusammenhänge verdienten es, weiter ausgeleuchtet zu werden, manch weiterer Splitter jener »Granate, die aus lauter kleinen Schwärmern bestund«81, wäre aufzusammeln. Alternativ dazu soll an dieser Stelle geschwiegen sein, um noch einmal der gellertschen Nachtigall zu lauschen: Soll euer Witz die Welt entzücken: So singt, so lang ihr feurig seyd, Und öffnet euch mit Meisterstücken Den Eingang in die Ewigkeit. Singt geistreich der Natur zu Ehren; Und scheint euch die nicht mehr geneigt: So eilt, um rühmlich aufzuhören, Eh ihr zu spät mit Schande schweigt.

81 ZH I, 398,37.

Frank-Joachim Simon (Lüdinghausen)

Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

1.

Die Vorgeschichte

1.1

Winckelmanns Laokoon-Deutung

Den Ausgangspunkt der ästhetischen Debatte, an der Herder sich beteiligt, bildet Winckelmanns Deutung der Laokoongruppe in seinen 1755 erschienenen Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. Sie dient Winckelmann dazu, seine Aussage über das Wesen der klassischen griechischen Kunst zu illustrieren, das er als »edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck«1 bestimmt. Aus der Körperhaltung, dem zusammengezogenen Unterleib und dem Gesichtsausdruck des Laokoon spricht ein ungeheurer Schmerz. Dieser Schmerz wird durch Fassung ausbalanciert: Das Gesicht zeigt keine Anzeichen von Wut, Laokoon seufzt, aber er schreit nicht: Seelengröße beherrscht den Schmerz. Bei aller Angespanntheit des Körpers befindet sich Laokoon in einer Stellung, die dem Zustand der Ruhe am nächsten kommt. Er vermeidet den Fehler der 1 Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, S. 43, Z 5/6. In: Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Zweite Auflage. Hg. v. Walther Rehm. Berlin/New York 2002. Als neuere Interpretation der Laokoon-Gruppe sei genannt: Bernard Andreae: Laokoon und die Kunst von Pergamon. Frankfurt a.M. 1991. Verglichen mit dem modernen Kenntnisstand fehlten Winckelmann und Lessing zwei wichtige Informationen: Das Original war nicht die vatikanische Marmorgruppe, sondern eine Bronzegruppe; der rechte Arm wurde erst 1904 gefunden und ergänzt. Zur Deutung der Situation und zur Problematik von Winckelmanns ästhetischer Deutung der Laokoongruppe vgl. Wolfgang Leppmann: Winckelmann. Ein Leben für Apoll. Berlin 1996, S. 110–117. Die hier begonnene Debatte wurde fortgeführt von Goethe: Johann Wolfgang v. Goethe: Über Laokoon. In: Goethe. Berliner Ausgabe. Bd. 19: Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur bildenden Kunst I. Berlin/Weimar 1952, S. 129–141, und wird auch von Schopenhauer aufgenommen: Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zürich 1988 (ND der dritten, verbesserten und beträchtlich vermehrten Auflage des I. Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 1859), S. 302–305 (§ 46).

202

Frank-Joachim Simon

parenthyrsis, einer übertriebenen Darstellung des Schmerzes in Körperhaltung und Ausdruck. Winckelmann vergleicht Laokoon mit dem Philoktet des Sophokles: Auch dieser tragische Held trägt sein Leiden mit Fassung. In diesem Zusammenhang trifft Vergil eine tadelnde Nebenbemerkung, da dieser Laokoon langgezogene Schmerzensschreie ausstoßen lässt.2

2 Aeneis II, 222: clamores simul horrendos ad sidera tollit [er erhebt zugleich grauenerregende Schreie zum Himmel, übers. v. F-J. S.], in: P. Vergili Maronis Opera recognovit brevique adnotatione critica instruxit R.A.B. Mynors. Oxford 1969.

Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

1.2

203

Lessings Laokoon

Lessing stimmt Winckelmann darin zu, dass Laokoon nicht schreit.3 Er sieht jedoch einen anderen Grund dafür : Die Darstellung eines schreienden Laokoon hätte zu einer entsprechenden Verzerrung des Mundes geführt und diese wiederum den ästhetischen Eindruck der schönen Form, den die Laokoon-Gruppe hervorbringt, beeinträchtigt oder ganz zerstört.4 Der vom Schmerzensschrei nicht verzerrte Mund des Laokoon weist also nicht auf die Seelengröße des Helden hin, sondern auf die ästhetischen Gesetze bildhauerischer Komposition, die auch bei Darstellung eines von höchstem Schmerz gequälten Menschen Gültigkeit haben.5 Lessing differenziert aus diesem Anlass grundsätzlich zwischen bildender Kunst und Dichtung: Regeln, die für eine plastische Gruppe gelten, gelten keineswegs auch in der Poesie. Daher nimmt Lessing Vergil gegen Winckelmann in Schutz: In der Dichtung darf Laokoon schreien. Denn der Vers »clamores simul horrendos ad sidera tollit« geht im Fortschreiten der Handlung unter. Deshalb belastet er die Einbildungskraft nicht mit der unschönen Vorstellung eines verzerrten, brüllenden Mundes.6 Lessing führt diese Differenzierung weiter aus, indem er die Darstellung eines ähnlichen Schmerzenshelden, des Philoktet in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles, untersucht. Das Ergebnis seiner Interpretation ist, dass in der dramatischen Dichtung die Darstellung eines vor Schmerz schreienden und winselnden Helden durchaus nicht verpönt war.7 Damit ist Winckelmanns Rüge gegen Vergil erledigt; sie hat ihren Grund in einer mangelnden Differenzierung zwischen den Regeln der bildenden Kunst und der Dichtung.

1.3

Herders Beitrag zu der Debatte

Herder hat diese Kontroverse besonders in dem ersten Wäldchen der unter dem Titel Kritische Wälder erschienenen Schriftenreihe aufgegriffen.8 Von seinem

3 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Briefe antiquarischen Inhalts [1766]. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5,2: Laokoon. Briefe antiquarischen Inhalts. Text und Kommentar. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a.M. 1990, S. 18, Z. 4–12; S. 21, Z. 33 – S. 22, Z. 8. 4 Lessing: Laokoon, S. 29, Z. 15–31. 5 Lessing: Laokoon, S. 35, Z. 1–8. 6 Lessing: Laokoon, S. 35, Z. 9–30. 7 Lessing: Laokoon, S. 37, Z. 20 – S. 47, Z. 6. 8 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder [1769], in: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Schriften zur Literatur. Bd. 2/1: Kritische Wälder. Erstes bis Drittes Wäldchen. Viertes Wäldchen. Paralipomena. Bd. 2/2: Kritische Wälder. Kommentar. Register. Hg. v. Regine Otto.

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Respekt gegenüber Winckelmann zeugt ein Nachwort auf den Verstorbenen, in dem Herder ihn mit Homer und Platon gleichsetzt. Herder betrachtet Winckelmann als wiederauferstandenen Griechen, dessen Aufgabe es sei, sein Jahrhundert zu erleuchten.9 Achtung bezeugt er aber auch Lessing, dessen Laokoon ihm Anlass zu vielen fruchtbaren Reflexionen gewesen sei.10 Insgesamt verfolgt Herder die Tendenz, Winckelmanns Laokoon-Deutung gegen die Einwände Lessings zu verteidigen. Wenn also Laokoon seufzt und nicht schreit, so liegt das nicht an den von Lessing angeführten spezifischen Eigenarten der plastischen Kunst, sondern an einer Dezenz, die auch in Drama und Epos zu beobachten ist. Lessings Beleg, den Philoktet des Sophokles, interpretiert Herder als Helden, der »mitten im Schmerz seinen Schmerz bekämpft.«11 In dem dritten Akt des sophokleischen Dramas sieht Herder zwar ein »Gemälde des Schmerzes […] durch alle seine Grade […]; aber im Ganzen doch das Gemälde des zurückgehaltenen und nicht des ausgelassenen Schmerzes«12. Bezüglich der Ilias bestreitet Herder, dass homerische Helden notwendig vor Schmerz schreien und stellt die Regel auf, dass dies nur im Ausnahmefall geschieht.13 Herders Polemik erstreckt sich auch auf die Prioritätenfrage. Lessing hatte vermutet, dass die Laokoon-Gruppe nach Vergils literarischer Vorlage (Aeneis II, 212–224) ausgeführt worden sei. Dabei hätten die Künstler Abänderungen vorgenommen, die die Regeln der Plastik erfordert hätten, insbesondere hätten sie die von Vergil erwähnten Schmerzensschreie zu einem Seufzen gemildert14 und im Rahmen ihrer Komposition die Anordnung der Schlangen modifiziert.15 Herder führt demgegenüber als Quelle der vergilischen Schilderung einen Euphormio an, der bei Servius erwähnt wird und interpretiert Vergils Darstellung der Laokoon-Episode als schlechte Adaption eines Prodigiums aus der Ilias (B 305–326, in der eine Schlange Sperlingsküken mitsamt ihrer Mutter er-

9

10 11 12 13 14 15

Berlin/Weimar 1990 (Das Publikationsjahr 1769 gilt nur für das Erste, Zweite und Dritte Wäldchen). »Da ich Jahre her täglich zu den Alten als zu der Erstgeburt des menschlichen Geistes wallfahrte und Winckelmann als einen würdigen Griechen betrachte, der aus der Asche seines Volkes aufgelebt ist, um unser Jahrhundert zu erleuchten, so kann ich Winckelmannen nicht anders lesen, als ich einen Homer, Plato und Baco lese und er seinen Apollo siehet.« (Herder: Kritische Wälder, 2/1, S. 176f). »Meine Schrift selbst: wie würdig mir ›Laokoon‹ geschienen, um darüber zu denken! Sei ein Opfer meiner Achtung an den Verfasser desselben« (Herder: Kritische Wälder, S. 176). Herder: Kritische Wälder, S. 16/17. Herder: Kritische Wälder, 2/1, S. 19. Herder: Kritische Wälder, 2/1, S. 20–24. Lessing: Laokoon, S. 59, Z. 18–21. Lessing: Laokoon, S. 57, Z. 2–9.

Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

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würgt).16 Sollte jedoch das – verlorene – Laokoon-Drama des Sophokles die Vorlage gewesen sein, kann Winckelmann ebenfalls gerechtfertigt werden. Denn Herder erschließt, dass dieser Laokoon so dargestellt wurde wie Philoktet – in Herders Deutung, also mit dezenten Schmerzenslauten und verhaltenem Schmerz. Phasenweise erweitert Herder seine Darlegungen über die Laokoon-Debatte hinaus. Ein interkultureller Vergleich zwischen den homerischen Epen und MacPhersons Ossian, die Grenzziehung zwischen sprachlichem und plastischem Kunstwerk und die Grundfrage, ob die antike bildende Kunst auf die Darstellung ästhetisch schöner Objekte oder auf die Mimesis beliebiger Gegenstände ausgerichtet war, bilden weitere Gegenstände von Herders Darlegungen.17 Hierbei tritt gegen Ende des Ersten Wäldchens eine Person in den Vordergrund des polemischen Interesses, die Herder mit deutlicher Geringschätzung behandelt. Es ist der in Halle wirkende Professor der Beredsamkeit und Philosophie Christian Adolf Klotz. Offenbar schwelte in Herder schon seit dem Erscheinen der Fragmente,18 ihrer Anzeige durch Klotz und ihrer Rezension durch Riedel19 der Wunsch, sich polemisch zu entladen. Dies geschah vor allem im Zweiten Kritischen Wäldchen. Auffällig ist nun, dass Herder seine Fragmente anonym erscheinen ließ und dass, als vermutlich durch den Verleger, den Königsberger Buchhändler Kanter, seine Verfasserschaft in kleinen Kreisen bekannt wurde, Herders Verhalten ambivalent war. Scheffner und Klotz gegenüber bekannte er sich zur Verfasserschaft, drang aber darauf, dass beide das Geheimnis wahrten.20 Der Grund liegt vermutlich darin, dass Herder den Erfolg seiner Fragmente abwarten wollte. Dasselbe Verfahren beobachtet Herder auch bei der Publikation der Kritischen Wälder. Sie erschienen anonym, und so sehr hat sich Herder um die 16 Herder : Kritische Wälder 2/1, S. 67/68; 2/2, S. 61 (Herder bezeichnet mit »Euphormio« irrtümlich den griechischen Dichter Euphorion). Die von Herder angeführte Passage entspricht: Homer : Ilias. Neue Übersetzung. Nachwort. Register von Roland Hampe. Stuttgart 1979. Zu Fragen der Quellenkritik und Deutung der Statuengruppe vgl. den Artikel Laokoon (ohne Verf.), in: http://de.wikipedia.org/wiki/Laokoon. Dort ist der von Servius erwähnte Euphorion richtig als Autor des 3. Jh. v. Chr. bezeichnet. 17 Herder: Kritische Wälder, 2/1, S. 52f, betrachtet Lessing als Vertreter einer Rezeption griechischer Kunst, bei der das Interesse am Schönen das an der Mimesis beliebiger Objekte überwiegt. 18 Johann Gottfried Herder : Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente [1766/1767]. In: ders.: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Schriften zur Literatur 1. Hg. v. Regine Otto. Berlin/Weimar 1985. 19 Herder: Über die neuere deutsche Literatur, S. 694–697. – Der Wandel von Herders Haltung gegenüber Klotz ist dargestellt in Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken. Berlin 1880, S. 211–224; S. 225–274. 20 Herder: Über die neuere deutsche Literatur, S. 684 (zu Scheffner); S. 694 (zu Klotz).

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Wahrung seiner Anonymität bemüht, dass er auch Hamann nichts davon ahnen ließ. Das Erste und das Zweite Wäldchen erschienen in Riga im Januar 1769. Im Januar und Februar 1769 erschienen bereits mehrere Rezensionen, in denen Herder als Verfasser erkannt war.21 Ungeachtet dieser öffentlichen Stimmen leugnete Herder gegenüber Hamann, Lessing und Nicolai seine Verfasserschaft und veröffentlichte sogar ein Dementi in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek.22 Eine Erklärung für Herders Verhalten zu geben, möchte ich nicht versuchen. Anders als die Fragmente sind die Kritischen Wälder kein Erstlingswerk und Herder konnte kaum darauf rechnen, mit seinen Beteuerungen Erfolg zu haben.

2.

Das Echo: Herders und Hamanns Briefwechsel Rekonstruktion des Briefgesprächs

2.1

Hamanns Brief vom 24. Januar 1769

Folgt man Hamanns Ort- und Zeitangabe zu Beginn des Briefes,23 so ist dieses Schreiben sehr spontan entstanden. Als Ort der Abfassung wird »Kanters Laden und Bureau« angegeben, als Zeit »nach dem Mittagessen des 24. Januar« und ergänzend: am Geburtstag des Königs (also an einem Tag, an dem Hamann an alles andere zu denken gehabt hätte als an Herders Kritische Wälder). Demnach wäre Hamann nach dem Mittagessen in Kanters Buchladen gegangen, dort auf ein Buch mit dem Titel Kritische Wälder gestoßen, hätte es als Werk Herders sogleich erkannt und reagiert mit diesem kurzen Brief darauf. Entsprechend stürmisch ist der Anfang. Hamann kombiniert eine exclamatio (Ah!) mit einer geminatio (»Hochverrath! Hochverrath!«). Herders Stillschweigen bezüglich der Publikation bezeichnet Hamann als »Hochverrath«, als »meineidige und treulose Verschwiegenheit«, also als Bruch des Freundschaftsbundes. Die Strafe besteht in der Ankündigung, das Buch in den Königsberger Gelehrten und Politischen Zeitungen anzeigen zu wollen.24 Diese Absicht hat Hamann, obwohl er sein Exemplar nicht sofort benutzen konnte (es war beim

21 Herder: Kritische Wälder, 2/2, S. 26f: 23. Januar 1769: Riedel; 6. Februar 1769: Hamann; 13. Februar 1769 in der Neuen Hallischen Gelehrten Zeitung; 27. Februar 1769: Jenaische Zeitungen. 22 Herder: Kritische Wälder, 2/2, S. 24f. 23 ZH II, 433, 30–32. 24 »Genannt oder ungenannt aber digito monstratus: hic est! müßen Sie in die Kgsbergschen Gelehrten Zeitungen.« (ZH II, 434, 3–5).

Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

207

Buchbinder), am 6. Februar auch ausgeführt.25 Hatte er Herder in seinem Billet noch vor die Alternative »genannt oder ungenannt« gestellt, so wird in der Anzeige an dem Verfasser kein Zweifel gelassen. Der Briefschluss nimmt den exaltierten Ton des Anfangs jedoch zurück. Hamann entlässt seinen Adressaten mit den freundlichsten Grüßen.26 Nur in Z. 14f kommt Hamann noch einmal auf den ungeheuerlichen Vorfall zurück. Er setzt mit der floskelhaften Wendung »ersterbe wie gewöhnlich« an, die man nach Brief Nr. 355 durch »Ihr alter treuer Freund« ergänzen könnte, lässt aber unter Inkaufnahme eines Anakoluthes und unter Auslassung des »bin« die Worte »aber nicht recht mit Ihrer autorl.[ichen?] Zurückhaltung gegen mich zufrieden« folgen. Der Brief behält dadurch seinen Charakter von Spontaneität, zugleich lässt der freundliche Abschied vermuten, dass der dramatische Anfang nicht so ernst gemeint gewesen sei.

2.2

Hamanns Anzeige der Kritischen Wälder im 11. Stück der Königsbergischen Gelehrten und Politischen Zeitungen vom 6. 2. 176927

Hamann nennt zu Beginn der Anzeige den Titel, aber nicht den Verfasser des Werkes. Im Folgenden bezeichnet Hamann Herder dreimal durch den Ausdruck »Verfasser« (Z. 9, Z. 21 als V. abgekürzt, Z. 23 als Verf.). Herders Name ist aber, wenn auch ohne Vokale, in Z. 38 gesetzt. Damit macht Hamann seine Ankündigung wahr, sich für Herders Schweigsamkeit durch öffentliche Nennung seiner Urheberschaft zu revanchieren. Hamann lagen die Kritischen Wälder in der Fassung von 1769 vor, in der sie nur aus dem Ersten und Zweiten Wäldchen bestehen. Seine Anzeige ist keine Rezension, sie geht aber auch über eine bloße Buchanzeige hinaus. Sie weist insofern typische Merkmale von Hamanns kritischer Tätigkeit auf, als sie aus dem angezeigten Werk gespeist wird – die Zeilen 9–15 sind eine Paraphrase von Herders Schlusswort am Ende des Ersten Wäldchens unter teilweise wörtlicher Übernahme von Herders Text – und sie inhaltlich Übereinstimmungen mit beiden Briefen Hamanns an Herder enthält. Auf eine Inhaltsangabe verzichtet Hamann und verweist stattdessen auf die analytischen Inhaltsverzeichnisse, die Herder jedem Band vorausgeschickt hat. Die philologische Detailkritik überlässt er den »Kunstrichtern Deutschlands.«28 25 N IV, 329. 26 ZH II, 434,13–16. 27 Sie bildet zusammen mit dem 5., 59., 97. und 99. Stück eine Serie von fünf in den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen erschienenen Rezensionen, in denen Hamann sich mit Klotz und seinen Mitarbeitern auseinandersetzt. 28 N IV, 329,27.

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Hamann entwickelt seine Buchbesprechung nach Nennung des Titels29 in drei Schritten: Er berührt den unsystematischen, aber doch nicht planlosen Aufbau des Werkes,30 er gibt seine Tendenz an,31 und er verweist den Autor an eine lohnendere Aufgabe.32 Ausführlich wird der Titel besprochen. Hamann greift hierzu Herders Bitte am Schluss des Ersten Wäldchens auf, von Wortspielen abzusehen, die sich auf diesen Titel beziehen. Zur Begründung wird der Name erläutert: Das Werk ist zufällig entstanden, durch »die Folge der Lektüre«, es ist keine deduktiv-dogmatische Ästhetik. Hamann verbindet hiermit das von Herder aufgegriffene Bonmot Lessings, wonach es Vorrecht der Alten gewesen sei, in keiner Sache zu viel oder zu wenig zu tun,33 also das rechte Maß (zwischen losem und planvollem Aufbau) zu halten. Für diese Haltung prägt Hamann das Wort von der »weisen Ruhe«, die die Werke der Alten atmen.34 Zur Tendenz des Werkes bemerkt Hamann knapp, dass in dem Ersten Wäldchen Winckelmann gegen Lessing verteidigt wird, während die Polemik gegen Klotz zu einer »Jagd kritischer Bönhasen oder Wilddiebe« humorisiert wird.35 In Verbindung mit dieser Bemerkung steht ein weiterer Satz, der der Interpretation bedarf: Es ist freylich wahr, dass das Publicum sich ein wenig zu spät für die schmeichelhafte Nachsicht schadlos hält, wodurch es den Genium Seculi aufgemuntert, sich zur völligen Größe eines Anti-Burmanni, Gottschedii bifrontis und Thersitis litterati zu entwickeln –.36

Dieser Nachsatz enthält das Stilmittel der Aposiopese. Er macht zuerst eine Konzession (»es ist freylich wahr«), führt aber die Konsequenz nicht aus (zu ergänzen etwa: gleichwohl ist es nicht angemessen, ein ganzes Buch für die Widerlegung eines Kritikers aufzuwenden). In diesem unvollendeten Satz bedarf 29 30 31 32 33

N IV, 329,8f. N IV, 329,9–28. N IV, 329, 28–34. N IV, 329,34–44. Herder: Kritische Wälder, Bd. 2,1, S. 178; Lessing: Laokoon, S. 14; diesem Bonmot scheint das griechische Sprichwort lgdem acam zugrunde zu liegen, das den Tempel des Apollon in Delphi zierte, mit dem wiederum Hamanns Identifikationsfigur Sokrates besonders verbunden war. 34 N IV, 329,20. 35 N IV, 329,30f. »Bönhase: opifex extra tribum opus faciens, pfuscher, stümper« (in: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Zweiter Band. Biermörder – Dwatsch. Leipzig 1860. Nachdruck München 1984). »Bönhase: …ein Handwerker, welcher ein Handwerk nicht gehörig erkennet hat, und dasselbe dennoch treibt; ein Pfuscher« (in: Johann Christoph Adelung. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1793, s.v.). 36 N IV, 329,31–34.

Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

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die Aussage wiederum einer Interpretation. Zunächst wird dem Publikum eine »schmeichelhafte Nachsicht« attestiert, für die es sich jetzt – aber »ein wenig zu spät« schadlos hält, also eine Entschädigung verlangt. Der entstandene Schaden besteht darin, dass der »Genius Seculi« – der Zeitgeist – sich zur »völligen Größe eines Anti-Burmanni, Gottschedii bifrontis und Thersitis litterati« entwickelt hat. In diesem Satz fällt eine Trias von Eigennamen auf; zwei sind die Namen von realen Personen, der dritte bezeichnet eine literarische Figur, den griechischen Krieger Thersites aus Homers Ilias.37 Die erste Person ist Christian Adolph Klotz, der gegen Peter Burmann 1761 eine Anti-Burmannus betitelte Streitschrift gerichtet hatte.38 Die zweite Person, der »Gottschedius bifrons«, ein »Gottsched mit zwei Stirnen« ist nach Unger ebenfalls eine Bezeichnung für den in Halle tätigen Latinisten Klotz, gegen den Herder in seinem Zweiten Wäldchen so ausgiebig polemisiert.39 Sein Epitheton bifrons hat er vermutlich von dem doppelköpfigen Gott Ianus. Thersites ist eine literarische Gestalt. Er ist ein armer Plebejer, ein Ausbund an Hässlichkeit, der in der Heeresversammlung das Handeln der Könige kritisiert und dafür von Odysseus mit einem Schlag zum Schweigen gebracht wird. Er ist in der Ilias der Kritiker schlechthin, wird hier freilich durch das Epitheton litterati zu einem gelehrten Thersites umstilisiert. Diese drei Personen haben sich aus dem Genius seculi entwickelt. Dieser Ausdruck ist die lateinische Entsprechung für das deutsche Wort »Zeitgeist«, aber er ist auch der Titel eines Werkes von Klotz.40 Es lässt sich daher vermuten, dass Hamann mit vierfacher Antonomasie den Zeitgeist (Klotz) als Überkritiker kennzeichnet, dem gegenüber das Publikum zu nachsichtig war und jetzt Schadenersatz verlangt, der in Herders Wäldchen allerdings zu üppig ausgefallen wäre – eine angedeutete Kritik an der Konzentration des Zweiten Wäldchens auf Klotz.41 37 Homer : Ilias B, 212–277; ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Figur in: Herder: Kritische Wälder, 2/1, S. 157–167. 38 Carl Renatus Hausen: Artikel Klotz, Christian Adolph. In: ADB. Hg. v. Conrad Bursian. Bd. 16. Leipzig 1882, S. 228–231, zitiert nach: Digitale Volltext-Ausgabe in: Wikisource, URL: http://de.wikisource.org; Annaliese Munetic: Christian Adolph Klotz. Gottschedius Bifrons – Thersites Litteratus, 1738–1771. Diss. Austin/Texas 1964, S. 12f. 39 Rudolf Unger : Hamann und die Aufklärung. Jena 1911. Bd. 1, S. 566. Diese Identifikation wird bestätigt durch folgende Aussage Hamanns: »Um meiner Freunde und Brüder wünschte ich diesen lateinschen Gottsched ein wenig zurecht gesetzt zu sehen.« (ZH II, 403,27f; der Bezug zu Klotz ergibt sich aus S. 403, Z 18–20). 40 Genius seculi (o.O., 1760); ins Deutsche übersetzt von einem Ungenannten unter dem Titel »Christian Adolph Klotzens Satyren. Nebst einem Anhang«. Leipzig 1775. Die Angabe erfolgt nach Bursian: Artikel Klotz, S. 228–231 sowie nach: o. Verf., Genius Seculi. Altenburgi ex officina Richteria, 1760 (Digitalisat der Universitätsbibliothek Halle). 41 Diese Kritik übt Hamann auch in seinen auf die Kritischen Wälder bezüglichen Briefen an Herder (ZH II, 445,34–446,2).

210

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Auf diese Interpretation deutet zumindest die gewaltige abschließende Satzperiode hin, in der Hamann für seine Person eine Verteidigung Homers gegen seine Kritiker, also Herders Rettung des Thersites gegen Klotz, für überflüssig erklärt42 und sowohl Lessing als auch Herder empfiehlt, lieber Winckelmann nachzueifern als sich mit Klotz aufzuhalten.

2.3

Hamanns Brief vom 13./15. März 1769

Noch ohne Kenntnis einer Reaktion Herders ist dieser Brief Hamanns geschrieben. Zu einer solchen hätte Herder inzwischen Zeit gehabt, denn seit dem Brief vom 24. Januar musste er wissen, dass Hamann ihn durchschaut hatte. Aber auch Hamann geht auf das Ausbleiben einer Reaktion nicht ein. Dagegen wiederholt er den Vorwurf, Herder habe ihm wichtige literarische Arbeiten verschwiegen. Er meint die neue Ausgabe der Fragmente und nennt außerdem ausdrücklich das Zweite Kritische Wäldchen, also die Polemik gegen Klotz.43 Er sagt es Herder auf den Kopf zu, dass er aufgeflogen sei, und warnt davor, das »Blindekuhspiel«44 fortzusetzen. Wenn Hamann Herder »mehr wahre Liebe und wahren Ehrgeiz auf Ihre Talente«45 anrät, so verstehe ich dies als Brachylogie für »mehr wahre Liebe [zu Ihren Talenten] und wahren Ehrgeiz auf [= für] Ihre Talente.« Dieser Rat enthält eine Fehleranalyse: Der Grund für die Selbstverleugnung bzw. Anonymisierung liegt in mangelndem Selbstvertrauen. Peinlich wird Herders Verhalten, wenn er sein Inkognito auch jetzt noch aufrechterhalten will. Ausführlicher führt Hamann Herder die Gefahren vor Augen, die er durch seine Publikationen heraufziehen sieht. Sie liegen in Herders Selbstdarstellung vor dem Publikum, da er sich auf eine Fehde mit Klotz einlässt, ein Niveau, auf dem er nur verlieren kann, da er verletzte Eitelkeit und Rachsucht verrät und vor allem, da er vor dem Publikum das Bild eines Polygraphen oder Polyhistors abgibt, der, weil mit vielen literarischen Projekten gleichzeitig beschäftigt, nichts gründlich ausführen kann.46 So wird aus dem »Blindekuhspiel« eine Frage der Selbsterkenntnis und Ha-

42 N IV, 329,34–37. – Klotz hatte bemängelt, dass Thersites nicht zum Stilniveau der Ilias passe. Vgl. hierzu Herder : Kritische Wälder 2/1, S. 157–167. 43 ZH II, 434,34–435,8. 44 ZH II, 435,6. 45 ZH II, 435,8f. 46 ZH II, 435,9–25. Der Hinweis Hamanns auf »die Schmähschrift in der Klotzischen Bibliothek« (ZH II, 434,34–435,1) bezieht sich vermutlich auf die Besprechung der Wäldchen in der Neuen Hallischen Gelehrten Zeitung (Teil 4, 1769, 13. Stück, 13.2.).

Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

211

mann nimmt die Freundespflicht auf sich, seinem jüngeren Freund die diesbezüglichen Mängel aufzuzeigen.

2.4

Herders Brief vom März 1769

Herders Brief ist nicht datiert. Hamann hat ihn »Ende März« erhalten und Herder nach eigenen Angaben vierzehn Tage daran geschrieben.47 Zugestellt wurde der Brief durch einen persönlichen Bekannten beider.48 Es ist also nicht unmöglich, dass Herder seinen Brief ohne Kenntnis von Hamanns Schreiben vom 13./15. März verfasst hat. Aber Hamanns Vermutung, wonach Herder sein Schreiben kannte, lässt sich auch nicht von der Hand weisen.49 Herder gibt sich in seinem Brief sehr verstimmt. Gleich zu Beginn stellt er fest, dass er und Hamann »immer mehr auseinanderkämen«50 und sagt voraus, dass sie einander bald nicht mehr verstehen würden.51 Für diese Verstimmung führt Herder mehrere Gründe an. Er vermutet, dass Hamann seine Briefe nicht vertraulich behandelt;52 er ist befremdet über eine kritische Bemerkung Hamanns zu einer Passage über die Kreuzzüge eines Philologen, die Herder seinem Nachruf auf Thomas Abbt eingefügt hatte;53 er ist verstimmt über Hamanns Einladung zur Mitarbeit an den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen, weil sich der Herausgeber, Kanter, äußerst knauserig gegenüber Herder gezeigt hat.54 Verbindet man diese Äußerungen mit der Situation (der anonymen Publikation der Kritischen Wälder), so liegt der Kern von Herders Vorwürfen darin, 47 ZH II, 443,4–7. 48 »Den letzten März habe durch Steidel Ihren sine die et consule [undatierten, F-J. S.] gezeichneten Brief erhalten.« (ZH II, 443,10f). 49 Hamann selbst war in diesem Punkt ungewiss: »Ich vermuthe aber kaum, dass Sie damals mein letztes Geschmier vom 15 Mart. das eine Einl. an Steidel war erhalten« (ZH II, 443, 12f). Dagegen einige Zeilen später : »Es kommt mir aber beynahe vor als wenn dies in meinem jüngsten Briefe steht und dass Sie denselben also doch erhalten« (ZH II, 443, 25–27). Hier irrt Hamann allerdings, da die von ihm erinnerte Stelle bezüglich des Beleidigten und des Beleidigers in seinem Brief vom 17. Januar 1769 steht (ZH II, 430,33–431,4). 50 ZH II, 437,11f. 51 ZH II, 437,13f. 52 ZH II, 437,16–22. 53 ZH II, 438,6–15. Der Nachruf auf Abbt in: Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. 2. Bd. Berlin 1877, S. 286 (Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal an seinem Grabe errichtet [1768]). 54 ZH II, 438,23–439,3. Herder gibt durch den Hinweis auf Kanters Unzuverlässigkeit zugleich einen Grund für seine (wirkliche oder vorgetäuschte) Unkenntnis der Rezension Hamanns vom 6. Februar an: »Auch die Recension meiner Sachen in ihnen kommen mir also nicht zu Auge, so wie ich die Stücke dieses Jahres nur beiläufig u. unvollkommen durchgesehen, da ich sie vor 8. Tagen in Mitau fand.« (ZH II, 439,3–5).

212

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dass Hamann durch (unabsichtliche) Indiskretionen dazu beiträgt, Informationen an die literarischen Gegner55 von Herder weiterzugeben. Daher vertraut Herder seinerseits seinen an Hamann gerichteten Briefen nicht alles an, womit die Begründung für die fehlende Unterrichtung über das Erscheinen der Kritischen Wälder gegeben wäre. Herder begnügt sich aber nicht damit, sein Schweigen verständlich zu machen. Er leugnet auch jetzt noch seine Verfasserschaft, ja, er behauptet, die Kritischen Wälder gar nicht zu kennen.56 Und damit nicht genug, mutet er Hamann sogar zu, ihn von diesem Buch loszusagen, also gegenüber Dritten Herders Autorschaft zu leugnen.57 Dies heißt nicht weniger als Hamann, dessen besondere Nähe zu Herder bekannt war und dessen Angaben als besonders glaubhaft eingestuft wurden, wider besseres Wissen zur Unwahrheit anleiten zu wollen, ein erstaunliches Ansinnen für einen Diener des Wortes Gottes.58 Auf Hamanns Ankündigung einer Buchanzeige reagiert Herder dementsprechend mit der gereizten Frage, ob dieser ihn in seinen Zeitungen profitiert59 habe. Diese Haltung Herders ist vermutlich als taktisch zu bewerten: Auf Hamanns Vorwürfe reagiert er mit Gegenvorwürfen, die nicht völlig aus der Luft gegriffen sind: Es gab Indiskretionen und sie dienten Klotz und seinen Anhängern. Kanter hatte sich gegenüber Herder nicht korrekt verhalten. Nicht mehr taktisch erklären lässt sich, dass Herder die Verfasserschaft der Kritischen Wälder leugnet, obwohl sie sich gerade gegenüber Hamann nicht mehr leugnen ließ. Maliziös wirkt Herder dort, wo er seinen Mentor dazu auffordert, anderen gegenüber Herders Verfasserschaft abzustreiten. Hätte Hamann das getan, so hätte er sich lächerlich gemacht, zumal er in seiner Anzeige vom 6. Februar Herder als Verfasser so gut wie namhaft gemacht hatte.

55 In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Name Riedels (ZH II, 437,29–32; 439,23–31). 56 ZH II, 439,35–37; 440,6. 57 ZH II, 440,5f. 58 Herder war damals nach seiner Ordination Prediger in Riga: Hans Dietrich Irmscher : Johann Gottfried Herder. Stuttgart 2001, S. 16. 59 ZH II, 440,6f; »profitiert« ist eine von dem lateinischen Verb profiteri (bekennen, öffentlich bekannt machen) abgeleitete und eingedeutschte Verbform. Herders Frage wirkt heuchlerisch, hatte Hamann doch eine Anzeige in seinem Brief vom Januar angekündigt. Boshaft ist sie, falls Herder entgegen seiner Versicherung diese Nummer der Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen doch schon gelesen hatte.

Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

2.5

213

Hamanns Brief vom 9. April 1769

Der Brief dient der Rechtfertigung gegenüber den von Herder erhobenen Vorwürfen. Daher folgt Hamann dem Duktus von Herders Schreiben vom März; die Disposition ist hierdurch vorgegeben. Nach kurzer Bestätigung des Empfanges von Herders Schreiben60 geht Hamann auf zwei der von Herder erhobenen Vorwürfe ein, den des Vertrauensbruchs61 und den der falschen Empfindlichkeit.62 Diese Replik führt zu einem Exkurs, in dem Hamann auf sein widersprüchliches Verhältnis zur Bibellektüre zurückblickt,63 um in den folgenden Zeilen Herder mit den neuesten Neuigkeiten über den »Extemporaldichter« Lauson zu unterhalten.64 Danach schwenkt Hamann wieder genauer auf den Duktus von Herders Brief ein. Herders ablehnender Haltung zum Trotz fordert er einen Beitrag zu den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen ein65 und gibt Herder einen Überblick über seine eigene »Herder-Bibliothek«, nicht ohne ein Exemplar der noch nicht vorhandenen Schriften einzufordern.66 Es folgt der Kernteil des Briefes, der keine Rechtfertigung mehr ist, sondern der abschließende Kommentar zu Herders Versuch, seine Verfasserschaft der Kritischen Wälder geheimzuhalten.67 Hamann beendet den Brief mit den üblichen Nachrichten zu Bücherneuerscheinungen, Bucherwerbungen und der eigenen Lektüre.68 Das Hauptthema meldet sich erst mit den letzten Zeilen des Briefes wieder : Die Bemerkung über die »deutschen Gelehrten […] wahre Froschmäusler«69 könnte auf Klotz zielen; eine Erklärung dazu, warum Herder vierzehn Tage für seinen Brief gebraucht hatte, verschiebt Hamann »auf ein andermal«70 und beendet den Brief, für den er einen Vormittag verbraucht hat, »ohne Abschied«.71 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

ZH II, 443,10–12. ZH II, 443,12–22. ZH II, 443,22–32. ZH II, 443,32–444,13. ZH II, 444,13–27. ZH II, 444,27–445,2. ZH II, 445,3–7. ZH II, 445,8–446,15. ZH II, 446,16–447,18. ZH II, 447,11f. Mit diesem Ausdruck spielt Hamann auf die unter den Werken Homers überlieferte Eposparodie mit dem Titel Froschmäusekrieg (batrachomyomachia) an. Siehe dazu Thomas W. Allen: Homeri Opera. Tomus V hymnos Cyclum Fragmenta Margiten Batrachomyomachiam Vitas continens. Oxford 1978 [ND der Ausgabe Oxford 1912]. Den Namen »Froschmeuseler« trägt schon die Nachdichtung von Georg Rollenhagen aus dem Jahre 1595; siehe Helmut Ahlborn: Pseudo-Homer. Der Froschmäusekrieg. Theodoros Prodromos. Der Katzenmäusekrieg. Darmstadt 1978 (Lizenzausgabe der Ausgabe Berlin 1968), S. 15. 70 ZH II, 447,15–18. 71 ZH II, 447,18.

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So balanciert der abwechslungsreich-schwärmerische72 Schlussteil des Briefes den schweren und ernsten Mittelteil aus. Ihm soll im Folgenden die Aufmerksamkeit gelten, da Hamann hier Herders Verfehlungen zurechtrückt und sein Taktieren in den Horizont einer vor Gott zu verantwortenden Autorschaft stellt. Zuerst erklärt Hamann, Herders »öffentliche Entsagung der Wälder«73 habe alle seine Freunde geärgert. Er tadelt Herders Versuch, ihn im Sinne dieser Entsagung einzuspannen als »Gabe mir ins Gesicht was aufzubürden.«74 Der entsprechende Satz ist elliptisch;75 den Tadel schließt Hamann mit einer griechischen Litotes: »Ti ulim eipy ouj epaimy«76 (was sage ich euch/soll ich euch sagen? Ich lobe es nicht, übers. v. F-J. S.). Es folgt eine maliziöse Dokumentation der Lüftung von Herders Verfasserschaft. Sie begann damit, die Kritischen Wälder in Riga zu lokalisieren; schnell wurde auch Herders Name hinzugesetzt. Die Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen wäscht Hamann in Unschuld. Er musste es besser wissen, hatte er doch Herders Namen in seiner Buchanzeige, wenn auch ohne Vokale, genannt.77 Indem er die von Klotz geprägten Spottverse zitiert,78 führt er Herder vor Augen, dass er in Deutschland längst als Verfasser der Wälder in aller Munde ist; nebenbei trifft Herder der Hieb, ebenso ahnungslos dazustehen wie der ebenfalls in dem Briefwechsel erwähnte Hintz.79 Soweit der Sachverhalt, die Urheberschaft der Kritischen Wälder betreffend: Weit entfernt davon, die Verfasserschaft auf jemand anderen als Herder zu lenken, führt Hamann ihm vor Augen, dass sie die bekannteste Tatsache in ganz Deutschland sei. Aus diesem Befund entwickelt Hamann einige grundsätzliche Bemerkungen zu Herders Selbstverständnis als Schriftsteller. Er knüpft sie an den Vorwurf, Herder habe Klotz wider besseres Wissen zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die mangelnde Originalität seiner exercitia, lateinischen Sprachübungen, sei von Anfang an deutlich, auf philologischem Feld für Herder nichts zu holen gewesen.80 Sich selbst Herder als gutes Beispiel vor Augen stellend erteilt er den »O lieber Herder ! kein Buch geht über die Briefe der Sevign8« (ZH II, 447,3f). ZH II, 445,8. ZH II, 445,9. ZH II, 445,8–10: »was soll ich von Ihrer Gabe [halten, denken o. ä.?, F.-J. S.]«. ZH II, 445,8–10. N IV, 329,38. Die auf Herder bezüglichen Verse lauten: »Aus einem düstern Wäldchen sah / Uns anfangs Herder zu / Beym sechsten Schuss trat er auch nah / Und schrie Gluglugluglu!« (ZH II, 445,22–29). 79 So wie außer Hintz alle vor seinem Eintreffen in Riga wussten, dass er nicht als Erzieher auf Reisen gehen würde, so weiß Herder als einziger nichts davon, dass er als Verfasser der Kritischen Wälder überall bekannt ist. 80 »War denn das Kräutchen in seinem Genius saeculi u moribus so unkenntlich und worin

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Der Schrei des Laokoon. Sein Echo im Briefwechsel Hamanns mit Herder

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»logogryphischen Rath«, »ohne Leidenschaft noch Heftigkeit«, aber »mit Furcht und Zittern für die Unsterblichkeit« zu arbeiten.81 In diesem Zitat findet sich eine biblische Junktur, die Worte »Furcht und Zittern« (Belege in der Lutherübersetzung: Hiob 4,14; Ps 2,11; Ps 55,6; Tob 13,5; 1Kor 2,3; 2Kor 7,15; Eph 6,5; Phil 2,12). Hamann erschafft wiederum eine neue Wortverbindung durch die Verbindung dieser biblischen Junktur mit dem Ziel schriftstellerischen Ehrgeizes, der Unsterblichkeit (vielleicht im Sinne von Phil 2,12: »schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern«). Der Ehrgeiz des Autors Herder soll durch christliche Demut (vgl. Phil 2,3) geläutert werden; Stillschweigen statt Polemik, auf ein anderes Feld ausweichen, sind Folgen jener Beigabe.82 Hinzu tritt der praktische Rat zur Ökonomie und Diät, also sich nicht als Polyhistor und -scriptor zu verzetteln.83 Der folgende Satz rückt Herders Schriftstellerei wieder in einen theologischen Horizont; in ihm verbindet Hamann erneut christlichen Glauben und heidnischliterarische Symbolik. Die vielbeschworene Muse, ein aus der antiken Dichtung übernommenes Symbol für dichterische Inspiration, wird vom literarischen Klischee zur »wahren Muse«,84 die in der »Furcht des größten Kunstrichters, der Herzen und Nieren prüft«, besteht. Erneut hat Hamann aus biblischem Wortmaterial und einem zeitgenössischen Begriff eine neue Junktur gebildet: aus der Furcht Gottes (2Sam 23,3; 2Chr. 26,5; Neh 5,9.15; Sir 1,14; 2,12; 19,18; 25,15; 2Kor 7,1.11) wird die »Furcht des größten Kunstrichters«, der durch den Relativsatz »der Herz u Nieren prüft« (Ps 7,10; Ps 26,2; Jer 11,20; Jer 17,10; Offb 2,23) als eschatologischer Gerichtsherr identifiziert wird. So hätte Herder seine Autorschaft im Angesicht von Gottes Gericht auszuüben. Aber Hamann stellt Herder Gott nicht nur als Richter, sondern auch als »schöpferisches so wol [als] schriftstellerisches Genie«85 vor Augen, als das große schöpferische Vorbild. Mit dieser äußerst unorthodoxen Wendung erinnert Hamann Herder an die Voraussetzung aller menschlichen Autorschaft, die Sprache, verstanden als dynamisches Geschehen zwischenmenschlicher Verständigung, die in Gottes Wort wurzelt. Wieder schließt Hamann mit einem biblischen Zitat (Sir 43,27 LXX): »jai sumtekeia tym kocym to PAM esti Autor« (und Summe/Zusammenfassung der Worte/Reden: das All/das Gesamte ist ER, übers. v. F-J. S.) – und nicht die schriftstellerischen Ambitionen Herders.86

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bestand der aromatische Geruch und die Blüthe des Witzes welche man in seinen lateinischen Exercitiis fand.« (ZH II, 445,32–34). ZH II, 446,4. ZH II, 446,2f. So schon im Brief vom März, vgl. ZH II, 435,13–17. ZH II, 446,14. ZH II, 446,14. Zur Bedeutung von Sir 43,27 (LXX) für Hamanns Theologie vgl. Oswald Bayer: Spinoza im

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So führt Hamann die Paränese zu ihrem Ende. Herder ist nicht nur der Lüge überführt, Herder hat nicht nur das Vertrauen seines Mentors missbraucht, Herder hat nicht nur ein überflüssiges Blindekuhspiel zur eigenen Blamage über alle Grenzen hinaus fortgeführt: Er hat vor allem den Beruf zur Autorschaft nicht im Horizont des schöpferischen und richtenden Sprachhandelns verstanden, in dem sie eine menschliche Version der vornehmsten Attribute Gottes ist. Damit haben wir den Endpunkt des die Kritischen Wälder betreffenden Briefwechsels erreicht. Sein Ausgangspunkt ist der Schrei des Laokoon. Gemäß dem Konsens unserer Kunstrichter war er keiner, sondern ein tiefer Seufzer. Sein Echo in dem Briefwechsel Hamanns und Herders ist ein hermeneutisches: Nachdem Herder wachsende Distanz befürchtet hatte, mahnt Hamann ein vertieftes Verständnis von Autorschaft und damit ein vertieftes Selbstverständnis an.87

3.

Herders Reaktion auf Hamanns theologische Paränese

Wie hat Herder auf Hamanns Brief(e) reagiert? In der Sache gab es kein Leugnen mehr, Herders Verfasserschaft der Kritischen Wäldchen war nicht zu verheimlichen. Herder hat sich daher vor allem durch seinen Brief vom März gegenüber Hamann kompromittiert. Es erfolgt jedoch keine Entschuldigung, kein Besuch, um etwa das alte Vertrauensverhältnis wieder herzustellen. Vielmehr meldet Herder mit seinem nächsten Brief seinen Aufbruch zu neuen Ufern. Er wirft in Riga alles hin und begibt sich auf eine Reise, die ihn nach Frankreich führen sollte. Erst nach über drei Jahren wird Hamann den zerrissenen Faden des Briefwechsels wieder anknüpfen, als Herder sich in Bückeburg etabliert. In der Sache ist er Hamann aber nicht gefolgt. Denn die Polemik gegen Klotz und dessen Anhänger, Riedel, hat er fortgesetzt, und so sind die Kritischen Wäldchen von zwei auf vier angewachsen.88 Gespräch zwischen Hamann und Jacobi. In: ders.: Zugesagte Gegenwart. Tübingen 2007, S. 217–222. 87 Zur Bedeutung der Selbsterkenntnis für Hamann vgl. Johann Georg Hamann, Londoner Schriften, S. 6–8 (Einleitung v. Oswald Bayer u. Bernd Weissenborn). 88 Dies hat einen sachlichen Grund, auf den Hamann in der Korrespondenz gar nicht eingeht: Für Herder ging es um den Stellenwert der lateinischen Sprache in Erziehung und Dichtung. Im Gegensatz zu Klotz, der lateinische Werke verfasste, beurteilte Herder den bildenden Wert der lateinischen Sprache negativ und vertrat das Prinzip, der Dichter solle in seiner Muttersprache schreiben. Vgl. dazu Johann Gottfried Herder: Über Thomas Abbts Schriften. Zweites Stück. Über die Verschiedenheit des Lateinischen und Deutschen Perioden. In: Herders Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 2, S. 331–343. Von der Nothwendigkeit der Lateinischen Sprache (ebd., S. 355–363). Anhang. Über Abbts Urtheile von Hrn Klotz ersten Schriften (ebd., S. 364–366). Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. Dritte Sammlung, in: Herder : Literatur (wie Anm. 18).

Oswald Bayer (Hennef)

»Geschmack an Zeichen«. Zweifel und Gewissheit im Briefgespräch zwischen Lavater und Hamann

I.

Die Kernstelle Ihnen von Grund meiner Seele zu sagen, ist mein ganzes Christenthum, (ich mag zu den fetten oder magern Kühen Pharaons gehören) ein Geschmack an Zeichen, und an den Elementen des Wassers, des Brods, des Weins. Hier ist Fülle für Hunger und Durst – eine Fülle, die nicht bloß, wie das Gesetz, einen Schatten der zukünftigen Güter hat, sondern autg` m tg` m eij|ma t_m pqacl\tym, in so fern selbige, durch einen Spiegel im Räthsel dargestellt, gegenwärtig und anschaulich gemacht werden können; denn das t]keiom liegt jenseits. Unsere Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer, Stück- und Flickwerk – t|te de` pq|sypom pqo` r pq|sypom, t|te de` epicm~solai jahy` r jai` epecm~shgm.1

Dies ist die Kernstelle von Hamanns Brief an Johann Caspar Lavater vom 18. Januar 1778.2 Er gehört zu den Hamannbriefen, die besondere Beachtung verdient und auch gefunden haben. Arthur Henkel nimmt ihn in seine Briefauswahl auf.3 Elfriede Büchsel bezieht sich in ihren Untersuchungen zur Struktur von Hamanns Schriften auf dem Hintergrund der Bibel von allen Interpreten am ausführlichsten auf ihn als ganzen, ohne freilich auf die Kernstelle näher einzugehen;4 sie sieht in ihm beispielhaft den Autor am Werk, der »seinen wesentlichen Impuls durch den Hinblick auf den Leser empfängt« und »schreibend ein Antwortender« ist.5 Stefan Majetschak setzt zwar im Obertitel seines Aufsatzes Zu Johann Georg Hamanns Begriff des Textes, des sprachlichen Zeichens und des Stils »Geschmack an Zeichen« in Zitatzeichen, bezieht sich dann aber 1 ZH IV, 6,4–13. 2 ZH IV, 3–8. 3 Johann Georg Hamann. Briefe. Ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Arthur Henkel. Frankfurt a.M. 1988, S. 85–90 und S. 375–377. 4 Elfriede Büchsel: Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J.G. Hamann. Untersuchungen zur Struktur von Hamanns Schriften auf dem Hintergrund der Bibel. Gießen/Basel 1988, S. 119–124. 5 Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 123: Der Brief bekundet »die gesammelte Zuwendung zum Briefpartner als die alles organisierende Kraft«. Weiter zum Hinblick auf den Leser s. u. Anm. 14.

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Oswald Bayer

auf den Fundort im Lavaterbrief überhaupt nicht.6 Anders Michael Wetzel, der in seinem Vortrag Geschmack an Zeichen auf den Brief und seine Kernstelle wenigstens knapp eingeht.7 Fast ebenso kurz ist die Interpretation, die im Zusammenhang meiner Auslegung des zweiten Abschnitts von Hamanns Letztem Blatt vorliegt.8 Hatte schon Hegel in seiner großen Hamannrezension Hamanns »Geschmack an Zeichen« in geballter Kürze im Sinne seiner Geistphilosophie interpretiert,9 so hält Ernst Cassirer Hamanns Bekenntnis, dass »mein ganzes Christentum ein Geschmack an Zeichen« ist, für so bedeutsam, dass er sich in seiner »Philosophie der symbolischen Formen« darauf bezieht,10 versteht Hamanns Zeichenbegriff freilich innerhalb des Urbild-Abbild-Schemas11 – was, wie wir sehen werden, nicht angemessen ist. Eine eingehende Analyse der Kernstelle

6 Stefan Majetschak: Über den »Geschmack an Zeichen«. Zu Johann Georg Hamanns Begriff des Textes, des sprachlichen Zeichens und des Stils. In: Achim Eschbach / Ernest W.B. HessLüttich / Jürgen Trabant (Hg.): Kodikas/Code. Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics. Bd. 10, Heft 1/2 (1987), S. 135–151. 7 Michael Wetzel: »Geschmack an Zeichen«. Johann Georg Hamann als der letzte Denker des Buches und der erste Denker der Schrift. In: Acta 1992, S. 13–24, hier S. 15f. 8 Oswald Bayer / Christian Knudsen: Kreuz und Kritik. Johann Georg Hamanns Letztes Blatt. Text und Interpretation. Tübingen 1983 (BHTh 66), S. 82–100, insbes. S. 90f. 9 »Was Hamann seinen Geschmack an Zeichen nennt, ist, daß ihm alles gegenständlich Vorhandene seiner eigenen inneren und äußeren Zustände wie der Geschichte und der Lehrsätze nur gilt, insofern es vom Geiste gefaßt, zu Geistigem geschaffen wird, so daß dieser göttliche Sinn weder nur Gedanke noch Gebilde einer schwärmenden Phantasie, sondern allein das Wahre ist, das so gegenwärtige Wirklichkeit hat« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Hamanns Schriften. Herausgegeben von Friedrich Roth. VII Teile. Berlin 1821–1825. In: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 1828, zit. nach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Bd. 11. Frankfurt a.M. 1970, S. 275–352, hier S. 316f. 10 Ernst Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen. II. Teil: Das mythische Denken. Berlin 1925, S. 309–320, insbes. S. 310–312. Vgl. ders.: Philosophie der symbolischen Formen. I. Teil: Die Sprache. Berlin 1923, S. 92–94. 11 Ders.: II. Teil (s. Anm. 10), S. 310: »Kein Ding und kein Ereignis bedeutet mehr schlechthin sich selbst, sondern es ist zum Hinweis auf ein ›Anderes‹, ›Jenseitiges‹ geworden. In dieser strengen Scheidung des ›abbildlichen‹ und des ›urbildlichen‹ Seins dringt das religiöse Bewußtsein erst zu der ihm eigenen und eigentümlichen Idealität durch – und zugleich berührt es sich hier mit einem Grundgedanken, den das philosophische Denken auf ganz anderen Wegen und unter anderen Voraussetzungen sich fortschreitend erarbeitet. In ihrer geschichtlichen Wirksamkeit können jetzt beide Formen des Ideellen unmittelbar ineinander greifen.« Anders als Cassirer trifft, worauf mich Johannes von Lüpke freundlicherweise aufmerksam macht, Erik Peterson Hamanns keineswegs als platonisch misszuverstehendes Sprachverständnis (gegen Unger): »Achtet man […] auf den gesamten Satz, so sieht man sofort, dass hier nicht eine symbolische Weltauffassung vorliegt – die Vorstellung des Schattenhaften ist ja gerade überwunden –, sondern ein sich in Besitz setzen einer Fülle und zwar einer realen Fülle, Wasser, Brot und Wein, die den ebenso realen Hunger und Durst zu stillen vermag« (Erik Peterson: Das Problem der Bibelauslegung im Pietismus des 18. Jahrhunderts, 1924; abgedruckt in Bd. 9/1 der Ausgewählten Schriften. Hg. v. Barbara Nichtweiß. Würzburg 2009, S. 209–223, hier S. 219).

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und ihres Kontextes im Briefwechsel aber liegt meines Wissens nicht vor und soll im Folgenden versucht werden.

II.

Lavaters Brief

Es ist ein Glück, dass sich der Text, auf den Hamann sich bezieht, erhalten hat: Es ist Lavaters Brief vom 26. Dezember 1777.12 So können wir Einblick in einen wirklichen Briefwechsel gewinnen – in einen Wortwechsel, auf dem ja nach einem bekannten Hamannwort13 der »Reichthum aller menschlichen Erkenntnis« beruht.14 Weil, nach dem »Fliegenden Brief«, »jede Antwort und Auflösung in den Bedingungen ihrer vorausgesetzten Frage oder Aufgabe gegründet« ist,15 achten wir zuerst auf diesen Brief. Er ist eine Antwort auf einen Brief Hamanns, der sich nicht erhalten hat,16 dessen Inhalte sich aber aus Lavaters Antwort erschließen lassen.17 Er konzentriert sich zwar nicht auf ein einzelnes Thema, ist aber doch insofern einheitlich, als es Lavater in ihm als ganzem um das Lesen der Schriften anderer sowie das eigene Schreiben geht und darin um ihn selbst und um sein – »offenbares« und zugleich »tiefverborgenes«18 – Verhältnis zu seinen Lesern und deren Erwar12 ZH III, 395–397. Der Brief Hamanns, auf den sich Lavater hier bezieht (ZH III, 395,9–14), ist nicht erhalten. Doch lassen sich aus Lavaters Antwort einige Inhalte erschließen: eine Bezugnahme auf zwei Schriften von Philipp Matthäus Hahn (ebd., 395,15–28), die Frage nach Lavaters Gedicht von 1776 Durst nach Christuserfahrung (ebd., 395,29), die Bitte an Lavater um die Zusendung einiger seiner Schriften (ebd., 396,13–19) und wohl auch eine Bemerkung zu Lavaters physiognomischen Fragmenten (ebd., 396,2–23). Auf dem Stand von 1894 dokumentiert hat den Briefwechsel zwischen Hamann und Lavater : Heinrich Funk: Briefwechsel zwischen Hamann und Lavater. In: Altpreußische Monatsschrift NF 31 (1894), S. 95–147. 13 N II, 129,5f. 14 Wortwechsel ist nicht nur der Briefwechsel, sondern für Hamann auch das Buch. Denn es ist nicht ohne den Leser ; dieser ist konstitutiv : »Schriftsteller und Leser sind zwo Hälften, deren Bedürfnisse sich aufeinander beziehen, und ein gemeinschaftliches Ziel ihrer Vereinigung haben« (N II, 347,22–24). Sie gehören zusammen wie Mann und Frau: »Die Idee des Lesers ist die Muse und Gehülfin [Gen 2,18] des Autors« (ebd., S. 348,10). Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Buch und dem Briefwechsel liegt jedoch darin, dass im Briefwechsel die »Idee des Lesers« weniger als im Buch vermutet werden muss, sondern in bestimmter Gestalt schon gleichsam inkarniert ist. 15 N III, 371,6f. 16 Es dürfte der erste Brief Hamanns an Lavater gewesen sein, mit dem der Briefwechsel begonnen hätte. 17 Vgl. o. Anm. 12. Der verlorene erste Brief könnte durch das Gedicht Durst veranlasst gewesen sein, das Lavater Hamann zugeschickt hatte: Funck: Briefwechsel (wie Anm. 12), S. 97, Anm. 2. 18 Vgl. ZH III, 396,27–29: »Herr Gott! welch Geheimniß Gottes. Daß ich den Menschen so offenbar bin – und so tiefverborgen selbst meinen sulxuwoir.«

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tungen, hatte er doch »einen kaum überschaubaren Freundes- und Bekanntensowie Verehrer- und vor allem Verehrerinnenkreis, den er durch seine zahlreichen Schriften zu einer Lesegemeinde zusammengeführt, durch persönliche Begegnungen intensiv gepflegt und durch rege Korrespondenz untereinander vernetzt hat«.19 Innerhalb dieses Beziehungsgefüges aber machte sich Lavater immer auch selbst zum Thema und tat dies, nicht nur in seinen Autobiographien20, in einer extremen Form der Selbstbeobachtung21 und Selbstreflexion sowie einer entsprechenden exzentrischen Art der Selbstdarstellung, die sich von der Hamanns charakteristisch unterscheidet.22 In der Mitte des Briefes bricht ziemlich abrupt das Problem auf, von dem der Briefschreiber offenkundig in der Tiefe seiner Existenz bewegt ist – was Hamann genau wahrnimmt und zur Mitte seiner Antwort macht. Es geht um Zweifel und Gewissheit, um die ersehnte, begehrte Überwindung des Zweifels durch Gewissheit, die Lavater aber nicht mit dem »Geschmack an Zeichen« verbunden haben will. Diese Mitte des Briefes lautet: Oft ist’s Lüsternheit – Lieber! oft bis zur Lästerung Bedürfniß – Etwas zu haben – das alle Zweifelwelten aufwiegt. Ich weiß, was die Erfahrung hindert – aber wenn der Erbarmer ohne seines gleichen nicht vorkömmt dem Schwachen ohne seines gleichen, so bin ich verloren. Es gehört zu den empfindlichsten, jedoch wolverdientesten Dehmüthigungen meines Fleisches, daß selbst Christen – mir Geschmack an Zeichen zutrauen. Mir ist um Gewißheit für mich, und Hülfe für Brüder zu thun. Das darf ich sagen. Mein innerer Mensch verabscheut alles, was Aufsehn macht, – was nicht hilft.23

In den wenigen Zeilen dieser Mitte des Briefes erscheint, wie eben schon kurz angesprochen, das Movens und Motiv des gesamten Lavaterschen Werkes: das innerste Bedürfnis nach der Erfahrung einer Gewissheit, die »alle Zweifelwelten aufwiegt« und nur in Jesus Christus zu finden ist – in dem, wie Lavater hier schreibt, unvergleichlichen »Erbarmer«, der dem unvergleichlich Schwachen, Lavater, zu Hilfe kommt; sonst wäre er verloren. Am 24. Februar 1776 hatte 19 Horst Weigelt: Art. Lavater. In: TRE 20 (1990), S. 506–511, hier S. 509. 20 Johann Caspar Lavater : Nachdenken über mich selbst (1770). Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner selbst (1773). Vgl. Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke. Hg. v. Ernst Staehelin. 4 Bände. Zürich 1943. 2. Bd., S. 30–42, hier S. 30f. Vgl. die neue Werkausgabe: Johann Caspar Lavater : Ausgewählte Werke. Bd. III: Werke 1769–1771. Hg. v. Martin Ernst Hirzel. Zürich 2002, sowie Bd. IV: Werke 1771–1773. Hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler. Zürich 2009. 21 Vgl. Ernst von Bracken: Die Selbstbeobachtung bei Lavater. Ein Beitrag zur Geschichte der Idee der Subjektivität im 18. Jahrhundert. Münster 1932 (Universitas-Archiv 69, Phil. Abt. 10). 22 Sein Selbstverständnis als Autor bekundet Hamann durchgängig, konzentriert und abschließend im Fliegenden Brief (1786). Vgl. dazu Anm. 33. 23 ZH III, 396,3–12.

»Geschmack an Zeichen«

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Lavater an Martin Crugot geschrieben: »Ich will […] Gewißheit eines Gottes, der aller seiner unendlichen Erhabenheit ungeachtet – mir Beweise seines Daseyns für mich giebt«.24 Lavater besteht in seinen zahlreichen Veröffentlichungen durchgehend, jedenfalls seit 176825, darauf, dass Jesus Christus – für ihn, nicht nur nach seinem »Glaubensbekenntnis oder Grundideen meiner Religion«,26 Grund und Mitte seines Lebens, Redens und Schreibens – handgreiflich in seinen Wirkungen gegenwärtig ist27 und jedes menschliche Bedürfnis stillt. In Christus, schreibt Lavater in Aussichten in die Ewigkeit, »ist unsre Natur einer Vollkommenheit fähig, die den unersättlichen und unendlichen Wünschen unsrer Seele so ganz genug thut, daß auch nicht die geringste Leerheit mehr darinn statt haben kann«.28 Lavater sagt von sich, er sei der einzige, der die lebendige, sinnliche Gegenwart der Wirkkraft Jesu Christi wirklich gelehrt habe.29 Er hat sie jedenfalls in einer sehr eigenartigen Weise gelehrt und sich dazu in prekärer Weise auf die Naturphilosophie Bonnets sowie den Magnetismus Mesmers eingelassen. Auch das gesamte Projekt seiner Physiognomischen Fragmente30 – »Mir ist’s würklich Offenbarung«!31 – erwuchs angesichts des von ihm erlittenen zeitgenössischen »tausendgestaltigen, millionenköpfigen und völlig herzlosen Unglaubens«, den er mit diesen Worten samt Gottes »Tief-

24 Zentralbibliothek Zürich, FA Lav. Ms. 556, Nr. 8, zit. nach Weigelt: Art. Lavater (wie Anm. 19), S. 507, Z. 42–44. Diese »Lüsternheit«, dieses »Bedürfniß« nach Beweisen sieht Lavater selbst kritisch: als Versuchung Gottes, ja als Gotteslästerung: »oft bis zur Lästerung [Gottes]« (s. o. bei Anm. 23). 25 Vgl. Weigelt: Art. Lavater (wie Anm. 19), S. 506f. Vorsichtiger urteilt Gerhard Ebeling: Genie des Herzens unter dem genius saeculi. Johann Caspar Lavater als Theologe (1992). In: ders.: Theologie in den Gegensätzen des Lebens. Tübingen 1995, S. 132–170, hier S. 140. 26 Johann Caspar Lavater : Mein Glaubensbekenntnis oder Grundideen meiner Religion (1788). Ediert von Gerhard Ebeling (1993). In: ders.: Genie (wie Anm. 25), S. 171–208 (»Johann Caspar Lavaters Glaubensbekenntnis«). 27 Vgl. ebd., S. 140–142. 28 Johann Caspar Lavater : Aussichten in die Ewigkeit (1768–1773). In: Werke. Hg. v. Staehelin (wie Anm. 20). 2. Bd., S. 97–205, hier S. 108. 29 Belege bei Ebeling: Genie (wie Anm. 25), S. 169, bes. Anm. 176f: Lavater behauptet, es sei ihm »kein christlicher Schriftsteller bekannt, der die Sache so ansah, wie ich«; er finde in der ganzen Kirchengeschichte »keine Spuren dieser reellen Konnexion und positiven erweislichen Erfahrungskorrespondenz mit dem Gottmenschen Jesus«. 30 Johann Caspar Lavater : Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Gott schuf den Menschen sich zum Bilde (1775–1778), in Auszügen: Werke. Hg. v. Staehelin (wie Anm. 20). 2. Bd., S. 110–213. Zur Einführung ebd., S. 110f. Vgl. Klaas Huizing / Giovanni Gurisatti: Die Schrift des Gesichts. Zur Archäologie physiognomischer Wahrnehmungskultur. In: NZSTh 31 (1989), S. 271–287; Huizing: Verschattete Epiphanie. Lavaters ästhetischer Gottesbeweis. In: Horst Weigelt / Karl Pestalozzi (Hg.): Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Göttingen 1994, S. 61–79. 31 ZH III, 396,23. Vgl. jedoch die unmittelbare Fortsetzung: »– aber – dennoch nur in dunkelm Worte« (1Kor 13,12).

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Oswald Bayer

schweigen« eindrucksvoll in einem späteren Brief an Hamann beklagt,32 aus dem Bedürfnis nach handgreiflichen Beweisen von Gottes Gegenwart. Hamann wird Lavaters ganze Physiognomik als »Thomasglauben« ablehnen.33 Denn: »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben« (Joh 20,29). Im Blick auf Lavaters Bedürfnis nach »Beweise[n] seines [Gottes] Daseins für mich« fällt nun auf und irritiert, dass er der sinnlichen Erfahrung und Gewissheit den »Geschmack an Zeichen« entgegensetzt. Doch sind ihm »Zeichen« offenbar, »was Aufsehn macht« und »nicht hilft« – wie etwa ein Schauwunder,

32 ZH V,134,33f; 136,5 (Lavater an Hamann am 25. März 1784). Vgl. Oswald Bayer : Zeit des Schweigens. In: ders.: Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie. Tübingen 1999, S. 86–94, hier S. 90f. Lavaters Wahrnehmung des Atheismus und Nihilismus gleicht der Jean Pauls. Vgl. vor allem dessen Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei: Jean Paul: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel. Erstes Blumenstück (1796). In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abt. 6. Bd. Hg. v. Kurt Schreinert (1928), S. 247–252. Vgl. u. Anm. 43. 33 »O du physiognomischer Seher mit engelreinem Munde! Auch dein Cherubsauge gelüstet, Wunderdinge zu schauen, die doch jedes Menschenkind, dessen Antlitz nicht mit Flügeln bedeckt ist, allstets vor und um sich sieht […] O du physiognomischer Seher mit bedecktem Antlitze! Mitgenosse am [sic!] Trübsal und am Reich und an der Gedult Jesu Christi! Er weiß deine zahllosen Werke und daß du je länger je mehr thust! Er kennt den noch köstlicheren Weg deiner Liebe, die Hyperbolen deiner Marthamühseligkeit und alle pia desideria deines Thomasglaubens.« N III, 400,27–402,29 (Ein fliegender Brief, Erste Fassung, 1786). Für den freundlichen Hinweis auf diese Stelle danke ich Hans Graubner (Göttingen), der mich darauf aufmerksam machte, wie Hamann in Anknüpfung an Lavater und zugleich im Widerspruch zu ihm von einer »Physiognomik des Stils« redet (Brief vom 19. September 2010): »Lavater war wie Hamann von der Ubiquität des Christus in allen Menschen als des eigentlichen Ebenbildes Gottes überzeugt, aber er suchte es in Gestalt des einen unverwechselbar wahrnehmbaren Christusantlitzes als Grund und Ursprung aller Physiognomie in den Menschengesichtern. Diese bildergläubige Christologie verspottet Hamann als Lavaters ›Thomasglauben‹. Er selbst verwandelt Lavaters Bildtheologie zurück in die Wort- und Zeichentheologie des Schöpfungsberichts und des Johannesevangeliums. ›Rede, dass ich dich sehe‹ [N II, 198,28, Aesthetica in nuce (1762)]. Gott redet und die Schöpfung wird sichtbar. ›Rede, dass ich dich sehe!‹: Der Mensch redet und die ›Physiognomik des Stils‹ macht die ›Feuerprobe‹ darauf, ob er das ihm eingebildete Erlösungswort lesbar durchscheinen läßt oder nicht, ob er helle oder finstere, lebendig fruchtbare oder kastrierte Rede führt.« Vgl. Hans Graubner : Origines. Zur Deutung des Sündenfalls in Hamanns Kritik an Herder. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Hg. v. Brigitte Poschmann. Rinteln 1989, S. 108–132, hier S. 130. Ders.: Hamanns Buffon-Kommentar und seine sprachtheologische Deutung des Stils. In: Acta 1992, S. 277–303. Es dürfte genau zutreffen, was Jacobi am 5. September 1787 an seinen Bruder Johann Georg schreibt: »Lavater’s Durst nach Wundern ist ihm [Hamann] ein bitteres Aergerniß und erregt ihm Mißtrauen in Absicht der Gottseligkeit des Mannes, den er übrigens von Herzen liebt und ehrt« (Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Bd. 3. Hg. v. Friedrich Roth / Friedrich Köppen. Darmstadt 1980 [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1816], S. 503–507, hier S. 505).

»Geschmack an Zeichen«

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das den gaffenden Zuschauern nicht wirklich hilft. Wer ihm Geschmack und Genuss solcher Zeichen zutraut, missversteht ihn gründlich und demütigt ihn. So stellt sich angesichts dieser Entgegensetzung von nicht hilfreichen, also kraftlosen und letztlich unwirksamen »Zeichen« einerseits und »Gewißheit« andererseits die Frage, was wahre – Gewissheit schaffende – ›Demonstration‹ der wirksamen Christusgegenwart und damit der Beweis der Existenz Gottes – »Beweise seines Daseins für mich« – ist, was, mit Paulus und Lessing34 gefragt, als wahrer »Beweis des Geistes und der Kraft« (1Kor 2,4) gelten kann. Und ist denn in diesem Zusammenhang nicht auch ein positiver Gebrauch des Wortes »Zeichen« möglich und sinnvoll?

III.

Hamanns Antwortbrief als ganzer

Lavater hatte Hamann um »Bestrafungen und Tröstungen«, um Kritik und Trost gebeten.35 Beides bestimmt denn auch Hamanns eingehende Antwort von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Am Ende lautet sie: »Mehr Diät in der Arbeit, mehr Umgang mit Fressern und Weinsäufern« (vgl. Mt 11,19; Lk 7,34).36 Dieser Antwortbrief ist fraglos ein seelsorglicher Brief. Ja, Hamanns Briefe sind dies allesamt, wenn Seelsorge bedeutet, den andern Menschen als Gottes Geschöpf, als Sünder und Gerechtfertigten, wahrzunehmen37 und ihm – auch im Briefwechsel – ehrliche Kritik und begründeten Trost nicht schuldig zu bleiben; Kritik und Trost, wie sie treffender und liebevoller als am eben zitierten Ende des Lavaterbriefes kaum sein können: »Mehr Diät in der Arbeit, mehr Umgang mit Fressern und Weinsäufern«! Im gegebenen Rahmen ist es nicht möglich, Hamanns Antwort an Lavater durchgehend intensiv zu interpretieren und aufzuzeigen, wie achtsam der Briefschreiber sich seinem Gegenüber zuwendet und, ohne von sich und seinen Erfahrungen und Erwartungen zu schweigen, dessen Brief Punkt für Punkt gleichsam abarbeitet38 – immer kritisch39 und tröstend – Mut zusprechend: »Bey 34 Dazu umfassend: Johannes von Lüpke: Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik. Göttingen 1989. 35 ZH III, 396,31. 36 ZH IV, 8,1f. Vgl. mit »Mehr Diät in der Arbeit«: N III, 402,26f. (»Er weiß deine zahllosen Werke und daß du je länger je mehr thust!«, mit Apk 2,2 geredet) und ebd. Z. 28f. (»Marthamühseligkeit«, mit Lk 10, 41), zit. o. Anm. 33. 37 Mit Büchsel: Zeugnis und Sprachgestalt (wie Anm. 4), S. 118f. 38 Vgl. ZH IV, 3,26–4,8 mit ZH III, 396,24f; ZH IV, 4,9–11 mit ZH III, 396,27–29; ZH IV, 4,16–21 mit ZH III, 396,36f (dazu: Werke. Hg. v. Staehelin [wie Anm. 20]. 3. Bd., S. 79–81: Pontius Pilatus); ZH IV, 4,22–5,4 mit ZH III, 397,1; ZH IV, 5,5–6,13 mit ZH III, 396,3–12; ZH IV, 6,18–29 mit ZH III, 395,23–25.29–396,2 und 396,16–29; ZH IV, 6,30–32 mit ZH III, 395,26–28; ZH IV, 7,35–37 mit ZH III, 396,3f.

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aller Ihrer Angst seyen Sie getrost, liebster Lavater! […]«.40 Wir wollen uns auf das Mittelstück, das dem Umfang nach fast die Hälfte des Ganzen ausmacht,41 konzentrieren – des Näheren auf die eingangs zitierte Kernstelle, die ihrerseits als die Mitte des Mittelstücks gelesen werden kann.

IV.

Das Mittelstück als ganzes

Mit dem Mittelstück als ganzem geht Hamann auf jene Mitte des Lavaterbriefes ein, in der das Urmotiv der Autorschaft Lavaters auftaucht: die leidenschaftliche Frage nach der Gewissheit eines »Etwas«, »das alle Zweifelwelten aufwiegt«42 und dem Atheismus und Nihilismus gewachsen ist, den Lavater in vergleichbarer Weise kennt wie Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei«43. Hamann antwortet – für ihn und, wie wir sehen werden, für 39 Als Beispiel: ZH IV, 4,22–5,4 (zu Lavaters Mendelssohnaffaire). 40 ZH IV, 7,31–37. Der oben ausgelassene Text (Z. 32–34) lautet: »Wie der ehrliche Mohr Ebedmelech unter den alten Lumpen wühlte, hätte ich meine Hausbibel zerreißen mögen, um Ihnen ein Seil des Trostes zuzuwerfen.« Mit der zitierten Stelle (Jer 38,10–13) hatte Hamann mehrfach die in London 1758 im Medium der unansehnlichen Texte der Bibel geschehene radikale Lebenswende und Befreiung artikuliert. Vgl. Londoner Schriften, S. 14, 50, 59, 237, 442, 444, 449, 486. 41 ZH IV, 5,5–6,29. 42 ZH III, 396,4. »Wie nur ganz wenigen Theologen, zumal in der Neuzeit, ging es Lavater um die Glaubensgewißheit als den Kardinalpunkt« (Ebeling: Genie [wie Anm. 25], S. 169). 43 S. o. Anm. 32. Vgl. den von Ebeling: Genie (wie Anm. 25), S. 141, Anm. 40 zitierten Text Lavaters: »In einem Augenblicke stillen, tiefen Nachdenkens fiel ich einst auf den Gedanken, mir die Idee […] von Christus aus der Zahl der Wesenheiten oder aus der Reihe meiner Vorstellungen zu abstrahieren; sogleich war es mir, als ob Alles um mich verschwände und ich ganz allein in ein ödes Chaos oder vielmehr in ein vollkommenes Vacuum […] entrückt wäre, ohne mich an irgendetwas halten oder anlehnen zu können und ohne einige Aussicht einer Rettung aus dieser entsetzlichen Lage«. »So schauervoll dieser Augenblick war, so sehr freute er mich nachher ; denn er überzeugte mich, wie sehr mir Christus wirklich und buchstäblich Alles in Allem wäre und es jedem Menschen sein kann. Ich spürte sogar deutlich die Vorstellung von einer Gottheit, die mit ihm mir gänzlich weggenommen ist; ich sah ein, wie sehr es wirklich nur durch ihn und in ihm ist, daß wir uns einen Begriff von Gott machen können, nach dem, was er selbst sagt: ›Niemand kann zum Vater kommen, als nur durch mich‹ [Joh 14,6] und: ›Ich und der Vater sind eins‹ [Joh 10,30]« (zit. nach Ebeling: Genie [wie Anm. 25], S. 141, Anm. 42). Vgl. Lavaters Bemerkung im Mittelstück seines Briefes an Hamann (ZH III, 396,5–7): Ohne Christus »bin ich verloren.« An Martin Crugot schreibt Lavater am 21. September 1773: »Ich wäre ein Atheist, wenn ich kein Christ wäre« (Zentralbibliothek Zürich, FA Lav. Ms. 556, Nr. 80, zit. nach Horst Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert. In: AGP 25 [1988], S. 178). »Wer consequent räsonnirt, der wird zum Atheismus kommen, wenn er nicht an Christum glauben kann […]. Wenn die Gottheit nicht durch Christum geredet, nicht durch ihn gehandelt hat, so ist nie keine Gottheit gewesen, die geredet und gehandelt hat« (Tagebuch vom 2. Juni 1773, in: Unveränderte Fragmente […]. Hg. v. Staehelin [wie Anm. 20]. 2. Bd., S. 37).

»Geschmack an Zeichen«

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sein Zeichenverständnis charakteristisch – mit Koh 9,7 und 944 – mit jenem Wort, das er einst, 1758, in London, »in der Abschiedspredigt, die mir ein Knecht des Herrn in England halten mußte«,45 empfing und das er durch sein ganzes Leben und Werk hindurch weitergab,46 es geradezu als cantus firmus zitierend: Iß dein Brod mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Muth, denn dein Werk gefällt Gott. Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das du lieb hast, so lange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat, so lange dein eitel Leben währt.47

Daraus spricht keine plerophore Gewissheit, sondern eine trotz der Skepsis angesichts der Nichtigkeit aller Dinge zugemutete elementare Lebensbejahung.48 Sie geschieht inmitten einer durch Prüfungen im Lernen durch Leiden gewonnenen Erfahrung;49 sie geschieht nicht ohne das Kreuz.50 So ist diese elementare Lebensbejahung keine vitalistisch-naturalistische Selbstverständlichkeit. Sie ist vielmehr durch die eigentümliche Zeitansage dessen bestimmt, der, weil er die Gegenwart des kommenden Gottesreiches glaubte und im Festmahl feierte, als »Fresser und Weinsäufer«51 verschrieen und wegen seiner Inanspruchnahme der Gegenwart Gottes und damit der Fülle der Zeit als der Erfüllung allen Lebenshungers und allen Lebensdurstes gekreuzigt worden war. Eine elementare Lebensbejahung im Genuss von Brot und Wein ist nicht eindeutig und den »Zweifelwelten« nicht wirklich gewachsen, wenn zu diesen Elementen – zu Brot und Wein – nicht das »feste prophetische Wort« (2Ptr 1,19) hinzukommt – genauer gesagt: wenn jene Elemente, gemäß der lutherischen 44 Vgl. Koh 2,24; 3,12.22; 5,17; 8,15. 45 ZH I, 427,35–37 (an Johann Gotthelf Lindner am 12. Oktober 1759). Vgl. Hamanns Gedanken über meinen Lebenslauf vom 25. Juni 1758: Londoner Schriften, S. 431,27–32. Weiter : ZH V, 286,15–25 (an Franz Kaspar Bucholtz am 20. Dezember 1784). 46 Vgl. z. B. ZH V, 459,1–6 (an Franz Kaspar Bucholtz am 20. Juni 1785) und dazu: Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 211. Weiter : ZH V, 286,13–25 (an Franz Kaspar Bucholtz am 20. Dezember 1784); ZH VI, 278,25–27 (an Friedrich Heinrich Jacobi am 18. Februar 1786); ZH VI, 480, Z. 13–15, an Franz Kaspar Bucholtz am 17. Juli 1786. 47 ZH IV, 5, (16–20) 17–20. Vgl. als deutliche Anspielung: N III, 92, 15–17 (Neue Apologie des Buchstaben h, 1773). 48 Kohelet ist für Hamann zwar durchgehend von großer Bedeutung (vgl. o. Anm. 45 und 46), doch beschäftigt er sich mit ihm in der Zeit zwischen dem Herbst 1777 und dem Frühjahr 1778 besonders intensiv. Vgl. ZH III, 378,32–379,4: »Eitelkeit der Eitelkeiten! Ist meine Lieblingsidee […]« (an Johann Gottfried Herder am 14. Oktober 1777); ZH III, 381,31f. (an Gottlob Immanuel Lindner am 21. November 1977) und ZH IV, 3,28f. (an Johann Caspar Lavater am 18. Januar 1778). 49 ZH IV, 5,5–15. Die hier im Mittelpunkt stehende Stelle Hebr 5,8 wird auch im Letzten Blatt (1788) eine Schlüsselrolle spielen. Vgl. Bayer/Knudsen: Kreuz und Kritik (wie Anm. 8), S. 32, 101–104, 108f, 111f (hier im ausdrücklichen Bezug auf ZH IV, 5,5–12). 50 Vgl. Bayer/Knudsen: Kreuz und Kritik (wie Anm. 8), S. 100–114: »Offenbarung und Passion«. 51 Vgl. o. Anm. 36.

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Sakramentslehre, nicht von diesem Wort umschlossen und durchdrungen werden. Dieses Wort aber will geglaubt sein und lässt nicht schauen – im Sinne jenes Pauluswortes, dass wir jetzt noch, solange wir unterwegs sind, im Glauben und nicht im Schauen wandeln (2Kor 5,7). Überraschend und erstaunlich ist nun, dass Hamann im Anschluss an die von ihm nicht nur hier, sondern auch sonst häufig zitierte Stelle 2Petr 1,19 dieses noch ausstehende eschatische Schauen mit dem Wort »Gewißheit« bezeichnet und »Gewißheit« dem »Glauben« entgegensetzt: Es sei, schreibt er an Lavater, Gottes »Wort«, das im Unterschied zu allen »Ihre[n] Zweifelwelten«, die »vergängliche Phänomene« sind, währt52, bleibt, so dass »Sie […] Recht« haben, »liebster Lavater, es für ein festes prophetisches Wort zu bekennen, und thun wohl daran, auf dieses scheinende Licht in der Dunkelheit zu achten, bis der Tag anbreche [vgl. 2Petr 1,19]. Eher ist an keine Gewißheit oder Autopsie zu denken; und Gewißheit hebt den Glauben, wie Gesetz Gnade auf«.53 Da Glauben und (Heils-)Gewissheit, jedenfalls in der Tradition Luthers, in der Hamann lebt und denkt, identisch sind, ist ihre hier begegnende Entgegensetzung ganz und gar ungewöhnlich. Sie kann nicht anders verstanden werden denn als eine empfindlich scharfe Kritik an Lavaters Durst nach unmittelbarer Christus- und Gotteserfahrung, in der der eschatologische Vorbehalt nicht mehr gewahrt ist, jedenfalls aber in einen »Thomasglauben«54 zu verschwinden droht. Hamann dagegen wahrt den eschatologischen Vorbehalt mit größtem Nachdruck. Bei aller Skepsis gegen enthusiastisch plerophore Gewissheit huldigt er jedoch keinem Skeptizismus.55 So kann er in einer seiner vielen Aufnahmen von 1Kor 13,9 sagen: »Unser Wißen ist Stückwerk; aber noch mehr zweifeln«.56 Noch mehr als Wissen ist Zweifeln Stückwerk und nicht das Ganze. Die Maxime de omnibus dubitandum gilt zweifellos als methodische Regel vor allem im Gebiet der Wissenschaft und Technik, ist aber für die Lebenspraxis, konsequent befolgt, ruinös.57 Zu »Sein Wort währt« (ZH IV, 5,23) vgl. Jes 40,8; Ps 119,89; Lk 21,33. ZH IV, 5,21–27. Vgl. o. Anm. 33. Zu Hamanns Bejahung der Skepsis und seiner Wendung gegen den Skeptizismus: Bayer/ Knudsen: Kreuz und Kritik (wie Anm. 8), S. 89f im Kontext von 87–91. 56 ZH VI, 332,25 (an Friedrich Heinrich Jacobi am 27. März 1786). Zu »Zweifeln« und »Verzweiflung«: Bayer: Vernunft ist Sprache (wie Anm. 46), S. 55f. 57 Deshalb unterscheidet Descartes Wahrheit und Wahrscheinlichkeit und entsprechend Wissenschaft und Lebenswelt, die ohne eine vom prinzipiellen Zweifel nicht betroffene »morale par provision« (Ren8 Descartes: Discours de la M8thode (1637), III, 1) undenkbar ist. Zu Hamanns Kritik an der cartesischen Scheidung von Wissenschaft und Lebenswelt: Oswald Bayer: Wahrheit oder Methode? In: ders.: Autorität und Kritik. Zu Hermeneutik und Wissenschaftstheorie. Tübingen 1991, S. 83–107, bes. S. 84f. Vgl. ders.: Vernunft ist Sprache (wie Anm. 46), S. 80–83: »Individuelle Vernunft im Zusammenhang religiöser und politischer Traditionen«.

52 53 54 55

»Geschmack an Zeichen«

V.

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Die Kernstelle: Geschmack an Zeichen

Die Kernstelle des Briefes, der wir uns nun näher zuwenden können, ist Lavater gegenüber, der einen »Geschmack an Zeichen« zurückgewiesen hatte, ein nachdrückliches und eindrückliches Bekenntnis: »Ihnen von Grund meiner Seele zu sagen, ist mein ganzes Christenthum« – es mögen gute oder schlechte Zeiten sein – »ein Geschmack an Zeichen […]«. Das Hauptcharakteristikum dieses »Geschmacks an Zeichen« liegt in deren eigentümlicher Zeitlichkeit: darin, dass das Ausstehen des »Vollkommenen« (1Kor 13,10; vgl. 12f.) die konkrete, sinnliche Gegenwart seiner Fülle nicht ausschließt. »Hier ist Fülle« und »Das t]keiom liegt jenseits«. Diese beiden Sätze, mit denen die paradoxe Urspannung des Christentums bezeichnet ist – die Fülle des Heils ist schon jetzt, aber noch nicht –, behauptet Hamann zugleich und mit gleichem Nachdruck. Gott ist derjenige, der die eschatische Einheit und Vollendung der Welt heraufführen wird und kraft dieses vollendenden Handelns jetzt schon, in der Gegenwart, an der eschatischen Vollendung teilgibt, indem er in seiner Kondeszendenz definitiv in die Welt eingeht, Fleisch wird (Joh 1,14) und auf diese Weise ewig zeitlich ist. Dies ist in Jesus Christus geschehen und geschieht in der Selbstmitteilung dieses »Fressers und Weinsäufers«58 in »den Elementen des Wassers, des Brods, des Weins«,59 also in der Taufe und im Herrenmahl und von da aus auch in jenem gewöhnlichen profanen und prosaischen Genuss von Brot und Wein, von dem der Prediger redet. Die besagte eigentümliche Zeitlichkeit der Zeichen inszeniert Hamann keineswegs zufällig, sondern erstaunlich genau kalkuliert durch nur zwei – zudem durch die griechische Schreibung in ihrem Gewicht noch verstärkte – Bibelstellen, die in einer bestimmten Spannung zueinander stehen und eine paradoxe Einheit bilden: Hebr 10,160 sagt die Gegenwart der Erfüllung, und die Zitate aus 1Kor 13,9f.12 sagen deren Ausstehen. Das Zeichen, das »Fülle für Hunger und Durst« bietet und bringt, gewährt und gibt, ist wahre »Fülle, die nicht bloß, wie das Gesetz [des alten Bundes], einen Schatten der zukünftigen Güter hat, sondern autg` m tg` m eij|ma t_m pqacl\tym«: das Bild der Sachen selber, nicht etwa nur ihr Abbild, sondern wesentlich sie selbst, ihr Wesen.61 Das Zeichen ist also kein signum, das auf eine 58 Vgl. o. Anm. 36. 59 Ist mit »und« in »[…] an Zeichen, und an den Elementen […]« wirklich eine Addition gemeint? Oder – in elliptischer Formulierung – eine Explikation, also: »[…] an Zeichen«, und [ergänze: d. h.] »an den Elementen […]«? 60 Vgl. Kol 2,17. 61 Vgl. zur Stelle: Otto Michel: Der Brief an die Hebräer. Göttingen 1966 (KEK 13), S. 330, Anm. 2: »eij~m bezeichnet in diesem Fall ›den höchsten Grad der Wirklichkeit‹«. Ebd., S. 331: »Hebr scheidet nicht streng zwischen Gegenwart und Zukunft, sondern in der Ge-

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res nur verwiese; ein Verweis wäre im Verhältnis zur Sache selbst nur ein Schatten, der hinweist und vorausweist. Mit Hebr 10,1 können Signifikant und Signifikat nicht mehr voneinander unterschieden oder gar gegeneinander ausgespielt werden. Das Zeichen, von dem Hamann redet, ist auch kein Symbol, das die Sache repräsentierte und damit von ihr immer noch in einer bestimmten Weise unterschieden wäre, sondern das, was sie differenzlos präsentiert: präsent sein lässt und zugleich darbietet, weshalb denn nach Hamann im Einklang mit Gen 2,16 das erste Gebot lautet: Du sollst essen!62 Die Fülle des im Zeichen gegenwärtig Dargebotenen, das den Hunger und Durst stillt, wird nun zwar nicht eingeschränkt, aber doch präzisiert, indem Hamann fortfährt: »in so fern selbige [die Dinge in ihrem Wesen], durch einen Spiegel im Räthsel dargestellt, gegenwärtig und anschaulich gemacht werden können«. Von wem? Dies bleibt offen. Offen bleibt aber nicht, wodurch sie »gegenwärtig und anschaulich gemacht werden können« oder, wie Hamann stimmiger hätte sagen müssen, gegenwärtig und anschaulich geworden sind sowie gegenwärtig und anschaulich werden. Dies geschieht mit ihrer Darstellung »durch einen Spiegel im Räthsel«, also indirekt, wie Hamann mit 1Kor 13,12 sagt, und, nach der Parallele in demselben Paulusvers, »stückweise« (vgl. 1Kor 13,9f.) – von Hamann in einem ganzen Satz samt einer Anspielung auf Lavaters Schrift Aussichten in die Ewigkeit63 aufgenommen: »Unsere Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer, Stück- und Flickwerk«, wie Hamann von den Brocken64 bis zum Letzten Blatt65 betont.66 Das indirekte und stückweise Innewerden der Fülle trägt in sich die Gewissheit, dass »dann aber von Angesicht zu Angesicht« – direkt und ganz, ohne Versuchung und Anfechtung – sich schauen

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genwart wird die Zukunft zur lebendigen Wirklichkeit (6,5; 9,11). ›In Christo […] haben die Güter der Zukunft in ihrer tatsächlichen Wirklichkeit und Wesenheit […] leibhafte Gestalt gewonnen‹ (Chr. v. Hofmann)«. Vgl. oben Anm. 11 (Peterson). Vgl. ZH V, 275,27–31 (an Friedrich Heinrich Jacobi am 5. Dezember 1784): »Das erste Gebot heißt: Du sollt eßen Gen.II. und das letzte: kommt, es ist alles bereit [Lk 14,17]. Eßet, meine Lieben, und trinkt meine Freunde, und werdet trunken. Aber mathematische Gewißheit? […] Mit der wird es aus seyn, wenn Himmel und Erde vergehen. Seine Worte aber vergehen nicht; und eben so wenig ihre Gewißheit.« Vgl. ZH V, 262,17f. (an Johann Caspar Lavater am 15. November 1784): »Bin […] heute recht aufgelegt, das erste Gebot Gen.II.16 Du sollt eßen zu erfüllen.« Vgl. o. Anm. 28. Londoner Schriften, S. 407, 14f. (Erklärung des Titels): »Wir leben hier von Brocken. Unsere Gedanken sind nichts als Fragmente. Ja unser Wissen ist Stückwerk.« Vgl. ZH I, 431,29f (an Johann Gotthelf Lindner am 12. Oktober 1759): »Wahrheiten, Grundsätze[n], Systems bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle.« Bayer/Knudsen: Kreuz und Kritik (wie Anm. 8), S. 63, Z. 14 (»ex part[e]«) und dazu: ebd., S. 87–91. Dem entspricht Hamanns gesamte Schriftstellerei in Stil und Form. Dazu im Überblick: Oswald Bayer : Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988, S. 38–61.

»Geschmack an Zeichen«

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lässt, was jetzt geglaubt wird – und parallel dazu: dass »dann aber ich erkennen werde, aufgrund dessen67, dass ich jetzt schon [von Gott68] erkannt bin« (1Kor 13,12).69 Dabei ist vom hebräischen Wort für »erkennen« (jada‘) her die keineswegs nur gedankliche, sondern vor allem sinnliche und lebenspraktische Bedeutung zu hören, die bei Hamann – entsprechend dem hebräischen Sprachgebrauch (vgl. Gen 4,1.17) – immer auch einen geschlechtlichen Sinn hat,70 der zum »Geschmack an Zeichen« gehört, was auch mit dem Koheletzitat zusammenstimmt: »[…] Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das du lieb hast […]«!

VI.

Verallgemeinerungsfähig?

›Geschmack‹ ist für uns heute meist eine Sache der Beliebigkeit. Für Hamann dagegen war er71 die Art und Weise, die Welt, sich selbst und Gott urteilsfähig wahrzunehmen: in einer Kopf, Herz, Mund, Hand und Fuß bewegenden und als Organ gebrauchenden Wahrnehmung, einer umfassenden a_shgsir sowie in einer diese reflektierenden Ästhetik, die der ganzen Existenz des Menschen72 gerecht wird. Hamanns »Geschmack an Zeichen« ist identisch mit seinem Glauben an die christologisch-eschatologisch bestimmte Anrede Gottes des Schöpfers, der sich – nicht nur im Herrenmahl – schmecken lässt: »Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist« (Ps 34,9; vgl. 1Petr 2,3)!73 Dieser Glaube als Hören, Sehen, Schmecken und Tasten des menschenfreundlichen Wortes Gottes74 ist durch und durch geprägt von der Textwelt der Bibel. Es ist immer wieder er67 »jah~r« heißt nicht nur »wie«, sondern auch »aufgrund dessen, dass«. 68 Das passivum ist hier ein passivum divinum. 69 Paulus betont, dass nicht ich erkenne, vielmehr erkannt werde. Vgl. mit 1Kor 13,12: 1Kor 8,2f; Gal 4,9; Phil 3,12. 70 Gott als Autor (s. o. Anm. 32), S. 37, Anm. 63. 71 Vgl. Oswald Bayer: Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt. Tübingen 1992, S. 105–124 (Kreuzesphilologie. Hamann und Luther), hier S. 112f: »Sapere aude: Mut zum ›Geschmack‹«. 72 Vgl. Johannes von Lüpke: Anthropologische Einfälle. Zum Verständnis der »ganzen Existenz« bei Johann Georg Hamann. In: NZSTh 30 (1988), S. 225–268. 73 Hamanns Sensualismus und Empirismus artikuliert sich im Bezug zu David Humes »belief«. Er rezipiert Humes epistemischen Glaubensbegriff, hebt ihn aber in seinem Verständnis der Schöpfung als Anrede auf. Vgl. Bayer : Vernunft ist Sprache (wie Anm. 46), S. 78–80: »Hamanns Glaubensbegriff«. 74 Vgl. den besonders dichten und nicht auszuschöpfenden Centotext N III, 32,8–26 (Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, 1770 [vordatiert]), der in der Aufnahme von 1Joh 1,1 und Joh 1,1 kulminiert: »Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort.«

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staunlich zu sehen – was sich in dem Brief Hamanns an Lavater, dem unsere Aufmerksamkeit galt, exemplarisch bekundet –, dass die Texte Hamanns sowohl an der Oberfläche – in ausdrücklichem Zitat oder klar identifizierbarer Anspielung – wie in der Tiefe ihrer gesamten Sprachbewegung und ihres Mitteilungswillens vor allem durch die Bibel in deren drastischer, geradezu materialistischer Sinnlichkeit75 geprägt, ja überhaupt erst konstituiert sind und Hamann wie kaum ein zweiter sein Postulat auch erfüllt: »Die heilige Schrift sollte unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst seyn, worauf alle Begriffe und Reden der Christen sich gründeten und aus welchen sie bestünden und zusammen gesetzt würden.«76 Dann aber drängt sich die Frage auf, ob sich dieser Glaube ohne explizite Tradierung der biblischen Textwelt und der einbildenden Einübung in sie plausibilisieren lässt, ist er doch »nicht communicable, wie eine Waare, sondern das Himmelreich und die Hölle in uns«.77 Dementsprechend kann auch der bestimmte Zeichenbegriff, dem wir in Hamanns Brief an Lavater begegneten, nicht von vornherein allgemeine sowie notwendige Geltung beanspruchen und nicht umstandslos und ohne Brüche, Verwerfungen und Verschiebungen auf Zeichentheorien bezogen werden, die der Matrix eines anderen Wörterbuchs als der Bibel entwuchsen und beispielsweise, wie nach der triadischen Semiotik von Charles Sanders Peirce, dem zwischen Zeichen und Sache vermittelnden Interpretanten eine Deutungshohheit zuschreiben, die ihm dann nicht zukommt, wenn der Glaube vom Wort der Anrede lebt, in dem von sich aus Zeichen und Sache kraft der »Idiomenkommunikation«78 schon miteinander verbunden sind 75 Vgl. beispielsweise ZH I, 371,33–36 (an Johann Gotthelf Lindner am 20. Juli 1759: »Wenn der Blinde im Evangelio zu seynem Artzt gesagt hätte: Meynst du daß der Dreck, den du von der Erde nimmst, und Dich nicht schämst mit Deinem Speichel zusammen zu rühren [Joh 9,6: Neuschöpfung in Entsprechung zu Gen 2,7] – Bleib mir damit vom Leibe? hast Du nicht mehr Sitten gelernt – Meynen Sie, daß er sehend geworden wäre.« 76 Londoner Schriften, S. 304,8–10 (zu 1Petr 4,11). 77 ZH VII, 176,6–8 (an Friedrich Heinrich Jacobi am 30. April 1787). Vgl. Oswald Bayer: Kommunikabilität des Glaubens. In: ders.: Autorität und Kritik (wie Anm. 57), S. 108–116. 78 Es ist »alles göttlich […]. Alles Göttliche ist aber auch menschlich […]. Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung« (N III, 27,7–14, Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache (1770 [vordatiert]). Hamanns vehementer Versuch, die universale Bedeutung der Bibel als grundlegendes »Wörterbuch« (s. o. Anm. 76), als Matrix, wahrzunehmen, ist sachgemäß; jedenfalls entspricht er dem Selbstverständnis der biblischen Texte. Gleichwohl steht Hamann in der Gefahr, die christologische Lehre von der Idiomenkommunikation in ein ontologisches und allgemeinhermeneutisches Prinzip umzuformen. Zu dieser, wie an der Philosophie Hegels zu sehenden, keineswegs unproblematischen religionsphilosophischen Verallgemeinerung: Friedemann Fritsch: Communicatio idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns. Berlin / New York 1999 (TBT 89), sowie: ders.: Die Wirklichkeit als göttlich und menschlich zugleich. Über-

»Geschmack an Zeichen«

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und dem Glauben vorsprechen und vorgeben, was er – freilich in freier Aufnahme und Umsetzung – hört, sieht, fühlt und schmeckt.79

VII.

Zusammenfassung

Hamanns »Geschmack an Zeichen« ist identisch mit seinem Glauben an die christologisch-eschatologisch bestimmte Anrede Gottes des Schöpfers und konstituiert durch die Textwelt der Bibel. Das Hauptcharakteristikum seines Zeichenbegriffs liegt in dessen eigentümlicher Zeitlichkeit: darin, dass das Ausstehen des »Vollkommenen« (1Kor 13,10) die konkrete, sinnliche Gegenwart seiner Fülle (Hebr 10,1) nicht ausschließt. Damit verbindet sich eine trotz der Skepsis angesichts der Nichtigkeit aller Dinge zugemutete elementare Lebensbejahung. Sie ist durch die eigentümliche Zeitansage dessen bestimmt, der, weil er die Gegenwart des kommenden Gottesreiches glaubte und im Festmahl feierte, als »Fresser und Weinsäufer« (Mt 11,19) verschrieen und wegen seiner Inanspruchnahme der Gegenwart Gottes und damit der Fülle der Zeit als der Erfüllung allen Lebenshungers und allen Lebensdurstes gekreuzigt worden war.

legungen zur Verallgemeinerung einer christologischen Bestimmung im Denken Hamanns. In: Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit«. Hg. v. Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 52–79. 79 Am 22. Dezember 2010 schrieb mir Andreas Reinert zum vorliegenden Vortrag: »Mir war gar nicht klar, dass Hamann in der Grundaussage, die sich in diesem Brief an Lavater zeigt, so nahe bei Kohelet liegt! Denn der ›Geschmack an Zeichen‹, die Kohelet in 9,7–9 natürlich noch nicht auf Brot und Wein im Sinne des Abendmahls beziehen konnte, ist nicht nur durch die beiden Elemente Brot und Wein, sondern vielmehr durch die Bedeutung, die diesen Elementen bei Kohelet zukommt, gegeben. Die Aufforderungen zur Freude, die sich gerade im Genuss des lebensförderlichen Essens und Trinkens ausdrücken, sind ja nach meinem Urteil viel mehr als bloßer Hedonismus oder resignierter Rückzug auf das Elementare: Bei Kohelet sind es die Stellen, auf die alles zuläuft, die seine ganze Theologie prägen und der vanitas eine lebensbejahende Perspektive entgegensetzen. Sie sind sein ›Programm‹ und haben es mir ermöglicht, Kohelet als einen realistischen (nicht skeptischen) ›Prediger der Freude‹ zu bezeichnen. Denn die ›Freude‹ ist – ganz im Sinne Hamanns – das Ziel, auf das das menschliche Leben ausgerichtet sein soll, der ›Anteil‹, den ein Mensch in seinem Leben erreichen kann. Und dies ist im Koheletbuch die Antwort auf die (keineswegs rhetorische) Frage von Koh 1,2.« Vgl. Andreas Reinert: Die Salomofiktion. Studien zu Struktur und Komposition des Koheletbuches. Neukirchen-Vluyn 2010 (WMANT 126).

Annelen Kranefuss (Köln)

»Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren«. Zum Briefwechsel Hamanns mit Claudius

»Es mag auch sein Gutes haben, dergleichen Briefe herauszugeben, aber mir ist wenn ich Briefe von Freund zu Freund gedruckt lese, als ob ich ein Stück vom Altar auf dem Markt feilbieten sehe«, schreibt Matthias Claudius 1772 in der Rezension einer zeitgenössischen Briefsammlung.1 Eine solche Regung könnte ihn dazu gebracht haben, sich seine Briefe an Hamann von dessen Erben zurückgeben zu lassen und später den gesamten Briefwechsel zu verbrennen.2 Nur drei Briefe Hamanns an Claudius sind bekannt, dazu ein weiterer an seine Frau Rebecca. Dem stehen zwei Briefe von Claudius an Hamann gegenüber, der eine möglicherweise eine Konzeptfassung.3 Aus ihren Werken und der Korrespondenz mit Dritten lässt sich das Verhältnis beider Männer aber doch genauer bestimmen als das bisher in der Forschung 1 Wandsbecker Bothe 1772/9: Rezension von Gottlieb Wilhelm Rabeners Briefe von ihm selbst gesammlet und nach seinem Tode nebst einer Nachricht von seinem Leben und Schriften herausgegeben von E.F. Weiße, Leipzig 1772, in: Matthias Claudius: Werke. Hg. von Jost Perfahl / Rolf Siebke. München 1984, S. 818, im Folgenden zitiert: C und Seitenzahl. 2 Der Zeitpunkt ist nicht genau zu bestimmen. Nach Wilhelm Herbst: Matthias Claudius. Gotha 4 1878, S. 255, vernichtete Claudius die Briefe, die er sich 1804 von Hamanns Erben hatte zurückgeben lassen, vor der Flucht aus Wandsbeck 1813 während der napoleonischen Kriege. Einer anderen Überlieferung zufolge soll erst Claudius’ jüngster Sohn Franz die HamannKorrespondenz mit dem schriftlichen Nachlass des Vaters verbrannt haben. Vgl. Rudolf Unger : Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. Halle 21925. Bd. 2, S. 781, Anm. 1237; Jörg-Ulrich Fechner : Claudius – Bach – Reichardt – Schlabrendorf. Zur Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Ausgabe der Briefe von und an Matthias Claudius. In: Friedhelm Debus (Hg.): Matthias Claudius. 250 Jahre Werk und Wirkung, Göttingen 1991, S. 126f. Über den Umfang des Briefwechsels lassen sich keine genauen Angaben machen. Burghard König: Matthias Claudius. Die literarischen Beziehungen in Leben und Werk. Bonn 1976, S. 232, zählt ca. 176 Erwähnungen von Claudius in Hamanns Briefwechsel und ca. drei Dutzend Nennungen Hamanns in Claudius’ Briefen. 3 Nach einer Mitteilung Jörg-Ulrich Fechners. Vgl. auch seine Transskription und elektronischen Kommentar von Brief Nr. 491a (ZH III, 326–329 [von Matthias Claudius, 15. April 1777]): www.hamann-briefe.de, mit Korrekturen des Abdrucks in der Briefausgabe von Hans Jessen (Hg.): Matthias Claudius: Briefe an Freunde. Bd. I. Berlin 1938, S. 223–227 (im Folgenden zitiert als Br. I und Seitenzahl). Das Original befindet sich in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Matthias-Claudius-Sammlung, Faszikel 9:4.

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Annelen Kranefuss

geschehen ist.4 An ihrem Briefwechsel, aus dem in diesem Beitrag nur ein Ausschnitt mit Blick auf Hamanns Anteil untersucht werden kann, lassen sich einige der in der Forschung oft diskutierten Motive, Idiosynkrasien und Schreibstrategien dieses Autors an einem kleinen, aber reizvollen Beispiel beleuchten: Hamanns Briefe an und über Claudius sind Zeugnis einer tiefergehenden Begegnung mit einem »homme de lettres«, in dem Hamann nach Lebensweise und schriftstellerischer Haltung bei allen Unterschieden einen »Bruder im Geiste«5 erkennen konnte. Claudius und Hamann war es trotz wiederholter Anläufe nicht vergönnt, einander »von Person kennenzulernen.«6 Ihre Beziehung blieb eine Schreibfreundschaft im exklusiven Sinn. Den damit gegebenen Mangel hat der sprachskeptische Claudius in anderem Zusammenhang einmal so benannt: »Es ist denn so mit dem Schreiben, von Mund zu Mund hilft man mit wenigem sich wohl so halb und halb durch: in Briefen verraucht ein weniges gar.«7 Dieser Skepsis und einem tiefsitzenden Bedürfnis nach Diskretion entspricht der erkennbare Unwille des Briefschreibers Claudius, über das konkret Faktische hinaus viele Worte zu machen. Sein Lakonismus dürfte dazu beigetragen haben, dass Claudius für Hamann lange eigentümlich rätselhaft blieb – ein »Wunderthier«, aus dem der Menschenkenner auch bei »allen Beschreibungen des micromegas [nicht] klug werden« konnte.8

I.

Anfänge

Vermittelt wurde der Briefwechsel durch Herder, der 1770 in Hamburg Lessing besuchte und bei dieser Gelegenheit auch den 29-jährigen Matthias Claudius kennenlernte. Ein Hamannleser war Claudius da bereits. Es war wohl Gerstenberg, der seinen holsteinischen Landsmann und Freund so sehr für den Magus begeisterte,9 dass Claudius damals, wie er Herder gestand, »für seinen Ham[ann] schon Einmal nach Curl[and] hatte Schrittschuhlaufen wollen«.10 4 Nur zwei Darstellungen gehen über vereinzelte Hinweise hinaus. Johannes Herzog: Claudius und Hamann. Ihr Kampf gegen den Rationalismus und ihr Vermächtnis an unsere Gegenwart. Leipzig u. Hamburg 1940, enthält hauptsächlich kommentierte Auszüge aus beider Schriften, die Claudius’ »christliche Gesinnung« belegen sollen. König: Matthias Claudius (wie Anm. 2), belässt es bei einem nicht immer zuverlässigen Überblick über die gegenseitigen Beziehungen. 5 Hans-Georg Kemper : Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/III Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger. Tübingen 2002, S. 275. 6 ZH V, 374,4f (an Franz Kaspar Bucholtz, 22.–24. Februar 1785). 7 Br I, 340 (an Amalie von Gallitzin, 12. 2. 1792). 8 ZH III, 242,4 (an Johann Gottfried Herder, 9.–13. August 1776). 9 1763 hatte Hamann die Rezeption seiner Schriften in Gerstenbergs Wochenschrift Der Hy-

»Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren«

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Schon vor der Begegnung mit Herder finden sich in den Hamburgische AddreßComtoir-Nachrichten, Claudius’ erster journalistischer Station, Spuren seiner Hamannkenntnis.11 Deutlicher werden die Referenzen ab 1771 im Wandsbecker Bothen. Zwar ist Hamann nicht der einzige zeitgenössische Autor, auf den sich der ungemein rezeptive Claudius in dem intertextuellen Spiel des gelehrten Artikels seiner Zeitung bezieht, der Magus aber findet darin ein ganz eigenes Echo. Vieles spricht dafür, dass Claudius in seine nach dem Modell der Moralischen Wochenschriften entworfene Autorrolle des Boten Asmus Elemente der publizistischen Grundhaltung von Hamanns frühen Schriften aufgenommen hat. In der kritischen Sicht auf die Akteure des zeitgenössischen gelehrten Betriebs konnte er sich von Hamann bestärkt fühlen. Die zu dieser Haltung gehörende Ironie ist bei Claudius allerdings nur selten polemisch. Der Wandsbecker Ireniker setzte vielmehr auf das Lachen des Humoristen, auf »Laune« und Naivität. Auch er stilisierte sich mit seiner biblisch fundierten Botschaft als Außenseiter, allerdings nicht als zorniger »Prediger in der Wüsten«, sondern in der bescheidenen Position des unzünftigen Laien, der sich klein macht vor den Gelehrten und starken Geistern und gerade darin Größe zeigt – einen micromegas hat ihn Hamann denn auch genannt.12 Von seinem Bewunderer erfährt Hamann erst 1772, als Herder ihm eine neue Besetzung für eine Rolle vorschlägt, die er selbst nicht mehr übernehmen will, »einen Alcibiades […], der Ich leider nicht bin.«13 Bis Ende 1773 scheint es aber nur Kontaktversuche gegeben zu haben, u. a. über den Sterne-Übersetzer und Verleger des Wandsbecker Bothen Johann Joachim Christoph Bode.14 Erst im Mai

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pochondrist registriert, dies aber ironisch relativiert: »In Holstein hat sich auch ein sehr zweydeutiger Bewunderer der Hamannschen Schreibart im Hypochondristen gefunden.« ZH II, 231,17f (an Johann Gotthelf Lindner, 4. Oktober 1763). ZH III, 12,11 (von Johann Gottfried Herder, 1. August 1772). Sollte sich Herder an das Gespräch mit Claudius korrekt erinnert haben und tatsächlich Kurland das Ziel dieser phantasierten Ostseeüberquerung gewesen sein, hätte sich das auf den Winter 1765 bezogen, als Hamann sich in Kurland aufhielt und Claudius arbeitslos im Reinfelder Elternhaus saß. Ob er Hamanns damaligen Aufenthaltsort kannte oder nur aus dem Druckort Mitau von Hamanns kleinen Schriften auf den Aufenthalt des Autors schloss, muss offenbleiben. Dazu Annelen Kranefuss: Matthias Claudius. Eine Biographie. Hamburg 2011, S. 69. ZH III, 242,5 (an Johann Gottfried Herder, 9.–13. August 1776). ZH III, 12,6 (von Johann Gottfried Herder, 1. August 1772). Der kurze Briefwechsel mit Bode kam 1773 zustande, nachdem dieser Hamann unter Berufung auf Herder auf die Liste der Subskribentenkollekteure für seine Tristram ShandyÜbersetzung gesetzt hatte (ZH III, 64,30–34; von Johann Joachim Christoph Bode, 16. November 1773). Hamann scheint Bode nicht nur als Übersetzer geschätzt, sondern sich auch einiges von dem Verleger versprochen zu haben. Im März 1773 durch Bodes launige Ansprache an den Boten Asmus im Vorwort zu seiner Übersetzung von Smolletts Humphrey Clinker an Claudius erinnert, erkundigt er sich nach dessen Adresse (ZH III, 41,16–20; an Johann Gottfried Herder, 20. März 1773). Im November 1773 fragt Bode an, ob er und sein Mitarbeiter Claudius ihm gelegentlich schreiben dürften. »Wie sehr Sie Claudius ehrt und

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Annelen Kranefuss

1774 notiert Hamann, »von unserm Claudio Vlubrano […] das erste Billet doux erhalten« und mit ein paar Zeilen beantwortet zu haben.15 Diese Mitteilung an Herder markiert den eigentlichen Beginn der Korrespondenz.16 Die Anspielung auf das elende Dörfchen Ulubrae in den Pontinischen Sümpfen, in dem es sich nach Horaz (Epist. I, 11, 29f.) bei weisem Gleichmut dennoch zufrieden leben lässt, zeigt, dass Hamann inzwischen in Umrissen über Claudius’ Lebensentwurf in Wandsbeck informiert ist.17 Jetzt will er mehr wissen. »Melden Sie mir doch«, schreibt er Herder, »wie alt ist unser Claudius? Besitzt er Stärke in der alten u. griechischen Litteratur?«18 Bekanntlich begrüßte Hamann auch bei anderen solche für einen gelehrten Austausch nützlichen Fertigkeiten.19 Fast im selben Atemzug erkundigt er sich nach den Lebensumständen und Wesenszügen des Unbekannten: »Wie ist er zu seiner Frau gekommen? und kennen Sie selbige. Ist seine Liebe zur Unabhängigkeit Eigensinn, Faulheit oder Unvermögenheit?« Dieses auf zentrale Motive menschlicher Lebensbewältigung zielende Interesse entzündet sich in projektiver Identifikation an wenigen, Hamann bereits bekannten Anhaltspunkten, die auch zu seinen eigenen lebensgeschichtlich bedeutsamen Themen gehören: Brautwahl, Ehe, die Frage nach Beruf und Berufung.20 Von Claudius’ »Erbsünde Lässigkeit u. Faulheit«21 wird später noch zwischen Hamann und Herder die Rede sein. Hamanns Bild von Claudius wird anfangs wesentlich durch Herder bestimmt, der sich nach den ersten Lobeshymnen zwiespältig äußert: »Ein guter Mensch, ein schlechter Commißionär«.22 Bald sollte auch Hamann, für den Claudius wie

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liebt, das glauben Sie nicht!« (ZH III, 65,15; von Johann Joachim Christoph Bode, 16. November 1773). ZH III, 96,28 (an Johann Gottfried Herder, 30.–31. Mai 1774). Hamanns Zeitangabe vom 8. 6. 1775, er habe jetzt »den ersten klugen warmen Brief« von Claudius erhalten, obwohl sie bereits »seit 2 Jahren gewechselt und aufeinander gezogen« hätten (ZH III, 188,4f; an Johann Gottfried Herder), ist eine nicht ganz genaue Erinnerung. Das Epitheton Ulubranus kann Hamann nicht, wie im Kommentar zu ZH III, 96, Brief Nr. 408 (www.hamann-briefe.de) irrtümlich angemerkt, aus Claudius’ »Fragment das nach der Stoa schmeckt« im Wandsbecker Bothen 1774/1 übernommen haben; diesen Titel und das Motto erhielt das Gedicht erst in der Werkausgabe 1775. Claudius könnte dazu sogar durch eine Bemerkung Hamanns angeregt worden sein. ZH III, 99,22–30 (an Johann Gottfried Herder, 30.–31. Mai 1774). ZH III, 189,23 (an Johann Gottfried Herder, 8. Juni 1775). Für Hamann war beides, Autorschaft und Menschsein, Beruf im Sinne von Berufung. Vgl. Elfriede Büchsel: Geschärfte Aufmerksamkeit. Hamannliteratur seit 1972. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Bd. 60 (1986), S. 375–425, hier S. 412. ZH III, 232,29 (von Johann Gottfried Herder, 20. Juli 1776). Es habe lange, gestand Hamann Friedrich Carl von Moser, zu seinen eigenen »Privatvorurtheilen« die Vorstellung gehört, dass er sich »dem Dienste des Publici« bisher »weder aus Faulheit noch Stolz« entzogen habe (ZH III, S. XXI, 2–4). ZH III, 95,9 (von Johann Gottfried Herder, 27. Mai 1774). Von Herders Unzufriedenheit mit

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für Herder Hilfsdienste übernahm, seine namengebende Phantasie an dem Wandsbecker auslassen, den »Commißionsrath« in »Confusions Rath«23 umtaufen und Herders für Claudius kränkende Umbenennung von Asmus in Asinus (durch Hinzufügung eines Punkts »auf dem Ersten Strich des m«24) übernehmen, wenngleich meist mit positiver Konnotation. Im Einzelfall müssen abfällige Bemerkungen über Claudius auch auf ihre Funktion in Hamanns Beziehung zu Herder abgeklopft werden, zuweilen mögen sie den Zweck gehabt haben, bei dem empfindlichen Herder keine Eifersucht aufkommen zu lassen.25 Hamann hatte aber auch eigene Gründe, sich zu ärgern. So lastete er Claudius als seinem Hamburger Mittelsmann bei Bode die schleppende Drucklegung seiner Prolegomena über die Älteste Urkunde an. Claudius, der fürchtet, dass ihm die Beteuerungen, alles korrekt erledigt zu haben, nicht abgenommen werden, stellt in der ihm eigenen treuherzig kapitulierenden Art die Vertrauensfrage. Ich will aber darum doch nicht unschuldig sein, weil aller Schein so gewaltig gegen mich ist. So viel und nicht mehr, bis ich erfahre, ob sie [Sie] weiter etwas von mir hören und sehen mögen, Sie sind indeß in beyden Fällen mein liebster und bester Hamann.26

Der bietet ihm daraufhin die Gevatterschaft bei seiner zweiten Tochter Magdalena Katharina an – eine unter den Umständen verblüffende Volte ins Persönliche. Er habe sich »nicht anders an dem armen Dorfteufel zu Wandsbeck zu rächen« gewusst, lautet seine ironische Begründung.27 Den tieferen Grund nennt ein späterer Rückblick. Was ihn angezogen habe, sei sowohl Claudius’ ihm durch Herder »bekannt gewordene Zuneigung« gewesen als auch ihr verwandter »Geschmack an Bauermädchen«, also eine ähnlich aus der Norm fallende Lebensführung wie seine Gewissensehe mit Anna Regina Schumacher – »lauter individuelle Beziehungen, die anderswo nicht so paßend waren.«28 Womöglich

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Claudius als Bücherbeschaffer ist in dem Briefwechsel mehrfach die Rede. Vgl. Claudius, Br. I, 96. ZH III, 104,1 (an Johann Gottfried Herder, 26. August 1774); ZH III, 130,33 (an Johann Gottfried Herder, 20. Dezember 1774). ZH III, 106,3 (von Johann Gottfried Herder, 10. [16.?] September 1774). Claudius: »Nennt mir nicht noch einmal Asinus!« (Br. I, 96) Andererseits nimmt Herder Claudius in Schutz, als Hamann diesem »die Kolbe lausen« will, rasend vor Zorn über die Möglichkeit, dass durch dessen Ungeschicklichkeit beinahe ein Exemplar der Prolegomena an den verhassten Merck nach Darmstadt gegangen wäre. Hier, so Herder, sei der Wandsbecker unschuldig. (ZH III, 169,32f, 25. März 1775) Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: »Die Meerkatze«. Bemerkungen über Johann Heinrich Merck im Briefwechsel von Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder. In: Netzwerk der Aufklärung. Neue Lektüren zu Johann Heinrich Merck. Hg. von Ulrike Leuschner / Matthias Luserke-Jaqui. Berlin / New York 2003, S. 105–120. ZH III, 428 (von Matthias Claudius, 9. November 1774). ZH III, 125,21f (an Johann Friedrich Hartknoch, 30. November 1774). ZH III, 262,30–263,1 (an Johann Gottfried Herder, 14.–15. Oktober 1776).

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überschätzte er den Grad der gesellschaftlichen Anomalie der zwar unkonventionellen, jedoch nicht eigentlich unpassenden Ehe des Wandsbeckers mit der Zimmermannstochter Rebecca Behn.29 Auf der anderen Seite irritierte ihn die von Claudius ihm gegenüber bei aller »Zuneigung« an den Tag gelegte »Gleichgiltigkeit und Zurückhaltung«. Das alles habe ihn bewogen, »das Räthselhafte seines Charakters durch einen Sturmlauf näher aufzuschließen.«30 Herder erhält die zugleich beschwichtigende und stichelnde Begründung, warum nicht ihm die Patenstelle angeboten wurde. Bei einem Sohn wäre das anders gewesen, behauptet Hamann. »Mein Käthchen wird aber des Claudius nugas lieber lesen als ihre [Ihre] musicalische Dramata, die ihr zu gelehrt sind. Haben Sie doch auch mich nicht zu Gevatter gebeten.«31 Hamanns scherzhafte Kontrastierung der literarischen Profile seiner beiden Freunde folgt seiner charakteristischen Engführung von »Domestica und Litteraria«.32 Auch in der Beziehung zu Claudius gehörten Autorschaft und gelehrter Austausch auf der einen, Persönlich-Familiäres auf der anderen Seite zusammen. Mit einem von beiden gebrauchten Junktim: Auch hier darf von keiner »Distinction zwischen Schriftsteller und Menschen«33 die Rede sein.

II.

Domestica

Das Familiäre und Lebenspraktische war in dieser Freundschaft bis zum Ende eine tragende Säule. Gewechselt werden Nachrichten über Geburten, Krankheiten der Kinder und Eltern, ihre Schattenrisse und Kupferstiche, Erkundigungen nach den »Pathchen«, später auch Mitteilungen über Gärten und Obstbaumpflanzungen. Immer wieder segeln Kästen mit Geschenken übers Meer nach Königsberg: Wein und Wandsbecker Rauchfleisch oder – so kindlich verspielt ist kein anderer von Hamanns Korrespondenten – »Puppenwerk«, das,

29 Claudius’ gesellschaftliche Unangepasstheit wird auch von anderen Zeitgenossen registriert, so von Merck (Johann Heinrich Merck: Briefwechsel. Hg. von Ulrike Leuschner in Verbindung mit Julia Bohnengel / Yvonne Hoffmann / Am8lie Krebs. Göttingen 2007. Bd. I, S. 649). Josef Nadlers Annahme in: Johann Georg Hamann. 1730–1788. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg 1949, S. 280, dass Claudius Hamanns uneheliche Beziehung zu Anna-Regina missbilligt habe, ist abwegig. 30 ZH III, 262,36. 31 ZH III, 130,33ff und 133,28ff (an Johann Gottfried Herder, 20. Dezember 1774). Gemeint sind Herders Musikdramen Brutus und Philoktet sowie dessen Pfingstkantate. Vgl. den elektronischen Kommentar (wie Anm. 3) zu ZH III, 133,30. 32 ZH III, 228,18 (an Friedrich Nicolai, 18. April 1776) u. ö. 33 Claudius an Herder, 5. 12. 1775 (Br. I, 164), nach der HS Goethe-Schiller-Archiv, Weimar zit. von Jörg-Ulrich Fechner in: ders. (Hg.): Matthias Claudius 1740–1815. Leben, Zeit, Werk. Tübingen 1996, S. X.

»Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren«

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wie Hamann dem Absender in komischer Verzweiflung meldet, sein »Haus ärger als der spanische Pips heimgesucht« habe.34 Für Claudius scheinen diese Geschenke eine Möglichkeit gewesen zu sein, sich den Schreibzwängen zu entziehen und doch die Freundschaft zu erhalten. Themen des Briefwechsels sind Hamanns Bemühungen um Subskribenten für Claudius’ nach und nach erscheinendes Oeuvre oder seine Sorgen um den Lebensunterhalt seines Gevatters, der irritierenderweise selbst nichts über sein Auskommen verlauten lässt. Auch mit »Me Claudius«35 gibt es eine kleine Korrespondenz. Hamann lässt ihr das Herder zugedachte Exemplar seines Versuchs einer Sibylle über die Ehe zukommen und legt ein »Sapphisches Billet doux im Namen der Sib. Adelgunde«36 bei, gewissermaßen von Frau zu Frau, mit der Bitte, die kleine Schrift nach Lektüre an Caroline Herder weiterzuschicken. Zur Zeit der Sibylle nimmt Hamann lebhaften Anteil am Eheleben seiner Freunde. Dem frischgebackenen Ehepaar Hartknoch, dem die Sibylle gewidmet ist, berichtet er von Anna Rebecca Claudius’ »Handbriefchen […], das so zärtlich, schmeichelhaft und kützlich als wenn’s von einer Sappho oder an einen jungen Stutzer geschrieben wäre«,37 und rät Madame Hartknoch: »Küßen Sie Ihren Schatz so oft wie meine Gevatterin Anna Rebecca«.38 Erhalten ist ein Brief an Rebecca nach Darmstadt, der natürlich auch vom Ehegatten gelesen werden soll, mitsamt dem psychologisch klugen Ratschlag, diesem zu helfen, sich als »Fitzliputzli auf einer höheren Bühne«39 in das ungeliebte Amt als Hessen-Darmstädtischer Oberlandkommissar zu schicken, statt dem Landleben nachzutrauern.

III.

Litteraria

Hamann sieht in Claudius nicht nur den Gevatter, Ehemann und Familienvater. Lange Zeit nimmt er auch den Autor und Gelehrten ernst, anders als etwa Klopstock.40 Er liest seine »Gedichte und Prosa«,41 lässt ihn an eigenen Projekten,

34 ZH V, 7,23 (an Matthias Claudius, 7. Januar 1783). »Meine Kinder wurden von der Seuche auf einmal so angesteckt und die Fabrike nahm so überhand, daß man sich vor Puppen nicht zu rühren wußte.« (Ebd., Z. 24f). 35 ZH III, 156,1 (an Johann Friedrich Hartknoch, 13. Februar 1775). 36 Ebd. Das nicht überlieferte Schreiben ist durch ZH III, 155,35 bezeugt. 37 ZH III, 164,23–25 (27. Februar 1775). 38 Ebd., Z. 30. 39 ZH III, 265,9 (an Rebecca Claudius, 24. Oktober 1776). Der mexikanische Kriegsgott Vitzliputzli hier scherzhaft als Teufelsname statt des »tummen T. zu Wandsbeck« (ZH III, 167,34)? 40 Klopstock unterhielt zeitlebens freundschaftliche Beziehungen zu Claudius, ohne dass ein

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eigener Lektüre teilnehmen, sucht nach von Claudius erwähnten Büchern,42 macht Übersetzungsvorschläge.43 Auch ihre Veröffentlichungen tauschen die beiden aus. Im Sommer 1774 schickt Hamann seine bisherigen »Rhapsodien«44 nach Wandsbeck. Er selbst muss freilich auf Widmungsexemplare, etwa das der Übersetzung von Irrthümer und Wahrheit des »Unbekannten Philosophen« Louis Claude de Saint-Martin, lange warten.45 Öffentlich hat sich Hamann nur einmal zu Claudius’ Autorschaft geäußert, mit einer rezensierenden Subskriptionsaufforderung zum ASMUS omnia sua SECUM portans oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen I. und II. Theil, die als Beilage zur 39. Ausgabe der Königsbergschen Gelehrten und politischen Zeitungen 1775 erschien.46 Im Titel nennt Hamann als Adressaten, mit einem Claudiuszitat, »alle ›belesene und empfindsame Persohnen‹ in Ost-und WestPreußen«.47 Für sie sind die Informationen über Preis, Umfang, Aufmachung gedacht. Die vielen textlichen Referenzen können die potentiellen Abnehmer, die das Werk ja noch nicht kennen, allerdings nicht identifizieren. Sie stehen gegenüber dem Autor als eigentlichem Adressaten aber auch nur am Rande, sind Zuschauer eines exquisiten Rollenspiels. Dessen exklusiver Dialogcharakter kommt ungefähr nach der Hälfte des Stücks ans Licht, wenn der Aufruf an alle

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nennenswerter geistiger Austausch stattfand. Vgl. Annette Lüchow: Claudius und Klopstock. In: Fechner : Matthias Claudius (wie Anm. 33), S. 375–425, hier 108f. C 11. So die Kompilation des italienischen Philosophen Mutius Pansa aus dem Umkreis des frühneuzeitlichen Hermetismus: De Osculo. Consensus ethnicae et christianae philosophiae […]. Marburg 1605 (ZH III, 133,18 [an Johann Gottfried Herder, 20. Dezember 1774] und C 37). Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Claudius und Herder. In: ders.: Matthias Claudius (wie Anm. 33), S. 135–150, hier S. 144. Auch das von Claudius gelobte Buch des emeritierten Kieler Philosophieprofessors Johann Hinrich Tönnies über die Offenbarung des Johannes dürfte ihn nach einem Hinweis Herders interessiert haben (ZH III, 234,25ff [von Johann Gottfried Herder, 20. Juli 1776]). 1784 macht Hamann Claudius, an dessen hermetische Interessen anknüpfend, den Vorschlag, eine Neuerscheinung zum zeitgenössischen Mysteriendiskurs, die Recherches historiques et critiques sur le mystHres des pagans von Guilleaume Emanuel Joseph Guilhem de Clermont-LodHve, Baron de Sainte-Croix zu begutachten und gegebenenfalls zu übersetzen (ZH V, 185,1, 15. August 1784). Br. I, 98. ZH V, 6,31f: »An einem solchen Dedications Exemplar von Irrthümern u Wahrheiten ist mir mehr gelegen als an allen Hünern Schiebkarren und Kleinigkeiten in gantz Wandsbeck«. N IV, 386–388. Nadlers von der Angabe 10. Mai (N IV, 388,30) abweichende Datierung auf den 10. März 1775 lässt sich heute nicht mehr am Erstdruck verifizieren. Claudius’ Buch sei, so Hamann (N IV, 386,27), »flugs zur gegenwärtigen Ostermesse fertig geworden« (Ostern 16. April, Jubilate 7. Mai). ZH III, 180,12 (an Matthias Claudius, 21. Mai 1775) spricht für Hamanns Erstlektüre am 4. Mai. Vgl. aber www.hamann-briefe, Kommentar zu ZH III, 180,20 und den offenbar vor Ostern geschriebenen Brief an Reichardt (ZH III, 179,33f), von Ziesemer/Henkel nach Hamanns unklarer hsl. Korrektur von Mai zu März (ZH III, 180,9) im Mai eingeordnet. N IV, 38,4. Vgl. C 78: »Noch ein dito für belesene und empfindsame Personen«.

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sich als Offener Brief an Einen entpuppt. Von anderen publizistischen Äußerungen Hamanns zu Freunden oder Gegnern unterscheidet er sich bei aller auch vorhandenen Ironie durch seinen herzlichen, geradezu liebevollen Ton. Der empfindliche Herder beklagt sich denn auch prompt: »So hast du nicht, alter Ruprecht, zu mir geredet«.48 In der Rolle eines »Rezensenten allertraurigster Gestalt«,49 als Freund Hain aus der Dedikation des Asmus,50 führt Hamann sofort ins Zentrum von Claudius’ Autorschaft: Vetter Matthias Claudius, ein ehrlicher Dorflieger vom schönen Geiste, erinnerte sich im Herbst des verflossenen Jahrs seiner Sterblichkeit und gerieth auf den mystischen Einfall seine verlorne Blätter zu sammlen und […] drucken zu lassen.

Noch kaum merklich stimmen diese ersten Sätze auf den Wechsel von versteckter Ironie und herzlicher Zustimmung ein, der die gesamte Rezension durchzieht. Eines der schillernden Ironiesignale ist das im Verlauf der Ankündigung noch dreimal wiederholte »mystisch«. Hamann, der Claudius später auch brieflich damit necken wird,51 spielt hier auf dessen Erklärung an, er gehöre selbst zu »einer gewissen Klasse eklektischer Mystiker, die immer an den heiligen Parabeln und Hieroglyphen des Altertums käuen und wiederkäuen«52. In Hamanns Rezension changiert »mystisch« zwischen ›rätselhaft‹, ›zweideutig‹ und der eigentlichen Bedeutung von Mystik als hermetisch tradierte religiöse Erfahrung, die für Hamann »seit Adams Fall wie alle Gnosis verdächtig«53, also zweideutig ist. Doppeldeutigkeit kennzeichnet auch das Thema, dessen Schlüsselwort Hamann typographisch markiert: »Sterblichkeit«. Mit ihm bezieht sich der Rezensent auf das in Claudius’ »Oktavmännchen«54 unübersehbare memento mori. An seinem Horizont zieht im ironischen Spiel mit dem klassischen Unsterblichkeitstopos ein mögliches anderes Motiv der Veröffentlichung auf: der Wunsch, sich einen Namen zu machen und der Vergänglichkeit zu trotzen. Nicht 48 ZH III, 191,16 (von Johann Gottfried Herder, Mitte Juni 1775). Herder sieht auch den Handlungscharakter des Stücks: »Wie mich Ihr dramat. Freund Hain erfreut hat […]«, ebd. Z. 15. Ruprecht Pförtner ist in Claudius’ Dedikation ein weiterer Todesname. Vgl. den Kommentar in Reinhard Görisch: Matthias Claudius: Der Mond ist aufgegangen. Gedichte und Prosa. Frankfurt a.M. 1998, S. 263. 49 N IV, 386,27, eine Überbietung der Autormaske in Mancherley und Etwas zur BolingbrokeHervey-Hunterschen Übersetzung, von einem Recensenten trauriger Gestalt. Hamburg 1774. 50 C 10–12. 51 ZH III, 181,2 (an Matthias Claudius, 21.–22. Mai 1775). 52 C 38. So in der Rezension von Herders Ältester Urkunde in Antwort auf den Teutschen Merkur vom November 1774 (Band VIII, S. 177), der Claudius einen Hang zur Mystik im Gefolge Hamannscher Dunkelheit vorgeworfen hatte. 53 ZH V, 470,18 (an Franz Kaspar Bucholtz, 26.–29. Juni 1785). 54 N IV, 386,27.

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einmal ein Autor, der sich wie Claudius mit dem Alter Ego des bescheidenen Boten vom Streben seiner Kollegen nach Dichterruhm ausdrücklich distanziert, kann sich von diesem Motiv ganz freisprechen. Es ist der unausgesprochene Schatten der von Asmus an den Tag gelegten Haltung zum Tod und zur zeitgenössischen Literatur. In diesem Sinne ist der »ehrliche[r] Dorflieger« eben auch einer der Schöngeister, deren Büchermachen Eitelkeit ist, auch wenn er das wie Hamann selbstironisch zugibt.55 Nicht eigentlich als Kritik, sondern als humorvoll neckende Anfrage an den Autor lässt sich das lesen. Sie stimmt ein auf den im Vergleich zu Hamanns polemischer Publizistik erstaunlich positiv anmutenden Grundton dieser Rezension. Ausdrücklich wird »Autor Asmus«56 von anderen zeitgenössischen Belletristen und Gelehrten unterschieden: »Bist weiser denn die Weisen von Abdera und die Schildbürger gelehrten Wesens daselbst«. Anders als jene, die sich selbstherrlich gottgleich dünken,57 soll er mit dem »Spielzeug [seiner] Autorschaft«58 vor dem unbestechlichen Richter Gnade finden. »Will ihn ebenso sanft recensiren, wie er mir die Hand drückt beim Abschied seiner Dedication zum freundlichen Wiedersehen.«59 Es sind die Kernbereiche der Autor-Persona des Wandsbecker Boten, auf die Hamann zustimmend antwortet, die Poetik der Knechtsgestalt,60 der verhalten angedeutete Gottesbezug, der Gestus des Niedrigen und Närrischen, die bukolisch-einfache natürliche Lebensweise.61 Sie vollzieht sich bei Claudius in der Bejahung des Irdischen im Wissen um seine Endlichkeit und in der Hoffnung auf ein ewiges Leben. Diese in dem Gedicht »Bei dem Grabe meines Vaters« ausgesprochene Hoffnung wird von Hamann bekräftigt.62 Der tiefere Grund für Hamanns Milde verbirgt sich in dem Bildcluster um den neckend verballhornten Asmus/Asinus und seinen mageren Rezensenten, dem

55 C 30: »Er glaubt nicht, Andres, wie einem so wohl ist, wenn man was schreibt, das gedruckt werden soll«. Zu Hamanns Selbstironie als Schriftsteller und den theologisch-anthropologischen Voraussetzungen seiner Kritik an den Schriftstellern seiner Zeit vgl. Hans Graubners erhellende Studie: »Der nächste Äon wird wie ein Riese vom Rausch erwachen […]«. Herders frühe und folgenreiche Fehldeutung von Hamanns Aesthetica in nuce. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2009, S. 21–74, hier S. 29–31. 56 N IV, 386,41. 57 Siehe den Marsyas-Vergleich N IV, 387,30. 58 Als »kleines Spielewerk« bezeichnet Asmus die meisten Stücke in seinem »Büchel« (C 11). 59 N IV, 387,11f; vgl. auch die Bitte an Freund Hain: »fallt mir und meinen Freunden nicht hart« (C 11). 60 C 46; vgl. Annelen Kranefuss: Die Gedichte des Wandsbecker Boten. Göttingen 1973, S. 200–220. 61 N IV, 386,13. 62 C 97f und N IV, 387,46f: »Sollst […] zu einer besseren und schöneren Welt erwachen«.

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»das Füllen der lastbaren Muse geweiht seyn soll.«63 Schon der im Motto mit einem Horazzitat eingeführte Eselsname64 kann als Präfiguration der leitmotivisch wiederkehrenden biblischen Anspielungen auf den christologischen Hintergrund von Claudius’ Schaffen gelesen werden. Ganz ohne mahnende Untertöne ist das nicht. Denn noch vor dem Einzug des sanften Königs in Jerusalem steht das mosaische Gesetz, nach dem alle Erstgeburt Gott geweiht sein soll, namentlich der »Erstling des Esels«.65 Dem sei, werde er nicht im Tempel ausgelöst, das Genick zu brechen. Bezogen auf den hier in Rede stehenden literarischen Erstling heißt das: Der und sein Autor gehören trotz der Dedikation an den Tod zuallererst Gott, und wer dieses Verhältnis missachtet, dem könnte es gehen wie »jenen stolzen Hengsten, die dem Phaeton die Hälse brachen«.66 Mit diesen theologisch und poetologisch zu verstehenden klassischen und biblischen Zitaten liefert Hamann Stichworte zu einem Autorprofil vor dem Hintergrund der Literatur seiner Zeit. Auf Verfahrensweisen und Motive seiner bisherigen Angriffe zurückgreifend, wiederholt er noch einmal seine Einwände zu den poetologischen und theologischen Positionen der Zeitgenossen. Was Hamanns Widerspruch zu den herrschenden literarischen Tendenzen hervorruft, ist, so Hans Graubner, die seinem Poesiebegriff zugrundeliegende Erkenntnis der prinzipiellen »Zweideutigkeit aller Menschensprachen«67 nach dem Sündenfall. Auf diese Zweideutigkeit, der auch Claudius nicht entgehen kann, deuten die Bemerkungen des Rezensenten zu Bildmotiven des Buchs. Ein von Claudius im unmittelbaren Textumfeld nicht weiter erklärter Kupferstich, stelle, so Hamann ironisch, »einen Vogel vor, von mystischer Zweydeutigkeit«.68 Die Erklärung in Claudius’ Dedikation ist nicht gerade erhellend: »Das zweite Kupfer, S. 17, stellt 63 N IV, 386,39, ein Rückgriff auf die Verschränkung von Bibel- und Ovidzitat im Kleeblatt Hellenistischer Briefe, N II, 171,27. 64 N IV, 386,9–12. Horatius Flaccus ad Vinium Asellam, Ep.I,13, in der Übersetzung von Wilhelm Schöne (Hg.): Horaz: Sämtliche Werke. München 1960, S. 171: [»Sieh zu daß Freundeseifer dich nicht zu weit führt, daß Dienstwilligkeit nicht aufdringlich wird und gegen das Büchlein einnimmt. Wird dir etwa heiß bei der gewichtigen Bürde meiner Blätter, so wirf sie lieber weg, als daß du aus Ingrimm am gebotenen Ziel mit der Packung anstößt.«] Ab hier von Hamann lateinisch zitiert: »Du würdest ja dein Vätererbe, den Zunamen ›Eselin‹, ins Spaßhafte umdeuten und dem Stadtwitz verfallen.« 65 Exodus 34,20. 66 N II, 171,26f. Die Pferde des Phaeton sind traditionell eine poetologische Metapher für den Gegensatz von hitziger Einbildungskraft und besonnener Vernunft. Hamann spannt »Eingebung und Gelehrsamkeit« in den Wolken gleichwertig zusammen, so Eckhard Schumacher : Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a.M. 2000, S. 150f. Wie Hamann dieses Gespann und seine Elemente allerdings bewertet, wäre von Fall zu Fall untersuchen. 67 Graubner: Äon (wie Anm. 55), S. 35 und 37. 68 N IV, 387,1.

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vor: einen Raben, einige sagen gar, ’s sei nur eine Krähe.«69 Keine Frage, dass der Ovidleser Hamann diesem Fingerzeig mühelos und mit großem Vergnügen an dessen raffiniertem performativen Verschweigen folgen konnte. Wer die Anspielung auf die Metamorphose von Rabe und Krähe aus strahlend weißen Götterlieblingen (der eine des Apoll, die andere der Minerva) in schwarze versteht – beide werden für ihre Geschwätzigkeit70 bestraft (die zur Krähe mutierte Begleiterin Minervas muss der nächtlichen Eule weichen) –, wer das weiß, der kann die von Claudius verweigerte Deutung des auf seinem Stich hellen, gewissermaßen prälapsarisch makellosen Rabenvogels selbst vornehmen. Das unternimmt Hamann jetzt mit einem Zitat aus Horazens Ars Poetica (Vers 296, 297): Auf Claudius’ Verweis auf den Helikonberg in seiner Abhandlung vom Genie71 anspielend konstatiert er, der erwähnte Kupferstich mache die »Relationes curiosas […] vom demokritischen Helicon wahr«,72 dem Musenberg, zu dem Horaz zufolge Demokrit, der lachende Philosoph von Abdera, »allen gesunden Dichtern den Zutritt […] versagte«.73 Gegen die poetologischen Intentionen des Horaz ruft Hamann damit einen von den »gesunden Weltweisen« für wahnsinnig erklärten Dichtertypus auf, zu dessen Ahnenreihe er neben Sokrates auch den Propheten Elisa und Jesus zählt.74 Die Claudius hier zugeschriebene theologische Fundierung der Poetik wird bestätigt durch die Bilder der folgenden Abschnitte: das »Füllen der »lastbaren Muse« und »Minervens Vogel«, den Hamann »auf dem Helm der Titelvignette«75 des Asmus, dem Botenhut, identifiziert. Hier begegnet er seinem eigenen theologischen Geniebegriff aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten.76 Auf den sokratischen Genius spielt Claudius’ »Abhandlung über das Genie« am Ende einer Gleichniskette zum Thema der rezeptiven Resonanz an: Der menschliche Körper voll Nerven und Adern, in deren Centro die menschliche Seele sitzt, wie eine Spinne im Centro ihres Gewebes, ist einer Harfe zu vergleichen, und die Dinge in der Welt um ihn den Fingern, die auf der Harfe spielen. Alle Harfenseiten beben und geben einen Ton, wenn sie berührt werden. Einige Harfen aber sind von 69 C 12. 70 Ovid Metamorphosen II, 540–541: Lingua fuit damno / lingua faciente loquaci / Qui color albus erat nunc est contrario albo. 71 C 28. 72 N IV, 387,2. Die Fußnote verweist auf Horaz Ad Pisones [296f.]. 73 So Hamanns Formulierung in Wolken, N II, 105,2f. 74 Wolken, N II, 104,8–105,21. Vgl. Aber die Einschränkung N II, 105,17–21, nach Matth. 4,24, dass es zu weit ginge, alle »Beseßenen, Mondsüchtigen und Paralytischen […] für Genies« zu halten. Anders als Horaz kennt übrigens auch Ovid noch eine »religiöse Dimension des Künstlertums«. Lothar Spahlinger : Ars latet arte sua. Untersuchungen zur Poetologie in den Metamorphosen Ovids. Stuttgart (u. a.) 1996, S. 88. 75 N IV, 387,21f. 76 N II, 75,31–76,9.

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einem so glücklichen Bau, daß sie gleich unterm Finger des Künstlers sprechen, und ihre Saiten sind so innig zum Beben aufgelegt, daß sich der Ton von der Saite losreißt und ein leichtes ätherisches Wesen für sich ausmacht, das in der Luft umherwallt und die Herzen mit süßer Schwermut anfüllt. Und dies leichte ätherische Wesen, das so frei für sich in der Luft umherwallt, wenn die Saite schon aufgehört hat zu beben, und das die Herzen mit süßer Schwermut anfüllt, kann nicht anders als mit dem Namen Genie getauft werden, und der Mann, dem es sich auf den Kopf setzt, wie die Eule auf ’n Helm der Minerva, ist ein Mann der Genie hat und der geneigte Leser wird nun hoffentlich besser wissen, was Genie ist.77

Genie als unverfügbares Daimonion und Geist Gottes – das hat Claudius von Hamann gelernt und verbindet jetzt dessen heteronomen Geniebegriff mit dem zeitgenössischen Lieblingsgedanken vom herausragenden, besonders begabten Künstler. Den Schritt zur autonomen Genieauffassung des Sturm und Drang vollzieht er damit nicht,78 auch von einem autonomen Werk ist nicht die Rede. Vielmehr erscheint das Genie, das einer hat – nicht: das er ist – in einem doppelten Resonanzvorgang: im Eindruck einer intuitiv zu erfahrenden beseelten Natur, deren »leichtes ätherisches Wesen« durch die Äußerung des inspirierten Menschen hindurch auf auch andere hinüberschwingt. Das alles bleibt freilich in der Schwebe, weil Claudius die Frage nach dem Wesen des Genies nicht begrifflich beantwortet.79 Während bei Claudius, wenn auch in Bildern und Gleichnissen, vom Phänomen der Inspiration allgemein die Rede ist, spricht Hamann über die seelische Empfänglichkeit dieses Autors, genauer : er spricht sie ihm persönlich zu. Nicht um die menschliche Seele als solche geht es ihm, sondern um die seines Adressaten: Bist ein guter, lieber Junge, hast eine feine Seele, die deine ist und den Keim mystischer Weisheit – »keine Spinne in ihrem Centro –«.80

Dem liebevoll-ironischen Zuspruch folgt die Korrektur in Parenthese. Die Vorstellungen seines Adressaten von der Seele kann Hamann so nicht akzeptieren. Er verwirft das Bild von der Spinne, für ihn die Verkörperung des verhassten Systemdenkens, und deutet mit einer Gesangbuchanspielung81 auf die 77 C 29. 78 Vgl. Reinhard Görisch: Matthias Claudius und der Sturm und Drang. Ein Abgrenzungsversuch. Frankfurt a.M. / Bern / Cirencester U.K. 1981, S. 264–272; Herbert Rowland: Zur Theorie der Sprache bei Matthias Claudius. In: Debus: Claudius (wie Anm. 2), S. 61–76, hier S. 63–69. 79 Rowland, ebd., S. 67. 80 N IV, 387,17f. 81 Die neunte Strophe von Paul Flemings auch zu Hamanns Zeit in vielen Gesangbüchern verbreitetem Choral, »In allen meinen Taten / lass ich den Höchsten raten«, beginnt »So sei nun Seele deine / Und traue dem alleine/ der dich geschaffen hat«. Der junge Hamann notierte sich das Lied zuerst aus dem Londoner Gesangbuch der Brüdergemeine, allerdings

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Seele als den Ort, an dem sich der in sie gelegte »Keim mystischer Weisheit« entfalten kann – mit Hilfe dessen, der sie »geschaffen hat«. An dieser Stelle verliert das von Hamann sonst eher ironisch-kritisch gebrauchte »mystisch« den Charakter des Fragwürdigen. Das Hin und Her der Texte im Wortaustausch der Autoren wirkt zeitweise fast wie zweistimmig gespielte Musik. Hamann ist derjenige, der dabei in Führung geht: Mit seiner Individualisierung und Präzisierung durch minimale, aber bedeutsame Zitatveränderungen82 zieht er Claudius in einem Akt nicht so sehr der Umdeutung als der freundschaftlich zurechtrückenden Interpretation und Akzentuierung auf seine Seite. Wenn er beispielsweise Claudius’ empfindsampoetisches Spiel mit der magischen Anziehungskraft des Mondes erwähnt, dann um sogleich deren sublunare Vorläufigkeit zu betonen: Sein Gevatter werde es in der »besseren und schöneren Welt«83 dereinst »nicht nöthig ha’n weiter zu briefwechseln mit der bleichen Göttin Luna«.84 Aber auch jetzt schon könne er sich, so der Rezensent, an die guten Gaben des Lebens, die von ihm erwähnten »sieben natürlichen Dinge«,85 halten, die er auskosten dürfe, weil er den Tod als »’n guten Mann« respektiere, mit anderen Worten, seine Sterblichkeit bedenke. Darin liegt die Weisheit, die diesen Poeten von den gelehrten Schildbürgern von Abdera, »die auf Steckenpferden um den Feenring mondsüchtiger Unsterblichkeit spielen«, unterscheidet.86 Claudius’ eigene Distanzierung von den »mondsüchtige[n] Phantasten«87 der zeitgenössischen Philosophie wird damit auf die schöne Literatur ausgedehnt.88 Wo sein Autor in diesem Feld zu plazieren ist,

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mit der Variante »Seele seine«. Vgl. Jörg-Ulrich Fechner : Philologische Einfälle und Zweifel zu Hamanns Londoner Aufenthalt […]. In: Acta 1976, S. 1–21, hier S. 10. N IV, 387,17–22. Bei »das so frei für sich in der Luft umherwallt« (C 29), Streichung »für sich« (N IV, 387,19), statt »der Mann, dem es sich auf ’n Kopf setzt«: »ruht auf deiner Harfe« (N IV, 387,20f). Vgl. C 97: »aus bessern Welten«. N IV, 388,3f. N IV, 387,44. Vgl. C 37. In seiner Rezension der Ältesten Urkunde des menschlichen Geschlechts spricht Claudius in Abweichung von Herder, der die Sieben durch die Religionsgeschichte von den alten Ägyptern bis zur Kabbala als Klang verfolgt, vom »guten Geruch der Sieben«. Meint das, redensartlich, ihren guten Leumund? Das alles will der Wandsbecker Bote ironisch »dahingestellt sein« lassen, ebenso wie Spekulationen über die Ursache der »Ähnlichkeiten in den verschiedenen alten Religionsfragmenten«. – Hamann könnte aber auch die »ganz natürliche Thranlampe« (C 97) des Boten meinen, die er N IV, 386,45 zitiert. N IV, 387,23–25. C 26. Wie genau Hamann über die zeitgenössische Belletristik orientiert ist, zeigt dieser hochwitzige Abschnitt, der u. a. an Claudius’ Herderrezension anknüpft, die Hamanns Analogiedenken von den vernunftgeleiteten Erklärungen der biblischen Schöpfungsgeschichte durch Deisten und Naturphilosophen (einschließlich des alchemistischen Grafen Welling!) abhebt, Erklärungen, die für Claudius zu der »Emulsion« gehören, mit der sich der »eklektische Mystiker« nicht zufrieden gibt (C 38). Hamanns darauf bezogene Zitatreihe spannt

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deutet Hamann mit Hilfe des bei ihnen beiden poetologisch konnotierten Bildbereichs der Last- und Reittiere an.89 Kriterium der Unterscheidung der Geister ist die Sprache: Der englische Stumpfschwanz deiner Mundart passt sich baß zum Ohrenmaß einer Muse Roßinante dann zum [recte: zun] Flügeln der Sonnen- Berg- und Meerrosse oder zun Hörnern der Buc’phalen mit ihren Fipp Fapp – Firlefanz gebunden an dem Stumpf»schwanz« anglo-allemannischer Schreibart.90

In Claudius’ satirischer Verserzählung »Die Nachahmer«91 wollen drei Versemacher namens Fipp, Fapp und Firlefanz ohne eigene Mühe »in die schöne große Ewigkeit« gelangen. Sie binden ihre »Eselein« an den Schwanz des von einem Dichter gerittenen Bucephalus, Alexanders des Großen Lieblingspferd, kommen damit aber nicht weit, weil der Dichter sich stumm stellt und sie nicht beachtet – ein gereimter Kommentar zum zeitgenössischen Ruhm-, Rang- und Originalitätsdiskurs. Wo Claudius in seiner Verserzählung den wahren und großen Dichter von den Epigonen des gegenwärtigen Literaturbetriebs absetzt, spricht Hamann von zwei grundverschiedenen Weisen »englischen« Sprechens: auf der einen Seite die »Mundart« des bescheidenen Boten (angelos), hinter der die »Engelsprache« der Aesthetica, aufscheint, auf der anderen die an der englischen Literatur der Zeit orientierte »anglo-allemannische Schreibart« der literarischen Avantgarde.92 An ihr partizipiert auch Claudius mit seiner Naivität und Volkstümlichkeit signalisierenden Manier der apostrophierten, zum »›Stumpf‹schwanz«93 kupierten Wörter. Was seine Schreibweise in Hamanns Augen von der seiner Zeitgenossen trennt, sind aber nicht solche formalen Züge, sondern die Haltung des Autors, die darin zum Ausdruck kommt, seine Wert-

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pikanterweise konträre poetische Akteure der Gegenwartsliteratur (und deren Naturbezug) zusammen: die nach Ruhm und Unsterblichkeit dürstenden Jünglinge des Göttinger Hains, der sich in einer Mondnacht (!) konstituierte, und Wieland, den Verfasser der Abderiten und Übersetzer von Lukians Die Natur der Dinge. Der schon von Gottsched gebrauchte Vergleich der Einbildungskraft mit den Pferden des Phaeton wird von Hamann in den Wolken positiv gewendet. Vgl. Eckhard Schumacher : Ironie (wie Anm. 66), S. 150 f: »Eingebung und Gelehrsamkeit« werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern bilden ein wildes »Gespann«. Wie Hamann dessen einzelne Elemente bewertet, muss bei ihm allerdings von Fall zu Fall untersucht werden. N IV, 387,35–39. C 72. Möglicherweise sind neben den monierten Stileigentümlichkeiten die sich auf Shakespeare berufende, klassische Regeln verwerfende Dramatik des Sturms und Drangs oder das modische Shandysieren gemeint, das auch Claudius schätzte und praktizierte. Mit einer Anspielung auf den gestutzten Schwanz von Alkibiades’ Hündchen hatte Hamann Herders »Gräuel der Verwüstung in Ansehung der deutschen Sprache, die alcibiadischen Verhuntzungen des Articuls« (ZH III, 135,11f [an Johann Gottfried Herder, 20. Dezember 1774]) getadelt. Jetzt überträgt er die Metapher auf Claudius’ Musenpferd und dessen Nachahmer.

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schätzung des Niedrigen, Ungelehrten, Kindlich-Einfältigen. Hamann sieht den Boten Asmus weder unter den Wortführern der zeitgenössischen Literatur, die im Fluge der Einbildungskraft in die erhabenen Höhen und Tiefen der Natur eindringen wollen94 (was sich u. a. auf den von Claudius gelobten Klopstock beziehen dürfte), noch bei den schon dem Namen nach läppischen Epigonen ihrer mächtigen Streitrösser. Zum Gleichnis einer anderen Schreibweise wird neben dem Esel Don Quijotes trauriger Klepper »Roßinante«,95dessen Herr ein Wahnsinniger und Schwärmer ist.96 Der schon von Claudius angeführte sagenhaft einfältige König Midas, dem Apoll die Ohren langzog,97 steht metonymisch für den Esel, auf den Hamann jetzt den mythischen Dionysoslehrer »im Gefolge des göttlichen Mündels« setzt. Unausgesprochen führt die mythologische Assoziationskette damit den dionysischen Begrüßungstaumel in Claudius’ Gedicht »Der Frühling. Am ersten Maimorgen« (»Heute will ich fröhlich, fröhlich sein«) fort, der in dem Ausruf gipfelt: »Ha! mein Thyrsus sei ein Knospenreis, / Und so tauml ich meinem Freund entgegen.«98 Dieser Vorsatz wird von Hamann bei aller Ironie gutgeheißen: Sollst, weiser Jüngling! das Spielzeug deiner Autorschaft nicht umsonst dem mystischen Freunde Hain geweiht und in ihm ’n guten Mann geglaubt haben – Sollst dich noch weidlicher tummeln99 auf dieser grünen Au’ unter’s Himmels blauem Aug, als Vater Silen im Gefolge des göttlichen Mündels auf seiner Midasmähre.100

Mit seinem Zuspruch knüpft Hamann an Hauptmotive von Claudius’ Autorschaft an: Lebensfreude und Todesreflexion, Naturliebe und Kindersinn, so-

94 »Die Einbildungskraft, wäre sie ein Sonnenpferd und hätte Flügel der Morgenröthe, kann […] keine Schöpferinn des Glaubens seyn«. (N II, 74,17ff) 95 C 79. 96 Was Claudius über die Schwärmerei im Gegensatz zu einer »kalte[n] räsonierte[n] Dogmatik« dachte, hätte Hamann im Wandsbecker Bothen lesen können: »Wenn doch eins sein muß, ist’s noch fast besser der Schwärmerei zu nahe zu kommen. […] Mittendurch ist freilich das beste« (C 837). 97 In Claudius’ Betrachtung Über die Musik wird der einfältige Midas, der ursprünglich wegen seiner Kritik an Apollos Leierspiel von dem Gott gestraft wurde, zu dessen Freund: »Wem es aber von den Göttern aufbehalten ist, die Musik in Einfalt und Kraft wieder einzuführen, der bedarf eines solchen Ruhmes [eines zeitgenössischen Virtuosen, A.K.] nicht; ihn wird Apollo seinen Freund nennen, und sein unerkanntes Verdienst durch zwei lange Gliedmaßen unter Midas’ Locken rechtfertigen«. (C 49) Im Zusammenhang mit Hamanns Midasanspielung steht die auf einen der anderen künstlerischen Rivalen Apolls, den »Nebenbuhler« Marsyas, dessen Bestrafung durch Häutung Freund Hain den Abderiten androht (N III, 387,29f). 98 C 84f. 99 Die lautliche und etymologische Nähe von »tummeln« und »taumeln« ist eine weitere Brücke zu Claudius’ Versen. 100 N IV, 387,31–35.

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kratische Narretei und »Tollheit«.101 Mit einem von ihm oft gebrauchten Zitat aus dem Prediger Salomo (Koh. 9,8 und 9), angereichert mit Anspielungen auf das einfache Leben des Autors, ermuntert den Rezensenten seinen Adressaten, sich nicht an den Tod zu verlieren. Es sind die auch in dem Büchlein dargestellten, mit Bibelversen verwobenen Details aus Claudius’ Lebenswelt, die aus diesem Rat eine kaum verschlüsselte, außerordentlich dichte Evokation irdischen Glücks machen, alltagsnah und poetisch. Eine Hommage an den Autor, der ihn dazu inspirierte: Sollst leben – des Lebens brauchen mit deinem Weibe Rebecca, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, dein Hemd und Frack soll ungescholten, das heist, weiß und ganz sein, deinem Haupt Freudenöl nicht fehlen, deinem Garten weder Kohl noch Obst noch Erdbeeren, noch Milch deiner Amalthea,102 die du melken kannst.103

Für die abschließenden Einzelheiten zum Subskriptionsverfahren legt Hamann die Todesmaske ab und gibt sich als »Jonathan und Gevatter des […] homme de lettres zu Wandsbeck« zu erkennen, nicht ohne eine kryptische Begründung der Dringlichkeit der Werbung für das Buch, deren Wirkung allerdings, wie man weiß, insgesamt eher zweifelhaft war : »Weil das Publikum und Freund Hain zwo mystische Personen sind, die […] nimmermehr miteinander zu theilen verlangen«.104 Ein Pendant zu dieser Veröffentlichung ist das am 21. Mai 1775 begonnene Schreiben, mit dem sich Hamann bei Claudius für das Dedikationsexemplar des Asmus bedankt.105 Anders als in der Zeitung geht es jetzt um die persönliche Seite der Lektüre. Ihre heilsame Wirkung habe seinen »hypochondrische[n] Schmachtriemen aufgelöst«,106 also die Verstimmung nach der Begegnung mit dem Hephästion des Königsberger Predigers und Freimaurers Johann August Starck, der Hamann seit Tagen aufs höchste erregt hatte. »So leicht fällt mir, mich krank und gesund zu lesen.«107 Dennoch bleibt ein dunkler Ton unterschwelliger, »hypochondrischer« Traurigkeit: »Beym Aufstehen von Tisch und Pult schien ich alle Knochen zu fühlen und glaubte in Freund Hain verwandelt zu sein. Hinc illae lacrymae.«108 Den Wirkungen des Lesens verdankt sich auch die unmittelbar auf diese Stelle 101 N II, 104,7; vgl. Johann Anselm Steiger : Matthias Claudius (1740–1815). Totentanz, Humor, Narretei und Sokratik. Heidelberg 2002, S. 25–28. 102 Die Ziege, die als Amme das Kind Zeus nährt. 103 N IV, 387,40–44. Das ganze Kapitel, aus dem die biblischen Allusionen stammen, ist bei diesem Lob des einfachen Lebens mitzuhören. 104 N IV, 388,12 105 ZH III, 180–185 (an Matthias Claudius, 21.–22. Mai 1775). 106 ZH III, 180,14, ein erweitertes Zitat aus Claudius Dedikation (C 11). 107 ZH III, 180,16f. 108 ZH III, 180,17ff.

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Annelen Kranefuss

folgende Erwähnung der großen Feuersbrunst in Königsberg – Claudius könnte, so mutmaßt Hamann, bereits aus den ihm von Berufs wegen zugänglichen Gazetten davon erfahren haben. Dass dieses zunächst wie ein bloßes Fait divers anmutende Detail gerade jetzt auftaucht, ist durch den inneren Zusammenhang mit dem von Claudius angeschlagenen Todesthema begründet. Die Unglücksmeldung ist ein Memento der alltäglichen tödlichen Bedrohung, der sich auch der Briefschreiber ausgesetzt sieht. Angesichts von »Schrecken und Schaden« in der Nachbarschaft muss Hamann Claudius’ nüchterne und getroste Einstellung zum Tod wohltuend berührt haben. Was Hamann an dem Büchlein so gefiel, war nicht allein die Tatsache, dass die vielen darin enthaltenen Anspielungen auf ihn selbst ihm Hoffnung auf einen gleichgesinnten Gesprächspartner machen konnten, oder das innige Vergnügen an einer Schreibweise, die ihn auf seinem »Sorg Stuhl im Geist« zum Lachen brachte, so dass seine »Leute glauben, daß ich Engel sehe«, dabei sei es »nichts als der kleine Asmus in hoc opere operato«109 gewesen. Das alles mochte mitspielen. Vor allem aber erkannte er in diesem Opus eine auf vertrautem Glaubensgrund ruhende Lebenshaltung. Schon hier konnte er freilich auch bemerken, dass dieser Autor ihn zwar lobte und zitierte, sich einer weiterführenden Auseinandersetzung aber entzog, ihr wohl auch nicht gewachsen war. Auch darauf könnte sich die ironische Bemerkung beziehen: »Daß Ihr meine Schriften versteht, will ich Euch zu Gefallen glauben«.110 Einen Autor, der von sich sagte, er verstehe sich selbst und manches in seinen eigenen Schriften nicht (mehr), muss die treuherzig-selbstgewisse Versicherung, er sei verstanden worden, belustigt haben. Bedauerlich fand er dagegen, dass sein Gevatter seine Hilfsangebote, etwa eine Einladung nach Königsberg, nicht verstehen wollte – Claudius hatte offenbar zu erkennen gegeben, er sei nicht sicher, wie ernstgemeint das Angebot sei.111 Hamanns Bemühungen um eine vertiefte Beziehung und größere Nähe zu dem zehn Jahre Jüngeren ist in diesem Brief in Zitaten versteckt, die das Motiv altersbedingten Nichtwissens über Liebe und Fruchtbarkeit umkreisen. So in der oben zitierten Anspielung auf das Lachen der alten Sara über die Engel, die ihr einen Sohn verheißen,112 oder die Horazode über die Werbung des älteren 109 ZH III, 183,24. Die kontroverstheologische Formel wird hier offenbar nur floskelhaft gebraucht. 110 ZH III, 180,30. Der Brief, auf den Haman hier antwortet, ist nicht erhalten. 111 ZH III, 181,5. Claudius gehörte für Hamann zu den notleidenden Originalen, die seine Hilfsbereitschaft weckten. Nach Claudius’ Zögern lässt er seine Fürsorge dem windigen gelehrten Abenteurer Penzel zukommen (ZH III, 193,19; 194,1; an Johann Gottfried Herder, 16.–17.1775). 112 ZH III, 183,22f.

»Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren«

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Liebhabers um das Mädchen Lalage, das, wie das junge Rind, noch nicht stark genug ist für den anstürmenden Stier.113 Der daraus einzig zitierte Vers über die vergebliche Fahndung nach dem noch unreifen Jüngling, der sich mit aufgelöstem Haar und doppeldeutigem Milchgesicht im Chor der Mädchen versteckt,114 wirft die Frage auf, ob eine Annäherung angesichts der im Brief an anderer Stelle beklagten »Gleichgiltigkeit oder Sprödigkeit«115 des Adressaten schon an der Zeit sei. Der Ausgang ist offen, die Antwort der Ode lautet: Nondum, noch nicht. Hamanns unmittelbar vor dem Horaz-Zitat gegebene Antwort auf Claudius’ Frage »obs Ernst oder Kurzweil, Dich zu sehen« weist in dieselbe Richtung: »Freylich«, antwortet der Briefschreiber : »Ernst, wenn nichts unmöglich. [Zu ergänzen nach Lk 1,37: »für Gott ist kein Ding unmöglich«, A.K.] Lauter Kurzweil, nach dem natürlichen Lauf der Dinge»116 – der in der dann zitierten Ode zur Sprache kommt. Der Rest des wegen verschiedener Unterbrechungen erst am am nächsten Tag beendeten Briefs kann hier übergangen werden. Er enthält Fragen zu Auflagenhöhe, Preis und Vertrieb von Claudius’ Buch, »Domestica und Litteraria« wie Besuche und Besucher, Neuerscheinungen (von Interesse für Claudius: Reichardts Vertonung des Claudiusgedichts »Die Mutter bey der Wiege«), Frauen und Kinder – alles assoziativ und wie Kraut und Rüben zusammengewürfelt, schließlich sollte kein Porto mit leer gebliebenen Briefseiten verschwendet werden.117

113 Horaz, carm. II,5. 114 »Mire sagacis falleret hospites / Discrimen obscurum, solutis / Crinibus ambiguoque voltu.« In der Übersetzung von Samuel Gotthold Lange, Halle 1752 (BIGA 9/152, N V, 19): »[Wie Gyges in der Mädgen Reihn erstaunlich /] Den klügsten Gast betrügt, und schwer / Zu kennen ist, in freyen Haaren / Und in dem zweifelhaften Angesicht.« Auslöser für die Erwähnung dieser Ode ist Claudius’ zweifelnde, Zögern signalisierende Reaktion auf Hamanns Einladung. Roman Prochaska (Hamann und Horaz. Die Funktion des Zitates in der Wortkunst des Magus. Diss. masch. Graz 1966, S. 44) erkennt in dem Motiv der »geschlechtlichen Unentschiedenheit« eine Chiffre »doppeldeutigen Sprechens und Schreibens«, sieht darin aber nur eine Selbstaussage Hamanns ohne die Überdeterminierung des Zitats durch den Bezug auf Claudius zu berücksichtigen. Denn auch dieser reagierte uneindeutig. U.a. diese Unentschiedenheit konnte Hamann im Motiv des langhaarigen Jünglings in Claudius’ »Phidile« (C 33) und auf dem letzten Kupfer des Bändchens (C 98) verkörpert sehen (N IV, 386,41–44). Der Horazkenner wird bei dem Gedichttitel natürlich auch an die »rustica Phidile« der Ode III, 23 gedacht haben, die Arthur Henkel in seinem Kommentar als einzigen Bezug erwähnt, die aber für Hamanns Argumentation an dieser Stelle keine Rolle spielt (Johann Georg Hamann: Briefe. Ausgewählt und eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Arthur Henkel. Frankfurt a.M. 1988, S. 368). 115 ZH III, 181,25f. 116 ZH III, 181,5–7. 117 ZH III, 183,33–35.

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Annelen Kranefuss

Noch ein Blick auf die Abschlussformel: »Grüßen und küßen Sie Ihr liebes Weib und sämtl. Schlafgesindel.[…] u. s. m. Gott empfohlen.« Das originelle Kompositum stammt aus Claudius’ Vierzeiler »Als er sein Weib und ’s Kind schlafend fand«, der mit den Worten endet: »Der alles segnet, segn’ euch beide! / Euch liebes Schlafgesindel, euch!«118 Das Zitat entspricht Hamanns Gewohnheit, in eigener Sache sprechend, dem jeweiligen Briefempfänger dessen eigene Worte zurückzuspielen.119 In diesem Beispiel kommt mit der gesteigerten Wirkungsenergie des poetischen Textes unterschwellig ein Mehrwert zur Geltung. Hamann konnte in die in dem kleinen Gedicht wie in Bernstein eingeschlossene häusliche Situation mit seinen eigenen väterlichen Empfindungen einstimmen und dem Autor antwortend zugleich seine brüderliche Verbundenheit bekunden. In Claudius Werken und Briefen findet sich eine erstaunliche Fülle von offenen und verdeckten Hamannzitaten. Auch Hamann hat häufig Formulierungen von Claudius übernommen. Mit Quellenangabe sollten sie auch der Vergewisserung und Verstärkung seines freundschaftlichen Briefnetzes insgesamt dienen. Dass Lektüreeindrücke ihn zu eigenen Texten provozierten, wurde oft beobachtet. Bekanntestes Beispiel im Fall von Claudius ist das Gedicht Wächter und Bürgermeister, dessen »Wortkrieg« um das verhunzte Genus Hamann im Nachhelf eines Vocativs »als Demonstrationsobjekt für den Streit zwischen Wieland und Herder-Häfeli verwendet.«120 Hamanns Zitierpraxis bestätigt freilich auch, dass es ihm nicht um die ästhetische Faktur, um Verskunst als solche ging.121 Er sei sich »weder eines musikalischen noch poetischen Gehörs bewußt«, hat er einmal gesagt und behauptet, dass er »von Poesie nichts verstehe«.122 Fast möchte man ihm glauben, wenn man liest, was er sich 1772 von Claudius’ zuerst im Göttinger Musenalmanach veröffentlichter lyrischer Miniatur »An die Nachtigall«123 (»das erste

118 C 25. »Gesindel« nach Grimms Deutschem Wörterbuch im 18. Jahrhundert »im guten sinne« auch »hausgenossenschaft«. Daneben gab es schon damals die heute allein übliche »verächtliche bedeutung«. Kemper hebt die »eindrucksvolle Verbindung von Ernst und Komik dieser ›lyrischen Miniatur‹« hervor. Kemper : Komische Lyrik – Lyrische Komik. Über Verformungen einer formstrengen Gattung. Tübingen 2009, S. 102. 119 Vgl. Elfriede Büchsel: Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei Johann Georg Hamann. Untersuchungen zur Struktur von Hamanns Schriften auf dem Hintergrund der Bibel [Göttinger Dissertation 1953]. Gießen / Basel 21988, S. 124. 120 Martin Seils im Kommentar zu Schürze von Feigenblättern, HHE V, 330. Vgl. auch König: Matthias Claudius (wie Anm. 2), S. 258–261. Worauf sich Claudius’ Ende 1776 veröffentlichtes Gedicht (C 126) bezieht, ist nicht bekannt. 121 Graubner: Äon (wie Anm. 55), S. 31. 122 ZH IV, 329,4f (an Johann Friedrich Reichardt, 25. August 1781) und ZH VI, 317,1 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 15.–16. März 1786). 123 C 34.

»Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren«

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Stück so ich von ihrer [Ihrer] lastbaren Muse gesehen«124) aus dem Kopf, ohne Rücksicht auf Reim und Rhythmus in sein Studienheft notierte. Statt »Nachtigall, Nachtigall, ach, / Sing mir den Amor nicht wach« steht da: »Nachtigall ruft. Sing mir den Amor nicht wach.«125 Dass Hamann nur ein selektives Interesse an der zeitgenössischen Poesie hatte,126 muss nicht heißen, dass er keinen Sinn für die poetischen Valeurs eines sprachlichen Kunstwerks besaß, war er doch selbst ein Sprachkünstler von hohem Rang. So wurde er bei Claudiusgedichten oft von einzelnen Wendungen angesprochen, deren Mischung diskrepanter Stilebenen, die knappe, vielsagende Verbindung von Ernst und Komik, hoch und niedrig, alltäglich und feierlich seiner eigenen Vorliebe für Wortspiel und Sprachmischung entgegenkam. Er habe sich an Claudius’ lyrischen Beiträgen zum Vossischen Musenalmach, schreibt er Ende 1776 an Reichardt, »nicht satt lesen können. Bey jeder Kleinigkeit, die mich afficirt, dergl. es hundert der [!] Tages giebt, stößt mir der Vers auf: Sie ist ein sonderliches Wesen!«127 Und auch bei dem in der Asmus-Rezension zitierten Gedichttitel Noch ein dito für belesene und empfindsame Personen lag der ästhetisch-rhetorische Reiz für Hamann sicherlich in der Inkongruenz von feinsinniger Leserbestimmung und geschäftsmäßiger Floskel. Auch die Diskrepanz zwischen Titel und Text muss ihn amüsiert haben. Der Vierzeiler eignete sich zwar auch wie die im Asmus davor plazierten Wiegenlieder128 als Einschlafvers für Kinder, war aber ursprünglich ein Volksreim und gar nicht für »belesene Personen« gedacht: »Meine Mutter hat Gänse, / Fünf blaue, / Sechs graue; / Sind das nicht Gänse?«129 Derartige handwerklich-formalen Elemente konnten die emotionale Wirkung der für Hamann ausschlaggebenden semantischen Textebene verstärken, blieben aber wohl unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Seine Rezeption der

124 125 126 127

ZH III, 183,27f (an Matthias Claudius, 21.–22. Mai 1775). N V, 313,2–5. Graubner: Äon (wie Anm. 55), S. 32. ZH III, 274, 15ff (an Johann Friedrich Reichardt, 16. Dezember 1776). Gemeint ist die Sonne im Morgenlied eines Bauermanns (C 104). 128 Ein Wiegenlied bei Mondschein zu singen und Ein dito (C 75–77f). 129 C 78. Der auch in Ostpreußen im Volk umlaufende Vierzeiler wurde von Claudius zuerst im Wandsbecker Bothen 1772/4 unter dem Titel Eine Erscheinung veröffentlicht. Vgl. Heinz Rölleke: »Meine Mutter hat Gänse«. Ein Volksreim und seine Spuren im Jesuitendrama, bei Claudius, Goethe, Kotzebue und Jacob Grimm. In: Jahrbuch für Volkslied-Forschung. 19. Jg. (1974), S. 108–116. Das Prinzip der Inkongruenz bestimmt auch Hamanns Einfall, dass, »wäre er ein Musicus und Componist« wie Johann Friedrich Reichardt, er »Noch ein Dito, zufolge Ihrem Ideal von der Music in Noten setzen möchte um durch die Neuheit der Melodie das Alterthum der Worte zu heben.« (ZH III, 183,30–33; an Matthias Claudius, 21.–22. Mai 1775).

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Dichtkunst folgte nicht poetischen Kriterien, sondern einem »im Kern theologischen Poesie-Begriff«.130

IV.

Heu und Stroh

Damit komme ich zu dem im Titel meines Beitrags zitierten Claudius-Vers, mit dem Hamann sich Mitte der 1780er Jahre noch einmal zu Claudius’ Dichtkunst bekannte. Ich überspringe die Jahre, in denen die Korrespondenz, wie es scheint, oft von beiden Seiten ins Stocken geriet. In diese Zeit fällt die Kritik der Berliner Aufklärer an Claudius’ Übersetzung von Irrthümer und Wahrheit (1782) des französischen Theosophen Louis Claude de Saint-Martin, die mit einer allmählichen Abkehr der zeitgenössischen Meinungsführer von Claudius einhergeht. Auch Hamann und Herder lehnen das Buch aus jeweils anderen Gründen ab. Als 1783 der vierte Teil von Claudius’ Werken erscheint, setzt Hamann der in Königsberg zu hörenden Meinung, »daß Claudius in seinem letzten Theil ziemlich ältert«, sein »Mir eben nicht« entgegen und begründet das damit, dass ihn »das neueste immer am stärksten rührt u die Eindrücke des vergangenen sehr matt bey mir sind. Ich bin mir bewust, daß ich nicht imstande bin zu urtheilen und enthalte mich daher ganz«.131 Die Verweigerung eines von Ort, Zeit und Person absehenden Geschmacksurteils findet sich auch in Hamanns Reaktion auf Claudius’ Weyhnacht Cantilene: Den Herren Kunstrichtern schmeckt die Poesie wie das Grummet von der Weide. Die Freunde des Asmus laßen sich – wie die Weisen – das Heu und Stroh nicht irren.132

Bei Claudius heißt es von den Weisen aus dem Morgenland, die das Kind in der Krippe, »[I]in seinem Windelkleide / Auf Grummet von der Weide« vorfanden: Sie sahen seinen Stern, Und kannten ihren Heiland, ihren Herrn, Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren.133 130 Graubner: Äon (wie Anm. 55), S. 32. 131 ZH V, 62,54–63,1 (an Johann Gottfried Herder, 1.–7. August 1783). Vgl. ZH V, 228,10–13 (an Johann George Scheffner, 7.–8. Oktober 1784): »Ich bin gegen mein Urtheil so mistrauisch, daß mir die Übereinstimmung eines Freundes immer willkommen ist. Wie die Kritik der reinen Vernunft von einem logischen Spinnengewebe abhängt, so des guten Geschmacks seine öfters von einem seidenen Faden. Mein Antheil an des seel. Prätorius und des M. Pleßings Erstlingen ist stärker, weil ich beide persönlich gekannt habe.« 132 ZH V, 341,24–26 (an Johann George Scheffner, 24. Januar 1785). 133 C 365. Grummet, die zweite Mahd, steht wie Heu, mit dem es hier synonym gebraucht wird, für Dürftigkeit und Armut.

»Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren«

255

Auch, oder soll man sagen gerade da, wo Claudius’ Verskunst nach den Kriterien der Kunstkritik zu wünschen übrig lässt, leuchtet für Hamann im unscheinbaren, »dürren« Vers die Wahrheit von Gottes Herunterlassung auf, wird die Poesie selbst zum Zeichen der Inkarnation, die Hamann Jacobi am Beispiel und mit Worten von Claudius nahezubringen suchte: Zur Widerherstellung des Göttlichen Ebenbildes – wurde der Abglantz göttlicher Herrlichkeit zur Sünde gemacht. »Ohn weiters zu verstehen«134 wie unser liebe Claudius in seiner Cantilene sagt, wo mancher dürre Vers nach Grummet von der Weide schmeckt; aber auch in diesem Heu ist ein Leuchten von des Engels Klarheit – »denn er sagte ihnen die Wahrheit«. Die Hirten glaubten dem Zeichen des in Windeln gewickelten und in der Krippen liegenden Kindes – giengen hin – und kehrten wieder um, preiseten und lobten Gott für alles, das sie gehört und gesehen hatten.135

Von diesem Befund aus ist Ingemarie Manegolds Fazit, dass Hamann für Claudius wie für andere Nachfolger »zum Magier wurde, ohne auf den bethlehemitischen Stern bezogen zu sein«,136 zu widersprechen. Auch wenn bei diesem Hamann-Enthusiasten, wie Manegold zu Recht konstatiert, nur von einem »partiellen tieferen Verstehen«137 seiner Schriften die Rede sein kann, möglicherweise sogar nur von einer auf einzelne »Stellen« bezogenen Lektüre, die mit Konxompax vollends aufhörte, so besteht doch in dem, was sie im Kern motivierte, größere Einigkeit als bei den meisten anderen Hamannverehrern seiner Zeit. Beider Autorschaft ist, mit Worten des alten Claudius, gegründet im »Christentum wie es die Apostel und unsere Väter gelehrt haben.«138 Während Goethe sich von den missionarischen »Einfaltsprätensionen«, die er beim Wandsbecker Boten zu spüren meinte, distanzierte,139 erkannte Hamann in der »einfältigen« Schreibart seines Freundes Praxis und Programm einer Kunst, die, so sein Leser Claudius in der Betrachtung »Über die Musik«, »ohne alle eigene Gerechtigkeit war, und in Knechtsgestalt Wunder tat.«140 Es liegt in der Logik von Hamanns theologischem Ansatz, dass er ästhetische Wertungen hintanstellend, sich von Unzulänglichkeiten im Werk des Freundes nicht beirren ließ, wenn nur die »Wahrheit« der Botschaft aufleuchtete. Dass das Differenzen und Kritik nicht ausschloss, zeigt Hamanns Reaktion 134 Diese und die nächste Hervorhebung markieren Übernahmen aus Claudius’ Kantilene, C 364. 135 ZH V, 329,27–35 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 22.–23. Januar 1785). 136 Ingemarie Manegold: Johann Georg Hamanns Schrift »Konxompax«. Fragmente einer apokryphischen Sibylle über apokalyptische Mysterien. Heidelberg 1963, S. 16. 137 Ebd. 138 C 498. 139 Unter anderem mit Bezug auf Claudius’ Weihnacht-Kantilene: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. München 101981. Bd. 11, S. 413. 140 C 46. Die Claudius natürlich aus Phil. 2,7 bekannte Christusprädikation »Knechtsgestalt« könnte er auch in der Aesthetica in nuce (N II, 212,11) gelesen haben.

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auf Claudius’ Saint-Martin-Übersetzung. Ob und in welcher Form er seinem Gevatter Einwände und Bedenken dazu mitgeteilt hat, lässt sich nach der Vernichtung des Briefwechsels nicht sagen. Bei allem Vergnügen an dessen Briefen scheinen die Abstände ihrer Antworten zuletzt doch bei beiden größer geworden zu sein (»Je mehr ich Lust habe unsern Herrn Urian141 zu sehen, desto weniger hab ich an ihn schreiben«142). Claudius gegenüber entschuldigt er sich mit der paradoxen Wendung von den »stummen und treuen Hunden« aus dessen vorangegangenem (nicht erhaltenen) Brief.143 Hamann sieht sich in diesen Jahren nicht nur mit Blick auf das Briefgespräch unbeweglich und faul werden, genau »wie Compere Asmus sein Pegasus«.144 Das hindert ihn aber nicht an fürsorglich pädagogischer Neckerei: »Der Himmel gebe, daß mehr Zusammenhang in Eurem Leben als Briefwechsel sei«.145 Als sich seine Reisepläne schließlich konkretisieren, wächst die Hoffnung auf ein Jenseits des Briefwechsels: Gott gebe daß wir uns im bevorstehenden Jahr einander sehen, und mündlich alles ersetzen mögen, was sich mit Dinte und Feder nicht thun läßt.146

Der Tod hat diese Hoffnung durchkreuzt.

141 Rollenname eines Claudius-Gedichts im Vossischen Musenalmanach 1786, erschienen im Herbst 1785. 142 ZH VI, 82,17 (an Reichardt, 2. Oktober 1785). 143 ZH V, 5,14f (7. Januar 1783). Jesaja 56,10 werden die blinden und faulen Wächter »stumme Hunde […], die nicht strafen können«, genannt. Vgl. Eine Disputation, wo Claudius auf die biblischen Wendung anspielt: »Und das wesen man stumme Hunde, die dazu schweigen täten«, nämlich zu Verfälschungen der reinen Lehre (C 63). 144 ZH V, 6,26 (an Matthias Claudius, 7. Januar 1783). 145 ZH V, 6,28f. 146 ZH VII, 90,36–37,1f (an Matthias Claudius, 16. Dezember 1786).

Tim Hagemann (Tübingen)

»Zur Strafe meiner bösen Laune«. Hamann als Privatkritiker der zeitgenössischen Literatur für Johann George Scheffner

Das warnende Beispiel Hippels und vielleicht auch die Einsicht in die eigene Mittelmäßigkeit1 ließen Scheffner das Sortieren und Sondern seiner Briefe, insoweit er sie nach dem Tod der Empfänger zurückerhielt, nicht der Nachwelt überlassen, so dass wir von dem umfangreichen Briefwechsel von Hamann und Scheffner nur die eine, zweifellos gewichtigere Hälfte besitzen. Wenn Johann George Scheffner vor allem, und das ist nicht das Schlechteste, was sich von einem Menschen sagen lässt, als Freund Hippels, Kants und Hamanns in Erinnerung geblieben ist, so sollte doch nicht ganz vergessen werden, dass auch der Kriegsrat und Gutsbesitzer ein Schriftsteller war. In Hamanns Werk begegnet uns der Schriftsteller Scheffner an zwei Stellen. Im Sendschreiben an Friedrich II., Au Salomon du Prusse, heißt es, Preußen habe seine Rabelais und Gr8courts hervorgebracht, und die Anmerkung zu Gr8court lautet: »Kriegs-Domänen Scheffner bey der Marienwerderschen Cammer, Verfasser sehr guter und elender Gedichte, Uebersetzer des Quarini ec., den Augustus selbst für einen putissimum penem und homunculum lepidissimum erkennen würde.«2 Die Nennung von Scheffners Namen durch Hamann ist, insoweit sie nicht den Übersetzer, sondern den Schriftsteller betrifft, nicht ohne Delikatesse, suchte doch Scheffner bei den erotischen Gr8courtDichtungen unter allen Umständen seine Anonymität zu wahren. Nachdem sich Wieland gegen die Zueignung der zuerst 1771 bei Kanter in Königsberg erschienenen Gedichte im Geschmack des Gr8court verwahrt hatte, schrieb Scheffner ihm als Baron von der G., mithin unter dem erkennbar zu einem Pseudonym verkürzten Namen eines verstorbenen Freundes, einen so gelun1 Johann George Scheffner: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Königsberg 1821, S. 250. Zu Hippel vgl. den Beitrag von Joseph Kohnen in diesem Band. Der zunächst anonyme Verfasser der Lebensläufe nach aufsteigender Linie (1778–1781) verlor aufgrund der nach seinem Tode aufgefundenen Papiere rapide an Ansehen. 2 N III, 59,16. Gemeint ist der Hofdichter der Este in Ferrara, Tassos Freund und Nachfolger Giovanni Battista Guarini, dessen 1590 erschienenes Schauspiel Il pastor fido Scheffner 1773 als Der treue Schäfer vorlegte.

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genen Entschuldigungsbrief, dass Wieland die Absolutionsbitte mit einem Freundschaftsangebot an den Verfasser beantwortete. Dieser war indes nicht bereit, die eine daran geknüpfte Bedingung zu erfüllen.3 Während Scheffner die Offenlegung seiner Identität verweigerte, ließ er doch die Gedichte in immer neuen und erweiterten Auflagen erscheinen, in vierter und fünfter als Gedichte nach dem Leben und 1798 schließlich, in nunmehr vier Bänden, als Natürlichkeiten der sinnlichen und empfindsamen Liebe, wobei jetzt auch die einst nur privatim vorgebrachte Autorfiktion eines Freiherrn Friedrich Wilhelm von der Goltz auf dem Titel bekräftigt wird. Selbstverständlich findet all dies in Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben keine Erwähnung, ja, überspitzt ließe sich feststellen, Mein Leben sei geschrieben, um die Gedichte im Geschmack des Gr8court nicht zu erwähnen, die durch Schweigen allein nicht mehr verschwiegen werden konnten.4 Dabei sind es, wie hier aus einem Gedicht Die Jungfernschaft, vollendet durchkomponierte Verse, zu denen sich Scheffner nicht bekennen mag: »Geschmeid, das Bürgermädchen ziert,/ Und stolz die Königstöchter schmükket,/ Das jenen oft ein Prinz entführt,/ Hier Pag’ und Kammerdiener pflükket.«5 Gert Ueding spricht von der »Zierlichkeit des Eros«, die alles Anstößige, gelegentlich gar ein wenig zu sehr, verhindere.6 Scheffner stellte also die Wahrung seiner Anonymität sogar über eine mögliche Freundschaft zu Wieland, doch scheint er von Hamanns Anmerkung keinen Schaden davongetragen zu haben – sie wurde so wenig gelesen wie das Sendschreiben insgesamt. Ein zweites Mal wird Scheffner indirekt in den Kreuzzügen des Philologen erwähnt. In der Zuschrift »Dem Leser unter der Rose!« spricht Hamann von »dem lächerlichen Unfuge, der uns droht, daß jeglicher Sergeant ehstens seine Canapee- und Campagnengedichte, und jeglicher Träumer im bunten Rock ehstens seine Exercitiums zum allgemeinen Besten gemeinnützig machen wird – – –«.7 Hier spielt Hamann nun auf Gedichtsammlungen an, Campagnen-Gedichte (1761) und Freundschaftliche Poesien eines Soldaten (1764), zu denen sich Scheffner durchaus und in einer Weise bekennt, die zugleich von seinen bürgerlichen – und das heißt in diesem Zusammenhang: aliterarischen – Wertmaßstäben zeugt: »Einige meiner Gedichte wurden ohne mein Vorwissen unter dem Titel Campagnengedichte gedruckt, vom damaligen Berlinschen Buch3 Briefe an und von Johann George Scheffner. 5 Bde. Hg. v. Arthur Warda / Carl Diesch. München/Leipzig/Königsberg 1918ff, Bd. V, S. 289ff. 4 Vgl. Uwe Hentschel: Erotisches Dichten und bürgerliches Wohlverhalten am Beispiel von Johann George Scheffner. In: Wirkendes Wort 43 (1993), S. 25–35. 5 Johann George Scheffner : Gedichte nach dem Leben. Hg. v. Simon Bunke. Hannover 2008, S. 96. 6 Gert Ueding in einem Brief an den Verf., November 2010. 7 N II, 117,5–9.

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händler, nachmaligen Hofrath, dann Cammerherr, auch Baron gewordenen und als Graf auf seinen großen Güthern in Sachsen gestorbenen Rüdiger.«8 Hamanns Urteil über Scheffner als Schriftsteller unterliegt keinem Zweifel. Wenn er ihn dort auch einen »Verfasser sehr guter und elender Gedichte« nennt, so ist doch zu bedenken, dass, mit einem Wort von Walter Jens, jede Gedichtsammlung so gut ist wie das schlechteste Gedicht in ihr, und hier ist die Charakterisierung als »lächerlicher Unfug« deutlich genug. In keinem seiner 44 Briefe an Scheffner spricht Hamann diesen, so sehr er ihn als Literaturfreund schätzt, denn auch als Schriftsteller an. Umgekehrt scheint auch Scheffner Hamann in erster Linie nicht als Schriftsteller geachtet zu haben. Wie wenig der Aufklärer dem religiösen Werk seines Brieffreundes abgewonnen haben kann, verrät ein später, auf den 8. August 1814, seinen 78. Geburtstag, datierter Nachtrag zu Mein Leben. Scheffner gibt sich über das vergangene Jahr Rechenschaft, erwähnt die Lektüre des Alten Testaments und fühlt sich in seiner Auffassung bestärkt, »daß seine Lesung zum moralischen Ausbilden der Jugend beynah ganz entbehrt werden könne.«9 Arthur Plehwe sah Hamann und Scheffner geistig in verschiedenen Welten und gab der begründeten Vermutung Raum, »daß der Ausdruck ›das unverständliche Hamannchen‹, dessen sich Scheffners Freund Nezker in einem Briefe an Scheffner für ein übersandtes Werk Hamanns bedient, nicht von der Auffassung Scheffners sich entfernte.«10 Die Charakterisierung als »unverständlich« zumindest wird durch Scheffners eigene Darstellung in Mein Leben gestützt. Scheffner berichtet dort von einem Besuch Hamanns auf Gut Sprintlack, bei dem er, als von einer Gesamtausgabe die Rede gewesen sei, angeboten habe, die ihm unverständlichen Stellen in Hamanns Schriften zu dem Zwecke einer erläuternden Kommentierung durch den Verfasser anzustreichen. Hamann habe sich jedoch außerstande gesehen, entsprechende Anmerkungen hinzuzufügen, »weil er selbst vieles, worauf er beim Niederschreiben Rücksicht genommen, vergessen habe.«11 Dieses Urteil der partiellen Unverständlichkeit seiner Schriften bestätigt Hamann selbst in einem Brief an Scheffner vom 11. Februar 1785: Es ist für mich wirklich eine herculische Arbeit gewesen, was ich von 59–83 geschrieben durchzugehen, weil sich alles auf die wirkliche Lagen bezieht, auf Augenblicke, falsche, schiefe, verwelkte Eindrücke, die ich mir nicht zu erneuern im stande bin. Ich versteh 8 Scheffner : Mein Leben (wie Anm. 1), S. 108. 9 Scheffner : Mein Leben (wie Anm. 1), S. 470f. In seinen späteren Jahren entwickelte Scheffner die Gewohnheit, das für eine postume Veröffentlichung bereitliegende Werk mit geburtstäglichen Nachträgen zu versehen. 10 Arthur Plehwe: Johann George Scheffner. Diss. Königsberg 1936, S. 30. Das Nezker-Zitat entstammt dem Brief vom 4. 8. 1776, in: Briefe an und von Johann George Scheffner (wie Anm. 3), Bd. III, S. 391. 11 Scheffner : Mein Leben (wie Anm. 1), S. 207.

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Tim Hagemann

mich selbst nicht mehr, gantz anders wie damals, manches beßer, manches schlechter. Was man nicht versteht, läßt man lieber ungelesen – und sollte auch ungeschrieben geblieben seyn – und noch weniger wider aufgelegt werden.12

Der Plan einer Hamann-Ausgabe letzter Hand wurde bekanntlich nicht verwirklicht. Dennoch scheint Hamann Scheffners Aufforderung wenigstens im privaten Rahmen und Umfang nachgekommen zu sein, denn 1818, noch zu Lebzeiten Scheffners, bemühte sich Reichardts Neffe Wihelm Dorow vor allem auf der Grundlage von Scheffners Exemplaren »mit Hamanns selbsteigenen Korrekturen« um eine Edition von Hamanns Schriften.13 Es darf allerdings bezweifelt werden, dass Hamanns Zusätze Scheffners Verhältnis zu den Schriften grundlegend änderten, es sei denn, man wollte im Folgenden den Akzent ganz auf das ›Hilfsinstrument‹ statt auf die ›dunkle Schreibart‹ legen. Ein Aphorismus aus den Gedanken und Meynungen (1802) bringt Scheffners Einschätzung des Schriftstellers Hamann in eine endgültige Form: Die dunkle Schreibart J.G. Hamanns gleicht einem mit Pfeilen reichlich angefüllten Köcher, in welchen sie aber so tief eingesteckt sind, daß es unmöglich ist, sie mit der Hand, ohne ein Hilfsinstrument, auszuziehen, wodurch aber ein großer Teil ihrer Brauchbarkeit auf der Lebensjagd verloren geht.14

Die Wertschätzung, die Hamann und Scheffner wechselseitig empfanden, bezog sich mehr auf den Menschen denn auf das Werk. Wenn Hamanns Briefe an Scheffner auch in keinem Fall die Herzinnigkeit zeigen, die etwa den Briefen an Jacobi eigen ist, so gewinnen sie doch rasch einen freundschaftlichen Ton, und 12 ZH V, 358,12–18 (11. 2. 1785). Diesem Brief zufolge ist es Hamann, der vorschlägt, Korrekturen und Anmerkungen zu den Denkwürdigkeiten zu senden und im Gegenzug von Scheffner Nachricht über dann immer noch unverständliche Stellen zu erhalten. Da Hamann indes bereits von der getätigten Durchsicht seiner Schriften berichtet, ist, will man beide Passagen mit-, nicht gegeneinander lesen, anzunehmen, dass die Aufforderung von Seiten Scheffners vorausgegangen ist und hier nur ihre Bestätigung erfährt. 13 Briefe an und von Johann George Scheffner (wie Anm. 3), Bd. I, S. 154–161. Die Ausgabe wurde von Nicolovius hintertrieben, der Dorow für unbefugt erklärte. Dorow verwahrte sich, wie mir scheint, mit Recht gegen den Vorwurf, den Alten, Berechtigteren vorzugreifen: »[…] dass wenn der jüngeren Generation auch nichts von dem gehüteten Schatze zu Gebote steht, sie doch alles mögliche versucht, den grossen Mann – wenn auch nur theilweise – aus der Vergessenheit zu rufen, worin ihn die, welche ihn u. sein Zeitalter gekannt haben, seit 40 Jahren gelassen« (Dorow an Nicolovius, Wiesbaden 17. 12. 1818, Abschrift für Scheffner, ebd., S. 160). Dorow hatte sich in der Tat zunächst an Jean Paul, Jacobi, Goethe und Fr. Schlegel gewandt und sie für eine Edition zu gewinnen gesucht, ehe er eigene Pläne verfolgte. Hinter Nicolovius sah Dorow später Scheffner, den er noch um einen persönlich gehaltenen Beitrag für die Hamann-Ausgabe angegangen war, selbst am Werk. 14 Johann George Scheffner : Gedanken und Meynungen über manches im Dienst und über andere Gegenstände [1802]. Königsberg 21804, S. 318. Für dieses Werk zog Scheffner die von Hippel angestrichenen Stellen aus seinen eigenen Briefen aus, die er nach dem Tod des Freundes zurückerhalten hatte.

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aus ›Ew. Wolgeboren‹ wird der ›Höchstzuehrende Herr und Freund‹ und schließlich ganz der ›Höchstzuehrende Freund‹. Wenn auch nicht in Innigkeit, so äußert sich die Freundschaft doch in Freimütigkeit. Das gilt für die literarischen Urteile ebenso wie für den Bericht kleiner häuslicher Begebenheiten, und ein Briefschluss unter Hinweis auf das Zubettgehen, wie ihn Hamann wiederholt wählt, lässt zumindest auf eine gewisse Vertrautheit im Umgang schließen. An dieser Freimütigkeit dürfte Scheffner wesentlichen Anteil gehabt haben, da, wie Carl Diesch konstatierte, »der eigentümliche Reiz, der von ihm ausging, in der freien und ungezwungenen Art lag, mit der er sich auch den höchstgestellten Persönlichkeiten gegenüber zu geben und zur Geltung zu bringen wußte.«15 Einer Anmerkung in Scheffners Mein Leben zufolge, die wiederum Hippels Autobiographie aus dem Manuskript zitiert, pflegte Hamann Hippel zu sagen, »er wüßte keinen, dessen Eindruck und Urtheil er so viel als dem Eindruck und Urtheil des Kr[iegsraths] S[cheffner] traue.«16 Scheffner seinerseits gibt eine einnehmende Charakteristik Hamanns, der ein Mann von eisenfestem Charakter, vom menschenfreundlichsten Herzen, und seiner unbeschränkten Phantasie wegen ein wirklich wunderbares Gemisch von wahrer Kindlichkeit und den Heftigkeiten des leidenschaftlichsten Menschen war, ohne andre meistern oder belehren zu wollen, auf den Geist seiner jüngern lernfähigen Freunde einen merklichen und für sie höchst vortheilhaften Einfluß hatte. Sein Haus war ein chaotisches Magazin, in dem Kluges, Gutes, Gelehrtes und Religiöses durch einander und zum Gebrauch eines jeden, der hinkam, offen da lag. Beym Büchermahl des von Leipzig angekommenen Meßgutes aß er nicht, sondern fraß, laut seinem eignen Ausdruck, und klagte dann bitterlich über Kopfindigestionen.17

Hier wird auch deutlich, worin sich, wenn nicht geistig, Hamann und Scheffner doch in einer eine Freundschaft tragenden Weise wesensverwandt zeigen – in ihrem geradezu animalischen Literaturenthusiasmus. Auch Scheffner ›frisst‹ Literatur, verschlingt Bücher nach eigenem Zeugnis wie Holofernes Frauen18. Arthur Plehwe hat diesen Passus indes einer ernüchternden Untersuchung unterzogen, indem er auf die ursprüngliche Fassung dieser Passage und deren Kritik durch Nicolovius verweist.19 Zunächst, 1801, schrieb Scheffner, er sei auch in Umgang gekommen »mit dem gnug bekannten J.G. Hamann, der ein Mann vom besten Character aber von unbeschränkbarer Phantasie war, der beym geistigen Büchermahl nicht aß, sondern fraß wie er selbst zu sagen pflegte.«20 15 16 17 18 19 20

Briefe an und von Johann George Scheffner (wie Anm. 3), Bd. V, S. 3. Scheffner : Mein Leben (wie Anm. 1), S. 332. Ebd., S. 206f. Ebd., S. 368. Plehwe: Johann George Scheffner (wie Anm. 10), S. 62. Scheffner : Nachlaß I. Bündel 1, 82, zit. n. Plehwe: Johann George Scheffner (wie Anm. 10), S. 62.

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Erst auf Nicolovius’ Einspruch hin ist es dann zu der sehr viel günstigeren Einschätzung gekommen. Dabei hat zweifellos auch die Anerkennung, die Hamann mittlerweile erfuhr, eine Rolle gespielt; Scheffner selbst verweist auf Jean Paul, Schlegel und Goethe.21 Hier wie dort aber – und das scheint bedeutsamer als die divergierende Einschätzung der »unbeschränkbaren Phantasie« zu sein – hebt Scheffner Hamanns Charakter besonders hervor. Sympathie allein begründet noch keinen Briefwechsel, es ist die geteilte Leidenschaft für die neueste Literatur, die Hamann und Scheffner zu einer Zeit in briefliche Verbindung bringt, als Scheffner auf seinem Gut Sprintlack das literarische Leben entbehrt und sich von Hamann mit Nachrichten und Büchern versorgen lässt, diesen aber auch seinerseits aus einer reichen Privatbibliothek zu bedenken weiß, wie Hamanns Dank zeigt: Die beyden spanischen Bücher habe Montags erhalten, und sag Ihnen für Ihre freundschaftl. Vorsorge mein spanisches Fach zu vermehren den herzlichsten Dank. Des Cervantes Erzählungen habe mir längst gewünscht – aber es geht mir wie dem Geitzigen, dem mehr am Haben als Gebrauchen gelegen ist.22

Aufgrund der fehlenden geistigen Übereinstimmung ist von Hamanns Briefen nach Sprintlack mehr Fülle denn Tiefe zu erwarten, und es kann im Folgenden nur darum gehen, eine kleine Auswahl aus der Unmenge der angesprochenen Werke vorzustellen. Bereits die erste Erwähnung Scheffners in Hamanns Briefen erfolgt in unmittelbarem Zusammenhang mit Büchern. In seinem Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 27. April 1759 berichtet Hamann von einem Besuch bei Kriegsrat L’Estocq, der Antwort auf ein Lindner durch Scheffner übermachtes Bücherpaket vermisse. Erst 24 Jahre später treten Hamann und Scheffner selbst in Briefwechsel. Mit dem ersten Brief vom 24. April 1783 erhält Scheffner leihweise einen Kupferstich, mit den 43 folgenden regelmäßig Bücher, wobei die ersten beiden Bände von Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz den Anfang bilden. Am 16. August 1783 vermeldet Hamann als Neueingänge u. a. Predigten, eine Cantate und den zweiten Teil der Hebräischen Poesie von Herder, von Jacobi Etwas, das Leßing gesagt und bezeichnet von Mosers Doctor Leidemit als eine ihm »sehr erbauliche Sontags Lectur.«23 Ein halbes Jahr später, am 18. Februar 1784, nennt Hamann Franz Gotthold Hartwigs Apologie der Apokalypse »das einzige und beste Buch, was darüber gelesen zu werden verdient«, und berichtet von der Lektüre Sophie von La Roches: »Ihre Pomona hat mir viel Freude gemacht, so ungern ich daran gieng sie zu lesen.«24 21 22 23 24

Scheffner : Mein Leben (wie Anm. 1), S. 206. ZH V, 357,29–32 (11. 2. 1785). ZH V, 68,36 (16. 8. 1783). ZH V, 128,18f; 129,6f (18. 2. 1784).

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Am 11. Mai 1784 wird erstmals ein Werk erwähnt, dessen noch häufig in den Briefen gedacht werden wird, sei es auch nur, um von der Jagd nach einem Exemplar zu berichten. »Das Wichtigste von Neuigkeiten, welches ich gelesen ist der 1. Theil von Büschings Beyträgen zur Geschichte berühmter Männer, im Fall Sie selbige noch nicht kennen sollten.«25 Anfang Juni schickt Hamann den dritten und vierten Teil von Nicolais Reisen auf Rechnung, berichtet, von Herder den ersten Teil der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit erhalten zu haben, und empfiehlt eine Erasmus-Biographie von Burigny zur Anschaffung. Auch von einer Kuriosität ist die Rede: Hartung hat eine kleine brochure mitgebracht: Le petit fils d’ Hercule 1701. Es ist eine gantz neue Schrift und die Jahrzahl ein Betrug. Die Kayserinn von Rußl. kommt am Ende darinn vor, der Verf. wird Vizekönig von Orel und macht durch seine Plane zum Besten der Bevölkerung sich so verdient, wie er allenthalben in Paris und auf seiner gantzen Reise durch Proben seiner Ausschweifungen u Stärke darinn berühmt geworden. Es ist ein Meisterstück von Brutalität.26

In seinem nächsten Brief nennt Hamann Joseph Marius Babos Gemälde aus dem Leben der Menschen »ein sehr vortrefflich Buch« und stellt es Pestalozzis Gertrud und Lienhard an die Seite. Auch verschiedene Sammlungen der Winckelmannschen Briefe freuen und fesseln Hamann.27 Nur einen Tag später berichtet er der Frau Kriegsräthin – in dem einzigen Brief an Susanne Elisabeth Scheffner – von einem Besuch im Dengelschen Laden, wo eben das neue Meßgut ausgepackt wurde: Das erste Stück der Heßischen Beyträge zur Gelehrsamkeit und Kunst habe mitgenommen; wegen einer Abhandlung über die Natur der Metaphysik von HE Prof. Kants Grundsätzen. Der Verf. ist Tiedemann, deßen Name eben keine Empfehlung für mich ist. […] Neun Stücke des Schweitzerischen Museums habe heute auf sehr kurze Zeit erhalten, und vor lauter zufälligen Besuchen kaum das erste lesen können. Bodmers Leben sehr weitläuftig und beynahe so ekel wie die engl. Biographien wegen der Localität, wie Semmler das Ding nennt.28

Wenn Hamann hier Literarisches im Spiegel des häuslichen Widerscheins vor Augen führt, so ist dies keine geschlechtsspezifische Konzession an die Empfängerin – dem Kriegsrat wird nicht anders berichtet. Mehr Zeit als für das Museum hat Hamann für den Versuch einer critischen englischen Sprachlehre. Er beschränkt sich nicht darauf, es in seinem Brief vom 19. August 1784 »ein gantz herrlich Werk in seiner Art« zu nennen, das »auch einen Leser unterhalten kann, 25 ZH V, 156,30–32 (11. 5. 1784). Gemeint sind die Beiträge zur Lebensgeschichte denkwürdiger Personen von Anton Friedrich Büsching. 26 ZH V, 159,15–21 (8. 6. 1784); Hervorhebung von Hamann. 27 ZH V, 164,34f (24. 6. 1784). 28 ZH V, 165,31–166,1.9–12 (25. 6. 1784).

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der das Engl. nicht meynet,« sondern bemüht sich auch, über die Quellen zu informieren, aus denen der Verfasser, ›ein gewisser‹ Heinrich Christoph Albrecht, geschöpft habe, nämlich Lowth und Priestley.29 Ausdrücklich erbeten haben muss sich Scheffner die Sokratischen Denkwürdigkeiten: »von meiner verlornen Schrift weiß gantz und gar nichts; sonst hätte nicht ermangelt selbst ein Dedicationsex. zu überbringen.«30 Es gelingt Hamann schließlich, für Scheffner ein Exemplar aus Riga zu beziehen, aus dem Besitz eines Prof. Mayer in Wien. Im September beschäftigt Hamann »ein ziemlich angenehmes Werk in 7 kleinen Bänden, welches ein Katholik geschrieben: Die Philosophie der Religion, und in dieser Rücksicht Aufmerksamkeit verdient.«31 Zu einer dichteren Folge von Briefen kommt es, nach Hamanns Besuch auf Gut Sprintlack, im Oktober 1784, wobei es zunächst ein Mißverständnis auszuräumen gilt, das der mangelhaften Fähigkeit Scheffners, Handschriftliches zu lesen, geschuldet ist: »O lieber Herr Kriegsrath! Sie müßen sich wider verlesen haben. Ich habe über keine Sprintlacksche Kälte geklagt, sondern mir Ihr Kamin gewünscht, und weiß von keinem dorther mitgebrachten Nachwehen als daß ich mich nicht hier, wie bey Ihnen erwärmen kann.«32 Hamann berichtet darauf wieder beinahe katalogisch über neu eingetroffene Bücher, wobei Joh. Christoph Krauses Erzählungen und Abhandlungen ihm einen vergnügten Abend bereitet hätten,33 gibt Nachrichten von Lindner aus Halle weiter, der dort eine lebensbedrohliche Krankheit überstand,34 und widerspricht schließlich Scheffners Ansicht, dass man sich des Tadels enthalten sollte. Nil admirari – sagt wohl Horatz. Aber loben würde sonst auch Sünde seyn; und doch lobte der Hausvater im Evangelio selbst den ungerechten Haushalter, weil er klüglich gethan hatte. Nicht tadeln, sondern Richten ist uns verboten, lästern, falsches Zeugnis geben. Hiob war ein leichtfertiger Tadler, der Spötterey trunk wie Waßer XXXIX 37. XXXIV.7. Seine Freunde eben so leidige Tröster als Kunstrichter. Daher das Orakel zu Eliphas XLII.7. Wenn Sie keine Concordantz haben; so borgen Sie welche um Ihre Meinung zu belegen, wie ich meinen Tadel [!] derselben.35

Eine solche Lektion und Zurechtweisung steht in diesem Briefwechsel einzig da. Scheffner scheint sich indes nicht auf eine biblische Diskussion eingelassen zu haben, denn Hamanns folgender Brief kehrt ganz zu der gewohnten Rundschau 29 ZH V, 188,17–25 (19. 8. 1784). 30 ZH V, 189,14f (19. 8. 1784). 31 ZH V, 222,3–5 (19.–20. 9. 1784). Gemeint ist Sigismund von Storchenau S.J., seit 1781 Hofprediger der Erzherzogin Maria Anna in Klagenfurt. 32 ZH V, 225,28–31 (7. 8. 1784). 33 ZH V, 227,30–33 (8. 8. 1784). 34 ZH V, 231,15–35 (16. 8. 1784). 35 ZH V, 236,28–35 (17. 8. 1784); Hervorhebungen von Hamann.

»Zur Strafe meiner bösen Laune«

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über die neueste Literatur zurück. Den ersten Band von Flögels Geschichte der komischen Litteratur nennt Hamann »[e]ine ziemlich gelehrte Compilation, von mehr Belesenheit als Geschmack«36, und er amüsiert sich über Flögels gewichtige Distinktion von Be- und Verlachenswertem. Daneben gibt eine SwedenborgÜbersetzung, die keinen Eindruck von dem »gespenstermäßigen« lateinischen Stil hinterlasse, immerhin Gelegenheit, von einstiger Swedenborg-Lektüre zu berichten: Wie unser Kant damals sich alle die Werke seiner Schwärmerey verschrieb, hab ich die Überwindung gehabt, das ganze Geschwader dicker Quartanten durchzulaufen, in denen eine so echte Tautologie der Begriffe und Sachen enthalten ist, daß ich blutwenig und kaum über einen Bogen auszuzeichnen fand von dem, was sich durch etwas Gründliches oder wirklich etwas Paradoxes auszuzeichnen schien.37

Im Mai 1785 teilt Hamann seine Reaktion auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit, von der ihm Kant ein Exemplar geschenkt hatte. »Reine Vernunft und guter Wille sind noch immer Wörter für mich, deren Begriff ich mit meinen Sinnen zu erreichen nicht im stande bin.«38 Oswald Bayer hat Hamanns Einspruch detailliert dargelegt.39 Hier, zwischen Hamann und Scheffner, bleibt es bei Andeutungen. Nur einmal noch, im letzten Brief vom 21. März 1787, berichtet Hamann von einem weiteren Dedikationsexemplar Kants, vermutlich Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786): »Stillings Romane sind mehr nach meinem Geschmack.«40 »Freudenthränen«41 habe er vergossen, schreibt Hamann dagegen im Juli 1785, über Philosophische Vorlesungen über das sogenannte Neue Testament, die in den noch folgenden Briefen immer wieder Erwähnung finden. Hamann fragt auch Herder brieflich nach dem anonymen Verfasser – es ist der Schweizer Johann Konrad Pfenninger – und vermag im übrigen dieses Buch, das er nur über Nacht von Diakon Kraft geliehen hatte, nicht leicht zu bekommen. Endlich kann Hamann am 25. August an Scheffner schreiben: Hartung, oder wahrscheinlicher einer seiner Leute schickte mir vorigen Sonnabend ein Exempl. der philos. Vorlesungen ins Haus, die ich gleich zum Heften beförderte, und mir bloß Zeit gelassen die Blätter aufzuschneiden. HE Wagner hat einige verschrieben, und hat Ihnen auch eins zugedacht; es wäre mir aber lieber, wenn Sie erst das Buch vorher ansehen möchten, und er Ihre Erklärung deshalb abwartete. Ich habe es in einigen Stunden durchlaufen müßen, und mein außerordentlicher Geschmack wurde 36 37 38 39

ZH V, 258,8f (10. 11. 1784). ZH V, 255,27–32 (10. 11. 1784). ZH V, 434,24f (12. 5. 1785). Vgl. Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 40 ZH VII, 126,16f (21. 3. 1787). 41 ZH VI, 18,30 (20. 7. 1785).

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vielleicht durch einen der ersten Holl. Heeringe geschärft, die eben damals mit der Post angekommen waren und den ich mit dem Buche zugleich verzehrte. Die Recensenten in Nürnberg und Halle scheinen nicht bey einer so günstigen Diät und mit so gutem Appetit gelesen zu haben.42

Hamanns Begeisterung für Pfenninger – dessen Name ihm nach wie vor unbekannt ist – erfährt also eine gewisse Abkühlung, als der wochenlang gehegte Wunsch nach einem Exemplar in Erfüllung geht. Doch schon im folgenden Brief fiebert er wieder der Fortsetzung der Vorlesungen entgegen, Hamann schätzt »die gerade einfältige Bahn« des Verfassers, die »das Älteste und Neueste, das trivialste und paradoxeste für meinen Geschmack« verbindet.43 Man geht nicht fehl, hierin auch Elemente einer Selbstcharakteristik des eigenen Stils zu erkennen. Letztlich aber beschränkt sich Hamanns Empfehlung der Vorlesungen an Scheffner auf den ersten Band. Daneben wird ihm das Werk eines anderen Schweizers wichtig. Er schickt Scheffner den dritten Teil von Pestalozzis Lienhard und Gertrud, »das einzige Buch, das ich von neuen Sachen gekauft und das beste, das ich seit den philosophischen Vorlesungen über das N.T. gelesen.« Hamann missfällt zwar die regionale Stilfärbung, findet aber dessen ungeachtet »unwiderstehlich schöne, starke, große Stellen, daß man sich gar nicht daran satt lesen kann.«44 Da uns die Gegenbriefe fehlen, bleiben Scheffners Reaktionen im Dunkel. Diese Empfehlung aber wird gewiss auf fruchtbaren, wenn nicht gar bereits beackerten Boden gefallen sein. Scheffner teilte die Wertschätzung Pestalozzis, ja Pestalozzi dürfte für ihn eine größere Bedeutung als für Hamann besessen haben. Auf Gut Sprintlack gründete Scheffner eine Landschule nach Pestalozzischen Grundsätzen, und an allen Stätten seines Wirkens suchte er teils die Ideen Pestalozzis selbst zu verwirklichen, teils die tonangebenden Kreise für sie einzunehmen. Wir haben eine Reihe von Neuerscheinungen der 1780er Jahre im Spiegel Hamannscher Kurzurteile kennengelernt. Wenn die Bücherschau dabei oftmals nur katalogischen Charakter besaß, so mag sich darin gerade eine zutreffende Einschätzung der Bedürfnisse Scheffners durch Hamann zeigen. Es sei noch einmal aus Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben zitiert: »Auch mischte ich mich nie in die Spiele der Schulcameraden, trieb aber mit allen Bücherhandel, wobey ich nur immer mehr Bücher zu gewinnen suchte, und dessen Fortsetzung auf der Universität, wo ich alle mir vorkommenden Catalogos las, mir zu einer nicht unbedeutenden Bücherkenntniß verhalf.«45 Scheffner ist ein – als solcher auch durch die wiederholte Stiftung von Biblio42 43 44 45

ZH VI, 56,27–57,5 (25. 8. 1785). ZH VI, 63,9f (16. 9. 1785). ZH VI, 320,4–10 (17. 3. 1786). Scheffner : Mein Leben (wie Anm. 1), S. 34.

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theken verdienstvoller – homme de livres, kein homme de lettres. So zeigen sich auch die Briefe Hamanns an Scheffner nur als Nebenwerk innerhalb des Briefwerks. Sie sind nicht selbst eine bedeutende Produktion, gewähren aber ein getreuliches Bild des literarischen Nährbodens, aus dem die geistige Produktion hervorwächst. Nur einmal ist Hamann gegenüber Scheffner ins Detail gegangen, bei Georg Joachim Zollikofers Predigten über die Würde des Menschen und den Werth der vornehmsten Dinge, die zur menschlichen Glückseligkeit gehören oder dazu gerechnet werden, Leipzig 1782. Hamann lobt, wenn auch nicht ohne Einschränkung, Stil und Aufbau der Predigten, den Reichtum der Herz und Verstand gleichermaßen berührenden Sprache, die Plastizität des Ausdrucks und die Folgerichtigkeit der gedanklichen Entwicklung, kritisiert aber den Grundgedanken selbst. Ausgehend von Zollikofers Predigttext Ps 8,5–7, fragt Hamann, von wem der Psalmist hier rede. Während Hamann an Christus denkt, denkt Zollikofer an den Menschen überhaupt und nimmt die Psalmworte zum Anlaß für »ein sehr schmeichelhaftes und gefälliges Gemälde von der Würde unserer Verstandeskräfte, unserer moralischen Freyheit, unserer Thätigkeit und Perfectibilität, unserer Unsterblichkeit.« Dagegen stellt Hamann die eine Frage: »Ist das die Verheißung alles neu zu machen«? Unsere Würde hänge nicht von Verstand, Wille, Tätigkeit ab, sondern sei das Geschenk Gottes.46 Joachim Ringleben hat im Hamann-Kolloquium 2002 die Verwandtschaft Hamanns und Kierkegaards eindrucksvoll dargestellt.47 Auch zu Hamanns Kritik an Zollikofer findet sich eine bemerkenswerte Parallele in Kierkegaards Tagebuch. Was Zollikofer für Hamann, ist Bischof Mynster für Kierkegaard: So verhält sich doch eigentlich, nach Mynsters Begriff, das Christentum zu dem natürlichen Menschen wie die Kunst des Abrichters zum Pferd, wo es gerade gilt, die Natur nicht fortzunehmen, sondern sie zu veredeln. Das heißt, Christentum ist Bildung; Christ zu sein ungefähr das, was ein natürlicher Mensch in seinem glücklichsten Augenblick als das Höchste sich zu sein wünschen könnte, die gleichmäßige, harmonische Vollendung in sich selbst und in seinem Selbst durchgearbeitete Virtuosität.48

Warum aber dann, fragt Kierkegaard weiter, die ganze Rede von Leiden, Kreuzigung und Erlösung? Hamann und Kierkegaard erinnern an den unendlichen, qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch, eben um den Menschen für das Geschenk Gottes zu öffnen. Hamann kann also mit Zollikofer trotz glän46 ZH VI, 68,9–33 (18. 9. 1785); Hervorhebung von Hamann. 47 Joachim Ringleben: Søren Kierkegaard als Hamann-Leser. In: Acta 2002, S. 455–466; jetzt auch in: Joachim Ringleben: Arbeit am Gottesbegriff. Bd. II: Klassiker der Neuzeit. Tübingen 2005, S. 91–102. 48 Søren Kierkegaard: Tagebucheintrag vom oder nach dem 20. 11. 1847. In: Deutsche Søren Kierkegaard Edition. Bd. 4. Hg. v. Hermann Deuser, Joachim Grage und Markus Kleinert. Berlin u. New York 2013, NB 3, 16, S. 284 (Abkürzungen ausgeschrieben).

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Tim Hagemann

zender Anlagen nicht recht zufrieden sein, schließt jedoch die briefliche Zollikofer-Rezension für Scheffner mit Worten, die jenseits der Literaturkritik auf das Eigentliche verweisen: »Zur Strafe meiner bösen Laune will ich alle noch übrigen 14 Predigten von neuem lesen.«49

49 ZH VI, 69,7f (18. 9. 1785).

Christian Brouwer (Wuppertal)

Sprachprinzip statt Pantheismus. Der Pantheismusstreit im Spiegel des Briefwechsels Hamanns mit Jacobi

1.

Vorbemerkung

Unter welcher speziellen Perspektive auch immer sich ein Leser oder eine Leserin der Korrespondenz Hamanns mit Friedrich Heinrich Jacobi zuwendet, es wird ihm oder ihr einiges zugemutet. Die gewaltige Textmenge, vor allem über Alltäglichkeiten, die den Briefwechsel charakterisiert, scheint der sprachökonomischen Raison – Nicht mehr als notwendig! – geradewegs zu widersprechen. Hamann selbst problematisiert dieses Vorgehen: »Sie erhalten, mein lieber Jonathan, mit diesem Briefe nichts als ein freundschaftl Geschwätz, wie Kraut und Rüben durcheinander.«1 Die entschuldigend anmutenden Worte lassen vermuten, Hamann schreibe, was er schreibt, im vollen Bewusstsein, dass er Anderes hätte schreiben sollen.2 Gleichwohl steht fest, dass er von der angemahnten Sprachökonomie als »das evangelische Gesetz der Sparsamkeit im Reden und Schreiben«, einer »Oekonomie des Styls«, eine deutliche Ahnung hat,3 wenngleich er ebenfalls behauptet: »überflüßige Dinge schaden nicht

1 ZH VI, 101,10f (an Friedrich Heinrich Jacobi, 22. 10. 1785). 2 Vgl. ZH VI, 120,28ff (an F.H. Jacobi, 5./6. 11. 1785): »Meine Geschwätzigkeit gegen Sie ist ein eben so grober Misbrauch Ihrer Gedult und Nachsicht.« Weder Geschwätzigkeit noch Ungeordnetheit sind nur an genannter Stelle thematisiert, sondern bilden wiederholte Selbstvorwürfe. Zum Teil gipfeln sie in einer sich sogleich selbst bestätigenden Ankündigung einer gewissen Zerstreutheit: »Stupid bin ich immer gewesen, aber seit kurzen leide ich eine Art von Zerstreuung, von der ich bisher nichts, wenigstens in dem Grade, wie jetzt gewußt, und die mich schüchtern und scheu macht zu jedem Geschäfte oder Umgang. Der junge Deutsch hat die Blattern …« (ZH VI, 270,17–20 [an F.H. Jacobi, 15. 2. 1786]). Vgl. auch ZH VI, 422,13–17 (an F.H. Jacobi, 7. 6. 1786): »Daß es Dir mit meinen Briefen oft kunterbunt gehen mag, und daß es halsbrechende Arbeit für den Menschenverstand u Geschmack ist; sie erst zu buchstabieren und denn Sinn zu finden: daran zweifle ich gar nicht. Da fällt mir eben ein, was ich diesen Morgen dachte …« 3 ZH V, 88,16ff (an Johann Michael Hamann, 24. 10. 1783). Vgl. auch ZH VI, 202,20f (an F.H. Jacobi, 28. 12. 1785): »Ihr Brief an Hemst. war doch wahrlich keine Antwort auf seinen Brief, und überflüßig zum historischen Theil des Werkes«.

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Christian Brouwer

immer«4. Soll das Geschwätz dem Kriterium der Sparsamkeit genügen, müssen wir annehmen: was Hamann schreibt, ist gerade das, was es zu schreiben gilt. Die Wucht der Textmasse ist keineswegs zufällig, sondern absichtsvoll niedergeschrieben. Es ist sachgemäß, so zu schreiben, und sei es wie Kraut und Rüben durcheinander. In dieser Linie steht Hamanns Ankündigung seines Briefes vom 12. 11. 1785 als Heimsuchung.5 Bekanntlich war es im philosophischen Diskurs des 20. Jh. vor allem Emmanuel Levinas, der dem Ausdruck Heimsuchung einen prominenten Ort zuwies. Ohne einen genealogischen Zusammenhang zu konstruieren, kann Anwendung auf Hamann finden, was die Heimsuchung für Levinas ausmacht, nämlich zum einen die Ungeteiltheit und Ganzheit des fremden Antlitzes, das – mich – heimsucht, und zum anderen die Unentrinnbarkeit.6 Hamann stellt nicht ein vereinzeltes Argument zur Diskussion, sondern sich selbst als Briefschreiber, ganz, ungeteilt und unentrinnbar. Für die nun einzunehmende Frageperspektive, die sich auf den sogenannten Pantheismusstreit richtet, bedeutet dies: Es ist zu erwarten, dass von der Pantheismusproblematik nicht nur dort die Rede ist, wo von ihr, sondern gerade auch dort, wo von anderem gesprochen wird.

2.

Die Korrespondenz zum Pantheismusstreit

Zwar kann der Verlauf des Pantheismusstreits, jener Auseinandersetzung des späten 18. Jahrhunderts, die vornehmlich zwischen Jacobi und Moses Mendelssohn geführt wurde,7 nicht zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung 4 ZH VI, 397,12f (an F.H. Jacobi, 22. 5. 1786). 5 Vgl. ZH VI, 131,3 (an F.H. Jacobi, 12. 11. 1785). 6 Vgl. Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen. In: ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Studienausgabe. Freiburg i.Br./München 1999, S. 209–235, bes. S. 221: »Das Phänomen, das die Erscheinung des Anderen ist, ist auch Antlitz, oder auch folgendermaßen (um dieses Eintreten, das in jedem Augenblick in der Immanenz und Geschichtlichkeit des Phänomens stattfindet, zu zeigen): Die Epiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung. Während das Phänomen bereits Bild ist, Manifestation, die gefangen ist in ihrer plastischen und stummen Form, ist die Epiphanie des Antlitzes lebendig. Sein Leben besteht darin, die Form aufzulösen, in der sich jedes Seiende, sobald es in die Immanenz eintritt, d. h. sobald es sich als Thema darstellt, bereits verbirgt.« Bedeutsam ist zum einen, dass Heimsuchung bzw. Epiphanie des Antlitzes sprachlich verstanden werden, vgl. ebd: »Das Antlitz spricht. Die Erscheinung des Antlitzes ist die erste Rede. Sprechen ist vor allem anderen diese Weise, hinter seiner Erscheinung, hinter seiner Form hervorzukommen, eine Eröffnung in der Eröffnung.« Zum anderen ist diese Eröffnung konstituiert durch eine bleibende Verschlossenheit. Anders ausgedrückt: Zur Epiphanie gehört Verborgenheit, vgl. ebd., 230: »Die höchste Anwesenheit des Antlitzes ist untrennbar von jener höchsten und unumkehrbaren Abwesenheit, die die eigentliche Erhabenheit der Heimsuchung begründet.« 7 Zur Bedeutung über den engen Kontext hinaus vgl. exemplarisch Hermann Timm: Die Be-

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gemacht werden,8 gleichwohl ist es unerlässlich, vorab die wichtigsten literarischen Stationen in Erinnerung zu rufen. Als Jacobi von Elise Reimarus erfährt, dass Mendelssohn »im Begriffe sei, an sein Werk über Lessings Charakter und Schriften Hand zu legen«, lässt er diesen wissen: »Lessing sei ein Spinozist gewesen«. Mit eitlem Stolz fügt er hinzu: »Gegen mich hatte Lessing über diesen Gegenstand ohne alle Zurückhaltung sich geäußert«, wohingegen er »aber gegen Mendelssohn sich hierüber nie deutlich erklärt hatte«.9 Der anfangs durchaus unternommene Versuch, sich auf brieflichem Wege zu verständigen, wurde bald von Missverständnissen, die bestehende Konflikte fortschrieben, gestört. Schließlich erscheinen 1785 beinahe zeitgleich Mendelssohns Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, in denen Lessing gegen den Vorwurf eines schlichten Spinozismus in Schutz genommen wird, und Jacobis sog. Spinozabriefe, mit denen Jacobi seine Behauptung, Lessing habe sich zum Spinozismus bekannt, der Öffentlichkeit bekannt macht. Der nun folgende Streit findet Niederschlag in Mendelssohns Schrift An die Freunde Lessings, die 1786 erst nach seinem Tod erscheint, und Jacobis Verteidigung Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza.10 Neben den beiden Opponenten sahen sich zahlreiche Gelehrte (u. a. Goethe und Herder) zur Stellungnahme veranlasst.11 Mendelssohn fand ungeteilte Unterstützung bei den Berliner Aufklärungsphilosophen, während Jacobi sich bemühte, einen Kreis von Anhängern zu sammeln, zu dem neben Lavater oder Claudius auch Hamann gehörte. So nimmt denn im Briefwechsel der beiden der Gegenstand des sog. Pantheismusstreits breiten Raum ein; für die Darstellung soll im Folgenden Hamanns eigene Unterscheidung angelegt werden: bevor zur »Materie« gehandelt wird, ist die »Form« in den Mittelpunkt zu stellen.12

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deutung der Spinozabriefe Jacobis für die Entwicklung der idealistischen Religionsphilosophie. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Frankfurt a.M. 1971, S. 35–84. Vgl. dazu ausführlich Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits. Würzburg 1988, v. a. S. 76–150. Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von K. Hammacher und I.-M. Piske bearb. v. M. Lauschke. Hamburg 2000 (PhB 517), S. 11ff. Die wesentlichen Schriften sind natürlich in den entsprechenden Werkausgaben zu finden. Eine Zusammenstellung bietet nach wie vor Heinrich Scholz (Hg.): Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Berlin 1916 (Neudrucke seltener Philosophischer Werke VI). Zu den Reaktionen vgl. ebd., S. LXXVIII–CXXVIII. Vgl. ZH VI, 110,6–18 (an F.H. Jacobi, 29. 10. 1785), zitiert unten S. 276.

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Quoad formam: Hamanns und Jacobis Rollen

Die Positionen, die Hamann und Jacobi im Streit um den Pantheismus einnehmen, sind kaum vergleichbar. Während Jacobi öffentlich streitet, ist Hamann zu solcher Offensive nicht veranlasst. Jacobi steht im offenen Dissens mit Mendelssohn und der ganzen Berliner Philosophie, er greift an und wird angegriffen. Hamann hingegen tritt öffentlich in diesem Disput kaum hervor und ist nicht direkt involviert. Er bleibt im Hintergrund und nimmt höchstens auf indirektem Wege Einfluss.13 Vor dem Hintergrund dieser Konstellation zeigen sich beide in ihrem Briefwechsel in verschiedenen Rollen. Für Jacobi gilt, dass er Unterstützung dringend benötigt. Die geballte Kraft der Berliner Philosophie steht ihm, der sich zunächst allein vorgewagt hatte, gegenüber. Daher muss ihm an nichts so sehr gelegen sein wie an Anerkennung und Parteinahme der bedeutenden Köpfe seiner Zeit einschließlich Hamanns.14 Gerade in diesem Bestreben bedient er sich auch der Kontakte Hamanns; dieser fungiert als Multiplikator Jacobischer Schriften. Die Werke sollen unter das gelehrte Volk, und so schickt Jacobi gleich nach dem Erscheinen drei Exemplare der Spinozabriefe nach Königsberg, weitere folgen.15 Die Rolle als Verteiler übernimmt Hamann auch im folgenden Jahr für Jacobis Rechtfertigungsschrift.16 Der Auftrag, die Texte zu verteilen, geht einher mit der Bitte um die Benachrichtigung über Reaktionen auf die Schriften; Hamann ist mithin nicht allein Multiplikator, sondern vor allem auch Informant. Das gilt bereits für die Zeit vor dem Erscheinen von Jacobis Spinozabriefen

13 So ist Hamann sich durchaus bewusst, dass er beispielsweise Mendelssohn zu präziseren Stellungnahmen Spinoza betreffend veranlassen kann, vgl. ZH V, 270,25–30 (an F.H. Jacobi, 1. 12. 1784): »Ich vermuthe, daß mein blinder Angriff meinen alten Freund M. noch mehr aufmuntern wird sich über den Spinozismus zu erklären – worauf ich mich also vorbereiten muß, die Sache, ihn und mich selbst, unsere verschiedene Gesichtspuncte darüber zu vergleichen. Ein Versuch ist immer der Mühe werth – und voluisse sat est.« 14 Das Ringen um Anerkennung stellt überdies grundsätzlich einen markanten Zug der Veröffentlichungen Jacobis dar. Eva J. Engel: Relativ wahr? Jacobis Spinoza-Gespräch mit Lessing. In: Euphorion 93 (1999), S. 433–452, macht gar die Eifersucht als – wenngleich nicht exklusives – Motiv für die Abfassung der Spinozabriefe aus. 15 Vgl. ZH VI, 93,33ff (von F.H. Jacobi, 13. 10. 1785): »Mit nächstem Postwagen schicke ich noch 3 Exempl: 1 gebundenes für Sie, 1 für Scheffner, u 1 für den Accise Einnehmer Brahl.« 16 Vgl. ZH VI, 383f (von F.H. Jacobi, 5. 5. 1786): »8 Exempl sind am vergangenen Montag mit der fahrenden Post an Sie abgegangen, nebst einem gebundenen Exempl meiner Briefe, u 2 Portraits. Von den 6 gehefteten Exempl der Rechtfertigung geben Sie 1. Ihrem Freunde Hippel, das andere Schäffnern, u vertheilen die übrigen nach Belieben. Mich verlangt nun unaussprechlich nach Ihrem nächsten Briefe. Solle Kant mit ein paar Stellen nicht ganz zufrieden seyn, so bedeuten Sie ihm, wie er seine Jünger in Jena u Gotha beßer in der Zucht halten sollte. Diese Abkömlinge machen ihm wahrlich nicht viel Ehre.«

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und Mendelssohns Morgenstunden im Herbst 1785,17 durch die die Auseinandersetzung zwischen beiden an die Öffentlichkeit tritt. Mendelssohn widerlegte in seiner Schrift den Spinozismus und ließ Lessing einen geläuterten Spinozismus vertreten, Jacobi hingegen bestritt die Läuterungsfähigkeit des Spinozismus. Dieser sei vielmehr die einzig konsequente Philosophie, als solche aber notwendig Fatalismus und letztlich Atheismus. Obwohl Jacobi sich in einem offenen Briefkontakt mit Mendelssohn wähnte,18 gewährt dieser ihm keinen Einblick in die Arbeiten an seiner Schrift. Jacobi bleibt in dieser Zeit auf die gelegentlichen, unbestimmten Andeutungen Hamanns angewiesen, z. B. vom 31. März 1785: »Mendelssohn arbeitet frisch drauf los an einer Vertheidigung der Gottheit, wie man mir gesagt«.19 Und auch nach Erscheinen der Schriften weiß Hamann Jacobi, der inzwischen erkannt hat, wie »schrecklich böse«20 man in Berlin auf ihn geworden war, zu benachrichtigen: »Man versteht sie nicht«, und gleichzeitig zu warnen: »Ich muß Sie ein wenig vorbereiten und abhärten gegen ärgern Unglimpf, dem Sie kaum entgehen werden.«21 Wie verunsichert Jacobi in dieser Situation war, erhellt aus seiner Reaktion auf die ihm von Hamann übermittelte Kritik: »Man findt in Ihrem SpinozaBüchlein, wie Claudius es nennt, des Sp. Kopf, Herders Torso u Göthes Zehen.«22 Jacobi höhnt anfänglich: Was die Berliner angeht, so bin ich sehr zufrieden, wenn sie in meinem Büchl. den Kopf des Spinoza, Herders Torso, u Göthens Zehen finden, gesetzt auch daß sie mit den Zehen Klauen oder Krallen meinten. Es ließe sich zum größten Lobspruch deuten, denn was könnte man für einen Schriftsteller wohl schmeichelhafteres sagen, als er denke mit einem Kopfe wie der v Spinoza, athme wie aus Herders Brust, u bewege sich, wie mit Göthens Füßen.23

Doch noch im selben Brief erweist der Hohn sich als vorlaut und vorschnell: »Wenn Sie mir einiges Licht darüber geben könnten, wie man Göthes Zehen in 17 Über den Entstehungshintergrund geben Jacobis Text selbst und Mendelssohns An die Freunde Lessings hinreichend Auskunft. 18 Vgl. ZH V, 448 (an F.H. Jacobi, 1./2. 6. 1785): »Mendelssohn sagt mir gerade heraus, dass er mich immer weniger verstünde, je mehr ich bemüht sey ihm Erläuterungen zu geben; aber gerade wie in meinen Aufsätzen, sey ihm im Spinoza selbst vieles unverständlich.« [Hervorh. C.B.]. 19 ZH V, 405,22ff (an F.H. Jacobi, 31. 3. 1785). Vgl. auch ZH V, 448,5–8 (an F.H. Jacobi, 1./2. 6. 1785): »Wegen seiner neuen Schrift an der er arbeitet habe auch neue Nachrichten, die aber verschieden sind; Morgengedanken über Gott und Schöpfung – oder über das Daseyn u die Eigenschaften Gottes.« Zur gestörten Korrespondenz zwischen Jacobi und Mendelssohn in den entscheidenden Monaten des Jahres 1785 vgl. Christ: Jacobi und Mendelssohn (wie Anm. 8), S. 112f. 20 ZH VI, 144–148 (von F.H. Jacobi, 17. 11. 1785), hier 144,23. 21 ZH VI, 118–122 (an F.H. Jacobi, 5. 11. 1785), hier 120,1f. 22 ZH VI, 119f. 23 ZH VI, 145f.

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meinem Sp. Büchl. findet, geschahe mir ein Gefallen.«24 Die Berliner Reaktion, so leicht er sie offensichtlich nehmen wollte, drückt schwer. Die Unsicherheit verfolgt Jacobi, nur fünf Tage später schreibt er : »ich [weiß] nun gar nicht mehr […] was ich davon denken soll.«25 Wer nicht weiß, was er denken soll, beginnt zu spekulieren. So auch Jacobi, er mutmaßt über Motive Mendelssohns, der ihn lächerlich und dadurch unglaubwürdig machen wolle. Schließlich vermutet er : »Ich kann mir Mendelssohns Unbesonnenheit auf keine andre Art erklären, als daß er ganz ungewohnt war mit Leidenschaften umzugehen«.26 Damit verfehlt er nicht nur die Absichten Mendelssohns. Auch Hamann hat für derartige Spekulationen wenig übrig und daher hierauf nichts als die in einem Nachsatz gleichsam beiläufig formulierte und wenig einfühlsame Antwort parat: »Mendelssohn war gewohnt mit Leidenschaften und ihren Masken umzugehen, beßer wie wir beyde.«27 Ebenso beiläufig wie der Satz selbst erscheint, werden den Leidenschaften ihre Masken beigesellt – damit richtet sich Hamann so verdeckt, gewissermaßen maskiert, wie scharf gegen Jacobi selbst, der zum Schauspieler gestempelt wird. Nicht minder verunsichert als in Bezug auf die Reaktion der Berliner zeigt Jacobi sich, wenn es um die Reaktion Kants geht. Kants Stimme ist nicht eine unter anderen, sondern die entscheidende. Übrige Nachrichten Hamanns, von denen es einige gibt, treten demgegenüber in ihrer Bedeutung zurück und sind Jacobi, wenn überhaupt, nur einen kurzen Kommentar wert.28 Von Kant aber drängt es ihn zu hören, und dessen erste Andeutungen, das System Spinozas sei ihm ganz unverständlich, stacheln zu weiterem Nachfragen an. Jacobi ist in hohem Maße besorgt, ob sich diese Unverständnis nur auf Spinoza selbst oder auch auf seine eigene Darstellung richte,29 und Hamanns wiederholte Versicherung, Kant habe sich zufrieden gezeigt,30 beruhigt keineswegs. Auch die 24 25 26 27 28

ZH VI, 148,18f. ZH VI, 150f (von F.H. Jacobi, 22. 11. 1785). ZH VI, 314,22ff (von F.H. Jacobi, 14. 3. 1786). ZH VI, 331,24f (an F.H. Jacobi, 25/26 .3. 1786). Das gilt sowohl für Kraus’ (überraschende) Zustimmung als auch für Scheffners kritisches Urteil, das Jacobi für »gar nicht adaequat« hält. Vgl. ZH VI, 189,15–22 (von F.H. Jacobi, 16. 12. 1785): »Scheffners Urtheil hat mir weder wohl gethan noch weh, weil es gar nicht adequat ist. Das ist ja der gestandene klare Inhalt meines Buchs, daß es schwer, ja gar unmöglich sey, nicht ein Spinozist zu seyn, wenn man über Gott philosophieren, u nicht lieber an ihn glauben will. – Mein Buch heißt: ich habe meine Sach Gott heim gestellt. – Wenn Er ist, so wird er mir u uns allen helfen, nach unserer Nothdurft; ist er nicht: nun so brechen wir uns je eher je lieber die Hälse, oder machen sonst auf eine Wese dem eckelhaften Undinge Mensch ein Ende.« Scheffners Beurteilung findet sich ZH VI, 160 (von Jacobi, 30. 11. 1785). 29 Vgl. ZH VI, 93,27ff (von F.H. Jacobi, 13. 10. 1785). 30 Diese Zufriedenheit betont Kant, obwohl er durch Jacobis Schrift wenig hinzulernte, vgl. ZH VI, 107,24ff (an F.H. Jacobi, 22. 10. 1785): »Er hätte ihm [Kraus] aber gestanden, daß es ihm eben so wie Mendelssohn gienge, und Ihre Auslegung so wenig als den Text des Spinoza sich

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Nachrichten über Kants schriftstellerische Absichten in dem Konflikt beschäftigen Jacobi nachhaltig. Während Kants Ankündigung, »mit aller Kälte«31 eine »polemische Schrift«32 gegen Mendelssohn »zu wagen« in ihm die Hoffnung weckte, den Königsberger Kritiker auf seine Seite gezogen zu haben, führt die einschränkende Vermutung, »mit einer bloßen Recension der Morgenstunden auszukommen«33 zu erster Ernüchterung. Dass Kant sich schließlich mit der Jacobi-kritischen Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren34 zu Wort melden würde, war dabei noch nicht abzusehen – und wurde für Jacobi zu einer umso schmerzhafteren Erfahrung. Hamanns Bemühungen in diesem Zusammenhang zielen auf eine Beruhigung Jacobis. Er erklärt das Urteil Kants für nicht allzu bedeutend. Mehr noch: Kant solle sich ruhig auf die Seiten der Berliner schlagen, die dadurch nur in falscher Sicherheit gewiegt würden – wobei nicht aufzuklären ist, ob dies wirklich Hamanns Ansicht ist, oder ob es ihm letztlich nur darum geht, Jacobi von unüberlegten Reaktionen abzuhalten.35 In jedem Fall ist damit auf die letzte quoad formam zu benennende Rolle Hamanns verwiesen, nämlich die des zur

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35

selbst verständlich machen könnte.« Auf nochmaliges Nachfragen gesteht Kant Hamann, »den Spinoza niemals recht studiert zu haben und von seinem eigenen System eingenommen hat er weder Lust noch Zeit in fremde sich einzulaßen. Mit Ihrem Vortrag war er sehr zufrieden, und diesen beneidet er auch dem Mendelssohn.« (ZH VI, 161,26–29 [an F.H. Jacobi, 2. Advent 1785]). ZH VI, 119,28 (an F.H. Jacobi, 5. 11. 1785), vgl. die Bestätigung Kants im persönlichen Gespräch mit Hamann, a. a. O. ZH VI, 107,23 (an F.H. Jacobi, 22. 10. 1785). ZH VI, 152,9f (an F.H. Jacobi, 28. 11. 1785). Immanuel Kant: Werke in 10 Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977. Bd. 5, S. 265–283. Zu Kants Schrift vgl. die treffende Interpretation von Ingolf U. Dalferth: Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie. Tübingen 2003, S. 41–44. Letztere Vermutung scheint zumindest nicht vollkommen unsachlich. Vgl. ZH VI, 348ff (an F.H. Jacobi, 9. 4. 1786): »Kant hat erklärt, daß er etwa in die Monatsschrift über die Verdienste Mendelssohns um die jüdische u christl Religion wollte einrücken lassen, wenn es dort aufgenommen würde – und bis zur Schwärmerey von M. Originalgenie und seinem Jerusalem eingenommen gewesen. […] Kant ist ein Mann von eben so großen Talenten, als guten und edeln Gesinnungen, der sich von Vorurtheilen sehr begeistern läßt, aber sich nicht schämt selbige zu widerrufen, abzulegen und zu verleugnen. Man muß ihm nur dazu Zeit laßen, selbst in sich zu gehen. […] Auf unsern Kritiker bauen Sie nicht und haben es auch gar nicht nöthig. […] Also Kants Neutralität laßen Sie sich gar nicht beunruhigen […] Mir wär es also lieb, wenn Kant die Berliner sicherer und stolzer macht, daß sie so weit sie könnten, ausfielen und ihr Maas voll machten.« Jacobi zeigt sich endgültig verwirrt und auch verängstigt: »Du sagst, der erwartete Aufsatz v ihm werde im October erscheinen, u solle sich auf das Geniewesen beziehen. Ich habe Dich schon einmahl gebeten, Lieber, u bitte Dich itzt nochmahls, mir nie dergleichen dunkle Nachrichten zu schreiben. Meine Einbildungskraft wird dadurch aufgebracht, u mein Geist zerstreut, ohne Frucht.« (ZH VII, 19f. [von F.H. Jacobi, 5. 10. 1786]).

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Besonnenheit mahnenden Gesprächsmoderators, die programmatisch im Brief vom 29. 10. 1785 deutlich wird: Wenn Sie, liebster Jacobi, Ihre nicht scheue Feder furchtbar [!] machen wollen: so fürchten Sie sich selbst dafür, nicht vor der Zeit nicht ein Schwert aus ihr zu machen. Bis jetzo, ist alles gut, löblich und rechtmäßig in Ihrem ersten Schritt, den Sie gethan. Ihr Spiel ist groß und ehrlich; verderben Sie es durch keinen übereilten Zug. Eckelnahmen sind keine Gründe; und an Mendelssohns Antwort muß Ihnen vornehmlich gelegen seyn. […] Ich wünschte also Ihnen die größte Gleichgildigkeit gegen alle Confoederirten und Secundanten des Rabbi zu B. die Sie zeitig gnug und mit desto mehr Nachdruck abfertigen können. Hierinn besteht mein ganzer freundschaftl. Rath quoad formam, bis ich zur Materie und Sache selbst kommen werde.36

Das bisherige Vorgehen Jacobis findet nicht nur Zustimmung, sondern sogar ausdrückliches Lob Hamanns. Jedoch die Gefahr, sich durch übereilte Reaktionen alles zu zerstören, droht beständig, und so wird das Lob verbunden mit dem dringenden und oft wiederholten Rat, nicht vorschnell zur Feder zu greifen, um das große und ehrliche Spiel nicht zu verderben. Nicht einmal durch »Eckelnahmen« dürfe er sich provozieren lassen. Jacobi soll sich überdies, so der dringende Rat Hamanns, nicht auf Nebenplätzen aufhalten, sondern sich auf das Wesentliche besinnen. Dieses Wesentliche wird eindeutig benannt: was zählt, ist die Antwort Mendelssohns. Erst nach dessen Tod wird diese Antwort in Form der Schrift An die Freunde Lessings veröffentlicht. Die Veröffentlichung lässt die – noch einmal wiederholten – Warnungen Hamanns37 vergeblich werden. Bisher hatten seine Bemühungen durchaus zur Beruhigung der Streitsache beigetragen.38 Nun aber verfasst Jacobi seine Rechtfertigungsschrift, auf die Hamann zwiespältig reagiert. Zustimmung zu den ersten Bögen ist begleitet von Entsetzen, weil Jacobi ausdrücklich auf ihn Bezug nimmt, welche Bezüge Hamann in den ihm zugesandten 36 ZH VI, 110,6–18 (an F.H. Jacobi, 29. 10. 1785). Der freundschaftliche Rat wird ohne Unterlass wiederholt und in kurzen Abständen erinnert – das erste Mal bereits nach einer Woche: »Verachten Sie meinen guten Rath nicht, langsam zu Werk zu gehen und erst Mendelssohns Antwort abzuwarten, auch von meinen Vertraulichkeiten blos einheimischen Gebrauch zu machen. Die Wahrheit offenbart sich nicht im Sturm, noch Feuer noch Erdbeben, sondern […] ein sanftes Sausen ist ihre Stimme.« (ZH VI, 121,16–20 [an F.H. Jacobi, 5. 11. 1785]). 37 Vgl. ZH VI, 317,13f (an F.H. Jacobi, 15. 3. 1786): »Zu antworten haben Sie im Grunde gar nicht nöthig – und noch weniger sich dazu reitzen oder zwingen zu lassen.« Weitere Stellen ließen sich ohne großen Aufwand zusammentragen. 38 Jacobi sollte seine eigene Unbeherrschtheit 25 Jahre später zum Fallstrick werden, als er in der Auseinandersetzung mit Schelling um die göttlichen Dinge seine Streitschrift publiziert, ohne die letzten Werke Schellings überhaupt zur Kenntnis genommen zu haben. Auf diesem Hintergrund war die Entgegnung für Schelling leicht, das »Denkmal« treibt denn auch üblen Spott über Jacobis salto mortale – nach dem Urteil M. Heideggers war Jacobi im Anschluss endgültig vernichtet. Vgl. zum Überblick Wilhelm Weischedel: Jacobi und Schelling. Eine philosophisch-theologische Kontroverse. Darmstadt 1969.

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Exemplaren sogleich ausstreichen will. Insgesamt gilt: »das ganze Wortspiel [ist] nicht klug von Dir«.39 Hinter der weiterhin bestehenden Überzeugung, dass Zurückhaltung die kluge Form des Verhaltens gewesen wäre, leuchtet Hamanns persönliches Bestreben hervor, nicht als Zeuge in dem Streit benannt zu werden. Diese Beobachtung verweist auf die nun zu thematisierenden sachlichen Aspekte der Korrespondenz.

2.2

Quoad materiam: Die inhaltliche Auseinandersetzung

Es ist bekannt, dass der Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi in kurzen Abständen zweifach seinen Schwerpunkt verschiebt: während zunächst Lessing und sein Spinozismus im Fokus stehen, so richtet sich die Frage alsbald auf den Spinozismus und seine Interpretation, bevor schließlich die Weltanschauung des Rationalismus im Mittelpunkt der Debatte steht.40 Die beiden letzten Stationen des so gezeichneten Weges sind die zentralen Elemente, mit denen sich die berühmte Figur des salto mortale, wie die Spinozabriefe sie anbieten, topographisch beschreiben lässt.41 Jacobi springt nicht einfach an Spinoza vorbei, sondern: »Die ganze Sache besteht darin, daß ich aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus, und gegen alles, was mit ihm verknüpft ist, schließe.«42 So richtig es ist, dass Jacobi sich »aus einer Philosophie zurück [zieht]«43, so richtig ist doch auch, dass er zunächst die Durchdringung dieser Philosophie in ihrer vollkommenen Form verlangt. In letzter Konsequenz etabliert er einen Dualismus von Verstand und Glaube. Hamann hingegen legt bereits am 14. November 1784 in verdichteter Form 39 ZH VI, 370,21 (an F.H. Jacobi, 30. 4. 1786). Der erste Abschnitt dieses Briefes ist insgesamt in einem gereizten, sich von den sonstigen Briefen völlig unterscheidenden Ton gehalten. 40 Vgl. H. Scholz (Hg.): Hauptschriften (wie Anm. 10), S. 11. Die Stationen sind nicht klar abgegrenzt und dennoch auszumachen; die Spinozabriefe Jacobis sind dabei bereits als zusammenfassendes Werk zu verstehen, das die stetige Verschiebung abbildet: während an ihrem Beginn das Gespräch mit Lessing steht, steht exemplarisch im Brief an Hemsterhuis, der als Beilage Aufnahme gefunden hat, die Spinozismus-Interpretation im Blickpunkt, bevor Jacobi – wiederum exemplarisch in sechs abschließenden Thesen zur Erkenntnistheorie allgemein Stellung bezieht, deren erste, vierte, fünfte und sechste als sachliche Keimzelle von Jacobis Überzeugung gelten dürfen: »I. Spinozismus ist Atheismus«; »IV. Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus«; »V. Wir können nur Ähnlichkeiten demonstrieren; und jeder Erweis setzt etwas schon Erwiesenes zum voraus, wovon das Prinzipium Offenbarung ist«; »VI. Das Element aller menschlichen Erkenntnis und Würksamkeit, ist Glaube« (Jacobi: Spinozabriefe, S. 118–124). 41 Zur Figur einer Topographie des Sprungs vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, v. a. S. 23–63. 42 Jacobi: Spinozabriefe, S. 26. 43 Jacobi: Spinozabriefe, S. 33.

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vor, was er zum Pantheismusstreit inhaltlich beizutragen hat, obwohl er die gründliche Auseinandersetzung mit Jacobis Spinoza-Büchlein erst deutlich später ankündigt.44 Zu jenem Zeitpunkt gesteht er noch ein, dass seine Erinnerungen an Spinoza aus ferner Zeit datieren.45 Auch scheut Hamann sich nicht, am 16. Januar 1785 gewissermaßen eine endgültige Stellungnahme zu Spinoza abzugeben: Ihnen meine Herzensmeinung über Sp. Metaphysik und seine incompetente u unbefugte Methode zu sagen, hab ich keine weitere Mühe nöthig, und dörft ich alles weitern Suchens überhoben seyn. Die Wahrheit zu sagen seh ich den Philosophen mit Mitleiden an, der erst von mir einen Beweis fordert, daß er einen Körper hat und daß es eine materielle Welt giebt. Ueber dergl. Wahrheiten u Beweise seine Zeit u Scharfsinn zu verlieren, ist eben so traurig als lächerlich. Eine Welt ohne Gott ist ein Mensch ohne Kopf – ohne Herz, ohne Eingeweide – ohne Pudenda.46

Die Spinoza-Kritik spitzt sich auf die Abstraktion von der Erfahrung zu. Wenig später erfährt diese Kritik Konkretion im Bezug auf Spinozas Erklärung Gottes als causa sui, in der »der ganze Irrthum der Logomachie« liege; es bleibt als Fazit: »Der Spinozismus ist also eine widernatürl. Meinung«47. Dieses Fazit jedoch (»also«) zieht Hamann, bevor er zweieinhalb Monate später feststellt: »Mit der Ethik, wobey ich zugl. die deutsche Übersetzung verglichen, bin ich erst in meiner Unpäßlichkeit fertig geworden, um blos eine allgemeine Uebersicht des Ganzen zu haben«.48 Vor aller detaillierten Spinozalektüre steht Hamanns Unbehagen, das sich nicht auf ein Detail oder den Endpunkt des Systems, sondern bereits auf die Methode, die »mathematische Form«, die Hamann für ein »Blendwerk, und eine sehr unphilosophische Gaukeley«49 hält, richtet. Dabei versieht er das Wort Methode mit einem »schon«, das er im selben Satz, sich verschreibend, wiederholt, und das so für den Leser ein ganz ungewohntes Gewicht erhält. Während Jacobi die Methode für die einzig denkbare philosophische hält, ist schon sie für Hamann unphilosophisch. 44 Vgl. ZH V, 439–442 (an F.H. Jacobi, 17. 5. 1784), hier 441. 45 Vgl. ZH V, 263–267 (an F.H. Jacobi, 14./15. 11. 1784), hier 264,28–30: »Ich besitze weder Spinoza noch Hobbs, die ich beyde vor 20 Jahren mit wahrer Andacht gelesen und ihnen mehr zu danken habe, als Shaftesbury u Leibnüts«. 46 ZH V, 324–328 (an F.H. Jacobi, 16. 1. 1785), hier 326,12–19. 47 ZH V, 326,26–33. 48 Zwar gibt er am 17. 5. 1785 bekannt, »mit der Ethik endlich fertig geworden« zu sein (ZH V, 440,3), dennoch ist den weiteren Briefen zu entnehmen, dass er sich immer wieder von neuem dem spinozischen System zuwendet, jedoch ohne jemals wirklich mit ihm fertig zu werden. Vgl. z. B. ZH VI, 26 (an F.H. Jacobi, 22. 7. 1785). Noch während der Suche und dem Bemühen konkretisiert sich der Plan der Metakritik, und am 28. 9. 1785 meint Hamann, »den Schlüssel zu allen Dunkelheiten in Spinoza und unserm Kant gefunden zu haben, oder wenigstens in die rechte Spur gekommen zu sein.« (ZH VI, 75,28ff [an F.H. Jacobi, 28. 9. 1785]). 49 ZH VI, 107f (an F.H. Jacobi, 22.–30. 10. 1785).

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Während dadurch Spinoza für Jacobi als konsequentes philosophisches System gilt, das nicht gemieden, sondern aus sich selbst heraus überwunden werden will durch einen salto mortale, stellt Hamann fest: »Mit der Untersuchung der 15 Erklärungen u Grundsätze fällt das ganze erste Buch der Ethik über den Haufen. Ein solcher Streusand trägt kein Gebäude, kaum ein papiernes«.50 Zwar gesteht Hamann Jacobi zu, mit den Spinozabriefen »Wasser auf meine Mühle und Oel in meine Lampe geschenkt«51 zu haben, dennoch problematisiert er in typischer Manier die Problemstellung Jacobis selbst. Seine Frage ist nicht: »was ist Vernunft? sondern vielmehr : was ist Sprache?«52 Nicht nur die Leistungsfähigkeit der Vernunft ist thematisiert, sondern noch grundsätzlicher wird gar die Frage nach dem Wesen der Vernunft abgewiesen und die Frage nach dem Wesen der Sprache als die entscheidende ihr entgegengesetzt.53 Das Problem des Wesens der Sprache muss sich zuspitzen auf die Frage, wie die Dinge und Sachen selbst zur Sprache kommen können. Demgegenüber erteilt Hamann den metaphysischen Untersuchungen insgesamt eine Absage.54 Wie er die Sprache der Vernunft und das Ding dem Begriff entgegensetzt, so auch das Leben der Erkenntnis und den Genuss der Spekulation. Wenn von Vernunft schließlich doch die Rede sein soll, dann wird ihr eine nachgeordnete Rolle zugewiesen: »Unsere Vernunft muß warten und hoffen – Dienerin nicht Gesetzgeberin der Natur seyn zu wollen.«55 Hamann gründet sie auf Erfahrung und Offenbarung, die er für »einerley«56 erachtet und die die Vernunft entweder stützen (Krücken) oder zu Höhenflügen anleiten. In dieser Hinsicht besteht durchaus Einigkeit zwischen Hamann und Jacobi, der Vernunft vom Verstand unterscheidet und letztere zur Offenbarung in enge Beziehung rückt.57 Hamanns Kritik an den Spinoza-Briefen richtet sich daher zunächst auf deren Anlage: Ein wenig zusammengesetzt und buntscheckig ist ihre Composition, mein lieber Jonathan wie mein Schlafpeltz. Ihre Antwort an Hemsterhuis eine Episode. Der Anfang

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Ebd. ZH V, 264,9 (an F.H. Jacobi, 14. 11. 1784). ZH V, 264,34f. Dass die Frage nach der Leistungsfähigkeit impliziert ist, deutet die Erklärung Hamanns an (ZH V, 264f): »Daher komt es, daß man Wörter für Begriffe, und Begriffe für die Dinge selbst hält. In Wörtern und Begriffen ist keine Evidenz möglich, welche blos den Dingen und Sachen zukommt.« Vgl. dazu auch N III, 285,3f (Metakritik): »Schon dem Namen Metaphysik hängt dieser Erbschade und Aussatz der Zweideutigkeit an.« ZH V, 265,29f. ZH V, 265,34. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke IV/1, S. XXI: »Wurzel der Philosophie muß bleiben: menschliche Erkenntniß gehet aus von Offenbarung, die Vernunft nämlich offenbaret Freyheit, indem sie Vorsehung offenbaret.«

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historisch, die Mitte metaphysisch und das Ende wenigstens poetisch und verräth Ihren Geschmack an dithyrambischen Schriftstellern.58

Dass der Charakter des Werkes zu einem Angelpunkt der Kritik wird, ist bemerkenswert. Denn gerade das Zusammengesetzte von Jacobis Buch erscheint auf den ersten Blick als konsequente formale Entsprechung zur materialen These: wenn es kein System der Freiheit geben kann, Freiheit aber geben muss, dann kann es ein philosophisches Werk nur in der völligen Negation von System geben. Als solches aber erscheinen gerade die Spinozabriefe.59 Auch Hamann hängt schließlich wenig am System, noch weniger schreibt er systematisch. Wenn Jacobis Stil dennoch Kritik erfährt, dann muss gelten: es gibt richtige und falsche Uneinheitlichkeit. Den entscheidenden Unterschied sieht Hamann darin, dass im richtigen Unsystematischen gerade die Einheit deutlich wird; sie ist es, die er mit dem Wort »Autorschaft« bezeichnet wissen will. Jacobis Text bleibt hingegen Stückwerk. Während ein – in Hamanns Augen – guter Text so verfasst sein muss, dass er als vom Autor geschrieben lesbar wird, bleibt es bei Jacobis Spinozabriefen bei einem Text, der im ersten Abschnitt vom Historiker, im Mittelteil vom Metaphysiker und am Schluss vom Poeten verfasst wurde. Über solch äußerliche Kritik gelangt Hamann über einen langen Zeitraum nicht hinaus; die Spinozabriefe werden ihm, dem großen Verfechter vielfältiger Lesbarkeit, zusehends unlesbar, Anfänge des Lesens werden stets schnell beendet.60 Das zu versterben drohende Gespräch gewinnt einen neuen und nie dagewesenen Drive erst durch Jacobis Schrift David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Plötzlich werden Briefe schneller fertig als erwartet,61 es scheint, dass der David Hume bei Hamann eine nicht mehr erwartete Schreib-Energie freigesetzt hat, die sich in fundamentaler Kritik an Jacobis »Bilderkram«62 entlädt. Erneut wird der Vorwurf der Uneinheitlichkeit niedergeschrieben,63 der nun inhaltlich konkretisiert wird. »Was Gott zusammengefügt hat, kann keine Philosophie scheiden; eben so wenig vereinigen, was die Natur geschieden hat.«64 Der zentrale Streitpunkt ist das Verhältnis von Identität und Differenz. Während Hamann sich an Natur und Erfahrung ausrichtet und dort die Philosophie beginnen lässt, hält er Jacobis Entgegensetzung von Natur und 58 ZH VI, 159,15–19 (an F.H. Jacobi, 30. 11. 1785). 59 Vgl. Christian Brouwer: Schellings Freiheitsschrift. Studien zu ihrer Interpretation und ihrer Bedeutung für die theologische Diskussion. Tübingen 2011 (RPT 59), S. 53f, Anm. 188. 60 Vgl. ZH VII, 82,4–7 (an F.H. Jacobi, 3./4. 12. 1786): »Ich fieng Dein Spinozabüchl. an zu lesen, bin aber nicht weit darinn gekommen, habe mich lange über die Vergleichung des Tiefsinns mit dem radio u des Scharfsinns mit der Senne eines Circuls aufgehalten, ohne damit fertig geworden zu seyn.« Vgl. auch ZH VII, 197. 61 Vgl. ZH VII, 161–181 (an F.H. Jacobi, 27.4.–2. 5. 1787), hier 170,16. 62 ZH VII, 154–160 (an F.H. Jacobi, 22. 4. 1787), hier 158,2. 63 ZH VII, 173,18: »Flickwerk«. 64 ZH VII, 158,16f.

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Vernunft für verfehlt: »Natur und Vernunft sind so gut correlata als opposita«, was sich philosophisch niederschlägt: »Scepticismus u Dogmatismus können eben so füglich bey u neben einander stehen, als Erkenntnis u Unwißenheit«.65 Ist bereits das Thema Jacobis falsch gestellt, so missraten auch seine Distinktionen, in erster Linie die von Glaube und Vernunft, »beyde gehören zusammen und beziehen sich auf einander«.66 Schon die Vorrede, bei der Hamann sich am längsten aufhält, verrät die misslungene Anordnung: Nun mein lieber Jonathan Pollux, über Deinen Vorbericht. Das sollte wäre freylich beßer gewesen, ich meyne 3 Gespräche statt eines. Die Dosis ist zu stark für einen Patienten mit nüchternem Magen, der Galle verräth – auch die Personen nicht gut gewählt oder glücklich bezeichnet. Das Er zu sehr nach dem Zuschnitte des Ichs. Glaube, Vernunft-Idealismus; Realismus. Hume: Kant: Leibnitz: Spinoza. Glaube hat Vernunft eben so nöthig: als diese jenen hat.67

Und schulmeisterlich weist Hamann Jacobi zurecht: »Qui bene distinguit, optime definiri potest«.68 Letztlich läuft Hamanns Kritik auf eine Sprachkritik hinaus. So, wie er den gesamten Pantheismusstreit als unnützen Kampf um Worte deuten konnte, liest er nun auch Jacobis Buch.69 Im Angesicht des vorliegenden Textes erkennt Hamann, dass die zu Beginn auch von ihm angenommene und von Jacobi noch bei Zusendung des David Hume unterstellte Übereinstimmung niemals so groß war, wie sie beiden erschien,70 das Unverständnis kann nun deutlich benannt werden.71 Hamann scheint sich inhaltlich von Jacobi abzukehren und wendet sich seinem eigenen Werk zu: Verzeih es meiner Eitelkeit, wenn ich Dir aufrichtig gestehe, daß mir meine eigene Autorschaft auch näher liegt, als Deine, und mir selbst auch der Absicht und dem Inhalte nach wichtiger und nützlicher zu seyn scheint. Idealismus u Realismus sind nichts als entia rationis, wächserne Nasen – Christentum und Luthertum sind res facti, lebendige Organe und Werkzeuge der Gottheit u Menschheit.72

Damit ist die Geringschätzung auf die Spitze getrieben. Jacobis Schrift ist bloßer Wortkrieg, logomachie. Jedoch es gilt zu bemerken: Hamann stellt der logo65 66 67 68 69

ZH VII, 160,1–4. ZH VII, 162,28f. ZH VII, 165,1–7. ZH VII, 165,9. Vgl. ZH VII, 221,7ff (an F.H. Jacobi, 2. 6. 1787): »Du hängst überhaupt zu viel an Kunstwörtern der philosophischen Sprache, die in meinen Augen nicht viel beßer als wächserne Nasen sind.« 70 Vgl. ZH VII, 169,22: »Verstehst Du nun …« [Hervorh. C.B.] 71 Vgl. ZH VII, 176,3–6: »Noch weiß ich weder was Hume noch was wir beide unter Glauben verstehen – und je mehr wir darüber reden oder schreiben würden, je weniger wird uns gelingen, diesen Quecksilber fest zu halten.« 72 ZH VII, 156,31–36.

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machie nichts anderes gegenüber als wiederum Ringen ums Wort, präzise verlangt er die Suche nach dem mot propre. Dann aber ist zu klären, warum Hamanns Ringen nicht ebenfalls logomachie ist. Die als Gesprächsauszug stilisierten Urkundlichen Auszüge der Debatten und Resultate über Jacobis Spinozabriefe73 insistieren mit Nachdruck auf dem mot propre, das Hamann in Jacobis Einleitung »nirgends«74 findet. Der »kindische Tiefsinn«, den Jacobi sich selbst in Kindertagen zuschrieb, wird von Hamann sinnreich wortspielend dem wirklichen Tiefsinn entgegen und dem Blödsinn zur Seite gestellt, der wirkliche Tiefsinn Jacobis hingegen wird wiederum eher als »Trübsinn« ausgemacht, »denn Vorwitz und Leichtsinn war es nicht«75. Hamanns Spielerei um die Sinn-Composita sind Aufweis der fehlenden Präzision Jacobis, d. h. der fehlenden Eigentlichkeit seiner Sprache. Demgegenüber hält er unumstößlich fest: »Sans la science du mot propre il n’y a point d’8crivain«.76 Zugleich gilt aber : »Alle Schriftsteller sind Lügner.«77 Steht am Ende der Sprachkritik Hamanns also auf der einen Seite, dass die philosophischen Streitereien bloße Wortkriege sind, die die Wahrheit stets und notwendig verfehlen, und auf der anderen Seite – kontrapunktisch – das Verlangen nach dem mot propre, dann ist klar, das letzteres kein weiterer Beitrag zur logomachie sein darf. Das mot propre muss von anderer Qualität sein; es bezeichnet »sinngemäß […] den Eigennamen der Sache selbst«78. Wenn wir es aber mit Namensprache zu tun haben, dann auch mit dem Umstand, dass nicht mehr wir sprechen, sondern die Sprache spricht.79 Und wenn die Sprache spricht, dann ist das mot propre, bevor es zum Gegenstand unseres Sprechens und Schreibens wird, 73 N IV, 456–459. Diese wenigen Seiten bilden nach Klaus Hammacher : Der persönliche Gott im Dialog? J.G. Hamanns Auseinandersetzung mit F.H. Jacobis Spinozabriefen, in: Acta 1976, S. 194–213, hier S. 197, den Fluchtpunkt der Hamannschen Kritik am Spinozabuch. Jacobi hat darauf reagiert, indem er in der zweiten Auflage einige Auszüge in der Beilage III abdruckte. 74 N IV, 458,21. 75 N IV, 458,11. 76 N IV, 457,30. 77 N IV, 457,25. 78 Renate Knoll: Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi. Heidelberg 1963 (Heidelberger Forschungen 7), S. 55. 79 Martin Heidegger: Die Sprache. In: ders.: Unterwegs zur Sprache. Stuttgart 132003, S. 9–33, hier S. 12 u. ö. Zum Verhältnis Heideggers zu Hamann vgl. Knut Martin Stünkel: Metaschematismus und formale Anzeige – Über ein biblisch-paulinisches Rüstzeug des Denkens bei Johann Georg Hamann und Martin Heidegger. In: NZSTh 47 (2005), S. 259–287, und ders.: Zusage. Die Sprache bei Hamann und Heidegger. In: NZSTh 46 (2004), S. 26–55. Der Sache nach vgl. auch den Hamann nahe stehenden Text Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: GS II/1, S. 140–157, bes. S. 142: »Die Sprache teilt das sprachliche Wesen der Dinge mit. Dessen klarste Erscheinung ist aber die Sprache selbst. […] Jede Sprache teilt sich selbst mit. […] Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache.«

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immer schon gesprochen, schon da, was wiederum heißt: gehört, bevor wir es sprechen. Die logomachie wird streng christologisch überwunden durch die Rückbindung an den logos, der vor aller logomachie ist. So erst wird deutlich, was Hamann mit seinem »Sprachprincipium der Vernunft« meint.80 Hierin liegt dann auch im letzten Grunde der Unterschied zum Denken Jacobis; insofern entsprechen sich frühe und späte Kritik exakt: »Was in deiner Sprache das Seyn ist, möchte ich lieber das Wort nennen.«81 Während Jacobi nach Erklärung sucht und sich so in Distinktionen, »Kunstwörter« und philosophische Sprache verstrickt, zielt Hamann auf das Wort, in dessen Folge seine Sprache nicht mehr benutztes Instrument, sondern umfassendes Prinzip ist. Seine Metakritik ist daher eine Metakritik der Sprache im Sinne eines genitivus subiectivus: es ist nicht der Schriftsteller, der, sich der Sprache bedienend, ein Urteil fällt, sondern die Sprache selbst nimmt, indem sie wirkt, die krisis vor. Hamanns zweifelndes »weil ich noch nicht mit mir selbst einig bin, ob ich wirklich zu urtheilen im stande bin«,82 das sich auf den David Hume bezieht, muss daher fundamentaler verstanden werden, als es der konkrete Briefkontext offenlegt: Hamann kann deshalb nicht sagen, ob er urteilen kann, weil das Urteilsvermögen im allerletzten nicht in seiner Hand steht, sondern abhängig ist vom Wort vor allen Worten. Allerdings lässt Hamann den Leser weitgehend im Unklaren darüber, wie auf dieser Basis ein guter Text auszusehen hätte. Er ist sich der Unsicherheit offensichtlich bewusst, wenn er sich um Annäherung bemüht: »Ich finde diesen Augenblick die Erklärung dessen, was ein guter Styl, und weiß keinen bessern als: Proper words in proper plans.«83

3.

Was heißt: Sprachprinzip statt Pantheismus?

Dem Streit um Pantheismus, Fatalismus und Atheismus hat Hamann »Christentum und Luthertum« als »res facti, lebendige Organe und Werkzeuge der Gottheit und Menschheit« entgegen zu setzen. Jedoch von res facti ist explizit in Hamanns Briefen so gut wie nichts zu lesen. Luthertum und Christentum werden 80 Das christologisch-theologische Zentrum der Sprachkritik wird bereits am 1. 12. 1784 deutlich, wenn Hamann dem spinozischen hen kai pan das to pan estin autos aus Sir 43,27 als »metakritische Korrelatformel« entgegensetzt, die »das Personale als das Wahrheitsmoment des Personalismus einerseits und das Wahrheitsmoment des spinozistisch Holistischen andererseits« zusammenhalten soll. Zitate aus Oswald Bayer: Spinoza im Gespräch zwischen Hamann und Jacobi. In: Eva Schürmann / Norbert Waszek / Frank Weinreich (Hg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung II/44), S. 319–325. 81 ZH VII, 175,17f. 82 ZH VII, 154,22f. 83 N IV, 459,28f.

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nicht erläutert, auch direkte Bezüge lassen sich nur mühsam finden. Will man Hamann nicht einer Verfehlung seines eigenen Anspruches verdächtigen, so steht zu vermuten, dass die res facti nur indirekt zur Sprache kommen. Das »freundschaftl Geschwätz« ist in der Konsequenz kein inhaltsleeres Geschwätz, obgleich die Worte, mit denen es daherkommt, solches nahelegen könnten. Das Alltägliche, das weite Teile der Korrespondenz zum Inhalt haben, weist über sich hinaus.84 Denn Hamann thematisiert sich in ihm bedingungslos selbst, in seinem Verhältnis zur Natur und zur Geschichte. Diese Selbst-Thematisierung steht unter dem immer wieder niedergeschriebenen Stichwort der Vorsehung. Von Luthertum und Christentum zu reden heißt danach nichts anderes, als von sich selbst zu reden. Als These ausgedrückt: Gegen Fatalismus, Atheismus und Pantheismus setzt Hamann Luthertum und Christentum, indem er sich selbst als Natur- und Geschichtswesen durch die Vorsehung geleitet (aber nicht determiniert) beschreibt und seinen Leser »heimsucht«. Der philosophischen Kunst und dem Bemühen um Distinktionen wird die Einheit entgegengehalten, die sich dem Leser durch die Selbstthematisierung hindurch aufdrängen soll. Nur, wenn Einheit und Mittelpunkt in dieser Art nicht aus dem Blick geraten,85 sind Offenbarung und Vernunft keine Gegensätze. Nur auf diesem Wege erscheint dann Jacobis – falsche – Themenstellung zu überwinden zu sein. Dies alles ist jedoch nicht so zu verstehen als rede Hamann einmal von Sprachprinzip und dann von Luthertum bzw. Christentum, oder : einmal vom Wort und sodann von sich selbst, sondern das gehörte Wort ist gerade das Wort, das in der Selbstthematisierung laut werden soll. Die eigentliche Umsetzung des Sprachprinzips, dessen Programm lautet: »Was in deiner Sprache das Seyn ist, möchte ich lieber das Wort nennen«,86 geschieht also auf keinem anderen als dem angedeuteten Wege. Verlangt dieses nach einem anderen Stil, so ist dieser auf das engste mit Hamanns freundschaftlichem Geschwätz verbunden. Dass das Sprachprinzip als Alternative gerade zum Pantheismus benannt wird, ist weder nebensächlich noch allein im engen Kontext dieses Beitrages bedeutsam. Vielmehr muss es dem Hamannschen Denken insgesamt um eine Überwindung des zeitgenössischen Pantheismus gehen. Zur Erhärtung dieser Behauptung genügt eine abschließende kurze Besinnung auf die Metapher des Buches. Hans Blumenberg sieht in Hamann zu Recht einen »vielfältige[n] Liebhaber der Metapher«87 des Buches, der »aus der Zweizahl der großen Bücher die Dreizahl gemacht hat – Buch der Natur, Buch der Offenbarung und Buch der 84 85 86 87

Vgl. exemplarisch den Beitrag von Knut-Martin Stünkel in diesem Band. Vgl. ZH V, 271 (Brief an F.H. Jacobi vom 1. 12. 1784). ZH VII, 175,17f. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1986 (stw 592), S. 179.

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Geschichte«.88 Dann aber ist es – metaphorisch gesprochen – unumgänglich, eine »Anreicherungsfähigkeit des Welttextes durch den Menschen«89 zu behaupten, denn, wiederum mit Blumenberg (wenn auch dort mit Bezug auf Francis Bacon) gesprochen: Daß Neues sein und gefunden werden könne, […] würde auch der die Neuzeit so angemessen ausdrückende Pantheismus zu negieren haben. Gerade wegen der Vergöttlichung des Menschen und der ganzen Natur besaß dieser keine Basis mehr für die Ausdrucksqualität der Welt und mußte die Vollständigkeit der Realisierung ihres Prinzips in ihrer Erscheinung annehmen. Der deus sive natura als letzte Wirklichkeit selbst, wenn auch zugänglich nur in seinen Attributen Ausdehnung und Denken, kann keine verweisende Funktion haben, sich aber auch nicht vorenthalten, verbergen oder entbergen. Wenn es immer das letzte Selbst ist, was sich zeigt, wird die Buchmetaphorik gegenstandslos.90

Kurzum: damit es Geschichte bzw. ein Buch der Geschichte (oder auch nur ein Buch der Natur) geben kann, muss eine Alternative zum Pantheismus gefunden werden. Allerdings ist Hamann alles daran gelegen, Natur und Geschichte nicht zu entgöttlichen, das zeigte die Hervorhebung des Vorsehungsgedankens. Hamann verlangt nach res facti als Werkzeugen Gottes und der Menschheit. Wenn Gott und die Menschen am Buch der Geschichte schreiben, reicht die Einheit des deus sive natura nicht hin, um den Schreibprozess verständlich zu machen. Konkrete Ereignisse und geschichtlicher Fortschritt sind nur denkbar, wenn die Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf aufrechterhalten bleibt und zugleich das Geschöpf sich als durch die göttliche Vorsehung bestimmt begreift. Hamann ringt um ein Denken und eine Sprache, die nicht den Fehler Jacobis wiederholt, eine Sprache und damit eine Sphäre des Glaubens jenseits der Philosophie zu etablieren. Zugleich ist er sich bewusst, dass die Sprachwege der Philosophie ihn nicht zum Ziel führen. Die Einheit, die im »freundschaftl Geschwätz« aufscheinen soll, verlangt letztlich nach Mystik, bis dass res facti schließlich für das Wort eintreten können: »Schmecken und Sehen wie freundlich der Herr ist, übertrifft alle Beweise ist der beste Dank, Schild und Lohn, den wir dem Geber bringen können.«91

88 89 90 91

Ebd., S. 91. Ebd. Ebd., S. 90. ZH V, 267,31–34 (an F.H. Jacobi vom 14. 11. 1784).

III. Der Briefautor. Lebenskontext und regionale Beziehungen

Knut-Martin Stünkel (Bochum)

Krankheit als Katapher. Briefliche Nosologie bei Johann Georg Hamann Sie machen mich beben, wenn Sie mir von Ihren Krankheiten reden. (Friedrich der Große an Voltaire)

I.

Einleitung

Von Hegel in seiner Rezension von Hamanns Schriften bis hin zu Kurt Christ in seiner Porträtskizze nach hypochondrischen Briefen von 1988 erstreckt sich die Galerie der Leser, die sich über den hohen Grad der Missachtung der sozialen Grundregel der Dezenz verwundern, welche sich in Hamanns Schriften und insbesondere in seinen Briefen findet, und die Bedauern für seine Briefpartner zeigen, welche gezwungen waren, diese unappetitlichen Auslassungen zu lesen. Dies ist nicht unverständlich, resultiert aber aus einer unterschiedlichen Interpretation des Konzeptes Vertraulichkeit, welches Hamann viel weiter auslegt als seine späteren Leser. Wenn er in einem Brief an Johann August Eberhard freundlich-treuherzig ankündigt: »Erlauben Sie mir, HöchstzuEhrender Herr Sie mit einer ähnlichen Freymütigkeit in meine häuslichen Kleinigkeiten blicken zu lassen«, da hier, in der Häuslichkeit des Herdes, mit Heraklit auch Götter seien,1 dann beinhaltet dies eben als Ausdruck des Individuellen nicht nur Idyllisches und Anheimelndes, sondern auch und gerade dies Indezente und Degoutante. Hamann selbst zeigt sich, was die Aufnahme seiner vertraulichen Berichte betrifft, optimistisch. An Moses Mendelssohn schreibt er : »Ich besorge nicht, liebster Freund, daß Ihnen dieser vertrauliche Ton eckel und beschwerlich seyn wird, in dem ich mich über meine kleine Angelegenheiten gegen Sie ausgeschüttet.«2 Die kleinen Angelegenheiten haben es in sich. Insbesondere der Dysfunktionalität von Hamanns Körper ist breiter Raum in seinen Schriften gewidmet. Derjenige Autor, der diesem Komplex in Hamanns Autorschaft den breitesten Raum gewidmet hat, H.A. Salmony, schreibt hierzu: »Es wäre ein endloses 1 Vgl. ZH III, 7,17–19. 2 Hamann an Mendelssohn vom 13. September 1770 (ZH III, 5,9–11).

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Unternehmen, wollte man aus Hamanns Briefen die Klagen, Schilderungen, Berichte über seinen Gesundheitszustand, über seine Krankheiten, über echte und eingebildete körperliche Leiden, über Rezepte und Medikamente zusammenstellen. Von den frühen Briefen bis hin zu den letzten reißen die Berichte über eine Fülle verschiedener Krankheiten und über Quacksalberei am eigenen Körper nicht ab; die Briefe sind in ihrer Gesamtheit ein quälendes Zeugnis lebenslanger unablässiger Selbstbeobachtung.«3 Die ausführliche Deskription von Krankheitsbildern ist dabei nicht nur aufsässig abstoßend, sondern scheint auch bei dem nach Oswald Bayer »aus der Wurzel seiner Existenz heraus auf Kommunikation«4 bedachten Hamann kommunikativ kontraproduktiv zu sein, denn noch heute gilt im gesellschaftlichen Verkehr die Vorgabe, seinen Gesprächspartner nicht mit der eingehenden Darstellung der eigenen Krankheitsgeschichte zu behelligen und zwar nicht so sehr, weil es diesen abstoßen, sondern vielmehr, weil es diesen als Nichtbetroffenen langweilen könnte und selbst ein erhofftes Mitleiden unmöglich macht. Hamann jedoch macht sich beider Vergehen gegen die kommunikative Vernunft schuldig. Nichtsdestoweniger sind die durch Länge wie auch durch Intensität quälenden Schilderungen von Krankheit Teil eines bestimmten Kommunikationsprozesses, der Hamanns Autorschaft insgesamt ausmacht.

II.

Der kommunizierende Hypochonder

Grundsätzlich ist eine gewisse Neigung der Zeit Hamanns zum eingehenden Krankheitsbericht, sei es im persönlichen Gespräch, sei es in brieflicher Kommunikation, nicht zu unterschätzen. Dies gilt insbesondere auch für die intellektuelle Elite in Hamanns unmittelbarem und mittelbarem Gesichtskreis. Glaubt man seinen frühen Biographen, so scheint sich etwa Kant gerne über Gesundheitstipps mit anderen ausgetauscht,5 sich leidenschaftlich gerne aber zudem über Fragen ge- und besonders misslingender Verdauung unterhalten und beratschlagt zu haben, viel weniger bereitwillig jedoch über hochgeistige und philosophische Themen.6 Wenn man mit Kant in kommunikativen Kontakt 3 Hansjörg Alfred Salmony : Johann Georg Hamanns metakritische Philosophie. Zollikon 1958, S. 121f. 4 Oswald Bayer: Einführung. In: Hamann. Insel Almanach auf das Jahr 1988. Hg. v. Oswald Bayer, Bernhard Gajek, Josef Simon. Frankfurt a.M. 1987, S. 15. 5 Vgl. Ludwig Ernst Borowski: Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants. In: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L.E. Borowski, R.B. Jachmann und A.Ch. Wasianski. Hg. v. Felix Groß. Berlin 1912 (Nachdruck Darmstadt 1968), S. 53. 6 »Ungeachtet des schwächlichen Körpers war Kant in seinem ganzen langen Leben nie krank gewesen. Die beschwerliche Absonderung und der daraus entstehende Druck der Blähungen

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treten wollte, sprach man am Besten über scheiternde Verdauung, nicht aber über Kritik.7 Hamann selbst hat dies sehr wohl gewusst und spricht brieflich über gemeinsame ›Experimente a posteriori‹, die aber zumeist scheitern.8 Unablässige Selbstbeobachtung mit Perspektive auf die Körperfunktionen scheint jedenfalls nicht allein Hamanns Privileg zu sein. Kants Biograph Jachmann schreibt über ihn: »Es hat vielleicht nie ein Mensch gelebt, der eine genauere Aufmerksamkeit auf seinen Körper und auf alles, was diesen betrifft, angewandt hat als Kant«, hält es aber für nötig, sofort beschwichtigend zu erklären: »aber höchst merkwürdig ist es, daß zu dieser genauen Aufmerksamkeit ihn nicht hypochondrische Grillen, sondern vernünftige Gründe bewogen.«9 Am Umgang mit Verdauung manifestiert sich die Vernunft. Dies zeigt sich mit Blick auf Vergangenheit wie Zukunft sehr deutlich. Bekanntlich war ein weiterer oft von Hamann bedachter Zeitgenosse, Voltaire nämlich, vernünftigerweise bereit, den gesamten eigenen Nachruhm für eine ihm offenbar nicht selbstverständlich gelingende Verdauung nach einem guten Essen jetzt und hier herzugeben. Und auch in früherer Zeit nennt der wohl beste Arzt unter den Philosophen, Moses Maimonides, selbst ein Vertreter rationalen Philosophierens, als wichtigste Lehre der Heilkunst die gelingende Verdauung: »Man sorge stets dafür, daß man, wenn nicht ein wenig Diarrhoe, doch offenen Leib habe. Es ist dies eine Hauptregel der Heilkunst. Wenn der Stuhlgang ganz fehlt, oder nur mit Mühe erfolgt, sind schwere Krankheiten im Anzuge.«10 Nach Nadler hat Hamann »zu der großen Brüderschaft der Königberger Hypochonder gehört und konnte mit Kant um die Ehre wetteifern, dieser Brü-

7 8

9 10

auf den Magenmund war das einzige Übel, worüber er sich zu beschweren hatte […] Obgleich Kant nie seinen Geist zum Gegenstande seines Gespräches wählte und auch jedes Gespräch darüber absichtlich vermied, so sprach er desto mehr von seinem Körper. Er rezensierte sehr oft seine körperliche Beschaffenheit, er teilte seinen Freunden jedes körperliche Gefühl und jede Veränderung mit, die sich mit seinem Körper zutrug. Besonders sprach er ganz gewöhnlich über das Übel, welches ihn öfters drückte und auf seinen Kopf so viel Einfluß hatte. Er brachte dabei sehr viele gelehrte und scharfsinnige Erklärungen an und pflegte bei der Gelegenheit darüber zu scherzen, daß man in unseren Zeiten, selbst in großen Gesellschaften, dergleichen Gespräche über natürliche Angelegenheiten, z. B. Hämorrhoiden, nicht mehr für unschicklich halte, da man sich ehemals als ein Geheimnis ins Ohr geraunt, daß jemand die güldene Ader habe.« (Reinhold Bernhard Jachmann: Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund. In: Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen [wie Anm. 5], S. 186f). Vgl. Borowski: Darstellung (wie Anm. 5), S. 55. »Wollte heute wieder einen Versuch machen mit einem Experiment / posteriori. Es ist mir aber unmöglich und Kant geht es ebenso. Ich habe gestern den Anfang gemacht mit dem destillierten Wasser der Pfeffermintze, das mir gut schmeckt, wie alles.« Brief Johann Georg Hamanns an Heinrich Schenk vom 16. Juli 1786 (ZH VI, 478,10–13). Jachmann: Kant geschildert in Briefen (wie Anm. 6), S. 194. Moses Maimonides: Das Buch der Erkenntnis. Hg. von Eveline Goodman-Thau / Christoph Schulte. Berlin 1994, S. 169.

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derschaft vorzustehen.«11 Zudem drang er mit den Jahren »in den inneren Kreis derer ein, die das Zipperlein gezeichnet und ausgezeichnet hat.«12 Hypochondrie war als nicht nur ein persönliches, sondern auch ein gesellschaftliches Unternehmen. Die überwundene Hypochondrie galt zu Kants und Hamanns Lebzeiten als »Zeichen eines gehobenen geistigen Status.«13 Doch meint die Nachwelt einen gravierenden Unterschied konstatieren zu können. Denn bei aller Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper übersteigen bei Kant die brieflichen Mitteilungen »doch nicht das Maß dessen, was normalerweise in einer Korrespondenz an Sorge für die eigene Gesundheit, für Diät zum Ausdruck kommen kann. In ihrem jeweiligen Zusammenhang erscheinen sie als begreifliche Bekundungen einer vernünftigen Haltung zur Leiblichkeit.«14 Angesichts seiner Leiblichkeit ist Kants Nosophobie vernünftig. So meint jedenfalls optimistisch Salmony, ein Brief Hamanns an Herder vom 18. April 1783 weist jedoch auf ein anderes Verhalten Kants hin: Ich besuchte heute unsern Kant, der ein sehr sorgfältiger Beobachter seiner Evacuationen ist, und diese Materie ungemein und oft am sehr unrechten Orte widerkaut, daß man öfters in Versuchung komt ihm ins Gesicht zu lachen. Beynahe wäre es mir heute auch so gegangen; ich versichert ihm daß mir die kleinste mündl. und schriftl. Evacuation eben so viel zu schaffen machte, als die seinigen a posteriori.15

Gesetzt den Fall, daß die frühen Biographen in Sachen des hypochondrischen Verhaltens Kants16 nicht maßlos übertrieben haben, so manifestieren sich in Königsberg zu Hamanns Lebzeiten zwei Arten des Umgangs mit Krankheit in Tat und Schrift. Es gibt einerseits eine (nachahmenswürdige) vernünftige oder 11 Josef Nadler : Johann Georg Hamann 1730–1788. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg 1949, S. 181. 12 Nadler : Hamann (wie Anm. 11), S. 181. 13 Esther Fischer-Homberger : Hypochondrie. Bern/Stuttgart 1970, S. 41. 14 Salmony : Hamanns metakritische Philosophie (wie Anm. 3), S. 122. 15 ZH V, 36,1–6. 16 Für eine moderne Hypochondriediagnose und -erläuterung bei Kant vgl. Hartmut Böhme / Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M. 1983, S. 119: »Die Konzentration des männlichen Leibes, der durch strenge Moralität und Durchrationalisierung der Handlungsfelder repulsiv abgegrenzt ist gegen erweichende Sympathien und attraktive Atmosphären, straft sich durch Empfindungslosigkeit der angespannten Nerven. Im Inneren des männlichen Körperpanzers wachsen unvermutet und regellos Reizbündel auf, phantastische Grillen, illusionäre Organempfindungen, peinliche Selbstaffektationen. Sie sind Konversionen überspannter Selbstkontrolle: das ist Hypochondrie. […] In den medizinischen Theorien wird durchschnittlich ein Heranrücken des hysterischen oder hypochondrischen Leibes an die Natur als Therapie empfohlen, um durch jeweils polar entgegengesetzte Reize die Homotonie des Körpers und damit zugleich ein moralisch gesundes Maß des Subjektes wiederzugewinnen. Anders dagegen Kant: er kennt nur das Rezept, durch rituelle Moralisierung den Weg der Affektbeherrschung, Phantasiekontrolle und Verdrängung des Leibes zu Ende zu gehen.« Zu Kants eigener Hypochondrie vgl. ebd., S. 389–397.

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von Vernunft geleitete Selbstbeobachtung in der Person Kants und andererseits die ins Krankhafte gesteigerte Selbstbeobachtung, die Hypochondrie im pathologischen Sinne. Diese Umgangsweisen stehen zudem noch in Person Hamanns und Kants in direktem Kontakt. Der eigener Auskunft nach in diesem zweiten Sinne sehr wohl hypochondrische und grillenhafte Hamann scheint zum einen diese vernünftige Neigung der Selbstbeobachtung und zum anderen die kommunikative Instrumentalisierung von eigenen Körperzuständen ins Groteske und ihr Gegenteil zu übersteigern. Er mutet den Empfängern seiner Briefe über die vernünftige Selbstbeobachtung und Selbstmitteilung hinaus und nicht ohne ein gewisses diebisches Vergnügen einiges mehr zu. So beglückt er Jacobi nicht nur mit der Beschreibung, sondern mit einem konkreten materialen Beweis seiner körperlichen Gebrechen: »Verzeihen Sie, daß Sie Beylage mit einem Macul meiner triefenden Nase zurück erhalten, auf deren Ausflüße ich nicht Zeit hatte Acht zu geben. Es ist alles gut gemeynt, und weiter geht die Freundschaft nicht.«17 Obwohl Jacobi nicht nur den Worten Hamanns, sondern auch dem Brief in seiner Materialität selbst heilende Wirkung zuschrieb (seine Zahnschmerzen wurden durch einen Brief Hamanns wunderbarerweise geheilt und er in die Lage versetzt, wieder Nahrung zu sich nehmen zu können18), darf man sich doch ziemlich sicher sein, daß er das nun nicht unbedingt wissen wollte. Hamann übertreibt also eine gängige und sozial akzeptierte Praxis vernünftiger Selbstbeobachtung und Mitteilung. Denkt man jedoch an seine Position zum Anspruch der Vernunft auf Begründungsfähigkeit für das menschliche Leben, so scheint seine Praxis schon weniger unmotiviert in ihrer Pertinenz und Penetranz zu sein. Für ihn gilt, wie er an Jacobi schreibt, folgendes: »Ich kann nicht anders als unter so groben Bildern davon reden.«19 Die Übertreibung wird so zur sprachlichen Überwindung, in der das krankhafte Sprechen von der Krankheit diese aufs äußerste potenziert. Wovon redet Hamann also in diesen möglichst groben Bildern? Aus der Feder von Kurt Christ stammt folgende Diagnose der hauptsächlichen Krankheit Hamanns, der pathologische Befund:

17 Brief Hamann an Jacobi vom 18. Februar 1786 (ZH VI, 275,21–23). 18 »Ich lag gestern in meinem großen Lehnstuhl gedrückt mit starken Zahnschmerzen, als der Bediente zum zweyten Mahl v der Post kam u Deinen Brief in der Hand hatte. Er kam mir gleich so schön dick entgegen dieser sehnlich erwartete Brief. Ich erbrach ihn im Zweifel, ob ich ihn unter meinen Schmerzen würde lesen können. Ich fieng an, las eine Seite, u noch eine, u wieder eine, bis zur letzten. Da sah ich mich nach meinen Zahnschmerzen um, die waren weg. Und siehe da, ich stand auf, u gieng zu Tische.« Brief Jacobis an Hamann vom 20. November 1786 (ZH VII, 68,22–28). 19 ZH VI, 372,7.

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[Sie] besteht […] in einem durch Strangurie verursachten Nervenleiden der Hypochondrie, das Nervenanfälle, Launen, Anwandlungen hervorruft, insofern die vegetative, nicht beeinflußbare Peristaltik des Magens und der Gedärme das übrige Nervensystem in Phasen der Verstopfung beinahe paralysiert, es aber ebenso heftig in entgegengesetzte Richtung beflügelt und in höchste Irritation versetzt, sobald die ewig erforderlichen Kämpfschen Klistiere ihre befreiende Wirkung in immer auftretenden Diarrhöen zeitigen.20

Diese Krankheit führt zu einer Überentwicklung der Einbildungskraft, insbesondere in der Beobachtung des eigenen Körpers.21 Dies bedeutet also, daß im Falle Hamanns ein Prozeß des Sichaufsteigerns von Krankheit und auf Krankheit bezogener Einbildungskraft stattfindet. Diese hypochondrische Spirale führt laut Christ dazu, daß Hamann sich in zunehmendem Maße gerade in seiner Korrespondenz mit sich selbst beschäftigt, wobei er sich »der unmittelbaren Konnexion zwischen der Nerventätigkeit des Leibes und der des Hirns«22 völlig gewiß ist. Hamann erkennt also die psychosomatische Korrespondenz von Leiblichkeit und Denken aus eigener Erfahrung. Die eigene Verstopfung mit »Schleim, Morast und Cruditäten«23 begründet die eigene Unfähigkeit zu denken so weitgehend, daß geistige und körperliche Produktion in Entsprechung zueinander stehen. Doch blickt man auf die sprachliche Form der hypochondrischen Selbstbeschreibung, so scheint das extensive und obsessive Verweilen bei seinen misslichen körperlichen Zuständen schon mehr zu sein als die Äußerungen eines hoffnungslos hypochondrischen Charakters. Sie sind vielmehr in der jeweiligen biographischen Situation bewußt eingesetzte Autorhandlungen.24 Weder unsere Seeligkeit noch die Seeligkeit anderer beruht auf unserem Thun und auf die Behutsamkeiten desjenigen, das wir thun; sondern diese Aufmerksamkeit auf uns selbst und auf die Lehre des Evangelii ist ein herrlich und das einzige Mittel, uns im seeligmachenden Glauben zu erhalten und andere zur Annehmung desselben aufzumuntern.25

Es ist an dieser Stelle nicht angestrebt, Diagnose und Analyse von Christ zu reinszenieren, sondern es soll die sprachliche Struktur gekennzeichnet werden, 20 Kurt Christ: Johann Georg Hamann (1730–1788). Eine Porträtskizze nach hypochondrischen Briefen. In: Johann Georg Hamann 1730–1788. Quellen und Forschungen. Hg. von Renate Knoll. Bonn 1988, S. 233–276, hier S. 249. 21 Christ: Hamann (wie Anm. 20), S. 234. 22 Christ: Hamann (wie Anm. 20), S. 249. 23 ZH VI, 371,35. 24 »Der Magus war sich dessen wohl bewußt, wie sehr sein ›leibhaftes‹ Philosophieren sowohl für die rationalistische Theologie als auch für die kritische Philosophie seiner Zeit als Herausforderung galt.« (Eva Kocziszky : Hamanns Kritik der Moderne. Freiburg i.Br./ München 2003, S. 105f) 25 Londoner Schriften, S. 300, 24–31.

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mit der Hamann durch die Krankheitsbriefe sein philosophisch-theologisches Ziel zu erreichen sucht. Mindestens vier Ebenen und entsprechende Fragestellungen sind also bei Hamanns Beschreibungen seiner Krankheit zu unterscheiden: zunächst die Frage nach der ›tatsächlichen Krankheit‹, dann die Frage nach der Krankheit als Kommunikationselement (im alltäglichen und brieflichen Gespräch), drittens die philosophische Deutung und Bedeutung von Krankheit und viertens die sprachlich-stilistische Funktion der Krankheit in Hamanns Autorschaft.

III.

Wider die Krankheit als Metapher

Durch Christ und Salmony ist man hinsichtlich der Art von Hamanns Krankheit und dem häufigen kommunikativen Einsatz derselben in den Schriften hinreichend informiert. Im Folgenden möchte ich das Hauptgewicht der Überlegungen auf die letzten beiden Fragestellungen legen. Zu diesem Zwecke ist ein Positionsvergleich mit späteren Ideen aufschlussreich. Selbstverständlich spielt der Titel dieses Aufsatzes auf die wohl bekannteste Schrift Susan Sontags Illness as Metaphor (1978) an. Es soll jedoch nicht Hamanns Beschreibung von Krankheit als Fall der von Sontag analysierten Metaphorisierung der Krankheit dargestellt werden. Vielmehr lässt sich gerade in der Gegenüberstellung mit dem Konzept der ›Krankheit als Metapher‹, welche von Sontag in ihrem Essay analysiert wird, die spezifische Stoßrichtung von Hamanns deskriptiver Auseinandersetzung mit (seiner) Krankheit herausstellen. Für Hamann wie auch für Susan Sontag gilt dabei: entscheidend ist der sprachliche Umgang mit Krankheit, d. h. welche Funktion der Krankheit in ihrer und durch ihre Beschreibung zuerkannt wird. Sontag plädiert für eine entschlossene sprachliche Entdämonisierung von Krankheit, die sich darin manifestiert, daß es dem Individuum nach einer eingehenden Selbstaufklärung gelingt »sich so weit wie möglich vom metaphorischen Denken zu lösen«.26 Diese Entmythologisierung durch Entmetaphorisierung geht in zwei Richtungen, und zwar ebenso gegen die Apologie der Tuberkulose, wie auch gegen die Verteufelung der Krebserkrankung. Der transzendierende Gebrauch von Krankheit soll überhaupt sprachlich unmöglich werden. TBC ist weder Zeichen für Vergeistigung noch Krebs Zeichen von Verworfenheit.27 26 Susan Sontag: Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern. Frankfurt a.M. 2005, S. 9. 27 Auch Hamann selbst ist am Anfang von diesem Gebrauch der Krankheit nicht frei: »So wie die Krankheit uns.[eres] Leibes d[as] Verderben uns.[erer] Seele ausdrückt; so ist der gefallene Mensch ein Sinnbild des gefallenen Engels und sein Fall eine Folge in der Natur vom Fall des letzteren.« (Londoner Schriften, 173, 28–31). Zu bemerken ist jedoch, daß diese metaphorische Verwendung der Krankheit nicht einem bestimmten Individuum einen

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Sontag benutzt hierzu ein für unseren Zusammenhang besonders signifikantes Beispiel aus Hamanns nächster Umgebung. Einer solchen Metaphorisierung der Krankheit, die eminente praktische Folgen zeitigt, macht sich nämlich etwa Immanuel Kant schuldig, wenn er im Paragraph 78 seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schreibt: »Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar ; weil der Kranke nicht will geheilt sein und sich der Herrschaft des Grundsatzes entzieht, durch den dies geschehen könnte.«28 Leidenschaften werden hier metaphorisch pathologisiert und hierdurch das entsprechende Verhalten der Menschen. Krankheit ist also Metapher für eine geistige Verfehlung des Widerstandes gegen die Herrschaft des Grundsatzes. Als Krebsschäden korrumpieren die Leidenschaften die reine praktische Vernunft und sind als unheilbar nur durch eine Radikalkur – oftmals gegen den Willen des Patienten – zu beseitigen.29 Doch weit davon entfernt, in dieser Weise für den Anspruch reiner Vernunft instrumentalisierbar zu sein, ist gerade diese Krankheit Anzeige für etwas anderes: »Krebs als Krankheit, die sich überall verbreiten kann, ist eine Erkrankung des Körpers. Weit davon entfernt, irgend etwas Geistiges zu enthüllen, enthüllt sie, daß der Körper, so betrüblich das sein mag, nur Körper ist.«30 Gerade diese Krankheit macht in ihrer radikalen Körperlichkeit im Unterschied zur Tuberkulose, die gerne als Zeichen besonderer Vergeistigung gesehen wird, deutlich, daß Krankheit gesehen werden muß als eine umwerfende Erfahrung des Offensichtlichen, der menschlichen Körperlichkeit, die die Flucht in den reinen Geist radikal unterbindet. In diesem Sinne ist die Krankheit eine dekumoralischen Vorwurf macht, sondern für alle Menschen qua Menschen gilt, und so ebenso ein heilsames Zeichen der conditio humana sein kann. 28 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 10: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, S. 600. Vgl. Hamanns Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht (N III, 193,28–33): »[…] so läßt sich doch ein eben so gemeinschaftliches Intereße bald absehen, den Krebs einer Philosophie, welche leider! die Vernunft und Sittlichkeit der großen Welt mehr als zu sehr angesteckt, auch unter dem gemeinen Volk auszubreiten und selbiges durch ein Geschwätz los zu machen, nach der Weise Aarons, der durch den güldenen Kälberdienst das Volk fein wollte anrichten […]« Hier findet eine signifikante Umdeutung statt: nicht der Krebs dient als Metapher für etwas, sondern die Philosophie als Metapher für Krebs. In Golgatha und Scheblimini heißt es: »Wie den Kindern die Würmer, gehen den feuchtigen Buchstabenmenschen die Gesetze ab, welche auch die güldene Ader und Nymphe Egerie mancher philosophischer Regierung sind.« (N III, 298 u. HHE VII, 74f.). 29 Dieses Bild ist jedoch zu einfach: »Auch der virulente Gebrauch der Krankheit zur Simplifizierung von komplexen Situationen, wie man sie immer wieder in den politischen Diskursen findet […] konfrontiert die Krebspatienten täglich mit der Vorstellung eines unbesiegbaren Bösen, die kaum hilfreich für einen aktiven Kampf gegen die Krankheit sei.« (Daniel Schreiber : Susan Sontag. Geist und Glamour. Berlin 2007, S. 178). 30 Sontag: Krankheit als Metapher (wie Anm. 26), S. 20.

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vrierende Tabuverletzung und wird als obszön, d. h. abscheulich und sinnlich abstoßend empfunden.31 Zudem wird Krebs mit dem Entstehen von Tumoren als eine »dämonische Schwangerschaft«32 beschrieben und entsprechend sind die krebsartigen Leidenschaften nach Kant »Gemütsstimmungen, die mit viel Übeln schwanger gehen« und auch »ohne Ausnahme böse« und »moralisch verwerflich« sind.33 Krebs ist hier bei Kant Metapher oder Zeichen moralischer Verderbtheit. Im übertriebenen Sprechen über die Krankheit nimmt Hamann ihr, wie von Susan Sontag gefordert, den Übertragungscharakter. Krankheit weist nicht mehr über sich hinaus, sondern nur auf sich selbst als verstörendes und aufrüttelndes körperliches Ereignis, dem ein spezifischer Ernst eignet. In ihrem späteren Essay Aids und seine Metaphern äußert sich Susan Sontag über ihre Absicht gegenüber Krebspatienten: »… sie sollten Krebs einfach als Krankheit betrachten lernen – eine ernste Krankheit, aber eben eine Krankheit, weder Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Eine Krankheit ohne ›Bedeutung‹.«34 Und dies geschah aus folgendem Grund: »Ich hatte nämlich die schmerzliche Beobachtung gemacht, daß die metaphorischen Verbrämungen der Krebserkrankung sehr reale Konsequenzen haben…«.35 Diese Konsequenzen bestehen in einem Fatalismus der Denkungsart, der den Kranken daran hindert, Maßnahmen zu seiner körperlichen Gesundung zu ergreifen. Die Krankheit als Metapher zu verwenden ist eine Denunziation der Körperlichkeit und so eine Flucht vor der Wirklichkeit, entweder in ein vergeistigtes Himmelreich oder aber in ein Fegefeuer, was beides dasjenige verdeckt, wofür die Krankheit steht.

IV.

Der Kranke als Weiser – Krankheit als Weisung

Hamann empfindet sich von Krankheit in ganz spezifischer Weise gezeichnet. In seinen Gedanken über meinen Lebenslauf beschreibt er für seine Jugendzeit nur eine nennenswerte Krankheit als ›Heimsuchung Gottes‹, die allerdings sichtbare bezeichnende Folgen hat: Ich trage ein Zeichen von meiner Genesung an diesem Aussatz an meinem kahlen Haupte, wo die Haare nach dem Rand, worinn der Hut dasselbe einschlüst, völlig ausgefall[en] sind. Sie scheuern aus v die Wurzeln derselb[en] waren voll Eiters, der Gestank unerträgl. […] Während derselben habe ich große Anfälle von Schwindel und

31 32 33 34 35

Vgl. ebd., S. 12. Ebd., S. 16. Kant: Anthropologie (wie Anm. 28), S. 601. Sontag: Krankheit als Metapher (wie Anm. 26), S. 86. Ebd., S. 86.

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Schwachheit des Hauptes gelitt[en], von den[en] ich Gott lob! in der Fremde fast nichts mehr empfunden.36

Kann die wohltätige Zeichnung durch diese Krankheit noch konventionell als zu akzeptierende Heimsuchung gelesen werden, gehen die folgenden Krankheitsschilderungen einen wichtigen Schritt weiter. Auch auf dem Krankenlager sind Götter. Nicht metaphorisch, sondern ganz konkret zeitigt die Krankheit positive Wirkungen. An seine Eltern schreibt Hamann am 17. März 1756: Der betrübten Nachrichten von Ihrer beyderseitigen Unpäßlichkeit habe auch auf dem Bette zu lesen bekommen, und muß selbige noch daselbst beantworten, wiewohl in der guten Hoffnung selbiges mit Gottes Hülfe ehstens verlassen zu können. Diese Krankheit wird mir gute Dienste thun und die Stelle einer Frühlingskur vertreten können.37

Wohltätige Krankheiten treten immer häufiger auf. In einem Brief an Herder vom 14. Oktober 1776 beschreibt Hamann seine Erkrankung an einem ›Flußfieber‹ als Element einer ›Entscheidung der Vorsehung‹ hinsichtlich des geplanten aber nicht gewollten Verkaufs eines Teils seiner Bibliothek auf einer Auktion. Über die Krankheit selbst heißt es Zugl. meine gegenwärtige, in allem Betracht wohltätige, heilsame und wunderbare Krankheit. […] Gemeine Leute nennen es das Reckfiber. Mein viertägiges war am Anfange von eben so wenig Kälte, die niemals recht zum Schaudern gekommen ist, und die Hitze verwandelt sich gleich in Schlaf u Ruhe ohne sonderl. Durst. […] Wenig Durst, einen Wohlgeschmack am Essen und eine Wollust daran, doch ohne Gefräßigkeit hab ich in meinem ganzen Leben nicht gehabt als seit dem Ausbruch des Fiebers. Mein Kopf ist Gottlob heiter, mein Gemüth leicht gewesen; die Hitze kam immer gegen den Abend u gab mir den sanftesten Schlaf u die ruhigsten Nächte, die ich auch noch genieße…38

Paradoxerweise befindet sich Hamann oftmals krank wohler als gesund, was in diesem Fall sowohl an dem glücklichen Umstand liegt, das sich die Krankheit »just im Termin der Auktion«39 ereignet als auch daran, daß die Krankheit die 36 Londoner Schriften, S. 319,38–320,10. 37 ZH I, 165,3–7. 38 ZH III, 255,31–256,13. Über eine entsprechende Krankheit mit positiven Wirkungen für das Gesamtbefinden berichtet Hamann in einem Brief an Herder vom 8. Dezember 1783 (ZH V, 106,20–25): »Kommen Ihre Kreutzschmerzen von Verkältung oder Bewegungen der güldenen Ader her? Mein letzter Anfall der Gicht schien mir eine woltätige Wirkung der bittersüßen Stengel zu sein; bestand in einem bloßen Schmerz, der im Liegen und bey einer ruhigen Wärme sehr erträglich war, ohne alle Symptome. Appetit und Schlaf litten fast gar nicht dabey – Ich habe also wenig gelitten und mich desto mehr gepflegt.« 39 Entsprechend beschreibt Hamann die Krankheit in seinem Brief an Friedrich Nicolai vom 22. Dezember 1776 (ZH III, 275,11–19): »Nach einer Quarantaine von 15 runden Wochen hab ich heute meinen Kirchengang halten können. – Außer mancherley speculativischen Bedenklichkeiten und zum theil practischen Schwierigkeiten den Verkauf meines Büchervorraths wirklich auszuführen ereigneten sich zwey entscheidende Vorfälle, welche auch den

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Gebrechen der Gesundheit, lustlose Unersättlichkeit und folgende schwere Verdauungsprobleme und Schlafstörungen heilt. In diesem Sinne ist die Krankheit im Sinne Richard Kochs die Äußerung einer Heilreaktion,40 eine Eukatastrophe. Eine solche wohltätige Krankheit kann nur als wunderbar bezeichnet werden. Diese Paradoxie übersteigt die vernünftige Selbstbeobachtung. Es kann hierbei mithin nicht zwingend um die Vermeidung von Krankheit gehen. In der Tat sind Hamanns Krankheitsbriefe durchaus Teil seines meta-kritischen Projekts. Ein beredtes Beispiel hierfür ist der lange Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, verfasst im Zeitraum vom 4. bis zum 10. März 1788, wo Hamann seine Krankengeschichte mittels diverser biblischer Formulare41 zu einer Anzeige der eigentlichen Situation des Menschen gegenüber den Höhenflügen einer sich autark glaubenden Vernunft macht und somit zu einer Palingenese werden läßt. Nunmehr verfügt Hamann auch über die besondere Technik der Geschichtsschreiber, deren Fehlen er in den Sokratischen Denkwürdigkeiten beklagt hatte: Jetzt fehlt es mir an dem Geheimnisse der Palingenesie, das unsere Geschichtsschreiber in ihrer Gewalt haben, aus der Asche jedes gegebenen Menschen und gemeinen Wesens eine geistige Gestalt heraus zu ziehen, die man einen Charakter oder ein historisch Gemälde nennt.42

Der Brief zeigt, welche charakteristische Gestalt aus der eigenen gemeinen Asche Hamann als Palingenese zu ziehen in der Lage ist. Das briefliche Besprechen der Krankheit richtet sich gegen das indignierte Schweigen der Vernunft über die ihr nach Hamann notwendig zugrunde liegende Körperlichkeit, genauer : eine Körperlichkeit, die nach Hamann sich gerade durch ihre Anfälligkeit und das Bewußtsein hiervon gegenüber dem reinen, sich erhaben inszenierenden Denken auszeichnet. Hamann geht somit einen Schritt weiter (oder tiefer) als die griechischen Apologeten des schönen Körpers und radikalisiert den philosophisch relevanten Körper zum kranken Körper. Somit vertritt er im Gegensatz zu einer Kalokagathie eine Pathokagathie. Ort dieser philosophischen Radikalisierung ist die Sprache des Briefes. Es lohnt sich also ein Blick auf die Art und Weise, wie Hamann von seinen eigensinnigsten guten Willen zu vereiteln im stande sind. Das erste war […] der Deus ex machina einer Krankheit, die anfänglich ein nichts bedeutendes Flußfieber zu seyn […], in ein Gallenfieber überzugehen schien, aber sich bald zu einem förml. Quartan-Fieber erklärte, just im Termin der Auction.« 40 Vgl. Richard Koch: Ärztliches Denken. Abhandlungen über die philosophischen Grundlagen der Medizin. München 1923, S. 2–23. 41 Vgl. hierzu Knut Martin Stünkel: Biblisches Formular und soziologische Wirklichkeit. Elemente einer Hamannschen Soziologie, in: Acta 2006, S. 72–94. 42 Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten / Aesthetica in nuce. Hg. v. SvenAage Jørgensen. Stuttgart 1993, S. 59.

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Krankheiten schreibt. Im genannten Brief an Jacobi gibt Hamann einen detaillierten und sprachlich eindrücklichen Bericht respektive ein charakteristisches historisches Gemälde von seinen diversen Gebrechen. Dieser Bericht ist jedoch in bestimmter Weise geordnet und in gewohnt centonischer Weise zum Ausdruck gebracht. Das Thema ist die in spezifischer Weise erzählte Geschichte eines »schleimichten Faulfiebers«43, also eine Narration, die eigens gestaltet wurde. Die Form der Erzählung wirkt sorgsam gewählt dadurch, daß sie Assoziationen zu bekannten biblischen Erweckungsgeschichten weckt, die sich um den bekannten »schmalen Pfad«44 zum Heil drehen. Hamann beginnt seinen Brief wie folgt: Lieber Fritz Jonathan! Heute ist es ein rundes Vierteljahr, daß ich in dieser feuchten und morastigen Burg residiere, nicht wie Du sie schiltst, sondern wie in einem lustigen Gefilde und fruchtbaren Thal, wo ich meine Palingenesie und |kojkgqiam Act. III. 16 meines Heils, statt des Frühlings erwarte. Gottlob! daß der terminus fatalis des 9. Martii bis zum April verlängert worden! Etiam hoc erat in votis – Ich stehe heute wieder zum ersten mal auf nach einem schweren beynahe viertägigen Lager.45

Der Tag des Briefschreibens ist der Tag des Gedenkens und Auf(er)stehens. Das Feuchte und Morastige – entsprechend beschreibt er seine Verstopfungszustände – ist Hamann zu luftigem Gefilde und blühendem Tale, einer »wohltätigen und heilsamen Wüste«46, wie es später im Brief heißt, geworden, das gesundheitlich scheinbar Unzuträgliche zum eigentlich Heilsamen. Nicht zufällig erscheint an dieser Stelle auch wieder das im Munde Hamanns in Sachen Dezenz beunruhigende Motto von Heraklit: »Auch hier wohnen die Götter sagte jener Philosoph von seiner Küche.«47 Es ist also hinsichtlich der Zumutung von Indezenz wieder einiges zu befürchten. Die Krankengeschichte – mit übrigens wieder viertägigem Krankenlager – wird, dies zeigt das biblische Formular Apostelgeschichte 3,16 im Kontext der Heilung des Lahmen durch Petrus und Johannes, zu einem philosophischen Heilsweg unter Benutzung biblischer Themen und Motive. Der Bibelvers bildet das Leitmotiv der Erzählung. Es heißt im Text: »Und durch den Glauben an seinen Namen hat diesen hier, den ihr sehet und kennet, sein Name stark gemacht; und der Glaube, der durch ihn gewirkt ist, hat diesem gegeben diese Gesundheit vor euer aller Augen.« Dies ist das Wunderbare der Krankheit. Es geht um nicht weniger als die Wiedergeburt der Seele (Palingenese) und die Unversehrtheit (Holokleria) des Heils des Kranken, welches öffentlich zu ver43 44 45 46 47

ZH VII, 414,3. ZH VII, 416,21. ZH VII, 410,3–9. ZH VII, 426,32f. ZH VII, 426,34f.

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breiten ist. Dies ist auch, so macht die Horaz-Sentenz deutlich, Hamanns Sehnsucht. Am 6. März setzt er die durch andere Erläuterungen unterbrochene Krankheits-Erzählung als die Hauptsache seines Briefes fort. Die Erzählung formt sich nach dem Modell des Weges: »Nun fahre ich fort in der Geschichte meiner Krankheit und auf dem Trübsalvollen Weg der Reinigung, die noch immer nöthiger schien als Stärkung.«48 Das Wegmodell ist somit näher bestimmbar : Hamann beschreibt einen Passions- und Läuterungsweg anhand von Krankheit und Verstopfung.49 Wiederum bieten sich zur expressiven Ausgestaltung biblische Vorbilder an. Wie Hiob wird er mit Ausschlag geschlagen: Kurz darauf brach ein Flechtenartiger (herpetischer) Ausschlag auf den äußeren Fingern aus, inwendig wurde die Haut unempfindlich wie Pergament, und mein Rücken soll ein Blumenstück von allen mögl. Arten von Friesel, Peteschen und kleinen Geschwüren [ähnlich] gewesen sein, ein einziges auf der Brust, das ich statt eines Speciminis der übrigen selbst ansehen konnte – und ein paar unter der einen Achsel machten mir viel Schmerzen. Zwey auf dem Rücken unterschieden sich aber durch ihre Größe und Fülle unter einer Brut von kleinen, die erweicht und geöffnet werden mußten, wozu ein äußerlicher Wundarzt erfordert wurde.50

Die eigenen Schreiborgane, die Finger, sind außen von Flechte befallen, dafür aber entsteht innen unempfindliche (geduldige) Pergamenthaut. Dazu ist auf seinem Rücken ein Ereignis eingeschrieben, welches Hamann in seinem Brief mit Blick auf seine Brust mittels des wahrnehmbaren Einzelfalls kommentiert. Beredt beklagt Hamann, daß sein lieber Fritz Jonathan »so ein tummes Geschwätz lesen« muß, bittet aber gleichzeitig um »Mitleiden mit dem alten kranken Mann, der nichts klügeres und besseres schreiben kann.«51 Doch diese Aussage ist mehrdeutig. Es ist eben das Beste und Klügste, was Hamann zu schreiben hat. Man muß sich vor Augen halten, daß auch dieser nach dem 48 ZH VII, 414,25–27. 49 In den Gedanken über meinen Lebenslauf bildet eine entsprechende Verstopfungskrankheit den Vorlauf zu der rettenden Bibellektüre, die zu Hamanns Bekehrungserlebnis führt (Londoner Schriften, 341,21–26): »Ich hatte im vorig[en] Coffeehause einen verstopften Leib auf 8 Tage lang bisweil[en] gehabt und ein[en] erstaunend[en] Hunger, der nicht zu ersättig [en] war. Ich hatte d[as] hiesige starke Bier, als Wasser in mir gesoffen. Meine Gesundheit daher bey all[en] den Unordnung[en] der Lebensart v meines Gemüths ist ein göttl. Wunder, ja ohne Zweifel mein Leben selbst v die Erhaltung desselb[en].« 50 ZH VII, 415,5–13. Über Ausschläge heißt es in den Biblischen Betrachtungen (Londoner Schriften, S. 110,18–24): »Es ist eine bekannte Beobachtung aller Ausschläge, daß je mehr sie auswärtig erschein[en], desto weniger sind sie gefährl., weil die Ausbreitung des Giftes die Schärfe desselben schwächt v je mehr die Oberfläche des Körpers damit bedeckt ist, desto mehr sind die innern Theile davon erleichtert. War der Aussatz der Zöllner v Sünder in den Aug[en] unsers Seel[en]Arztes nicht gleichfalls reiner als der Pharisäer v Schriftgelehrt[en] ihrer?« Der spätere Zöllner Hamann hat dieses womöglich im Gedächtnis behalten. 51 ZH VII, 416,7f.

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Vorbild des heiligen Sebastian »von vielen kleinen Geschwüren punctierter und durchlöcherter«52 Leib nach Hamann das Kleid der Seele ist, welcher die Blöße und Schande derselben nicht verursacht, sondern gnädig bedeckt, indem er durch seine Gebrechlichkeit verhindert, daß die Seele in ihrem Hochmut sich zu göttergleichem Status versteigt und ihre eigene Geschöpflichkeit verleugnet.53 Das in sein widerwärtiges Gegenteil verkehrte ›Blumenstück‹ von Geschwüren aller Art auf seinem Rücken und daher im Wortsinne pervertiert, konnte Hamann nicht sehen, sondern nur pars pro toto ein einzelnes Geschwür auf seiner Brust. Denn sichtbar ist das Übel nur selten, das macht gerade die Krankheit deutlich und ist für die Medizin wichtig: »Liebster Freund, nicht Ausbrüche, sondern die Quelle des Uebels ist die Sache wie in der Arzeney nicht Symptome das Augenmerk des Arztes sind.«54 Zur Behandlung des unsichtbaren Übels bedarf es eines geeigneten Arztes, eines Wundarztes und Baders in der Nachfolge seines Vaters, dessen Tätigkeit bekanntlich das Vorbild für die eigenen Autorhandlungen darstellte.55 Dem Körper Feindliches wurde also gebadet, zur Behandlung erweicht oder gar zum Zwecke der Reinigung eröffnet, so daß der feindliche Inhalt zum Vorschein kommt und entfernt werden kann. Doch dies ist nur die Tiefendimension, sprachlich wird von Hamann die widerwärtige Oberfläche inszeniert. Mit der ostentativen Zurschaustellung seiner Geschwüre auf seinem philologischen Kreuzzug gegen selbstherrliche Philosophie wirkt der Lazarus Hamann wie die Ritter des Lazarusordens im Heiligen Land der Kreuzfahrerstaaten, die ohne Helm in die Schlacht zogen, um den Gegner durch den Anblick ihrer von Lepra entstellten Gesichter zu erschrecken, demorali52 ZH VII, 415,33. 53 Vgl. Hamanns eindringliche Erläuterungen in den Brocken (Londoner Schriften, S. 406,24–26): »Wie weit mehr sündigt der Mensch in seinen Klagen über das Gefängnis des Körpers, über die Gränzen, in die ihn die Sinnen einschränken, über die Unvollkommenheit des Lichts […]« Wenig später heißt es ebd., S. 417,12–32: »Der Leib ist das Kleid der Seele. Er deckt die Blöße und Schande derselben […] Er hat gedient uns[ere] Seele zu erhalt[en], eben wie die Kleidung unsern Leib schützet gegen die äußerl. Angriffe der Luft v. anderer Geg[en] stände. Diese Nothdurft unserer Natur hat uns erhalten, unterdessen höhere, v leichtere Geister ohne Rettung fielen. Die Hinderniß, die uns ein Kleid gibt, d[as] uns ein wenig schwerer [macht] v ein wenig von dem Gebrauch uns.[erer] Glieder entzieht, erstreckt sich nicht so wohl auf d[as] Gute, in Ansehung der Seele – als in Ansehung des Bösen. Wie abscheulich würde der M[ensch] seyn vielleicht wenn ihn der Leib ihn n[icht] in Schranken hielte.« 54 Hamann an Ehregott Friedrich Lindner vom 20. April 1783 (ZH V, 42,36–43,1). 55 »Seine [des Vaters, Anm. KMS] Badwanne ist mit so heilig, als dem Sokrates seiner Mutter Hebammenstuhl, und ich nahm mit bisweilen die Freyheit zum Belag ein griechisches Epigramm anzuführen, das Vater Hagedorn übersetzt Der Bader und die H… baden/ Den schlechten Mann und besten Kerl/ Beständig nur in einer Wanne. Herder will den Titel Salbadereyen nicht gelten lassen, nun mögen sie metakritische Wannchen heißen – die Füße = medios terminos progressus unsers aufgeklärten Jahrhunderts zu waschen.« (ZH V, 331,21–29).

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sieren und zur Flucht zu zwingen. Er selbst spricht im Brief von seinem »Ritterzug«56, der ihn in die feuchte und morastige Burg führt und den »Kreuzzügen«, die durch seinen »grauen kahlen Kopf hier durchgegangen« sind.57 In analoger Weise durch eine Radikalkur durch Ausscheidung befreit wird auch der Geist. Nach der Beschreibung seiner Lektüre des griechischen Neuen Testaments sowie der ostentativen Erwähnung der Einnahme eines »Vomitifs«58, das seinen Magen von Appetit und Lüsternheit »bekehrt«59, kennzeichnet Hamann im Folgenden den hierdurch in Gang gebrachten psychophysischen Befreiungsprozeß: Jetzt eile ich die 4 ventriculos meines Gehirns eben so zu reinigen und zu erleichtern, von allem Wust der darinn kocht und den ich so unverschämt bin – War nicht die sokratische Philosophie die Mutter des Scepticismi und Cynismi, wie des Epicurismi u Stoicismi – wie der welsche Catholicismus der Vater des mannifaltigen Aberglaubens und einförmigen Atheismo in jeder Theorie und Praxis ist und bleibt bis ans Ende der Tage.60

Es ist wahrscheinlich, daß Hamann das Neue Testament als heilsames Brechmittel für die ›kleinen Mägen‹ (Ventrikeln) des Gehirns benutzt, indem es von den Auswüchsen alter und moderner Philosophie, die auf einen Katholizismus der Meinungen hinausläuft, befreit und dies in vollkommener Entsprechung zu der Wirkungsweise des »Vomitifs«, welches Hamanns Körper von einem mit »Appetit und Lüsternheit«61 geschlagenen Magen heilt, und zwar in Form einer Konversion. Ausdrücklich sei an dieser Stelle vermerkt, daß die Krankheit Kants, unter der er eigener Auskunft nach am meisten zu leiden hatte, in einer »Blähung auf dem Magenmunde« und einem »Druck aufs Gehirn« bestand, den er selbst auf eine »krampfhafte Zusammenziehung« zurückführte,62 die aber mit seinem hypochondrischem Hamann als philosophische Verstopfung der kleinen Mägen des Gehirns gedeutet werden kann. Diese Zusammenstellung ist nicht ganz willkürlich. Reine Vernunft und medizinische Beseitigung der Verstopfung sind in den Briefen eng assoziiert. An Franz Kaspar Bucholtz schreibt Hamann am 17. Juli 1786: 56 57 58 59 60

ZH VII, 411,10. ZH VII, 424,29f. ZH VII, 421,8. ZH VII, 421,13. ZH VII, 421,17–23. Vgl. Hamanns Aussage in seinem Brief vom 24. Juli 1784 an Johann Friedrich Hartknoch (ZH V, 167,16–18): »Doch die Pudenda unserer Natur hängen mit den Kammern des Herzens und des Gehirns so genau zusammen; daß eine zu strenge Abstraction eines so natürlichen Bandes unmöglich ist.« 61 ZH VII, 421,14. 62 Jachmann: Immanuel Kant geschildert in Briefen (wie Anm. 6), S. 206.

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Der gute Wille verdiente einen herzlichen Dank; die reine Vernunft aber eine eben so herzliche Kritik. Nachdem ich den guten und bösen Engel in diesem Plan sahe, wurde ich selbst zu einem und dem anderen Original. Mein krankes Gemüt verwandelte diesen Vorfall in eine Hölle, die mir jetzt beynahe lächerlich vorkommt. Den ersten Julii fieng ich die Kämpfsche Cur an.63

Medizinischer Kronzeuge für Hamanns philosophische Therapie ist der Leibarzt des Fürsten von Hessen-Nassau, Johann Kämpf (1726–1787), der Begründer der Lehre von den Infarkten des Darmes, nach der alle Krankheiten auf der Zurückhaltung eingedickter Kotballen beruhen. Auch Kämpf ist in Nachfolge seines Vaters Experte für die ventriculi; der Titel seiner Dissertation lautet: De infarcta vasorum ventriculi (1753). Hamann nennt ihn »meinen Leibarzt Kämpf«64, zu dessen Methode auch der liebe Jonathan Jacobi »kein geringes Zutrauen« hat.65 Auch die Ärzte in Hamanns Umkreis sind Anhänger Kämpfs gewesen.66 An Jacobi hatte Hamann Ende April 1786 geschrieben: Meine zweite Erleichterung besteht in der Kenntnis meines bisherigen Übels und der Hülfsmittel. Der seel. Kanter hat mir oft das Kämpfsche Buch über die Hypochondrie empfohlen, und sich selbst nach dieser Methode zu helfen gesucht. Wie ich den Hr. Metzger besuchte, bitte ich mir das Buch aus und habe es meinem Nachbar und Freunde Miltz zu lesen gegeben, der eben so sehr wie ich von der Methode eingenommen ist, und mit dem ich zur Anwendung mich entschließen werde. Er hat selbst durch Clistiere in Guinea Wunder getan. Die Negerinnen leben vollkommen auf französischem Fuß, und spülen sich alle Morgen mit Seewasser ihr os posticum aus. Wenn die neue Ausgabe des Kämpf hier ist, muß ich es mir selbst anschaffen. Ich bin vollkommen überzeugt, daß bloß die Infarktus meiner Eingeweide an meiner sonderbaren Unvermögenheit zu denken Schuld sind, und daß alles oben wie in der Mitte vom Schleim, Morast und Cruditäten stockend und verstopft ist.67

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ZH VI, 482,25–30. Hamann an Jacobi vom 3. Mai 1786 (ZH VI, 376,21–22). Jacobi an Hamann vom 12. Mai 1786 (ZH VI, 386,20). Kämpf ist, wie es in einer Rezension des postum in dritter Auflage erschienenen Enchiridium medicum heißt, »noch immer einer der ersten praktischen Ärzte […] der seinem Vaterlande Ehre macht, dessen Stärke in einer großen Kenntnis der wirksamsten, und Zusammensetzung der ausgesuchtesten Arzeneyen bestand.« (ALZ No. 23 Januar 1793, S. 181) 67 ZH VI, 371,23–36. An Herder schreibt Hamann am 30. Mai 1786 (ZH VI, 412, 31–35): »Ich habe mir durch Fasten in Engl. Schon einmal das Leben gerettet, wollte auch zur Kämpfschen Cur meine Zuflucht nehmen; aus seinem schönen Buch habe ich mein Uebel kennen gelernt. Der seel. Kanter sprach mir immer davon, der gantz davon eingenommen war und gnung an Lavements verschwendet hatte.« Von Kämpfs Buch hat, wie Hamann am 19. Juni 1786 an Jacobi schreibt (ZH VI, 435,9–12), er sich lange nicht trennen können: »Ich gieng diesen Morgen frühe aus um Kämpf dem Hofr. Metzger anzugeben, der meinen ungewöhnl. Fehler sein Buch, das ich auf ein paar Tage geliehen, Monathe lang behalten zu haben, nicht übel zu nehmen schien.«

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Die Hypochondrie nun ist diejenige Krankheit, die auf die Infarkte des Unterleibes besonders aufmerksam macht und die heilsamen Spülungen, die ›ewig erforderlichen‹ (Kurt Christ) Kämpfsche Klistiere, motiviert. Das Kämpfsche Buch, welches in den späteren Briefen Hamanns eines der meistgenannten und empfohlenen Werke ist, dessen Methode er sogar »vorpredigt«68, hat den entsprechenden Titel: Für Ärzte und Kranke bestimmte Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie, gründlich zu heilen. Weitere bezeichnende Krankheiten dieser Art sind laut Kämpf »Krankheiten der Haut, allerlei Ausschläge und Geschwüre, Krebs«69, also Hamanns momentane Krankheitssymptome aus dem Brief an Jacobi, in enger Zusammenstellung mit dem von Sontag und Kant behandelten Krebs. Immerhin ist auch Kant Hamanns Empfehlung gefolgt und hat die Kämpfsche Therapie jedenfalls in medizinischer Hinsicht übernommen.70 Interessant ist an Kämpfs Buch zudem noch seine Dedikation im Titel, die sich nicht nur an die Ärzte allein, sondern sich ebenso an die Patienten richtet. Kämpf beschreibt die Krankheit und deren Heilung also als einen gemeinsamen Prozeß auf der Basis eines gemeinsamen kommunikablen Wissensstandes. Auch dies findet seine Entsprechung in Hamanns Brief an Jacobi. Wie zur Bestätigung und als Bekräftigung der wunderbaren Erscheinung der Krankheit und des kommunikativen Helfers in seiner Not nennt Hamanns einerseits seinen Arzt Gottlob Immanuel Lindner (1734–1818) nach dem Schutzengel und Heiler aus dem Buch Tobit ›Dr. Raphael‹. Doch ist es andererseits mit dieser einfachen Metapher für den Arzt im Sinne eines modernen Halbgottes in Weiß nicht getan. Engels- und Menschensprache müssen bekanntlich ineinander übersetzt werden. Denn für eine solche, Philosopheme abführende Krankheit müßten Arzt wie Patient, also der Kranke wie auch der Diener des Kranken, recht dankbar sein:

68 Hamann an Jacobi vom 3. Mai 1786 (ZH VI, 378,7). 69 Joh. Kämpf Fürstl. Hessen-Hanauischen Oberhofraths und Leibartzs: Für Aerzte und Kranken bestimmte Abhandlung von einer neuen Methode, die hartnäckigsten Krankheiten, die ihren Sitz im Unterleibe haben, besonders die Hypochondrie, sicher und gründlich zu heilen. Dessau und Leipzig 1784, S. 70. 70 Vgl. die aufschlußreiche Zusammenstellung von Kämpfscher Praxis und geistiger Tätigkeit bei Kant, über die Hamanns Brief an Heinrich Schenk vom 12. Juli 1786 (ZH VI, 465,1–5) berichtet: »Kant hat auch vorgestern den Anfang mit den Kämpfschen Mitteln machen wollen, klagte mir aber gleichfalls seine Noth – und ich werde ihn ehstens aufsuchen, welches ich desto nöthiger habe, weil ich erfuhr, daß er etwas für die Berl. Monatsschrift arbeitet über das Mendelssohnsche Orientiren.« An Jacobi hatte Hamann zuvor am 22. Juni 1786 geschrieben (ZH VI, 442,27–30): »Kant klagt mir vorgestern Abend seine bittere Noth, daß er seinen Spincter nicht zur Oeffnung bewegen könnte. Er schreibt über das Mendelssohnsche Orientiren etwas – aber ist Dein Freund u des Resultatenmachers.«

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Er hat eben so viel Ursache Gott zu danken ihm eine solche complicirte intricate, incarcerirte Krankheit zur Vollendung oder vielmehr Zernichtung seines eitlen Studierens in Collegiis und todten oder blinden Handleitern zugeschickt zu haben, als einen solchen Patienten, der alle feindseel. Minen und Launen, grobes und kleines Geschütze gegen seine Wißenschaft und die Politik derselben hat spielen und springen laßen.71

In der Krankheit kommunizieren also helfender Engel und geschlagener Mensch zu beiderseitigem Nutzen. Der Status des Arztes jedoch ist angesichts der Krankheit Hamanns dramatisch verändert von einem bloßen studierten und seiner Wissenschaft hörigen Außerstehenden zu einem in einen bestimmten Kommunikationsprozeß involvierten Teilnehmer an der Krankheit. Als solcher kann er Vermittlungsorgan der Vorsehung sein: Gottes Vorsehung hat durch seinen Engel Raphael Wunder an mir gethan und ist am besten im stande auf eine ähnliche Art seine engl. Gedult und Klugheit gegen die Sophismen meiner Natur und ihres Schadens und gegen die ambages und sesquipedalia verba meiner schweren jetzt wider zum dritten und Gott gebe! Zum letzten mal belegten Zunge ausgerüstet hatte. Mein Ausschlag an den Fingern konnte eben so wenig physische Folgen der spanischen Fliegen seyn, als die Heerde von Geschwüren u Ausschlagen auf meinem Rücken, durch eine metaphysische Consequentz und rhetorische Figur wurde der Tempel zu Ephesus ein Aschenhaufen, weil Alexander in eben der Nacht zur Welt kam.72

Die ›Umschweife‹ und ›überlangen Worte‹ der krankheitsbedingt belegten Zunge werden in dieser Vermittlung verständlich. Die nicht zu ignorierende Aufsässigkeit des kranken Körpers ist die verfängliche Anzeige der wahren Situation des Menschen, in der sich das Nächste als widerspenstig gegenüber den Höhenflügen der Vernunft erweist. Erst jetzt fühlt der Philosoph sich selbst und erkennt seine Situation, die über die rein geistige Rationalität der Beweise hinausgeht. Die Krankheiten des Körpers gehören zum Endzweck der Erlösung, da sie Gleichnisse und Wirkungen der sündigen Seele wie der philosophischen Verstopfungen sind. Geleistet wird diese Erlösung paradoxerweise durch Befremdung, die zu einer Selbsterkenntnis führt.73 Die Briefe greifen also ein altes

71 ZH VII, 422,5–10. 72 ZH VII, 422,10–20. 73 »Alle Geleg[en]heit[en], wo uns Gott die Bedürfnisse und Gränz[en] uns.[erer] Natur fühlen läst, sollten von uns als Versuchung[en] angeseh[en] [werden], der sich Gott bedient um uns zu zeig[en] was in uns.[eren] Herzen ist, damit wir dasjenige durch se.[ine] Gnade absondern könn[en], was ihm misfällig ist, damit wir dsjenige, was unser Herz auswirft an dem Probestein der Schrift untersuch[en] v nach der Güte desselben die Adern unsers Schates beurtheil[en] können. Wenn wir die Bedürfnisse uns.[erer] Natur nicht fühlen, so ist es wie mit den stehend[en] Wassern, die Schleim und Koth ansetzen in Gefäßen, wo sie aufbehalt

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Lieblingsthema Hamanns auf, das sich bis in die Biblischen Betrachtungen zurückverfolgen läßt. In seinen Erläuterungen zu 1Kön 15,23 kennzeichnet Hamann das biblische Formular seines schriftstellerischen Umgangs mit der Krankheit. Die Stelle lautet: »Was aber mehr von Asa zu sagen ist und alle seine tapferen Taten und alles, was er getan hat, und die Städte, die er ausgebaut hat, siehe, das steht geschrieben in der Chronik der Könige von Juda. Nur war er in seinem Alter an seinen Füßen krank.« Das Entscheidende steht im scheinbar unmotivierten letzten Satz über die Krankheit der Füße. Der Kontext dieser Bibelstelle ist sehr aufschlussreich. Es wird von Asa, dem König von Juda berichtet, einem gottgefälligen Herrscher, der sich insbesondere dadurch auszeichnet, Tempelschänder und Götzenbildner zu bestrafen. Hierbei macht er sogar vor seiner eigenen Mutter nicht Halt. Zur Verteidigung seines Landes mobilisiert er sowohl sein Vermögen, den Königsschatz, als auch göttliches Vermögen, den Tempelschatz und kämpft sodann mit vollem Einsatz seiner Ressourcen. Die ganze Stelle kann als Formular für Hamanns eigene schriftstellerische Tätigkeit angesehen werden. Denn der Kranke, so könnte man mit Hamann interpretieren, unterbindet mit vollem Körpereinsatz die Tempelschändung des Leibes und zerschlägt mit Hilfe seiner glaubenden Überzeugung das Greuelbild, das die Vernunft von sich selbst errichtet hat. Er hatte kranke Füße. Diese Anmerkung sollte jemand[en] befremd[en]; sie bestätigt aber, wie Gott durch keine andere Zeich[en] mit uns reden kann als durch körperl. oder sinnl. So hat er durch die Natur des Leibes d[as] Verderb[en] uns.[erer] Seel[en] ausgedrückt. Ja ich habe es schon gesagt, daß der Satan viele Empfindung[en] der Seele auf d[en] Körper allein gezog[en] v beyde zugl.[eich] durch diese List zu unterdrücken gesucht hat. Die leibl. Nothwendigkeit uns zu reinig[en] führt uns auf die Befleckung [en] die uns der Geist durch Gedank[en] Eindrücke pp leidt.74

Der kranke Körper ist befremdlich, doch die Befremdlichkeit macht aufmerksam. Der Körper leidet also für die Sünden der Seele bzw. des Geistes. Durch seine Korruption verstärkt sich die Korruption der Seele, die sich durch die Verschiebung ihres Verderbens auf den Körper exkulpieren zu können glaubt. Die List des Teufels ist es, durch Geringschätzung des Körpers die Überschätzung des Geistes zu befördern und so beide zugrunde zu richten. Somit hat gerade diese Penetranz der Darstellung auch widerlicher Vorkommnisse seinen philosophischen Zweck: durch Befremdung den Briefpartner an dessen Körper zu erinnern, der ihm als geistigem Menschen zu etwas Fremdem und Peinlichem geworden ist, an das man nicht gern erinnert werden möchte. Die lästigen Krankheiten des aufsässigen Körpers erinnern daran, daß [en] werd[en], und zu stinken und zu faul[en] anfang[en].« (Londoner Schriften, S. 145,24–34). 74 Londoner Schriften, S. 181,38–182,6.

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der Mensch kein Wesen ist, das aus und für sich existieren könnte. Nosologie ist gleichzeitig Anthropologie und Theologie. Und Hamanns gern genutzte Bibelformulare machen zudem deutlich, daß der Mensch sein Leid nur nach biblischer Vorgabe überhaupt adäquat beschreiben kann. Vernunft allein kann somit trotz aller geistigen Unabhängigkeitserklärungen dem Menschen nicht sein Dasein demonstrieren, wohl aber der unmittelbare Eindruck seiner krankheitsanfälligen Leiblichkeit, die auf Endlichkeit und somit ihn selbst verweist.75 Diese Lektion hat, so Hamann, auch Voltaire erfahren und lernen müssen: Das Schicksal setze den grösten Weltweisen und Dichter in Umstände, wo sich beyde selbst fühlen; so verleugnet der eine seine Vernunft und entdeckt uns, daß er keine beste Welt glaubt, so gut er sie auch beweisen kann, und der andere sieht sich seiner Muse und Schutzengel beraubt, bey dem Tode seiner Meta.76

Eine weitere gefährliche Metapher aus dem medizinischen Bereich ist das Ziel der schriftstellerischen Bemühungen Hamanns. Das Denken der Krankheit und das Schreiben über Krankheit, Pathokagathie und Nosologie, richten sich bei Hamann gegen die Selbstkennzeichnung der Vernunft als ›gesund‹. Gesundheit in diesem Sinne ist eine wertende und als solche irreführende Metapher für Autarkie (Selbstgenügsamkeit), also eine Gesundheit, die auf einer bestimmten Form von Hygiene, nämlich der Selbstreinigung77 beruht: Die Gesundheit der Vernunft ist der wohlfeilste, eigenmächtigste und unverschämteste Selbstruhm, durch den alles zum Voraus gesetzt wird, was eben zu beweisen war, und wodurch alle freye Untersuchung der Wahrheit gewaltthätiger als durch die Unfehlbarkeit der römisch-katholschen Kirche ausgeschloßen war.78

Von dieser Anmaßung sind die kleinen Mägen des Gehirns mittels geeigneter Klistiere und Vomitiva zu reinigen. Hypochondrie ist somit im Sinne Hamanns keine Marotte, sondern Methode zur Etablierung eines körperbewußten Philosophierens. Gegen die Gewalttätigkeit der sich selbst voraussetzenden und daher jede unabhängige Prüfung verhindernden ›gesunden‹ katholischen Vernunft formuliert Hamann in Person des kranken ›Liebhabers der Langen Weile‹ den entscheidenden hypochondrischen Einwand. Die gesunde Vernunft anlangend, läugne ich gar nicht, daß selbige das tägliche Brodt aller Weltweisen und Kunstrichter vorstellen soll. Für Säuglinge hingegen gehört Milch; auch Kranken, die vor langer Weile sterben wollten, eckelt vor aller Speise gesunder Vernunft …79 75 Vgl. Walter Leibrecht: Gott und Mensch bei Johann Georg Hamann. Gütersloh 1958, S. 102. 76 N II, 74,12–16 (Sokratische Denkwürdigkeiten). 77 Vgl. hierzu: Knut Martin Stünkel: Als Spermologe gegen Baubo. Hamanns Metakritik der philosophischen Reinheit. In: NZSTh 53 (2011), S. 16–44. 78 N III, 189,18–22 (Zweifel und Einfälle). 79 N III, 361,1–4 (Fünf Hirtenbriefe).

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Die gesteigerte Selbstbeobachtung und Überbewertung von Körperwahrnehmungen als Krankheitszeichen sind somit Zeichen einer perspektivischen Neuorientierung des Denkens, eines Sprunges in das Andere, die mit einer Umwertung philosophischer Werte einhergeht. Das vorgebliche Gesunde wird als das eigentlich defektbehaftete, sich dieser Defekte nicht bewußte und daher geistig, moralisch und politisch Ungesunde erkannt.80 Beobachtung des eigenen Körpers ist somit der Weg zur Sorge um die eigentliche menschliche Existenzweise. Die Übertreibung erweist sich so als erhellende Überbelichtung eines existenziellen Sachverhalts. Wenn sich Hamann von einem ›Paroxysmo der Hypochondrie‹81 erschüttern läßt, so ist damit nicht ein scheinbarer körperlich-seelischer Defekt, sondern ebenso ein philosophischer Vorzug der Empfänglichkeit für die Bedeutung des Körpers gemeint. »Leider sind Träume und Krankheiten die besten Data von der Energie der Seele.«82 bemerkt Hamann am 10. November 1784 in einem Brief an Scheffner. Der »böse[] Daemon meiner Hypochondrie«83, von dem Hamann schreibt, ist zumeist ein ›Plagegeist‹ für diejenigen, die von der grundsätzlichen Körperlichkeit menschlicher Existenz nichts wissen wollen. In dieser Hinsicht, dem Getriebensein von einem Daimon, gleicht der Hypochonder dem Urvater des Philosophierens, nämlich Sokrates: Sokrates scheint von seiner Unwissenheit so viel geredt zu haben als ein Hypochondriaker von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Uebel selbst kennen muß um einen Milzsüchtigen zu verstehen und aus ihm klug zu werden; so gehört vielleicht eine Sympathie der Unwissenheit dazu von der sokratischen einen Begriff zu haben.84

Eigentliches philosophisches Reden und Reden über Krankheit stimmen in ihrer Befremdlichkeit und Intensität strukturell überein. Hypochondrie wirkt sokratisch. Die Sprache der Krankheit muß daher, in Form eines aufsässigen metaphernfreien Verweises auf sich selbst, so deutlich wie möglich sein, ohne noch anderes zu bedeuten.

80 Für die kritischen Philosophie Kants bedeutet das in den Worten Oswald Bayers: »Der ›kritische Indifferentismus‹ ist keine Überwindung von Dogmatismus und Skeptizismus, sondern eine Krankheit, die sich in den Symptomen beider zeigt: in verzweifelter Resignation und trotzigem Herrschaftsdrang.« (Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 139). 81 N III, 336,3–337,1 (Pro Memoria). 82 ZH V, 256,9f. 83 ZH VII, 258,32. 84 N II, 70,28–32 (Sokratische Denkwürdigkeiten).

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Krankheit bewirkt also eine neue Hermeneutik. Erste Hinweise auf diese Idee finden sich schon früh in Hamanns Schriften und werden ihren Adressaten eindringlich kommuniziert. Die Wahrnehmung, das Vernehmen von Krankheit als Hinweis auf die eigene Körperlichkeit ist die eigentlich vernünftige Haltung im Gegensatz zum sturen Befolgen der eigenen Selbstgesetzgebung. An seinen Vater schreibt Hamann am 6. März 1754: Verzeihen Sie, liebster Papa, wenn ich die Absicht dieser Krankheit zu Ihrem Besten auslege. Vielleicht dient sie Ihnen, Ihrem Körper ins künftige liebreicher zu begegnen, v ihn nicht der Verkältung, Entkräftung so auszusetzen, die Sie selbst für die Ursache Ihrer Zufälle angeben. Man hat sich bey einer Ruhe, die man sich aus einer billigen und vernünftigen Liebe zu sich selbst von denen Geschäften giebt, weniger Vorwürfe zu machen, als bey derjenigen, die uns die Noth oder eine selbstgemachte Unvermögenheit bisweilen auflegt.85

Hamanns Krankheitsberichte sind nicht müßige Ergüsse eines bloß hypochondrischen Charakters, sondern die ständige Vergegenwärtigung und Bezeugung des Körpers vor sich und seinen Lesern. Für Hamann ist Krankheit keine Metapher als sprachliche Figur des Übertragens auf einen anderen Bereich, sondern sinnliche Weisung Gottes als Rückführung auf das Eigene, und zeitigt folglich eine immense, umwerfende Wirkung. Wenn man Gott zum Ursprung aller Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden, voraussetzt; so ist jedes gezählte Haar auf unserm Haupte eben so göttlich, wie der Behemoth, jener Anfang der Wege Gottes. Der Geist der mosaischen Gesetze erstreckt sich daher bis auf die ekelsten Absonderungen des menschlichen Leichnams.86

Durch ihre spezifische Kommunikations- und Situationsgebundenheit ist jedoch die briefliche Krankheitsschilderung Hamanns ebenso keine bloße Metapher einer besonderen anthropologischen Wahrheit, sondern zielt als aufsässige und bedrängende Realität in gleichsam seelsorgerischer Absicht auf eine Ein- und Umkehr des Lesers bzw. Empfängers des jeweiligen Briefes. Es soll der Leser, wie es dem großen Friedrich bei der Lektüre der Briefe seines Voltaire ergangen ist, ›beben gemacht‹ werden, wenn er die extensiven Krankheitsberichte, die vor den ekelsten Absonderungen nicht zurückschrecken, liest. Seinen absolutistisch aufgeklärten Landesherren als Personifikation tyrannischer Vernunft zum Beben zu bringen, wie es durch die Briefe Voltaires geschehen ist, hätte Hamann wohl als einen großer Erfolg seiner Autorschaft gewertet. 85 ZH I, 66,24–31. 86 N III, 27,2–7 (Rosencreutz).

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Aber auch der Leser seiner Schriften wird nach einem Ausdruck des französischen Phänomenologen Jean-Luc Marion zu einem interloqu8, einem Frappierten, einem vom Ruf (des Gewissens) Getroffenen und ›Umgehauenen‹. Dieses Getroffenwerden stellen in didaktischer Absicht die Briefe dar, wie Hamann am 29. April 1787 an Jacobi schreibt: Meine Briefe sind ein lebendiges Gemälde meiner wüsten Lebens- und Denkungsart, daß ich zu keiner Ruhe kommen kann, immer von innen und außen, von vorn und hinten hin und her geworfen werde. Ueberhaupt finde ich es für nöthig Dich vorzubereiten auf die neuen Unruhen, welche die Fortsetzung Deiner Autorschaft Dir zuziehen wird, eine reiche Ernte neuer Logomachien besorge ich, vielleicht mehr aus Freundschaft als mit Grunde.87

Mit seinen Schilderungen beansprucht Hamann mindestens exemplarischen Wert. Für zu erwartende Logomachien ist eine neue sprachliche Waffe erforderlich. Krankheit und Krankheitsschilderung sind sprachlich so zu einer Katapher geworden, einem wandelnden Wort, welches einem umwerfenden und zur Umkehr auffordernden Ereignis, vergleichbar mit Hamanns eigenem Londoner Bekehrungserlebnis, entspricht.88 Den kataphorischen Impuls seines Schreibens hat Hamann in seinem Brief an Lindner vom 21. März 1761 wie folgt beschrieben: Der größte Liebesdienst, den man seinem Nächsten thun kann, ist ihn zu warnen, zu bestrafen, zu erinnern, sein Schutzengel, sein Hüter zu seyn; diesen Kreutzzug hält nicht jeder Ritter aus.89

Das Beschreiben der Krankheit ist bei dem Lazarus-Ritter mit der traurigen Gestalt Hamann daher im bewußten Gegensatz zur Metaphorisierung ein Schreiben, in der die Krankheit nichts als sich selbst bedeutet und so den sich selbst in seiner Vernunftfähigkeit transzendierenden Menschen schockiert, Anstoß nehmen läßt und letztendlich eine tiefgreifende Verwandlung durch Selbsterkenntnis herbeiführt. Dies ist ein nicht zu unterschätzendes Potential, welches die Krankheit in Hamanns Nosologie entfaltet, und das Hamann auch in seinem Umkreis einzusetzen gedenkt. Prominent von Hamanns Kataphorik bedroht ist natürlich Kant. Dieser hat die Leidenschaften als Krebsschaden bezeichnet, durch die Bekanntschaft mit Hamann ist er

87 ZH VII, 172,17–22. 88 »Wenn unsere Schwachheiten einmal aufhören werden, wenn ein neuer Leib uns umgeben wird, deßen Last unser Geist nicht mehr fühlen wird; dann laß er uns mit jenen Kranken, die sein Wort gesund machte, mit einander ausrufen: Der Herr hat Alles wohl gemacht.« (Hamann an die Eltern und den Bruder vom 28. Dezember 1755, ZH I, 130,11–14). 89 ZH II, 71,14–16.

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»so gar dieser Gefahr ausgesetzt, einem Menschen so nahe zu kommen, dem die Krankheit seiner Leidenschaften eine Stärke zu denken und zu empfinden giebt, die ein Gesunder nicht besitzt.«90

90 Hamann an Kant vom 27. Juli 1759 (ZH I, 373,23–26).

Hans Graubner (Göttingen)

Hamanns briefliche Begleitung der Tätigkeit Lindners in Riga

Hamanns Briefe an Johann Gotthelf Lindner erstrecken sich über zwölf Jahre. Der erste kommt im März 1753 aus Riga, der letzte im Dezember 1765 aus Warschau. Beim ersten Brief ist Lindner noch, beim zweiten wieder in Königsberg. Dazwischen liegt seine Zeit als Domschulrektor in Riga. Da Hamann diesen »ältesten Freund«1 schon 1776 verliert, haben die beiden seit dem letzten Brief noch zehn Jahre in Königsberg zusammen gelebt. Aus dieser gemeinsamen Zeit in Königsberg gibt es keine Briefe – natürlich, wird man sagen, sie konnten ja mündlich alles abmachen. Aber es gibt noch einen wichtigeren Grund für das Fehlen von Briefen in dieser Zeit. Hamann erläutert ihn in seinem Kondolenzbrief an Lindners Bruder. Durch seine eigene, »eingezogene Lebensart« und Lindners »Amts- Beruffs- und übrige Zerstreuungen« als Professor für Poesie und Beredsamkeit sei ihre Freundschaft »ziemlich unterbrochen worden« und sei erst kurze Zeit vor Lindners Tod »zur vorigen Vertraulichkeit unserer Jugend zurück« gekehrt.2 Hinter dieser Begründung steckt aber eine noch tiefere: Die beiden Freunde haben sich seit Lindners Rückkehr aus Riga auseinandergelebt. Obwohl sie fast gleich alt waren, trennten sich in ihren Personen der Mensch der rationalistisch-ständischen Hochaufklärung vom Menschen des empfindsamindividualistischen Sturm und Drang. Als engster Brieffreund war seit 1765 Herder an die Stelle Lindners getreten. Erst angesichts von Lindners Siechtum zum Tode löste sich die Entfremdung wieder auf, und die ursprüngliche »Vertraulichkeit« konnte zurückkehren. Lindners Briefe an Hamann sind verloren. Wenn man trotzdem von einer Art Briefwechsel sprechen kann, so liegt das einmal daran, dass es einige wenige, aber sprechende Annotationen Lindners zu Hamanns Briefen gibt, vor allem aber daran, dass wesentliche Teile dieser Korrespondenz in konkreten Auseinandersetzungen bestehen und Hamann oft Lindners Position direkt oder indirekt darlegt, bevor er sich ihr widersetzt. Dieses sich einander Widersetzen ist 1 ZH III, 226,26 (an Johann Friedrich Hartknoch, 30. März 1776). 2 ZH III, 225,24ff. (an Ehregott Friedrich Lindner, 29. März 1776).

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Hans Graubner

nicht nur der Kern des Briefwechsels mit Lindner, sondern bestimmt auch die Briefwechsel mit anderen Freunden, mit Herder und Jacobi vor allem. Es ist der eigentliche Grund, weshalb Hamann so intensiv an Lindner festhielt, den er oft in Grund und Boden kritisierte. Denn Lindner ließ sich das offenbar nicht gefallen. Er war durchaus ein »Wiedersprecher«3 des späteren Magus. Hamann brauchte keine bloß zustimmenden Freunde. Von dem alten Königsberger Gefährten Lauson etwa sagt er etwas abschätzig: der »nimmt alles von mir für lieb«.4 Hamann wusste sehr genau, dass nur der Widerspruch ihn zu Denkleistungen herausforderte, dass er aufblühte, wenn er in Frage gestellt wurde. Und er meinte es ernst, wenn er dies in seiner christlichen Anthropologie verankert sah. Wie oft sagt er, dass man seine Feinde lieben und seine Freunde hassen müsse.5 Denn wichtiger als ein Freund ist ein Feind als Helfer zur Selbsterkenntnis, weil er widerspricht, also auf die Stellen des Selbstseinwollens und Rechthabens aufmerksam macht. Ein Freund neigt eher zur Zustimmung, also zur Verschleierung und Unterstützung jener Quellen widergöttlicher Eitelkeit. Deshalb verhelfen nur feindliche, widersprechende Freunde zur Selbsterkenntnis. Schweigende, laue oder allzu kompromissbereite Freunde dagegen haben diesen Namen nicht verdient. Führt man sich die zwölf Jahre Briefe Hamanns an Lindner vor Augen, so wird man drei Phasen unterscheiden müssen: die Zeit vor Hamanns Londoner Aufenthalt von 1753 bis 1756 als Zeit vertrautester Übereinstimmung in literarischen Interessen, gelehrter Fortbildung und gemeinsamer Arbeit im Auftrag des Rigaer Freundes und Stadtpolitikers Johann Christoph Berens; dann die Zeit nach London von 1758 bis zum November 1759 als Zeit der Auseinandersetzung um Hamanns neue christliche Haltung. Sie bewirkte dessen Abwendung von den gesellschaftlichen Vorstellungen und ökonomischen Zielen des Patriziers Berens und verursachte, da Lindner weder Anlass noch Chance hatte, diese Abwendung mitzumachen, Irritation, Entfremdung und zeitweiligen Abbruch des Briefwechsels. Schließlich folgte als dritte Phase die Zeit vom April 1760 bis 1765 mit zunächst vorsichtiger Wiederannäherung im Zeichen der Sorge um Hamanns Bruder, der Lindners Kollaborator an der Domschule und Kostgänger im Hause war, dann des Wiedereinschwingens in die alte Vertrautheit bei gleichzeitiger Auseinandersetzung um die pädagogischen Vorstellungen beider Freunde, in denen die grundlegende Differenz ihrer anthropologischen Positionen zutage trat. Daraus ergibt sich eine Dreigliederung meiner Darlegung: 1. Lindners Za3 Hamann verwendet dieses Wort in den Briefen an Kant. ZH I, 453,10 (an Immanuel Kant, Ende Dezember 1759). 4 ZH I, 354,31ff. (an Johann Gotthelf Lindner, 3. Juli 1759). 5 ZH I, 296,26f. (an Johann Gotthelf Lindner, 10. März 1759); ZH II, 184,1f (an Johann Gotthelf Lindner, 5. Januar 1763) u. ö.

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renlob und Hamanns Adelsschelte in Berens’ Auftrag, 2. Die Freundschaftsprobe: Lindner als verunglückter Mittler zwischen Berens und Hamann, 3. Lindners Ständepädagogik und Hamanns Entdeckung des Kindes.

1.

Zarenlob und Adelsschelte6

Bevor Lindner durch Berens’ Fürsprache im Frühjahr 1755 das Rektorat an der Domschule in Riga antrat, war Hamann schon zwei Jahre in baltischen Adelshäusern, zunächst in Livland, dann in Kurland als Hofmeister tätig. In Livland hatte er Kontakt mit den damals führenden Köpfen der livländischen Ritterschaft, die den interessanten Hofmeister in Gespräche verwickelten. Im Hause Budberg lernte er auf diese Weise den höchsten Repräsentanten der livländischen Ritterschaft, den Landmarschall Heinrich Gustav von Igelström kennen, sowie, wichtiger noch, den russischen Geheimrat Johann Christoph von Campenhausen, den Schwager der Baronin Budberg, der Hamann schätzte und ihn gegen das pädagogische Desinteresse seiner Schwägerin unterstützte. Im Hause des Generals von Witten dann war die Mutter seiner Zöglinge eine Reichsgräfin Lacy, die Tochter des russischen Generalfeldmarschalls Peter Edmond de Lacy, dessen Adjutant im finnischen Krieg wiederum der genannte Freiherr von Campenhausen gewesen ist. Durch diese Bekanntschaften wurde Hamann nicht nur mit deren pädagogischen Ansichten, sondern auch mit der regionalen politischen Situation der deutschen Provinzen Russlands vertraut. So konnte er zum kundigen Führer Lindners in die Besonderheiten der deutschbaltischen Gesellschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts werden. Hamanns eigene Einstellung zu seinen adeligen Gönnern war durchaus zurückhaltend. Spitzzüngig vergleicht er sie mit den Dienstboten, weil er ihre »Gunst« für ebenso »eigennützig« hält, wie die »Neigung unserer Bedienten«,7 und er befestigt diese Haltung mit Lessings Fabel: Wen ich brauchen kann, sagt der Löwe, wenn er mit dem Esel auf die Jagd geht, dem kann ich ja wohl meine Seite gönnen. So denken die Vornehmen wenn sie einen Niedrigern Ihrer Freundschaft würdigen.8

Dies ist die eine Seite der Hamannschen Erfahrung mit der deutschbaltischen Oberschicht. Die andere Seite lernt er genauer kennen, als sein Freund Johann 6 Vgl. zu diesem Abschnitt Hans Graubner : Patriotische Panegyrik in Riga. Zur politischen Bedeutung der Schulactus des Rigaer Domschulrektors Johann Gotthelf Lindner (1755–1764). In: Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800. Festschrift für Heinrich Bosse. Hg. v. Roland Borgards / Johannes Friedrich Lehmann. Würzburg 2002, S. 209–236. 7 ZH I, 70, 4ff. (an die Eltern, 4. Mai 1754). 8 ZH I, 70, 8ff.

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Christoph Berens, der Sohn einer der herrschenden Rigaer Patrizierfamilien, von seiner Aufklärungsreise durch Europa zurückkehrt, mit Hamann Kontakt aufnimmt und eine rege regionalpolitische Tätigkeit entfaltet. Hamann erzieht zu dieser Zeit bereits die Söhne des Generals von Witten in Kurland, das als eigene, an Polen angelehnte Adelsrepublik damals noch nicht zum russischen Reich gehörte. Aufgrund dieses Aufenthaltsorts ist Hamann von Berens dazu ausersehen, Lindner über die besondere politische Lage in Riga und über die Situation an der Domschule aufzuklären und ihm Verhaltensmaßregeln zu übermitteln bei seiner Bewerbung um das Rektorat. Denn die »Post in Liefland ist neugierig u. argwöhnisch [,] in Curland desto sicherer und auch nicht so kostbar«.9 Der Inhalt der Briefe soll also nicht der russischen Postzensur in die Hände fallen, die von der berüchtigten »Geheime[n] Kanzlei«, also der russischen Geheimpolizei ausgeübt wurde.10 Was ist an der Berufung des Domschulrektors so heikel, dass diese Zensur umgangen werden muss? Zur Aufklärung dieser Frage ist Hamanns Brief an Lindner nach Königsberg vom 5. Januar 1755 von grundlegender regionalhistorischer Bedeutung. Mit der im Ständestaat üblichen untertänigen Gefälligkeit hatte sich Lindner bei seiner Bewerbung um das Rektorat an alle wichtigen Leute in Riga gewandt, um seine Berufung zu befördern, unter anderen an den schon erwähnten Regierungsrat von Campenhausen. Das war offenbar ein Fehler: Der HE[rr]. v. C.[ampenhausen] hat sich mit vielem Eifer Ihrer angenommen der Sie mehr hätte verdächtig als beliebt machen können. Die Stadt sieht ihn als den gefährlichsten Mann für sich an; man fürchtet seinen Einfluß in allen Händeln u sieht selbige immer als Absichten an, Eingrieffe zu thun, ja selbst zu schaden.11

Warum ist der Angehörige der livländischen Ritterschaft und russische Geheimrat v. Campenhausen der gefährlichste Mann für die Stadt Riga und warum hat er die Macht, in ihre Belange Eingriffe zu tun und ihr sogar zu schaden? Der Satz Hamanns erhellt schlagartig die politische Situation der deutschen Provinzen Russlands und Rigas um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Damals standen die beiden führenden Stände, die Ritterschaft und das Stadtpatriziat auf dem Höhepunkt ihres Antagonismus seit der Eroberung der deutschen Provinzen durch Peter den Großen. Es ging um die Frage des Güterbesitzes und der Krongüter- und Arrendeverwaltung, die der Adel für sich allein beanspruchte, und um die Gerichte, welche die Stadt nur mit ausgebildeten Juristen, die Ritterschaft aber auch mit Laienrichtern aus dem Adel besetzen wollte. Stadt und Land hatten das Privileg einer autonomen Selbstverwaltung von Peter dem Großen in den Kapitulationen von 1710, nach Ende des Nordischen Krieges 9 ZH I, 89,26f. (an Johann Gotthelf Lindner, 5. Januar 1755). 10 Hans von Rimscha: Geschichte Russlands. Darmstadt 61983, S. 359. 11 ZH I, 88,21–25 (an Johann Gotthelf Lindner, 5. Januar 1755).

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verliehen bekommen. Die russischen Gouverneure der Provinz hätten diesen Dauerstreit der beiden Stände unter Kontrolle halten können; aber als Lindner nach Riga kam, gab es nur einen interimistischen Gouverneur, die Zarin Elisabeth kümmerte sich kaum um die Provinzialverwaltungen, und der vorangegangene Generalgouverneur, Feldmarschall de Lacy, war fast 20 Jahre lang von seinen Feldzügen beansprucht außer Landes. Da außerdem sämtliche höheren Gouvernementsbeamte von der livländischen Ritterschaft gestellt wurden, konnten diese, ausgestattet mit zentralistischer Macht, regionale ständische Interessenpolitik gegen die Stadt Riga betreiben. Dies ist der Hintergrund für Hamanns Warnung an Lindner, sich mit dem damals mächtigsten russischen Regierungsbeamten in Riga, nämlich mit dem Regierungsrat von Campenhausen einzulassen. Wenn man sich diesen Hintergrund klar macht und gleichzeitig bedenkt, dass Johann Christoph Berens zu der neuen Generation der Rigaer Stadtpolitiker gehört, deren Aufgabe es war, der Einschnürung der Existenzgrundlagen Rigas durch den livländischen Adel Widerstand zu leisten, dann erscheinen die ersten Schriften der beiden Freunde in Berens’ Auftrag in einem neuen Licht. Hamann schreibt an Lindner : »Berens hat ohnedem Absichten gern etwas in Riga durch uns gedruckt zu sehen«.12 Das zielt nicht, wie Nadler meint, auf eine Art rigische Fortsetzung der Königsberger Daphne,13 sondern will mit der Medienkompetenz der beiden Königsberger Freunde eine öffentliche Meinungsbildung gegen die livländische Ritterschaft initiieren. Nimmt man diese Zielsetzung an, so sprechen die beiden livländischen Erstlinge Hamanns und Lindners eine deutliche Sprache. Sie haben beide, sei es verdeckt, wie bei Hamann, sei es öffentlich, wie bei Lindner, einen wichtigen Adressaten, nämlich den Petersburger Hof, die russische Oberherrschaft. Sie ist die einzige Instanz, von der Riga Schützenhilfe im livländischen Ständestreit erhoffen kann. Hamanns Beylage zu Dangeuil’s Anmerkungen über die Vortheile und Nachtheile von Frankreich und Großbritannien in Ansehung des Handels ist eine massive Adelsschelte, gipfelnd in dem lateinischen Zitat des Papstes Ennea Silvio Piccolomini, dass der Adel seinen Ursprung meistenteils in einem Verbrechen habe und sein Ansehen und Reichtum auf Raub, Mord, Wucher, Giftmischerei etc. beruhe.14 Dagegen wird als neuer, friedfertiger und dem Staate einzig nützlicher Adel der Kaufmannsstand in Gestalt des patrizischen Großkaufmanns herausgestellt. Das ist ein einziger Wink mit dem Zaunpfahl nach Petersburg, im livländischen Ständestreit das Patriziat gegen die Ansprüche der Ritterschaft zu stützen. 12 ZH I, 90,33f. 13 Josef Nadler : Johann Georg Hamann (1730–1788). Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg 1949, S. 61. 14 N IV, 235,41–52.

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Politisch bedeutsamer, weil wirksamer als Hamanns Kampfschrift ist für Berens’ Zielsetzung jedoch die erste Rigaer Publikation des Rektors Lindner. Es ist sein erster öffentlicher Schulactus zum Geburtstag der Zarin Elisabeth im Dezember 1755,15 kaum ein Dreivierteljahr nach seinem Amtsantritt. Er umfasst 80 Seiten, wird sogleich vom Magistrat der Stadt aufwendig gedruckt und offenbar von Berens persönlich in Petersburg überreicht, als dieser Anfang 1756 dort sein Amt als rigischer Geschäftsträger antritt. Die Wiederbelebung der barocken Schulhandlungen an der Domschule ist eine taktische Maßnahme der Freunde, um in der ständischen Gesellschaft die moderne Idee der politischen Beeinflussung als bloße Erneuerung des alten Wahren akzeptabel zu machen. Lindners Einladungsschrift ist ein Kabinettstück für diesen Drahtseilakt. Sämtliche Texte in dieser Schulhandlung, Reden, Gedichte, Abhandlungen in deutscher, lateinischer und französischer Sprache stammen von Lindner selbst, und alle sind auf das Lob der Zarin Elisabeth ausgerichtet, gipfelnd in einer panegyrischen Schlussode des Rektors, die besondere Aufmerksamkeit erregt hat. Sämtliche 16 Schulhandlungen Lindners, die er in den folgenden neun Jahren zweimal jährlich zum Geburts- und Krönungstag der Zarin Elisabeth, die letzten drei einmal im Jahr zum Namens- oder Krönungstag der Zarin Katharina II., veranstaltet, zeigen diese panegyrische Ausrichtung als Hauptakzent. Sie haben die Aufgabe, den akademischen Vorteil der bedeutendsten Schule Livlands, ihre rhetorische und poetische Potenz einzusetzen, um die Stadt Riga in Petersburg ins rechte untertänige Licht zu rücken und mit diesem Mittel die Ritterschaft dort im Ansehen auszustechen. Hamann ist in dieser Zeit mit Lindner und Berens eines Herzens. Er begleitet die literarische Tätigkeit Lindners mit Anerkennung und Zuspruch. Der Magister und Rektor ist für ihn zu dieser Zeit ein Weltweiser, erprobter Kasualpoet und pädagogischer Fachmann, dem er auch alle seine Hofmeisternöte mitteilt. Er ist neugierig auf Lindners Produktion: »Haben Sie nicht selbst etwas gemacht, das Sie mir zu lesen schicken können! kein Liedchen, keine Erzählung«?16 Er erkundigt sich: »Ist Ihr Actus gut abgegangen. Melden Sie mir doch etwas davon«17 und freut sich, als er von dem großen Erfolg der ersten Schulhandlung in Riga hört. Er rühmt Lindners Schlussode auf die Zarin als »vortreflich«, er »habe sie selbst mir so wohl als andern etl. mal vorgelesen«.18 Als Bestätigung 15 Johann Gotthelf Lindner : Reden und Gedichte in verschiednen Sprachen bey einer zur Gedächtnisfeier des hohen Geburtstages Ihrer Kaiserl. Maiestät Unserer allergnädigsten grossen Frau und Selbsthalterin aller Reussen. Elisabeth Petrownen zur Ubung der Jugend angestellten Schulhandlung in der Domschule zu Riga. Riga 1755. 16 ZH I, 27,18f. (an Johann Gotthelf Lindner, 8./19. März 1753). 17 ZH I, 133,26f. (an Johann Gotthelf Lindner, 29. Dezember 1755). 18 ZH I, 135,9f. (an Johann Gotthelf Lindner, 21. Januar 1756).

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dafür, dass die panegyrische Ausrichtung der Schulactus und der Schlussode von Berens stammt und für den Zarenhof bestimmt war, lesen wir, dass Hamann sich sorgt, ob »derjenige, der Ihnen solche ehmals aufgetragen, sie schon nach Petersburg geschickt haben möchte.«19 Hamann hat ebenso wie Lindner die Auftragsarbeit für Berens völlig akzeptiert und sich dessen Vorstellungen zu eigen gemacht. Lindner tat das als Angestellter des Rigaer Magistrats; Hamann aber begab sich freiwillig unter Berens’ Führung, der die beiden Freunde durchaus gezielt für seine politischen Zwecke ausnutzte. Hamann ist das erst sehr viel später deutlich geworden. Jetzt geht er sogar soweit, als das Angebot kommt, für das Haus Berens offiziell zu arbeiten, dem Freund zu schreiben, er möge seinem Bruder, dem Chef des Hauses, Arend Berens, mitteilen, dass er, Hamann, sich »unendlich glücklich halten würde der Leibeigene eines klugen v rechtschaffenen Mannes zu seyn v eben so unglücklich der Günstling solcher Leute die nicht« [Hervorh. H.G.].20 Sicher, Hamann setzt das Wort »Leibeigene« vornehmlich rhetorisch als negative Steigerung zu »Günstling« ein, um dadurch die Vollkommenheit seines künftigen Brotherrn noch stärker hervorzuheben, aber mit dieser in Livland besonders problematischen Selbstdefinition, mit der er sich den unterdrückten lettischen und estnischen Bauern gegenüber der deutschen Oberschicht gleichstellt, zeigt sich der vor-Londoner Hamann, wie Lindner, noch ganz im Banne ständischer Unterwürfigkeit, aus welcher der Magus sich später befreien kann, der Rektor nicht.

2.

Die Freundschaftsprobe

In der Zeit nach Hamanns Rückkehr aus London bis zum November 1759 geht der gegenseitige Austausch über Nachrichten aus der gelehrten Welt ebenso weiter wie die Diskussion um poetische Literatur. Aber im Mittelpunkt steht doch die Belastung der Freundschaft nach Hamanns Flucht aus dem Hause Berens. Diese war nötig geworden, weil der in Petersburg weilende Freund Johann Christoph Berens Hamann die Hand seiner Schwester Katharina verweigerte, Hamann also nicht länger im Berensschen Hause leben konnte. Die Motive für die Verweigerung sind im Einzelnen nicht bekannt; sie mögen mit der ra19 ZH I, 134,33f. 20 ZH I, 208,26ff. (an Johann Christoph Berens, Mai 1756?). Es ist aber zu bedenken, dass es sich nur um einen Briefentwurf handelt. Henkel / Hubach fragen: »Ob H. wirklich die Byzantinismen (Leibeigene Günstling) im abgesandten Brief übernahm?« (Kommentar zu Brief Nr. 79, ZH I, 207f., in: Arthur Henkel / Sybille Hubach: Kommentar und Register zu Johann Georg Hamann Briefwechsel, Band 1–7 (Insel-Verlag Frankfurt a.M. 1955–1979). Elektronische Briefedition Johann Georg Hamann – Briefe. www.hamannbriefe.de.

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dikalen christlichen Wende Hamanns zu tun haben,21 sind aber im Kern sicher ständisch begründet. Der stolze, sich dem Adel überlegen fühlende Rigaer Patrizius konnte seine Schwester – Freundschaft hin oder her – nicht dem kleinbürgerlichen Baaderssohn aus Königsberg überlassen. Freilich wollte Berens diese Freundschaft durchaus aufrechterhalten und setzte in der Folgezeit alles daran, um den Studienfreund, den er »für einen Mischmasch von großen Geiste und elenden Tropfe«22 hielt, aus seiner kompromisslosen Religiosität zurückzuholen, welche die gesamte aufgeklärt-ständische Lebensweise rigischer Prägung23 in Frage stellte. Hamann lässt durch Lindner entgegnen, dass nicht nur er, Hamann, sondern jeder Mensch, auch Berens selbst, ein solch anthropologischer »Mischmasch« sei. Doch schränkt er diese christlich-aufgeklärte Gleichstellung sogleich mit der Vermutung ein, dass er Berens wohl »zu schlecht zu dieser parallel«24 sei. In solch bitteren Bemerkungen werden die Enttäuschung und die Kränkung sichtbar, die das herrische Verhalten des Rigaer Freundes verursacht und Hamann zu der Einsicht geführt hat, dass sie letztlich »nach verschiednen Entwürfen zu leben«25 genötigt seien. Als Berens nun auch den Rektor Lindner als Vermittler zwischen sich und dem geflüchteten Freund einspannt, wird auch diese älteste Freundschaftsbeziehung auf eine harte Probe gestellt. Denn dass Lindner sich auf diese Vermittlung einlässt, ruft Hamanns großen Zorn hervor. Er bedenkt aber bei seinen Angriffen auf den Rektor nicht genug, wie abhängig der Leiter der Stadtschule vom Wohlwollen des Magistrats und damit auch von Berens ist. Die Heftigkeit von Hamanns Polemik gegen Lindner wird wohl nur daraus verständlich, daß er in Lindner sein eigenes Verhalten vor der Londoner Wende bekämpft. Nicht wie »Freunde unter einander« rede Berens mit ihm in den Äußerungen, die Lindner übermittelt, sondern wie »der Herr mit seinem Sclaven«.26 Denn wenn »HE[rr] B [erens] ein Patricius gleich ist, so ist er doch noch kein Archont«,27 der Gesetze erlassen könne, wie man mit Freunden umzugehen habe. »Freundschaft beruht

21 Hamann berichtet in seinen Lebenslauf, dass es heftige »Auftritte« zwischen ihm und »Herrn Arend« (N II, 53,28f.), dem Chef des Hauses, gegeben habe, der sich gegen Hamanns Bekehrungsversuche wehrte und darüber wohl auch dem Bruder in Petersburg Mitteilung machte. 22 ZH I, 306,14f. (an Johann Gotthelf Lindner, 21. März 1759). 23 Zu dem Ausmaß ständischen Denkens auch bei dem als Vater der Aufklärung in Livland gerühmten Ratsherrn Johann Christoph Berens vgl. Hans Graubner : Ständisches und aufgeklärtes Denken zur Statthalterschaftszeit in Riga (Schwartz, Berens, Snell). In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte NF. Bd. VII / 1998, Heft 1. Institut Nordostdeutsches Kulturwerk Lüneburg, S. 173–193, bes. S. 179–185. 24 ZH I, 306,18 (an Johann Gotthelf Lindner, 21. März 1759). 25 ZH I, 436,15f. (an den Bruder, 30. Oktober 1759). 26 ZH I, 306,23f. (an Johann Gotthelf Lindner, 21. März 1759). 27 ZH I, 399,28f. (an Johann Gotthelf Lindner, 18. August 1759).

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auf Gleichheit«.28 Lindner aber lasse sich von den Herren Berens »bald als ihren Schaarwerker [d. h. ihren Gehorcharbeiter, H.G.] bald als sonst was brauchen«.29 Es ist ja noch nicht lange her, dass Hamann selbst sich den Berens als »Leibeigener« angetragen hatte. Erst durch seine neue Lebenseinstellung vermag er sich davon zu befreien und »als ein Christ gegen Menschenfurcht und Menschengefälligkeit zu streiten«.30 Erst die Besinnung auf die christliche Anthropologie erlaubt es ihm, ständisches Verhalten, ständische Hierarchien anzugreifen. In den Briefen an Lindner aus dieser Zeit bildet sich Hamanns ungewöhnliches Freundschaftsverständnis heraus, das es ihm ermöglicht an Lindner und auch an Berens unbedingt festzuhalten und sie zugleich bis an die Grenze des Abbruchs zu bekämpfen. Lindner hatte Hamann einen solchen Bruch mit Berens nahegelegt. Sein »guter Rath« bestand darin, »geschiedne Leute zu werden, wenn ich nicht in einem Joch mit ihm [Berens] ziehen will«.31 Hamann entgegnet, er wäre »der niederträchtigste und undankbarste Mensch«, wenn er sich »durch seine [Berens’] offenbare Feindschaft so bald sollte abschrecken laßen sein Freund zu bleiben«.32 Wie Hamann dieses Zugleichsein von Freundschaft und Feindschaft zusammendenkt, geht aus einer unscheinbaren Bitte hervor, die er an Lindner richtet: dieser möge ihm »unter allen Gestalten Ihre Freundschaft zu erhalten suchen«.33 Hier unterscheidet Hamann zwischen dem Kern einer Freundschaft und den verschiedenen »Gestalten«, die sie im Leben annehmen könne, auch die Gestalt der Feindschaft. Hamann übernimmt damit eine Gedankenfigur, die er in den Briefen vorher im Anschluss an Überlegungen Augustins zum nur perspektivisch möglichen Schreiben der Wahrheit entwickelt hatte. Danach ist die Wahrheit […] einem Saamenkorn gleich, dem der Mensch einen Leib giebt wie er will; und dieser Leib der Wahrheit bekommt wiederum durch den Ausdruck ein Kleid nach eines jeden Geschmack, oder nach den Gesetzen der Mode.34

Wenn die Freundschaft ein »Göttlich Geschenk«35 ist und als solches wie die Wahrheit unter Menschen immer nur perspektivisch in verschiedener Gestalt erscheinen kann, so ist sie durch menschliche Handlungen, die immer nur in den Bereich der Gestaltungen stattfinden, nicht aufzulösen. Wenn Hamann den Rigaer Freunden also feindlich erscheint und wenn er sie als Feinde behandeln muss, so gehört das zu dem anthropologisch unvermeidlichen Rollenspiel 28 29 30 31 32 33 34 35

ZH I, 405,15f. (an Johann Gotthelf Lindner, 31. August 1759). ZH I, 317,26 (an Johann Gotthelf Lindner, 27. April 1759). ZH I, 299f. (an den Bruder, 14. März 1759). ZH I, 406,6ff. (an Johann Gotthelf Lindner, 31. August 1759). ZH I, 406,9ff. ZH I, 345,18f. (an Johann Gotthelf Lindner, 5. Juni 1759). ZH I, 335,22–25 (an Johann Gotthelf Lindner, 1. Juni 1759). ZH I, 338,21 (an Johann Gotthelf Lindner, 5. Juni 1759).

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menschlicher Beziehungen, welches bewirkt, »daß mich meine nächsten Freunde unter der Maske mehr als einmal verkannt haben«.36 Unter den Masken aber lebt die Freundschaft fort, »die alle Menschensatzungen […] bricht und keine Gesetze kennt, sondern wie die Luft, der Othem unsers Mundes, frey seyn will«.37 Da Lindner sich als Berens’ Sprachrohr für die Rückbekehrung Hamanns zur Verfügung stellt, ist es nicht immer möglich, Berens’ Urteile über Hamann von denen Lindners zu unterscheiden. Sicher gibt dieser zunächst nur Berens’ Meinungen wieder und versucht, sich herauszuhalten. Das gelingt ihm aber nicht, weil Hamann ihn drängt, als Freund Position zu beziehen. Fraglos übernimmt Lindner nach und nach die Position der Rigaer in seinem Urteil über Hamann. Das geht auch aus Hamanns Briefen hervor, zeigt sich aber am deutlichsten an Lindners handschriftlichen Bemerkungen an diesen Briefen. Die Hauptvorwürfe sind Hamanns »Heftigkeit«38 und sein »zänkisch humeur«,39 dann seine »Winkelzüge«,40 sein Schreiben in hergeholten Analogien. Wenn »sie deutsch reden wollen, so schreiben sie gerad u. nicht mit Schwung u. Funken«,41 lautet eine Annotation. Für den Gottschedianer heißt »gerad« schreiben logisch und affektfrei schreiben, und die treffende Charakterisierung »mit Schwung und Funken« für Hamanns Stil ist ein Negativurteil. Schärfer werden Lindners Vorwürfe, wenn es um ihrer beider Christlichkeit geht. »Sie misbrauchen die Bibel«, notiert Lindner und Hamanns Beharren auf seiner Glaubensposition gilt ihm als »Rechthaberey« und »Naturstoltz«.42 Er selbst, Lindner, handele dagegen aus »christlicher Liebe nicht mit Poltern u. Ausfahren u. Schnauben«.43 Hier stehen nun zwei Auffassungen von Christlichkeit gegenüber. Die Lindnersche macht sich kenntlich in einer anderen Briefannotation: »Man tadelt das Menschl [iche] an Ihnen, nicht ihr Christenth[um]«.44 Diese Bemerkung zeigt, dass Lindner die Hamannsche Christlichkeit nicht mehr versteht, für die es diese nur begriffliche Distinktion zwischen Menschlichem und Christlichem nicht geben kann. Hamanns Gegenangriff zielt genau auf diesen Punkt: vernünftige »Distinctionen Affecten entgegen zu setzen, heist den Wellen des Meers den Sand zur

36 ZH I, 406f. (an Johann Gotthelf Lindner, 31. August 1759). 37 ZH I, 431,7f. (an Johann Gotthelf Lindner, 12. Oktober 1759). 38 ZH I, 388,15 (an Johann Gotthelf Lindner, 8. August 1759), ZH I, 406,35 (an Johann Gotthelf Lindner, 31. August 1795), ZH I, 420,1 (an Johann Gotthelf Lindner, 28. September 1759). 39 ZH I, 466. 40 ZH II, 487. 41 ZH I, 466. 42 ZH I, 467. 43 ZH I, 466. 44 ZH I, 468.

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Gränze setzen«.45 Gegen lebendige, leidenschaftliche Überzeugungen haben tote Begriffsklärungen keine Chance. Daher sei es unerlässlich, »daß man die Wahrheit von Herzen redet« und sie »weder durch Geberden noch durch Distinctionen […] verfälschet«.46 Diese Art Wahrheitsrede sei aber dem »methodischen Herzen« der »Freundschaft«47 Lindners unzugänglich. In Hamanns Argumentation wird immer wieder deutlich, dass er das in seinen Augen mangelhafte Freundschaftsverständnis der Rigaer mit deren Verhaftetsein in ständischer Denkweise verknüpft, die es ihnen nicht erlaubt offen und leidenschaftlich zu sprechen, sondern sie nötigt, sich hinter Mäßigung, Anstand und rationaler Begrifflichkeit zu verbergen. Berens als »Hofmann«48 und Lindner als »Weltmann«49 bleiben in die höfischen Regeln der »Galanterie«50 verstrickt. Hamann lässt zwar keinen Zweifel daran, dass er selbst auch unter die »galante[n] Leute«51 gehört, und deren Rolle sogar besser zu spielen vermöchte als seine Freunde, aber durch seinen radikalen Rückgriff auf die christliche Anthropologie wird ihm das ständische Leitbild des galant homme, welches das Selbstverständnis der Rigaer durch und durch prägt, zur bloßen Maske. Hamanns Gegenstrategie gegen Lindners, durch Berens inspirierte Angriffe besteht darin, alle ihm vorgeworfenen Fehler als Zeichen einer sündigen Lebendigkeit zuzugeben und dagegen Lindners abstraktes Distinktionschristentum als leblos anzuprangern: »Meine Menschen sind nicht helfenbeinern«,52 sondern »sie fühlen und schreyen Gott Lob«,53 während Berens und Lindner »ihre Nächsten so leblos beurtheilen«, wie eine Statue, und »statt Hirten lebendiger Lämmer« zu sein, »sich für Pigmalions halten, für große Bildhauer«54. Auf dieser Linie kennzeichnet Hamann Lindners Christentum mit dem vernichtenden Vorwurf, Lindner kenne »Christum wol als den Weg und die Wahrheit, aber nicht als das Leben«.55 An dieser Stelle ihrer Kontroverse hatte auch Hamann das Gefühl, es sei genug. Lindner hatte ihm einen Waffenstillstand angeboten. Hamann nimmt an, 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

ZH I, 417,2f. (an Johann Gotthelf Lindner, 28. September 1759). ZH I, 417,5f. ZH I, 406,6 (an Johann Gotthelf Lindner, 31. August 1759). ZH I, 407,1. ZH I, 407,2. ZH I, 406,17. ZH I, 406,15. ZH I, 389,33 (an Johann Gotthelf Lindner, 8. August 1759). ZH I, 389,35. ZH I, 390,2f. Zu Hamanns negativer Verwendung des Pygmalion-Bildes vgl. Hans Graubner : Peter der Große als Pygmalion. Zum frühen Peter-Bild bei Hamann und Herder. In: Ostseeprovinzen, Baltische Staaten und das Nationale. FS. f. Gert von Pistohlkors zum 70. Geb. Hg. v. Norbert Angermann, Michael Garleff u. Wilhelm Lenz. Münster 2005, S. 113–136, bes. S. 121–126. 55 ZH I, 420,18f. (an Johann Gotthelf Lindner, 28. September 1759).

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aber nur als »Waffenstillstand unter den Bedingungen eines gänzlichen Stillschweigens«56. An seinen Bruder schreibt er über das Verhältnis zu Lindner : »ich habe ihm nichts mehr zu sagen«,57 und wird mit einem Chrysostomus-Zitat noch deutlicher : Christus verlangt: Wenn Dich Dein rechtes Auge ärgert; so reiß es aus, und wirf es von Dir. Er befiehlt Dir Deine liebsten Freunde, die Dir so theuer als Deine Augen […] sind, auszureißen und wegzuwerfen, wenn sie Dir an Deiner Seeligkeit hinderlich sind.58

Aber es sind letztlich dann doch Hamanns Hinterlassenschaften in Riga, die ihn die Korrespondenz nach einer halbjährigen Pause wiederaufnehmen lassen: Es sind die im Hause Berens zurückgelassenen Bücher, die Lindner zurückholen soll, weil Hamann für sie Sorge trägt »wie ein alter Harpax für seine harten Thaler«;59 es ist der Kummer über den bei Lindner lebenden Bruder, dessen Arbeitsfähigkeit zusehends nachlässt, und es ist vor allem sein theologisch begründetes Freundschaftsverständnis, das keinen vollständigen Bruch weder mit Berens noch mit Lindner zulässt.

3.

Lindners Ständepädagogik und Hamanns Entdeckung des Kindes60

Für den Gang der Freundschaft zwischen Hamann und Lindner ist es von Bedeutung, dass sie beide im Bereich der Erziehung tätig sind: Hamann als Hofmeister auf baltischen Gütern, Lindner als Leiter der Stadtschule für die Söhne des Patriziats in Riga. Bei dieser Arbeit richtet Hamann seine Aufmerksamkeit von vornherein auf die Kinder, ihre Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Fähigkeiten, Lindner hingegen auf die Eltern und ihre gesellschaftlichen Bildungsvorstellungen. Hamann gerät daher folgerichtig mit den ständekonventionellen Vorstellungen des liv- und kurländischen Landadels in Konflikt,61 Lindner hingegen führt seine Schule im Einklang mit den Standeszielen der patrizischen Stadtväter Rigas. Aufgrund dieser verschiedenen Grundeinstellungen treten die 56 57 58 59 60

ZH I, 431,3f. (an Johann Gotthelf Lindner, 12. Oktober 1759). ZH I, 436, 10f. (an den Bruder, 30. Oktober 1759). ZH I, 436,32–35. ZH II, 19,7f. (an Johann Gotthelf Lindner, 12. April 1760). Vgl. zu diesem Abschnitt Hans Graubner : Kinder im Drama. Theologische Impulse bei Hamann, Lindner und Lenz. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für neuere deutsche Literatur. Hg. v. Wilfried Barner / Christine Lubkoll / Ernst Osterkamp / Ulrich Ott. 46. Jahrgang (2002), S. 73–101. 61 Vgl. dazu Hans Graubner : Zwischen Adel und Patriziat. Beobachtungen des jungen Hamann in Livland und Kurland (1752–1759). In: Baltische Literaturen in der Goethe-Zeit. Hg. v. Heinrich Bosse / Otto-Heinrich Elias / Thomas Taterka. Würzburg 2011, S. 83–100.

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pädagogischen Auffassungen der beiden Freunde schon während der Hofmeisterzeit Hamanns auseinander. Hamanns Erziehungskonzeption entsteht vor seiner Londoner Lebenswende und wird erst danach zunehmend theologisch untermauert. Nach dem Scheitern seiner ersten Hauslehrerstelle im Hause der Baronin Budberg wächst bei Hamann eine erhebliche Skepsis gegenüber der herrschenden schulischen und akademischen Ausbildung. Bevor Lindner als Schulleiter nach Riga geht, muss er in einem Brief Hamanns lesen: »Sehen Sie, lieber Freund, wie klug uns die Erfahrung v wie unwißend v. eitel uns die Schule macht.«62 Aus dem praktischen Umgang mit den ihm anvertrauten Kindern konzipiert der jetzt bei General von Witten arbeitende Hauslehrer seine leider nur aus Ansätzen zu erahnenden »Briefe eines Hofmeisters«, mit denen er acht Jahre vor Rousseaus Emile »die Welt über die Erziehung aufzuwecken«63 beabsichtigte. Hamanns Reserve gegenüber Lindners Schulverständnis macht sich schon bei seiner Reaktion auf den ersten Schulactus des Rektors bemerkbar. Er lässt sich Zeit mit seiner Antwort, obwohl Lindner ihn um sein Urteil bittet, spricht dann von dem »Vergnügen«,64 das ihm die Sammlung bereitet habe, weil die Schulfeier des Freundes in Riga so begeisterte Resonanz fand, lässt aber zur pädagogischen Seite des Actus kein einziges Wort fallen. Hamann weiß freilich auch, dass die Schulhandlungen vornehmlich einen politisch-panegyrischen Zweck erfüllen sollen. So kritisiert er neben Setzerfehlern nur eine Stelle in der lateinischen Rede zum Ruhm der Zarin Elisabeth, an der Lindner ungewollt etwas Negatives über Peter den Großen sagt. Hamann fürchtet deshalb einen Eingriff der »Censoren«65 und kommentiert, dass die Bemerkung über Peter zwar wahr sein möge, aber der panegyrischen Absicht des Actus widerspreche: »Schön für einen Geschichtschreiber, falsch für einen Lobredner«.66 In dem halben Jahr, das Hamann nach seiner Rückkehr aus London noch in Riga verbringt, erprobt er seine pädagogischen Einsichten beim erfolgreichen Unterricht eines Kindes im Hause Berens und durch einen erzieherischen Briefwechsel mit einem seiner ehemaligen Zöglinge v. Witten. Diesen Briefwechsel wiederum begleitet er mit pädagogischen Briefen an den jüngeren Bruder des Rektors, an Gottlob Immanuel Lindner, der Hamanns Nachfolger als Hofmeister auf Grünhof geworden ist. Mit dem jüngeren Lindner scheint sich Hamann in pädagogischen Fragen besser zu verstehen als mit dem Rektor, der Hamanns Briefe an den jungen Witten und seinen Kontakt mit dem Grünhofer 62 63 64 65 66

ZH I, 60,34f. (an Johann Gotthelf Lindner, Anfang Januar 1754?). ZH I, 198,21f. (an Johann Gotthelf Lindner, Mai 1756). ZH I, 150,21 (an Johann Gotthelf Lindner, 21. Februar 1756). ZH I, 150,37. ZH I, 151,15f.

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Bruder als unzulässige Einmischung missbilligt. Von der ablehnenden Haltung des Rektors erfahren wir aus Hamanns Briefen an den jüngeren Lindner, der sich auf die Seite Hamanns gestellt hat. »Sie haben sich« schreibt Hamann an ihn, »durch Ihre letzte freundschafftl. Zuschrifft gegen Ihren Herrn Bruder legitimirt, und mir Muth und Herz eingeflößt«.67 Wenn man das Unterrichtskonzept des Rektors mit den Ansichten vergleicht, die Hamann dem jüngeren Lindner mitteilt, dann wird deutlich, wie weit sich ihre Einstellungen voneinander entfernt haben. Der ältere Lindner steht noch fest in der Tradition des Rhetorikunterrichts, und seine Schuldramen gehen aus seinen Redeübungen hervor, bei denen die Schüler vor allem das Deklamieren pathetischer Texte lernen sollen. Seine sechste Schulhandlung vom April 1758, bei der er erstmals ein selbst verfasstes Schuldrama aufführen lässt, eröffnet Lindner mit einer Einladungsschrift über den pädagogischen Nutzen von Schulhandlungen. Zum Gegenstand seines Dramas wählt er einen Gegenstand aus der Geschichte: »die Krönung Gottfrieds, Herzogs von Bouillon, zum Könige in Jerusalem«.68 Schuldramen, so erklärt er diese Wahl, hätten den Zweck, die Schüler in rhetorischer Deklamation zu üben. Deshalb müsse man solche Begebenheiten wählen […], da nicht nur die Declamationskunst im Grössern sich wegen des Affekts zeigen läßt, indem der Schüler fremde Personen vorstellen muß, als wenn ihm diese Dinge angehen, dies nicht nur ihren Witz zu Nachahmungen unmerklich anfeurt, und ihnen also eins der prächtigsten Stücke der Beredsamkeit einschmeichelt, sondern auch ihr Herz durch den Nachdruck […], mit dem sie die eingestreuten Sittenlehren sich selbst vorsagen müssen, zur Tugend bilden kan.69

Kern dieser Rhetorik-Erziehung ist also die Verstellung. Die Schüler sollen große Affekte fremder Personen darstellen, die sie noch nicht haben, sollen so tun, »als wenn« sie »diese Dinge angehen«, sollen fremden »Witz« nachahmen und fremde Tugenden aus »eingestreuten Sittenlehren« übernehmen. Von solcher Erziehung hat Hamann sich während seiner Hofmeisterzeit grundsätzlich abgewandt und sich eine Pädagogik erarbeitet, welche die Kinder möglichst unverstellt sich entwickeln lässt. Die traditionelle Haltung des Lehrers aber unterzieht er einer scharfen Kritik und sieht in ihr das entscheidende Hindernis kindgerechten Unterrichts. Nur, was die Kinder angeht, und nicht, wie 67 ZH I, 281,9f. (an Gottlob Immanuel Lindner, November 1758?). 68 Zur Gedächtnisfeier der hohen Krönung Unserer allergnädigsten Kaiserin und grossen Frauen Elisabeth Petrowna, Kaiserin und Selbstherrscherin aller Reussen etc. etc. etc. wird den 27sten April dieses Jahres in der hiesigen Stadt und Domschule eine Schulhandlung ausgeführet werden, wozu aller resp. hohen Gönner, Herren und Freunde gnädige hochansehnliche und geneigte Gegenwart hiedurch pflichtmäßig sich erbittet M. Johann Gotthelf Lindner, der Domschule Rector. Riga 1758. Unpaginierte Einladungsschrift zur 6. Schulhandlung. 69 Ebd.

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Lindner fordert, was sie nicht angeht, dürfe ihnen nahegebracht werden. Es ist das sokratische Konzept, wonach Kinder angeregt werden sollen, das zu finden, was schon in ihnen liegt. Die eigenen Empfindungen, also Sentimens bey Kindern herauszubringen, die Hebammen Künste, die Bildhauer Handgriffe, welche Socrates von seinen 2 Eltern vermuthlich abgestohlen – – Dies muß immer der Endzweck unseres Amtes seyn, und wir müßen dies mit eben so viel Demuth v Selbstverleugnung treiben, als er die Weltweisheit.70

Der Nachsatz zeigt die Richtung, in die Hamann die Position des Lehrers verschiebt: vom patriarchalen Herrn über die Kinder zu deren Zuhörer und Schüler. Jetzt, nach London, entfaltet der Magus seine erzieherische Grundhaltung als eine an seine Theologie angelehnte Kondeszendenz-Pädagogik und der Grünhofer Hofmeister erfährt als erster sein pädagogisches Glaubensbekenntnis, dass Kinder »unsere Lehrer sind, und wir von ihnen lernen müßen«.71 Auch den eigenen Bruder, der an Lindners Schule als Kollaborator arbeitet, beschwört Hamann, seinen Unterrichtsstil zu ändern: »siehe Deine Unmündige als lauter Collaboratores an, die Dich unterrichten wollen«72 und: »Wer von Kindern nichts lernen will, der handelt tumm und ungerecht gegen sie, wenn er verlangt, daß sie von ihm lernen sollen«.73 Solange Hamann in Riga weilt, hält er mit seiner Kritik an der pädagogischen Haltung des ausgewiesenen Schulmanns Lindner hinterm Berge. Nach seiner Rückkehr nach Königsberg aber, während der heftigen brieflichen Auseinandersetzungen um Lindners Parteinahme für Berens und vollends nach dem zeitweiligen Bruch und der halbjährigen Briefpause lässt er diese Zurückhaltung fallen. Zunächst ist seine Kritik nur aus Andeutungen und Lektürehinweisen zu entnehmen, die zeigen, dass er nicht nur das pädagogische Konzept, sondern auch die poetische Kraft des Rektors bemängelt. So empfiehlt er ihm die Lektüre von Lessings Jünglingsdrama Philotas als »das Beste, was Sie erwarten können«;74 und für »Schulsachen« soll Lindner den alten »Schulmeister«75 Comenius studieren. Hamann verfolgt Lindners Dramen-Produktion nur durch Lektüre. Als Zuschauer kann er in Riga nur ein einziges Schuldrama miterlebt haben, den Abdolonym bei Lindners 7. Schulactus im November 1758. Nur in diesem Winter hielt er sich in Riga auf, bei den sonstigen Aufführungen war er immer auf Grünhof in Kurland oder schon wieder in Königsberg. Beiläufig stichelnd zeigt 70 71 72 73 74 75

ZH I, 277,21–25 (an Gottlob Immanuel Lindner, Ende Oktober / Anfang November 1758). ZH I, 277,27. ZH I, 347,4f. (an den Bruder, Juni 1759?). ZH I, 347,16f. ZH I, 325,1f (an Johann Gotthelf Lindner, 27. April 1759). ZH I, 325,5.

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er aber sein Missfallen, wenn er in einem späteren Brief dieses Stück als Gleichnis für langes »Geschwätz«76 wählt. Im November 1759 hatte Hamann den Briefwechsel mit Lindner einstweilen beendet. Im April 1760 nimmt er ihn wieder auf. Nachdem die ersten Briefe noch distanziert variieren zwischen den förmlichen Anreden »GeEhrtester Freund«77 und »HöchstzuEhrender Freund«,78 kehren sie bald zu dem vorher vertrauten »Herzlich geliebtester Freund«79 zurück, und die Korrespondenz entfaltet sich wieder als gewohnt harte Auseinandersetzung. Hamann hat inzwischen die Sokratischen Denkwürdigkeiten geschrieben und bereitet die Kreuzzüge vor, Lindner hat die halbjährlichen Schulactus fortgesetzt, sie nach und nach mit Schuldramen bereichert und schickt sich an, eine Sammlung dieser Arbeiten als eigenes Buch herauszubringen. Der Ruhm seiner Schulhandlungen in Riga veranlasst ihn, den regionalen Rahmen zu verlassen und mit einem eigenen Werk als Theoretiker und Reformator des Schuldramas aufzutreten. Nach seiner bisherigen Kenntnis von Lindners Produktion befürchtet Hamann Schlimmes. Gemessen an seinen eigenen pädagogischen Überzeugungen und am poetischen Niveau dieser Texte hält er sie eines überregionalen Auftritts für unwürdig. Um dem Freund eine Blamage zu ersparen und ihn zur Einsicht und zu besserer Beherrschung des Metiers zu nötigen, setzt er sich jetzt ernsthafter mit dessen Schuldramen auseinander. Dabei koppelt er die Kritik an Lindners überholter Pädagogik mit der Kritik an der ständischen Lebensform der Rigaer Oberschicht, so dass ihm Lindners Erfolg in Riga geradezu als Beweis für die mangelnde Qualität und den Anachronismus der Produktionen des Rektors gilt. Diese Doppelkritik eröffnet Hamann mit der Einleitung Petrons zu seinem Satyricon. Dort steht eine zeitlose Kritik am Rhetorikunterricht, die in Hamanns polemischem Arsenal eine zentrale Rolle spielt. Der lateinische Satiriker wisse, anders als Lindner, »ein Schulmeistergesicht zu rechter Zeit, und nicht zur Unzeit zu schneiden«.80 Mit Petron poltert Hamann: Et ideo Ego adolescentulos existimo in Scholis stultissimos fieri, quia nihil ex iis, quae in usu habemus, aut audiunt aut vident, sed Piratas – et Tyrannos – sed responsa in pestilentiam data – sed mellitos verborum globulos et omnia dicta factaque quasi papauere et sesamo sparsa.81 76 ZH I, 323,8. Dass es sich an dieser Briefstelle um Lindners Abdolonym handelt, hat Jørgensen entdeckt (Sven Aage Jørgensen: Johann Georg Hamann. Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend. Einführung und Kommentar. København 1962, S. 80). 77 ZH II, 18,7 (an Johann Gotthelf Lindner, 12. April 1760) und 26,18 (an Johann Gotthelf Lindner, 13. Juni 1760). 78 ZH II, 24,16 (an Johann Gotthelf Lindner, 21. Mai 1760) und 32,7 (an Johann Gotthelf Lindner, 2. Juli 1760). 79 ZH II, 37,5 (an Johann Gotthelf Lindner, 28. August 1760). 80 ZH II, 70,3f. (an Johann Gotthelf Lindner, 21. März 1761). 81 ZH II, 69,15–19. Hamann verändert den lateinischen Text, schreibt z. B. »Ego« groß, unter-

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Mit dem ersten Teil des Zitats wendet sich Hamann gegen Lindners kindferne, pathetische Themenwahl, mit dem zweiten Teil gegen dessen veraltete Zuckerpillen-Pädagogik. Der Rektor hatte in der Tat in der oben erwähnten Einladungsschrift zustimmend Horaz zitiert: »pueris dant crustula blandi Doctores«82 – den Knaben geben die Lehrer »Zuckerwerk als Lockmittel«.83 Aber dieser zweite Teil wendet sich ebenso gegen die höfisch-galante Lebensform Rigas. Entsprechend wechselt Hamann in die Hofsprache des Französischen und variiert noch einmal den Schluss Petrons: »Sauce verte agreable aux citoyens de Riga, ou le suc de Pavot entre et celui du Sesame, espece de bled d’Inde«.84 Dieser giftige Satz richtet sich gegen den seelischen Schlaf und den Luxus der HandelsElite Rigas und setzt dann das Petron-Zitat fort: »Qui inter haec nutriuntur, non magis sapere possunt, quam bene olere qui in culina habitant«.85 Der von den Eltern abhängige Lehrer muss sich aber solchermaßen erzogenen Kindern anpassen und »cum insanientibus furere«,86 mit den Unsinnigen rasen, wie Hamann unterstreicht. Mit Petron nimmt er damit den vom Patriziat abhängigen Rektor etwas aus der Schusslinie und richtet die Wucht seiner Kritik gegen die Träger der Domschule, unter denen vor allem Berens getroffen werden soll: »Parentes obiurgatione digni sunt«, »die Eltern sind es, die Vorwürfe verdienen«.87 Aber Lindner stütze deren falsche Vorstellungen, und die Schüler machten sich mit der öffentlichen Deklamation seiner pathetischen Reden lächerlich: »iuvenes ridentur in foro«.88 Solche, den Gepflogenheiten in Riga folgenden Schulaufführungen, bewahren nach Hamanns Ansicht keineswegs den pädagogischen Anstand, sondern verletzen ihn. Lindners Desinteresse für die Befindlichkeit der Kinder entspreche durchaus seiner verständnislosen Kritik an Hamanns leidenschaftlich kom-

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streicht »audiunt« und lässt einiges aus. Ich gebe die Übersetzung der Tusculum-Ausgabe: »Und deshalb bin wenigstens ich der Ansicht, daß die jungen Leute in den Hörsälen vollständig verdummen, weil sie nichts von dem, was wir in der Praxis finden, zu hören oder zu sehen bekommen: nur Piraten […], nur Tyrannen […], nur Orakel, die gegen Pestilenz ergehen […], nur süßes Wortkonfekt und lauter Sprüche, lauter Dinge, die sozusagen mit Zucker und Zimt bestreut sind!« (Petronius: Satyrica. Schelmenszenen. Lat.-Dt. v. Konrad Müller u. Wilhelm Ehlers. München 31983, S. 9). Lindner, unpag. Einladungsschrift zur 6. Schulhandlung (wie Anm. 68), mit Horaz, Serm. I, 1, 25. Dt. Übers. nach: Horaz: Sämtliche Werke. Lat.-Dt. Darin: Satiren und Briefe. Hg. v. Wilhelm Schöne u. Hans Färber. München 1960, S. 7. ZH II, 69,19ff. ZH II, 69,21f. Dt. Übers.: »Wer in dieser Umgebung heranwächst, kann nicht mehr Geschmack haben, als einer gut riechen wird, der immer in der Küche steckt.« (Petronius: Satyrica, S. 9). ZH II, 69,24. ZH II, 69,28, dt. Übers.: Petronius: Satyrica, S. 13. ZH II, 69,37, dt. Übers.: Petronius, Satyrica, S. 13.

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promissloser Haltung gegenüber Berens. Deshalb bekommt Lindner eine kleine Lektion in der wahren Handhabung des Decorum, wobei sich Hamann auf John Miltons: Letter concerning Education beruft: »Das Decorum ist die grand master-piece to observe für jeden, besonders den Dramatischen Dichter«.89 Das berufliche und private Verhalten Lindners wird dabei in eins gesehen. Miltons Dictum dient Hamann dazu, um, ähnlich wie bei der Wahrheit und der Freundschaft auch in der Erziehung eine innere, höhere Gewissheit gegen menschliche Setzungen und Konventionen ins Feld zu führen: »Das höchste Decorum besteht öfters in Beleidigung des subordinirten; und Convenance bricht öfters die feyerlichsten Conventions«.90 Ein solches Durchbrechen im Dienste des »höchsten Decorum« traue sich Lindner aber nicht, sondern verharre sowohl dem Freund als auch den Kindern gegenüber in den Rigaer Konventionen, die er in seinen Schulfeiern bestenfalls zu »feyerlichsten Conventions« steigere. Indem Hamann den Schuldramatiker Lindner in dieser Weise der Miltonschen Decorum-Forderung unterwirft, gibt er einem poetologischen Begriff eine theologisch-anthropologische Bedeutung. Miltons »grand masterpiece« des Decorum, bei dem Hamann das »grand« unterstreicht, wird zum »höchsten Decorum«, das der Ur-Poet bei der Erschaffung des Menschen, seinem dramatischen Werk, wie Hamann bald sagen wird,91 befolgt hat. Mit der Mimesis dieser »Convenance«, dieser höchsten Angemessenheit, die Hamann Lindner nahelegt und die menschliche Setzungen notwendig »beleidigen«, also zerbrechen muss, setzt Hamann individuelle Überzeugung gegen die Geltung etablierter Konventionen und positioniert seine Deutung des Christlichen gegen das Standesbewusstsein des Patriziers Berens und gegen die Stände-Pädagogik des Rektors Lindner. Es sind vor allem zwei Bereiche, in denen Lindner nach Hamanns Ansicht gegen die theologisch-anthropologische Grundlage des höchsten Decorum verstößt: Er ignoriert die entwicklungsbedingte Befindlichkeit der Kinder und er betreibt gerade im Drama eine moralische Schwarz-weiß-Malerei, die dem christlichen Menschenbild widerspricht. Lindner hat diese doppelte Grundlagenkritik offenbar mit dem Hinweis abgetan, dass Hamann sich nicht wirklich für Schulprobleme interessiere. Hamann versucht, ihm diese Abwehrstrategie 89 ZH II, 71,5ff. Bei Milton lautet der Satz, aus dem Hamann zitiert: »I mean […] the sublime Art which in Aristotles Poetics, in Horace […], and others, teaches what the Laws are of a true Epic Poem, what of a Dramatic, what of a Lyric, what Decorum is, which is the grand Masterpiece to observe.« (John Milton: A Letter concerning Education to Mr. Samuel Hartlib. Written about the Year 1650. In: The Poetical Works Of John Milton. Vol. II. London 1731, S. 301f.). 90 ZH II, 71,7f. 91 »Die Schöpfung des Schauplatzes verhält sich aber zur Schöpfung des Menschen: wie die epische zur dramatischen Dichtkunst. Jene geschah durchs Wort; die letzte durch Handlung« (N II, 200,1f.).

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auszureden: »Sie beurtheilen mich schlecht, wenn sie mir keinen Geschmack an Schularbeiten zutraun, da ich den Werth derselben mehr als die gelehrtesten Abhandlungen schätze«.92 Er schätzt sie deshalb mehr, weil er die Vorstellung entwickelt, das recht verstandene, am höchsten Decorum ausgerichtete Schuldrama könne eine Veränderung des Theaters überhaupt initiieren, könne in die praktische Erziehung der Gesellschaft eingreifen. Dazu versucht er Lindner zu ermuntern: »Sie wären Meister von Ihrer Bühne und es käme auf Sie an durch Ihre Kinderspiele den Geschmack größerer Theater zu verbeßern«.93 Aber Hamann weiß natürlich, dass Lindner dazu von seinen beiden Grundfehlern Abstand nehmen müsste. Gegen das platte Moralisieren verweist er ihn auf die neueste Theorie des Theaters, die solche Einseitigkeit hinter sich lässt. Das Theater des Herrn Diderot, das Lessing gerade übersetzt und veröffentlicht hatte, empfiehlt er ihm zu studieren.94 Obwohl Hamann mit Diderot keineswegs ganz einverstanden ist, geht es ihm zunächst darum, Lindner auf den neuesten Stand der Entwicklung zu bringen: »Man muß das Theater kennen, man muß es verbessern, wenn ein ehrlicher Mann dafür arbeiten will«.95 Gegen die »moralische Ungereimtheit«96 nur absolut gute oder böse Figuren auf die Bühne zu bringen, hilft am ehesten die Konzeption gemischter Charaktere. Mit Genuss zitiert Hamann aus der »Parallele des Tragedies grecs et francois«97 des Jesuiten Abb8 Louis Jacquet: »Exiger d’un poete qu’il purifie toujours le vice et qu’il fasse triompher la vertu, c’est renverser l’ordre de la Prouidence qui permet tous les jours le contraire«.98 Das Zitat erlaubt es ihm, das Konzept des gemischten Charakters auf die christliche Anthropologie des allzumal sündigen Menschen zurückzuführen. Lindners einseitige Figuren sind dagegen lebensfremd, sind die bloß »intellectualischen Geschöpfe […] – naturam si expellas furca«,99 sind verfehlte Schulmeisterkonstruktionen, denen die Natur mit Gewalt ausgetrieben wurde. Zwei Dramen Lindners nimmt Hamann besonders aufs Korn: das Historienstück Albert oder die Gründung Rigas100 und das sich in die Gegenwart 92 93 94 95 96 97

ZH II, 87,15ff. (an Johann Gotthelf Lindner, 5. Mai 1761). ZH II, 87,19ff. ZH II, 83–85. ZH II, 84,4f. ZH II, 90,36 (an Johann Gotthelf Lindner, 30. Mai 1761). ZH II, 90,15f. Hamann zitiert den Titel nicht ganz korrekt. Er lautet: »Parallele des Tragiques Grecs et Francois« (Louis Jacquet: Parallele des Tragiques Grecs et Francois. Lille et Lyon 1760. 98 ZH II, 90f. Auch hier zitiert Hamann nicht ganz korrekt. Im Original steht: »Exiger d’un PoHte, qu’il punisse toujours le vice & qu’il fasse triompher la vertu, c’est, j’ose le dire, renverser l’ordre de la Providence qui permet tous les jours le contraire.« (Jacquet, Parallele, S. 36). 99 ZH II, 144,28f. (an Johann Gotthelf Lindner, 26. März 1762) – »wenn du die Natur mit der Gabel austreibst«. Hamann zitiert nicht ganz wörtlich Horaz, Epist. I, 10, 24. 100 Johann Gotthelf Lindner : Albert, oder die Gründung der Stadt Riga. Ein Schuldrama, bey

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vorwagende Stück Der wiederkehrende Sohn,101 das die Vorlage für das Hofmeister-Drama von Jakob Michael Reinhold Lenz geworden ist.102 Die Wahl des Bischofs Albert findet Hamann mit Blick auf Riga zwar »ungemein glücklich«, muss aber bei der Lektüre feststellen: »ich laß, ich laß und der Held verschwindet in einem ganz gemeinen Popanz der Schaubühne«.103 Vollends enttäuschend aber war Lindners neuestes Stück, Der wiederkehrende Sohn, für Hamann, denn es wurde unter Kenntnis seiner vielfältigen Anregungen und seiner brieflich geäußerten Kritik geschrieben. Es zeigt, dass der Rektor trotz aller Bemühung und Aufnahme einzelner Gesichtspunkte den neuartigen Vorschlägen Hamanns weitgehend verständnislos gegenüberstand.104 Hamann kritisiert die geschwätzige Länge des Stücks und die »sehr pedantische Denkungsart«105 eines als vollkommenen Menschen dargestellten Hofmeisters, der das Stück dominiert. »Der Schluß und die Entwickelung des Spiels kommen« Hamann »so abgezirkelt vor, daß die poetische illusion gar zu sehr in die Augen fällt, und der Zuschauer findt sich mehr geäfft als auf eine feine Art hintergangen«.106 Schließlich resigniert er angesichts der Bitten Lindners um weitere Verbesserungsvorschläge mit der Bemerkung: »was im Plan selbst liegt; da hilft keine Feile mehr«.107 Den zweiten grundlegenden Verstoß Lindners gegen das »höchste Decorum«, die falsche Behandlung der Kinder, bekämpft Hamann besonders unnachsichtig, weil darin die verfehlte Anthropologie der zeitgenössischen Pädagogik zum Ausdruck kommt. Deshalb tut Hamann sich auch schwer, Beispiele für ein angemessenes Kinderdrama in der zeitgenössischen Literatur zu finden. Er entdeckt nur ein einziges, das seinen Vorstellungen entspricht. Es ist ein dramatischer Disput zwischen Vater und Sohn über die Schullektüre Klopstocks, die der Vater autoritär polternd verwirft, der Sohn aber mit den klugen Argumenten

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der Gedächtnißfeier der hohen Gelangung zum Throne Ihrer Kaiserl. Majestät Unserer allergnädigsten Kaiserin und grossen Frauen Elisabeth Petrownen, Kaiserin und Selbstherrscherin aller Reussen etc. etc. etc. vorgestellt in der hiesigen Stadt- und Domschule den 27. Novemb. 1760. Nebst der Einladungsschrift und andern zur ganzen Schulhandlung gehörigen Stücken. Eilfte Sammlung. Riga 1760, S. 51–78. – Das Stück erschien auch in: Johann Gotthelf Lindner : Beitrag zu Schulhandlungen. Königsberg 1762, S. 109–148. Hamann las dieses Stück in der 13. Schulhandlung Lindners vom November 1761. Es wurde ebenfalls in Lindners Beitrag zu Schulhandlungen (wie Anm. 96), S. 257–365, übernommen. Vgl. dazu Graubner, Kinder im Drama, S. 92–101. ZH II, 80,19ff. (an Johann Gotthelf Lindner, 11. April 1761). Vgl. zu Lindners Aufnahme der Hamannschen Anregungen Hans Graubner : Der »Schuldiderot« Johann Gotthelf Lindner (1729–1776) und sein Schuldrama Der wiederkehrende Sohn. In: Königsberger Beiträge. Von Gottsched bis Schenkendorf. Hg. v. Joseph Kohnen. Frankfurt a.M. u. a. 2002, S. 37–64, bes. S. 53–56. ZH II, 136,26f. (an Johann Gotthelf Lindner, 4. März 1762). ZH II, 136ff. ZH II, 144,29f. (an Johann Gotthelf Lindner, 26. März 1762).

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seines Lehrers hochhält.108 Diesen Dialog des Schweizer Pfarrers Johann Heinrich Waser legt Hamann dem Rektor dringend zur Nachahmung ans Herz. Er sei »ein Muster zu einer neuen Art von Schuldrama«,109 denn er erfüllt Hamanns Forderung, dass Kinder im Schuldrama ihre eigenen Verhältnisse zu den Eltern und Mitschülern, zu Schule und Lehrern darstellen sollten. Das Schuldrama soll, wie alle geistige Aktivität vor allem zur Selbsterkenntnis anleiten. Lindners Neufassung des Rigischen Katechismus für Kinder kritisiert Hamann mit den Worten: »Ob Kinder viel oder wenig Antworten können, daran ist nicht so viel gelegen, als daß Sie die einzige Frage verstehen: Wer bist du?«110 Solcher Forderung nach kindgemäßer Selbsterkenntnis steht Lindners Rigaer Ständepädagogik, die das galante rhetorische Bildungsideal des weltmännischen Politicus fordert, diametral entgegen. Hamann wettert gegen die Zurschaustellung von Gefühlen und Leidenschaften in Lindners Schulhandlungen, welche Kinder überfordern und in die Heuchelei treiben. Dadurch werde nur »der gefährliche Oelgötze der Eitelkeit bey Kindern«111 genährt oder sie würden vorzeitig in einen »Wirbel der tragischen Leidenschaften« gerissen, »die man in Kindern anzündt, und wenn sie uns hernach brennen, verdammt«.112 Eine offenbar ganz übliche Übungsaufgabe Lindners im Anhang zu seiner 11. Schulhandlung erregt Hamanns besonderen Zorn. Adrastus hat auf der Jagd versehentlich den Sohn des Königs Crösus getötet. Die Schüler sollen einen Brief des Mörders an den König schreiben. Die abgedruckte Musterlösung dieser Aufgabe durch einen fingierten Schüler ist eine pathetische Selbstanklage mit Ankündigung des Selbstmords.113 Lindner ist der Ansicht, dass nur solche extremen Fälle die Schüler zu rhetorischen Meisterleistungen treiben. Als Anleitung zum Briefeschreiben hatte er schon 1755 in seiner dem Rigaer Rat gewidmeten Redekunst betont: »Um Anfänger zu üben, gebe man ihnen traurige Fälle auf«;114 es werde umso eher ein »Meisterstück vom Briefe« werden, »je entsetzlicher der Fall ist«.115 Das »Meisterstück« dieses gedruckten Schüleraufsatzes nennt Hamann mit triefender Ironie »eine kleine Blüthe ihrer Mühe, die wie die Aloe anzusehen ist«,116 also als Abführmittel gelten kann. 108 109 110 111 112 113 114

Vgl. dazu genauer Graubner, Kinder im Drama, S. 74–80. ZH II, 90,11 (an Johann Gotthelf Lindner, 30. Mai 1761). ZH II, 151,13f. (an Johann Gotthelf Lindner, 7. Mai 1762). ZH II, 70,22f. (an Johann Gotthelf Lindner, 21. März 1761). ZH II, 69,32f. Lindner: 11. Sammlung (wie Anm. 100), S. 89–91. Johann Gotthelf Lindner: Anweisung zur guten Schreibart überhaupt, und zur Beredsamkeit insonderheit, nebst eignen Beispielen und Proben. Von M. Johann Gotthelf Lindnern. der Königl. deutschen Gesellschaft zu Königsberg Seniorn, und Recktorn der Rigischen Dohmschule. Königsberg, bey Johann Heinrich Hartung. 1755, S. 323. 115 Lindner, Anweisung, S. 324. 116 ZH II, 69,12 (an Johann Gotthelf Lindner, 21. März 1761).

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Bei dieser Grundhaltung des Rektors war nicht zu erwarten, dass er nennenswerten Gewinn aus Hamanns Anregungen zur Kindgemäßheit für seine Schulhandlungen ziehen konnte. Er hat auch Hamanns Warnungen vor der geballten überregionalen Veröffentlichung seiner Produktionen nicht beherzigt. 1762 erscheint sein Beitrag zu Schulhandlungen und wird prompt von Thomas Abbt in Nicolais Literaturbriefen gnadenlos verrissen und lächerlich gemacht.117 In einem Brief an Nicolai gesteht Hamann dann, dass seine eigenen »Empfindungen« angesichts des Lindnerschen Werkes »mit des […] Recensenten seinen sehr harmoniren«.118 Aber dessen »Dolch auf eine ganze Gattung«,119 Abbts Vorstellung nämlich, Kinder seien grundsätzlich nicht zu dramatischen Handlungen fähig, kann Hamann, der Kindern eine anthropologische Vorzugsstellung zuweist, natürlich nicht akzeptieren. Er weiß, dass seine nach der Londoner Wende theologisch motivierte Pädagogik, der gemäß »ein Lehrmeister nicht Kinder auf Pferde, sondern […] sich selbst auf einen Stecken setzen müße«,120 wohl von keiner zeitgenössischen Pädagogik geteilt wird. Deshalb entwirft er während der fruchtlosen Versuche, Lindners Denkart zu ändern, eine eigene theologische Begründung des Schuldramas121 und legt seine Kondeszendenz-Pädagogik in den Fünf Hirtenbriefen das Schuldrama betreffend122 nieder. Darin wendet er sich zwar gegen Lindners veraltete Konzeption, aber auch gegen Abbts Kritik und setzt so doch auch dem geschundenen Freund ein Denkmal.

117 Thomas Abbts Rezension steht in: Friedrich Nicolai (Hg.): Briefe, die neueste Literatur betreffend. XIV. Teil. 231. u. 232. Brief. Berlin 1962, S. 249–266, sowie XVI. Teil. 259. Brief. Berlin 1763, S. 87–96. Vgl. dazu Hans Graubner : »Sind Schuldramata möglich?« Epilog im 18. Jahrhundert auf eine auslaufende Gattung (Lindner, Abbt, Hamann, Herder). In: Aspekte des politischen Theaters und Dramas von Calderjn bis Georg Seidel. Deutschfranzösische Perspektiven. Hg. v. Horst Turk / Jean-Marie Valentin in Verb. mit Peter Langemeyer. Bern/Berlin u. a. 1996 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Bd. 40), S. 93–130, bes. S. 107–109. 118 ZH II, 182,2f. (an Friedrich Nicolai, 21. Dezember 1762). 119 ZH II, 182,6. 120 ZH II, 175,14–16 (an Johann Gotthelf Lindner, 6. Oktober 1762). 121 Vgl. dazu Graubner, Kinder im Drama, S. 80–86. 122 N II, 351–368.

Joseph Kohnen (Luxembourg)

Von der Hamann-Forschung zu wenig beachtet: Theodor Gottlieb von Hippel

Briefe sind als Dokumente eigentlich eine unsichere Sache. Sie enthalten – aus welchen Gründen auch immer – häufig keineswegs das Wichtigste, was der Briefschreiber ihnen anvertrauen könnte, und sind somit nicht unbedingt von Wert für den Biographen bzw. die Nachwelt. Dazu gehört auch, dass bedeutende Persönlichkeiten aus dem Lebensbereich des Verfassers oft überhaupt nicht erwähnt werden, oder aber über dieselben nur ganz bestimmte, teils belanglose Dinge mitgeteilt werden, während andere, vielleicht weitaus interessantere und für die Nachwelt kostbarere Begebenheiten einfach nicht berührt werden, womit die goldene Regel, dass die Forschung sich im Wesentlichen an das konkret Überlieferte zu halten habe, nur begrenzt ihre Gültigkeit bewahrt. Außerdem wird der briefliche Inhalt bis zu einem gewissen Grade immer vorbestimmt durch die Adressaten selbst, die vom Verfasser gezielt etwas erfahren, das sie selbst irgendwie angeht oder angehen könnte. Gänzlich ausgeschaltet ist schließlich die Funktion des direkten schriftlichen Verkehrs in dem Fall, wo er überhaupt nicht besteht, d. h. weil die Freunde, Bekannten oder eine Reihe von Bezugspersonen sich – meist im selben örtlichen Bereich – fortwährend trafen und somit eine briefliche Verbindung als überflüssig empfanden, was notgedrungen wiederum, insbesondere dann, wenn es sich um bedeutende Leute handelt, die Aufgabe der Forschung erheblich erschwert, die somit auf Zeugnisse aus dritter und vierter Hand zurückgreifen muss. Zwischen Hamann und Hippel sind keine Briefe gewechselt worden; jedenfalls sind keine überliefert. Dennoch waren beide sehr enge persönliche Freunde. Was wir über ihr gegenseitiges Verhältnis wissen, entnehmen wir lediglich den Aussagen, die sie selbst jeweils über den anderen Dritten gegenüber machten oder die von Letzteren in alle Richtungen weitergegeben wurden. Das alles zusammengenommen ermöglicht in ihrem Fall schon eine ansehnliche Information, jedoch verweilt sie weitgehend an der Oberfläche, während sie nur ansatzweise einen Einblick in das tiefere Wesen ihrer exklusiven und eigentlich etwas unnatürlichen Beziehung gestattet. Denn Hamann und Hippel waren zwei sehr unterschiedliche, ja auseinander

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driftende Persönlichkeiten. Im Rahmen des Königsberger Wissenschafts- und Gesellschaftslebens hätten sie nicht unbedingt zusammenfinden müssen. Zwar stammten beide aus überaus bescheidenen Verhältnissen, doch Hamann blieb sein Leben lang – teils durch mehr oder weniger eigene Schuld – ein armer Schlucker, der auf die Unterstützung verständnisvoller Freunde angewiesen war, während der ehrgeizige, arbeitstüchtige und durchschlagskräftige Hippel es meisterhaft verstand, als Lokalpolitiker, Jurist, friderizianischer Spitzenbeamter und führender Freimaurer eine glänzende Karriere aufzubauen und zu großem materiellem Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen zu gelangen. Und wenn Hamann von Natur aus ein leutseliger, freimütiger und teils heiterer Charakter war, so galt Hippel als stark reserviert, misstrauisch, ja abweisend, etwas arrogant und autoritär, kurz: Er war im privaten Dasein ein ziemlich hypochondrischer Einzelgänger, der es liebte, geheimnisvoll zu tun. Seine echten Freunde konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Nicht zuletzt blieb Hamann dann auch bis zum Schluss sozusagen ein Mann des so genannten kleinen Volkes, eine Art Demokrat mit etwas republikanischer Gesinnung, der dem Staatswesen in den europäischen Königreichen und Fürstentümern mit grundsätzlicher Skepsis und Kritik gegenüberstand, während der glühende Verehrer Friedrichs des Großen und Katharinas von Russland sich dem monarchischen Prinzip unterordnete und immer näher fühlte als den in die Zukunft weisenden revolutionären Gesinnungen der Neuzeit.1 Die Hamann-Forschung hat die eigentlichen Hintergründe der merkwürdigen Freundschaft zwischen diesen beiden so ungleichen Männern bis heute nur zaghaft hinterfragt, womöglich, weil damit u. a. ein weiteres Problem berührt wird, das nicht leicht zu lösen sein dürfte, nämlich, dass die ausgesprochenen Hamann-Forscher selten genauso beschlagene und begeisterte Hippel-Kenner sind und zugleich auch noch profunde Kant- und Herder-Fachleute sein müssten, da auch diese beiden in die geistige Verfassung der Ersteren ernsthaft mit einzubeziehen sind. Es ist heute weitgehend geklärt,2 und zwar durch die Hippel-Forschung, dass es vor allem das gemeinsame Bedürfnis nach der Ergründung des göttlichen Urgrunds gewesen ist, das Hamann und Hippel mit christozentrischem Denken und Fühlen zusammenführte. Wenn Hippel sich schon mit dem nüchtern argumentierenden Kant über die »Vorsehung« und das Gebet unterhalten3 konnte, 1 Vgl. dazu Joseph Kohnen: Theodor Gottlieb von Hippel. 1741–1796. L’homme et l’œuvre. 2 Bde. Bern u. a. 1983 (Publications universitaires Europ8ennes. Serie I: Langue et litt8rature allemandes. Vol. 727); ders. : Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit der Königsberger Geistesgeschichte. Biographie und Bibliographie. Lüneburg 1987. 2 Vgl. Kohnen: Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit (wie Anm. 1), S. 151–155. 3 Vgl. Theodor Gottlieb von Hippel: Sämmtliche Werke. 14 Bde. Hg. v. Georg Reimer. Berlin 1828ff. Bd. XII, S. 9f; Briefe. SW XIV, S. 367.

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so musste er solches umso intensiver mit dem tief schürfenden, bewusst irrationell operierenden Wahrheitssucher Hamann tun. Wie Goethe hat Hippel schnell erfasst, dass der »Magus« die tiefsten Anschauungen anstrebte, wo sich »Natur und Geist im Verborgenen begegnen«.4 Mit Hamann sah Hippel im religiösen Gefühl die Möglichkeit einer Interpretation der unbekannten Gottheit, die sich dem prinzipiell beschränkten menschlichen Erfassungsvermögen durch ihre Wunder und Geheimnisse ahnbar macht. In Hamanns Bilder- und Chiffrensprache erriet er, wie Hamann es formulierte, eine Art Übersetzung göttlicher Wahrheiten und er war sich bewusst, dass Hamanns Seelenauge für Erkenntnisse fähig war, die er selbst nicht so einfach zu entdecken vermochte. Hamann verlieh ihm zum Teil ein inneres Selbstvertrauen, das seinen eigenen, oft unsicheren Glauben an die Existenz des Göttlichen aufrecht erhielt. Das alles steht explizit weder in Hamanns noch in seinen eigenen brieflichen Aussagen über Hamann, aber suggestiv kann der Hippel-Leser es in den Briefen mitunter indirekt herauslesen. Drei Aspekte sollen an dieser Stelle berührt werden: zuerst Hamanns Verhältnis zum Bürger und Lokalpolitiker Hippel, alsdann sein Bezug zum Freund und schließlich seine Haltung gegenüber dem geheimnisvoll tuenden Dichter. Hamanns Feder hat diese drei Seiten der Hippelschen Persönlichkeit je nach Adressat nuancenreich herausgestellt und auseinander gehalten. Es ist nicht eindeutig nachweisbar, wann genau beide sich kennen gelernt haben. Fest steht, dass Hippel 1756 an der Albertina immatrikuliert wurde. In diese Zeit fielen jedoch bald darauf die Wirren des Siebenjährigen Krieges, eine Periode, während der bekanntlich Hamann sich häufig im nördlicheren Baltikum aufhielt, und erst nach Hippels berühmter Reise nach Sankt Petersburg 1762 sind sie sich wohl wirklich in der ostpreußischen Provinzhauptstadt näher gekommen. Höchst wahrscheinlich haben sie einander in Kanters Buchladen gegenseitig »entdeckt«. Im April jenes Jahres spricht Hamann in einem Schreiben an Johann Gotthelf Lindner von Hippel schon wie von einem gutbekannten Freund.5 Und obgleich Hamann als der um elf Jahre Ältere mit den in literarischen Fragen seit der Daphne (1749f.) bewährten Gleichgesinnten Lindner und Lauson beim Studenten und anschließend beim jungen Advokaten und angehenden, damals noch mit seinem Namen zeichnenden Dichter als Mentor fungierte, hat doch der Erfahrenere und Gebildetere den konsequent betriebenen sozialen und beruflichen Aufstieg des ehrgeizigen Jüngeren mit Bewunderung und aufrichtigem Wohlwollen neidlos verfolgt. Man spürt im Briefwechsel förmlich den Respekt, ja die Anerkennung und selbst ein Lob 4 Johann Wolfgang v. Goethe: Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Bernt v. Heiseler. Dritter Teil. Zwölftes Buch. Gütersloh 1959, S. 429. 5 ZH II, 149,23–25 (an Johann Gotthelf Lindner, 16. 4. 1762).

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gegenüber dem erfolgreichen Juristen und Beamten, eine Haltung, die mit Hippels überraschender Ernennung zum Dirigierenden Bürgermeister von Königsberg Ende 1780 in sichtlicher Genugtuung, ja verhaltener Begeisterung gipfelt. Und wenn er auch mit Hippels gesellschaftlichem und politischem, beim König und dessen Regierung vorbehaltlos gesichertem Einfluss unerschütterlich auf dessen juristische und materielle Hilfe zählen konnte, so war es doch die Persönlichkeit, die ihn in so mancher Hinsicht insgeheim faszinierte. Hippel wurde in den Briefen mit den Jahren am Ort für Hamann die Verkörperung und das Aushängeschild der Stadt, auf die man sich in wichtigen Angelegenheiten beziehen konnte, ein Mann, auf den die Verwaltungshauptstadt stolz sein durfte und dessen enger Freund zu sein der gesellschaftlich biedere Hamann schon als eine Auszeichnung empfand. Refrainartig erfolgt Hippels Erwähnung quer durch den gesamten Briefwechsel. Immer wieder bezeichnet er ihn mit seinem gerade angebrachten offiziellen Titel bald als »Herr Hippel« bzw. »HE. Hippel«,6 bald, um ein berühmtes Hippel-Wort zu gebrauchen, in geradezu »aufsteigender Linie« als »Freund« und »Cammeradvocat«,7 als »Gerichtsverwandten«,8 »Criminalrath«,9 »Hofhalsrichter«,10 »Criminaldirector«,11 »dirigirenden BürgerMstr und Policeydirector«:12 »Ich schmeichele mir einen Freund an ihm zu haben; und bin willens jetzt meinen Sitz im Rathsstande zu nehmen sub umbra alarum suarum«13. Und es folgen schließlich dessen Titel als »Kriegsrath«,14 »Stadt Präsident und Geh. Rath«,15 »unser lieber Oberbürger Meister«16 und »HEKr.R.«,17 der immer, wenn Not am Mann ist, aushilft,18 und er nimmt, wie gesagt, fast immer an dessen ehrgeizigem beruflichem Erfolg Anteil.19 Dazu gesellt sich die Bewunderung für den Luxus- und Kunstliebhaber.20 Das alles ist umso bemerkenswerter, als er als entschiedener Kritiker des angeblich aufge6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

ZH II, 251,20 (an Johann Gotthelf Lindner, 21. 4. 1764); 292,34 (an dens., 16. 1. 1765). ZH II, 454,19 (an das Königliche Pupillen-Kollegium, Ende Juni 1769). ZH III, 24,12f (Bittschrift, 13. 10. 1772). ZH III, 183,5 (an Matthias Claudius, 22. 5. 1775). ZH IV, 224,27 (an Johann Friedrich Hartknoch, 6. 10. 1780); 230,2; 231,27; 234,3; 249,34. ZH IV, 249,34 (an Johann Friedrich Hartknoch, 16. 12. 1780). ZH IV, 250,1; 253,21; 304,4; ZH VI, 161,56–162,6. ZH IV, 253,27–29 (18. 12. 1780). ZH IV, 302,26 (an Johann Gottfried Herder, 3. 6. 1781); 316,13; 324,34; ZH V, 84,21; 125,13f; 138,1; 147,11; 158,4; 191,2; 200,5; 227,5; 278,30f; 281,21.34; 302,15; 347,33; 380,13; 421,21; 423; 446; ZH VI, 19,33; 122,6; 149,35. ZH IV, 339,16f (an Johann Gottfried Herder, 17. 9. 1781); ZH VII, 392,14. ZH V, 460,34 (an Johann George Scheffner, 21. 6. 1785). ZH V, 125,13 (an Johann Gottfried Herder, 26. 1. 1784–9. 2. 1784). ZH IV, 464,29f (an Johann Friedrich Hartknoch, 8. 12. 1782); ZH V, 155f; 284,21–24; ZH VII, 79,8f; 81,27; 118,17; 147,21–25; 192,34–37; 196,26f; 218,35–219,2; 312,16f. Vgl. ZH VII, 392,14f (von Sophie Marianne Courtan, 7. 2. 1788): »Was sagen Sie zu der Medaille die Geheimrath Hippel erhalten? Ich habe mich darüber als ein Kind gefreut.« ZH IV, 428 (an Johann Friedrich Hartknoch, 8. 10. 1782); ZH VI, 73,32–74,6; ZH VII, 73f.

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klärten Herrscherverständnisses des großen Preußenkönigs die treu ergebene Haltung des oberen Beamten und dessen enthusiastische Bewunderung Friedrichs grundsätzlich nicht teilen konnte. Über diesen politischen Dissens wird im Briefwechsel jedoch kein Wort verloren. Besonders deutlich ist Hamanns Sympathiekundgebung, wenn er Hippel gegenüber engeren Bekannten erwähnt. Dann erhält das häufig ausgesprochene Wort »Freund« einen echten, geradezu innigen Begleitton.21 Die Hamann-Forschung scheint mir dieses Bekenntnis nie so richtig mitgelesen zu haben. Denn etwas ganz Besonderes, der Öffentlichkeit nicht Offenbartes muss ja solch gewählter Ausdrucksweise zu Grunde liegen! Wie kann man nämlich in einer geographisch weitgehend isolierten Gegend wie Königsberg vom besten Freund am Orte reden, wenn man denselben innerlich nicht von Seele zu Seele erlebte? Einerseits lud Hippel ihn ohne Unterlass zu sich ein; man lädt aber nicht einen armen Schlucker, der lediglich viel las und gelesen hatte und obendrein im literarischen und philosophischen Gespräch, wie Goethe es später beanstandete, etwas überheblich werden konnte, fortwährend ein, nur um sich mit ihm über Gelesenes zu unterhalten. Andererseits konnte sich ein Sprachengenie und Bücherwurm wie Hamann nicht jahrzehntelang damit begnügen, zwecks Stillung seines Hungers und Unterhalt seines Söhnchens beim reichen, gefürchteten Oberbürgermeister ein- und auszugehen, um bei demselben genüsslich zu »schmausen«! Obgleich der krankhafte Gourmand sich ja wie kein anderer aufs Schmausen verstand! Die andauernde Unterhaltung musste für ihn schöpferisch sein, kurz, der ebenfalls belesene und hochintelligente Hippel hatte schon etwas Besonderes Eigenes zu bieten. Dessen Persönlichkeit hat sich Hamann gleichsam durch ihr vielseitiges Wesen auch ausgesprochen privat aufgedrängt! Und: Hamann, der seine Freundschaften nuancierend dosierte, empfand für ihn ein tiefes Vertrauen, gepaart mit exklusivem Vertrautsein. Merkwürdigerweise – und das scheint mir wichtig – bleibt gerade dieser tiefere, private Charakter ihrer freundschaftlichen Beziehung im Briefe lediglich gestreift. Worüber sie miteinander sprachen, wird nie mitgeteilt, auch nicht in Hippels Briefwechsel mit Scheffner. Natürlich gefiel Hamann des jungen schriftstellernden Dichteradvokaten eingestandener Hang zum »Hamanisieren«;22 natürlich wollte Hippel gern, wie

21 ZH IV, 253,27 (an Johann Gottfried Herder, 18. 12. 1780); 392,24–26; ZH V, 140,36; 142,25; 273,13; 327,26; 456f; 460,34; ZH VI, 123,20; 133,31; 348,32; 376. 22 Vgl. Ferdinand Josef Schneider : Theodor Gottlieb von Hippel in den Jahren von 1741 bis 1781 und die erste Epoche seiner literarischen Tätigkeit. Prag 1911, S. 151, 162ff; Johannes Sembritzki: Die ostpreußische Dichtung 1770–1800. In: Altpreußische Monatsschrift 45 (1908), Teil I, S. 16ff, 31ff.

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er es formulierte, Hamann zum »Aristarchen« haben!23 Und natürlich nahm jener glücklich Hippels materiellen Beistand in Anspruch. Der Ausdruck des »Schmausens« oder diesbezügliche Anspielungen kehren ebenfalls refrainartig wieder.24 Die humorvolle Bemerkung Hippels gegenüber Kant, er hätte auch eine »Kritik der Kochkunst« schreiben sollen, hätte Hamann Hippel zurückgeben können. Michael – »Hänschen« – wurde Hippels Prot8g8 und freundete sich eng mit dessen Neffen und späterem Referendar Raphael an, den Hamann als einen »feinen Knaben mit dem Namen, der Bildung und dem [Amt=] Antlitz eines Engels«,25 mit einem »wahren Raphaelsgesicht«26 und mit »einem sehr feinen Gesicht, und offenen Kopf im lateinschen und griech.«27 bezeichnete. So konnte er Herder fast triumphierend am 11. Juli 1785 berichten: »Hippel ist hier mein nächster Freund und ein großer Wohlthäter meines Sohns. Wir speisen die Woche wenigstens Einmal bey ihm.«28 Er geht so weit, zu behaupten, dass Hippel »ihm alles ersetzt« und Michael dessen »Schüler«29 sei, den er auch materiell ausstatte. Das aber ist von Seiten Hamanns schon ein bedeutendes Geständnis, denn der mit dem kleinen Hänschen ansonsten so übermäßig streng Verfahrende hat hier auf einen Teil seiner väterlichen und pädagogischen Erziehungsvorrechte verzichtet. Es scheint, als erkannte er in Hippel eine Art pädagogischen Katalysator, der Hänschen nur zugute kommen konnte! Auch machte Hippel sie mit seinem Bruder Gotthard, der Pfarrer in Arnau wurde, bekannt. Man besuchte sich fortwährend von Haus zu Haus. Selbst nach Hamanns Tod wird Hippel Michael weiterhin mit Stipendien versorgen und ihm sogar das Rektorat des Altstädtischen Lateingymnasiums vermitteln. Bezeichnend für das Wesen der gegenseitigen Freundschaft scheint Hamanns Wort an Friedrich Heinrich Jacobi zu sein: »H. nannte mich mehr wie einmal einen Engel, weil er einen Freund nöthig hat sein Herz auszuschütten,«30 weil er seinen Hang zu

23 Hippel: Briefe. SW XIII (wie Anm. 3), S. 90; Joseph Kohnen: Hippel und Hamann, in: Acta 1976, 22–39. 24 Vgl. dazu Ludwig Ernst Borowski: Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants, von Kant selbst genau revidiert und berichtigt, in: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L.E. Borowski, R.B. Jachmann und E.A.Ch. Wasianski. Hg. v. Felix Groß. Berlin 1912, S. 55 (Deutsche Bibliographie). 25 ZH V, 112,15–17 (an Johann Friedrich Reichardt, 15. 12. 1783). 26 ZH V, 87,6 (an Johann Gottfried Herder, 22. 10. 1783). 27 ZH V, 41,23f (an Ehregott Friedrich Lindner, 20. 4. 1783); vgl. auch ZH VI, 362; 372,31f; 391,7f; 475,17; 524,6; vgl. ZH VII, 291,15. 28 ZH VI, 16,18–20 (an Johann Gottfried Herder, 10. 7. 1785); vgl. ZH IV, 212,20; 372,17; 393,15f; 415,23; ZH V, 80,4; 106,33; 112,18; 125,13f; 140,35–37; 229,16; 281; 287,33; 337,26; 347,33; 449,18; 456,34f; 468,24; ZH VI, 125,35f; 173,23; 228,7f; 316,30f; 356; 391,3–7; 392,34. 29 ZH V, 62,12–17 (an Johann Gottfried Herder, 1. 8. 1783); ZH VI, 133,31–37; 348,28f; 376,34f; 475,16f; 484,12; 506,25f. 30 ZH VI, 376,34f (an Friedrich Heinrich Jacobi, 3. 5. 1786).

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geheimer »Melancholie und Schwermuth« niemals überwand.31 Schon Blaise Pascal wusste: »Le coeur a ses raisons que la raison ne conna%t pas.« Wer aber Hippels oft herzzerreißenden Briefwechsel mit Johann George Scheffner kennt, versteht. Denn das eben war es letzten Endes: Hippel hat in Hamann jenen Seelenfreund gefunden, den er so sehr im langjährigen Intimfreund Scheffner vergeblich gesucht hat, und wenn er in concreto sich mehr an Hamann hielt, so geschah dies, weil er im Unterbewussten dem kühlen Rationalisten Scheffner, der ihn anhörte und aushorchte wie ein listiger Beichtvater, doch nicht so recht traute – ein dunkles Gefühl, dessen Richtigkeit sich in Hippels letztem Lebensabschnitt bestätigen sollte, als Scheffner 1793 den kranken Oberbürgermeister bezüglich des ängstlich gehüteten Schriftstellergeheimnisses schmählich verriet!32 Hamann aber wusste aufrichtig und geduldig zuzuhören. Es kommt noch ein anderer, nicht zu vernachlässigender Faktor hinzu, der das Gesellschaftsleben der Kant-Zeit durchaus geprägt hat, nämlich jene legendär gewordene gemütlich-intellektuelle Geselligkeit innerhalb der gebildeten Kreise, die nach Karl Rosenkranz in ihrer »Universalität« von »unerbittlicher Verständigkeit« die »Deutlichkeit der Begriffe, die Klarheit der Urtheile« als »eines der ersten Erfordernisse für die Königsberger« kultivierte33 und in der Regel am Ess- bzw. Trinktisch betrieben wurde. Vergessen wir nicht, dass nicht nur der stets hungrige Hamann, sondern auch Kant gerne aß und lange Zeit konsequent wie schon Sokrates das Essen in Gesellschaft bevorzugte. Junggesellen wie Hippel, oder Halbjunggesellen, wie Hamann nun einmal einer war, essen oft nicht gerne allein. Sie speisen auch nicht immer wie Mönche, die über dem Essen fremdes Gedankengut gemeinschaftlich schweigend anhören müssen. Das gemeinsame Essen ist für eine Reihe Königsberger eine Art kontinuierlicher Raum des fruchtbaren Gedankenaustauschs geworden, wo man den Genuss der Speisen in Heiterkeit geschickt in den Genuss des angenehmen wechselseitigen Denkens umzufunktionieren verstand. Das Tafeln war mithin am Ort eine reichhaltige, geistig fördernde Beschäftigung, ja sozusagen eine Institution. Die beiden Freunde harmonierten mitunter so sehr, dass es Hamann sogar gelang, den schwerblütigen, misstrauischen Herder,34 der sich schon als Student 31 ZH VI, 111,10f (an Friedrich Heinrich Jacobi, 30. 10. 1785). 32 Vgl. Kohnen: Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit (wie Anm. 1), S. 192–203; Ferdinand Josef Schneider: Theodor Gottlieb von Hippels Schriftstellergeheimnis. In: Altpreußische Monatsschrift 51 (1914), S. 1–35; Arthur Warda: Der Anlaß zum Bruch der Freundschaft zwischen Hippel und Scheffner. In: Altpreußische Monatsschrift 52 (1915), S. 269–281. 33 Vgl. Karl Rosenkranz: Königsberger Skizzen. Danzig 1842; Neudruck Hannover-Döhren 1972, S. 64ff. 34 Brief aus Weimar am 28. April 1787: »Machen Sie doch, liebster Gevatter, meinen besten

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sowohl mit dem Verleger Kanter als auch mit Lauson, Scheffner und Hippel aus einer Art Verfolgungswahn heraus entzweit hatte, wieder mit Letzterem zu versöhnen. Auch vermittelte er eine Art Fernfreundschaft zwischen Hippel und Fritz Jacobi,35 die Letzteren in Entzücken versetzte. Dem vielbeschäftigten Kriegsrat wird volles Vertrauen selbst in Sachen Bewertung rezenter Schriften oder versprechender Schriftversuche bescheinigt und Hamann integriert ihn sogar in eine »Lesegesellschaft«. Eine andauernde, vielseitige Bewährungsprobe von Seiten Hamanns hatte diese exklusive Freundschaft allerdings seit dem Erscheinen der Lebensläufe nach Aufsteigender Linie im Jahr 1778ff. zu bestehen. Denn dieser literaturgeschichtlich womöglich bedeutendste Roman vor Goethes Wilhelm Meister und Jean Pauls großen Erzählwerken errichtete angesichts des krankhaft bewahrten Autorschaftsgeheimnisses zwischen den Freunden doch eine theatralische Schweigemauer, die in der deutschen Literaturgeschichte ihresgleichen sucht. Hippel gab nämlich sein Geheimnis mit keinem Worte preis, sei es, weil er angesichts des teils gesellschaftspolitisch kritischen Inhalts des Werks als friderizianischer Spitzenbeamter von einer panischen Entdeckungsangst geradezu gequält wurde, sei es aber auch, weil er zugleich gerade den ausgewiesenen Meisterphilologen verschmitzt auf die Probe zu stellen trachtete. Hamann wiederum ging auf das im Stillschweigen geübte Spiel ein, besorgte aber auch, die geringste diesbezügliche Indiskretion könnte bei dem dünnhäutigen Hippel, dessen materielle Hilfe er so sehr brauchte, eine nie wieder gut zu machende Abneigung auslösen. Man kann nur darüber spekulieren, wie die beiden sich benahmen, wenn durch irgendeinen Anlass von außen her das Thema Lebensläufe an sie herangetragen wurde und sie unter sich oder – was noch penibler war – zusammen in öffentlicher Gesellschaft zu einer diesbezüglichen Stellungnahme genötigt worden. Filmreife Szenen waren da wohl vorprogrammiert. Tatsächlich löste das Rätselraten um die Urheberschaft der Lebensläufe während rund 20 Jahren, von 1778 bis 1796, eine intellektuelle, das gesamte literarische Deutschland erfassende Aufregung aus. Selbst Goethe und Lichtenberg wurden ja als Verfasser ins Gespräch gebracht. Diese Geschichte liest sich heute wie eine Art literarischer Kriminalroman. Hamann, als polyvalenter Philologe, Leser und Gesprächspartner Hippels, mutmaßte von Anbeginn, dass sein Freund an dem Romantorso zumindest Anteil haben musste. Der Betroffene selbst versuchte seinerseits mit den unglaublichsten Tricks und Abwehrmanövern den Verdacht von sich abzulenken, was Hamann teils verärgerte, ihm an-

Gruß an Hippel u. Scheffner«; vgl. ZH VI, 213 (von Johann Gottfried Herder, 2. 1. 1786); 411; ZH VII, 182. 35 ZH VI, 35,27f (von Friedrich Heinrich Jacobi, 29. 7. 1785); 161,36–162,6; 207,22; 382,24.

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dererseits aber offensichtlich auch Spaß machte.36 So las er Hippel einmal einen Brief Herders vor, in dem dieser ihm auftrug, den »Lebensläufer nach allen Kräften auszuspüren«, und der in die Enge Getriebene konnte nicht umhin, Hamann als »Geier« zu bezeichnen,37 um so mehr, als letzterer ihm ebenfalls auf den Kopf zusagte, dass laut Gerüchten sein Intimfreund Scheffner den Verfasser kenne. Auch der geschwätzige Verleger Kanter konnte den Mund nicht halten, desgleichen Flörcke in Danzig. Vor allem aber Jacobi, ein grenzenloser Bewunderer der Lebensläufe, ging ihn immer wieder mit neuen Fragen an,38 die Hamann dann fleißig an Hippel weiterleitete. Insbesondere der von Hippel als Ablenkung im Roman ins Spiel gebrachte unbekannte »Tr«, alias – Trohta von Treyden, ein späterer Schwiegersohn des Autorschaftsmitwissers von der Münze Göschen, sollte die »Namenjäger« verunsichern.39 Jacobi, der von Anfang an Hippel im Verdacht hatte, schrieb selbst einen überschwenglichen Verehrungsbrief an den unbekannten Autor via dessen Verleger und erhielt vom Geschmeichelten durch Kopistenhand tatsächlich eine Antwort, die er im Original schnellstens an Hamann schickte.40 Damit zog sich im Herbst 1785 das Netz endgültig über dem Gejagten zusammen. Denn Hamann erfuhr von seiner Bekannten »M Courtan«, dass ein junger Hofmeister ihrer Kinder einmal den Abschreiber der Lebensläufe »in die gröste Verlegenheit gesetzt« hätte, als er jenen bei seiner »Arbeit ertappt« hätte. Der Passus sei ins Gedächtnis zurückgerufen, weil er eine besondere Probe von Hamanns Erzähltalent liefert. So berichtete dieser an Jacobi: Gestern morgen suchte ich diesen Mann auf, bey deßen Vater ich noch Collegia gehört und den ich sehr selten bey meiner Freundin gesehen. Ich wieß ihm eine Zeile und die Hand Ihrer [= Jacobis] Beylage, und er erkannte sogl. und nannte mir den Namen seines Freundes, der einige Jahre als Copist bey H. gedient und jetzt einen Dienst bey der Münze [deren Direktor Göschen war!] ha(be)t. Vergnügt über sein Geständnis eilte ich zu geschwind von ihm weg ohne die Vorsicht zu brauchen, ihn wegen meiner Absicht mich darnach zu erkundigen, einiges Licht zu seiner Beruhigung zu geben. Ich vermuthete auch, daß der ehemalige vertraute Umgang zwischen diesen Leuten auf36 Vgl. Kohnen: Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit (wie Anm. 1), S. 91ff; Th.G. v. Hippel: Lebensläufe nach aufsteigender Linie. SW IV, S. 409f.415; SW XIV, S. 4ff.7.14.18.25ff.36f.41.44.50.71.109.123.127.131.132.147f.154. 169.171; Hamann: ZH IV, 33,32–34,13 (An Johann Gottfried Herder, 25. 11. 1778). 40,3–13. 54,34–55,31. 56,23–31. 65,29–37. 75,30–34. 79,1–9. 84. 95.196.324.350; ZH VI, 93f. 147. 207,22; ZH VII, 135,5–8. 37 Vgl. Hippel: SW XIV (wie Anm. 3), S. 123.125.132.147f.155.212f. 38 Vgl. ebd., S. 132; ZH V, 302; ZH VI, 35; 60,34–61,5; 77,33. 39 Hippel: Lebensläufe SW IV (wie Anm. 3), S. 415. Zum Münzdirektor Göschen vgl. Joseph Kohnen: Maria Charlotta Jacobi-Göschen. Eine merkwürdige Freundschaft Immanuel Kants. In: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Kulturgeschichte und Landeskunde 24 (1999), S. 169–182. 40 Vgl. Kohnen: Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit (wie Anm. 1), S. 106ff.

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gehört hatte; gestern abend ziemlich spät kam aber der unschuldige, verrathene halb furchtsam, halb trozig zu mir, um sich nach der Ursache meiner Nachfrage zu erkundigen. Ich kannte ihn kaum mehr, und ohne daß ich nöthig hatte mich ausdrückl. zu erklären, gab ich ihm doch so viel zu verstehen, daß wir zufrieden aus einander kamen, …

Und Hamann schließt, noch immer allerdings in der Überzeugung, dass auch Scheffner am Roman Anteil hätte: Desto mehr dank ich Ihnen, [Jacobi] weil mir an der Wahrheit viel gelegen, für das avthentike Document, das mir noch zu den vielen indirecten Beweisen, immer bisher gefehlt und für mich instar omnium ist. Nun bitte ich Sie aber auch bey aller Freundschaft zu verhindern, daß nicht öffentlicher Gebrauch von dieser Entdeckung gemacht wird, die ich niemanden hätte mittheilen können, wenn ich jemals zum Vertrauten dieses Geheimnißes gemacht worden wäre. Durch die Verlautbarung dieser Sache in irgend einer Zeitung oder Monathschrift würde diesen beyden Freuden Wehe geschehen wegen ihrer gantz eigenen und sonderbaren Denkungsart in diesem Punct – und es würde mir eben so leid thun dazu Anlaß gegeben zu haben.41

Man kann nicht umhin, unserm Briefschreiber in dieser Sache ein durchaus echtes Erzählertalent zuzugestehen. In wenig Zeit sind die wichtigsten Akteure der Schlusshandlung präzis umrissen und zusammengefügt, und eines ergibt sich aus dem andern. Er weiß zu erzählen, weiß sowohl seinen Sherlock-HolmesSpürsinn zu nutzen als auch die verschiedenen Etappen und Resultate seiner Schnüfflerarbeit in beinahe kunstvoller Kürze darzulegen, wobei die Spannung gekonnt bis zum Ende aufrecht erhalten wird. Der Leser soll seinen Bericht genießen! Die ganze Geschichte hat Hamann sichtlich Spaß gemacht und die Aufklärung des »Falles« eine tiefe Genugtuung bereitet! Aber er weiß auch, wie weit er gehen darf. Und schließlich übersehe man auch nicht, mit welcher Sorgfalt er sich bestrebt, das Verhalten des Freundes verständlich zu machen, denselben trotz allem gleichsam zu schützen. Damit nun war der persönlichen und der philologischen Neugierde Hamanns in Sachen Hippelscher Autorschaft Genüge geleistet. Jedoch ging es dem Wahrheits- und Gottsucher im Endeffekt um weit mehr. Hamann sah in der Identifizierung der Autorschaft Hippels bestätigt, was er längst in der charakterlichen Verfassung Hippels kannte, nämlich das ungestüme Bedürfnis nach der Ergründung der gemeinsam gesuchten göttlichen Wesenheit. Denn die Lebensläufe waren ein Sammelbecken unterschiedlichster Gottsucherexperimente. 41 ZH VI, 106,29–107,5; 107,8–18 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 22. 10. 1785). Zu Hippels besonderem Verhältnis zum Münzmeister Göschen vgl. Kohnen: Inszenatorische Momente im Brief. Zu einem Beispiel aus der Korrespondenz Theodor Gottlieb von Hippels. In: Germanistische Mitteilungen. Kontakte und Kontraste. Festschrift für Roland Duhamel. In: Zeitschrift für Sprache, Literatur und Kultur. Hg. von Clemens Rüttner. Heft 67. Brüssel 2008, S. 38–50.

Von der Hamann-Forschung zu wenig beachtet: Theodor Gottlieb von Hippel

345

War nicht die Figur des an Rousseaus Vicaire savoyard erinnernden Agnostikers v.G., der in der Stunde seines Todes in die Kirche seines Freundes, des Pastors, schleicht, ein Abbild von Hippels eigener fortwährender Glaubensunsicherheit? Er trägt übrigens genau wie der Pastor in Löwenstein verschiedene Züge Hamanns. Waren nicht diese beiden Freundesfiguren mit ihren vielseitigen politischen Diskussionen im Roman zwei nuancierte Möglichkeiten, in der gebrechlichen Welt den Weg zu einer annehmbaren, Gott angenäherten Staats- und Gesellschaftsform zu finden, wie Hippel sie auch in seinen politischen Überlegungen immer wieder anspricht? War nicht die leicht ironische Beleuchtung der vorkritischen Erkenntnisphilosophie Kants im zweiten Band eine Art Bestätigung der eigenen grundsätzlichen Infragestellung des Kantschen Rationalismus? War nicht die tragische, aber geradezu himmlisch-reine Liebesbeziehung des Helden Alexander zu der Töpfer- und Schneiderstochter Minchen im ersten und zweiten Band der Versuch einer Variante zu Hamanns Interpretation des Liebes- und Zeugungsgeheimnisses in dessen Versuch einer Sibylle über die Ehe, die Hamann als »Berichtigung« des Hippelschen Ehebuchs verfasst hatte?42 War nicht die Erfindung der makabren Figur des »Sterbegrafen« im zweiten und besonders dritten Band eine Projektion der häufigen hypochondrischen Zustände des Freundes? Waren nicht die vielen, in abgewandelten Formulierungen reproduzierten Zitate aus Hamanns Kurzschriften ein Eingeständnis, dass sich der Verfasser des Romans immer wieder an sein, Hamanns, Gedankengut anlehnte? Und war schließlich nicht die vom jungen Romanhelden Alexander im vierten Band auf vielen Seiten enregistrierte Gegenüberstellung der bis dahin bekannten erkenntnistheoretischen und theologisch orientierten Spekulationen Kants, Herders und seiner, Hamanns selbst, nicht der sicherste Beleg, dass ein am Ort lebender, belesener Autor mit Verbissenheit um die letzten Wahrheiten rang, das in Gedankengängen, die sie beide selbst, die sich fast täglich sahen, so oft auf die eine oder andere Weise wohl angeschnitten hatten? Die Lebensläufe sind in den Augen Hamanns eine Art Hippelsches Brevier oder zweite Bibel geworden! Dass der Freund unter metaphysischen Qualen litt, die er jedoch großenteils anderen gegenüber verschwieg und sich auf diese literarische Meisterart von der Seele schrieb, musste Hamann zutiefst bewegen. Beide waren jeder auf seine Weise »buchstabierend« auf einer fortwährenden Pilgerfahrt begriffen! Dabei ging Hamann eigentlich genauso gewandt und listig vor wie der Freund selbst. Denn merkwürdigerweise lässt er sich im Briefwechsel bezüglich der Lebensläufe gegenüber Dritten niemals auf philosophisch gefärbte Einzelheiten ein, indem er besondere gemeinsame Problemkomplexe anspräche! Nur andeutungsweise werden (etwa Ziegenhorn bezüglich der Minchen-Tragödie) 42 Hippel: Briefe. SW XIV (wie Anm. 3), S. 4ff.50. Vgl. auch Kohnen: Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit (wie Anm. 1), S. 92–95.

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Joseph Kohnen

bestimmte Dinge gestreift. Aber er setzt eindeutig voraus, indem er immer wieder den Roman nennt, dass man den Inhalt kenne, dass also die Adressaten sich mit dem polyvalenten Inhalt eingehend auseinander gesetzt hätten, was bei den Reaktionen Herders und Jacobis auf jeden Fall gegeben war. Man musste nur zwischen den Zeilen weiterdenken. Für den Magus vermittelte der großangelegte Einsatz des Verfassers der Lebensläufe jedenfalls eine Genugtuung. Eine Frage darf man sich allerdings noch stellen. Was wäre gewesen, wenn Hamann Hippel überlebt hätte? Wäre er dann, besonders, als nach 1796 so viele sich frustriert Fühlende über den Toten herfielen, ähnlich wie Kant gesprächiger gewesen? Umgekehrt sind auch Hippels Briefe an Scheffner nach 1785 (wohl auf immer) verschwunden, so dass wir ebensowenig wissen, was jener nach Hamanns Tod geäußert haben mag. Aber Hippel hat Hamann weiterhin zum Beispiel in seinen Kreuz- und Querzügen des Ritters A bis Z43 mittels einer Satire über Johann August Starck und die Konxompax-Motive thematisch eingebracht, ihm damit sozusagen eine Art Denkmal gesetzt.

43 Vgl. Joseph Kohnen: Konxompax und die Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z. In: Königsberg. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Begründet und herausgegeben von Joseph Kohnen. Frankfurt a.M. u. a. 1994, S. 309–320.

Raivis Bicˇevskis (Riga)

»Seelenmanumission«. Bemerkungen zur Hamann-Forschung in Riga

Die Forschungsgeschichte – wenn auch lokalisierte und zeitlich eingeschränkte – eines tiefsinnigen Autors wie Johann Georg Hamann zu schreiben fällt nicht leicht. Nicht nur deswegen, weil dann nolens volens von etwa zweihundert Jahren der nicht immer nachweisbaren Hamann-Leserschaft in Riga die Rede sein sollte, sondern auch deswegen, weil man in Betracht ziehen muss, dass die Forschungsgeschichte mit Konstellationen verwoben ist, die den Elfenbeinturm des Interpreten und des Forschers schon immer gesprengt haben. Die Forschungsgeschichte ist nicht nur eine Geschichte von persönlichen Meinungen. Das bisher kaum erforschte Feld der Hamann-Forschung in Riga und Lettland erweist sich überdies als ein geschichts- und ortsbedingt stark geprägtes Gefilde, wo Hamann immer wieder instrumentalisiert wurde und sich in die Interpretation nationalkorporative, antibürgerliche, nationalpatriotische, liberale und sonstige ideologische Untertöne einmischten, so dass sich Interpreten des Autors ideologisch bemächtigten.

1.

Brechungen zwischen Autor und Leser

Hamann hat sich einmal im Brief an Johann Gotthelf Lindner (Frühling 1753), sich für das Buch Voltaires Über die Sitten und den Geist der Nationen bedankend, folgendermaßen geäußert: »Wenn ich ein gutes Buch zum ersten mal lese, so wißen Sie, daß ich es mehr zu verstehen als zu beurtheilen suche«.1 Das anscheinend einfache hermeneutische Prinzip ist von besonderer Bedeutung, wenn von einer Forschungs- und Interpretationsgeschichte die Rede ist, auf der eine gewisse Schwermütigkeit oder Resignation liegt, wie sie sich in der Betrachtung der Wirkungsgeschichte eines Autors als Lesergeschichte einstellen kann, wenn dort Zeugnisse des lebens- und schicksalsbedingten Urteilens und Beurteilungen zu finden sind, die die Last der Geschichte in sich tragen und den 1 Brief an Johann Gotthelf Lindner (Riga, den 8./19. März 1753), in: ZH I, 26,4f.

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Raivis Bicˇ evskis

Leser im Joch der gängigen, sich anbietenden Parolen halten. Dennoch gerade der Leser ist für Hamann wichtig. Hegels Wort, dass ein großer Mann die Menschen dazu verdammt, ihn zu explizieren,2 birgt wohl nicht nur einen Hinweis auf das charismatische Vorbild des großen Autors, sondern auch eine Anweisung zur Arbeit des Explizierens, die schon immer auch eine Selbstexplikation des Interpreten ist. Geschichtliche Instrumentalisierungsszenerien mischen sich in dieses unberechenbare Spiel des Auslegens eines Autors und des Selbstverständnisses des Lesers ein und brechen die Stimme des Autors und trüben das Auge des Lesers. Einen Wechsel der Töne mag dieser Wechsel der geschichtlichen Instrumentalisierungsszenen in der Sicht eines forschenden Geschichtsschreibers bedeuten, einen Wechsel, der seinen eigenen Sequenzen folgt und sich auch nomologisch beschreiben lässt. Er mag aber auch auf etwas anderes aufmerksam machen: auf unerwartete, erschütternde Erfahrungsbrüche im fortlaufenden Gang der Geschichte, wo die Instrumentalisierung einen Augenblick lang außer Kraft gesetzt ist. Die Brüche unter der fest scheinenden Oberfläche der Erfahrung, der Sprache und der Dinge aufscheinen zu lassen, so dass der Autor seine eigene Stimme zurück erhält und der Leser sein eigenes Ohr öffnet, ist eine Aufgabe, der die Forschungsgeschichte sich stellen muss. Zu fragen ist, wo und wann ein Autor wie Hamann im jeweiligen geschichtlichen Zeitraum sein Wort sagen und gehört werden könnte, und dies im Sinne seines Metaschematismus3. Die eigentliche Frage also, vor die die Forschungsgeschichte uns stellt, wäre dann die Frage nach den geschichtlichen Brüchen, durch die hindurch Hamann (im Sinne seines Verständnisses von Sprache und Ansprache) jenseits der instrumentalisierenden Einnahme durch Interpretationsstränge sprechen könnte. Dieser Frage nachzugehen bedeutet keineswegs, die Hermeneutik der Interpretationsstränge und geschichtlichen Konstellationen beiseite zu schieben. Diese Hermeneutik ist wichtig. Sie ist aber lediglich eine Propädeutik der Phänomenologie des Hörens und Erhörtwerdens auf dem Hintergrund der »Bruchlinien der Erfahrung«.4 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Aphorismen. In: ders.: Werke. Bd. 11: Berliner Schriften (1818–1831). Frankfurt a.M. 1970, S. 574. 3 Vgl. Knut Martin Stünkel: Metaschematismus und formale Anzeige. Über ein biblisch-paulinisches Rüstzeug des Denkens bei Johann Georg Hamann und Martin Heidegger. In: NZSTh 47 (2005), S. 263f: »Der Metaschematismus des Apostels ist […] Ausdruck dessen, was Hamann in seinem Londoner Konversionserlebnis am eigenen Leibe erfahren hatte: das Konkretwerden eines vormals nur als allgemein respektive objektiv Wahrgenommenen und dessen Inanspruchnahme der eigenen Person. […] Ein Metaschematismus muss also vor allem eines bieten: die Möglichkeit der Einschreibung des Individuums anhand vorhandener Leerstellen in einem vorliegenden Textzusammenhang.« 4 Diese Anspielung geht direkt auf den Buchtitel von Bernhard Waldenfels zurück. Seine phänomenologischen Forschungen sind der Sinnbildung gewidmet, die mit dem Erscheinen

»Seelenmanumission«. Bemerkungen zur Hamann-Forschung in Riga

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Ich möchte diese Bemerkungen zur Geschichte und Gegenwart der HamannForschung in Riga in einige mehr oder weniger kurze Abschnitte einteilen, die gerade den Aufgaben dieser propädeutischen Hermeneutik nachgehen: erstens, versuche ich die paradigmatischen Probleme der Hamann-Forschung in Riga (und Lettland) zu skizzieren (3, 4). Zweitens – die daraus resultierenden gegenwärtigen Aufgaben der Beschäftigung mit Hamann einzuzeichnen, die für die heutige Hamann-Forschung vielleicht nicht nur in Riga von Interesse sein könnten (5) und zuletzt, drittens, ein Vorhaben, das diese wichtigen Aufgaben zu realisieren beginnt, zu umreißen (6). Dem sei eine einleitende Überlegung als erste Topologisierung vorausgeschickt (2).

2.

Facetten der Hamann-Forschung in Riga: Umriss der Heterogenität

Wenn die Rede von der Hamann-Forschung in Riga ist, dann ist die Rede auch von den verschieden eingestellten Lesern Hamanns im Kulturraum Lettlands – von der kulturgeschichtlich bedingten intellektuellen Tradition der Deutschbalten und Letten. Trotz der Verschiedenartigkeit der Voraussetzungen in der Lektüre und im Interesse an Hamann können wir meines Erachtens eine Gemeinsamkeit des Herangehens an Hamann am Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verhältnismäßig leicht entdecken: Die gängige Deutung der Stellung Hamanns im europäischen Geistesleben wird übernommen und zugleich auch ortsüblich national-kulturell geprägt. Die Hamann-Forschung in Riga ist mit einer Institution eng verbunden, deren Name schon etwas von dem noch zu skizzierenden Hamann-Verständnis verrät: Mit dem »Herder-Institut zu Riga«. Das 1921 von der Rigaer HerderGesellschaft gegründete Herder-Institut, das »für die Förderung und Verbreitung der Wissenschaften unter den Angehörigen des deutschen Volkstums in Lettland«5 zuständig war und 1924 den Status einer staatlich anerkannten

des Fremden, Fremdartigen und Unerwarteten verbunden ist. Sie zeigen unsere Erfahrung als brüchig, pathisch und von einer vereinigenden Vernunft nicht gänzlich bestimmt. Hier kann man einen wichtigen Ansatz sehen, für den Hamann auch heute philosophisch relevant sein kann – im Kontext der Entwicklung der Phänomenologie in den letzten Jahrzehnten. Vgl. Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt a.M. 2004. 5 Auskünfte über das Herderinstitut zu Riga. Riga 1927, S. 5. Zit. nach Raimonds Ceru¯zis: Deutschbalten und das Herderinstitut in Riga. In: Herders Rı¯ga¯ / Herder in Riga. Riga 2005, S. 68. Eine instruktive Übersicht über die Tätigkeit des Instituts bietet auch: Raimonds Ceru¯zis: Latvijas va¯cu priva¯ta¯ augstskola: Herdera institu¯ts 1921–1939: izglı¯tı¯ba, zina¯tne,

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Raivis Bicˇ evskis

Hochschule erlangte, war auch eine Verbindungsstätte zwischen möglichen Hamann-Deutungen, die sich damals in Deutschland und partiell in Lettland herausgebildet hatten. Im Staatsarchiv Lettlands sind Briefe von Wilhelm Klumberg, Rektor des Herder-Instituts, aufbewahrt,6 in denen man Listen der Gäste des Instituts in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts findet. Dort erscheinen unter anderen Martin Heidegger, der im September 1928 nach Riga reiste, um einen Vortragszyklus über Kants Kritik der reinen Vernunft zu halten, und Oswald Spengler, der in Riga als Gast des Herder-Instituts einige bewegte Tage des Jahres 1924 erlebte, sowie der Name des Historikers Hans von Rimscha, oder auch der des Biologen Johann Jakob von Üxküll, die beide mit dem baltischen Kulturraum verbunden waren; dort steht auch ein Name, der in die Hamann-Forschung für ewig eingeschrieben ist: Josef Nadler. Nadlers mögliche Ankunft und Vorträge sind in der Liste zwischen dem 28. September und dem 5. Oktober 1928 eingetragen. Etwa zwei Jahre zuvor, im März 1926, hat auch Walther Ziesemer, der an der Arbeit der Briefausgabe Hamanns wesentlich teilgenommen hat, das HerderInstitut zu Riga besucht, um Vorlesungen über das geistige Leben des Deutschen Ordens, für das er sich stark interessierte, zu halten – wie dies aus dem Briefwechsel des Leiters der Geisteswissenschaftlichen Abteilung des Herder-Instituts Woldemar Eduard Paul Wulffius mit Walther Ziesemer deutlich hervorgeht.7 Eine weitere ideengeschichtliche Interpretation Hamanns kommt in gewisser Weise auch aus dem Rigaer interkulturellen Klima: Isaiah Berlin (1909–1997), dessen Anliegen es war, Vico, Hamann und Herder als Kritiker des Rationalismus, der Aufklärung und des monistischen Wahrheitsverständnisses und im Lichte des Ursprungs des kulturellen Nationalismus zu betrachten, aber auch im Kontext der weiteren ambivalenten ideengeschichtlichen Entwicklung dieser Gedankenkonstellation in der Romantik zu deuten, kommt ja aus Riga. Er ist in Riga geboren und hat dort die ersten Jahre seines Lebens verbracht und die ersten Erfahrungen gemacht. Sein Hamann-Bild mit dem starkem Akzent auf dem Irrationalismus und den ideengeschichtlichen Konsequenzen für die Politik im 20. Jahrhundert war einflussreich, aber nicht vor andersgeprägten ideologischen Interpretationssträngen geschützt.8 tradı¯cija un ideolog‘ija (Die private Hochschule der Deutschen in Lettland: [Herder Institut 1921–1939] Bildung, Wissenschaft, Tradition und Ideologie). In: Raivis Bicˇevskis (Hg.): Heidegera Rı¯gas rudens. Martins Heidegers Rı¯ga¯ [Rigaer Herbst Heideggers. Martin Heidegger in Riga]. Riga 2011, S. 271–285. 6 Die Sigle im Archiv für Geschichte Lettlands: F 4772, Konvolut 2. 7 Diese Briefe sind auch im Archiv für Geschichte Lettlands aufbewahrt und unter der Sigle F 4772, Konvolut 1 zu finden. 8 Vgl. Isaiah Berlin: The Magus of the North. J.G. Hamann and the Modern Irrationalism. Edited by Henry Hardy. London 1993. Deutsch: Isaiah Berlin: Der Magus im Norden. J.G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Hg. v. Henry Hardy. Berlin

»Seelenmanumission«. Bemerkungen zur Hamann-Forschung in Riga

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Das Erwähnte bildet zwar nur Scherben, die wie Facetten die Gegenwärtigkeit Hamanns in Riga im Laufe des 20. Jahrhunderts widerspiegeln und dazu einladen, Hamanns Vermächtnis präsent zu halten. Eine feste Orientierung haben diese Zugänge im Laufe des 20. Jahrhunderts der lettischen Hamann-Forschung in Riga dennoch nicht gegeben. Hamanns Präsenz in Lettland ist noch anders eingebürgert und erhalten.

3.

Hamann als Vertreter der Dainologie

Die paradigmatischen Probleme der lettischen Hamann-Forschung entfalten sich bereits diesseits der Genauigkeit und der Tiefe der ausgewiesenen HamannPhilologie und diesseits der ideengeschichtlichen Höhenflüge. Das Gemeinsame und Problematische, das sich dem deutschbaltischen und dem lettischen Hamann-Leser als ein nicht hinterfragtes Depositum zeigt, ist eine starke Orientierung in Richtung Herder : Hamann wird – wie auch immer kontextbezogen – dennoch stark in Richtung Herder gedeutet; und auch heute ist diese Ausrichtung noch geblieben und meines Erachtens korrigierbar. Als erstes Beispiel für die angedeutete Assimilierung an Herder ist eine Instrumentalisierung Hamanns im Kontext des nationalen Selbstbewusstseins zu nennen. Diese Instrumentalisierung – die vielleicht auch einen anderen passenderen Namen verdient – ist eine Beurteilung der Leistungen Hamanns gerade in Bezug auf einen sehr wichtigen Aspekt seines Denkens, nämlich: Sprache und Ästhetik. Seinerzeit (1944) hat Arved Vilks diese Position wie folgt formuliert: Natürlich, dass der trockene Rationalismus der Aufklärung einem Denker und Schriftsteller mit einer stärker emotionalen Disposition der Seele nicht am Herzen lag. Eine Reaktion gegen einseitige Überhöhung der Vernunft begann schon bei Johann Georg Hamann (1730–1788), der kurzweilig in Livland und Kurland lebte. Er lernte Lettisch und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das lettische Volkslied. […] Gerade hier, in Riga und Lettland, formte sich seine Weltanschauung. Später, im Jahre 1762, gab er in Königsberg Kreuzzüge des Philologen heraus. Das Buch beeindruckte den 14 Jahre jüngeren Herder tief, ebenso wie die ganze Generation des »Sturm und Drang«. Im Gegensatz zu den Rationalisten betont Hamann die primäre Bedeutung der Poesie, des Glaubens und der Naturkräfte. Er tritt für die Volkslyrik ein, die die Gelehrten bisher eher verachtet haben. […] Hamann beschwört die geistige Totalität des natürlichen Menschen, die auch in der heidnischen Poesie ihren Niederschlag gefunden hat. Als

1995. Siehe auch die von H. Hardy herausgegebene Sammlung von Berlins Schriften zur Ideengeschichte: Isaiah Berlin: Three Critics of the Enlightenment: Vico, Hamann, Herder. Princeton 2000.

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Beispiel führt Hamann die lettischen Arbeitslieder an – in ihrem Tonwechsel, seiner Meinung nach, mit Homers Metrik vergleichbar. [Übers. R.B.]9

Hamann erscheint als einer der Vorbereiter der Dainologie (Lehre von den Dainas, den lettischen Volksliedern) – zusammen mit Karl Gottlob Sonntag, dem ehemaligen Rektor der Domschule in Riga und späteren kirchlichen Superintendenten Livlands, Gotthard Friedrich Stender, Johann Jakob Harder, Johann Ludvig Boerger und gewiss – Johann Gottfried Herder. Die lettische Sprache und die Volkslieder werden ausdrücklich betont, und Hamann wird in Richtung auf Herder gesehen. »Die Kraft Hamanns war seine seherische Begabung. Er bereitete aber nur den Weg für einen größeren Mann [nämlich Herder, R.B.], der die Welt anders fühlen und anders sehen lernte«. [Übers. R.B.]10 Der 2005 in Riga auf Lettisch und Deutsch herausgegebene Sammelband mit Interpretationen zu Herder wiederholt diese Äußerungen schon gemäßigt, aber als Deutungsfigur dennoch fast deckungsgleich.11 Diese Einstellung zu Hamann ist in gewisser Weise auch national- und ideologieübergreifend in Riga und Lettland verbreitet. Er ist somit in eine Geschichte eingeschrieben, die man mit Herder und die Begründung der Volksliedforschung im deutschbaltischen Osten überschreiben kann, so der Titel eines wichtigen Aufsatzes des Deutschbaltischen Historikers Leonid Arbusow jr.12 Alexander Wegner hat 1928 in dem in der Schriftenreihe Friedrich Manns Pädagogisches Magazin publizierten Heft Herder und das lettische Volkslied betont, dass es Hamann war, der Herders Interesse an der lettischen Volkspoesie und lettischen Sprache mit scharfsinnigen Beobachtungen weckte, die aber eben Herder ausgearbeitet habe.13 Hamann ist hier interessant, weil Herder aus der Volksdichtung eine neue Sicht der Sachen heraufzubeschwören wusste. Und das wird auch im Zusammenhang mit Johann Christoph Berens’ aufgeklärter Stellung gegenüber den Beziehungen zwischen Deutschen und Letten so gesehen, mit der Folge, dass Hamann hier fast völlig seine immerhin bemerkte Abneigung gegen die Aufklärung eingebüßt hat. Auf dem Hintergrund der national wichtigen Volkslieder erscheint Hamanns Stellung quer zu allen Fronten, die aber stichwortartig immerhin erwähnt werden. 9 Arveds Vilks: Dazˇi dainolog‘ijas jauta¯jumi [Einige Fragen der Dainologie]. In: Latvju Me¯nesˇraksts [Lettische Monatsschrift] 1 (1944), S. 46–53, hier S. 47f. 10 Ebd., S. 48. 11 Vgl. Oja¯rs Zanders: Die Königsberger Freunde Herders in Riga – Hamann und Hartknoch. In: Herders Rı¯ga¯ / Herder in Riga (wie Anm. 5), S. 54–58. Einzuwenden, dass diese Forschungsliteratur gerade Herder gewidmet sei und ergo auch alles andere aus der Perspektive ihres Gegenstandes bedenke, ist nicht ganz falsch, dennoch muss man in Betracht ziehen, dass in Lettland gegenwärtig sehr spärliche Forschungsliteratur zu Hamann existiert – größtenteils handelt es sich eben um Literatur zu Herder oder um Herder. 12 Der Aufsatz ist erschienen in dem Sammelband: Erich Keyser (Hg.): Im Geiste Herders. Zum 150. Todestage J.G. Herders. Kitzingen am Main 1953. 13 Vgl. Alexander Wegner : Herder und das lettische Volkslied. Langensalza 1928, S. 16, 21–24.

»Seelenmanumission«. Bemerkungen zur Hamann-Forschung in Riga

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So kann Ludis Be¯rzin¸sˇ (in seinem Aufsatz Wiederaufgefundene Volkspoesie 1933) sagen: »Hamann vermochte das Wesen der Sachen heller zu sehen als die rationalistische Schule, und deswegen [Hervorh. R.B.] erfasste er auch die große Bedeutung der lettischen Volkslieder« [Übers. R.B.].14 Hamann erscheint als ein tiefer Denker und als solcher dennoch fast nur auf die national wichtige Volksdichtung fixiert. Im Grunde wird diese Instrumentalisierung Hamanns auch in der 1995 in Riga herausgegebenen mehrbändigen und als autoritativ angesehenen Ideengeschichte in Lettland15 wiederholt. Es handelt sich geradezu um einen Gemeinplatz in lettischen Literaturgeschichten. Diese Sicht, die man eine Instrumentalisierung nennen kann (dieser Begriff ist keineswegs schon im voraus abwertend, eher deskriptiv), erfordert eine Veränderung des Blickes – vom Detail zum Denkzusammenhang –, wie sie Hamann tatsächlich am Herzen lag, wenn er das lettische Volkslied in seinem Werk Aesthetica in nuce bedachte.16 Außerdem und zugleich reproduziert diese Instrumentalisierung in der Linie Hamann-Herder das »Vorbereiter-Theorem« Hamanns (im Hinblick auf Herder, »Sturm und Drang« und Romantik). Dass diese geschichtliche Linie wichtig war, ist keine Frage, wie auch, dass Hamann auf solche Weise für lettische Leser identifizierbar war. Es ist aber nach dem Substrat zu fragen, das dieser Identifizierung zugrunde liegt. Es kommt darauf an, dass Hamann von diesen Interpretationssträngen nicht überschattet wird, wie es gerade mehrmals in der Forschungsgeschichte geschehen ist. Diese Überschattung aber ist nicht mit Konstellationen zu verwechseln, in denen später Gesagtes erst recht Hamanns Aussagen und Andeutungen relevant macht. Um da zu unterscheiden, bedarf man einer kritischen Hermeneutik der Instrumentalisierung.

4.

Das »Ereignis Riga« für Hamann

Es sind verschieden nuancierte Aussagen Hamanns über seine Rigaer Zeit bekannt.17 Diese Zeit in Riga ist im Kontext seines Aufenthalts im Kurland zu sehen.18 Das bedenkend kann man auf eine Fragestellung aufmerksam machen, 14 Ludis Be¯rzin¸ˇs : Atrakta¯ tautas poe¯zija [Wiederaufgefundene Volkspoesie]. In: Filologu Biedrı¯bas Raksti [Schriften der philologischen Gesellschaft]. Bd. 13 (1933), S. 45. 15 Vgl. besonders: Ella Buceniece (Hg.): Ideju ve¯sture Latvija¯ [Ideengeschichte in Lettland]. Bd. 1. Riga 1995, S. 324. 16 Vgl. N II, 215f. 17 Vgl. z. B. Hamanns Briefe an den Vater (November 1752) ZH I, 12 und an Johann Gotthelf Lindner (Grünhof, den 28. April 1755) ZH I, 105. 18 Vgl. die des Reichtums der Details wegen noch immer hilfreiche und zu weiteren Forschungen ermunternde Darstellung von Josef Nadler : Johann Georg Hamann 1730–1788. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg 1949, S. 47–90.

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der das spezifische Interesse der Hamann-Forschung in Riga gewidmet war. Auch sie ist zweifelsohne ortsbedingt, kann aber meines Erachtens sehr produktiv sein und ist auch produktiv gewesen. Hier liegt eine der wichtigsten Aufgaben einer Hermeneutik, die die geschichtlichen Konstellationen im Leben Hamanns zu deuten unternimmt. Im Zentrum steht die Frage: Was bedeutete eigentlich für Hamann (und Herder) der Aufenthalt in Riga und im damaligen Kulturraum Lettlands? Der deutschbaltische Philosoph Kurt Stavenhagen (1885–1951),19 der nach der Repatriierung aus Lettland am Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in seiner Geburtsstadt Göttingen wirkte (und nebenbei gesagt: auch Martin Heidegger eingeladen hat, Riga zu besuchen), hat in Bezug auf Herder den seither sehr oft zitierten Ausdruck geprägt »das Herdersche in Herder«20 (dessen Ursprung er gerade in den Rigaer Jahren gesehen hat). Sich auf Theodor Gottlieb von Hippel berufend, betont er, dass die Rigaer Jahre und die Zeit in Kurland und Livland insgesamt für Hamann und Herder eine Befreiung der Seele aus der eigenen Enge bedeuteten, ein Hinausgehen, eine notwendige Kehre. Er schrieb, Hamann und Herder gemeinsam charakterisierend: »In der Stadt, wo Staatspolitik und Kulturräume wechselten und die ins Herzogtum Kurland eingefügten Länder«21, ist etwas Wesentliches im Leben Hamanns und Herders geschehen. Kein Wunder, dass der Wind des praktischen Lebens, der Herder hier umwehte, an ihm gerüttelt hat, dass Herder sich ein ›Tintenfass von gelehrter Schriftstellerei‹, ein ›Repositorium voll Papiere und Bücher, das nur in die Studierstube hineingehört‹, schilt, dass ihn der Gedanke ›sich auf ewig aus seinen kritischen, unnützen, groben und elenden Wäldern zu jagen und in die große, nutzbare Welt zu bannen‹, wie das Fieber packt. Hamann war es in Riga ebenso gegangen und er war der Versuchung unterlegen. [Hervorh. R.B.] Herder hat sein Instinkt und ein gütiges Schicksal davor geschützt, das Wort eines deutschen Professors zu bewahrheiten, dass die Politik für den Gelehrten zu schwer, er aber für sie zu schade ist. Aber der bleibende Gewinn war eine ungeheuere Erweiterung seines Gesichtskreises. Der Ostpreuße Hippel […] hat dafür den Ausdruck der ›Seelenmanumission‹ geprägt, der Freilassung der in die eigene Enge versklavten Seele.22

Die weiteren Ausführungen Stavenhagens leicht ergänzend ist zu sagen: Damit Hamann und Herder mehr als »Größen der Literaturgeschichte« wurden, damit ihr »Sehen Völker und Geschichte durchleuchtete, mussten sie sich einmal in 19 Den philosophischen Weg Kurt Stavenhagens bestimmte die Phänomenologie, die er im Felde der Ethik und der Herausbildung der Persönlichkeit anwendete. In diesen Untersuchungen hat er den Begriff der Heimat besonders betont und herausgearbeitet. Vgl. Kurt Stavenhagen: Heimat als Lebenssinn. 2. veränderte Aufl. Göttingen 1948. 20 Kurt Stavenhagen: Herder in Riga. In: AHIR 1/1 (1925), S. 22. 21 Ebd. 22 Ebd.

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ihrem Strom getummelt haben«.23 In Riga erlebten sie ihre »Seelenmanumission« und Riga – eine Stadt, die Herder »nordisches Genf« genannt hat – wurde zum »archimedischen Punkt«, von dem aus sie ihre »Welten bewegten«.24 Eine gelungene »Seelenmanumission« bedeutet, nicht ohne Schmerzen des Lebens und der Selbsterforschung aus sich selbst heraustreten, sich transzendieren, um dann gleichsam von einer Weltumseglung heimzukehren, nun aber sich und der Welt anders zugewandt. Es handelt sich keineswegs nur um einen Wechsel des Aufenthaltsortes, sondern um die notwendige Erweiterung der Seele, die dem geschriebenen Wort und dem gelebten Leben erst ein Gewicht verleiht, das Andere bewegen kann und sie zum Hörer eines Wortes macht, das zu hören sich lohnt. Die Frage nach einem solchen Ereignis, das das Leben grundlegend verändert, ist wichtig genug und erweist sich in diesem Beispiel, wenn auch ortsbedingt, als reizvoll, wenn wir nach den Ursprüngen und der Entstehung der Gedankenwelt Hamanns fragen. Dazu könnte die Hamann-Forschung in Riga mit ihrem spezifischen Interesse noch Wichtiges beitragen.

5.

Fazit: Aufgaben

Trotz aller spezifischen, national- oder ortsbedingten, Anerkennung ist es bisher noch nicht zu einer Hamann-Übersetzung ins Lettische gekommen, im Unterschied zu den Werken Herders25 – meines Erachtens ist dies eine Konsequenz der ›Vorbereiter-Theorie‹, die Hamann lediglich als Vorläufer Herders in Betracht zieht. Einige Versuche, deren fragmentarische Leistungen wir in der mehrbändigen Anthologie der Ideengeschichte in Lettland finden,26 zeugen eher von anamnetischer Fürsorge als von einer gründlichen Einbeziehung Hamanns in die lettische Kultur. Diese Situation zu ändern heißt erstens, die Übersetzungsarbeit zu übernehmen. Bisher sind es, wie bereits angedeutet, nur Fragmente, die nicht ausführlich – dem heutigen Stand der Hamann-Forschung entsprechend – kommentiert sind. Um genau zu sein: die Bruchstücke aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759), den Kreuzzügen des Philologen (1762), Golgatha und Scheblimini (1784) sind sehr klein, und nur ein längeres Bruchstück aus der 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Vom Werk Herders liegen folgende – zum Teil unvollständige – Übersetzungen ins Lettische vor: Briefe zu Beförderung der Humanität, Stimmen der Völker in Liedern, Reisejournal, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Metakritik Kants, Kalligone, in: Johans Gotfrı¯ds Herders Darbu izlase [Ausgewählte Werke]. Ins Lettische übers. von V. Gammersˇmits, komm. von P. Zeile und V. Gammersˇmits. Riga 1995. 26 Buceniece (Hg.): Ideengeschichte (wie Anm. 15).

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Metakritik (1784) vermag den Zusammenhang des Anliegens dieses Werkes wiederzugeben. Eine kommentierte Ausgabe der Sokratischen Denkwürdigkeiten ist der erste Schritt auf dem Feld der Übersetzungsarbeit, die schon geplant ist und die Umrisse einer relativ baldigen Realisierung zeigt.27 Zweitens gilt es eine systematische Archivalienforschung zu leisten. In Mitau, heute Jelgava, (wo Hamann als Sekretär des Rechtsanwalts und Hofrats Christoph Anton Tottien tätig und auch an der Mitauischen Zeitschrift wesentlich beteiligt war, wo einst die Gesellschaft für Literatur und Kunst in Kurland, die an der 1775 gegründeten Academia Petrina zu Mitau sowie in der Stadt Mitau wirkte und Zeugnisse der intellektuellen Vergangenheit Kurlands im Laufe der Zeit sammelte) und in Riga, im Archiv des Museums für Geschichte und Schifffahrt, im Archiv des Dommuseums in Riga, im Archiv für Geschichte Lettlands, in der Abteilung der Baltischen Zentralbibliothek der Nationalbibliothek Lettlands, in der Handschriftenabteilung der Akademischen Bibliothek der Universität Lettlands (der sog. Misin¸sˇ-Bibliothek) befinden sich Dokumente und andere Zeugnisse, die vielleicht ein neues Licht auf die biographischen Konstellationen werfen können, z. B. der Handelsbriefwechsel. Besonders interessant wären hier die Zeugnisse des Handelshauses Berens. Die »sorgfältige Mühe des Verschweigens«28, die Hamann nutzt, um sein Auftragsziel in London nicht zu verraten, würde dann vielleicht transparenter sein. Die genannten Archive und auch Kleinsammlungen in Lettland aus der Perspektive der HamannForschung heute systematisch zu durchforschen, ist eine Aufgabe, die bisher nicht geleistet wurde. Schon eine Inventarisierung ist wichtig genug, aber es geht auch um mehr.

6.

Perspektiven

Ich möchte am Ende der Bemerkungen sehr kurz ein als langfristig eingeplantes Forschungsprojekt des Instituts für Philosophie und Soziologie an der Universität Lettlands vorstellen, das im Rahmen des staatlich finanzierten Forschungsprogramms »Nationale und kulturelle Identität in Lettland« und mit Hilfe des Wissenschaftlichen Beirats an der Akademie der Wissenschaften Lettlands die schon angedeuteten Perspektiven zu realisieren beginnt.29 Das Projekt schließt Folgendes ein: (1) eine systematische Erforschung aller möglichen Archivalien und Materialien, die heute in Lettland über Hamann noch zu 27 Es handelt sich um das Vorhaben des Verlags Ad verbum (Riga), der schon Kierkegaards Furcht und Zittern herausgegeben hat (2011) und jetzt Interesse an der ersten kommentierten Hamann-Übersetzung hat. 28 Nadler : Hamann (wie Anm. 18), S. 72. 29 Seit 2014 wird das Projekt im Rahmen des Forschungsprogramms »Letonika« fortgesetzt.

»Seelenmanumission«. Bemerkungen zur Hamann-Forschung in Riga

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finden sind, und möglichst breite Kontexte einbeziehen soll; (2) eine zusammenhängende Deutung von Hamanns Briefen, Werken und Notizen aus der Zeit im Baltikum; (3) Untersuchungen, die sich besonders (a) Johann Christoph Berens und seinem aufklärerisch begriffenen Anliegen zuwenden, und dies im Zusammenhang mit Hamanns kameralwissenschaftlichen, handelspolitischen und juristischen Studien in Kurland und Riga, wie sie die 1753 angelegten Notizbücher widerspiegeln und zum Teil durch den »Antrieb von Berens«30 angeregt waren, in verschiedene Traditionen einzuschreiben und in verschiedenen Hinsichten zu interpretieren: utopisch, anthropologisch, politisch, gesellschaftskritisch,31 (b) der gemeinsamen Zeit von Hamann und Herder während Hamanns Aufenthalt in Mitau bei Tottien von 1765 bis 1766, die der »eigentliche gemeinsame geistige Frühling für beide gewesen ist«32, widmen und (c) sich bemühen, Hamann und Johann Friedrich Hartknoch (1740–1789), den Gründer des bedeutendsten baltischen Verlages in Riga, in Zusammenhang zu bringen, da mehrere Hamannsche Werke auf Deutsch und Französisch von Hartknoch herausgegeben worden sind – z. B. sein 1762 in Mitau erschienenes Werk Schriftsteller und Kunstrichter u. a.m.33, (4) gründliche Forschungen zu Hamanns Interpretations- und Rezeptionsgeschichte in Riga und Lettland, was in diesen Bemerkungen gewiss nur facettenartig getan ist. Darunter fällt auch die Aufgabe einer auf Vollständigkeit angelegten Bibliographie zu Hamann im Kulturraum Lettlands. Damit betreibt das Projekt keineswegs nur kulturgeschichtliche Studien, es liefert also keinen Beitrag zur bloßen Historisierung Hamanns. Das Projekt will den Instrumentalisierungsstrang der bisherigen HamannForschung in Lettland ändern und insbesondere die einseitige Wahrnehmung Hamanns als Vorläufer Herders korrigieren und dabei alle wichtigen Beziehungen zwischen Hamann und Herder in den Blick nehmen. Nötig ist ein solcher Wechsel des Blickes, keine destruktive Kritik. Dieses Projekt will in engem Zusammenhang mit dem stehen, was in Deutschland und anderorts schon ge30 Ebd., 57. Bernhard Gajek formuliert dies auf folgende Weise: die Notizbücher »deuten die Richtung an, in die Hamann von Johann Christoph Berens […] sich drängen liess«. Vgl. Bernhard Gajek: Johans Georgs Ha¯manis un va¯cu filosofija 18. gadsimta nosle¯guma¯ [Johann Georg Hamann und die deutsche Philosophie am Ende des 18. Jahrhunderts]. In: Bicˇevskis (Hg.): Heideggers Riga (wie Anm.5), S. 223. 31 Vgl. dazu: Raivis Bicˇevskis / Aija Taimin¸a: Johann Georg Hamanns kameralwissenschaftliche Studien und Johann Christoph Berens’ Vision von Riga: ein utopisches Projekt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Forschungen zur baltischen Geschichte. Hg. von K. Brüggemann. Bd. 8 (2013), S. 127–144. 32 Nadler : Hamann (wie Anm.18), S. 164. Nadlers dictum lautet: »Das Verhältnis HamannHerder ist eine der beispielhaften, geistig fruchtbarsten und vielleicht grössten Freundschaften des achtzehnten Jahrhunderts« (ebd., 153). 33 Ein Verzeichnis der in Mitau und Riga publizierten Erstdrucke von Hamanns Schriften findet sich in: Buceniece (Hg.): Ideengeschichte (wie Anm.15), S. 326f.

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Raivis Bicˇ evskis

leistet und erarbeitet worden ist, um dann auch etwas für die internationale Hamann-Forschung anzubieten. Und nicht zuletzt ist auch die Aufgabe zu nennen, eine Koordinierung der verschiedenartig ausgerichteten Forschungen in Lettland, die Hamann betreffen, zu leisten, um den unumgänglich gewordenen Gedankenaustausch zwischen Germanisten, Literaturwissenschaftlern, Historikern, Philosophen, Theologen u. a. produktiv zu unterstützen. Die genannten Aufgaben sind wichtig auch außerhalb des konkreten Vorhabens, das als ein Beispiel der möglichen Intensivierung der Hamann-Forschung in Riga gelten kann und diese voranzubringen bestrebt ist. Im Kontext der heutigen Hamann-Forschung ist Hamann als ein Denker zu sehen, der vieles vorbereitet, angefangen, aber auch selbst entfaltet hat und uns auch heute etwas zu sagen vermag. Von da aus ist dann die Frage der Hamann-Forschung in Riga (und Lettland) erneut aufzurollen: Was bedeuteten für Hamann Riga, Mitau und andere Orte im damaligen Kulturzeitraum Livlands und Kurlands? Das von Hippel geprägte und von Stavenhagen gebrauchte Wort »Seelenmanumission«, kann schließlich nicht nur für die Rigaer Zeit Hamanns und Herders gelten, sondern auch etwas vom Vermächtnis Hamanns für seine heutigen Leser andeuten.

Personenregister

Abaelard, Petrus 66 Abbt, Thomas 101, 211, 216, 334 Achermann, Eric 9f., 57, 63, 66f., 85, 100, 132 Adam, Antoine 61 Adam, Wolfgang 16, 21, 25, 28, 30 Adelung, Johann Christoph 103, 107, 208 Agamemnon 89 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 54 Albrecht, Heinrich Christoph 264 Alembert, Jean Le Rond d’ 157 Alkibiades 176–180, 196, 247 Allen, Thomas W. 213 Altenhöner, Ingrid 122 Andreae, Bernard 201 Arbusow jr., Leonid 352 Aretino, Pietro 94 Arnim, Bettina von 137 Athenaeus 130 Augustinus 25 Aurnhammer, Achim 27 Babo, Joseph Marius 263 Bacon, Francis 285 Ball, Gabriele 58 Bar, Georg Ludwig von 82 Barbier, Antoine-Alexandre 94 B#rtfay, R8ka 108 Bassa (Händler) 133f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 41 Baur, Wolfgang Dieter 58, 132, 153

Bayer, Oswald 10, 82, 85, 136, 138, 152, 160, 215f., 218, 222, 225f., 228–230, 265, 283, 290, 309 Beck, Adolf 58 Beetz, Manfred 9–11, 52, 63, 86, 125 Beierwaltes, Werner 54f. Belhalfaoui, Barbara 152 Benjamin, Walter 282 Berens, Arend 20, 319f., 356 Berens, Johann Christoph 19f., 134, 143, 174–180, 182, 192–196, 199, 314–325, 327, 329f., 352, 356f. Berens, Katharina 19f., 319 Bergmann, Jörg R. 143 Berlin, Isaiah 148f., 151, 168f., 350f. Be¯rzin¸sˇ, Ludis 353 Beyer, Klaus 107 Biester, Johann Erich 32, 35 Blumenberg, Hans 284f. Boase, Alan M. 72, 84 Bode, Johann Joachim Christoph 235–237 Bodmer, Johann Jakob 263 Boerger, Johann Ludvig 352 Böhm, Benno 81 Böhme, Gernot 292 Böhme, Hartmut 292 Bohse, August (Talander) 76 Boileau, Nicolas 75 Bondeli, Julie von 28 Bondeli, Juliane Charlotte Sophie von 18 Bonnet, Charles de 24, 221 Bracken, Ernst von 220 Brahl, Johann 19, 272

360 Breidert, Wolfgang 187 Briese, Olaf 154 Brouwer, Christian 10, 280 Borowski, Ludwig Ernst 290f., 340 Bourdieu, Pierre 152 Boyer d’Argens, Jean-Baptiste 61, 79 Breitenstein, Natalie 89 Bucholtz, Franz Kaspar 18, 20, 26, 28, 30, 135, 141, 143, 152, 225, 234, 241, 303 Budberg, Andreas Eberhard Baron von 315 Budberg, Barbara Helena Baronin von 139, 315, 325 Büchsel, Elfriede 217, 223, 236, 252 Buffon, Georges-Louis Leclerc Comte de 96 Bulgakow, Michael 103 Bürgel, Peter 105 Burke, Peter 67 Burmann, Peter 209 Burton, Gideon 66 Büsching, Anton Friedrich 263 Campenhausen, Johann Christoph von 315–317 Camus, Jean Pierre 72 Cassirer, Ernst 218 Castiglione, Baldessare 67f. Catull, Gaius Valerius 23 Cervantes, Miguel de 90, 262 Charpentier, Francois 81, 84, 97 Charron, Pierre 84f. Chomarat, Jacques 68 Chotek von Chotkow u. W., Johann Rudolph Graf 26 Christ, Kurt 271, 273, 289, 293–295, 305 Chrysostomus, Johannes 324 Cicero, Marcus Tullius 15, 25, 65–67, 69–72, 80, 85f., 92, 99, 127 Claudius, Anna Rebecca 233, 238f., 249 Claudius, Matthias 10, 18–20, 23, 27f., 30, 233–256, 271, 273, 338 Clermont-LodHve, Guilleaume Emanuel Joseph Guilhem de 240 Comenius, Johann Amos 101, 327 Condillac, Ptienne Bonnot de 53

Personenregister

Cooper, John Gilbert 81 Corominas, Joan 91 Coste, Pierre 94 Courtan, Sophie Marianne 338, 343 Cramer, Johann Andreas 60 Croll, Morris W. 76 Crugot, Martin 221, 224 Dalferth, Ingolf U. 275 Danneberg, Lutz 125–127 Decker, Georg Jakob 139 Demosthenes 85 Derrida, Jacques 243 Descartes, Ren8 35, 41f., 167, 226 DeshouliHres, Antoinette 61 Deutsch, Christian Wilhelm 18 Diderot, Denis 20, 41, 52f., 157f., 331 Diesch, Carl 258, 261 Diogenes Laertios 191 Dorow, Wilhelm 260 Dulaurens, Henri-Joseph 94 Dunn, E. Catherine 66 Du Perron, Kardinal Jacques Davy 72 Ebeling, Gerhard 221, 224 Eberhard, Johann August 32, 289 Ebert, Johann Arnold 60, 130 Elisabeth, Zarin 317f., 325f., 332 Enenkel, Karl 66 Engel, Eva J. 272, 295, 304–306, 340 Engel, Johann Jacob 32f. Epiktet 182, 187 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 68, 71, 78–80 Estrades, Godefroy Graf von 65 Euphorion 205 Faret, Nicolas 87 Fechner, Jörg-Ulrich 126, 128, 233, 237f., 240, 246 Fleming, Paul 245 Flögel, Karl Friedrich 265 Flörcke, Jobst Hermann 343 Forster, Georg 20 Foucault, Michel 115f., 118

Personenregister

Friedrich II., der Große 43f., 51, 140, 257, 289 Fritsch, Friedemann 230 Fumaroli, Marc 59, 67f., 70, 72, 80 Funk, Heinrich 219 Gaier, Ulrich 9, 36, 42f., 45, 142 Gajek, Bernhard 62, 149, 357 Gallitzin, Adelheid Amalia von 20 Gause, Fritz 106 Gawlick, Günter 147, 151, 155, 157, 161 Gedike, Friedrich 32 Geitner, Ursula 87f. Gellert, Christian Fürchtegott 16, 25, 41f., 60, 65, 76, 78, 184f., 200 Gelzer, Florian 59, 74 G8netiot, Alain 73 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 20, 234 Giseke, Nikolaus Dietrich 60 Gisi, Lucas Marco 94 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 16, 26f., 29 Görisch, Reinhard 241, 245 Goethe, Johann Wolfgang von 20–22, 26, 28f., 34–36, 39f., 108, 114, 201, 255, 260, 262, 271, 337, 339, 342 Göttert, Karl-Heinz 68 Goeze, Johann Melchior 38 Goldsmith, Oliver 26 Gombaud, Antoine (Chevalier de M8r8) 84 Gottsched, Johann Christoph 197, 209, 247 Grass, Günter 129–131 Graubner, Hans 9f., 46, 149f., 159, 161, 175, 192, 222, 242f., 252–254, 315, 320, 323f., 332–334 Gr8court, Jean-Baptiste de 10, 257f. Grimm, Melchior Baron de 28 Gründer, Karlfried 95, 197 Guarini, Giovanni Battista 257 Günther, Christian Friedrich 177 Guez de Balzac, Jean-Louis 73f., 84 Gurisatti, Giovanni 221

361 Hagedorn, Friedrich von 60, 67, 130–132, 302 Hahn, Philipp Matthäus 219 Hamann, Anna Regina, geb. Schumacher 237 Hamann, Magdalena Katharina 237 Hamann, Michael 340 Hammacher, Klaus 37, 107, 271, 282 Harder, Johann Jakob 352 Hardy, Henry 148f., 350f. Harsdörffer, Georg Philipp 77, 86 Hartknoch, Johann Friedrich 18, 120, 122, 130f., 135, 137, 142, 152f., 237, 239, 303, 313, 338, 352, 357 Hartung, Gottlieb Leberecht 263, 265 Hartwig, Franz Gotthold 262 Hausen, Carl Renatus 209 Haym, Rudolf 205 Heesakkers, Chris L. 82 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 218, 230, 289, 348 Heidegger, Martin 276, 282, 348, 350, 354, 357 Heinse, Johann Jakob Wilhelm 20 Hemsterhuis, Frans 20, 27, 35, 37f., 277, 279 Henderson, Judith Rice 68f. Henkel, Arthur 7f., 29, 130, 134, 176, 217, 251, 319 Hennings, Samuel Gotthold 18 Hentschel, Uwe 258 Heraklit 187, 191, 289, 300 Herbst, Wilhelm 233 Herder, Caroline 239 Herder, Johann Gottfried 8f., 18–23, 25–31, 33, 36, 39, 41, 43, 45f., 51, 58, 88f., 93f., 106f., 111f., 116–120, 122–124, 126–131, 135, 152–154, 166, 187f., 197, 201, 203–216, 222, 225, 234–242, 246f., 250, 252, 254, 262f., 265, 271, 273, 292, 298, 302, 304, 313f., 338–343, 345f., 350–355, 357f. Herz, Marcus 33 Herzog, Johannes 234 Hinz, Manfred 67f. Hippel, Gotthard von 340

362

Personenregister

Hippel, Theodor Gottlieb von 10f., 18, 137, 153, 257, 260f., 272, 335–346, 354, 358 Hippokrates 90 Hobbes, Thomas 278 Hoffmann, Volker 88, 132 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 75 Hölderlin, Friedrich 50, 54 Holbach, Paul Heinrich Dietrich Baron von 157 Homer 88, 180, 204f., 209f., 213, 352 Horaz 22, 26, 48, 100, 126, 139, 142, 198, 236, 243f., 250f., 301, 329, 331 Horowitz, Maryanne Cline 96 Huarte de San Juan, Juan 90 Hubach, Sybille 8, 134, 319 Hübner, Johann 75 Huizing, Klaas 221 Humboldt, Alexander von 20 Humboldt, Wilhelm von 20 Hume, David 9, 43, 47, 147–171, 183, 187, 189f., 195f., 198, 229, 280f., 283 Hunold, Christian Friedrich 76 Igelström, Heinrich Gustav von Imendörffer, Nora 160, 177

315

Jachmann, Reinhold Bernhard 290f., 303, 340 Jacobi, Friedrich Heinrich 8, 10, 17–23, 25–40, 79, 107–109, 111, 119, 130f., 136f., 139, 141–143, 147, 150, 158, 161, 169f., 222, 225f., 228, 230, 252, 255, 260, 262, 269–285, 293, 299f., 304f., 311, 314, 340–344, 346 Jacobi, Friedrich Conrad 18 Jacobi, Johann Conrad 18 Jacobi, Johann Georg 22, 26f., 222 Jacquet, Louis 331 Jean Paul 222, 224, 243, 260, 262, 342 Jehasse, Jean 74, 80 Jens, Walter 259 Jessen, Hans 233 Joachimsthaler, Jürgen 31 Jørgensen, Sven-Aage 90, 98, 100, 328

Jolyot de Cr8billon, Claude-Prosper Julian, Flavius Claudius 191 Juncker, Christian 76

65

Kämpf, Johann 304f. Kallendorf, Craig 89 Kant, Immanuel 9, 18, 21, 23, 34f., 42–46, 51, 118, 135, 142, 152f., 159f., 164f., 170, 173–200, 257, 263, 265, 272, 274f., 278, 281, 290–293, 296f., 303, 305, 309, 311f., 314, 336, 340f., 343, 345f., 350 Kanter, Johann Jakob 18, 60, 111, 153, 155, 205f., 211f., 257, 304, 337, 342f. Kaszynski, Stefan H. 129 Kemper, Hans-Georg 234, 252 Ketelsen, Uwe-Karsten 77 Kierkegaard, Søren 267, 356 Kinzel, Till 129 Kiss, Endre 149 Kleist, Ewald von 23, 28 Kleuker, Johann Friedrich 18, 20 Klopstock, Friedrich Gottlieb 20, 53f., 121, 128, 197, 239f., 248, 332 Klotz, Christian Adolf 205, 207–210, 212–214, 216 Klumberg, Wilhelm 350 Knoll, Renate 282 Knudsen, Christian 218, 225f., 228 Knutzen, Martin 175, 191f. Koch, Richard 299 Kocziszky, Eva 294 Kohnen, Joseph 10f., 58, 62, 64, 137, 257, 336, 340f., 343–346 König, Burghard 233f., 252 König, Dominik von 105 Koschel, Paul 123 Kraus, Christian Jacob 18–20, 44, 51, 126, 139, 141, 153, 161, 264, 274 Krautz, Hans-Wolfgang 66 Kreimendahl, Lothar 147, 151, 155, 157, 159, 161 Kreutzfeld, Johann Gottlieb 18, 153 Kurz, Gerhard 133, 140 L’Enclos, Ninon de 61, 65 L’Estocq, Johann Ludwig von

262

Personenregister

La Charit8, Raymond C. 72 La Roche, Sophie von 20, 28f., 262 Lacy, Peter Edmond de 315, 317 Lagr8e, Jacqueline 123 Lambert, Johann Heinrich 93 Lange, Samuel Gotthold 23, 28, 251 Laufer, Christel 105 Lauson, Johann Friedrich 19, 137, 175, 213, 314, 337, 342 Lavater, Johann Caspar 10, 19, 23f., 29f., 116–118, 136, 142, 217–231, 271 Leibniz, Gottfried Wilhelm 36f., 41f., 278 Leibrecht, Walter 308 Leiss, Elisabeth 87 Lenz, Jakob Michael Reinhold 332 Leppmann, Wolfgang 201 Lessing, Gotthold Ephraim 9, 20, 23, 25, 27, 33–40, 197, 201, 203–206, 208, 210, 223, 234, 271–273, 276f., 315, 327, 331 Leuchsenring, Franz Michael 26 Levinas, Emmanuel 270 Ley, Klaus 67 Lichtenberg, Georg Christoph 42, 342 Lichtwer, Magnus Gottfried 185f. Lindner, Ehregott Friedrich 302, 313, 340 Lindner, Gottlob Immanuel 95, 133, 139, 142, 225, 305, 325–327 Lindner, Johann Gotthelf 10, 16, 18, 58, 92, 96, 99f., 107, 110, 122, 132, 134, 138, 141, 143, 199, 225, 228, 230, 235, 262, 313–334, 337f., 347, 353 Locke, John 41f. Löffler, Katrin 60 Lohenstein, Daniel Casper von 75 Lowth, Robert 50, 264 Lüchow, Annette 240 Lüpke, Johannes von 121f., 149, 156, 218, 223, 229 Lüthe, Rudolf 148, 168f. Lukian 36, 247 Luther, Martin 27, 87, 168 Maecenas, Gaius 26 MacPherson, James 205 Maimonides, Moses 291 Majetschak, Stefan 217f.

363 Manegold, Ingemarie 255 Mann, Friedrich 352 Marion, Jean-Luc 129, 311 Marsilio Ficino 55, 81 Martens, Wolfgang 58, 60, 120 Martino, Alberto 68, 75 Mauser, Wolfram 18, 23 Mayer, Johann Christoph 19 Meier, Albert 100f. Meier, Georg Friedrich 28 Mendelssohn, Moses 20, 22–25, 27, 30, 32–37, 39, 41f., 92f., 114, 162f., 224, 270–277, 289, 305 Merck, Johann Heinrich 237f. Merlan, Philip 158 Mesmer, Franz Anton 221 Metzke, Erwin 148 Meyer-Krentler, Eckhardt 18, 60 Michaelis, Johann David 50f. Michel, Otto 227 Michelsen, Peter 38 Milton, John 98, 330 Mohr, Heinrich 29 MoliHre (Jean-Baptiste Poquelin) 75 Montaigne, Michel de 9, 59, 67, 70–73, 79–84, 87, 90f., 93f., 96, 101, 182, 187 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de 157 Moritz, Karl Philipp 33 Moser, Friedrich Karl von 29, 236, 262 Müller, Johann Georg 51, 138 Müller, Roman 66 Müller, Wolfgang G. 79 Mynster, Jacob Peter 267 Nadler, Josef 7, 15, 19, 29, 51, 58, 61, 92–94, 129f., 162, 238, 240, 291f., 317, 350, 353, 356f. Newton, Isaac 187–190, 193, 196 Nicolai, Friedrich 19, 22, 31–33, 126–128, 140, 162f., 206, 238, 262f., 298, 334 Nicolovius, Friedrich 18 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig 19, 260–262 Nörtemann, Regina 77 Novalis 42

364

Personenregister

Ohms, Hans Herbert 105f., 113 Øhrgaard, Per 129f. Ovidius Naso, Publius 243f. Pascal, Blaise 39, 182, 187, 195, 198, 341 Pansa, Mutius 240 Patri, Kai Hendrik 9, 149 Paulus 57, 118, 180, 223, 226, 228f. Peirce, Charles Sanders 230 Penzel, Abraham Jakob 19, 250 Pestalozzi, Johann Heinrich 263, 266 Peterson, Erik 218, 228 Petrarca, Francesco 65–67, 72 Petronius, Titus 71, 89f., 98f., 328f. Pfeffel, Gottlieb Konrad 29 Pfenninger, Johann Konrad 29, 265f. Piccolomini, Ennea Silvio 317 Pindar 127 Pistorius, Hermann Andreas 156f. Platon 55, 88, 97,120, 127, 177f., 204 Plehwe, Arthur 259, 261 Plotin 55 Plutarch 97, 181 Pope, Alexander 42f., 183, 187f., 191–193, 196, 200 Pott, Ute 17, 25, 27 Priestley, Joseph 264 Prochaska, Roman 251 Quintilianus, Marcus Fabius

76, 85f.

Raabe, Paul 108 Rabelais, FranÅois 90, 257 Rabener, Gottlieb Wilhelm 60, 233 Ramler, Karl Wilhelm 162f. Rasch, Wolfdietrich 28 Rehberg, August Wilhelm 28 Reichardt, Johann Friedrich 19, 22, 24f., 30, 128, 142, 233, 240, 251–253, 256, 260, 340 Reimarus, Elise 20, 30, 34, 271 Reinert, Andreas 231 Reinlein, Tanja 77 Reuter, Christina 51, 54, 86, 88 Richelet, Pierre 74 Riedel, Friedrich Justus 205f., 212, 216

Rimscha, Hans von 316 Ringleben, Joachim 85, 267 Rinser, Luise 106 Robert, Jörg 69 Rölleke, Heinz 253 Rollenhagen, Georg 213 Rosenkranz, Karl 341 Rothe, Matthias 104f. Rousseau, Jean-Jacques 65, 157, 325, 345 Rowland, Herbert 245 Rudolph, Andre 132, 140 Saint-Pvremond, Charles de 61, 90 Saint-Martin, Louis Claude de 240, 254, 256 Sales, Franz von 59 Salmony, Hansjörg Alfred 108, 289f., 292, 295 Sandkaulen, Birgit 277 Sauder, Gerhard 26f., 29, 197 Scaglione, Aldo 67 Scheffner, Johann George 10, 18, 24, 35, 81, 89, 116, 133, 205, 254, 257–268, 272, 274, 309, 338f., 341, 341–344, 346 Scheffner, Susanne Elisabeth 263 Scheler, Max 189 Schenk, Günter 93 Schenk, Heinrich 291, 305 Schiewe, Jürg 107 Schiller, Friedrich 41 Schlegel, Friedrich 42, 50, 260, 262 Schlözer, August Ludwig 155 Schlosser, Johann Georg 17, 29 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 81 Schneider, Ferdinand Josef 339, 341 Scholz, Heinrich 271, 277 Schopenhauer, Arthur 201 Schreiber, Daniel 296 Schumacher, Anna Regina 237f. Schumacher, Eckhard 243, 247 Schütz, Johann Jakob 190 Seils, Martin 252 Sembritzki, Johannes 339 Semler, Johann Salomo 263 Seneca, Lucius Annaeus 115f. Sennett, Richard 104–106

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Personenregister

Servius 204f. Sextus Empiricus 82 Shakespeare, William 103, 247 Simons, Martin 103, 105 Smolak, Kurt 78 Sokrates 49, 69, 79–85, 96f., 120f., 129–131, 139, 149, 159, 161f., 169f., 175–181, 184f., 191, 194–196, 198, 208, 244, 302, 309, 341 Sonntag, Karl Gottlob 352 Sontag, Susan 295–297, 305 Sophokles 202–205 Spahlinger, Lothar 244 Spalding, Johann Joachim 58 Spengler, Oswald 350 Spinoza, Baruch de 36f., 42, 272–281 Sprickmann, Anton Matthias 20 Starck, Johann August 122–125, 143, 249, 346 Stavenhagen, Kurt 354, 358 Steiger, Johann Anselm 249 Stein, Charlotte von 34f. Steinhausen, Georg 66, 77 Stender, Gotthard Friedrich 352 Sterne, Laurence 27, 90f. Steudel, Johann Gottlieb 135, 137 Stockhausen, Johann Christoph 16 Storchenau, Sigismund von 264 Streminger, Gerhard 148 Struever, Nancy S. 68 Stünkel, Knut Martin 10, 282, 284, 299, 308, 348 Sulzer, Johann Georg 25, 150, 160, 162–166 Swedenborg, Emanuel 265 Swift, Jonathan 41 Sykutris, Ioannis 89 Thielicke, Helmut 38 Thomasius, Christian 59, 62–64, 74, 81, 84, 97 Thunmann, Johann 139 Tiedemann, Dietrich 263 Timm, Hermann 270f. Tokiwa, Kenji 149 Tönnies, Johann Hinrich 240

Tottien, Christoph Anton 356f. Trotti de la Chet#rdie, Jean-FranÅois (?) 62 Ueding, Gert 258 Unger, Rudolf 58, 62, 147f., 153, 158, 169, 209, 218, 233 Uz, Johann Peter 16, 28 Vec, Milosˇ 62 Vellusig, Robert 15, 23, 28, 79, 105, 109 Vergil 22, 26, 202–204 Victor, Gaius Julius 66 Vilks, Arved 351f. Vogt, Martin 77 Vollhardt, Friedrich 63 Voltaire (FranÅois-Marie Arouet) 64f., 155, 157, 166, 289, 291, 308, 310, 347 Voß, Johann Heinrich 20 Waldenfels, Bernhard 348f. Wand-Wittkowski, Christine 66 Warton, Thomas 197 Waschkies, Hans-Joachim 192 Waser, Johann Heinrich 333 Wegmann, Nikolaus 16, 25, 28 Wegner, Alexander 352 Wegner, Silke 104 Weigelt, Horst 220f., 224 Weischedel, Wilhelm 276 Weißenborn, Bernd 31, 136, 138 Wendland, Ulrich 77 Wetzel, Michael 133, 218 Wieland, Christoph Martin 20, 26f., 125, 247, 252, 257f. Wild, Reiner 57, 132 Winckelmann, Johann Joachim 9, 201–205, 208, 210, 263 Witten, Christopher Wilhelm Baron von 316, 325 Witten, Joseph Johann 133, 316, 325 Woesler, Winfried 103, 105, 108 Wolff, Jens 132 Wulffius, Woldemar Eduard Paul 350 Young, Edward

86, 197

366 Zedler, Johann Heinrich 74, 153, 177 Ziesemer, Walther 7, 131, 240, 350

Personenregister

Zollikofer, Georg Joachim 23f., 133, 267f.