Johann Georg Hamann: Natur und Geschichte: Acta des Elften Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel 2015 [1 ed.] 9783737011730, 9783847111733


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Johann Georg Hamann: Natur und Geschichte: Acta des Elften Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel 2015 [1 ed.]
 9783737011730, 9783847111733

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Hamann-Studien

Band 4

Herausgegeben von Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke

Eric Achermann / Johann Kreuzer / Johannes von Lüpke (Hg.)

Johann Georg Hamann: Natur und Geschichte Acta des Elften Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel 2015

Mit 6 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-3561 ISBN 978-3-7370-1173-0

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I. Sprachformen und Lesarten Knut Martin Stünkel (Bochum) Kleider, Lumpen, Teppiche, Körbe, Netze – Zur Textur von Natur und Geschichte bei Johann Georg Hamann . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Hans Graubner (Göttingen) Der junge Hamann und die Physikotheologie . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Harald Steffes (Düsseldorf) Von Johanniswürmern und Irrlichtern. Oder : Auf die Schreibart kommt es an. Der Einfluss des James Hervey auf Johann Georg Hamann . . . . .

53

Wolfgang Schoberth (Erlangen) Lesbarkeit des Verborgenen. Über einige Beziehungen zwischen Hamanns Aesthetica in nuce und Adornos Ästhetischer Theorie . . . . .

77

Ulrich Gaier (Konstanz) „Turbatverse“ und „des Poeten bescheiden Theil“ . . . . . . . . . . . . .

93

Ildikj Pataky (Szentendre, Ungarn) „Das versiegelte Buch auftun“. Johann Georg Hamann als Leser und Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

6

Inhalt

Johann Kreuzer (Oldenburg) Über den inneren Sinn, Laute und Buchstaben als reine Formen a priori oder die Frage der Natur der Geschichte(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

II. Zeiten und Kulturen Oswald Bayer (Hennef) Mitte – Anfang und Ende. Johann Georg Hamanns Gesamtverständnis von Natur und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Joachim von Soosten (Wuppertal) Im Responsorium der Präsenz. Gottes „innigste Zuthätigkeit“

. . . . . . 161

Eric Achermann (Münster) Schema und Kabbala. Hamanns Geschichte von Anfang und Ende . . . . 173 Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin) Mendelssohn, Hamann und das himmlische Jerusalem

. . . . . . . . . . 251

Gideon Stiening (München) „Gegen die Zeiten und das System eines Hobbs“. Hamanns Kritik des Naturrechts im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Linda Simonis (Bochum) Hamanns Konzept der Urkunde zwischen Natur und Geschichte . . . . . 311 Natalie Chamat (Berlin) Hamanns islamisch-arabischer Orient – Eine Skizze . . . . . . . . . . . . 325

III. Vernunftkritik und Glaube Sergei Volzhin (St. Petersburg) „Suche nach dem Faden, der in das Labyrinth geführt, um wieder herauszufinden“. Hamanns Rezeption der Koinzidenzlehre im Kontext seines Geschichtsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Lauri Snellman (Helsinki) Johann Georg Hamann on Faith and Reason, Idealism and Realism

. . . 357

Mario Spezzapria (Cuiab#, Brasilien) Hamann and Hume against the Rational Theologies . . . . . . . . . . . . 371

7

Inhalt

Lydia Amir (Boston, USA) The Epistemological and Theological Role of Humor and Irony in Hamann’s Thought . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Christian Sinn (St. Gallen) Surge amica mea. Zum Verhältnis von Religion und Humor am Beispiel der Konjunktion von Natur und Geschichte bei Johann Georg Hamann und Jean Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Øystein Skar (Oslo) Die gottlose Neugierde. Hamann zwischen Wissen(schaft) und Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Wladimir Gilmanov (Kaliningrad) Eine Spur Hamanns in der russischen Esoterik . . . . . . . . . . . . . . . 437 Teruaki Takahashi (Tokyo) Johann Georg Hamanns monotheistischer Multikulturalismus im Blick auf die monistische Wissenschaftskonzeption betrachtet . . . . . . . . . 447

IV. Editionen und Übersetzungen Janina Reibold (Heidelberg) Kurze Geschichte der langen Hamann-Edition. Ein Zwischenbericht . . . 455 Chiara Colombo (Mailand) Die Hamann-Übersetzungen in Italien Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

Vorwort

Zu trennen, was zusammengehört, und zur Einheit zu zwingen, was doch verschieden ist, das ist nach Johann Georg Hamann die doppelte Verfehlung, der das menschliche Erkenntnisstreben immer wieder zu verfallen droht: „Die Philosophen haben von jeher der Wahrheit dadurch einen Scheidebrief gegeben, daß sie dasjenige geschieden was die Natur zusammengefügt hat und umgekehrt […].“1 Liegt darin die Urverfehlung der menschlichen Erkenntnis, so ist doch auch deutlich, wodurch sie zu überwinden und zu heilen ist: durch eine Kommunikation, die Unterscheidungen wahrt und das Unterschiedene im Austausch zusammenkommen lässt. Hamann nennt das in Aufnahme eines theologischen, näherhin christologischen Terminus communicatio idiomatum und erkennt darin „ein Grundgesetz und de[n] Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung.“2 Das Internationale Hamann-Kolloquium weiß sich seit seiner ersten Zusammenkunft in Lüneburg 1976 diesem „Grundgesetz“ verpflichtet. Es sind die Texte des Magus in Norden, die seine Leser und Interpreten einladen und immer wieder neu herausfordern, verschiedene Perspektiven, Wege und Diskurse zusammenzuführen, ohne die Differenzen zu überspielen oder in die Einheit eines Systems zu überführen. System – so lassen wir uns von Hamann belehren – ist ja „schon an sich ein Hindernis der Wahrheit“,3 und „der Reichthum aller menschlichen Erkenntnis beruhet auf dem Wortwechsel.“4 Wenn das HamannKolloquium solchem Wortwechsel Raum und Zeit gibt, so darf man darin durchaus so etwas wie ein Zeichen des Widerspruchs erkennen, ein Zeichen, das sich dominanten Tendenzen und Kräften auf den Märkten unseres modernen Wissenschaftsverständnisses widersetzt. Beherrscht ist es von Konjunkturen der Spezialisierung wie der Systematisierung als den zwei Seiten einer Medaille. 1 Philologische Einfälle und Zweifel über eine akademische Preisschrift, N III, 40. 2 Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, N III, 27. 3 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 18. 2. 1786, ZH VI, 15. 4 Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache, N II, 129.

10

Vorwort

Spezialisierung bedeutet dann im Sinne der Diagnose Hamanns immer auch ein Trennen von Zusammengehörigem, und in der Logik der Berechnung und Verwertung von wissenschaftlicher Erkenntnis mag man wiedererkennen – insbesondere dann, wenn sie technologisch unterstützt erscheint –, was Hamann als gewaltsame Unterwerfung der Lebenswirklichkeit unter ein System, ein Gesetz der Vernunft kritisiert hat. Demgegenüber steht das Hamann-Kolloquium für eine andere Wissenschaftskultur, eben für eine Kultur des Wortwechsels im Reden miteinander, im Hören aufeinander und in der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf das ,Wort‘ in den Dingen, das es zu vernehmen und zu übersetzen gilt, mit Hilfe der Vernunft, mit Hilfe auch der verschiedenen Vernünfte, die in den Wissenschaften kultiviert werden. Damit ist schon eine Perspektive auf das Thema der in diesem Band dokumentierten Ergebnisse des 11. Internationalen Hamann-Kolloquiums eröffnet. Natur und Geschichte sind im Sinne Hamanns auf das in ihnen ,geschriebene‘, aber auch verborgene Wort hin auszulegen. Als Zeichensysteme, als ,Bücher‘ brauchen sie Leser, die sich auf ihre eigentümliche Grammatik, ihre Syntax, auf ihre Rhetorik und Ästhetik verstehen. Denn die Kunst des Lesens besteht darin, auf den Buchstaben zu achten und mit ihm zugleich auf das Gefüge, in dem das Einzelne allererst seine Bedeutung gewinnt und seine Wirkung entfaltet. Und wenn es in der Lektüre nicht zuletzt auch um verborgene Sinndimensionen geht, sind Leser auch als ,Wahrsager‘ gefordert. Da bedarf es nicht nur des „Geistes der Beobachtung“, sondern auch des „Geistes der Weissagung“, der Verborgenes und Abwesendes gegenwärtig werden lässt.5 Hamann ist zuversichtlich, dass die natürliche Vernunft diesen Geist empfangen kann. „Wir sind alle fähig Propheten zu seyn“,6 heißt es in den Brocken, in denen unmittelbar anschließend auch der Gegenstand benannt wird, der prophetisch wahrgenommen werden will: „Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichter, Räthsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chyphern, verborgene Zeichen, die den Schlüssel nötig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht Ihrer Eingebung ist.“7 Die beiden „Bücher“ weisen über sich hinaus auf das Wort Gottes, wie es in der Heiligen Schrift vernehmbar wird und als dessen „Kommentare“ sie auszulegen sind. Hier ist die theologische Kunst der Schriftauslegung gefordert. Der Geist der Weissagung ist jedoch nicht der Theologie vorbehalten, wenn doch „alle“ zu Propheten berufen sind. Insbesondere dürfte Hamann auch an die Aufgabe der Poesie gedacht haben. Wenn nämlich das Buch der Natur nur in 5 Vgl. zur Unterscheidung von „Geist der Beobachtung“ und „Geist der Weissagung“ Hamanns Fliegenden Brief in: N III, 382–398, in der historisch-kritischen Ausgabe von Janina Reibold (Philosophische Bibliothek Bd. 707), Hamburg 2018, Bd. 1, 146–193. 6 Brocken, N I, 308; Londoner Schriften, 417. 7 Ebd.

Vorwort

11

Fragmenten überliefert ist, wenn wir jetzt „an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae“,8 Glieder eines zerstückelten Poeten, haben und wenn das „Feld der Geschichte“ einem Feld „voller Beine“9 gleicht, dann bedarf es einer Kraft, die das Zerrüttete und Zerstreute „in Geschick“10 zu bringen vermag, also in rechter Weise zusammenfügt und miteinander kommunizieren lässt. Erst dies löst auch ein, was sich bei Platon als Anspruch einer um sich wissenden Philosophie an der Rhetorik abgelesen findet: die Kunst einer Seelenleitung durch Worte zu sein.11 In Geschick zu bringen sind dann nicht nur die beiden Bücher je für sich, sondern auch ihr und sie in ihrem Zusammenhang. Es bleiben zwei verschiedene Bücher mit ihren je besonderen Grammatiken. Sie sollen nicht in eins gesetzt werden. Aber sie korrespondieren einander und können sich wechselseitig beleuchten. Die Naturkunde ist dann dem „Schauplatz“ des Lebens gewidmet und ist dabei primär dem Gesichtssinn verpflichtet. Die Geschichtswissenschaft ist demgegenüber auf das Gehör angewiesen und verfolgt in diesem Kontext das Drama, die Wirklichkeit des Menschlichen Lebens als Handlungsgefüge. Geschichte bietet sich dar als „ein unendliches Drama von Scenen! Epopee Gottes durch alle Jahrtausende Weltteile und Menschengeschlechte, tausendgestaltige Fabel voll eines großen Sinns!“12 So hat es Johann Gottfried Herder einmal formuliert. Etwas von diesem „großen Sinn“ wahrzunehmen, ist die Aufgabe, der sich das 11. Internationale Hamann-Kolloquium vom 18.–21. Februar 2015 in Wuppertal gewidmet hat. Der hier vorgelegte Band dokumentiert dessen Erträge. Unser herzlicher Dank gilt Herrn Peter Klingel für die Erstellung des Registers sowie die finale Einrichtung der Beiträge. Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke

8 9 10 11 12

Aesthaetica in nuce, N II, 198. Kleeblatt Hellenistischer Briefe, 2, N II, 176. Aesthaetica in nuce, N II, 199. Phaidros 261a. Johann Gottfried Herder : Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. In: ders.: Werke. Hg. von Wolfgang Proß. Bd. I. Herder und der Sturm und Drang. 1764–1774. München 1984, S. 660.

Siglen und Abkürzungen

N I–VI Londoner Schriften

ZH I–VII

HHE I–VII

Acta 1976

Acta 1980

Acta 1982

Acta 1985

Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. Bd. 1–6. Wien 1949–1957. Johann Georg Hamann: Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer und Bernd Weißenborn. München 1993. Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bd. 1–3 hrsg. v. Walther Ziesemer und Arthur Henkel, Wiesbaden 1955–1957. Bd. 4–7 hrsg. v. Arthur Henkel. Wiesbaden 1959, Frankfurt a.M. 1965–1979. Johann Georg Hamanns Hauptschriften erklärt. Hrsg. v. Fritz Blanke u. a. Bd. 1: Die Hamann-Forschung (Karlfried Gründer : Geschichte der Deutungen). Gütersloh 1956. Bd. 2: Sokratische Denkwürdigkeiten. Erklärt von Fritz Blanke. Gütersloh 1959. Bd. 4: Über den Ursprung der Sprache. [Schriften zur Sprache] erklärt von Elfriede Büchsel. Gütersloh 1963. Bd. 5: Mysterienschriften. Erklärt von Evert Jansen Schoonhoven und Martin Seils. Gütersloh 1962. Bd. 7: Golgatha und Scheblimini. Erklärt von Lothar Schreiner. Gütersloh 1956. Johann Georg Hamann. Acta des Internationalen Hamann-Colloquiums in Lüneburg 1976. Mit einem Vorwort von Arthur Henkel hrsg v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 1979. Johann Georg Hamann. Acta des zweiten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1980. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Marburg 1983 (Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien Bd. 2). Johann Georg Hamann und Frankreich. Acta des dritten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/ Lahn 1982. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Marburg 1987 (Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien Bd. 3). Hamann – Kant – Herder. Acta des vierten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1985. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 1987 (Regensburger Bei-

14

Acta 1988

Acta 1992

Acta 1996

Acta 2002

Acta 2006

Acta 2010

Siglen und Abkürzungen

träge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 34). Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des fünften Internationalen Hamann-Kolloquiums in Münster i.W. 1988. Hrsg. v. Bernhard Gajek und Albert Meier. Frankfurt a.M. 1990 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 46). Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft. Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1992. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 1996 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 61). Johann Georg Hamann und England. Hamann und die englischsprachige Aufklärung. Acta des siebten Internationalen HamannKolloquiums zu Marburg/Lahn 1992. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 1999 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprachund Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 69). Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Acta des achten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2002. Hrsg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. 2005 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 88). Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft. Hg. v. Manfred Beetz und Andre Rudolph. Berlin / Boston 2012 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung. Bd. 45). Hamanns Briefwechsel. Acta des Zehnten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2010. Hg. v. Manfred Beetz und Johannes von Lüpke. Göttingen 2016 (Hamann-Studien, Bd. 1).

I. Sprachformen und Lesarten

Knut Martin Stünkel (Bochum)

Kleider, Lumpen, Teppiche, Körbe, Netze – Zur Textur von Natur und Geschichte bei Johann Georg Hamann

1.

Text und Textil

Zur Erläuterung des Titels bzw. des entscheidenden Begriffs in diesem Titel ist ein kurzer Exkurs notwendig, welcher in zeitgenössische literaturwissenschaftliche Diskussionszusammenhänge führt. Am 31. Juli 2011 verstarb die Münchner Literaturwissenschaftlerin, Slavistin und Komparatistin Erika Greber. Ich möchte die Gelegenheit zu einer Erinnerung nutzen, zumal das Werk Erika Grebers für das Folgende von Wichtigkeit sein wird. Grebers Verdienste liegen insbesondere in ihren Arbeiten auf dem Felde der Meta- bzw. Intertextualität. Nun herrscht an einschlägigen Untersuchungen in Sachen Inter- bzw. Meta- oder gar Hypertextualität bei Hamann kein Mangel, jedoch pflegt Greber einen besonderen Zugang zu ihrem Material, welcher von Interesse zu sein verspricht, obwohl Hamann hier selbst keine Rolle spielt. Von besonderer Bedeutung ist ihre im Jahre 2002 veröffentlichte Habilitationsschrift aus dem Jahre 1994 mit dem Titel: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie: Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik.1 Greber analysiert (ganz Hamann-konform in ,einzelne[n] Flicken‘)2 die ,künstlerische Remotivierung‘ der im Textbegriff abgelagerte Textilmetaphorik: der Text wird als ,Gewebe‘ re-etymologisiert und dabei durch kinetische Aspekte, die einerseits sich auf die Produktion eines Textes (weben, spinnen, flechten), andererseits aber auch auf die Performativität des Textus als solchem beziehen können.3 Greber schreibt in einem späteren Aufsatz: 1 Erika Greber : Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Bonn 2002 (=Pictura et Poesis, Bd. 9). 2 Ebd., S. 6. 3 Vgl. ihre Einleitung (ebd., S. 1–43). Entsprechendes findet sich im Bezug auf Hamann bei Michael Wetzel: „Texte sind, wie ihr Name schon sagt, Gewebtes und genauer noch, immer wieder neu Gewebtes, das, dem Muster der Muse aller Schrift, Penelope, folgend, aus den wieder aufgewickelten Fäden schon fertiger Stoffe sich bildet, um in der Nacht, die jedem Tagwerk folgt, erneut sich von seinen Enden her aufzulösen.“ (Michael Wetzel: ,Geschmack

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Knut Martin Stünkel

Das Textprodukt selbst, wenn es als Passivpartizip abgetrennt von seiner aktiv beweglichen Produktion in Erscheinung tritt, bewahrt performative Spuren seines Gemachtwerdens in der Art seiner Gemachtheit, seiner Strukturierung, seiner Textur.4

Die Textmetaphorik umfasst also insbesondere das Wortfeld des Textilen, vor allem im Hinblick auf eine dynamische Strukturierungsleitung, die sich zwischen den stilistischen Polen eines ,regulär-gradlinigen Gewebes‘ und eines ,irregulär-krummen Flechtwerks‘ bewegt.5 Gewebe und Geflecht sind also Möglichkeiten des Textilen bzw. Möglichkeiten von in bestimmter Weise bewegten Texten. Wichtig bei dieser bewegten Strukturierung sind in beiden Fällen aber insbesondere dasjenige, was Greber die Spatien nennt, nämlich die „in jedem Gewebe notwendigen Löcher.“6 Der Text im Lichte der Textilmetaphorisierung ist also eine zwar in bestimmter Weise manifeste Strukturierung (idealerweise aus Längs- und Querfäden), dabei aber ebenso eine wesentlich bewegte und vor allem grundsätzlich (weil die Bewegung motivierende) löchrige Angelegenheit. Greber weist auf Roman Jakobsons Definition der poetischen Sprachfunktion als Projektion der vertikalen paradigmatischen auf die horizontale syntagmatische Achse hin. Ein Text würde somit beschreiben als ein Netz aus rekurrenten, linear und rückbezüglich verknüpften Elementen, als spatialisierte konstellative Textur.7

Mir scheinen diese textilen Überlegungen ein vielversprechendes Mittel zu sein, um das Zusammenspiel von Natur und Geschichte im Werk Hamanns unter dem Begriff der Textur zu explizieren. Von besondere Wichtigkeit im Falle Hamanns sind jedoch nicht in erster Linie die ,Fäden‘ (vielleicht von Natur und Geschichte) der Verknüpfung allein, welche sich womöglich zu „Knoten unserer peruanischen Schrift“, welche nur noch mit dem anatomischen Federmesser zu entwirren sei, formieren.8 Im Fliegenden Brief weist Hamann zudem auf die Gefährdung des einzelnen Fadens und seine Unterlegenheit gegenüber einem Zusammenhang hin: Aber auch in diesem fliegenden Briefe nicht einmal soll der Zusammenhang der Gedanken von den „Fäden“ meines gemachten Entwurfs abhängen, so steif ich mir auch

4 5 6 7 8

am Zeichen‘. Johann Georg Hamann als der letzte Denker des Buches und der erste Denker der Schrift, in: Acta 1996, 13). Erika Greber : Textbewegung / Textwebung. Texturierungsmodelle im Fadenkreuz von Prosa und Poesie, Buchstabe und Zahl. In: Textbewegungen 1800/1900. Hg. von Matthias Buschmeier und Till Dembeck. Würzburg 2007, S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 26. N II, 102,8–9 (Wolken).

Kleider, Lumpen, Teppiche, Körbe, Netze

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vorgenommen hatte, mich an diesem Gängelbande kindischer Kunstrichter festzuhalten. Die Vorsehung hat mein speculatives Gespinst, gleichsam eigenhändig, durch den unwiderstehlichen Zusammenhang ihrer Rathschlüsse zerrissen.9

Entscheidend ist, anstatt dem eindimensionalen Gängelband kindischer Kunstrichter zu folgen, vielmehr die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang (kontext) von einzelnen Fäden in einem Gewebe, und hier insbesondere auf das, was ,zwischen‘ den Fäden liegt, die Spatien nämlich, zu richten. Bei der Analyse der Textur muss also das Hauptaugenmerk auf die Löcher des Gewebes gelegt werden, entsprechend Hamanns bekanntem Wort aus einem Brief an Herder von 13. Januar 1773: Lücken und Mängel – ist die höchste und tiefste Erkenntnis der menschl. Natur, durch die wir uns zu ihrem Ideal hinauf winden müßen – Einfälle und Zweifel – das summum bonum unserer Vernunft.10

2.

Textilien bei Hamann

Das Stichwort ,Textilien‘ ist in besonderer Weise dazu geeignet, eine ganze Menge von Hamann-Assoziationen zu wecken, und zwar durchaus positiv besetzte; insbesondere dann, wenn es um den Bereich der Bekleidung geht. Da ist zum Beispiel Hamanns „kenntliche“ Kleidung aus dem Fliegenden Brief, die anderen „mehr Verkleidung als Bekleidung zu seyn scheint“,11 oder die Rede vom Leib als dem „Kleid der Seele“, der die „Blöße und Schande“ derselben deckt, aus den Brocken.12 Entkleidung wirklicher Gegenstände zu nackten Begriffen, denkbaren Merkmalen, reinen Erscheinungen und Phänomenen ist demgegenüber Gegenstand seiner Kritik.13 Man denke auch an Altkleider, deren Sammlung und ökologische Verwertung Hamann ein besonderes Anliegen sind: an „[a]lte verworfene Tücher, verrottete“ und dennoch wertvolle „Lumpen“,14 die aus einem „sumpfichen (schleimigten) Gefängnis“ zu erretten imstande sind.15 Ebenso präsent sind textile Knüpf- und Webwerke in Form der centoni9 10 11 12 13 14 15

N III, 354,11–16 (Fliegender Brief. Erste Fassung). ZH III, 34,33–35. N III, 367,17–18 (Fliegender Brief, Zweite Fassung). Londoner Schriften, 417,11–12 (Brocken). Vgl. N III, 384,1–3 (Fliegender Brief, Erste Fassung). Londoner Schriften, 237,10–12 (Biblische Betrachtungen). Londoner Schriften, 59 und 237 (Ueber die Auslegung der heil. Schrift). Dieser Auffassung war Hamann auch am Ende seines Lebens, vgl. ZH V, 314,25–28 (An Jacobi vom 6. Januar 1785): „Noch bis diesen heutigen Tag, wo ich stumpf, kalt und lau geworden bin, lese ich niemals ohne die innigste Rührung das XXXVIII. Kap. Des Jeremias und seine Rettung aus der tiefen Grube vermittelst zerrissener und vertragener alter Lumpen – Mein Aberglaube an diese Reliquien ist im Grunde herzlicher Dank für die Dienste, welche mir diese Bücher

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Knut Martin Stünkel

schen (Flicken-)Teppiche16 oder in einer Selbstbeschreibung ein Teppich von Dünsten17 usw.. Ein schönes Bild findet Hamann in den Wolken. Wahrheit ist, so Hamann hier mit Hinblick auf das Hohelied (1,5), schwarz und lieblich wie die Hütten bzw. Zelte Keddars und insbesondere wie die Teppiche Salomo.18 Dunkles Webwerk trägt (oder be-zeichnet) also die Wahrheit eher als die versengende Sonne. Auffällig ist an dem textilen Metaphernkomplex bei Hamann ihr enger Bezug zum biblischen Text und biblischen Geschichten. Dieser Bibelbezug ist an sich für Hamann nicht überraschend, kennzeichnet aber in metaphorologischer Hinsicht das entscheidende erschließende Element in Hamanns Behandlung des Verhältnisses von Natur und Geschichte. Die Textur von Hamanns Texten ist mit der biblischen Sprache verbunden bzw. an den Bibeltext selbst gebunden. Kleidung bzw. Textilien sind also nicht nur sachlich (eine sachliche Rüstung gegen die Reinheit der Vernunft) wichtig, sondern wirken auf Hamann in mehr als einer Hinsicht auch persönlich erhebend, in etwa wie aus den dunklen Teppichen Salomos der fliegende Teppich aus Tausendundeiner Nacht wurde. An Lindner schreibt er : Lassen Sie mir meinen Stolz in den alten Lumpen. Diese alten Lumpen haben mich aus der Gruben gerettet, und ich prange damit wie Joseph mit seinem bunten Rock.19

Die alten Lumpen und das bunte Gewand des Joseph als extreme Möglichkeiten des Textilen und als eine besonders auszeichnende Gabe stehen hier in einem

16

17 18

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gethan und noch thun, trotz aller Kritik, die von der Bühne und nicht aus dem Loch der Gruben raisonniert.“ Über eine Stelle im Konxompax heißt es etwa bei Fritsch hinsichtlich der hier verwandten Textur : „Hamann präsentiert mit diesem Abschnitt einen Flickenteppich, in den er Grundbegriffe der Philosophie, aus der Sprachwelt der Mysterienreligionen und Schlüsselworte des Neuen Testaments hineingewoben hat.“ (Friedemann Fritsch: Communicatio Idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns. Berlin, New York 1999, S. 185). N II, 94,1–2 (Wolken). N II, 103,6 (Wolken). In Hamanns Übersetzung: „Schwarz ich, aber lieblich, ihr Töchter Jerusalems, wie die Hütten Kedar, wie die Teppiche Salmon. Sehet mich nicht an, daß ich schwärzlich (sehr schwarz), daß mich die Sonne angescheinet hat.“ Siehe N IV, 251,9–11. In seinen Anmerkungen erläutert Hamann: „Der Tempel Salomons ein Teppich, Gezelt für die Bundeslade an statt der Stiftshütte.“ (N IV, 251,32). ZH I, 341,13–15 (An Lindner vom 5. Juni 1759). Vgl. ZH VI, 157,34–35 (An Jacobi vom 3. Dezember 1785): „Alte Kleider sind mir sehr bequem und werden mir immer lieber, daß ich mich ungern von ihnen scheide.“ Störend werden Kleider nur, wenn sie am sofortigen Konsum der Post, die etwas Wichtiges zu lesen enthält, hindern, vgl. ZH VII, 190,25–30 (An Jacobi vom 9. Mai 1787): „Meine Lehne Käthe kam mir mit einem Päckchen entgegengelaufen, das Fischer mir eben zugeschickt hatte. Es enthielt Deine 7 Dona und eine Handschrift die meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich fiel so hitzig darüber her, daß ich mich auszuziehen vergaß – sonst meine erste Arbeit, sobald ich zu Hause komme. Kleider sind mir eine Last.“

Kleider, Lumpen, Teppiche, Körbe, Netze

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signifikanten Zusammenhang. Sie beschreiben etwas zu Affirmierendes und Vorzeigbares. Kleidung, so macht Hamann wiederholt deutlich, ist eine wesentliche Gabe Gottes an die Menschen. In den Biblischen Betrachtungen heißt es Ein David schöpfte aus dieser Vorsorge des Höchsten die Mensch[en] zu kleid[en] vielleicht d[as] Vertrauen daß er X 57.2 zu erkennen giebt. Gott der alles für mich thut. Was sorgt ihr für Nahrung v. Kleidung sagt uns[er] Heiland. Euer himmlischer Vater weiß daß ihr d[es] alles bedürfet. Matt. 6.28.31.32.20

Diese Bestimmung (als Schatten der Flügel Gottes nach Psalm 57,2) macht aus jegwelcher Kleidung ein Prunkgewand. Dieses ist ein Zeugnis wider die nackte Wahrheit der Vernunft. Kleidung hat gleichsam soteriologische Qualität:21 „Der Sohn Gottes entk[l]eidet sich selbst wie Jonathan v giebt den M[enschen] nicht nur seine eigen[en] Kleider, sondern auch sein Siegesschwerdt, sein[en] Bog[en] und sein[en] Gürtel.“22 An einer Stelle der Biblischen Betrachtungen assoziiert Hamann die Kleidung konkret entsprechend eng mit dem Heiligen Geist.23 Dabei ist die Kleidung für Hamann vor allem ein Zeichen menschlicher Selbstbescheidung hinsichtlich des Strebens nach Erkenntnis und Tugend, und zwar aufgrund ihrer grundsätzlichen Unzulänglichkeit. In seinen Überlegungen zu Genesis 20–27 heißt es: Mit was für göttl. Weisheit sind hingeg[en] in der Aufführung Sems v Japhets die Sitten ihrer Nachkommen geschildert. Weit gefehlt, daß sie an den abscheulich[en] Ausschweifung[en], worinn die Kanait[en] insbesondere ein Vergnüg[en] fanden, theil nahmen, so such[en] sie vielmehr den Abscheu v die Schwäche der Mschl. Natur wie hier in ihrem Vater mit einem Kleide zu bedecken. So wie eben der trunkene v nackte Noah unter demselb[en] lag, v nur weniger ins Gesicht fiel; so war es mit ihr[en] Bemühung[en] nach Erkenntnis v Tugend auch beschaffen. Sie war[en] nicht im stande 20 Londoner Schriften, 78,14–18 (Biblische Betrachtungen). 21 Vgl. auch Hamanns Auslegung von 1. Samuel 24: „David brachte Saul um ein Zipfel seines Kleides […]. Unser Heyland hatte als Gott Gott gleichsam selbst in sr. Gewalt er that nichts mehr als ein[en] Zipfel seines Mantels ihm raub[en] und die Blöße der M[enschen] damit zu deck[en] und Gott damit zu überzeug[en], daß er die M[enschen] vergeb[en] sollte. […] Gott mußte also durch ein[en] versöhnt wird[en], der ihm selbst nicht nur d[as] Leb[en] schenkt, sondern da er ihm diese Wohlthat erwies, um ein[en] Zipfel seines Kleides brachte um die Schande der Sünde damit zuzudeck[en]; –– Der heil. Geist hat sich in keiner Geschichte mehr zu entdecken vergnügt, als in Davids seiner.“ (Londoner Schriften, 162,1, 162,11–14 und 162,37–163,1 [Biblische Betrachtungen]). 22 Londoner Schriften, 159,9–12 (Biblische Betrachtungen), vgl. ebd., 186,26–27: „Der Geist kleidete Amasai – der Geist Gottes war eb[en] dieser der uns.[ere] Eltern mit Fell[en] bedeckte.“ 23 „Wie der heil. Geist sich und seine Werke in d[en] Herz[en] der M[enschen] verkleidet, wie er niemals müde geword[en] gute Bewegung[en] in uns hervorzubring[en], wie er gute Geleg[en]heit[en] dazu bisweil[en] erschaffen v sich selbst in d[en] Mitteln selbige zu unterhalt[en] anbietet. Hier finden wir ihn als eine Prophetin, deren Großvater von ihres Mannes Seite Hüter der Kleider war.“ (Londoner Schriften [Biblische Betrachtungen], 184,20–25).

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ihre trunkene, schlafende v bloße Natur in den Stand herzustell[en], worinn sich der wachende v nüchterne Noah befand, der als denn mit Gott wandelte. Ein Kleid auf selbig[en] zu decken deuchte ihn[en] hinreichend v alles was sie tun konnt[en], so wie die erst[en] Eltrn kei[ne] besseren Hülfsmittel als Feig[en]blätter zu find[en] wust[en].24

Der Mantel des Schweigens, mit dem in der biblischen Geschichte die Söhne den Vater bedecken, dient somit nicht der Verdeckung, sondern gerade der Aufdeckung der „Unvollkommenheit v Unhinlänglichkeit“25 der menschlichen Natur,26 der es an den entscheidenden Stellen an Erkenntnis mangelt; eine Erkenntnis, die nach Hamann vor allem Selbsterkenntnis ist („Sie hatt[en] keine Erkenntnis von der Größe der Schande, von der Tiefe des Elends, worinn die Mschl. Natur verfall[en] war.“),27 und die, wie Noah nach seinem Erwachen bei „Erblickung des Kleides“, nur in wenigen inspirierten, dann aber auch prophetischen Momenten dem Menschen zuteil wird, in denen er sich nach Hamann von einer bewusstlosen Schnapsleiche zu in einem „Strom von Erkenntnis“ wahrsagenden Engel wandelt.28 Auch im persönlichen Bereich spielen Textilien für Hamann eine gewisse, durchaus erhebende und euphorisierende Rolle. Zwar sind sie keinesfalls ein so prominentes Thema seiner Korrespondenz wie etwa Bücher, Nahrung und Verdauung oder Krankheiten.29 Sie fehlen aber auch nicht ganz und sind nicht nur Gesprächsstoff in den Briefen an seine Mutter oder in Nachrichten über seine Tochter. Wie auch immer beschaffen, textile Kleidung ist für Hamann Verpflichtung, aber auch stolz gezeigter Besitz, und dies nicht nur im metaphorischen Sinne. Seinem Bruder schreibt er etwa am 2. April 1760: 24 Londoner Schriften, 86,26–39 (Biblische Betrachtungen). 25 Ebd., 86,40–87,1. Vgl. ebd., 220,7–11: „Wir geh[en] durch unsere Gemeinschaft mit der Sünde uns.[erer] Kleider verlor[en], die uns.[ere] Blöße vor Gott zudecken, wir erschein[en] in der Schande in dem Greuel unserer verderbt[en] Natur für ihn, die sn. Zorn v seiner Gerechtigkeit nicht entgeh[en] kann.“ 26 Dies scheint ein (weiteres) lutherisches Element in Hamanns Überlegungen zu sein: nach Luther dient die Kleidung als „etwas Kreatürliches als Zeichen beanspruchende Ermahnung“ bzw. im Falle der „aus toten Tieren bereiteten Kleidung, die Gott den Menschen gibt (Gen. 3,21) als Zeichen und Erinnerung“ (Tom Kleffmann, Die Erbsündenlehre im sprachtheologischen Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns. Tübingen 1994, S. 167). Bei Hamann erscheint diese Erinnerung quod mortalis sint et in certa morte versentur doch eher im Sinne eines Zeichens göttlichen Handelns ins Positivere gewendet. 27 Londoner Schriften, 87,4–6 (Biblische Betrachtungen). 28 Ebd., 87,13 und 87,25. 29 Vgl. Knut Martin Stünkel: Krankheit als Katapher. Briefliche Nosologie bei Johann Georg Hamann. in: Acta 2010, 289–312; wiederabgedruckt in: Ders.: Leibliche Kommunikation. Studien zum Werk Johann Georg Hamanns. Göttingen 2018 (= Hamann-Studien, Bd. 3), S. 233–255.

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Meine Kleidung, seidene Strümpfe und engl. Stiefel nebst der neuen Perücke, auch Hut, sie liegen im schwartzen Coffre, wünschte mit ersten Fuhrmann her. Kleider müßen getragen werden, und ich kann jetzt wie ein Freyherr ein wenig Wind machen.30

3.

Text, Spatien und Zeichen

Angesichts dieses Stolzes auf die eigenen Textilien (sie stammen bezeichnenderweise aus dem ,schwarzen Koffer‘) ist es nicht verwunderlich, dass Matthias Claudius Hamanns Wirkung auf die interessierte Öffentlichkeit entsprechend als bekleidet beschreibt; er habe „sich in ein mitternächtliches Gewand gewickelt, aber die goldnen Sternlein hin und her im Gewande verraten ihn und reizen, daß man sich keine Mühe verdrießen läßt.“31 Mühe nämlich, der Machart der Textilien resp. der Texte auf den Grund zu kommen und zu sehen, was sie so reizvoll bekleiden. Die Hamann-Rezeption ist im Wesentlichen auf Textilien fixiert. Dies gilt auch für die Forschungsliteratur. Die Assoziation der Hamannschen Texte mit dem Textilen geht soweit, dass scharfsinnige Untersuchungen unternommen werden, um etwa deren „Zitaten-Gewebe zu entflechten“, wie es in der Einleitung zum vorletzten Acta-Band Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft heißt.32 Überhaupt scheint das „Zitatengeflecht“33 (dazu gehört auch das „Zitatennest“34) eine treffende, weil viel genutzte Beschreibung Hamannscher Autorhandlungen zu sein. Auch der Freund und Schüler Herder hat sich offenbar der textilen Assoziationen Hamannschen Denkens besonnen, wenn er Hamann stillschweigend und nicht ganz wortgetreu in der ersten Ausgabe seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache zitiert: „Sonst und gewöhnlich sieht man immer nur Gewebe des verkehrten Teppichs! disiecti membra poetae! – –“35 Zwar spricht Hamann in den Aesthetica in nuce von der „verkehrten Seite von Tapeten“, die „disiecti membra poetae“ kommen jedoch ohne Zweifel vor, und auch der schwarze, von der Sonne verbrannte Teppich (vielleicht ist der Satz deshalb als „vatermörde30 ZH II, 17,6–9 (An den Bruder vom 2. April 1760). 31 In Matthias Claudius’ Rezension von Hamanns Neue Apologie des Buchstaben H. In: ders., Sämtliche Werke, München 1969, S. 24. 32 Manfred Beetz und Andre Rudolph: Einleitung zu: Acta 2006, 14. 33 Vgl. etwa Ingemarie Manegold: Johann Georg Hamanns Schrift ,Konxompax‘. Fragmente einer apokryphischen Sybille über apokalyptische Mysterien. Text, Entstehung und Bedeutung, Heidelberg 1963, S. 145 etc. Ebd. (S. 120) kennzeichnet Manegold Hamanns Text als „jenes dichte Gewebe verknoteter Zitate, dessen Entflechtung die Hauptschwierigkeit einer ,Konxompax‘-Interpretation ist.“ 34 So bei Bernd Weissenborn: Auswahl und Verwendung der Bibelstellen in Johann Georg Hamanns Frühschriften. In: Acta 1992, 26. 35 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: ders., Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. V. Berlin 1891, S. 59.

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risch“, wie Xavier Tilliette schreibt,36 in der zweiten Auflage der Abhandlung getilgt). Gilt aber das Textile nur für die eigenen Texte, oder gar für Texte als solche? In den Aesthetica in nuce findet sich jedenfalls eine aufschlussreiche Stelle, welche es erlaubt, die textilen Überlegungen an den Inhalt der Hamannschen Texte heranzutragen, und zwar eben dort, wo Hamann auf die Natur zu sprechen kommt. Hier schreibt er : Seht! die große und kleine Masore der Weltweisheit hat den Text der Natur, gleich einer Sündfluth, überschwemmt. Musten nicht alle ihre Schönheiten und Reichthümer zu Wasser werden? – Doch ihr thut weit größere Wunderwerke als die Götter sich jemals belustigt haben, durch Eichen und Salzsäulen, durch petrificierte und alchymische Verwandlungen und Fabeln, das menschliche Geschlecht zu überreden – Ihr macht die Natur blind, damit sie nämlich Eure Wegweiserin seyn soll! oder ihr habt Euch selbst vielmehr durch den Epikurismum die Augen ausgestochen, damit man euch ja für Propheten halten möge, welche Eingebung und Auslegung aus ihren fünf Fingern saugen. – Ihr wollt herrschen über die Natur, und bindet euch selbst Hände und Füße durch den Stoicismus, um desto rührender über des Schicksals diamantne Fesseln in euren vermischten Gedichten fistuliren zu können.37

Mit der Natur geschieht offensichtlich etwas Beklagenswertes, für das Hamann drastische und fast schon apokalyptische Worte findet; es geschieht etwas, das alle Reichtümer der Natur nivelliert und zu einem (durchsichtigen) faden Element transformiert, welches als solches auch (in jedem Sinne) schwer zu halten ist. Die Natur ist an dieser Stelle jedoch genauer bestimmt. Es geschieht etwas, was den Textcharakter der Natur betrifft. Dieses Geschehen, dieser Eingriff in die Natur als Text hat massive Auswirkungen, welche sogar die direkten Eingriffe der Götter übertreffen: Die Natur wird blind gemacht und fremder Herrschaft unterworfen. Der Kommunikationszusammenhang der Rede an die Kreatur durch die Kreatur, wie Rainer Fischer schreibt, wird zerstört, und so kann die Natur nur noch als ruinierte Schöpfung Gottes wahrgenommen werden.38 Hamanns Ausführungen an dieser Stelle sind zum einen sicherlich Philosophenschelte, gleichzeitig aber auch mit der Gleichsetzung einer bestimmten Praxis mit den Masoren weit mehr. Die Schelte hängt vor allem am Begriff des Wassers, ein in Hamanns Werk zumindest zwiespältiger Terminus. „Ich habe eine Art von Hydrophobie,“ schreibt er in einem Brief an Scheffner.39 Und dies 36 Xavier Tilliette: Hamann und die Engelsprache. Über eine Stelle der AESTHETICA IN NUCE. In: Acta 1976, 69. 37 Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten / Aesthetica in nuce. Hg. von SvenAage Jørgensen. Stuttgart 1993, 119,2–19. 38 Rainer Fischer: Die Kunst des Bibellesens. Theologische Ästhetik am Beispiel des Schriftverständnisses. Frankfurt a. M. 1996, S. 198. 39 ZH VI, 321,37 (An Johann George Scheffner vom 17. März 1786).

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nicht ohne Grund, denn Schönheit und Reichtum, Besonderheit und Individualität fallen dem Wasser zum Opfer.40 Das Wasser, klar und durchsichtig, ist das Element der Reinigung und gleichzeitig der Dekontextualisierung. „In welchem religiösen Zusammenhang das Wasser auch auftritt, seine Funktion bleibt dieselbe: es desintegriert, hebt die Formen auf, ,wäscht die Sünden ab‘, es reinigt und regeneriert zugleich.“ bzw. „Das Wasser ,tötet‘, indem es alle Formen auflöst und beseitigt.“ heißt es bei Mircea Eliade.41 Wer den Text der Natur überschwemmt resp. verwässert, muss, kann oder darf nur (noch) Wasser lesen, sich also als „Wasserseher“,42 als Urinbeschauer betätigen. Das „fatale Schlagwasser des rasenden Sokrates“43 ist Hamanns drastische Beschreibung einer bestimmten Praxis mit dem Text umzugehen.44 Um diese Überschwemmung mit zweifelhafter Klarheit zu verhindern, muss der Text der Natur wieder durchlässig gemacht werden. Als solcher ist sie nämlich ursprünglich vorfindlich. In den Briefen an Kant über die Kinderphysik hatte Hamann die Natur in diesem Sinne wie folgt bestimmt: Die Natur ist eine Aequation einer unbekannten Größe; ein hebräisch Wort, das mit bloßen Mitlautern geschrieben wird, zu dem der Verstand die Puncte setzen muß.45

In dieser Bestimmung ist die Natur durch das grundsätzliche Fehlen von vorgegebener Eindeutigkeit ausgezeichnet, ein Fehlen welches sich in ihrer Textur wiederfindet. Dies macht (wie Oswald Bayer ausgeführt hat) das ,Buch‘ der Natur nicht zu einem Fixierten, sondern im Gegenteil gerade zu einem Bewegten46, und 40 Vgl. Hamanns Urteil über Mendelssohn (ZH VI, 343,7–15 [An Jacobi vom 3. April 1786]): „Selbsterkenntnis ist und bleibt das Geheimnis ächter Autorschaft. Sie ist der tiefe Brunnen der Wahrheit, die im Herzen, im Geiste liegt, von da in die Höhe steigt, und sich wie ein dankbarer Bach durch Mund und Feder ergießt, wohltätig ohne Geräusch und Überschwemmung. Ich suche immer in M. das was ihm zugeschrieben wird vom Berl. Recensenten Xenophontische Simplicität, Roußeausche Wärme und Leibnitzsche Erhabenheit philosophischer Ideen. Je länger ich lese, je mehr befinde mich wie in einer Wüste, die leer ist, Finsternis auf der Tiefe, und kein Geist Gottes schwebt auf dem Waßer seiner Schreibart.“ 41 Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt 1990, S. 115 und 118. 42 N III, 184,37 (Zweifel und Einfälle). 43 N III, 210,32 (Schürze von Feigenblättern). 44 Auf Hamann hat das reine Wasser eine entsprechende physiologische Wirkung, vgl. ZH VII, 433,29–33 (An Jacobi vom 22. März 1788): „In der Herberge hatte der alte kranke Mann den unausprechl. Verdruß Dein gestohlnes Quispeldoor zu vergeßen, dessen rückkehr ich tägl. Erwarte, und behelfe mich im Bette mit dem porcellenen Nachtgeschirr, das mir seit dem ich rein Waßer saufe, unentbehrlicher ist als der kleine Münstersche Almanach des Tages ist […].“ Siehe auch Hamanns frühere Ausführungen in den Biblischen Betrachtungen: „Das Geschlecht der M[enschen] wird als jemand beschrieb[en], der geg[en] die Wand s.[ein] Wasser läst, der dasjenige verunreinigt, das ihn deckt, und Schutz gibt.“ (Londoner Schriften, 163,21–23 [Biblische Betrachtungen]). 45 ZH I, 450,18–20 (An Kant Ende Dezember 1759). 46 Vgl. Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München, Zürich 1988, S. 93. Bezüglich der Rede von der Welt als Text geht es

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zugleich zu einem Bewegenden. Erika Greber hatte Texte in ihrem dynamischen Charakter als Folge ihres ursprünglichen Geschaffenseins, durch das das Palindrom ,bewegt Geweb‘ gekennzeichnet.47 Die Natur als Text (des göttlichen Autors) ist also bestimmt durch eine ihr inhärente Arbeitsanweisung: die Leerstellen (Spatien) des Textes sollen gemäß den menschlichen Möglichkeiten sinnvoll erfüllt werden. Wie schon Monika Schmitz-Emans im Hamann-Kapitel Die Welt als lückenhafter Text und ihre poetisch-synthetisierende Lektüre ihrer Untersuchung Schrift und Abwesenheit festgestellt hat, ist eine „zwangsläufig konjekturale“ Lektüre als Realisierung von einem von diversen möglichen Texten notwendig.48 Die (notwendig gegebene) Gefährdung des Textes (in seinem Möglichkeitscharakter) durch Überschwemmung mit Klarheit kennzeichnet Hamann nun durch den Hinweis auf die Masore; ein Begriff der bei ihm oftmals im bezeichnenden Kontext Verwendung findet. Jørgensens Kommentar zu den Aesthetica erklärt die Masore als den Apparat und Kommentar der jüdischen Gelehrten des 8. Jahrhunderts zur hebräischen Bibel. Diese Kommentierung, so schreibt er, diente einerseits der Herstellung eines einheitlichen Textes durch Hinzufügung von bestimmten Zeichen und Vokalen in den alten Konsonantentext. Andererseits dienten Einleitungs-, sowie Schlußbemerkungen und Marginalien als große und kleine Masore zur grammatischen wie dogmatischen Textkritik.49 Die masoretische Praxis ist also im Wesentlichen die folgende: Offene Stellen im Text selbst werden durch die Hinzufügung ebenso geschlossen wie die offenen ,Ränder‘ des Textes durch die Einfügung von Paratexten vor nach und neben dem eigentlichen Text. Menschliche Möglichkeiten beziehen sich nun nach Hamann wesentlich rezeptiv wie aktiv auf Zeichen. Zur Lektüre des Naturtextes muss der Mensch also semiotisch tätig werden. Bekanntlich können nach Hamann menschliche Gedanken nicht sichtbar werden „als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen“.50 Aber auch hier gibt es Unterschiede in der Vorgehensweise; es gilt,

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Hamann „nicht um die Schriftlichkeit im Sinne des starren Fixiertseins des Buchstabens, sondern um etwas Lebendiges, Bewegtes, um ein Kommunikationsgeschehen […].“ „Das Textprodukt selbst, wenn es als Passivpartizip abgetrennt von seiner aktive beweglichen Produktion in Erscheinung tritt, bewahrt performative Spuren seines Gemachtwerdens in der Art seiner Gemachtheit, seiner Strukturierung, seiner Textur.“ (Greber : Textbewegung / Textwebung [wie Anm. 4), S. 24; Hervorhebung KMS). Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 78f. Vgl. Aesthetica in nuce (wie Anm. 37), Kommentar S. 118. ZH I, 393,36–37 (An Lindner vom 9. August 1759). Vgl. Londoner Schriften, 219,7–11 (Biblische Betrachtungen): „Die Schrift kann mit uns M[enschen] nicht anders red[en] als in Gleichnissen, weil alle unsere Erkenntnis sinnlich, figürlich, v der Verstand und die Vernunft die Bilder der äußerl. Dinge allenthalb[en] zu Allegorien und Zeichen abstrakter, geistiger und höherer Begriffe macht.“

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dass Kleider Leute machen.51 Auch die Zeichenkunst scheint dabei ein zweischneidiges Schwert zu sein. „Versuchung[en] v Zeich[en] sind immer vereinigt von Gottes Seiten und seines Feindes“, schreibt Hamann in den Biblischen Betrachtungen.52 Der Gebrauch (und die Lektüre von) Zeichen ist also zunächst nichts Illegitimes, jedoch scheint Vorsicht von Nöten, da ein bestimmter Zeichengebrauch die Textur verstellen könnte. Genau dies scheint jedoch im masoretischen Text der Fall zu sein. Masoretische Zeichen53 dienen u. a. der Scheidung von Echtem und Unechtem, also einer Reinigung, Feststellung und Festlegung des Textes in dogmatischer Absicht. Hamann assoziiert folglich in Golgatha und Scheblimini die Masore mit einer grundsätzlich religiösen Attitüde. Er spricht von „der religiösen Macht des masoretischen Buchstaben- und scholastischen Wortkrams“.54 Auf diese selbstüberhebende Weise wird der eigentliche Schlüssel der Erkenntnis den Menschen vorenthalten, indem offene Stellen, Spatien oder Freiräume ihnen autoritativ verschlossen wurden: Die gediegene Bedeutung vorübergehender Handlungen zielte also wahrscheinlich auf den verlorenen oder verdrehten Schlüssel der Erkenntnis, an welchem den Häuptern der Synagoge so wenig gelegen war, daß sie sich die unbefugte Erlaubnis nahmen, das ganze Schloß des Gesetzes gar zu zerstören, das Himmelreich dadurch zuschlossen vor den Menschen, selbst nicht hineinkamen, und die hinein wollten, nicht hineingehen ließen, sondern aus Rabbinen göttlicher Vernunft literati III literarum, die vollkommensten Buchstabenmenschen und Masoreten im heiligsten und fruchtbarsten Verstande wurden.55

Die Imprägnierung des (textilen) Naturtextes durch masoretische Zeichen im Sinne der Festlegung auf eine verbindliche Lesart, welche ineins die religiöse Selbstüberhebung der Masoreten kennzeichnet, macht dessen Textur wasserundurchlässig und verursacht auf diese Weise die von Hamann beschriebene „Sündfluth“.56 Der charakteristische Lückentext (entsprechend der hebräischen Vgl. N IV, 456,16 (Über das Spinozabüchlein Friedrich Heinrich Jacobis). Londoner Schriften, 128,37–38 (Biblische Betrachtungen). Vgl. Aesthetica in nuce (wie Anm. 37), 147,31. N III, 310,18f. (Golgatha und Scheblimini). Ebd., 307,30–39. Lothar Schreiner kommentiert diese Stelle wie folgt: „Hamann beschließt den Abschnitt mit dem Schicksal Israels, zu dem seine Zeitgeschichte als Parallele erscheint. Die zeitgenössischen Vernunftdenker entsprechen den Rabbinen: Mit der Emanzipierung der Vernunft blockieren sie das Schloß zum Evangelium, sie stehlen der Gesellschaft die Möglichkeit des Zugangs zu ihm.“ (HHE VII, 117). 56 Vgl. ZH VII, 27,29–35 (An Jacobi vom 26. Oktober 1786). Hamann berichtet hier über den Einfluß Berlins auf die Denkungsart eines Bekannten wie folgt: „Mit Müllers Bruder, der sich bey Herder aufhielt, bin ich in Verbindung gewesen, die seitdem gänzl. aufgehört, wie mein ganzer Briefwechsel. Er schrieb mir damals viel von seinem Bruder, von der gänzlichen Veränderung seiner Denkungsart, welche in der Umarbeitung seiner Geschichte merklich seyn würde. Diese neue Ausgabe ist mir noch nicht zu Gesicht gekommen. Der Aufenthalt in Berlin schien ihn damals ganz impraegnirt zu haben.“

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Bibel) wurde auf diese Weise in mehrfacher Hinsicht auf- bzw. ausgefüllt. Denn der Formularcharakter des Textes57 wird auf diese Weise verändert, die interpretatorischen Freiräume im Wortsinne marginalisiert bzw. in den Kommentar verschoben. Der Text wird so zum Sammelbecken einer unabsehbaren Anzahl von Kommentaren, deren Menge sintflutartigen Charakter annehmen kann und den eigentlichen Text bis zur Nichtmehrauffindbarkeit verdeckt.58 Dass die „Meynungen der Weltweisen“ nicht mehr, allerdings aber auch nicht weniger als „Lesarten der Natur“59 sind, geht hierüber verloren. Dem Text wird so seine Fruchtbarkeit, neue Verbindungen zu zeitigen, genommen, er verliert seine individuelle Anschlussfähigkeit, und so wird „die Empfängnis und Geburt neuer Ideen und neuer Ausdrücke“60 nachhaltig verhindert. Wie aber sonst der spatialisierten Textur gerecht werden, wenn nicht durch eine Sintflut provozierende masoretische Vorgehensweise? In seinem Feldzug gegen die feststellende Lesart spatialisierter Texturen mobilisiert Hamann das wohl bekannteste Beispiel für die notwendige Dynamisierung eines Gewebes, nämlich das Vorgehen der Penelope, die „das Gelübde ihres Gewebes mit gleicher Treue erfüllt und vereitelt, daß Freyer und Kupler endlich darüber zu Schanden werden“.61 Zwar ist die Fixierungsabsicht erfüllt, wird aber im nächsten Schritt sogleich aufgehoben, um so den Ansprüchen von Freiern und Kupplern auf eine endgültige Textur entgegenzuwirken. In den Aesthetica in nuce erläutert Hamann, wer mit den Freiern und Kupplern der webenden Penelope gemeint ist: „ihre freche Buhler sind die Weltweisen und Schriftgelehrten.“62 Es sind also diejenigen, die an einer festgelegten Textur, am Dogmatisch-Definitiven ein Interesse haben. Doch diesem ,frechen‘ Anspruch entgegen wirkt die Dynamisierung, nach Hamann diejenige des (Forschungs-)

57 Vgl. hierzu Knut Martin Stünkel: Biblisches Formular und soziologische Wirklichkeit – Elemente einer Hamannschen Soziologie. In: Acta 2006, 72–94; wiederabgedruckt in: Ders.: Leibliche Kommunikation (wie Anm. 29), S. 179–202. 58 Vgl. Londoner Schriften, 216 (Biblische Betrachtungen) über das mit einem Übermaß an Wasser strafende Handeln Gottes: „Nach sein[em] weisen Rath werden die Tiefen aufgebroch[en] und die Wolken tropfen Thau herunter. Er wird mit eb[en] der Weisheit die Strenge seiner Gerechtigkeit offenbaren, als er die Wunder seiner Gnade wird seh[en] lassen. Er strafte die erste Welt mit den Wassern der Tiefe und seegnete die Nachkommen Noahs mit der Sendung des versprochen[en] Erlösers und des hl. Geistes.“ 59 Aesthetica in nuce (wie Anm. 37), 105,1–2. 60 Aesthetica in nuce (wie Anm. 37), 123,6–8. 61 N II, 191,22–192,1 (Näschereyen). 62 Aesthetica in nuce (wie Anm. 37), 127,10–12. Es ist daher nicht der Zusammenhang als solcher, sondern der spatialisierte und dynamisierte Zusammenhang, auf den es Hamann bei seiner Assoziation von der Natur als Text und einem Gewebe entscheidend ankommt (vgl. Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit [wie Anm. 48], S. 82).

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Materials (Penelope als Materie)63 selbst, welche einen fixierten Text als Möglichkeit offen lässt. Einen brauchbaren Umgang mit dem textilen (Lücken-) Text demonstriert Hamann in der Methode des Metaschematismus.64 Die textuellen Spatien65 geben die Möglichkeit, Texturen durch die Person des Metaschematisierenden jeweilig (nach ,Lokalität, Personalität und Indivdualität‘) zu konkretisieren: er ,bekleidet‘ sich mit ihnen; und zwar jeweils in einer Fülle von möglichen individuellen Anschließbarkeiten. Eine entsprechende Überlegung findet sich in den Aesthetica: Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußere der Arme sind das sichtbare Schema, in dem wir einher gehen; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns: – Exemplumque DEI quisque est in imagine parua.66

Die verhüllte Figur des Leibes als ein sichtbares Schema ist ein jeweiliges Zeichen (exemplum). Das Schema ist somit die textile Bekleidung (,schema‘ kann Kleidung oder Tracht bedeuten), die als Gewand das Verborgene enthüllt und verklärt.67 Man liest also nicht nur alles Mögliche als Text, sondern man bekleidet sich (bedeckt seine Blöße) unablässig mit Texturen. 63 Aesthetica in nuce (wie Anm. 37), 127,10. 64 Vgl. Knut Martin Stünkel: Metaschematismus und formale Anzeige. Über ein biblischpaulinisches Rüstzeug des Denkens bei Johann Georg Hamann und Martin Heidegger. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 47 (2005), S. 259–287; wieder abgedruckt in: Ders.: Leibliche Kommunikation (wie Anm. 29), 83–110. 65 Ein signifikantes Beispiel für eine Reflektion über die Rolle von Spatien bei Hamann findet sich im Hinblick auf seine Deutung des Buchstabens ,H‘ (siehe sein Neue Apologie), Monika Schmitz-Ermans nennt ihn eine Bekundung des Logos „[…] vermag er sich doch am ehesten über ein Zeichen zu bekunden, mit dem das Schweigen Einzug in den Text hält. […] Im gehauchten H findet das schöpferische Prinzip sein Refugium, während der Geist selbst sich der Natur und der Geschichte entfremdet hat. Aber gerade die Leerstelle im Artikulierbaren mag zum Ausgangspunkt seiner Wiederholung werden. Das H, zu lokalisieren in den Zwischenräumen des Sprechbaren, füllt diese Zwischenräume und überbrückt sie damit zugleich. Damit reflektiert sich in ihm nicht zuletzt die Hoffnung auf einen zukünftigen Zusammenschluß jener ,Turbatverse‘ der Weltschrift zu einem einheitlichen Text.“ (SchmitzEmans: Schrift und Abwesenheit [wie Anm. 48], S. 96). 66 Aesthetica in nuce (wie Anm. 37), 83,22–28. 67 Entsprechendes notiert Wild im Hinblick auf den Fliegenden Brief: „Die Verkleidung in seinen Schriften geschah […] nicht aus ,Bewunderung sondern mit überlegtem Nachspott‘ […] Er macht damit an dieser Stelle noch einmal auf seine Methode der Metakritik aufmerksam – im Gewande seiner Gegner hat er, wie die Dohle in der angespielten Fabel des Phädrus, gegen diese selbst gekämpft, die Verkleidung war ihm Instrument der Kritik. So richtet sich diese Stelle nicht gegen die Verwendung seiner Verkleidung und Masken selbst, sondern hebt diese in der Entkleidung vor Gott auf; sie behalten ihr Recht als Instrument der Kritik, des ,überlegten Nachspotts‘ durchaus, indem Hamann aber die zentrale Bedeutung seiner Autorschaft selbst enthüllt, werden sie hinfällig, weil nicht mehr Kritik seine Autorschaft bestimmt, in der seine Aufgabe als Zeuge des Herrn nur indirekt sich ausdrückt,

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Knut Martin Stünkel

In den Aesthetica in nuce spricht Hamann lediglich vom Text der Natur. Was ist nun die Rolle der Geschichte zu einer solchen Textur? Zu vermuten ist eine analoge Beschaffenheit des Textes der Geschichte. Die konjekturale Lektüre darf zwar vereindeutigen, diese Vereindeutigung jedoch nicht verallgemeinern und abschließen. Die Ausfüllung des Textes muß also selbst wieder eine grundsätzliche offene, eine Lückentextur sein, die sich mit dem Naturtext vernetzt. Benötigt wird (als Einkleidung) das kontingente, (,bloß‘) historische, willkürliche Zeichen (s. o.) für die angemessene wasserdurchlässige (,atmungsaktive‘ – nur so ist pneuma möglich) Einkleidung. „Natur und Geschichte sind daher die großen Commentarii des göttl. Wortes; und dies hingeg[en] der einzige Schlüssel uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen.“68 Schlagwortartig gefaßt: der Atem des Geistes hat nur eine Stätte in der Kombination zweier spatialisierter Texturen. Im Fliegenden Brief findet Hamann für den Zusammenhang (Kon-Text), die Textur von Natur und Geschichte ein wiederum textiles Bild. Er spricht von dem unzertrennlichen Bande zwischen dem Geiste der Beobachtung und der Weissagung. Unser Wißen zwar ist Stückwerk, und unser Weissagen, Stückwerk, vereinigt aber, ist es eine dreyfache Schnur, die nicht leicht entzwey reißt. Fällt einer ; so hilf ihm sein Geselle auf, und liegen sie beyeinander, so wärmen sie sich. […] Was wäre der Geist der Beobachtung, ohne den Geist der Weissagung und seine Leitfäden der Vergangenheit und Zukunft.69

Die Trennung von Natur und Geschichte ist folglich nur analytischer Natur, beide sind zu einer unzertrennlichen Textur verbunden. Natur und Geschichte stützen, ergänzen und verstärkten sich hier gegenseitig. Beide können mit Hamann als Verknüpfung spatialisierter Verweisungszusammenhänge, deren jeweilige Leerstellen eine wechselseitige Erklärung und Erläuterung, die Entstehung eines neuen Kontexts, einer neuen Textur als Einkleidung menschlichen Wissens, erlaubt, beschrieben werden. Das Prinzip der wechselseitigen Erläuterung (ihr Zweck), der ,rekurrenten, linear und rückbezüglichen Verknüpfung in einer jeweils bestimmten Konstellation‘ ist nun, so möchte ich vermuten, der „Schlüssel […], der die heil. Schrift auslegt“70 (und den die Masoreten nach Hamanns Bestimmung in Golgatha und Scheblimini ,verloren oder verdreht‘ haben). Nur in dieser Textur sind Natur, Geschichte und Offenbarung das

sondern das Bekenntnis selbst an die Stelle der Kritik getreten ist.“ (Reiner Wild: ,Metacriticus bonae spei‘. Johann Georg Hamanns ,Fliegender Brief‘. Einführung, Text und Kommentar, Bern, Frankfurt a. M. 1975, S. 219). 68 Londoner Schriften, 411,30–33 (Brocken). 69 N III, 396,30–34 (Fliegender Brief. Erste Fassung). 70 Londoner Schriften, 417,8–9 (Brocken).

Kleider, Lumpen, Teppiche, Körbe, Netze

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Schema als jeweilige und individuelle Anzeige (Zeichen) des verborgenen Menschen; das Gewand, welches ,goldene Sternlein‘ durchscheinen läßt.71

4.

Von Körben und Netzen

Im vierten Brief der Fünf Hirtenbriefen das Schuldrama betreffend fragt Hamann: „Warum flechten wir nun Schürze von Feigenblättern, wenn Röcke von Fellen fertig aus uns warten?“72 Vielleicht, so möchte man antworten, ist das Flechten als Manifestation von (und struktureller Umgang mit) unhintergehbarer Lückenhaftigkeit ein menschliches Grundbedürfnis bzw. eine menschliche Grundtätigkeit. Sein Ergebnis (als Bekleidung) ist Ausdruck jeglicher menschlicher Geistestätigkeit, auch und gerade von Hamanns jeweiligen Gegnern. Hamann spricht etwa in seinen Philologischen Einfällen und Zweifeln von dem „ganzen aus willkührlich angenommenen Heischesätzen und falschen Axiomen über die Natur der Sprache verflochtenen Beweis“.73 Entsprechendes muß für Hamann selbst gelten. Das Flechtwerk, also eine Textur irregulärer Ordnung (nach der Bestimmung von Erika Greber), spielt eine entscheidende Rolle als Transportmittel, als Medium menschlicher Erkenntnismöglichkeit. Die Brocken, welche des Menschen Teil sind, werden im Geflochtenen gesammelt und aufbewahrt, „in einigen Körben von Fragmenten,“74 wie es im Konxompax heißt. In der „Erklärung des Titels“ der Brocken schreibt Hamann: Ein Heer von Volk wird von 5. Gerstenbrodten überflüssig gespeist; dies kleine Maas ist für die Menge in der Wüsten so reich, daß mehr Körbe voll übrig bleiben, als sie Brodte empfangen hatten.75

In der Literatur haben in dieser Bestimmung die ,Brocken‘ die meiste exegetische Betrachtung gefunden, die Rolle der Körbe aber sollte ebenfalls nicht vernachlässigt werden.76 Das Flechtwerk, die irreguläre Textur faßt das Wunder der 71 An dieser Stelle könnte man den textilen Texturbegriff überleiten in den geologischen Texturbegriff, der räumliche Anordnung, das Wortfeld ,Erde‘ (und Sprache), aber auch Schichten (Ge-schicht) und eine Alternative zum formabgrenzenden Strukturbegriff beinhaltet (vgl. Knut Martin Stünkel: Ästhetische Geologie. Die Frage nach der Wahrheit bei Johann Georg Hamann. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 49 (2007), S. 156–182; wieder abgedruckt in: Ders.: Leibliche Kommunikation [wie Anm. 29], 151–177). 72 N II, S. 362,21f. (Fünf Hirtenbriefe. Vierter Brief). 73 N III, 47,21–23 (Philologische Einfälle und Zweifel). 74 N III, 222,19 (Konxompax). 75 Londoner Schriften, 406,1–3 (Brocken). 76 „Das Wunder der 12 übrig bleibenden Körbe geht vor den sieben [5 Brote und 2 Fische, Anm. KMS] vorher.“ (Londoner Schriften, 269,23–24 [Biblische Betrachtungen]).

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Brotvermehrung und bewahrt (als seine wesentliche Aufgabe) seine Fülle und die Tatsache der ,Verschwendung der (göttlichen) Natur‘, ihre Kondeszendenz. Anders gesagt: durch seine spatialisierte Struktur bewahrt der Korb die Fülle der Anschließbarkeiten (ohne diese masoretisch abzuschneiden).77 Doch der Korb hat eine Eigendynamik, er verlangt auch einen angemessenen Umgang, er bewegt. Entsprechend schreibt Hamann in den Sokratischen Denkwürdigkeiten über den korrekten Umgang mit (durch ihre Lückenhaftigkeit) bewegten und bewegenden Texten: Ein sorgfältiger Ausleger muß die Naturforscher nachahmen. Wie diese einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, so macht es jeder mit seinem Texte. Ich habe des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Urschrift zusammen gehalten; jetzt will ich andere Versuche thun, um die Energie desselben sinnlicher zu machen.78

Willkürliche Verbindungen zu ermöglichen ist Hauptaufgabe der Textur, deren Energie (Dynamik) sich auf diese Weise manifestiert. Auch Hamann selbst will durch seinen Text die entsprechende Aufgabe einer solchen Textur erfüllen: Ich denke mit göttl. Hülfe gegenwärtige Blätter zu einem solch[en] Korbe zu mach[en], worinn ich die Früchte meines Lesens und Nachdenkens in losen und vermischt[en] Gedanken sammlen will.79

Das Flechtwerk erscheint dabei der von Hamann selbst konstatierten Irregularität der Gedanken nur entsprechend zu sein, wobei die „schon verwesete[n] Feigenkörbe“ des Fliegenden Briefs insbesondere im Hinblick auf die „verlorenen Winke und Fingerzeige zur Sache und Person eines Predigers in der Wüsten“80 eine Beschreibung der Zeitgebundenheit, Bewegtheit und Transitivität eigener Texte sein könnten.81 „Mein Gedrucktes besteht aus bloßen Text, zu deßen Verstande die Noten fehlen, welche aus zufälligen auditis, visis [ob] et lectis et oblitis bestehen“, schreibt Hamann an Bucholtz.82 Die vergänglichen, zeitgebundenen Körbe fassen die Winke und Fingerzeige, die Zeichen, mittels derer Hamann kommuniziert. Auf jeden Fall ist das Geflochtene die dem Inhalt entsprechende Form: Flechtwerk kann Brocken festhalten, Wasser aber, zu dem etwa alle Schönheiten 77 „[Hamanns Schriften] wollen zu denken geben, Mut machen oder erschüttern; sie stiften Beziehungen, sind offen für das Eingreifen des Lesers, sie schneiden ein Weiterspinnen nicht durch eine systematische Entfaltung im Sinne eines ,Ausdenkens‘ ab, das in perfekter Weise vom Autor vorweggenommen wäre. Deshalb haben sie ihre kommunikative Kraft gerade durch ihre Partikularität …“ (Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch [wie Anm. 46], S. 45). 78 Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 37), 45,16–22. 79 Londoner Schriften, 407,16–19 (Brocken). 80 N III, 368,1 (Fliegender Brief. Erste Fassung) und 369,4f. (Fliegender Brief. Zweite Fassung). 81 Vgl. Wild: Metacriticus bonae spei [wie Anm. 67], S. 66. Vgl. auch ebd., S. 78. 82 ZH VII, 9,3–5 (An Franz Kaspar Bucholtz vom 6. September 1786).

Kleider, Lumpen, Teppiche, Körbe, Netze

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und Reichtümer der Natur unter dem Zugriff der Masoreten werden, hält es nicht. Doch dies ist für Hamann beileibe kein Nachteil. Eine Überschwemmung wird somit verhindert, das Überflüssige kann, ohne Schaden am Text anzurichten, abfließen. Eine strukturell entsprechende Metapher findet Hamann in der Heilsgeschichte. Zum Menschenfischer wird man durch Netze. Die Behältnisse der Rettung sind lückenhafte Texturen: „[D]er Zweck Jesu und seiner Jünger ist gleich einem ins Meer geworfenen Netze,“83 wie es im Konxompax heißt, darin zwar nicht das Wasser, aber doch Verschiedenes (allerley Gattung) gefangen und dann in Behältern (vermutlich Körben) aufbewahrt werden kann. Dies ist der ,Schlüssel‘ der Texturen von Natur und Geschichte. Das Netz ist so in soteriologischer Hinsicht multifunktional. Zum einen dient es als Zeichen für das Evangelium und versammelt die Gläubigen. In den Biblischen Betrachtungen heißt es dementsprechend über Matthäus 4, 18–22: Unser Heyland ruft hier Brüder – – Brüder – – die ersten werfen ihr Netz aus. Sie hören Gottes Stimme. Folgt mir. Sie verlassen ihr Netz, was sie ausgeworfen haben, und folgen ihm. Die beyden letzten sind mit ihrem Vater und flicken Netze aus; man sollte einen reichen Fang vorher daraus schließen. Jesus ruft sie; sie verlassen augenblicklich ihr Schiff, Haus und Hof und ihren Vater und folgen ihm. Die ersten Apostel und die Lehrer der ersten Kirche scheinen durch diejenigen vorgestellt zu seyn, die das Netz des Evangelii auswarfen, da ihre Nachfolger nur nöthig haben, selbiges auszubessern.84

Zum anderen dient das Netz als Mittel zur Bestrafung der Gegner Gottes. Entsprechend notiert sich Hamann im Königsberger Notizbuch Stellen aus dem Alten Testament: Der Krieg der Netze und die Jagd Gottes unter Hinweis auf Hesekiel 12,13 bzw. 17,20.85 Dort heißt es: Und ich will mein Netz über ihn werfen, daß er in meinem Garn gefangen werde, und will ihn nach Babel bringen in der Chaldäer Land, das er jedoch nicht sehen wird, und dort soll er sterben. bzw. Ich will mein Netz über ihn werfen, und er soll in meinem Garn gefangen werden, und ich will ihn nach Babel bringen und will dort mit ihm ins Gericht gehen, weil er mir die Treue gebrochen hat.

Gott selbst bedient sich also der Netze, um Widersacher einzufangen, ihm die rechte Sicht zu rauben und nach einem entsprechenden Urteil unschädlich zu machen. In diesem Sinne der Bevorzugung der löchrigen Textur (und ihren Produzenten) vor dem Gängelband der Vernunft kann Hamann ein Motto formulieren, 83 N III, 222,6–7 (Konxompax). 84 Londoner Schriften, 257,10–19 (Biblische Betrachtungen). 85 N V, 251,31 (Königsberger Notizbuch I).

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Knut Martin Stünkel

welches die Vorteile der Textur auf den Punkt bringt. Mit diesem Motto möchte ich schließen. An Herder schreibt er am 4. August 1783: Eine lebendige Spinne ist besser als ein todter Seidenwurm.86

86 ZH V, 63,5 (An Herder vom 3. August 1783). Vgl. ZH V, 228,11–13 (An Johann George Scheffner vom 8. Oktober 1784): „Wie die Kritik der reinen Vernunft von einem logischen Spinnengewebe abhängt; so des guten Geschmacks seine öfters von einem seidenen Faden.“

Hans Graubner (Göttingen)

Der junge Hamann und die Physikotheologie

Hamanns Haltung zur Physikotheologie vor und nach London hängt unmittelbar mit der dort vollzogenen Wende zusammen. Hamann entwickelt aus seinem Bekehrungserlebnis eine Anthropologie. Das heißt, er wendet sich von der äußeren Natur, deren Untersuchung und Betrachtung die Physikotheologie zu ihrer Aufgabe gemacht hat, zurück auf sich selbst, auf den Betrachter. Die Königsbergischen Zeitungen eröffnet er später mit der Diagnose, dass es heute „niemand der Mühe sonderlich werth hält, sich mit der Erkenntniß seiner selbst zu beschäftigen“.1 Die Wissenschaft, die sich nur dem Außen zuwende, fange an, „zu einer allgemeinen Unwissenheit des Wirklichen auszuarten“.2 Hingegen werde mit der „Anwendung auf sich selbst […] jede Neugierde zur Weisheit.“3 Die Richtung der Neugier entscheidet also darüber, ob sie zur Weisheit führt oder zur Torheit „ausartet“. Um der Weisheit der auf sich selbst zurückgebogenen Neugier willen plädiert Hamann für eine Philosophie, die sich mit der eigenen Subjektivität beschäftigt. Auch ihm geht es, wie Herder, darum, dass alle „Philosophie […] auf Anthropologie zurückgezogen“4 wird. Allerdings geht er von einem gänzlich anderen Subjekt aus als Herder.5 Hamanns Menschenbild ist geprägt von seinem Londoner Erlebnis, durch das ihm deutlich wurde, dass er

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N IV, 265,5f. N IV, 271,31f. N IV, 270,32f. Johann Gottfried Herder: Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann. In: Johann Gottfried Herder: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985 (= Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden, Bd. 1), S. 103. 5 Zur anthropologischen Differenz zwischen Hamann und Herder, die noch immer zu wenig wahrgenommen wird, vgl. Hans Graubner : ,Der nächste Aeon wird wie ein Riese vom Rausch erwachen […].‘ Herders frühe und folgenreiche Fehldeutung von Hamanns ,Aesthetica in nuce‘. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2009, S. 21–74, sowie ders.: Freundschaft als Konkurrenz im Sturm und Drang. Herder – Hamann, Goethe – Herder. In: Dioskuren, Konkurrenten und Zitierende. Paarkonstellationen in Sprache, Kultur und Literatur. Festschrift für Helmut Göbel und Ludger Grenzmann zum 75. Geburtstag. Hg. von Jan Cölln und Annegret Middeke. Göttingen 2014, S. 215–243.

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Hans Graubner

„der Brudermörder“ des „eingeborenen Sohnes war“.6 Der Mensch ist ein „Brudermörder“, auch wenn er es nicht sein möchte. Die Selbsterkenntnis deckt eine Ich-Spaltung im Sinne des Paulus auf: „das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“7 Diese innere Natur rührt für Hamann vom Sündenfall her und bestimmt die Anthropologie des geschichtlichen Menschen. Das Böse, das er seither vertritt, ist das Selbstseinwollen, die Eitelkeit, sich zum Herrn seiner selbst zu machen, zu sein wie Gott. Das Gute hingegen ist die Einsicht in die eigene Endlichkeit, Begrenztheit, welche die demütige Erfahrung hervorruft, dass die Existenz des Menschen nicht von ihm selbst abhängt.8 Diese Demut wäre nach Hamann die Fähigkeit zur Nachahmung der göttlichen Selbsterniedrigung, zur Nachahmung seiner Kondeszendenz. Sie ist in der Schöpfung wahrzunehmen, und in der Menschwerdung Christi nachdrücklich auf den Menschen bezogen. Die Erscheinung Christi ist die anthropologische Präzisierung der bereits in der Schöpfung geschehenen Niederlassung Gottes. Deshalb sieht Hamann Christus schon bei der Erschaffung von Natur und Mensch wirksam. Die Vorstellung vom Ebenbild Gottes im Menschen seit seiner Erschaffung deutet er mit Kol. 1,15 auf Christus, der „das Ebenbild des unsichtbaren GOttes“9 ist, „der Erstgeborne vor allen Kreaturen“. Seit dem Sündenfall vertritt danach der erniedrigte Christus als Inbegriff der Demut das Gute im Menschen, der Satan hingegen als Inbegriff der Eitelkeit und des Selbstseinwollens das Böse. Mit Christus als innerer Ebenbildlichkeit beruht die Nachahmungsfähigkeit des Menschen auf der Demut gegenüber aller geschenkten Kompetenz und nicht auf einer der Schöpferkraft Gottes analogen prometheischen Künstlerkompetenz des Menschen, in der für Herder die Ebenbildlichkeit zum Ausdruck kommt. Hamann sieht den Menschen in seinem geschichtlichen Dasein zwischen den inneren Polen Christus und Satan hin- und hergerissen. Geschichte als Historie ist für ihn weder ein Voltairescher Aufstieg noch ein Rousseauscher Abstieg, sondern ein Kampf zwischen diesen beiden Antrieben, welche die Heilsgeschichte in den Menschen selbst verlegen und ihn als Hoffnung begleiten, Christus möge die Oberhand behalten über den Satan des Selbstseinwollens wie Gott. Von dieser Basis aus ist zu fragen, welche Bedeutung die äußere Natur für solche subjektive, christologische Anthropologie hat. Mögliche Agenten des Satans im Menschen, also des Selbstseinwollens, sind für Hamann die Einbildungskraft und die Vernunft, der Agent Christi die sinnliche Wahrnehmung als Garant der Einwirkung Gottes. Mit Hume ist auch für Hamann die impression die 6 Londoner Schriften, 343. 7 Rö. 7,19. 8 Heute würde diese Einsicht heißen: „Life is, what happens to me, while I am busy making other plans.“ (John Lennon zugeschrieben). 9 N II, 207,2f.

Der junge Hamann und die Physikotheologie

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sinnliche, einzig mögliche Basis für menschliche Gewissheit. Sie schenkt die Gewissheit der Gabe der Außenwelt als göttliche Anrede und der Gabe der Seele als göttlichen Anhauch. Von diesem doppelt sinnlich Gegebenen versuchen sich die Einbildungskraft und die Vernunft durch eigenes Herstellen von poetischen Phantasien und philosophischen Abstraktionen zu entfernen mit dem Ziel des Selbstseinwollens und der Überwindung bzw. der Verdrängung der mit der sinnlichen Existenz zugleich gegebenen Zeitgebundenheit und Endlichkeit des Menschen. Unter dessen gespaltener Perspektive nach dem Sündenfall hat die Natur den Charakter des vollkommenen Schöpfungswerks Gottes verloren. Sie ist zweideutig geworden wie des Menschen Blick auf sie, unter dem sie nur noch „wechselsweise“ als „Schlachtopfer“ oder „Götze“10 erscheint. Der Mensch kann sie nur noch als „disiecti membra poetae“,11 als den zerstückelten Körper des Schöpfer-Poeten wahrnehmen. Der luziferische Drang, die Natur und den Menschen unter Umgehung der Sündenfallanthropologie wieder heil sehen oder gar heil machen zu wollen im Sinne einer menschlichen Wiederherstellung der ursprünglichen Schöpfungsnatur, ist nicht sinnliche Wahrnehmung, sondern abstraktes Sehen, theoria, eine Form, welche von der materia peccans12 abstrahiert hat. Diese abstrakte Form der Natur hat für Hamann ein doppeltes Gesicht. Sie ist einmal die zweideutige „schöne Natur“ der Ästhetik als eine Fiktion der Einbildungskraft, zum andern die zweideutige Gesetzesnatur der Physik als eine Konstruktion der Vernunft. Diese beiden Ansichten der Natur treten im 18. Jahrhundert im Rahmen der sogenannten Physikotheologie auf. Physikotheologie ist nach der älteren Theorie13 der Versuch, die neuzeitliche, sich von der Theologie emanzipierende Entwicklung der Naturwissenschaft doch noch im Horizont der Theologie zu halten. Nach neuerer Theorie14 ist dagegen diese Entwicklung der Naturwissenschaft selbst ein Produkt der Theologie, weil sie aus der providentia-Lehre, aus der Vorsehung Gottes hervorgegangen ist, die mit den Naturgesetzen Vorsorge für die Sicherheit der Menschen trägt. Bei diesem Verfahren haben die Physiker jedoch andere Interessen als die Theologen. Grob gesagt wollen die 10 N II, 206,25. 11 N II, 198,34. 12 ,Materia peccans‘ ist ein sprechendes Fachwort aus der Medizin, das Matthias Claudius in seinen ursprünglichen Wortsinn wieder eingesetzt hat. Matthias Claudius: Oden [KlopstockRezension]. In: Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Hg. von Hannsludwig Geiger. Berlin und Darmstadt 1961, S. 51. 13 Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht. Göttingen 1957. Philipp spricht von „kosmischer Verlorenheit“ (S. 77) nach dem „heliozentischen“ (S. 81) oder „Kopernikanischen Chok“ (S. 171), den die Physikotheologie aufzufangen versucht. 14 Udo Krolzik: Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung. Neukirchen-Vluyn 1988, hier S. 6f., S. 183f. u. ö.

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Physiker die Eigengesetzlichkeit der Natur retten gegen Eingriffe eines unberechenbaren Gottes, die Theologen hingegen die Anwesenheit, Gegenwärtigkeit und Freiheit Gottes in der Natur retten gegen die Absolutsetzung der Naturgesetze. Die Physiker schreiben auch als Physikotheologen Werke der Wissenschaft, die Theologen auch als Physikotheologen Werke der Andacht. In der naturwissenschaftlichen Physikotheologie wird Gott deshalb als Schöpfer der Naturgesetze an den Anfang der Welt verlegt, der die vollkommene Gesetzlichkeit des Kosmos nicht mehr durch willkürliche Einwirkungen stört, etwa durch Strafgerichte mit einschlagenden Kometen oder zerstörenden Erdbeben. Die theologische Physikotheologie will dagegen in der Natur neben der Providentia vor allem den Concursus Gottes, den begleitenden, gegenwärtigen, erhaltenden und lenkenden Gott erkennen. Beide Richtungen arbeiten mit der Vorstellung vom großen Werkmeister und Künstler, der die Welt vollkommen und schön erschaffen hat, wobei die Physiker das Gewicht mehr auf die logisch-mathematische Vollkommenheit der Naturgesetze, die Theologen mehr auf die ästhetische Vollkommenheit der Schönheit der Natur und ihren Nutzen für den Menschen legen. Auch die Vorstellung vom Buch der Natur verwenden beide Physikotheologien. In der physikalischen Richtung bleibt sie freilich nur traditionelle Metapher.15 Die theologische Richtung nimmt das Buch dagegen ernst und will die Natur als Schrift der poetischen Schaffenssprache Gottes auslegen. Man kann die physikalische Richtung daher als logisch-metaphysische Physikotheologie von der theologischen Richtung als ästhetisch-hermeneutischer Physikotheologie unterscheiden.16 Von heute aus gesehen gilt die physikalische Physikotheologie als mainstream im 18. Jahrhundert. Von Derham und Newton über den Hamburger Fabricius erstreckt er sich bis zu Kant. Von damals aus gesehen ist die Strömung der vergessenen ästhetisch-hermeneutischen Physikotheologie sicher dominanter gewesen, wie die Unzahl der Pflanzen-, Blumen-, Gewitter-, Steine-, Sterne-, Spinnen-, Fische-, Würmer-, Insecten- und Heuschreckentheologien belegt, welche die Gegenwärtigkeit des Schöpfergottes in seinen kunstvoll gestalteten Geschöpfen rühmen. Es ist keine Frage, dass Hamann die logisch-metaphysische Physikotheologie immer abgelehnt hat. Sie lag ihm in den Werken führender Naturwissenschaftler wie Nieuwentyt, Newton, Buffon und schließlich Kant vor Augen, und er hat sie immer als luziferische Abstraktion von der göttlichen Schöpfungswirklichkeit abgelehnt und bekämpft. Gleichwohl ist er auch zuweilen als Befürworter dieser abstrakten 15 Erst Hamann wird die Buchmetapher unmittelbar auf die Physik beziehen, indem er sie als Grammatik oder „Abc“ (ZH I, 450,18) der Natur auffasst, woraus sich freilich keine Auslegung der Semantik ergeben könne. 16 Vgl. dazu Hans Graubner : Physikotheologie und Kinderphysik. Kants und Hamanns gemeinsamer Plan einer Physik für Kinder in der physikotheologischen Tradition des 18. Jahrhunderts, In: Acta 1988, 117–145, hier 117–119.

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Physikotheologie aufgefasst worden. Ich gebe am Schluss ein Beispiel solchen Fehlurteils. Anders steht es mit der ästhetisch-hermeneutischen Physikotheologie. Nur mit ihr hat Hamann sich wirklich auseinandergesetzt. Ihre Ansicht der Natur als unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Gegenwärtigkeit Gottes kam Hamanns Naturauffassung zunächst nahe, und die Auseinandersetzung mit und schließlich die Ablehnung auch dieser Physikotheologie hat ihn vor und nach seiner Londoner Wende beschäftigt. Das Interesse für die Physikotheologie ist sicher durch seinen Lehrer Martin Knutzen geweckt und in dessen kurzzeitig existierender physikotheologischer Gesellschaft vertieft worden, von der Hamann in seinem „Lebenslauf“ berichtet.17 Von Knutzen selbst stammte die Anregung, Gottes Schöpfungssprache zum Ausgang für eine hermeneutisch-ästhetische Physikotheologie zu machen, die er unter den für Hamann so wichtig gewordenen Satz „Rede, daß ich Dich sehe!“18 stellte: Sprechen gibt nicht allein unsere Gedanken, sondern auch unsere Eigenschaften andern zu erkennen. Loquere, sagte jener, ut te videam. Die Schöpfung ist die natürliche Offenbarung Gottes, wir lernen ihn aus seinen Werken kennen.19

In dieser physikotheologischen Gesellschaft, zu der auch Kant gehörte, kannte man jedenfalls die Standardwerke, besonders William Derhams Physicotheologie oder Natur-Leitung zu Gott20 und seine Astrotheologie21 in den deutschen Übersetzungen des Hamburger Gelehrten Johann Albert Fabricius, dazu des 17 N II, 19,18–21. Über das kurzfristige Bestehen dieser Gesellschaft Knutzens und über ihre Mitglieder unterrichtet Hans-Joachim Waschkies: Physik und Physikotheologie des jungen Kant. Die Vorgeschichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Amsterdam 1987 (= Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 8), S. 13f. Vgl. auch Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie. München 2003, S. 521f. 18 N II, 198,28. 19 Martin Knutzen: Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift und ins besondere über die Mosaischen Beschreibung der Erschaffung der Welt, durch ein Göttliches Sprechen. Zweiter Anhang in: ders.: Philosophischer Beweiß von der Wahrheit der christlichen Religion, darinnen die Nothwendigkeit einer geoffenbarten Religion insgemein, und die Wahrheit oder Gewißheit der christlichen ins besondere, aus ungezweiffelten Gründen der Vernunft nach Mathematischer Lehr-Art dargethan und behauptet wird […]. Königsberg 41747, S. 288. 20 William Derham: Physicotheologie oder Natur-Leitung zu Gott, Durch aufmercksame Betrachtung der Erd-Kugel, und der darauf sich befindenden Creaturen, zum augenscheinlichen Beweiß, daß ein Gott, und derselbige ein Allergütigstes, Allweises, Allmächtiges Wesen sey […] nebst einer Aufmunterung des Carol Rollins, die Jugend bey Zeiten zur Liebe ihres Schöpffers durch Betrachtung der Creaturen anzuführen, zum Druck befördert von Jo. Alberto Fabricio. Hamburg 21732. 21 William Derhams Astrotheologie, Oder Himmlisches Vergnügen in Gott, Bey aufmercksamen Anschauen des Himmels, und genauerer Betrachtung der Himmlischen Cörper, Zum augenscheinlichen Beweiß Daß ein GOTT, und derselbige ein Allergütigstes, Allweises, Allmächtiges Wesen sey. Übersetzt von Johann Albert Fabricius. Hamburg 1732.

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Fabricius eigene Pyrotheologie22 und Hydrotheologie.23 Diese Werke vertreten vor allem die physikalische Physikotheologie. Von der theologischen Richtung erwähnt Hamann einmal eine Heuschrecken-Theologie24 und eine InsektenTheologie.25 Wichtiger ist, dass Fabricius in seinen Vorreden zu Derham und in seiner Pyro- und Hydrotheologie stets auch der ästhetischen Wahrnehmung der Anwesenheit Gottes in der Natur Raum gibt. Das geschieht jeweils durch Anführung von Gedanken und Versen seines Freundes, des Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes, dessen monumentales, neunbändiges Werk, Irdisches Vergnügen in Gott,26 die extensive Einführung der ästhetisch-hermeneutischen Physikotheologie in die deutsche Literatur, insbesondere in die Naturlyrik bedeutet. Zu Ehren von Brockes nennt Fabricius seine Übersetzung von Derhams Astrotheologie „Himmlisches Vergnügen in Gott“.27 Brockes war den Königsberger Physikotheologen gut bekannt. Kant zitiert ihn häufig, Hamann, dessen Onkel den dritten Band des Irdischen Vergnügens herausgegeben hatte, erwähnt ihn, und Lauson, der Dichter in der physikotheologischen Gesellschaft, übt sich in Brockes’ Manier. Sicher kam Hamann diese ästhetisch-hermeneutische Zuwendung zur Schöpfungsnatur zunächst entgegen. Gottes Gegenwart, seine geheime Anwesenheit in der äußeren Natur und in der inneren Natur des Menschen zu erfahren, war ihm selbstverständlich. Die Frage war nur, wie diese Anwesenheit sich dem Menschen zeigt. Und das hing von der vorausgesetzten Anthropologie ab. Die gesamte aus Hamburg nach Königsberg importierte Physikotheologie 22 Pyrotheologie, oder Versuch durch nähere Betrachtung des Feuers, die Menschen zur Liebe und Bewunderung ihres gütigsten, weisesten, mächtigsten Schöpfers anzuflammen. Entworfen von Jo. Alberto Fabricio. Hamburg 1732. 23 Hydrotheologie oder Versuch, durch aufmerksame Betrachtung der Eigenschaften, reichen Austheilung und Bewegung der Wasser die Menschen zur Liebe und Bewunderung ihres gütigsten, weisesten, mächtigsten Schöpfers zu ermuntern. Ausgefertiget von Jo. Alberto Fabricio. Nebst einem Verzeichniß von alten und neuen See= und Wasser=Rechten, wie auch Materien und Schriften, die dahin gehören, unter XL. Titul gebracht. Hamburg 1734. Hamann erwähnt dieses Werk N V, 156,19f.: „Die Hydrotheologie des Fabricius ist gleichfalls vermehrt übersetzt worden zu Epay 1741 französisch ausgekommen.“ 24 N V, 294,32f.: „Rathlefs Acrido-theologie oder historische und theologische Betrachtung über die Heuschrecken.“ 25 N V, 156,16ff.: „M. Lyonnet hat mit beträchtl. Anmerkungen die Insecto-Theol. ins Französische übersetzt. Ist / la Haye 1742. 2 Tom. 8. mit Kupfern ausgekommen.“ 26 Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Neun Bände. Hamburg 1721–1748. Künftig zitiert nach dem Nachdruck des Werks bei Herbert Lang, Bern 1970. 27 Diese Hommage an Brockes ist eine theologische Ungenauigkeit. Brockes nennt sein „Irdisches Vergnügen“ gezielt „irdisch“, um den sinnlich-ästhetischen Genuss der Schöpfung Gottes gegen ein „himmlisches Vergnügen“ im Sinne jenseitiger Verheißungen abzugrenzen, die mit der christlichen Weltverachtung in Pietismus und Orthodoxie einherging. Die physikotheologische Betrachtung des Sternsystems zum Ruhm Gottes, wie es Derham betreibt, fällt für ihn selbstverständlich unter das „Irdische Vergnügen in Gott“.

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war sich sowohl in ihrer logisch-physikalischen wie in ihrer ästhetisch-hermeneutischen Spielart darin einig, dass immer nur der allmächtige Schöpfergott als der große Werkmeister der Naturerschaffung in den Fokus rückte. Die christliche Sohnestheologie wurde vollständig ausgeklammert. Brockes wandte sich ausdrücklich gegen das Neue Testament und bezog sich vornehmlich auf physikotheologisch auswertbare Texte des Alten Testaments, auf einige Psalmen und besonders auf das apokryphe Buch Jesus Sirach. Der Grund für diese Abwendung von der Christusreligion war eine Anthropologie, die sich auf die gemeinsame Geschöpflichkeit aller Kreatur berief und die Brockes als Friedensstrategie ausarbeitete gegen die orthodoxen und pietistischen Pastoren, die in den Hamburger Unruhen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert28 mit ihren Heilslehren zu Aufruhr anstachelten. Der Hamburger Ratsherr verdrängte Sündenfall und Erlösung aus seinem Werk. Als reicher, in seinem Garten lustwandelnder Stadtpatrizier, der von Blume zu Blume schritt und in ihrer Schönheit das Werk und die Anwesenheit des Schöpfers pries, hielt er es für möglich, „wie Adam vor dem Fall […] zu leben“,29 und wollte diese kontemplative, prälapsarische Anthropologie mit seinen ästhetischen Naturandachten auch seinen streitbaren Zeitgenossen nahebringen. Trotz ihrer Gottesunmittelbarkeit musste eine solche, auf Christologie verzichtende Anthropologie schon dem vor-Londoner Hamann verdächtig sein. Hamanns nächste Begegnung mit der ästhetisch-hermeneutischen Physikotheologie vollzieht sich während seiner Hofmeisterzeit in Kurland bei der Lektüre von James Hervey. Hamann las Hervey vor London ausschließlich in der dreibändigen deutschen Übersetzung, von der er damals nur den ersten und den zweiten Band kannte. Im ersten Band, den Erbaulichen Betrachtungen über die Herrlichkeit der Schöpfung in den Gärten und Feldern stellt Hervey die andächtige hermeneutisch-ästhetische Physikotheologie in den Vordergrund. Seine Betrachtungen bleiben aber durchaus nicht bei der bewundernden Wahrnehmung der göttlichen Gegenwart in der Natur stehen. Hervey ist von An28 Vgl. dazu: Hermann Rückleben: Die Niederwerfung der hamburgischen Ratsgewalt. Kirchliche Bewegungen und bürgerliche Unruhen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Hamburg 1970. – Ernst Fischer : Patrioten und Ketzermacher. Zum Verhältnis von Aufklärung und lutherischer Orthodoxie in Hamburg am Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848). Hg. von Wolfgang Frühwald und Alberto Martino. Tübingen 1989, S. 17–47. Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015. Darin S. 155–255 (Zwischen Stadt und Reich: Hamburger Patriotismus). 29 Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott (wie Anm. 26), Bd. VI, S. 269 (Hervorhebung H. G.). Vgl. zu Brockes’ theologischer Position: Hans Graubner : Brockes’ Theologie der ästhetischen Erfahrung der Natur als „Kinderphysik“. In: Brockes-Lektüren. Ästhetik – Religion – Politik. Hg. von Mark-Georg Dehrmann und Friederike Felicitas Günther. Bern, Berlin u. a. 2020, S. 31–56.

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fang an bemüht, die Christologie mit der Schöpfungstheologie zu vereinen. „Christus hat sie [die Geschöpfe] gemachet, da sie noch nicht waren,“30 und „das ganze Gewicht der Schöpfung ruhet auf seinem mächtigen Arm“.31 Die Christologisierung der Schöpfung bei Hamann ist wesentlich durch Hervey angeregt worden. Und durch die Reflexion, dass der Schöpfer selbst der bis zum Kreuzestod Erniedrigte ist, kommt auch bei Hervey eine Dämpfung in die hochgemute Werkmeister-Rühmung der Physikotheologie. Er beschließt seinen „Prosaischen Lobgesang über die Werke der Schöpfung“32 mit der Einsicht, dass alles menschliche Lob des Schöpfers und Erlösers nur dazu dient, „die unaussprechliche Sache zu erniedrigen, die es sich doch zu erheben bemühet.“ Deswegen werde „[d]as laute Halleluja […] sich in der feierlichen Gemüthsberedsamkeit einer knieenden, entzückten und stillen Anbetung verlieren“ und in ein „[b]eredtes Schweigen“33 münden. Hamanns Abkehr von der ästhetisch-hermeneutischen Physikotheologie des Schöpferruhms bereitet sich mit Hervey 1756 in Grünhof vor. Sie zeigt sich auch in seiner Bevorzugung des zweiten Bandes von Herveys Werk, den Erbaulichen Betrachtungen zwischen Theron und Aspasio, über die Herrlichkeit der Schöpfung und die Mittel der Gnade.34 Wegen des nahezu gleichlautenden Titels wird in der Forschung oft nur auf den ersten Band über die „Gärten“ verwiesen, während der zweite Band über die „Mittel der Gnade“, der Hamann entscheidend angeregt hat, zu wenig beachtet wird.35 Hier ist kaum noch von Physikotheologie die Rede, sondern, wie Hamann in einem Brief an seinen Vater betont: „von dem Grunde unsers Glaubens.“36 Hervey handelt in diesem Werk von der Kondeszendenz Gottes, von der Rechtfertigungslehre, vom Zusammenspiel zwischen Gesetz und Evangelium. „Lesen Sie […] den zweeten Theil des Hervey“ rät Hamann dem Rigaer Rektor Lindner und betont: „Er gehört gar nicht zum ersten Theil“,37 d. h. er verzichtet weitgehend auf Physikotheologie. Wenn Hamann in § 3 der Brocken sagt: „Ein Englischer Geistlicher hat in die Naturlehre die Salbung der Gnade zuerst einzuführen gesucht“,38 dann meint er Hervey, und Hamann zitiert mit der Hervorhebung der 30 James Hervey : Erbauliche Betrachtungen über die Herrlichkeit der Schöpfung in den Gärten und Feldern. Hamburg und Leipzig 21755, S. 38. 31 Ebd., S. 41. 32 Ebd., S. 137. 33 Ebd., S. 172. 34 James Hervey : Erbauliche Betrachtungen zwischen Theron und Aspasio, über die Herrlichkeit der Schöpfung und die Mittel der Gnade. Zweyter Theil. Hamburg und Leipzig 1755. 35 Vgl. dazu Hans Graubner : ,Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse‘. Der Theodizee-Entwurf des jungen Hamann in der Auseinandersetzung mit Hume, Sulzer, Shuckford und Hervey. In: Acta 2006, 255–291, hier 257, Anm. 10. 36 ZH I, 196,7. 37 ZH I, 140,21f., 24. 38 Londoner Schriften, 412.

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Gnade den Titel des zweiten Bandes: „über die Herrlichkeit der Schöpfung und die Mittel der Gnade“.39 Der § 3 der „Brocken“ spiegelt vermutlich ebenso wie der anschließende § 4 Hamanns innere Gärung in den Monaten vor der Reise nach England, in denen sich die Londoner Wende vorbereitet. Setzt sich der § 4 mit der herrschenden Theodizee auseinander, angeregt durch die Lektüre von Hume, Shuckford und Hervey,40 so der § 3 mit der herrschenden Physikotheologie durch die Aufnahme der Hinweise und theologischen Reflexionen Herveys. Der nächste Satz macht deutlich, worin Hamann unter dem Eindruck Herveys den Mangel der bisherigen Physikotheologie sieht: „es fehlt uns noch ein Derham, der uns nicht [wie Derham] den Gott der nackten Vernunft […], sondern den Gott der heil. Schrift, im Reiche der Natur aufdeckt“.41 Derhams Physikotheologien waren physikalisch orientiert, in denen ein deistischer Gott die Vernunftgesetze der Natur garantierte. Belehrt durch Hervey verlangt Hamann dagegen eine Physikotheologie, die den Gott der ganzen heiligen Schrift, also nicht nur den Schöpfer, sondern auch Christus in der Natur gegenwärtig zeigt. Solche Physikotheologie würde also die Natur in die Heilsgeschichte einbeziehen, würde die Natur geschichtlich verstehen. Sie dürfte deshalb weder aus einer Vernunftkonstruktion bestehen, die den Sündenfall ignoriert, noch die unmittelbare Erscheinung Gottes in der Natur behaupten, die durch den Sündenfall verspielt ist; sie müsste vielmehr, so formuliert Hamann im § 3 der Brocken „als eine Allegorie, ein mythologisch Gemälde himmlischer Systeme“,42 auftreten, die verborgen bleiben und nur zu ahnen sind. Mit den Worten „Allegorie“ und „mythologisch Gemälde“ wählt Hamann ein Bild für indirekte, mehrdeutige, auslegungsbedürftige Rede und spielt damit die geforderte Physikotheologie in den Bereich der Poetologie und Ästhetik hinüber. Poesie wird zum Gleichnis für die sich erniedrigende, indirekte Selbstmitteilung Gottes. Hamann geht mit einem zusätzlichen Vergleich sogar noch weiter in diese Richtung, wenn er sagt, dass „der Unterscheid zwischen natürl. und geoffenbarte[r] Religion“, also, bezogen auf die Natur, zwischen der Physikotheologie Derhams und der erhofften christologischen Physikotheologie nicht mehr [sei,] als der Unterscheid zwischen dem Auge eines Menschen, der ein Gemälde sieht ohne das Geringste von der Malerey und Zeichnung oder der Geschichte, die vorgestellt wird, zu verstehen, und dem Auge eines Malers, zwischen dem natürl. Gehör und dem musikalischen Ohr.43

39 In den Erläuterungen zu den Londoner Schriften, 540 wäre zu „Ein Englischer Geistlicher“ Hervey zu ergänzen. 40 Vgl. meinen in Anm. 35 angegebenen Aufsatz. 41 Londoner Schriften, 412. 42 Ebenda. 43 Londoner Schriften, 411.

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Hier liegt eine Keimzelle für Hamanns Umdeutung der Ästhetik in Theologie, nicht aber umgekehrt, wie es die Wirkungsgeschichte seit Herder nahelegt. Die noch fehlende Physikotheologie müsste poetischer und „musikalischer“ sein als die Derhams. Sie müsste die Doppeldeutigkeit der Natur wahrnehmen und ihr heilsgeschichtliches Wesen aufdecken. Poesie wird bei Hamann zum bloßen Gleichnis für die indirekte Selbstmitteilung Gottes, und nicht, wie in der sich fälschlich auf ihn berufenden Kunstreligion selbst eine solche Mitteilung.44 Diese von Hamann in § 3 der „Brocken“ auf Anregung Herveys angedachte christologische Physikotheologie weist noch eine gewisse Nähe zur traditionellen ästhetisch-hermeneutischen Physikotheologie auf. Aber mit der Dominanz der Christologie seit der Londoner Erfahrung nimmt Hamanns Interesse auch an dieser Physikotheologie merklich ab, zumal sie seit Brockes eine dezidiert antichristologische Tendenz hat und wie die logisch-metaphysische Physikotheologie alle Heilsgeschichte ausklammert. In den Biblischen Betrachtungen tritt deshalb die Natur- und Schöpfungstheologie gegenüber der Christologie deutlich in den Hintergrund. Die „Menschwerdung“ Gottes erhält „über denjenigen Willen Gottes, der die Natur hervorgebracht hat“, den „Vorzug“.45 Später wird vor allem die „Einheit“ der Kondeszendenz Gottes in allen seinen Offenbarungen betont, die keinen physikotheologischen Sonderweg mehr zulässt. Die „Einheit der göttlichen Offenbarung“ zeigt sich in der Erniedrigung des göttlichen Geistes in den biblischen „Menschengriffel“ ebenso wie die des Sohnes in die „Knechtsgestalt“ und erweist „die ganze Schöpfung“ als „ein Werk der höchsten Demuth“.46 Das physikotheologische Herausheben allein der Erschaffung der Natur zum Ruhm des Schöpfers verfällt dem Spott: „Den allein weisen GOtt in der Natur bloß bewundern ist vielleicht eine ähnliche Beleidigung mit dem Schimpf, den man einem vernünftigen Mann erweist, dessen Werth nach seinem Rock der Pöbel schätzet.“47 Diesem Urteil voraus geht der Zusammenstoß mit Kant in Hamanns Selbstfindungsjahr 1759. Hamann trifft auf den alten Gefährten aus Knutzens physikotheologischer Gesellschaft, als sie einen gemeinsamen Plan zu einer Physik für Kinder erwägen.48 Hier begegnen ihm wieder die beiden Seiten der Physikotheologie. Charles Rollin hatte sie in seinem einflussreichen didaktischen 44 Der Aufsatz von Christoph Deupmann (Apostel und Genie? Zu Johann Georg Hamanns eigensinniger Behauptung der Einheit von Kunst und Religion. In: Kunstreligion. Bd. 1. Der Ursprung des Konzepts um 1800. Hg. von Albert Meier, Alessandro Costazza und G8rard Laudin. Berlin 2011, S. 59–71) scheint mir schon im Untertitel Hamanns Intention zu verfehlen. 45 Londoner Schriften, 263. 46 N II, 171,4–7. 47 Ebd., 8–11. 48 Vgl. dazu meinen in Anm. 16 genannten Aufsatz.

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Werk aus den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts voneinander getrennt, aber schiedlich-friedlich nebeneinander bestehen lassen. Dabei erhob er die logischmetaphysische Physikotheologie zur „Physique des savans“, zur Physik der Gelehrten, die Kant dann gegenüber Hamann vertrat. Die ästhetisch-hermeneutische Physikotheologie aber stufte er herab zu einer „Physique des enfants“49 und ließ sie als kindlichen Zugang zur Natur gelten. Diese „Kinderphysik“ lief durch das 18. Jahrhundert hindurch neben der Gelehrtenphysik her und hielt die ästhetische Wahrnehmung der Natur als Erfahrung der Gegenwärtigkeit Gottes in der Natur fest.50 Kant hatte jetzt aber offenbar vor, dieser Unvernunft ein Ende zu bereiten, die logisch-metaphysische Physikotheologie allein gelten zu lassen und auch eine Physik für Kinder nach den Einsichten der Gelehrtenphysik zu entwerfen, die er gerade in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels geschrieben und „nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt“51 hatte. Das konnte Hamann nicht mitmachen, der auch die sogenannten Naturgesetze nur für vergängliche Einfälle der menschlichen Einbildungskraft hielt, die versucht, Gottes Unberechenbarkeit in menschliche Sicherheitsbedürfnisse einzufangen: Sind aber die Impromtüs eines Galilei und Newtons einmal zu ewigen Gesetzen der Natur verklärt: so muthen wir ihrem Schöpfer Selbst zu, sich in den Schranken dieses Sandufers zu halten und trauen ihm weder die Macht noch das Herz [zu], selbige zu übertreten,52

– so formuliert Hamann diese Einsicht später in den Zwey Scherflein zur neusten Deutschen Litteratur.53 Eine ganz andere Vorstellung vom Schöpfer und seiner Erschaffung der Natur vermittelt hingegen der Schöpfungsbericht der Bibel. 49 Charles Rollin: De la maniHre d’enseigner et d’8tudier les Belles-Lettres, Par raport / l’esprit et au cœur […] (1740). Bd. 4. Amsterdam 21745, Buch 5, S. 165–198, hier S. 151. 50 Es ist höchst bezeichnend, dass Brockes, der Vater der deutschen poetisch-ästhetischen Physikotheologie, den Text von Rollins Kinderphysik nicht nur kennt, sondern ihn als Ausweis für seine eigenen Dichtungsabsichten in ein langes Reimgedicht übersetzt hat (Brockes: Irdisches Vergnügen [wie Anm. 26], Bd. 4, S. 269–286). Seine ästhetisch-hermeneutische Physikotheologie des Irdischen Vergnügens kann also als „Kinderphysik“ bezeichnet werden. Offen ist, welcher Vorlage Brockes folgt. Er gibt dem Gedicht die Überschrift: „Einige aus dem Englischen genommene Gedancken“ (Ebd., S. 269). Er legt also nicht Rollins französischen Text zugrunde. Da auch Rollin nur auf eine Quelle zurückgreift: „Je les tirerai la plupart d’un excellent Manuscrit sur la GenHse qui est entre les mains de plusieurs personnes“ (Rollin: De la ManiHre [wie Anm. 49], S. 167f.), muss es eine gemeinsame Vorlage geben. 51 Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt (1755). In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Bd. 1. Berlin 1968, S. 215. 52 N III, 240,1–5. 53 N III, 229.

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Folgt man ihm, so wird die Souveränität Gottes nicht angetastet und die erschaffene Natur verweist als dessen Sprache auf seine Nähe. Und da der Bericht der Genesis mit dem Sündenfall zugleich die Heilsgeschichte und damit die Geschichte als ganze erschließt, also „den Ursprung aller Dinge in sich hält; so ist ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein logischer“.54 Diese Überlegung hält Hamann Kant entgegen und empfiehlt ihm, eine Physik für Kinder nach „der mosaischen Geschichte“ einzurichten, also „nach den Begriffen, die jedes Christenkind von dem Anfange der Natur hat“.55 Der Plan, den Hamann dann Kant für diese Physik vorlegt, folgt genau dem Aufriss der Kinderphysik, den Rollin und Brockes in ihren Übersetzungen dieser GenesisPhysik vorgegeben haben.56 Um die Kinder in ihrer geschöpflichen Geborgenheit zu schützen und die „Majestät ihrer Unschuld“57 gegen die Übergriffe der Physik zu verteidigen, stellt sich Hamann in dieser Debatte noch einmal auf den Standpunkt der ästhetisch-hermeneutischen Physikotheologie, ohne freilich damit deren christologische Defizite gutzuheißen. Das wird deutlich an Hamanns erster Auseinandersetzung mit Klopstock, die ebenso wie die mit Kant in das Jahr 1759 fällt.58 Hamanns Verhältnis zu Klopstock ist zwiespältig. Klopstock hatte durchaus in großer Nähe zu Brockes’ ästhetischer Physikotheologie begonnen. Seine berühmte Ode „Die Frühlingsfeier“ hieß zunächst „Das Landleben“;59 und Klopstock wollte mit ihr „etwas zu den ernsthafteren Vergnügungen des Landlebens beytragen“.60 Der Bezug auf Brockes’ Irdisches Vergnügen ist unverkennbar. Klopstocks längere Einleitung, aus der dies Zitat stammt, liest sich mit Hinweisen auf seine eigene Früherziehung wie eine Eloge auf die ästhetisch-hermeneutische Physikotheologie als Kinderphysik.61 Diese Physikotheologie ist in seinen frühen religiösen Hymnen auch noch deutlich zu spüren. Aber sie tritt zunehmend zurück, denn Klopstock geht zugleich den späteren Weg Kants in der Ästhetik des Erhabenen und wehrt die überwältigende Zudringlichkeit der äußeren Natur ab durch die aller Schöpfungsnatur überlegene, erhabene Seele des Menschen. „Was sind diese selbst den 54 55 56 57 58

ZH I, 446,32ff. ZH I, 447,23f. Ebd. ZH I, 445,29f. Vgl. zu diesem Abschnitt: Hans Graubner : ,Christ oder Poet. Wundern sie sich nicht, dass dies Synonima sind.‘ Hamanns Vorbehalte gegenüber Klopstock in den Briefen des Jahres 1759. In: Wort und Weisheit. Festschrift für Johannes von Lüpke zum 65. Geburtstag. Hg. von David Kannemann und Volker Stümke. Leipzig 2016, S. 219–233. 59 Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Hg. von Karl August Schleiden. Darmstadt 1962, S. 85. 60 Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden. Hg. von Karl Ludwig Schneider. Stuttgart 1976 (Reclam), S. 144. 61 Ebd., S. 144f.

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Engeln unzählbare Welten / Gegen meine Seele!“62 heißt es in der Ode „Dem Allgegenwärtigen“, die trotz solcher Abwertung der äußeren Natur auch Strophen ästhetischer Physikotheologie enthält. Hamann stieß schon 1759, ein Jahr nach ihrem Erscheinen, auf diese Ode Klopstocks. In seinen Briefen der Zeit erwähnt er das Gedicht mehrfach, zuerst zustimmend, später ablehnend. Wieder ist es Hamanns Befürchtung, dass die Dreieinigkeit Gottes zerrissen wird durch die Hervorhebung allein des Schöpfers der Natur. In einem Brief an Lindner zitiert er eine der physikotheologischen Strophen aus dieser Ode: Mit heiligem Schauer, Brech’ ich die Blum’ ab; Gott machte sie, Gott ist, wo die Blum’ ist.63

Dieser „heilige Schauer“ der Gottesnähe Klopstocks löst bei Hamann allerdings ein „heil. Schaudern“64 vor der Unverblümtheit aus, mit der hier der unmittelbare Zugang des Menschen zum Schöpfer durch die Blume behauptet wird. Hamann nimmt deshalb den letzten Vers auf: „Gott ist, wo die Blume ist“ und fährt geradezu listig fort: „Er nahm es der Maria nicht übel, daß sie Ihn für den Gärtner ansahe.“65 Als Maria den Auferstandenen am Grabe erblickte, heißt es bei Johannes. „Sie meinet, es sei der Gärtner“.66 Mit dieser Wendung gelingt es Hamann, die in dieser Strophe auf den Schöpfer zentrierte physikotheologische Haltung Klopstocks christologisch einzufärben und damit aus seiner Sicht auf die Defizite hinzuweisen, die Klopstock mit der Physikotheologie teilt. Mit dem Verweis auf Christus als Gärtner67 öffnet Hamann zudem die Perspektive zurück auf Gottes Wandeln im Paradiesgarten (Gen. 3,8) und legt nahe, dass dieser „Gärtner“ sich nach dem Sündenfall nicht mehr so sehr als Schöpfer um die Blumen, sondern vielmehr als Christus um die Menschen kümmert, indem er „Adam“ suchte und nach ihm „rief“: „Wo bist du?“ (Gen. 3,9). So stützt Hamann seine Auffassung von der anthropologisch notwendigen Einfügung Christi in die einseitige Schöpfungstheologie der Physikotheologen.

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Ebd., S. 56. Ebd., S. 55. ZH I, 367,26. ZH I, 395,36f. Joh 20,15. Hamann ist diese Deutung so wichtig, dass er sie auch in der Aesthetica in nuce unter die verschiedenen Bilder zur Einheit Gottes, als Sprecher, Gärtner und Töpfer aufnimmt: „bete den kräftigen Sprecher […] mit dem Psalmisten; den vermeynten Gärtner […] mit der Evangelistin der Jünger ; und den freyen Töpfer mit dem Apostel hellenistischer Weltweisen und talmudischer Schriftgelehrten an! (N II, 200,7–10).

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Kurze Zeit später wird diese Kritik an Klopstock in einem Brief Hamanns an seinen Bruder noch deutlicher. Dieser hatte sich den ästhetisch-physikotheologischen Aspekten der Klopstockschen Ode zugewandt. Hamann mahnt: „Lauf nicht zu den Menschen, wenn sie auch Hohepriester wie Eli wären“. „Höre“ vielmehr, was Gott selbst „redet“; denn „Der rollende Donner, der lispelnde Bach“ sind nur „Zungen seiner Eigenschaften“,68 nicht Gottes Rede selbst. Hamann zitiert mit diesen Worten weitere Verse aus Klopstocks Dem Allgegenwärtigen. Dort heißt es: Wenige nur, ach wenige sind, Deren Aug’ in der Schöpfung Den Schöpfer sieht! wenige, deren Ohr […] Im Donner, der rollt, oder im lispelnden Bache, Unerschafner! dich vernimt…69

Was bedeutet Hamanns merkwürdige Formulierung, dass der „rollende Donner“ und der „lispelnde Bach“ nicht Gottes Rede sind, sondern nur „Zungen seiner Eigenschaften“? Die nächsten Sätze machen das deutlich. Hamann greift zurück auf die schon zitierte Strophe Klopstocks: „Was sind diese selbst den Engeln unzählbare Welten / Gegen meine Seele!“ Aber er setzt an die Stelle von Klopstocks ungeheurer Selbsterhöhung der menschlichen Seele die Liebe Gottes in seinem erniedrigten Sohn: Was sind alle Sonnen und Erden mit ihrer Harmonie; und die Sprache der Morgensterne unter Engeln und Menschen. Ein tönend Erz – gegen die Liebe, die aus dem Blute Seines Sohnes, Unsers Bruders, des Lammes, das von Anfang der Welt für Uns geschlachtet worden, redet.70

Die „Zungen“ von Gottes „Eigenschaften“ die allein den Schöpfer bejubeln, und den „von Anfang der Welt“ getöteten Sohn übersehen, werden also herabgestuft zu dem leer „tönenden Erz“ der „Engels- und Menschenzungen“ aus 1. Kor. 13, die „der Liebe nicht“ haben. Zu diesem hohlen Tönen werden Klopstocks Selbstruhm und seine „Engel“ zusammengespannt. Und mit dem Hinweis, dass es die „Sprache der Morgensterne“ ist, präzisiert Hamann diese „Engels- und Menschenzungen“ und macht klar, dass nur Gefolgsleute des Morgensterns Lucifer zu solch liebloser Rede verführen. Jetzt wird die Mahnung an den Bruder verständlich: „Lauf nicht zu den Menschen, wenn sie auch Hohepriester wie Eli wären“. Klopstock, der sich offenbar zu den „Wenigen“ zählt, die Gott unmittelbar in der Natur zu „vernehmen“ und ihn einseitig physikotheologisch in der Blume zu „sehen“ wissen, ist doch nur dem Hohepriester Eli gleich, der die 68 ZH I, 401,10–13. 69 Klopstock, Oden, S. 54. 70 ZH I, 401,13–16 (Hervorhebung H.G.).

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wirkliche Stimme Gottes in Hannas Gebet gar nicht versteht, denn „allein ihre Lippen regten sich, und ihre Stimme hörete man nicht. Da meinte Eli, sie wäre trunken.“71 Der junge Hamann hat sich mit der ästhetisch-hermeneutischen Physikotheologie eingehend auseinandergesetzt, weil sie anders als die logisch-metaphysische Physikotheologie die Gegenwärtigkeit, Anwesenheit, den Concursus Gottes in der Schöpfung aufrechterhielt. Weil sie aber eine Anthropologie vertrat, welche die Fehlbarkeit des Menschen vernachlässigte, und deshalb Christologie und Geschichte als Heilsgeschichte ausklammerte, hat er auch diese Form der Physikotheologie verworfen. Die logisch-metaphysische Physikotheologie dagegen, die das kosmische Gesetzeswerk des Schöpfers rühmt, um diesen selbst aus seinem Werk zu verbannen, hatte, wie schon gesagt, in seinem Denken keine Chance. Dennoch hat der junge Herder seinen Lehrer ins Licht dieser Spielart der Physikotheologie gerückt und verspottet. Ich komme deshalb zum Schluss noch einmal auf die von Hamann grundsätzlich und kompromisslos verworfene logisch-metaphysische Physikotheologie zurück. In Herders frühem, parodistischem Angriff auf Hamanns Aesthetica in nuce mit dem Titel: Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie Kabbalistischer Prose, in der er Hamann mehrfach missversteht und fehldeutet,72 stehen folgende Sätze: Was sind Nieuwentyts, Newtons und Buffons Offenbarungen? dem […] Roußeau ein Ärgernis […] – Und auch du, o Philolog! wirst ein Mörder an der schönen griechischen Natur, wenn du ihre Fabellehre abgeschmackt nennest.73

Diese Sätze beziehen sich auf folgende Passage in der Aesthetica in nuce: Mythologie hin! Mythologie her! Poesie ist eine Nachahmung der schönen Natur – und Nieuwentyts, Newtons und Büffons Offenbarungen werden doch wohl eine abgeschmackte Fabellehre vertreten können? – – Freylich sollten sie es thun, und würden es auch thun, wenn sie nur könnten – Warum geschieht es denn nicht? – Weil es unmöglich ist; sagen eure Poeten.74

Für Hamann ist Mythologie in jeder Form Rede von göttlichen Dingen. Mit modernen aufgeklärten Poeten, in deren Poetologie einer „Nachahmung der schönen Natur“ Hamann sich hier ironisch versetzt, braucht man aber über Mythologie gar nicht zu reden, denn für sie ist alle Mythologie ebenso wie die 71 1 Sam 1,13. 72 Vgl. dazu meine Interpretation dieser Herder-Schrift (Hans Graubner : Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose. In: Herder-Handbuch. Hg. von Stefan Greif, Marion Heinz und Heinrich Clairmont. Paderborn 2016, S. 395–422. Für das Folgende bes. S. 413–415). 73 Herder: Frühe Schriften (wie Anm. 4), S. 36. 74 N II, 205,20–25.

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christliche Religion nur eine „abgeschmackte Fabellehre“. Wenn diese aufgeklärten Poeten aber an der „Nachahmung der schönen Natur“ festhalten, wo bekommen sie dann eine Natur her, die sich so poetisch ausnimmt, d. h. von göttlicher Herkunft ist, wie in den alten Mythologien? Eigentlich müsste doch die hochgeschätzte neueste Naturwissenschaft der Nieuwentyts, Newtons und Buffons eine der aufgeklärten Dichtung angemessene Natur bereitstellen. Aber, so spottet Hamann, deren „Offenbarungen“ sind eben keine göttlichen Offenbarungen, und deshalb zur Mythologie-Bildung untauglich. So merken selbst „eure“ eigenen „Poeten“, dass auf die Abstraktion toter Naturgesetzlichkeit keine lebendige Poesie zu gründen ist. Diese Ironie hat Herder nicht beachtet. Er nimmt für bare Münze, dass Hamann die alte Mythologie verachte und dass er die Naturerkenntnis ausgerechnet der Nieuwentyts, Newtons und Buffons für eine poetische Naturnachahmung empfehle, die der alten Mythologie ebenbürtig wäre. Herder umgeht, ja verwirft in seiner Schrift das christologische Zentrum der Aesthetica in nuce und reduziert an dieser Stelle Hamanns Religiosität auf die logisch-metaphysische Physikotheologie. Gegen diese vermeintliche Position Hamanns richtet er dann seinen Angriff. Er nutzt dazu eine ärgerliche Bemerkung Rousseaus im Emile über Nieuwentyt, der den Schöpfergott, den man, wie Rousseau meint, nur erfühlen könne, physikotheologisch beweisen wolle: Ich habe Nieuwentit mit Überraschung und fast mit Entrüstung gelesen. Wie konnte sich dieser Mann unterfangen, ein Buch über die Wunder der Natur zu schreiben, die die Weisheit ihres Schöpfers beweisen sollen? […] Wie man in die Einzelheiten gehen will, verschwindet das größte Wunder : die Harmonie und der Einklang des Ganzen.75

Ersichtlich wendet sich Rousseau aus der Perspektive der ästhetischen Physikotheologie gegen Nieuwentyts logische Physikotheologie, deren teleologischen Gottesbeweis er verachtet. Wenn Herder nun Hamann unterstellt, er empfehle die Naturvorstellungen der Nieuwentyt, Newton und Buffon den modernen Poeten zur Nachahmung, dann macht er Hamann zum Anhänger des teleologischen Gottesbeweises der logisch-metaphysischen Physikotheologie. Zu dieser Fehldeutung passt dann die weitere Unterstellung, Hamann verachte die Mythologie und werde dadurch zum „Mörder an der schönen griechischen Natur“. Den Satz Hamanns: „Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt“,76 der ausdrücklich gegen die Abstraktionen der Naturwissenschaft gerichtet war, glaubt Herder deshalb triumphierend gegen Hamann selbst wenden zu können. Nur seine Fehldeutung dieser Stelle und sein Unverständnis für 75 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung. Übers. von Ludwig Schmidts. Paderborn 1972, S. 287. 76 N II, 206,4f.

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Hamanns christologisches Anliegen in der Aesthetica macht solchen Angriff möglich. Herder wirft in dieser frühen Parodie Hamann vor, dass er nicht geschichtlich denke. Deshalb versucht er, ihn an der zitierten Stelle auf die geschichtslose Physikotheologie der Naturwissenschaft festzulegen. Dass Hamanns Christologisierung der Schöpfungsnatur nichts anderes bedeutet als die Einführung der Geschichte in die Natur, erkennt Herder nicht an, weil sich auf solche Geschichtsauffassung nicht die Fortschrittsgeschichte eines „sich an sich selbst zum Gotte“77 ausbildenden Menschen gründen lässt. Hamann versteht Geschichte als Geschichte des zwiespältigen, gnadenabhängigen, endlichen, nicht als Geschichte des prometheischen Menschen, die der junge Herder favorisiert.78 Hamanns letztliche Verwerfung jeder Spielart von Physikotheologie beruht auf seinem Festhalten an der biblisch-realistischen Anthropologie des sündigen Menschen.

77 Herder: Frühe Schriften (wie Anm. 4), S. 34. 78 Die Identifikation der Vorstellungen Herders und Hamanns von der Ebenbildlichkeit im Blick auf Shaftesburys „Prometheus“ als „Abglanz des Schöpfers“, die Gaier in seinem Kommentar vornimmt (Herder: Frühe Schriften [wie Anm. 4], S. 899), trifft für Hamann nicht zu, der die Ebenbildlichkeit an der zitierten Stelle (N II, 207,2f.) durch den Anmerkungsverweis auf Kol 1,15 ausdrücklich auf Christus bezieht.

Harald Steffes (Düsseldorf)

Von Johanniswürmern und Irrlichtern. Oder: Auf die Schreibart kommt es an. Der Einfluss des James Hervey auf Johann Georg Hamann

Der Einfluss des englischen Pfarrers und Erbauungsschriftstellers James Hervey (1714–1758) auf Johann Georg Hamann ist nicht hinreichend erforscht. Die Bedeutung Herveys für den Magus ist des Öfteren angedeutet, in Teilaspekten entfaltet, aber noch nicht im Zusammenhang dargestellt worden. Dies kann auch hier nicht geschehen. Allerdings sollen weitere Erkundungen unternommen und offene Fragen benannt werden. Ich möchte im Folgenden die Vermutung äußern, dass für Hamann Reiz der Schriften Herveys gerade auch in einer Schreibart liegt, die der biblischen nahekommt, und dieser in jedem Falle eingedenk ist. Um diese These zu erläutern, soll insbesondere auch das in der bisherigen Forschung kaum wahrgenommene Übersetzungsprojekt von 1774 berücksichtigt werden, bevor dann abschließend im Sinne eines Ausblicks hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft die Bedeutung der Schreibart an einem Beispiel verdeutlicht wird.

1.

Hamann als Leser Herveys: grundlegende theologische Einsichten

Am 21. Januar 1756 schreibt Hamann an Johann Gotthelf Lindner und empfiehlt unter anderem zwei Bücher, weil er mit diesen „einige Tage ein wenig mehr Zeit“ zugebracht hat: Young Centaur (wenn Sie ihn haben wollen, melden sie es mir) Hervey erbaulichen Betrachtungen über die Herrlichkeit der Schöpfung u die Mittel der Gnade 2ten Theil der in Gesprächen besteht u sehr vortrefflich ist.1

Am 3. Februar 1756, also keine 14 Tage später, wiederholt er gegenüber Lindner diese Empfehlung: „Lesen sie doch sobald Sie können den zweeten Theil des Hervey. Wenn Sie sich dazu entschließen; so werden Sie mir für die Empfehlung 1 ZH I, 134,24–27.

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u Aufmunterung dazu danken. Er gehört gar nicht zum ersten Theil.“2 Allein diese Aussage genügt um nachzuweisen, dass Hamann Hervey auf Deutsch gelesen hat. Am 28. April richtet er dieselbe Leseempfehlung an den Bruder, samt der Aufforderung, auch dem Vater aus Hervey vorzulesen: „Ließ Hervey, mein lieber Bruder. Ich wünsch mir auch den 3. Theil zu lesen. Vertreib unsern lieben alten Vater des Abends mit diesem Buche die Zeit. Es handelt von dem Grunde unsers Glaubens.“3 Aus einem weiteren Brief an den Bruder, wohl aus dem August 1758, können wir schließen, dass der Magus mittlerweile den 3. Theil offenbar gelesen hat.4 Allerdings findet sich möglicherweise ein noch früherer Beleg unter einem bekannten Datum: „London d[en] 19. März am Palm=Sonntage 1758“. Wir wollen bei diesem Beleg ein wenig verweilen, weil hier erstmals die Art des Einflusses Herveys auf Hamann deutlicher wird. Im Eingangspassus der Biblischen Betrachtungen hält Hamann fest, wem er sich verpflichtet weiß: Wenn mich Anfechtung hat auf das Wort aufmerksam gemacht, so kann ich den Schrift[en] des geistreichen Hervey das Zeugnis geben, was er den Nachtgedanken des ehrwürdigen Schwans dieser Insel schuldig gewesen. Die Lesung dieses frommen Schriftgelehrten hat die Göttlichkeit der Bibel so oft dem Gefühl meiner Seelen mit eb[en] derselben Lebhaftigkeit aufgedrung[en], womit das neugepflanzte Jerusalem das Gesetz Moses von den Lippen Esdras hörte. Er hat mir zu den Vorsatz Anlaß gegeben, meine Betrachtung[en] bey dieser wiederholten Lesung der heil. Schrift aufzusetzen, und die Eindrücke zu sammeln, welche diese oder jene Stelle derselben in mir erwecken und veranlassen wird.5

Hervey wird als Anlass des Vorsatzes benannt, tagebuchartige Aufzeichnungen zu machen. Die entsprechende Empfehlung wird im 3. Theil der von Hamann 2 ZH I, 140,21–24. 3 ZH I, 196,4–7. Die Frage, mit welcher Ausgabe der Schriften Herveys Hamann gearbeitet hat, hat in der Hamannforschung immer wieder zu Missverständnissen geführt. Vergleiche hierzu den in Fußnote 17 genannten Beitrag von Hans Graubner. Der Umstand, dass Teil zwei und Teil drei separat gedruckt sind, und dass Hamann seinem Bruder empfiehlt, dem Vater aus Bd. 2 vorzulesen, lässt meines Erachtens nur den Schluss zu, dass es sich um die dreibändige deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1755 handelt, die in der Biga unter 49/491 aufgeführt ist, wenn auch unzureichend bibliografiert. Ohne Angaben des Autornamens vermeldet das Titelblatt des ersten Bandes: Erbauliche Betrachtungen über die Herrlichkeit der Schöpfung in den Gärten und Feldern. Neue Auflage mit Kupfern. Hamburg und Leipzig 1755. Band 2: Herrn James Hervey : Erbauliche Betrachtungen zwischen Theron und Aspasio, über die Herrlichkeit der Schöpfung und die Mittel der Gnade. Zweyter Theil. Hamburg und Leipzig 1755. Band 3 erschien mit dem gleichen Titel und dem Hinweis „Dritter und letzter Theil“. Vor allem der Umstand, dass Nadler im fünften Band seiner Ausgabe bei der Auflistung der „Verfasser der Biga“ zwar einen Hinweis auf die englische Ausgabe unter 53/569 gibt, einen entsprechenden Hinweis auf die deutsche Ausgabe unter 48/490f aber verabsäumt, hat dazu beigetragen, die englische Ausgabe für die vermeintlich entscheidende zu halten. 4 ZH I, 243,36–244,2. 5 Londoner Schriften, 66,6–16.

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genutzten deutschen Herveyausgabe ausgesprochen, genauer im XIV. Gespräch zwischen Theron und Aspasio. Aspasio ist ein Anhänger eines weitgehend orthodoxen Glaubens und quasi das Sprachrohr Herveys. Sein Gesprächspartner Theron hingegen vertritt immer wieder Positionen der englischen Aufklärung in verschiedenen Schattierungen. Aspasio hat Schwierigkeiten, seine Sündenlehre und die Notwendigkeit der Rechtfertigung zu vermitteln. Schließlich fragt er im VIII. Gespräch: Sagen Sie mir doch, welches ist die Richtschnur, nach welchen diese Werke der Gerechtigkeit müssen eingerichtet seyn, und nach welcher ihre Zulänglichkeit mag entschieden werden? Theron. Das sittliche Gesetz, ohne Zweifel. Ich kenne keine andere Richtschnur der Gerechtigkeit, noch irgend einen andern Weg, gerecht zu werden.6

Nach mehreren hundert Seiten intensiver Gespräche gesteht Theron: „Ich bin beynahe ein Bekehrter.“7 Beinahe. Noch hält ihn eine Sorge zurück, sein Haupteinwurf gegen Aspasio: Verliert die Sittenlehre nicht, wenn die Rechtfertigung so hoch angesetzt wird, wie Aspasio das durch alle Gespräche hindurch getan hatte?8 Aspasio begreift, dass er diese aufgeklärte Sorge argumentativ nicht wird ausräumen können. Der einzige, der Theron hier weiterhelfen kann, ist Theron selbst. Was Theron fehlt, ist die Erkenntnis der Grenzen der Sittenlehre, d. h. die Empfindung des großen Verderbens. Wer noch an die eigene Sittlichkeit glaubt, hat für die Notwendigkeit der Rechtfertigung9 allein aus Glauben keinen Bedarf: „So lange es uns an diesen Ueberzeugungen fehlet, werden unsere Seelen einem vollen Magen ähnlich seyn, dem auch für [vor] Honig ekelt.“10 Das Motiv der Überfüllung wird bekanntlich bei Hamann in London inklusive des Hinweises auf schlechte Verdauung auf verschiedenen Ebenen mehrfach eine Rolle spielen. Auch Hervey weiß: „Wenn Leute eifrig sind, eine Menge Schriften zu lesen: so ereignet es sich häufig, daß, indem sie alles lesen, sie nichts verdauen.“11 Gegen überfüllte Mägen, überfüllt mit falschen Erkenntnissen und Sicherheiten, wird Hamann nach seiner Rückkehr aus London in Form seines Erstlingswerkes ein Abführmittel zubereiten. Aspasio schlägt auf Nachfrage ein anderes Mittel vor, um sich vorzubereiten für den Empfang der richtigen Erkenntnis. In gut pietistischer Tradition und mit Hinweis auf Horaz empfiehlt er die Haltung eines Tagebuchs als „geheime His6 7 8 9

James Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 2. Theil (wie Anm. 3), S. 402. James Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 3. Theil (wie Anm. 3), S. 168. Ebd., S. 170. Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 2. Theil (wie Anm. 3), S. 196 und 214. Entfaltet wird die Rechtfertigung hier als Zurechnung, nicht als Eingießung. 10 Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 3. Theil (wie Anm. 3), S. 178. 11 Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 2. Theil (wie Anm. 3), S. 301.

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torie [des] Herzens“.12 Bevor er eine längere Reise antritt (!), empfiehlt Aspasio eindringlich: Sie haben sich über meine Meynung von der Verderbniß unserer Natur und der Unzulänglichkeit unserer Gerechtigkeit gewundert. Diese kann einem Gemüthe, das sich selbst noch nicht kennet, wunderbar und erstaunlich vorkommen. So bald Sie aber ihr Herz durch dieses Mittel erforschet, so bald Sie den Puls ihrer Seele durch die Selbstprüfung werden gefühlet haben, werden sie besser fähig, meine Gedanken zu beurtheilen, und die Ursachen meines Glaubens einzusehen. Durch dieses Mittel entdecken wir auch diejenigen Sünden, die uns am leichtesten belagern, die unsere Wachsamkeit am meisten fruchtlos machen, und unsere Entschließungen zurück treiben. Wir lernen dadurch, wie wir unsere Wachen ausstellen sollen, wenn wir am allerwachsamsten seyn müssen, und bey welchen Gelegenheiten wir vornehmlich unsere Zuflucht zum Gebethe nehmen müssen. Mit einem Worte, wir lernen daraus besser, als aus zehn tausend Büchern, uns selbst kennen.13

Und gerade wenn man sich fragen möchte, ob Selbsterkenntnis eine ohne Weiteres verfügbare Möglichkeit des Menschen ist, und ob Sündenerkenntnis angeordnet werden kann, setzt Hervey einen wichtigen Akzent, der durch ein Juvenalzitat in ein dem Hamannleser vertrautes Doppellicht gerät. Nicht das spekulative Aufsteigen der Vernunft zu den Ideen, sondern die Herabkunft der Weisheit zu den Menschen ebnet den Weg zur Selbsterkenntnis. Diese Selbsterkenntnis nennt Hervey „[e]ine Kenntniß, wovon die alten Weltweisen glaubten, daß sie vom Himmel herab käme. E coelo descendit, cmy¢i seautom. Juven.“14 Das biblische Motiv der Kondeszendenz (vgl. insbes. Phil 2,7f., Joh 1,14; 3,13) wird also von Hervey in ähnlicher Weise mit der sokratischen Tradition verknüpft, wie es dann auch bei Hamann der Fall ist. Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis ist somit für Hamann wie für Hervey erst angesichts desjenigen, der vom Himmel herabstieg, eine sinnvolle Forderung.15 Der zweite Teil der Hamannschen Danksagung mag durch diese Kontextualisierung in ihrer Tiefendimension mithin deutlicher sein. Jenseits der Frage, ob und wie Hamanns Entschluss, seine Biblischen Betrachtungen zu Papier zu bringen, nun genau mit dieser Stelle bei Hervey verbunden ist, wollen wir das Augenmerk zurück auf den ersten Teil von Hamanns Danksagung an Hervey lenken:

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Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 3. Theil (wie Anm. 3), S. 181. Ebd., S. 183. Ebd., S. 183f. Das Juvenalzitat ist als Anmerkung gedruckt. Das Verb descendit im Juvenalzitat kann als Präsens oder als Perfekt gelesen werden. Die christologische Lesart, die wir bei Hervey und Hamann finden, akzentuiert vermutlich das Perfekt: er, der Sohn Gottes, ist herabgestiegen.

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Wenn mich Anfechtung hat auf das Wort aufmerksam gemacht, so kann ich den Schrift[en] des geistreichen Hervey das Zeugnis geben, was er den Nachtgedanken des ehrwürdigen Schwans dieser Insel schuldig gewesen. Die Lesung dieses frommen Schriftgelehrten hat die Göttlichkeit der Bibel so oft dem Gefühl meiner Seelen mit eb[en] derselben Lebhaftigkeit aufgedrung[en], womit das neugepflanzte Jerusalem das Gesetz Moses von den Lippen Esdras hörte.16

Die Lesung Herveys hat „so oft dem Gefühl [von Hamanns Seele] die Göttlichkeit der Bibel […] aufgedrungen“? Was bedeutet das genau? Bedarf die Heilige Schrift eines externen Zeugnisses für ihre „Göttlichkeit“? Jedenfalls scheint Hervey für den Magus doch eine ermutigende und anleitende Bedeutung zu haben. Und wenn er ihn in den Zusammenhang mit Edward Young stellt, scheint das ein Hinweis darauf zu sein, dass es ihm nicht ausschließlich um theologische Inhalte, sondern auch auf die entsprechende schriftstellerische Darstellung ankommt. In der Auslegung des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn wird Hamann nochmals explizit auf Hervey zu sprechen kommen, an vielen anderen Stellen ist er implizit präsent. Diese implizite Präsenz wurde bislang jeweils für bestimmte einzelne Theologumena belegt. Karlfried Gründer hat die Bedeutung der Herveyschen Kondeszendenzlehre für Hamann benannt. Sven-Aage Jørgensen und Elfriede Büchsel haben die Ähnlichkeiten des hermeneutischen Ansatzes des englischen Autors und seines deutschen Lesers skizziert. Aber es hat immerhin bis 2012 gedauert, bis die Textbasis inklusive der zugrunde liegenden Ausgaben korrekt benannt wurde, die Hamann im Blick auf die beiden Hauptwerke Herveys zur Verfügung stand.17 Bereits Johannes von Lüpke hatte die beiden in der dreibändigen Ausgabe verbundenen Werke unterschieden und zugleich dargelegt, dass die gemeinsame Pointe in Sachen Kondeszendenz in der jeweiligen schöpfungstheologischen Zuspitzung bzw. der christologischen Schöpfungslehre zu finden ist.18 Hans Graubner schließlich war es, 16 Londoner Schriften, 66. 17 Hans Graubner : ,Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse‘. Der Theodizee-Entwurf des jungen Hamann in der Auseinandersetzung mit Hume, Sulzer, Shuckford und Hervey. In: Acta 2006, 255–291, hier 257. 18 Johannes von Lüpke: Hamanns ,Brocken‘ und ihre englischen Hintergründe. In: Acta 1996, 41–58, hier 54. In einer Spitzenformulierung redet Hervey gar von dem „menschgewordenen Schöpfer“, Hervey : Erbauliche Betrachtungen, Bd. 1 (wie Anm. 3), S. 160. Vgl. ebd., S, 80: „Der Schöpfer aller dieser Dinge ist am Kreuz gestorben“. Diese christologische Zuspitzung der Schöpfungslehre findet sich auch in Hamanns Königsberger Umfeld. Martin Knutzen veröffentlichte 1747 eine Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift. Dort beschäftigt sich Hamanns Lehrer mit der Frage, warum die Genesis so häufig und deutlich vom Sprechen Gottes berichtet: „so hat Moses hiedurch anzeigen wollen, daß die Erschaffung der Welt die ihrer Art nach dem Sprechen zu vergleichen, auch darinn demselben ähnlich, daß sie von dem wesentlichen innern Worte der selbstständigen Weisheit dem Sohne GOTTES auf besondere Art herrühret, durch dessen Vermittlung gleichsam erst GOTT der Vater, als der

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der als für Hamann relevante Themen der Herveyschen Streitgespräche neben der Kondeszendenz und der Rechtfertigungslehre, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium und vor allem die Lehre vom Sündenfall erkannt und im entsprechenden Kontext weiterer englischer Autoren dargestellt hat.19 All diese jüngeren Forschungsbeiträge sind darin verbunden, dass sie weit über die Wahrnehmungen des Engländers in der Forschung bis 1950 hinausgehen. So erwähnt beispielsweise Rudolf Unger in seinem Klassiker außer dem Hinweis auf Hamanns Hervey-Übersetzung des Jahres 1774 lediglich, dass dieser ein „glühender Bewunderer Youngs“20 gewesen sei, was sich allerdings bereits aus Hamanns eigenen Aussagen zu Hervey ergibt. Auch Nadler würdigt Hervey nur des Hinweises, dass sein Name in den frühen Briefen genannt werde. Unger gibt dann 1929 in einem Aufsatz immerhin erste Hinweise auf das Thema Kondeszendenz bei Hervey, bescheinigt ihm allerdings lediglich eine „fromme Rührung“21 und „naive Physikotheologie“.22 Hamann selbst hatte bereits im Februar 1756 erkannt, was erst Hans Graubner wieder betont hat: der theologische Standpunkt Herveys wandelt sich vom ersten zum zweiten Band erheblich. Lediglich der erste Band ist physikotheologisch geprägt, der zweite hat bereits eine ganz andere theologische Ausrichtung. Daher die schon zitierte Anweisung Hamanns: „Lesen sie doch sobald Sie können den zweeten Theil des Hervey. Wenn Sie sich dazu entschließen; so werden Sie mir für die Empfehlung u Aufmunterung dazu danken. Er gehört gar nicht zum ersten Theil.“23 Alle genannten Theologumena können und müssen durch weitere Passagen aus Hervey belegt werden. Dabei wird sich zeigen, dass diese häufig gar nicht nur eindeutig im Sinne von Hamanns Luthertum formuliert werden, sondern

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Grund der Gottheit, die Welt hervorgebracht.“ Gut zugänglich ist der genannte Text als Beigabe in: Martin Knutzen: Philosophischer Beweis von der Wahrheit der christlichen Religion (1747). Eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Ulrich L. Lehner, Nordhausen 2005. Das wiedergegebene Zitat findet sich dort S. 237. Graubner : ,Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse‘ (wie Anm. 17), S. 258. Rudolf Unger : Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. Bd. 1. Halle a. S. 21925. Repr. Darmstadt 1963, S. 219. Rudolf Unger : Hamann und die Empfindsamkeit. Ein Beitrag zur Frage nach der geistesgeschichtlichen Struktur und Entwicklung des neueren deutschen Irrationalismus. In: Euphorion 30 (1929), S. 154–175; wiederabgedruckt in Ders.: Gesammelte Studien. Bd. 2. Aufsätze zur Literatur- und Geistesgeschichte. Berlin 1929, S. 17–39, hier S. 23. Ebd., S. 22. Zu zwei Spielarten der Physikotheologie (eine logisch-metaphysische und eine ästhetisch-hermeneutische), zu Hamanns Verhältnis zu denselben und zu seiner letztlichen Verwerfung der gesamten Physikotheologie zugunsten der Einheit der Kondeszendenz vgl. den Beitrag von Hans Graubner in diesem Band, besonders S. 37ff. ZH I, 140, 21–24. Die einseitige und darin falsche Zuordnung Herveys zur Physikotheologie findet sich noch bei Henri Veldhuis: Ein versiegeltes Buch. Der Naturbegriff in der Theologie J. G. Hamanns (1730–1788), Berlin/New York 1994, S. 52.

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durchaus kontroverses Potential haben. So handelt sich Aspasio ausgerechnet von Theron angesichts seiner Betonung, Rechtfertigung werde nicht im Sinne einer Eingießung, sondern im Sinne einer Zurechnung für Menschen wirksam, den Vorwurf ein, er sei womöglich Puritaner.24 Und Puritaner nennt er andernorts explizit Feinde unserer Kirche.25

2.

Das Sokratesbild bei Hervey und Hamann

Hamann und Hervey sind durch weitere, bislang nicht genannte Themenkomplexe miteinander verbunden. Dies gilt zuallererst für die Einflüsse, die Hervey auf Hamanns Sokratesbild genommen hat. Auch jenseits bestimmter Einzelmotive, die in den Sokratischen Denkwürdigkeiten wieder begegnen, z. B. die Betonung, dass Sokrates die Gratien entgegen der Mode der Zeit bekleidet darstellt, beeinflusst Herveys Darstellung des Atheners den Magus. Inwiefern? Hamanns sonstige Quellen, Cooper, Charpentier, Heumann etc. betreiben Hagiographie: Sokrates erscheint als der Inbegriff menschlicher Möglichkeiten, als Verwirklichung der menschlichen Vernünftigkeit, als Personifikation der Sittlichkeit etc. Sokrates ist in den Darstellungen der Aufklärung, wie sie Hamann zur Kenntnis nehmen konnte, das in sich selbst ruhende ideale Individuum. Hamann hingegen zeichnet ihn in Abhängigkeit von einer externen Größe, seinem daimonion, und macht sich explizit lustig über alle allzu seichten Versuche, das daimonion rationalistisch zu erklären. Hervey scheint die einzige (!) sokratische Quelle Hamanns zu sein, die auch die Grenzen des Sokrates klar benennt. In einem langen Gespräch über die menschliche Natur, bei dem die Ruinen Babylons samt Bruchstücken des Turms aus Gen 11 als Kulisse dienen, wird die Grenze aller menschlichen Bemühungen benannt: Es ist anitzo kein System, keine völlige Verbindung zusammenhängender Wahrheiten, keine ganze heilige Gestalt mehr zu finden, es zeigen sich nur bloß einig abgesonderte Stücke.

24 Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 2. Theil (wie Anm. 3), S. 55. Theron unterstreicht (ebd., S. 56): „der besondere Begriff von einer zugerechneten Gerechtigkeit ist mir stets in einem sehr lächerlichen Lichte erschienen. Und ich muß Ihnen sagen, daß ein solches puritanisches Nostrum [sic] eine sehr unanständige Figur unter Ihren anderen männlichen und richtigen Gedanken von der Religion machet.“ 25 Scharf attackiert Theron (ebd., S. 224) diese „ehrgeizigen und unverständlich redenden Heuchler, die Puritaner […] welche die alten abgesagten Feinde unserer Einrichtung sind“. Bekanntermaßen wurde Hervey selbst in seiner Frühzeit vom Puritaner John Wesley geprägt. Hier ist allerdings weniger eine Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit zu vermuten, als vielmehr der Versuch, im Munde einer seiner Figuren, das gesamte Spektrum der religiösen Strömungen inklusive der zeitgenössischen Verwerfungen wahrzunehmen.

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Und wenn sich auch einige mit großer Mühe und Arbeit befleißigen, hier ein Stück und dort ein anderes herauszuziehen und sie zusammenzusetzen, so zeuget solches zwar von der Vortrefflichkeit der göttlichen Ausarbeitung in der ursprünglichen Zusammensetzung, kann aber anitzo nicht mehr zu denen edlen Endzwecken dienen, wozu das Ganze anfänglich bestimmet war.26

Inmitten einer Szenerie von Brocken und Fragmenten, die nicht wieder in die ursprüngliche Form zu bringen sind, finden sich trotzdem Bemühungen von Menschen, die nach Wahrheiten suchen. Sind diese erfolgreich? Die allernützlichsten Wahrheiten werden, ob sie gleich dem Gesichte nicht sonderlich verborgen sind, am allerwenigsten geachtet […]. [Die Wahrheit] scheint als ein gar zu schwaches Licht in der bösartigen Finsterniß, die sie nicht begreift.27 [vgl. Joh 1]

Immerhin ist Aspasio bereit, [w]as Milton dem gefallenen Erzengel zuläßt, [… ] dem gefallenen Menschen bereitwillig zulassen, daß er nämlich nicht alle seine ursprüngliche Klarheit verloren habe. Die grossen und vorzüglichen Kräfte der Seele bleiben ihm noch übrig.28

Zuvorderst bleibt ihm die Kraft der Vernunft, deren Ambivalenz mit einer Frage festgehalten wird: „Besitzen aber nicht auch selbst die Teufel die Kraft der Vernunft?“ Das ist die Stelle, an der nun diskutiert wird, ob diese anthropologische Beschreibung wirklich für alle Individuen gilt, oder ob nicht vielleicht doch Ausnahmen möglich sind. Dies muss untersucht werden. Aspasio überlässt Theron die Wahl, anhand welchen Individuums diese Frage nun erörtert werden soll. Theron entscheidet sich für Sokrates. „Er war unstreitig der weiseste und beste in der heidnischen Welt.“ Aspasio ist derselben Meinung. Und doch endet dieser Gesprächsgang in einem negativen Fazit: Sie sehen also, daß sich selbst bey ihrem allervollkommensten Charakter keine angebohrene Würde gefunden. Alles war von außen dazu gekommen.29

Ausgerechnet ein Erbauungsschriftsteller zeigt Hamann, dass man sich getrost auf Gespräche über die Ikone der aufgeklärten Anthropologie einlassen kann. Ausgerechnet ein Erbauungsschriftsteller zeigt Hamann, dass sich das Gespräch 26 27 28 29

Ebd., S. 548. Ebd., S. 549. Ebd., S. 551. Ebd., S. 555f. Es ist also nicht die Natur des Menschen, die ihn wahrheitsfähig machen würde, sondern ihm geschenkte Gnade. Von daher ist es folgerichtig, dass Hervey in einer ausführlichen Fußnote an Sokrates insbesondere „seine eingewurzelte Gewohnheit des Schwörens“ kritisiert (ebd., S. 555). Hamann greift diese Kritik in den Sokratischen Denkwürdigkeiten auf (N II, 80,26–29): „Plato läßt [Sokrates] in seinen Gesprächen öfterer bey den Göttern schwören als ein verliebter Stutzer bey seiner Seele oder ein irrender Ritter bey den Furien seiner Ahnen lügt.“

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darüber lohnt, was Sokrates zu Sokrates, und was den Menschen zum Menschen macht.30 Ergänzt wird dieses Tableau an gemeinsamen Themen durch die Vorliebe für bestimmte Autoren, allen voran Edward Young, der wohl nicht zufällig in den Biblischen Betrachtungen wie gesehen im unmittelbaren Zusammenhang mit Hervey genannt wird. Auffällig ist auch ein Phänomen, das man ,parallelisierte Assoziation‘ hinsichtlich biblischer Belege nennen könnte. Ein Beispiel: Hervey beschäftigt das Thema „Unwissenheit“ und er wählt als biblischen Beleg (mit der Nennung Agurs als mutmaßlichem Autor) Proverbia 30,2.31 Hamann beschäftigt sich in den Fünf Hirtenbriefen ebenfalls mit dem Thema Unwissenheit und wählt als biblischen Beleg mit der Nennung Agurs als mutmaßlichem Autor ebenfalls Proverbia 30,2.32 Dies wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht beide als zweiten Beleg jeweils den 22. Vers aus Ps 73 wählen würden.33 Man muss diese parallelisierten Assoziationen nicht überbewerten. Was sie motiviert, erschließt sich am ehesten, wenn wir weitersehen.

3.

Lesarten im Buch der Geschichte: Hamanns Übersetzungsprojekt von 1774 und die Frage nach der angemessenen Schreibart

Alle bisherigen Überlegungen und Erörterungen beziehen sich vornehmlich auf die Zeit vor und in London. Aber auch nach London hält Hamanns Interesse an Hervey offensichtlich an, wie ein Blick in die Biga Bibliothecarum belegt. Hier finden sich unter anderem Herveys Remarks on Lord Bolingbroke in der zweiten Ausgabe von 1762 und eine nach Herveys Tod erschienene zweibändige Auswahledition seiner Briefe aus dem Jahr 1760, der auch in der deutschen Edition eine biographische Skizze beigegeben ist. Diese Skizze erwähnt zwei englische Werke, zu denen Hervey jeweils ein Vorwort beigesteuert hat. Beide Werke sind in der Biga prompt verzeichnet.34

30 Anders als bei Zinzendorf und Mendelssohn findet hier also keine Identifikation mit Sokrates statt. Vgl. den Brief an Kant, in dem er jenem bereitwillig die Rolle des Sokrates zuweist (ZH I, 373,28–34)! 31 Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 3. Theil (wie Anm. 3), S. 104. 32 N II, 364,30. 33 Ein weiteres Beispiel wäre der Umgang mit den vierzig Wüstenjahren in Dtn 8. 34 Jenk’s Meditations 53/572 (N V, 42) und Marshalls Gospel Mystery 53/574 (ebd.). Daneben findet sich ein Predigtband Herveys (Three Sermons preached on public Fast-Days) 54/579 (ebd.).

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Auch im Briefwechsel bleibt Hervey nach London zunächst präsent. Im Juni 1759 erörtert Hamann das Thema der Kondeszendenz, indem er verschiedene „Entäußerungen“ unterscheidet, und erinnert sich daran „im Hervey eine Anmerkung über den Wohlstand der Gleichniße, die man auf Gott brauchen darf,“35 gelesen zu haben. Im Januar 1760 bekommen Lindner und Hamanns Bruder diverse Schriften Herveys als Leihgabe: „Herveys verlangte Schriften nebst den Fortsetzungen und 3 Kleinigkeiten die ich ihm ausgesucht.“36 An Lindner im März 1761: „Eine Revue meiner eigenen Fehler macht mir eben so viel Vergnügen als ein Hervey auf einem Kirchhof genüßt.“37 An Lindner im Mai 1761: „Skeltons offenbarte Deisterey [ … ] ist der ältere Bruder von Herveys Theron und Aspasio.“38 Im Februar 1763 charakterisiert er für Lindner ein wohl erst 1762 auf Englisch erschienenes Werk: „Herveys gottseel. Erziehung der Töchter ist ein kleiner platonischer Schattenriß einer Familie […].“39 Danach verschwindet der Name Herveys vorübergehend aus den Briefen, bis er in den 1770ern im Zusammenhang mit der Bolingbroke-Hervey-Hunter-

35 ZH I, 352,4–8. 36 ZH II, 3,18f.; vgl. ZH II, 2,24f. 37 ZH II, 75,17–19. Auf welches Vergnügen Herveys der Magus hier anspielt, ist leider nicht genau ermittelbar. Der Kontext dieser Stelle lässt aber eine Vermutung zu. Unmittelbar vor dem Hinweis auf Hervey berichtet Hamann vom Verlust wichtiger Aufzeichnungen: „Alle meine Papiere über die Bibel sind verloren gegangen“ (ebd. 75, 11f). Hervey legt in den „Betrachtungen bei den Gräbern“ (Erbauliche Betrachtungen, Bd. 1 [wie Anm. 3], S. 457–560, hier S. 487f.) dar, inwiefern Schicksalsschläge durch die Einsicht in die göttliche Fürsorge relativiert werden: „Gott lenket dasjenige, was die Menschen ein Ungefähr nennen. Nichts, nichts kömmt von einem blinden, und ununterscheidenden Schicksale. Wenn sich Zufälle zutragen, so tragen sie sich nach dem genauen Vorherwissen, und zu Folge der überlegten Rathschläge der allmächtigen Weisheit zu.“ Möglicherweise tröstet sich Hamann also über den Verlust seiner Papiere durch ein Vertrauen auf die „überlegten Rathschläge der allmächtigen Weisheit“. Vgl. N II, 64,19–31. 38 ZH II, 89,32–34. Gemeint: Philip Skelton: Deism revealed. Or, the attack on Christianity candidly reviewed in its real merits, as they stand in the celebrated writings of Lord Herbert. The second edition. With amendments. In two volumes. 1749. – Eine deutsche Übersetzung wurde erstellt von Matthias Theodor Christoph Mittelstedt: Die offenbarte Deisterey, oder, Unparteyische Untersuchung der Angriffe und Einwendungen gegen das Christenthum: nach ihrem eigentlichen Werthe : und nach dem vornehmsten Inhalte der berüchtigten Schriften von Lord Herbert, Lord Shaftesbury, Hobbes, Toland, Tindal, Collins, Mandeville, Dodwell, Woolston, Morgan, Chubb, und andern. Verlegts sel. Lud. Schröders Erben, 1756, Bände 1–2, 428 Seiten. Der Umstand, dass Hamann hier ziemlich exakt den Titel der deutschen Übersetzung zitiert, legt die Vermutung nahe, dass er auch hier wie im Falle von Hervey und Newton die deutsche Ausgabe verwendet. 39 ZH II, 190,27f. Bei dem im Online-Kommentar zu Hamanns Briefen nicht einmal als nicht entschlüsselt genannten Werk handelt es sich um: A treatise on the religious education of daughters. By the late Rev. Mr. James Hervey, A.M. Rector of Weston Favell, in Northamptonshire. [Two lines from Proverbs] Published 1762.

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Übersetzung verschiedentlich wieder auftaucht.40 Diese Übersetzung ist ein eigenes Thema, das hier eher angerissen als entfaltet wird. Immerhin mag dies in einer bestimmten Perspektive geschehen. Die leitende Vermutung ist dabei, dass bei der Vielzahl der theologischen Topoi, die Hamann bei Hervey entdeckt, aufgreift und produktiv rezipiert, vor allem ein Aspekt sein Interesse und seine Zustimmung gefunden hat. Aus der Einsicht in die radikale Kondeszendenz der biblischen Schreibart ergeben sich nicht nur hermeneutische Einsichten, sondern auch hermeneutische Verpflichtungen. Es geht also um Herveys Schreibart, die aus Hamanns Perspektive der biblischen Schreibart sehr nahe kommt. Bereits Hans Graubner und Johannes von Lüpke haben darauf hingewiesen, dass Hervey wie Hamann der Meinung sind, durch die Heilige Schrift sei das Buch der Natur lesbar zu machen. Ein einschlägiges Statement findet sich gleich zu Beginn der Betrachtungen zwischen Theron und Aspasio über die Herrlichkeit der Schöpfung und die Mittel der Gnade: Ich muß es gestehen, ich bewundere selbst die Sprache der Bibel. Hierinnen, dünkt mich, erkenne ich eine Gleichförmigkeit zwischen dem Buche der Natur und dem Buche der Schrift. In dem Buche der Natur redet der göttliche Lehrer nicht bloß zu unsern Ohren, sondern zu allen unsern Sinnen. Und es ist sehr merkwürdig, wie er seine Anreden verändert! – Man beobachte seine großen und herrlichen Werke. In diesen bedientet er sich der majestätischen Schreibart. Wir können sie das wahrhaftig Erhabene nennen. Es rühret mit Ehrfurcht und entzücket das Gemüth. – Man sehe seine ordentlichen Wirkungen an. Hier läßt er sich zu einer schlechtern Mundart herab. Diese mag man die vertrauliche oder gemeine Schreibart nennen. Wir begreifen sie leicht und geben mit Vergnügen darauf Achtung. – In den mehr ausgeschmückten Theilen der Schöpfung kleidet er seine Meynung zierlich ein. Alles ist reich und schimmernd. Wir werden ergötzet, wir werden gereizet. Und was ist dieses anders, als die geschmückte Schreibart.41

Hans Graubner hat darauf hingewiesen, dass diese „Pluralität der Anreden“, der „Gedanke, dass Gottes sprachliche Kondeszendenz soweit geht, für die Be40 An Friedrich Nicolai am 22. September 1771; ZH III, 6,10–13: „Ich habe noch eine kleine Uebersetzung liegen, die Hervey und Bollingbroke betrifft, und mit der ich gern als Uebersetzer in jedem Verstande Abschied nehmen möchte. Dies Feld soll der Rücken meiner Mutter seyn.“ An Friedrich Carl von Moser am 27. Februar 1774 (ZH III, 71,2–15) mit der Einschätzung, dass es wohl ein „Selbstbetrug“ sei, der Rohling könne auf breites Interesse stoßen. An Friedrich Carl von Moser am 27. Februar 1774 (1. Entwurf), ZH III, 418f: „Ich hatte noch ein Stück und eine Beyl. besprochen für diesen Monath fertig gemacht, zum besten meiner unvollendeten Bolingbrok-Hervey-Hunterschen Uebersetzung aber vergebens wenn nicht alle kleine desappointemens meiner Autorschaft selbige zu neuen ressourcen dienten müsten.“ Vgl. auch den zweiten Entwurf, ZH III, 422f und den Brief an Johann Gottfried Herder am 12. Dezember 1779; ZH IV, 138,1–13, wo die Übersetzung in einem merkwürdigen Zusammenhang erscheint. 41 Erbauliche Betrachtungen, 2. Theil (wie Anm. 3), S. 20f.

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schaffenheit der jeweiligen menschlichen ,Mundart‘ sogar selbst ,Dialekt‘ zu sprechen,“ bis in die Aesthetica in nuce für Hamann leitend wurde.42 Da es sich bei Herveys Betrachtungen nicht so sehr um einen systematischen, als vielmehr um einen literarischen Text handelt, ist meines Erachtens nun zu beachten, wer diese Äußerung (nicht die einzige ihrer Art, aber besonders prägnant) macht, und an welcher Stelle dies geschieht. Die Anerkennung der „Gleichförmigkeit zwischen dem Buche der Natur und dem Buche der Schrift“ stammt nicht etwa von Aspasio, der sichtlich mit Herveys eigener Position zu identifizieren ist, sondern von seinem Gesprächspartner Theron, der eine deutlich theistische Haltung repräsentiert. Noch dazu stammt diese Passage bereits aus dem ersten ihrer Gespräche. D. h.: das Buch der Natur von der Heiligen Schrift her zu lesen, scheint selbst für einen Theisten ohne Weiteres denkbar. Wie aber sieht es aus mit dem Buch der Geschichte? Genau das ist die Frage, die in der Konstellation Bolingbroke/Hervey thematisch werden wird. Vor allem die entstehende Bibelkritik des 17. und 18. Jahrhunderts hat insbesondere in der Frage, ob der Pentateuch, speziell die Genesis, ernstlich als korrekte Darstellung der frühen Menschheitsgeschichte gelesen werden kann, einen gewaltigen Keil zwischen die Heilige Schrift und das Buch der Geschichte zu treiben gewusst. Im Blick auf die bekannten Bahnbrecher dieser Fragestellung wurde in jüngerer Zeit von einer „unholy trinity of writers” gesprochen.43 Gemeint sind Hobbes Leviathan (1651), La PeyrHre Praeadamitae (1655) und Spinoza Tractatus Theologico Politicus (1670). Auf den mittleren dieser Skeptiker, was die Historizität der Genesis betrifft, bezieht sich unter anderem auch Lord Bolingbroke. Bolingbroke ist diesbezüglich der Gegner mancher Autoren des 18. Jahrhunderts.44 42 Graubner : ,Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse‘ (wie Anm. 17), S. 264f. 43 Noel Malcolm: Aspects of Hobbes, Oxford 2002, S. 387, zitiert nach: Isaac La PeyrHre: Praeadamitae – Systema theologicum (1655), Übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Herbert Jaumann und Reimund B. Sdzuj unter Mitarbeit von Franziska Borkert, Stuttgart-Bad Cannstatt 2019, S. VIII. 44 Genannt sei etwa Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Seine Briefe über die mosaischen Schriften und Philosophie publizierte er 1762 als Streitschrift gegen jene „gottlosen“ Deisten, die sich Bolingbroke anschließen. Deren jüngste Publikationen empfindet er als „Beweis, daß der Deistische Witz schon sehr erschöpft seyn muß, nichts als die alten Anfälle und die alten Waffen, die vom Hobbes an unter den Deisten als ein Fideicommiß fortzuerben scheinen, und vermuthlich nun von ihrem letzten würdigen Besitzer, dem Lord Bolingbroke dem H…., zu Theil geworden. Er scheint auch dieselbige Dreistigkeit, womit diese Herren ihre Anfälle thun, zugleich mit überkommen zu haben. Denn ob sie sich gleich noch nicht des geringsten Vortheils rühmen können, so ziehen sie doch allemal mit einem Geschrey zu Felde, als wenn sie unüberwindlich wären. Von dem Pöbel unserer Deisten kann man zwar nichts anders erwarten. Die meisten kennen die Geschichte ihrer eigenen Kriege nicht. Ihre Unwissenheit gibt Ihnen allezeit neuen Muth, und ihr blinder Haß gegen die Religion macht auch, daß ihnen alles, was ihnen in die Hände kömmt, zum Angrif gut genug ist.“ Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem: Schriften. Bd. 1, Briefe über die mosaischen Schriften und Philosophie.

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Der Konstellation Hervey/Lord Bolingbroke widmet sich Hamann 1774 in einem Übersetzungsprojekt, bei dem es auch und gerade um die Frage nach der richtigen Schreibart geht. Hamann bringt drei aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte Texte bzw. Textausschnitte zum Druck. Was treibt Hamann zu diesem Projekt? Wir wissen es nicht genau. Gegenüber Moser äußert er selbst Zweifel, ob die Zusammenstellung der drei ausgewählten Texte überzeugend ist. Andererseits betont er in der Vorrede: „Dies sey meine letzte Uebersetzung! so wie sie vielleicht die erste ist, der ich mich aus eigener Wahl unterzogen habe.“ Dass er dieses Projekt aus eigenem Antrieb heraus betreibt, belegt, dass damit eine besondere Intention verbunden sein muss. Er gewährt zudem Einblick in den ursprünglichen Plan, dieser kleinen Sammlung ein Sendschreiben an Aspasie mit einem Motto, das eine Folge des Herveyschen aus dem Horaz gewesen wäre, anzuhängen, und zwar über die uralte Fehde zwischen Vernunft und Offenbarung, Moral und Religion und über ihre beyderseitige Verhältnis zur Politik.45

Für seine Übersetzung stellt Hamann folgende Texte zusammen: 1. Lord Bolingbroke’s Betrachtungen über den Zustand der alten Geschichte, aus dem dritten seiner Briefe über die Erlernung und den Gebrauch der Geschichte. Entnommen ist dieser Text den 1752 erschienenen Letters on the Study and Use of History, p. 59–94. 2. Jakob Herveys Anmerkungen über Lord Bolingbroke’s Briefe, in so fern selbige die Geschichte des alten Testaments und besonders den Fluch des Noah über den Kanaan betreffen, zuerst erschienen 1752. Der Übersetzung zugrunde gelegt wurde die auch in der BiGa genannte 2. Auflage aus dem Jahre 1762.46 3. Textauszüge aus einem Buch von Thomas Hunter über Tacitus.

Das Interesse an den beiden erstgenannten Autoren ist evident. Bolingbroke stellt die Autorität der Heiligen Schrift, insbesondere der Genesis, in Frage. Hervey versucht sie zu verteidigen. Aber was soll im Rahmen dieses Übersetzungsprojektes der dritte Text? Charakter des Tacitus, als Schriftstellers und Erste Sammlung. Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion: Mit einer Einleitung herausgegeben von Andreas Urs Sommer, Hildesheim u. a. 2007, S. 1f. Zu biografischen Angaben vergleiche Gotthard Victor Lechler : Geschichte des Englischen Deismus. Tübingen 1841; Reprint mit einem Vorwort von Günter Gawlick Hildesheim 1965. Lechler schildert Bolingbroke am Ende der Ausführungen über die Blüte des Deismus und sieht seine Bedeutung weniger im wissenschaftlichen Diskurs als vielmehr in der Verbreitung der entsprechenden Gedanken in die allgemeine Bildung. Dabei betont er stilistische Ähnlichkeiten mit Shaftesbury (ebd., S. 396–408). 45 Zitiert nach der Originalausgabe: Heinrich St. Johann Vitzgraf Bolingbroke und Jakob Hervey etc. etc. Uebersetzt von J. G. Hamann. Mitau 1774, S. 3f. (orthographisch leicht abweichend von N IV, 441,13f.). 46 Im Inhaltsverzeichnis wird von Hamann auch jenes Motto mitzitiert, aus dem er sein Sendschreiben an Aspasie herleiten wollte: „Merses profundo, pulcrior evenit.“ (Hor. Lib IV Od. 4). [Stürz’ es in den Ocean, es steiget schöner herauf.]

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Geschichtschreibers mit des Livius seinem verglichen, von Thomas Hunter, aus dessen Observations on Tacitus (London 1752). Hamann übersetzt hier die Seiten 164–196 und 274–296 aus dem Englischen Original. Die begrenzte und zudem verstreute Seitenauswahl zeigt an, dass es hier offenbar ein besonderes Interesse gibt. Die Szenerie für die beiden ersten Texte ist klar : auf der einen Seite Bolingbroke, die Vernunft, die Moral, das aufgeklärte Denken. Auf der anderen Seite Hervey, die Offenbarung, die Religion, die Kirche. Bolingbroke umreißt sein Programm in den Eingangspassagen: Die Natur des Menschen und der beständige Wechsel menschlicher Angelegenheiten machen es unmöglich, daß uns die ersten Zeitalter irgend einer sich selbst ausbildenden Nation, glaubwürdige Materialien zur Geschichte darbieten könnten. Wir besitzen dergleichen über den Ursprung keiner einzigen Nation, die noch wirklich vorhanden ist. Können wir also wohl hoffen, von den theils zerstreuten, theils vor zwey oder gar drey tausend Jahren bereits untergegangenen Völkern, Nachrichten ihres Uralterthums anzutreffen? Wenn dahero ein Gewebe dunkler und ungewisser Ueberlieferungen zur gewöhnlichen Einleitung der Geschichte dient, so sollten wir leichtsinnig darüber hinwegschlüpfen, ohne uns weder als Schriftsteller noch als Leser dabey aufzuhalten. Solche Eingänge sind höchstens musikalischen Phantasien gleich, wodurch man vor dem Concert blos die Instrumente stimmt. Wer jene für wahre Geschichte und diese für wirkliche Harmonie halten möchte, ist ohne Beurtheilungskraft und Geschmack.47

Diese Unzuverlässigkeit vermeintlicher Quellen gilt selbstredend auch und besonders für das Alte Testament. So gerät vor allem die Genesis ins Visier und Bolingbroke bemerkt süffisant: Die Erschaffung des ersten Menschen ist von einigen so beschrieben worden, als ob sie Augenzeugen davon, oder Präadamiten gewesen wären.48

Die Verbreitung von Isaac La PeyrHres (1596–1676) These von den Praeadamiten, die der Lord hier im Blick hat, sollte zwar unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung 1655 und ihrer Übersetzung ins Englische 1656 durch ein päpstliches Verbot unterbunden werden, dieser Versuch blieb aber offensichtlich erfolglos.49 Hintergrund für La PeyrHres gewagte Hypothese einer Menschheit vor Adam waren Entdeckungen des 16. Jahrhunderts. Woher stammen die Menschen an nunmehr entdeckten entlegenen Orten der Welt, die offensichtlich nicht Abkommen von Adam und Eva sein können? La PeyrHres Lösungsvorschlag: Es musste schon vor Adam Menschen gegeben haben, und die Bibel erzählt in 47 Bolingbroke und Hervey (wie Anm. 45), Vorrede, S. 7f. 48 Ebd., S. 44. 49 Vgl hierzu die Einleitung zu Isaac La PeyrHre: Praeadamitae (wie Anm. 43) und Stephen Greenblatt: Die Geschichte von Adam und Eva. Der ma¨ chtigste Mythos der Menschheit. Mu¨ nchen 2018 (engl.: The Rise and Fall of Adam and Eve. New York 2017), S. 279–291.

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Genesis 2 nicht die Geschichte der ganzen Menschheit, sondern lediglich die des auserwählten Volkes Israel. Obwohl die Praeadamiten-Hypothese auf dem Hintergrund der Neuentdeckung von Völkern, die nicht auf die biblischen Ureltern zurückzuführen waren, gar nicht so abwegig erscheint, war sie eine kaum zu überschätzende Provokation für Gelehrtenkultur und Kirchen gleichermaßen. Eine Provokation mit einer ungeheuren Wirkungsgeschichte. Von nun an war es immer weniger möglich, die Bibel als verlässliches Geschichtsbuch der Menschheit zu betrachten.50 Rhetorisch fragt Bolingbroke hinsichtlich der Genesis: „Hat dieser Verfasser wohl […] eine allgemeine Geschichte zu schreiben im Sinne gehabt? Gewiß nichts weniger.“51 Und statt der Absicht einer allgemeinen Darstellung unterstellt er partielle Interessen: Ueberhaupt aber, wenn wir die Absicht eines Schriftstellers aus dem Inhalte seines Buchs errathen mögen, so war die Absicht Mosis, oder des Verfassers der ihm zugeschriebenen Geschichte, in diesem Theile derselben, blos das israelitische Volk über ihre Abkunft vom Noah durch Sem, und von des Noah seiner Abkunft von Adam durch Seth zu belehren, ihren Stammbaum zu erläutern, ihre Ansprüche auf das Land Kanaan zu gründen, und alle die in Bezwingung der Kanaaniter von Josua begangene Grausamkeiten zu rechtfertigen.52

Hervey hingegen betont die Authentizität und Verlässlichkeit der biblischen Überlieferung: Vom Anfange der Welt bis zur Sündfluth haben wir eine ordentliche Stuffenfolge der Zeit.53

Zwar räumt er ein, dass die Genesis keine vollständige Darstellung der Frühgeschichte der Menschheit beinhaltet,54 aber er widerspricht Bolingbrokes Versuch, historische und dogmatische Teile der Bibel voneinander zu trennen.55 Alle Schrift ist von Gott eingegeben.56 Damit steht er wohl nicht erst in heutiger Sicht auf geschichtsphilosophisch verlorenem Posten. Immer wieder betont er, dass es 50 Anders als Greenblatt, der La PeyrHres Bemühen erkennt, die historische Bedeutung der Genesis zu retten, indem er einen Bericht über die Erschaffung der Menschen vor Adam in Genesis 1 identifiziert, sieht Umberto Eco in ihm einen Feind der biblischen Überlieferungen: „Isaac La PeyrHre, ein überzeugter Häretiker, hatte zu demonstrieren versucht (indem er die biblische Chronologie über den Haufen warf), dass die Welt schon lange vor Adam begonnen habe, nämlich in den Meeren vor China, und dass folglich die Inkarnation nur eine zweitrangige Episode in der Geschichte dieses unseres Planeten sei.“ Umberto Eco: Auf den Schultern von Riesen. München 2019, S. 36. 51 Bolingbroke und Hervey (wie Anm. 45), S. 44. 52 Ebd., S. 45f. 53 Ebd., S. 58. 54 Ebd., S. 60. 55 Ebd., S. 72–74. 56 Ebd., S. 74.

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Bolingbroke an der nötigen Kenntnis der hebräischen Sprache mangele und er mithin keinen Sinn für die Eigenart der Bibel habe. Dieser bescheinigt Hervey mit einer so majestätischen Einfalt der Schreibart überliefert [zu sein], der nichts nahe kommt, als ihre genaue Wahrhaftigkeit. – Diese Bücher verschmäht gleichwohl Lord Bolingbroke, unterdessen er die Schriften eines Tacitus erhebt. – Die Ueberbleibsel des Tacitus, sagt er uns, ,sind kostbare Reliquien‘. Die heilige Schrift hingegen enthält ,dunkle und unvollkommene Nachrichten‘.57

Vielleicht gelingt es, von dieser Kernstelle aus, Hamanns Absicht deutlich zu machen. Ihm geht es offenbar nicht nur um eine Verteidigung der Autorität der Schrift, sondern auch um die Verteidigung Herveys, der sachlich – wie erwähnt – auf ziemlich verlorenem Posten steht. Hamann stellt Bolingbroke mitunter schlimmer bzw. aufgeklärter da, als er ist. Der Kontrast zwischen der „majestätischen Einfalt der Schreibart“ der Bibel, verschmäht von Lord Bolingbroke, und den von ihm zu „kostbaren Reliquien“ erhobenen Schriften des Tacitus, ist von Hamann bewusst inszeniert. Bolingbroke versteigt sich nämlich nicht dazu, die Hinterlassenschaften des Tacitus ,kostbare Reliquien‘ zu nennen. Er spricht – und so zitiert ihn auch Hervey – von ,wertvollen Hinterlassenschaften‘, „precious remains“. Ist Hamann so dreist, die Rede von den Reliquien selbst zu erfinden? Nein. Das ist auch nicht nötig. Glücklicherweise gibt es seit 1758 eine Übersetzung von Bolingbrokes Letters durch Christian Gottlieb Bergmann, deren Qualität nicht nur an dieser Stelle zu wünschen übriglässt. Wie wir dem Inhaltsverzeichnis und wiederholten Anmerkungen in den Fußnoten entnehmen können, hat Hamann zugunsten dieser Übersetzung auf eine eigene verzichtet. Und dies tut er ganz bewusst, obwohl er die Schwächen dieser Übersetzung wahrgenommen hat. Hätte er unabhängig von einem Vergleich zwischen Original und Übersetzung wissen können, wie zweifelhaft der Bergmannsche Text ist? Ja, er hat es einem Meisterstück Lessingscher Ironie entnehmen können. In den Briefen die neueste Litteratur betreffend bietet Lessing keine Darstellung dieser Übersetzung, keine Rezension, keine Kritik, sondern schlicht und ergreifend eine muntere Hinrichtung.58 In einem Brief an Lindner, geschrieben kurz nach der Lessingschen Rezension der Übersetzung Bergmanns, schildert Hamann sein Vergnügen bei dieser Lektüre. Allerdings ist er skeptisch, was die Lektüre bei anderen Lesern

57 Ebd., S. 68. 58 Gotthold Ephraim Lessing: Vierter Brief. Über den Bergmannischen Bolingbroke. In: Briefe die neueste Litteratur betreffend I/4 (11. Januar 1759), S. 17–24. Besser zugänglich in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1758–1759. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1997, S. 461–465.

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bewirken kann: „Kein Bergmann wird durch diese Briefe gebessert werden; der ist zu tumm sie zu lesen.“59 Hamann kennt also die Schwächen der Übersetzung und den Namen des Übersetzers. Was davon zu halten ist, dass Hamann also Hervey höchst persönlich übersetzt, während er Bolingbroke durch Bergmann schlechter aussehen lässt, als nötig, mag jeder selbst beurteilen. Wohlgemerkt: er bietet den Bergmannschen Text erstens als Ganzes hinsichtlich des ausgewählten dritten Briefes und zitiert ihn zweitens an allen Stellen, an denen Hervey aus Bolingbroke zitiert.60 In seine eigene Hervey-Übersetzung baut er also Bergmann als Stimme Bolingbrokes ein. Der zitierte Passus von den Überbleibseln oder Reliquien des Tacitus stammt nämlich zudem gar nicht aus dem von Hamann abgedruckten dritten, sondern aus dem vierten Brief. Im dritten Brief wird Tacitus von Bolingbroke gar nicht erwähnt. Hervey nun begegnet allen Zweifeln an der Autorität der Bibel einerseits mit wiederholten Hinweisen auf die majestätische Einfalt ihrer Schreibart.61 Andererseits indem er nun seinerseits den von Bo59 ZH I, 368,15f. 60 Einerseits dürfte diese Übernahme arbeitspragmatische Gründe haben. Andererseits fallen die Freiheiten ins Auge, die er sich bei Variationen der Übersetzung nimmt. 61 So erkennt er (Bolingbroke und Hervey [wie Anm. 45], S. 86) „eine unvergleichliche Majestät der biblischen Sprache“, wo sie prophetisch „Dinge als gegenwärtig bezeichnet, die noch nicht da sind“. Zu ihrer Majestät gehört auch die Vielfalt der Formen, die auf einzelne Leserinnen und Leser abgestimmt sind. „Ich könnte die rühmlichen Vorrechte, welche in diesem gesegneten Buche enthalten sind; die unschätzbaren Verheißungen für die Gerechten; die zärtlichen, mitleidigen Einladungen an Sünder ; die feinen und hohen Entwickelungen der Sittenlehre mit manchen andern edlen Eigenschaften genauer bestimmen – in deren Inhalt der Vorzug der Schrift – in deren Glauben die Weisheit des menschlichen Geschlechts und in deren Antheil und Einfluß die einzige Glückseligkeit unserer Natur besteht.“ (S. 71f.) Und zu dieser Schreibart gehört die Verwendung von Typologien: „Die ägyptische Knechtschaft war ein Schatten unserer natürlichen Beschaffenheit, der ein Zustand der niederträchtigsten Sklaverey unter der Sünde ist.“ (S. 111.) Solche Typologie entspricht einer „Reihe lebender Regeln, der morgenländischen Lehrart gemäß, in Gleichnissen und Sinnbildern eingekleidet.“ (Ebd.) Erschließen wird sich die reichhaltige Weisheit der Heiligen Schrift vor allem denjenigen, die das praktizieren was Hervey mit Luther hätte ruminatio nennen können: „Je mehr wir diese Schatzkammern der Weisheit durchwühlen; desto besser lernen wir jene Orakel der Wahrheit verstehen, desto mehr werden sie sich unsers Beyfalls, und je länger, desto stärker unserer Zuneigung bemächtigen. Die Blätter der heiligen Schrift werden nicht nur gleich den Werken der Natur die Probe aushalten, sondern eben dadurch köstlicher werden. Der Gebrauch des Vergrößerungsglases bey den einen, und ein wiederholtes Nachdenken bey den andern werden uns gewiß neue Schönheiten aufschließen, und höhere Anziehungskräfte merken lassen“ (S. 151). Für alle Leser hilfreich sind sicherlich auch die onomapoetischen Qualitäten der Bibel, wie Hervey sie bereits in den Betrachtungen entdeckt hat. Zu 2. Petr. 3,10 und dem Krachen der Elemente/qoifgdom führt er aus: „Ich habe diesen Vers immer für eine treffliche Probe derjenigen schönen Schreibart gehalten, in welcher selbst der Schall der Worte etwas zu bedeuten scheint, und wenigstens eine genaue Uebereinstimmung mit der Empfindung hat.“ Erbauliche Betrachtungen über die Herrlichkeit der Schöpfung in den Gärten und Feldern, Hamburg und Leipzig 1755, 254.

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lingbroke geschätzten Tacitus mittels einer abwertenden Charakterisierung durch Thomas Hunter angreift. Hamann macht an dieser Stelle eine Anmerkung, die auf den von ihm als Zugabe angehängten Text verweist, damit auch ja kein Leser versäumen mag, diese Negativwertung in vollem Zusammenhange wahrzunehmen. Hervey beruft sich in Abgrenzung von Bolingbrokes Faible für Tacitus auf Livius, und Hamann hat die sehr wohlschätzende Charakterisierung des Livius aus der Feder Hunters ebenfalls als Anhang beigefügt. Das heißt: Wenn Hamann als dritten Text nach Bolingbroke und Hervey noch Hunters Charakterisierung zweier antiker Autoren anhängt, tut er es nicht, um einen Beitrag zur klassischen Philologie zu leisten, sondern um die Gewährsmänner Bolingbrokes und Herveys, aber darüber hinaus somit auch Bolingbroke und Hervey selbst zu charakterisieren. Das Thema, das Hamann in der ganzen Debatte somit fokussiert, ist die jeweilige Schreibart. Es ergeben sich zwei voneinander abweichende Traditionslinien: Profangeschichte > Tacitus > Bolingbroke Genesis > Livius > Hervey Wie sich nun diese beiden Linien zueinander verhalten, lässt sich für Hamann offensichtlich am besten bei Hunter nachlesen: Livius tadelt selbst mit Würde; Tacitus aber mit einem niedrigen Muthwillen. Im Livius zeigt derjenige, welcher einen Verweis giebt, ein ernsthaftes Gefühl der erlittenen Beleidigungen, des ihm wiederfahrnen oder von ihm gefürchteten Unrechts. Im Tacitus sind die Verweise bloße Spöttereyen, ein Trödelkram persönlicher Lästerungen, die mehr des Verfassers übermüthigen Witz und leichtfertige Gemüthsart, als die beschmizte Unschuld, oder angegriffene Rechte, oder die befürchtete Gefahr, oder den erlittenen Schaden der Personen selbst zu erkennen geben. Livius erweckt Mitleiden in seinen Beschreibungen der Unglücklichen. Tacitus hingegen Abscheu, und scheint uns gegen Götter und Menschen aufbringen zu wollen. […] In Ansehung der Moralität unserer beyden Schriftsteller, erzählt Livius seine Geschichte auf die deutlichste und richtigste Art; und überläßt es dem Leser, seine eigene Betrachtungen darüber anzustellen, und nach seinem Geschmack zu moralisieren. Tacitus thut seiner Geschichte mehr Gewalt, um seine eigene Betrachtungen einzuschieben. Er mißbraucht seinen Witz, unterdessen Livius eine bescheidene Weisheit zeigt. Tacitus ist vorläufig und dogmatisch, und überläßt nichts dem Urtheil des Lesers. Wenn Livius in seiner eigenen Person redet, geschieht es so selten, daß wir ganz Aufmerksamkeit sind, und mit so viel Bescheidenheit und Gutherzigkeit, daß man nichts an ihm tadeln kann, als bloß seine Sparsamkeit, selbst zu reden. […] Tacitus unterrichtet durch die trockene Formalität der Vorschrift; Livius durch die anziehende Überredung des Beyspiels. Des Tacitus Schriften haben einen speculati-

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vischen Geschmack: des Livius Geschichte ist für das thätige Leben eingerichtet. Tacitus giebt euch Einsichten; Livius aber Gesinnungen.62

Nicht die Einsichten zählen, sondern die Gesinnungen. Nicht die formale Vorschrift, sondern die anziehende Überredung des Beispiels eröffnet Handlungsspielräume. Diese Einschätzung verbindet Hunter mit Hervey und Hamann. Die beiden Letzteren kennen einen Autor, von dem dies in besonderem Maße gilt. Nachdem Theron gleich im ersten Gespräch mit Aspasio hinsichtlich der Sprache der Bibel betont hat, er erkenne in ihr „eine Gleichförmigkeit zwischen dem Buche der Natur und dem Buche der Schrift“,63 fällt ihm kurz darauf noch eine andere sehr unterscheidende besondere eigenthümliche Eigenschaft der heiligen Schriften ein. – Die Lehrart nämlich, durch Gleichnisse Ermahnungen zu ertheilen, oder Verweise zu geben; eine Lehrart, die sich dem niedrigsten Verstande gleich machet, ohne die allerhochmüthigste Gemüthsart zu beleidigen.64

Die heiligen Schriften sind also Ausdruck einer besonderen und auf den jeweiligen Leser ausgerichteten Schreibart. So kann Hervey für das Buch der Natur den allmächtigen Künstler loben und für das Buch der Schrift den heiligen Schriftsteller. Aber zurück zu Hamanns Übersetzungskunstwerk des Jahres 1774. Ich habe oben eine Linie Genesis > Livius > Hervey behauptet, aber den entscheidenden Beleg noch zurückgehalten. Bolingbroke verdächtigt die Autoren der Genesis wie gesehen, nachträglich Prophezeiungen konstruiert zu haben, um Anspruch auf Kanaan erheben zu können. Hervey findet nun einen merkwürdig anmutenden außerbiblischen Beleg für die Richtigkeit von Noahs Prophezeiung, dass Kanaan den Nachkommen Sems gehören wird. Interessant ist weniger die historische oder philologische Fragwürdigkeit dieses Beleges als vielmehr seine Geschichte. Hervey identifiziert in Hannibal einen Nachfahren Kanaans. Und kein anderer als Hannibal ist es, der sieht, dass es schicksalhafte Zusammenhänge gibt, gegen die ein Ankämpfen zwecklos erscheint. Und wer hat den entscheidenden Ausspruch Hannibals überliefert? Livius, der sich seinerseits auf Vergil beruft.65 Was erkennt Hannibal? „Agnosco Fortunam Carthaginis.“ Genau dieses Zitat findet sich auch bei einem anderen englischen Autor des 18. Jahrhunderts als Beleg für die Richtigkeit der noachidischen Prophezeiung. Und es findet sich auch bei einem Autor, den Hervey immer wieder lobend erwähnt. Er 62 63 64 65

Bolingbroke und Hervey (wie Anm. 45), S. 192–194. Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 2. Theil (wie Anm. 3), S. 20. Ebd., S. 35. „Sie hatte aber gehört, dass ein Geschlecht aus trojanischem Blut herleite, das dereinst die tyrische Burgen zerstören wird; von hier werde ein Volk kommen, mit einem weiten Reich und stolz im Krieg, zu Libyens Untergang: So hätten es die Parcen bestimmt.“; Vergil, Aeneis I, v. 19–22.

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scheint mit eben diesem Lob das Interesse Hamanns für jenen Thomas Newton geweckt zu haben, dem Hamann nun seinerseits Betrachtungen widmet. In seinen Betrachtungen über Newtons Abhandlung von den Weissagungen66 lesen wir : Das Wort Hannibals: agnosco fortunam Carthaginis, das Livius im 27. Buch erzählt war die Stimme des Geistes, der in der Lufft herrscht und wie Bileam […] die Worte sagt, die ihm Gott in den Mund legt.67

Hamann ist mit Hervey durch einen kondeszendenten Humor verbunden. Ausgerechnet im Munde des Römers Livius die Wahrheit der Heiligen Schrift begründet zu finden, das erinnert doch sehr an die Idee des Autors der Heiligen Schrift, einen römischen Statthalter und einen römischen Hauptmann als Zeugen für die Kondeszendenz Gottes in Christus zu benennen. Auf die Schreibart kommt es an. Hierin besteht Einigkeit zwischen Hervey und Hamann. Am Ende seiner Stellungnahme zu Bolingbroke benennt Hervey noch eine weitere Dimension des Ideals einer gelungenen Schreibart, der Hamann ohne weiteres zustimmen könnte. Allerdings scheint er eine mögliche Assoziation gefürchtet zu haben und gönnt sich deshalb, sagen wir, einen Übersetzungsfehler. Der Hintergrund ist ein ,Beweis‘ dafür, dass die Urkunden des Christentums nicht von Menschen, sondern von Gott selbst verfasst sind. Mag dieser Beweis [ … ] in unsern Herzen geschrieben werden – in hellen unauslöschlichen Buchstaben – mit dem Finger des lebendigen Gottes! Alsdenn bin ich versichert, wird jeder Versuch, unsern Glauben wankend zu machen, und unsere Ehrfurcht für die Bibel zu schwächen, ein Versuch seyn, einen Fels mit einer Wasserblase zu zerschmettern, oder einen Diamant mit einer Pflaumenfeder zu spalten.68

Die Pointe ist zugegebenermaßen ein wenig verborgen. Hamann und Hervey verstehen das, was die gute Schreibart ausmacht, nämlich die Kondeszendenz, trinitarisch. Also muss der im Buch der Natur und im Buch der Geschichte geführte Beweis natürlich auch noch internalisiert werden, also pneumatologisch in des Menschen Herz eingeschrieben werden, damit alle Versuche, den Glauben wankend zu machen, vereitelt werden. Das leuchtet sofort ein. Aber was ist eine Pflaumenfeder? Welche Bedeutung, welche Funktion hat sie in diesem Zusammenhang? Hervey schreibt ,feather‘. Bolingbrokes und anderer Versuche, den Glauben wankend zu machen, vergleicht er mit dem Versuch, mit einer Feder einen Diamanten zu spalten. Möchte Hamann vielleicht diese Feder als Pfauenfeder charakterisieren, um die Eitelkeit dieses Versuches zu untermalen? Nein. Es handelt sich nicht um einen Druckfehler. Wenn Hamann aus der einfachen 66 M. E. sind diese nicht in London, sondern später entstanden. 67 Londoner Schriften, 423,13–16. 68 Bolingbroke und Hervey (wie Anm. 45), S. 157.

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Feder eine Pflaumenfeder macht, dann weiß er, was er tut. Ihm ist aufgefallen, dass in Herveys Bild von der Feder und dem Diamanten zu viel Pathos vermutet werden kann: man könnte angesichts der ganzen Vorgeschichte an einen Schriftsteller denken, der trotz der Härte des Diamanten – unerschrocken vom Geist der Aufklärung angetrieben – versucht, mit seiner Schreibfeder das Unmögliche zu bewirken. Hamann nimmt ihm den Federkiel aus der Hand und ersetzt ihn durch eine Feder, mit der kein Mensch schreiben kann. Die Pflaumenfeder ist nach Zedler nichts anderes als das, was wir heute Daunenfeder nennen. Jene extrem weiche Feder, die keinen Kiel hat. Mit solch einer Feder wird der „Versuch, unsern Glauben wankend zu machen, und unsere Ehrfurcht für die Bibel zu schwächen“, sicherlich scheitern. Hamanns Bolingbroke-Hervey-Hunter-Übersetzung, von der er an Nicolai schreibt, dass er mit ihr „als Uebersetzer in jedem Verstande Abschied nehmen möchte“, scheint noch etwas anderes als eine reine Übersetzung zu sein. Sie ist eine bewusste Polemik gegen eine Form der Skepsis, und darin zugleich eine Liebeserklärung für eine bestimmte Schreibart und eine Danksagung für einen Schriftsteller, dem Hamann einiges verdankt: vor allem die Einsicht, in die Notwendigkeit der richtigen Schreibart.69 Für Hamann ist Hervey nicht allein deshalb prägend geworden, weil er hier die Kondeszendenztheologie, die Rechtfertigungslehre, die Lehre von der Erbsünde, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium und die Person des Sokrates thematisiert findet. Hervey ist ihm wichtig geworden, weil er ihm etwas vorgemacht hat, das dem Magus schlechterdings notwendig erschien, ihm selbst aber nicht immer gegeben war : eine der göttlichen Herablassung entsprechende einfache Schreibart in selbstevidenten Gleichnissen, Bildern und Parabeln.

69 Dies bestätigt sich auch, wenn man eine kleine Wideraufnahme des Projektes betrachtet. In „Mancherley und Etwas zur Bolingbroke-Hervey-Hunterschen Übersetzung, von einem Recensenten trauriger Gestalt“, 1774, (N IV, 443–447) greift Hamann sein Projekt noch einmal kurz auf. Die Anspielung auf Don Quichote belegt nicht nur, dass er durchaus um die schlechten Chancen seines Kampfes zur Ehrenrettung Herveys weiß. Er skizziert eben auch noch einmal die kämpferische Grundhaltung, die nicht nur für den dritten und abschließenden Teil dieser kleinen Schrift gilt, in der auf das Übersetzungsprojekt zurückkommt, sondern auch für die beiden ersten Teile, in denen er den Freunden Herder und Motherby, dem Arzt seines Vertrauens, zur Seite springt. In dieser kleinen Selbstrezension räumt Hamann ein, mit seiner Hervey-Übersetzung „um 20 Jahr fast zu spät“ (N IV, 447,31f) zu kommen. Zugleich betont er aber, dass die Ausführungen von Hunter „über den Tacitus und Livius einige Aufmerksamkeit verdienen“ (Ebd., 447,33). Dies unterstreicht noch einmal, wie wichtig ihm sein Übersetzungsprojekt als Geste der Solidarität war.

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Ausblick: Hervey als Vorbild der Schreibart Hamanns am Beispiel der Vernunftkritik

Am Beispiel der Vernunftkritik ließe sich die Vorbildfunktion der Herveyschen, von der biblischen geprägten Schreibart für Hamann verdeutlichen. Wir beschränken uns auf ein Beispiel. In konsdeszendenztheologischer Perspektive ist Vernunftkritik immer auch eine Frage des Stils und der Bildlichkeit. Herveys Kritik an der aufgeklärten, desintegrierten Vernunft kommt sicherlich mit Sokrates, Luther und Hamann sachlich darin überein, dass Vernunft vernehmende Vernunft sein muss, ihrer Grenzen eingedenk und angewiesen auf die richtigen Konstellationen und Gesprächspartner. Dennoch könnte es sein, dass für den Magus noch stärker die Art und Weise faszinierend ist, in der Hervey sich artikuliert, und deren Bilder und Motive Hamann immer wieder aufgreift. So betont Hervey : „Menschliche Geschäfte“ und göttliche „Gnade“ verhalten sich zueinander wie das „Johannis-Würmchen“ und der „Glanz der Sonne“.70 An anderer Stelle beobachtet er Phänomene der Nacht: Eine Menge lebendiger Funken glimmen auf den Wegen, und funkeln unter den Hecken. Ich glaube, es sind Johanniswürmlein, die ihre kleine Lampen angezündet, und Erlaubniß erhalten haben, bey Abwesenheit der Sonne, mit einem schwachen Strahle zu spielen. Ein schwacher Schimmer dienet nur eben sie sichtbar zu machen, ohne das geringste dazu beyzutragen, die Schatten zu zerstreuen, oder den entwichenen Tag nur einigermaßen zu ersetzen. Sollte ein Reisender, der von Regen tröpfelt, und vor Kälte zittert, sich zu dieser Nachahmung des Feuers nahen, um seine Kleider zu trocknen, und seine erstarrten Glieder zu wärmen, sollte ein unglücklicher Wanderer, der in einer schwarzen und dicken Nacht seinen Weg suchet, eine von diesen matten Fackeln, als seines Fußes Leuchte und ein Licht auf seinen Wegen ergreifen, wie gewiß würden beyde in ihrer Hoffnung betrogen werden?71

In diese symbolgeladene Idylle hinein (Abwesenheit der Sonne, Erlaubnis zur Improvisation in Abwesenheit der Sonne etc.) erfolgen nun Überlegungen zu anderen Formen der Desorientierung, konkret zur Frage, ob es denjenigen wohl besser ergeht, die sich an der Vernunft orientieren wollen, anstatt an Kreuz und Offenbarung. Hervey bemüht sich (ganz im Sinne der Unterscheidungen in Luthers Disputatio de homine) der Vernunft Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Man wird hoffentlich bemerken, daß meine Meynung im geringsten nicht sey, die edle Kraft der Vernunft verächtlich zu machen, wenn sie in ihrer eigenen Sphäre ausgeübet wird, und wenn sie sich nach dem geoffenbarten Willen des Himmels richtet. So lange sie ihre Kräfte in diesen bestimmten Gränzen ausübet, ist sie von unbeschreiblichem 70 Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 2. Theil (wie Anm. 3), S. 239. 71 Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 1. Theil (wie Anm. 3), S. 246f.

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Nutzen, und kann nicht zu fleißig geübet werden; allein wenn sie sich den heiligen Aussprüchen stolzer Weise widersetzet, wenn sie ganz vermessen und voller Vertrauen auf sich selbst zu dem Worte der Schrift saget: Ich darf deiner nicht; alsdenn ist sie, wie ich kühnlich behaupte, nicht nur ein Johanniswurm, sondern ein ignis fatuus, oder Irrlicht, nicht bloß eine nichtswürdige, sondern eine gefährliche Sache.72

Hamann hat seinen Stil gefunden.73 Und er wusste wertzuschätzen, dass andere Autoren mit anderen Schreibstilen demselben Anliegen dienten. „Ließ Hervey, mein lieber Bruder. […] Vertreib unserm lieben alten Vater des Abends mit diesem Buche die Zeit. Es handelt von dem Grunde unseres Glaubens.“74 Wenn es richtig ist, dass sich Hamann an jener von der eigenen verschiedenen Schreibart erfreut hat, dann wird die Wahrnehmung Herveys vielleicht nicht ausschließlich geleitet von der Frage, ob Hamann in allen Theologumena mit Hervey übereinstimmt. Stattdessen kann stärker als bisher berücksichtigt werden, mit welchen Bildern und Gleichnissen dieser Autor arbeitet, der eines ganz sicher weiß: „Ein ungezwungenes Gleichniß ist öfters überzeugender, als ein ausgearbeiteter Beweisgrund.“75

72 Ebd., S. 247f. (Fußnote). 73 Der Vergleich der „allgemeinen Vernunft“ mit einem Johanniswurm findet sich auch in einer Anzeige von Hamanns Neuer Apologie des Buchgstaben h, die Matthias Claudius 1774 im Wandsbecker Boten veröffentlicht hat (Sämtliche Werke. Hg. von Jost Perfahl. Darmstadt 1980, S. 24): Hamanns Apologie, mit der er auf die Betrachtungen über die Religion und die dort beiläufig erteilten Vorschläge zur Orthographiereform von Christian Tobias Damm eingeht, versteht Claudius als Antwort auf „alle Betrachtungen der Art, die sämtlich auf demselben Loch, nur mehr und minder laut, gepfiffen werden und gepfiffen worden sind, seit dem ersten, der den Johanniswurm der allgemeinen Vernunft, statt ihn auf der Erde seiner Heimat fortkriechen und glänzen zu lassen, über die Religion aufsteigen ließ […]. Der Verfasser [sc. Hamann] läßt sich in das Gesinge und Gesumse wider und für die Religion gar nicht ein, sondern anatomiert den Johanniswurm und macht ihn verdächtig etc.“ 74 ZH I, 196,4–7. 75 Hervey : Erbauliche Betrachtungen, 446.

Wolfgang Schoberth (Erlangen)

Lesbarkeit des Verborgenen. Über einige Beziehungen zwischen Hamanns Aesthetica in nuce und Adornos Ästhetischer Theorie

1.

Ästhetik und Schöpfungslehre

Ein heutiger Leser, der Hamanns „Rhapsodie in Kabbalistischer Prose“ aufschlägt, weil er durch den Titel der Aesthetica in nuce angesprochen wurde, wird nicht selten enttäuscht: Eine Ästhetik im gängigen Sinn findet er hier nicht. Statt, wie erwartet, eine Schrift zur Philosophie der Kunst anzutreffen, stößt er auf einen in vielfacher Hinsicht verwirrenden Text, in dem die Zentralbegriffe der Kunstphilosophie, wo sie überhaupt erscheinen, in einem sehr eigentümlichen Zusammenhang stehen. Und gerade der Teil der Schrift, der am ehesten den Erwartungen an eine ,Ästhetik‘ entspricht, nämlich der Exkurs zu Reim und Metrum,1 ist wohl der am wenigsten prägnante und interessanteste Teil der Schrift. So bleibt es in der Rezeption meist beim Zitat des Satzes „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“,2 wobei dieser Satz in der Regel als Apotheose der Dichtkunst verstanden wird. Die vergleichsweise Popularität der Aesthetica beruht also insofern auf einem Missverständnis, als der Titel eine literaturästhetische Programmschrift erwarten lässt;3 diese Erwartung wird aber nicht eingelöst – auf höchst produktive Weise. Oswald Bayer hat nachdrücklich gezeigt, dass die literaturgeschichtliche Lesart der Aesthetica nicht die einzige und vor allem nicht einmal die vom Text her naheliegende ist: Der Kern dieser Nuss ist weniger eine Kunstlehre als vielmehr die Entwicklung der „Grundzüge einer christlichen Schöpfungslehre, die problembewusster und theologisch stichhaltiger ist als viele der in unserer

1 Johann Georg Hamann: AESTHETICA. IN. NUCE. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose. In: ders.: Sokratische Denkwürdigkeiten – Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1983, S. 77–146. 2 Ebd., S. 81. 3 Dieses Missverständnis hat sicher einen gewissen Anhalt daran, dass die Schrift auch als Auseinandersetzung mit Johann David Michaelis zu lesen ist. Doch auch das Thema dieser Auseinandersetzung ist letztlich wiederum nicht poetologisch, sondern theologisch.

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Gegenwart vorgelegten schöpfungstheologischen Versuche.“4 Aber auch das, was man gewöhnlich unter dem Titel einer Schöpfungstheologie erwartet, findet der Leser nicht. Es ist freilich gerade diese doppelte Enttäuschung, die diesen Text auch für das heutige Denken, nicht nur in der Theologie, so bedeutsam macht: Eben weil Hamann weder eine Ästhetik im gängigen Sinn bietet, noch den eingespielten Bahnen der Schöpfungstheologie folgt, werden neue Perspektiven eröffnet, die eingespielte Wahrnehmungsmuster durchbrechen. Dies geschieht durch eine eigentümliche und produktive Verschränkung von Theologie und Ästhetik, die es ermöglicht, Engführungen in der Schöpfungstheologie wie in der ästhetischen Theorie aufzubrechen und beiden damit neue Wege zu eröffnen. Diesem Potential soll hier nachgegangen werden, indem ein Umweg einschlagen wird. Dies könnte auch Hamanns eigener Methodik5 entsprechen; eben die Umwege im Denken und Schreiben ermöglichen Ansichten und Einsichten, die auf dem direkten Weg versperrt blieben. Der Umweg, den ich einschlagen will, führt über eine Gestalt ästhetischer Theorie im 20. Jahrhundert, die kaum weniger eigentümlich ist als Hamanns Aesthetica und, wie ich zeigen will, auch als eine genuine Verschränkung von Schöpfungstheologie und Ästhetik aufzufassen ist, freilich gleichsam in umgekehrter Richtung: Adornos ästhetische Theorie ist dezidiert als Philosophie der Kunst angelegt und sperrt sich gegen affirmative Theologie. Freilich ist, so die hier verfolgte These, Adornos ästhetische Theorie nicht zu verstehen, wenn nicht ihr schöpfungstheologischer Horizont wahrgenommen wird; ihre Bedeutung kann nur da zur Geltung kommen, wo ihre implizite Theologie entbunden wird. Andernfalls bleiben sie nur überpointierte Anmerkungen zu einer ansonsten inzwischen selbst konventionell gewordenen emanzipatorischen Soziologie. Eben indem Adorno sich gegen affirmative Theologie – die sich heute wohl eher um den Begriff der „Religion“ gruppiert – abgrenzt, ist sein Denken paradoxerweise theologisch bedeutsam, weil es die theologische Selbstkorrektur und so die genuine Sachlichkeit der Theologie einfordert.6 4 Oswald Bayer: Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung. Tübingen 1986, S. 6. 5 Methodik ist bekanntlich, dem Wortsinn nach, das Verfolgen eines Weges, wobei freilich keineswegs gesagt ist, welches dieser Weg ist. Hamann verfolgt sehr konsequent einen Weg, den viele für abwegig oder verworren halten; es ist allerdings nicht ausgemacht, ob der gerade und rational ausweisbare Weg nicht in die Irre führt. 6 Zur Bedeutung der Ästhetik zur Selbstreflexion der Theologie vgl. insgesamt Georg Picht: Kunst und Mythos. Stuttgart 21987, insbesondere S. 10: „Wenn die gegenwärtige Allgewalt des Mythos von Theologie und Kirche nicht wahrgenommen wird, hat sich der notwendige Widerspruch gegen die Kunst in die Kunst selbst verlagern müssen. […] Wenn das Evangelium aus Theologie und Kirche entschwindet, muß es von ,Gottlosen‘ verkündet werden, auch wenn sie gar nicht wissen, was sie sagen.“

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Damit ist auch die Richtung der folgenden Überlegungen markiert, die nicht auf eine Rekonstruktion des Denkens und Schreibens Hamanns in seinen Kontexten abzielen, sondern auf die bei ihm gegebenen Impulse für das gegenwärtige Denken, die im Diskurs mit Adornos ästhetischer Theorie deutlich werden sollen. Es sind darum systematisch-theologische Überlegungen, die von der historischen und genauen philologischen Arbeit profitieren, zu der sie selbst nur wenig beitragen kann, sondern versucht, Hamann mit Adorno weiterzudenken und vor allem Adorno mit Hamann weiterzudenken.7

2.

Kunst in der Dialektik der Aufklärung

Adornos ästhetische Theorie ist nicht nur ganz offenkundig als Philosophie der Kunst angelegt und entspricht insofern zunächst der Erwartung der Disziplin; in ihr erscheint auch nicht der Begriff der Schöpfung, sondern vielmehr einige deutliche Attacken auf das, was bei Adorno als ,Theologie‘ erscheint.8 Darum gilt auch hier wie für Adornos ganzes Werk, dass es nicht unbedacht theologisch vereinnahmt werden darf.9 Freilich ist Adornos Ästhetik nicht auf die Kunstphilosophie zu begrenzen; sie ist bei ihm nicht eine philosophische Spezialdisziplin, sondern hat vielmehr fundamentalphilosophische Bedeutung: Die Aporien der Philosophie unter den Bedingungen der Gegenwart verweisen für Adorno vielmehr notwendig auf ihre komplementäre Gestalt in der Kunst. Diese systematische Zentralstellung der Kunst bei Adorno ist also nicht der Vorliebe des Musikers geschuldet, sondern folgt aus der ideologiekritischen Analyse, die für Adorno Philosophie insgesamt grundlegend ist. Als Kernmotiv kann dabei die Einsicht in die Dialektik der Aufklärung gelten, wie überhaupt 7 Eine direkte Rezeption Hamanns durch Adorno ist nicht nachzuweisen; in seinem Werk wird Hamann nur einmal in der von Adorno selbst zurückgezogenen ersten Habilitationsschrift erwähnt; die Passage zeugt nicht von Vertrautheit mit dem Werk Hamanns (Theodor W. Adorno: Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre. In: ders.: Philosophische Frühschriften. Darmstadt 1998 (=Adorno GS 1), S. 79–322, hier S. 92). Angesichts der Bedeutung Hamanns für Walter Benjamins Denken ist eine implizite Wirkung wesentlicher Momente freilich anzunehmen. Zu Benjamins Hamann-Rezeption vgl. Renate Knoll: Konfigurative Annäherungen? Zu Walter Benjamin und Johann Georg Hamann. In: Global Benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992 [in Osnabrück]. Hg. von Klaus Garber und Ludger Rehm. München 1999, S. 1057–1070. 8 Nicht zuletzt durch Paul Tillich, der seinen zweiten, dann erfolgreichen Habilitationsversuch begleitete und unterstützte, ist Adorno durchaus mit der Theologie seiner Zeit in Berührung gekommen. 9 Für einen neuen Versuch einer vorsichtigen theologischen Interpretation Adornos vgl. Simon Layer : Präsenz der Vollendung. Zur transzendentalen Bedeutung eschatologischer Hoffnung bei Moltmann und Adorno. Göttingen 2019.

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gesagt werden kann, dass sich die Determinanten seiner Philosophie seit der gemeinsam mit Horkheimer im amerikanischen Exil verfassten gleichnamigen Schrift nicht wesentlich veränderten.10 Dabei ist genau zu beachten, dass hier von der Dialektik der Aufklärung die Rede ist: Die Autoren vertreten gerade keine einfache Aufklärungskritik; vielmehr ist ihr Anliegen die Rettung der Aufklärung vor ihren eigenen Folgen.11 Horkheimers und Adornos Vernunftkritik ist die notwendige Konsequenz daraus, dass sie den Anspruch der Aufklärung ganz ernst nehmen; die aufgeklärte Vernunft ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen gerade nicht das Organon der Befreiung, sondern wurde selbst zum Herrschaftsinstrument und damit zu einem Mittel der Unfreiheit. Die Treue zu den Impulsen der Aufklärung erfordert, die Implikationen der Aufklärung aufzudecken, die selbst Unfreiheit hervorbringen. Adorno ist mithin im präzisen Sinn des Wortes ein Metakritiker der Vernunft und ein aufklärerischer Kritiker der Aufklärung. Die Metakritik der Aufklärung wiederum begründet die Zentralstellung der Kunst bei Adorno: Er erkennt in der Kunst ein Organon der Wahrheit, die sich zur Wahrheit der Vernunft komplementär verhält. Ihre Wahrheit ist die des unvertretbar Besonderen, während die Wahrheit der Vernunft auf Universalität bezogen ist und daher nur das Verallgemeinerbare erfassen kann. Die Wahrheit der Kunst ist in ihrer sinnlichen Präsenz gegeben; eben darum aber geht ihr auch das Bewusstsein ab, das die Vernunft kennzeichnet. – Adorno folgt hier durchaus Motiven von Hegels Philosophie der Kunst. Anders als bei Hegel bedeutet für Adorno diese doppelte Differenz aber keine Minderwertigkeit der Kunst im Vergleich zur begrifflichen Vernunft, sondern begründet im Gegenteil ihren fundamentalen Rang. Philosophie braucht die Kunst als ihr Gegenüber, weil das Medium der Reflexion, der Begriff, selber Anteil hat an der Unwahrheit des gegenwärtigen Zustands. Dies ist aber wiederum nicht einfach eine kontingente Fehlentwicklung der begrifflichen Vernunft und lässt sich darum auch nicht mit ihren eigenen Mitteln therapieren. Es ist auch dies kein bloß theoretisches Problem, sondern nach den Analysen der Kritischen Theorie eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass „die vollends aufgeklärte Erde […] im Zeichen triumphalen Unheils“12 steht, wie es sich in den durchrationalisierten Vernichtungsmaschine des Nationalsozialismus grauenvoll manifestierte. Die Gesellschaftsanalysen und die Sozialtheorie Adornos sollen hier nicht weiter diskutiert werden; hier ist vielmehr das Moment von Bedeutung, daß die 10 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Darmstadt 1998 (=Adorno GS 3). 11 Vgl. dazu dies.: [Rettung der Aufklärung. Diskussionen über eine geplante Schrift zur Dialektik]. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 12. Nachgelassene Schriften 1931– 1948. Hg. von Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M. 1985, S. 593–605. 12 Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung (wie Anm. 10). S. 19.

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Wahrheit der Vernunft eben an dem hängt, was zugleich ihre Unwahrheit ist: Der Begriff ist in seinem Wesen die Identifikation des Einzigartigen und Individuellen mit dem Allgemeinen, das darum im rationalen Zugriff als das Einzigartige und Individuelle – Adorno bezeichnet dies mit einem gegen die Hegelsche Identitätsdialektik gerichteten Ausdruck als das „Nicht-Identische“ – verschwindet und nur noch zum Exemplar der Gattung wird. Hier ist bereits die Parallele zu Hamanns Kritik der Abstraktion der Vernunft zu erkennen; auch sie ist der Vernunft nicht äußerlich, sondern geradezu eine Voraussetzung ihrer Leistungsfähigkeit. Zugleich wird in Abstraktion und der Subsumption unter das Allgemeine eben die Wirklichkeit, die die Vernunft zu erkennen beansprucht, verloren und dem Begriff gleichgemacht, also in ein vom Subjekt Produziertes umgewandelt. Dem opponiert die authentische Kunst, indem sie das NichtIdentische zur unverkürzten Erscheinung bringt; ihr Wesen ist gleichsam die Hervorbringung dessen, was sich der Identifikation entzieht.13

3.

Naturbeherrschung

Kunst ist bei Adorno das Andere der instrumentellen Vernunft, weil sie selbst nicht vor- oder antivernünftig ist, sondern mit den Mitteln des avancierten Geistes etwas hervorbringt, was selbst nicht gemacht ist: „Der Zweck des Kunstwerks ist die Bestimmtheit des Unbestimmten.“14 Diese Bestimmtheit kann offenkundig nicht die der abstrahierenden Verallgemeinerung sein, sondern ereignet sich in der sinnlichen Präsenz des Nicht-Identischen. Diese ist aber wiederum nicht schon in der bloßen Gegebenheit zu finden, die in der total vermittelten Welt nur schlechter Schein sein könnte, sondern erst durch die ästhetische Anstrengung in der Arbeit am künstlerischen Material hervorzubringen.15 Aber auch wenn die Kunst ein privilegierter Ort ist, an dem das Nicht-Identische in einer durch die Vernunft beherrschten Welt erscheinen kann, ist sie ihr nicht einfach enthoben; vielmehr ist auch die Bestimmung der Kunst bei Adorno dialektisch gebrochen: Im Bann des Verblendungszusammenhangs kann auch die Kunst nicht unmittelbar wahr sein. Die Dialektik der Aufklärung drückt sich noch einmal in der Kunst ab, indem gerade ihr Movens, die Entfaltung auto13 Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Darmstadt 1998 (=Adorno GS 7), S. 144: „Mehrfach ist, zuerst wohl von Karl Kraus, ausgesprochen worden, daß, in der totalen Gesellschaft, Kunst eher Chaos in die Ordnung zu bringen habe als das Gegenteil.“ 14 Ebd., S. 188. 15 Bereits daraus wird erkennbar, warum Adorno in der Kulturindustrie auch abseits der sozialphilosophischen Analysen die fundamentale Bedrohung der Kunst erkennen muss: Sie lebt von Imitation, Wiederholung und Stereotypie.

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nomer Subjektivität, zugleich ihre Erfüllung unterläuft. Die Dialektik der Aufklärung ist im Innersten die Konsequenz der Naturbeherrschung, um derentwillen Vernunft entsteht: Sie wird als die Voraussetzung menschlicher Freiheit bestimmt, die erst da entstehen kann, wo die Zwänge des Überlebens in einer übermächtigen Natur eben durch ihre Beherrschung mittels Vernunft, und Technik so weit überwunden sind, dass sich Geist und Freiheit entfalten können. Eine ,Rückkehr zur Natur‘ ist nach Adorno also nicht nur im geschichtlichen Zustand Illusion, sondern auch keineswegs wünschenswert. Es ist vielmehr gleichsam die conditio humana, die die Dialektik der Aufklärung als Naturbeherrschung hervorbringt: Was den Mensch zum Menschen macht, beschädigt zugleich sein Menschsein. In anthropologischer Perspektive ließe sich das so formulieren: Indem der Mensch zum Menschen wird durch die Beherrschung der Natur, tut er zugleich seiner eigenen Natur Gewalt an; indem er sich als Vernunftwesen erfindet, verleugnet er seine Natur.16 Darin aber wiederum ist auch die Spur des Unheils gelegt, das in der Unterdrückung der Natur und der Naturhaftigkeit des Menschen wurzelt. Diese Unterdrückung der eigenen Natur manifestiert sich geschichtlich und sozial in der Herrschaft von Menschen über Menschen wie in der Verdrängung dessen, was am Menschen Natur ist: seine Sinnlichkeit und Bedürftigkeit, seine Vergänglichkeit und Leidenschaft. Es manifestiert sich ebenso in der Herrschaft über Menschen, die zu Mitteln für die eigenen Zwecke gemacht werden. Sie manifestiert sich auch in der Ausbeutung der äußeren Natur, in der sie sich zuletzt gegen die Lebensgrundlagen der Menschen richtet.

4.

Das Naturschöne

Auch wenn Kunstwerke dem Zwang zur Identifikation und damit zur Unterwerfung unter das Allgemeine widerstehen, sind sie als Hervorbringungen des menschlichen Geistes auch Teil der universalen Vermittlung und damit der Logik der Naturbeherrschung. Darum ist auch die Kunst nicht schon selbst der Ort der Versöhnung; zu ihrer eigenen Wahrheit gehört ihre Negativität, die zugleich ein Transzendentes ist: „Kunstwerke begeben sich hinaus aus der empirischen Welt 16 Es ist also kein Anachronismus, sondern völlig konsequent, wenn in der Dialektik der Aufklärung die Urgeschichte der aufklärerischen Subjektivität und der instrumentellen Vernunft am Beginn abendländischen Denkens an der Gestalt des Odysseus entfaltet wird; vgl. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung (wie Anm. 10), S. 61–99. Die SirenenEpisode fokussiert den Zusammenhang von Selbsterhaltung und Beherrschung des Begehrens als Inbegriff der Rationalität; zugleich ist sie das Bild einer Kunsterfahrung, die sowohl unschädlich gemacht wurde, weil sie ohne Konsequenzen bleibt, als auch als Privileg dessen kenntlich wird, der nicht rudern muss.

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und bringen eine dieser entgegengesetzte eigenen Wesens hervor, so als ob auch diese ein Seiendes wäre.“17 Der Konjunktiv markiert die fundamentale Spannung: Was Kunst zur Erscheinung bringt, ist nicht die Wirklichkeit; Kunstwerke deuten auf ein Anderes der verwalteten Welt, ohne den Bann durchbrechen zu können. Weil Kunst als Hervorbringung des Subjekts gerade nicht die Versöhnung mit dem Nichtidentischen sein kann, sondern allenfalls dessen Statthalter und Gleichnis, würde sie selbst zur Ideologie, sobald sie sich absolut setzt; ihre Wahrheit hängt daran, dass sie auf ein Anderes verweist. Dessen Gegenwart in der Welt wird von Adorno mit dem traditionellen Ausdruck des „Naturschönen“ benannt, der wiederum in genuiner Weise entwickelt wird. Seine Notwendigkeit entsteht daraus, dass bei Adorno Natur nicht als das schlechthin Gegebene erscheint, das entziffert werden könnte und müsste; sie ist auch nicht das in sich Ruhende, das Heimat böte, wenn man sich ihm nur zuwendete. Vielmehr ist auch Natur in die universale Vermittlung einbezogen, so dass auch sie erst ihrer Befreiung bedürfte.18 Solange Natur „einzig durch ihre Antithese zur Gesellschaft definiert wird,“ ist sie noch gar nicht, „als was sie erscheint.“19 Natur ist somit zugleich Grundlage des Lebens und doch ausstehend und verborgen; diese Abwesenheit im Anwesenden wird erfahrbar im Naturschönen. „Das Naturschöne ist die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität. Solange er waltet, ist kein Nichtidentisches positiv da.“20 Adorno benennt damit eine Spannung, die auf ein Jenseits der gegenwärtigen Verhältnisse verweist, in dem erst Natur zu sich kommen kann; es liegt in der Sache, dass Adorno hier immer wieder theologisch aufgeladene Termini gebraucht. Er spricht damit dem Naturschönen letztlich eine eschatologische Dimension zu; in ihm erscheint die Welt in ihrer zukünftigen Gestalt, in der sie zu sich allererst unbeschädigt zu erfahren wäre. Aber auch das Naturschöne ist selbst wieder nicht offensichtlich; es ist vielmehr als Verborgenes darauf angewiesen, dass es zwanglos zur Erscheinung gebracht wird. Beim Stand der Dinge ist es die Kunst, die eben durch die Konzentration auf das ästhetische Material mit Natur dialektisch verbunden ist. „Als pure Antithesen aber sind beide aufeinander verwiesen: Natur auf die Erfahrung einer vermittelten, vergegenständlichten Welt, das Kunstwerk auf Natur, den vermittelten Statthalter von Unmittelbarkeit.21 17 Adorno: Ästhetische Theorie (wie Anm. 13), S. 10. 18 Was vielen Kritikern als abstrakte philosophische Spekulation erschien, ist mittlerweile eine allgemein bekannte Gegebenheit: Die ,unberührte Natur‘ ist spätestens dann nur noch Fiktion, wenn die Abfälle menschlicher Produktion auch im Polareis zu finden sind. 19 Adorno: Ästhetische Theorie (wie Anm. 13), S. 104. 20 Ebd., S. 114. 21 Ebd., S. 98.

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5.

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Natur als eschatologischer Begriff

Indem bei Adorno Kunstwerke den Zugang zur Lesbarkeit des verborgenen Naturschönen eröffnen, kann sich in ihnen Gegenwart des Verheißenen und Ausstehenden ereignen, das nicht greifbar und fixierbar ist, sondern sich im Moment ereignet. Hier liegen Nähe und Distanz der ästhetischen Theorie Adornos zu Hamanns Aesthetica; und Nähe wie Distanz sind von Bedeutung für die gegenwärtige Philosophie wie Theologie. Die Konstellation beider Denkbewegungen ist analog: Schöpfungslehre muss bei Hamanns eine aesthetica in nuce sein, weil die Erfahrung der Welt als Schöpfung destruiert ist, und Adornos Philosophie der Kunst muss eine implizite Schöpfungslehre sein, weil Kunst nur dann nicht selbst wieder Verdopplung des Verblendungszusammenhangs ist, wenn sie auf das Nicht-Gemachte verweist. Zeigt Hamanns Aesthetica in nuce eine Schöpfungslehre, die auf die poetischen Dimensionen der Welt und ihrer Wahrnehmung verweist, so ist Adornos Ästhetische Theorie mit ihrem Fokus auf die Rettung des Nicht-Identischen eine Kunstphilosophie, zu deren Kern die Freilegung der Erfahrung der Natur in ihrer Unverfügbarkeit gehört. Ihre Grundlage ist jeweils eine präzise Metakritik der Vernunft, die mit den Mitteln der Vernunft die Grenzen der Vernunft und ihre fatalen Konsequenzen vor Augen führt: „Jede Kreatur wird wechselweise euer Schlachtopfer und euer Götze.“22 Zu den Kennzeichen dieser Metakritik gehört auch das Bewusstsein, dass die Metakritiker selber nicht jenseits dessen stehen können, was sie kritisieren, weil es hier nicht um individuell behebbare Schwächen des Verfahrens geht, sondern um die Verfassung des Bestehenden, in dem und aus dem auch der Kritiker denkt und lebt.23 Darum ist bei Adorno wie bei Hamann die ästhetische Schöpfungslehre eschatologisch ausgerichtet. Ihre Analysen zeigen, dass die Erfahrung der Natur bis zur Sinnlosigkeit zerbrochen ist; „wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig.“24 Die Metakritik der Vernunft benennt somit die Notwendigkeit und zugleich die Unmöglichkeit, das Andere der Vernunft in die Erkenntnis einzubeziehen.25 Weil dieses Andere, für das ,Natur‘ steht, nun nicht wieder begrifflich zu fassen ist,

22 Hamann: AESTHETICA (wie Anm. 1), S. 115. 23 Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: ders.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Darmstadt 1998 (=Adorno GS 6), S. 7–412, hier S. 364: „Der Verblendungszusammenhang, der alle Menschen umfängt, hat teil auch an dem, womit sie den Schleier zu zerreißen wähnen.“ 24 Hamann: AESTHETICA (wie Anm. 1), S. 87. 25 Vgl. Adorno: Negative Dialektik (wie Anm. 23), S. 21: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“

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kommt der ,Poesie‘ und der Kunst die Aufgabe zu, das, was das Denken übersteigt, zur Erscheinung zu bringen. Hier ist allerdings auch die offensichtliche Differenz zu bedenken, die zwischen Hamanns und Adornos Metakritik liegt: Die negative Dialektik Adornos führt in eine Aporie, weil ihre Konsequenzen sich letztlich nur theologisch artikulieren lassen, was aber im Ansatz der materialistischen Philosophie ausgeschlossen scheint. Auf der anderen Seite steht Hamanns Denken, das von der biblischen Tradition herkommend seine Sprache findet und darin auf das Jenseits der beschädigten Vernunft verweisen kann, das im Glauben erfahren wird. Hamann kann hier einen deutlichen Schritt weitergehen als Adorno, weil in der biblischen Tradition stehend der Gleichnischarakter der Schöpfung nicht unbestimmt und im Konjunktiv bleiben muss und von Erlösung mehr als metaphorisch die Rede sein kann. Nun scheint mir freilich hier aber auch gerade das Produktive der Beziehungen von Adornos Ästhetischer Theorie und Hamanns Aesthetica zu liegen, weil bei näherem Hinsehen diese Differenz sich selbst wieder zu verflüssigen beginnt.

6.

Adornos negative Theologie

In den bisherigen Darlegungen wurde deutlich, dass die Philosophie Adornos und als eines ihrer zentralen Stücke die ästhetische Theorie unmittelbar essentielle theologische Motive berührt. Mehr noch: Sie ist ohne theologische Fundierung gar nicht konsistent zu denken. Nicht zuletzt das dürfte viele Schüler Adornos dazu bewegt haben, seine Konsequenz zu meiden und folglich die Radikalität seiner Reflexionen zu ermäßigen. Das aber bringt sie um ihren Kern und lässt sie als überpointierte Formulierungen einer durchaus gängigen Sozialkritik erscheinen; die Folge ist eine Historisierung der Philosophie Adornos. Demgegenüber scheint mir eben darin die aktuelle Bedeutung Adornos und das Uneingelöste seiner Philosophie zu liegen. Das impliziert keineswegs eine theologische Vereinnahmung Adornos; im Gegenteil ist gerade Adornos Reserve gegen die Theologie theologisch fruchtbar zu machen. Auch ist die implizite Theologizität bei Adorno notwendigerweise gebrochen; er selbst will nicht ein nur materialistischer Denker bleiben, sondern muss sich auch aus dem Zentrum der ideologiekritischen Fundierung seines Denkens gegen den Ausgriff ins Theologische verwahren. Die daraus resultierende Spannung ist nun nicht nur der Methodik geschuldet, sondern folgt der geschichtlichen Notwendigkeit, wie sie sich als Konstitutivum von Kunst erweisen lässt.

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Durch ihre unvermeidliche Lossage von der Theologie, vom ungeschmälerten Anspruch auf die Wahrheit der Erlösung, eine Säkularisierung, ohne welche Kunst nie sich entfaltet hätte, verdammt sie sich dazu., dem Seienden und Bestehenden einen Zuspruch zu spenden, der, bar der Hoffnung auf ein Anderes, den Bann dessen verstärkt, wovon die Autonomie der Kunst sich befreien möchte.26

Adorno ist sich der Aporie in den Grundbegriffen seines Denkens sehr bewusst, wie sie auch als naheliegende Kritik immer wieder geltend gemacht wurde: Wenn Ideologie total wird und der Verblendungszusammenhang also geschlossen sei, wie Adorno behauptet, dann sei auch die Erkenntnis dieser Totalität unmöglich – folglich sei Adornos Grundgedanke ein Selbstwiderspruch.27 Adorno sieht freilich genau, dass dieser Gedanke gleichsam ein ,Licht von außen‘ voraussetzt. Dies ist zu Recht im vielzitierten abschließenden Aphorismus der Minima Moralia ausgesprochen, in die im Angesicht der Verzweiflung einzig legitime Gestalt von Philosophie der Versuch wäre, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“28 Der Konjunktiv steht für die einzige Möglichkeit, in der Erlösung im kategorialen Rahmen von Adornos Philosophie erscheinen kann. In diesem Gedanken ist impliziert, dass dieser Standpunkt keiner ist, den man willentlich beziehen könnte. Er bleibt ein transzendenter, der gleichwohl notwendig vorausgesetzt werden muss, wenn überhaupt Erkenntnis im emphatischen Sinn möglich sein soll: „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.“29 Weil dieses ,Außen‘ aber einerseits vom materialistischen Philosophen nicht genannt werden kann, andererseits die Realität der Sehnsucht und der Verheißung auf seine Wahrheit deutet, muss er im Konjunktiv bleiben; darum kann auch die Lesbarkeit des Verborgenen nicht anders gedacht werden als in Relation zu einem Eschaton, das Adorno wiederum nicht positiv fassen kann. Die Gründe, warum Adorno hier aber nicht weitergehen kann, liegen nicht allein in der Begrenzung durch den materialistischen Ansatz seiner Geschichtsphilosophie, 26 Adorno: Ästhetische Theorie (wie Anm. 13), S. 10. Adorno spricht übrigens in diesen Zusammenhängen weder von Glaube noch von Religion – ,Religion‘ ist bei ihm offenkundig ein soziologischer und geschichtlicher Begriff. 27 Dass dieser Einwand auch gegen eine erkenntnistheoretisch konsequente Fassung der Erbsündenlehre erhoben werden kann und erhoben wird, liegt auf der Hand. Aber wie bei Adorno ist eben die vordergründige Widersprüchlichkeit Teil der Sache, nicht der Konzeption. 28 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Darmstadt 1998 (=Adorno GS 4), S. 283. 29 Ebd. Es ist freilich bemerkenswert, dass Adorno in der Fortsetzung ganz indikativisch formuliert: „Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird.“ Die Nähe dieses Gedankens zu Benjamins Geschichtsphilosophie ist offensichtlich.

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sondern sind auch in der Sache begründet: Die ungebrochene Behauptung der Positivität der Erlösung müsste nämlich umschlagen in die Bekräftigung des bestehenden Falschen. Dies ist schon Adornos Vorwurf gegen Hegels affirmative Dialektik, in der die Synthese der Widersprüche schon in diesen positiv enthalten sei und sich gesetzmäßig verwirkliche; er richtet sich dann gegen die falsche Versöhnung in Philosophie und Kulturindustrie. Eben das muss sich dann erst recht gegen die Theologie richten: Weil sich die Grundverfassung der Gesellschaft nicht geändert hat, ist nach Adorno „die aus Not auferstandene Theologie und Metaphysik, trotz mancher tapferen protestantischen Gegenwehr, zum Gesinnungspaß fürs Einverständnis“ verdammt.30 Adornos Verweigerung des Übergangs zur Theologie ist selbst theologisch eminent bedeutsam, weil die Verkehrung der eschatologischen Hoffnung in die Rechtfertigung des Bestehenden Theologie zur Ideologie machte und macht.31 Darum ist auch die Theologie gut beraten, wenn sie sich eines allzu raschen Ausgriffs in die Positivität enthält. Dies ist keineswegs eine Anpassung an die säkulare Vernunft, sondern folgt vielmehr dem ideologiekritischen Bewusstsein, das der Theologie eben nicht äußerlich ist, sondern die notwendige Konsequenz aus dem Wissen über die Grenzen des menschlichen Denkens und Handelns. Weil aber gerade die Theologie wissen muss, dass die Wahrheit Gott zukommt, und eben darum nicht unmittelbar dem menschlichen Intellekt, ist die Art, in der uns die Wahrheit zugänglich ist, nicht die des Besitzes. Dass wir wie in einem Spiegel bruchstückhaft erkennen, ist das, was die Theologie dem Denken immer wieder einschärfen muss. Adornos Kritik an affirmativer Theologie ist so als Zurückweisung einer theologia gloriae erkennbar, die sich selbst im Schauen statt im Glauben wähnt. Adorno macht Ernst mit der Fragmentarität des Denkens und seiner letzten Haltlosigkeit. Ihm ist auch bewusst, dass das Denken letztlich nicht nur einer transzendentalen Begründung, sondern vor allem eines transzendenten Grundes bedarf. Diesen Grund kann er in seinem Denkrahmen nicht anders als im Konjunktiv aussprechen. Die Theologie muss hier weitergehen; sie kann das aber nur in der Zurückhaltung, die aus ihrem Gegenstand kommt: Der Rede von Gott kann nur dann legitime Rede sein, wenn sie aus der Erfahrung der Gegenwart Gottes in seinem Wort selbst kommt. Das jedenfalls ist bei Hamann zu lernen, der die Grenze menschlichen Redens und Erkennens sehr genau reflektiert wie auch die Nötigung, gerade in der Wahrnehmung dieser Grenze auch das auszusprechen, was uns von Gott her zukommt. An dieser Differenzierung 30 Adorno: Negative Dialektik (wie Anm. 23), S. 390. 31 Das bleibt der ungebrochen aktuelle Impuls theologischer Religionskritik; und es ist nicht zu sehen, wie der in der gegenwärtigen Theologie so verbreitete Versuch, sich aus einem allgemeinen Religionsbegriff zu begründen, diesem Umschlag ins Affirmative sollte entgehen können.

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entscheidet sich die Rezeption Hamanns für die gegenwärtige Theologie, die nur im Nachgehen der skizzierten dialektischen Wege erfolgen kann, wenn sie nicht umschlagen will in eine affirmative Rückwärtswendung.

7.

Radikaler Glaube

Diese Unterscheidung ist zur Geltung zu bringen gegen die Rezeption Hamanns, die ihn für einen theologischen Rückgang hinter die Aufklärung beansprucht. Dies geschieht etwa in exemplarischer Weise bei John Milbank, der Hamann und Jacobi als Kronzeugen für sein Programm einer ,Radical Orthodoxy‘ anführt. Die Anerkennung, die Milbank beiden als Kritiker der Philosophie und Quelle „of a more genuinely anti-liberal radical orthodoxy“32 zollt, erscheint mir als irreführende Vereinnahmung Hamanns, die ihn, durchaus vergleichbar mit Teilen der Rezeption durch Zeitgenossen und auch im 19. Jahrhundert, als konservative Gegenstimme zur Aufklärung verstehen will. Dabei wird aber, wie bei Milbank zu sehen ist, Hamanns subtile Meta-Kritik nicht nur zu einer eindimensionalen Anti-Kritik;33 auch wird die für Hamann zentrale Einsicht in die Grenzen der Erkenntnis zurückgenommen: Statt die certitudo des Glaubens zu buchstabieren, setzt Milbank auf eine neo-platonisch konstruierte Gewissheit eines scheinbaren Offenbarungswissens.34 Die Differenz, die gerade auch theologisch grundlegend ist, wird an einer pointierten These Milbanks erkennbar, der zufolge kein Zweifel bestehe, dass bei aller Deutlichkeit des lutherischen Charakters des Denkens von Hamann und Jacobi gelte: „what they articulate is a kind of theory of ,knowledge by faith alone‘ 32 John Milbank: Knowledge. The Theological Critique of Philosophy in Hamann and Jacobi. In: Radical Orthodoxy. A New Theology. Hg. von John Milbank, Catherine Pickstock und Graham Ward. London, New York 1999, S. 21–37, hier S. 24. 33 Milbank argumentiert in seinem programmatischen Verweis auf Hamann kaum mit dessen Texten, sondern benutzt das Stichwort der ,Metakritik‘, ohne sich auf die Logik des Begriffs einzulassen, und beruft sich auf eine Gegnerschaft zu Kant, ohne die Komplexität des Verhältnisses zu reflektieren. Hamann erscheint so als Orientierungspunkt in Milbanks geistesgeschichtlicher Konstruktion; deren Kategorien werden dann in die verwendeten Texte eingetragen. 34 Bernd Wannenwetsch erkennt zu Recht in der ,Radical Orthodoxy‘ den Gestus einer theologia triumphans; vgl. Bernd Wannenwetsch: Der Gestus der Theologie. Radical Orthodoxy als Beispiel einer theologia triumphans? In: Radical Orthodoxy. Eine Herausforderung für Christentum und Theologie nach der Säkularisierung. Hg. von: Sven Grosse und Harald Seubert. Leipzig 2017, S. 218–238 Dies ist freilich nicht nur der Gestus, in dem Milbank argumentiert, sondern auch Teil der theologischen Programmatik: Auch wenn mit der Tradition behauptet wird, solche Theologie überlasse Wahrheit letztlich Gott, wird das durch die ständige Beschwörung des ,entweder/oder‘ und den Anspruch unterlaufen, außerhalb der eigenen Perspektive könne jedenfalls Wahrheit nicht sein.

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to complement the notion of ,justification by faith alone‘.“35 Zumindest für Hamann36 ist das einer logischen Subreption vergleichbar : Der Begriff ,Glaube‘ wird in beiden Ausdrücken nicht nur unterschiedlich gebraucht; vielmehr schließt Rechtfertigung aus Glauben gerade aus, dass Glaube in Wissen transformiert werden könnte. Damit ist das Verhältnis beider nicht komplementär, sondern mit Blick auf die Rechtfertigung kontradiktorisch: ,knowledge by faith‘ schließt ,justification by faith‘ aus, weil in solchem Wissen der rechtfertigende Glaube zur Formel wird.37 Diese Unterscheidung, die von der Radical Orthodoxy programmatisch vernachlässigt wird, ist philosophisch wie theologisch essentiell; sie trägt ebenso das Autorhandeln Hamanns. Die Metakritik der Vernunft bei Hamann setzt nicht ein anderes Wissen und eine andere Gewissheit an die Stelle der Selbstbegründung der Vernunft, sondern speist sich aus dem Umgang mit der Schrift, die in Bewegung bringt und auf metanoia zielt. Die Schrift ist für ihn im emphatischen Sinn auch Lektüre, nicht ein Speicher von Offenbarungswissen. Darum führt Hamanns Weg nicht zu einer neuen gesetzten Positivität; sein Modus ist nicht das souveräne Behauptung, sondern das Fragen, die Mahnung, die Enthüllung. Hamann ist Dialektiker im Wortsinn; Wahrheit ist hier nicht ablösbar von der Lebenswirklichkeit der Redenden; sie ist im Kern der Weg zur Selbst-Erkenntnis. Darum ist sein Stil nicht Marotte oder zeitbedingte Gestalt, sondern die präzise literarische Entsprechung dazu, dass die Wahrheit Gottes nicht Besitz werden kann, sondern ihren Ort im Diskurs hat.38 Dem entsprechen literarisch genau die Gattungen, die Hamann bevorzugt: Es sind dies nicht Abhandlung und das System, sondern Brief und Rede, weil sein Schreiben darauf zielt, Moment eines Gesprächs zu sein und nicht dessen Beendigung.39 Dem entsprechend ist seine Erkenntnislehre nicht metaphysisch, sondern folgt konsequent Luther, indem sie nicht auf ein privilegiertes Wissen, sondern auf ein Leben aus Gott zielt. Und eben deshalb ist die Wahrheit, um die es ihm zu tun ist, immer genau bezogen auf seine und je meine Zeit; ihr Kennzeichen ist, dass sie das Heute

35 Milbank: Knowledge (wie Anm. 32), S. 23. 36 Ob Milbank sich zu Recht auf Jacobi berufen kann, kann hier nicht weiter verfolgt werden; freilich scheint mir auch das sehr zweifelhaft. 37 Allenfalls wäre zu sagen: Die Gerechtigkeit aus Glauben verwandelt auch das Wissen. 38 Die Wahrheit Gottes ist auch nicht Besitz ,der Kirche‘ und kann darum auch nicht als ,Orthodoxie‘ fixiert werden. Als Besitz und als fixierte verlöre sie das, was sie als Gottes Wahrheit ausmacht: ihre Lebendigkeit und schöpferische Kraft. 39 Erscheinen Adornos Schriften prima vista als akademische Schriften im üblichen Sinn, so zerbricht dieser Eindruck im Nachgehen der Gedanken: Durch die beständige dialektische Brechung versetzen sie ebenfalls in Bewegung und schließen die Fixierung in metaphysische Aussagen aus.

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Wolfgang Schoberth

ergreift und nicht im scheinbar Ewigen ruht. Der Hörer des Wortes Gottes bleibt Hörer und wird nicht zum Besitzer.40

8.

Die Lesbarkeit des Verborgenen und die Erneuerung des Sinnes

Hamanns und Adornos Denken und Schreiben zielt auf die Veränderung dessen, was ist; sie tun dies jeweils mit den intellektuellen und sprachlichen Mitteln ihrer Zeit, um diese über ihre Verkürzungen hinauszuführen. Sie tun dies in dem Bewusstsein, selbst nicht über ein höheres Wissen zu verfügen, sondern begeben sich in die dialektische Analyse der Verkürzungen und Verirrungen des Bestehenden, dem sie selbst zugehören. Die Wege, auf denen sie diese Intention verfolgen, unterscheiden sich: Adorno hält an dem fundamentalen Wahrheitsanspruch der Philosophie fest und arbeitet sich ab an dessen Uneinlösbarkeit. Dies bestimmt auch seine Kunsttheorie, die an der tradierten Wahrheitsästhetik festhält, wenn auch in dialektisch gebrochener Gestalt. Kunstwahrheit steht der Wahrheit der begrifflichen Aussage gegenüber und ist ihr doch strukturverwandt. Weil Adorno wenig Aussicht auf eine reale Veränderung der Verhältnisse angesichts der gesellschaftlichen Totalität sieht, wird ihm die Kunst zum Rückzugsort des unverkürzten Lebens. Hamanns Haltung dagegen ist die des Rhetors, der auf Umkehr seiner Hörer und Leser setzt und auf die Veränderung ihrer Lebenspraxis. Beides lässt sich verstehen als die Arbeit an der Durchbrechung der Schematismen, in denen diese Welt wahrgenommen wird. Von hier aus wäre auch die Frage nach der Lesbarkeit der Welt neu aufzunehmen. Hamann steht vor derselben Aporie, wie sie an Adorno erkennbar war, dass nämlich seine Argumentation logisch eine spezifische Position voraussetzt, von der aus die Kritik möglich ist, und diese Position zugleich als ungenügend durchschaut, weil sie unvermeidlich in dem befangen ist, was sie kritisiert. Beide begegnen dem zum einen damit, dass sie immanente Kritik betreiben wollen, die die Kategorien des Kritisierten aufnehmen, um sie ihrer Widersprüchlichkeit zu überführen. Sie sind sich aber zum anderen dessen bewusst, dass ihre Argumentation letztlich von einer Wahrheit abhängt, die ihnen nicht verfügbar ist, sondern allenfalls jeweils von außen zukommt.

40 Vgl. Sven-Aage Jørgensen: Nachwort, in: Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten – Aesthetica (wie Anm. 1), S. 163–191, hier S. 175: Hamanns „dunkle Kürze [ist] Ergebnis eines bewußten Stilwillens […], nicht unmittelbarer Ausdruck eines übermächtigen Erlebnisses; […] sie ist das Ergebnis strategischer Überlegungen. Sie ist Selbstbescheidung im Hinweisen auf das Heilige, sie ist dessen Verhüllung und Schutz, aber auch ein Lockmittel.“

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Wiederum ist es die theologische Dimension, die die Differenz markiert: Weil Hamann konsequent schöpfungstheologisch denkt, ist ihm die Grenze nicht allein Begrenzung, sondern auch gewährter Raum. Die Einsicht in die Grenze des Wissens, die Hamann zu seiner spezifischen Gestalt der Autorschaft führt, die in der Solidarität der Suchenden und auf Gottes Geist Angewiesenen wurzelt, ist die Entsprechung zur Wahrnehmung der Geschöpflichkeit und damit auch Ausdruck der Dankbarkeit.41 In der „Apostille“ zur Aesthetica in nuce, die gleichsam Selbstkommentar in der kritischen Lektüre des eigenen Textes ist, legt der Verfasser seine Textabsicht offen. Dabei wird noch einmal die eigene Position – die ohnehin selbst schon mehr Fragen und Tasten war – gebrochen. Selbst das sich selbst zurücknehmende, reaktive Verfahren der Aesthetica verfällt dem Verdikt der Eitelkeit nicht weil es falsch (und also verbesserbar) wäre, sondern aus prinzipiellen Gründen: Auch der Metakritiker ist Sünder. Das aber macht ihn nicht sprachlos, sondern fordert gerade die parakletische Rede und das verwandelnde Denken. Indem Hamann für die Überwindung dieser Diastase explizit auf den Geist Gottes verweist, wird das logische Dilemma theologisch aufgelöst, aber nicht negiert. Hier hängt alles davon ab, ob die Wahrheit Gottes wiederum für die Legitimierung des Denkens und von Wissenssystemen in Anspruch genommen wird und damit umschlägt in menschengemachte Ideologie, oder ob die Differenz von göttlichem Reden und menschlichen Hören konsequent zur Geltung gebracht wird. Hamann führt die traditionelle Rede von der Lesbarkeit der Natur und der Geschichte weiter und verändert sie: Die Welt ist ihm weniger Buch als Anrede, das heißt aber allemal als situativ begrenzte und darin treffende, je und je neue, aber auch unwiederholbare Wahrheit.42 Somit ist es nicht die Frage, ob die Schöpfung Anrede ,ist‘, sondern ob wir bereit sind, die Anrede zu hören. Das zielt nicht auf eine Bestimmung des Seins der Welt, sondern auf die Erfahrung der Welt als Schöpfung. Diese nur scheinbar subjektive Wendung ist bei Hamann so zentral wie bei Luther ; bei beiden ist diese aber nicht als subjektive Hervorbringung oder ,Deutung‘ misszuverstehen. Ich kann nur das als Anrede vernehmen, was mir von außen zukommt; wenn ich sie aber nicht höre, ist die Welt stumm. Eine stumme Welt wäre aber beliebig manipulierbar – es gehört zu den Voraussetzungen der technischen und zugleich ökonomischen Vernunft, dass sie die Welt zum Schweigen bringen muss.

41 Ebd., S. 176: „Dieser Stil ist Ausdruck der Erfahrung von der Kreatürlichkeit und der Hoheit des Menschen, von seiner Leiblichkeit und seiner christlich verstandenen Göttlichkeit (vgl. Aesthetica in nuce).“ 42 Ebd., S. 171.

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Lesbarkeit der verborgenen Schöpfung ist darum keine bessere Entschlüsselung der Substanz und des Geschicks der Welt, sondern die Aufgabe, die sich in jedem Leben stellt: die eigene Geschöpflichkeit vor Gott und aus Gott zu verstehen und zu leben. Das Verborgene zu lesen ist nicht der Versuch, das Geheimnis der Welt zur Aussage zu bringen; was es zu lesen gilt, bleibt auch in seiner leibhaftigen Erfahrung Mysterium. Solches Lesen aber ist wiederum nur möglich in der Bitte um den Geist Gottes, der sich nicht feststellen lässt und doch gegenwärtig ist.

Ulrich Gaier (Konstanz)

„Turbatverse“ und „des Poeten bescheiden Theil“

Die Stelle in Hamanns Aesthetica in nuce, die hier wegen einiger Ungereimtheiten in der bisherigen Forschung noch einmal ausgelegt, in ihren Kontext gestellt und möglichst voll ausgeschöpft werden soll, lautet vollständig: Rede, daß ich Dich sehe! – – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme. – – Die Schuld mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – – sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil.1

Zitat- und Worterklärungen Wie die ganze Rhapsodie ist auch diese Stelle komponiert aus Zitaten.2 „Rede, daß ich Dich sehe!“ ist ein von Erasmus aufgezeichnetes3, auf Sokrates zurückgehendes Apophthegma, das Hamann auf die Schöpfung anwendet, die er nach Ps 19, 2–5 als „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ deutet. Nach diesem Psalm erzählen die Himmel die Ehre oder Herrlichkeit Gottes, und das Firmament verkündigt das Werk seiner Hände. In der irdischen Zeit sagen es Tage und Nächte zueinander, im irdischen Raum sind es alle Länder bis ans Ende der Welt, durch die die Losung läuft; sie ist Stimme, die in jeder Sprache, Rede, Mundart zu hören ist, d. h. der Sinn der von der Stimme getragenen Worte und Rede ist im 1 N II, 198,28–199,3 (Aesthetica in nuce). Der folgenden Interpretation liegt der Text der Aesthetica in nuce (N II, 195–217) zugrunde. Seiten- und Zeilenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 2 Vgl. die Apostille N II, 217. 3 Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Hg. und komm. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1968, S. 86.

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Psalm bis dahin unbestimmt. Klar ist so weit, dass die Schöpfung Rede und ihr Schöpfer Redner ist. Der Schöpfer, griech. poiHtHs, schafft eine Dichtung, griech. poiHsis;4 er ist nach Hamann „der Poet am Anfange der Tage“ und „derselbe mit dem Dieb am Ende der Tage“ (N II, 206,20f.), d. h. nach angegebener und parallelen Stellen Jesus Christus;5 hier verweist er auch auf 2Kor 4, 6, wonach Gott, wie er das Licht aus der Finsternis aufglänzen hieß, so auch einen Lichtglanz in unsere Herzen gab, mit dem wir die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi erkennen können. Der Poet Christus schafft also das Gedicht der Schöpfung, während Gott das Tageslicht nach 1Mose 1,3 und das Licht zur Erkenntnis Christi in unseren Herzen schafft. Das harmonische Verhältnis von Vater und Sohn ist „Herrlichkeit“6, Erscheinung und Glorie eines unsichtbaren Gottes, die auf dem Angesicht Christi erkennbar wird, von Anfang an Stimme ist, aber in jeder Mundart als Losung, Erkennungswort und Formel interpretiert werden muss. Jetzt aber ist dieses harmonische Verhältnis gestört; wer daran Schuld hat, bleibt zunächst offen: „wir haben an der Natur nichts als Turbatverse […] zu unserm Gebrauch übrig“. Das sind durcheinander gebrachte Verse, aus denen früher die Schüler das ursprüngliche Gedicht wieder zusammensetzen sollten. Hamann zitiert in einer Fußnote den spätrömischen Dichter Ausonius, der von den zerschnittenen Substantiven bei Lucilius und einem Nachahmer geschrieben hatte. Auf jeden Fall bleibt das Substantiv wie das ursprüngliche Gedicht in seiner Substanz erhalten; man kann deshalb nicht sagen, es seien nur Fragmente übrig7 oder es sei „das Buch der Natur und Geschichte zu ,Turbatversen‘ zerstückelt“8. Die Natur bleibt der Substanz nach vorhanden, ist aber als Rede oder in Verse geordnetes Gedicht zunächst für uns unverständlich geworden; die Turbatverse sind ja „zu unserm Gebrauch übrig“, d. h. wir haben zunächst nur

4 Der Kosmos als Dichtung ist durch Astrologie und die Vorstellung der Sphärenharmonie ein alter Topos (vgl. auch Anm. 36). 5 In seinem Kommentar zu Platons Sophistes schreibt Marsilio Ficino über den Logos: „God’s divinely harmonious Word in its eloquence, poetry and music was what created the cosmos, and its sublime beauty was first heard in chaos not seen.“ Übersetzt in Michael J.B. Allen: Icastes. Marsilio Ficino’s Interpretation of Plato’s Sophistes. Berkeley, Los Angeles, London 1989, S. 165. 6 Hebr. kabod, griech. doxa, lat. gloria, deshalb deutsch auch Ehre, Ruhm. 7 Sven-Aage Jørgensen: Querdenker der Aufklärung. Studien zu Johann Georg Hamann. Göttingen 2013, S. 175: „Die Historie ist bei ihm ein Buch, von ihr sind nur ,Turbatverse‘ (N II 198) übrig, Fragmente.“ Zunächst sagt Hamann hier nichts über Historie, sondern über Natur; zweitens hieße, es seien nur „Fragmente“ übrig, dass weite Teile der Natur und, nach Jørgensen, auch der Geschichte irgendwohin verschwunden wären. 8 Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München, Zürich 1988, S. 103. Die hier behauptete Zerstückelung bezieht sich wiederum (vgl. Anm. 7) nicht auf Geschichte, auch nicht auf Natur als Buch (wenn schon, dann auf Rede oder Dichtung), sondern auf den zerrissenen Poeten.

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sie, können und sollen sie aber gebrauchen, wofür Hamann gleich Anweisungen an Gelehrte, Philosophen und Poeten zu geben hat. Zuvor aber schreibt er noch: „wir haben […] nichts als […] disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig.“ Der Ausdruck wird von Horaz in Sermones I 4, 62 gebraucht und bedeutet zunächst Ähnliches wie Turbatverse, nämlich ein durch willkürliche Eingriffe verändertes Gedicht, das Horaz im Scherz auf den ganzen Dichter bezieht, so als wäre der Dichter selbst zerrissen und man hätte nur seine Glieder noch zum Gebrauch übrig. Mit seinem Scherz spielt Horaz jedoch auf den Mythos vom Tod des Orpheus an, der von den Mänaden zerrissen wurde;9 seine Glieder wurden auf dem Feld verstreut, sein Haupt in den Fluss Hebrus geworfen, der es nach Ovid Metamorphosen XI singend bis zur Insel Lesbos trug. Orpheus war nicht nur ein Sänger und Dichter, sondern stand als Sohn Apollons und der Muse Kalliope noch über den Halbgöttern, etwa über Dionysos, der ihn durch seine rauschgiftsüchtigen Weiber zerreißen ließ, obwohl er sich für die Verbreitung des Dionysoskults eingesetzt hatte.10 Mit dieser Beziehung auf den zerrissenen Poeten wird aber über die Frage des Metrums11 und des Gedichtes hinaus die Frage nach dem Schöpfer virulent, der die Natur geschaffen hat, die uns jetzt nur Glieder ihres zerrissenen Schöpfers zum Gebrauch übrig lässt. Gebrauch soll auch gemacht werden; er ist nämlich der durch richterlichen Bescheid beschiedene Anteil der drei Berufsgruppen: der Gelehrte soll die in der Natur verstreuten Glieder sammeln, der Philosoph soll sie auslegen, der Poet soll sie nachahmen „oder noch kühner! – – sie in Geschick […] bringen.“

Kühnheit Schon das Nachahmen ist kühn,12 geschieht es doch durch den menschlichen schaffenden Poeten und meint deshalb auf keinen Fall die Nachahmung der „schönen“, d. h. idealisierten Natur, wie sie der französische Kunstkritiker Batteux gelehrt hatte. Der schöpferische Künstler ahmt nicht die, sondern der Natur nach, wie man damals unterschied, denn ihm „stehen alle mögliche Welten zu Diensten. Er schränkt seinen Witz also nicht in den Lauf der wirklich vorhandenen Natur ein. Seine Einbildungskraft führet ihn auch in das Reich der übrigen Möglichkeiten, die der itzigen Einrichtung nach für unnatürlich gehalten wer9 Hamann weist in der Aesthetica in nuce selbst auf diesen Tod hin (N II, 201, Anm. 18). 10 Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon (1724), bearb. von J. J. Schwabe (1770). ND Darmstadt 1967, Sp. 1809–1818. Dionysos selbst wurde von den Titanen zerrissen, von Zeus wieder zusammengesetzt und belebt. 11 Nach Hederich soll Orpheus sogar den Hexameter erfunden haben. 12 Vgl. Horaz A.P. 9f.: „Pictoribus atque poetis / Quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.“

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den.“13 So Gottsched. Die Welt, die der Dichter entwirft, muss entweder dem Hörensagen folgen oder in sich stimmig sein14 : die einmal gemachten Annahmen (z. B. sprechende Bäume) müssen durchgängig gelten und damit innere Wahrscheinlichkeit stiften. Das ist die Kühnheit des menschlichen Poeten, der den göttlichen nachahmt, indem er eine neue, mögliche und in sich stimmige Welt fingiert. „Noch kühner“ ist der menschliche Poet, wenn er es wagt, die in der Natur zerstreuten Glieder des göttlichen Poeten, also Christi, zu unserm Gebrauch „in Geschick zu bringen“. Das ist ein Ausdruck aus der Rhetorik, geht es doch in diesem Abschnitt der Aesthetica in nuce um Rede und Poesie, die bis in Hamanns Zeit prinzipiell beide auf der Basis der antiken Rhetorik gelehrt wurden.15 „Geschick“ entspricht im Vokabular der Redekunst griech. prepon, lat. aptum; der Rhetorikschüler hatte zu lernen, alle Teile der Rede, ihre Anordnung, ihre Sprache, ihren Ausdruck, ihre Präsentation untereinander und mit den äußeren Gegebenheiten – Redeziel, Parteiinteresse (auch des Gegners), Redeanlass, Ort und Zeit, Publikum – in Übereinstimmung zu bringen.16 Aristoteles hatte dafür den Ausdruck oikonomia verwendet;17 wenn Hamann später in seinem Text den „Charakter der Eva, das Original zur schönen Natur und systematischen Ökonomie“ nennt (N II, 200,12f.), meint er die allseits passende Ordnung in der Zusammenstellung (syste¯ma) der Redeteile, die ein Redner zu leisten hat. Nun ist für Hamann zugleich die Schöpfung eine Rede; sie wies also ursprünglich diese „systematische Ökonomie“ auf und war mithin das „Original der schönen Natur“. Diese Rede ist jetzt durcheinander gekommen; der menschliche Poet hat die Aufgabe, sie wieder „in Geschick zu bringen“. Seine Materialien seien „Natur und Schrift“ (N II, 210,7), seine Leistung muss zunächst sein, „die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder auferwecken“ (N II, 211,5f.) zu können. Wenn die Sprache der Natur sogar ausgestorben ist, hat genau genommen der Schuldige an der Katastrophe nicht nur die Ordnung des Gedichts der Natur verwirrt, sondern Turbatverse hinterlassen, deren Sprache überhaupt nicht mehr zu verstehen ist. Deshalb muss eine Lösung gefunden werden, die zunächst die Sprache wieder auferweckt: „lest, was Bacon von der Magie dichtet“ (N II, 211,10f.) – wenn Hamann dies mit „Wallfahrten nach dem glücklichen Arabien“ und „Kreuzzüge[n] nach den Morgenländern“ in Verbindung bringt, denkt er an 13 Johann Christoph Gottsched: Schriften zur Literatur. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1972, S. 89. 14 Ebd., S. 143, wo Gottsched Horaz A.P. 119f. zitiert; dabei unterstreicht er „sibi convenientia“. 15 Erst Gottsched hatte seiner Critischen Dichtkunst (1730) eine Ausführliche Redekunst (1736) folgen lassen. 16 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, § 445. 17 Ebd., § 443.

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die „Magi aus Morgenlande“18, die auf langen Wegen den Stall von Bethlehem fanden.

Magie und Philosophie Bacon aber schrieb von der Magie, sie habe es damit zu tun gehabt, Bau und Gestalt natürlicher Dinge und ihre Übereinkunft mit menschlichen Verhältnissen zu bemerken. „Und das sind nicht bloße Ähnlichkeiten […], sondern ganz offensichtlich die Prägungen oder Zeichen ein und derselben Natur, verschiedenen Materien und Unterlagen eingedrückt.“ An gleicher Stelle erklärte er Magie als „ein Wissen von den Übereinstimmungen der Dinge überhaupt“ und meinte daraus „die Erscheinung der Weisen zu Bethlehem“ erklären zu können (N II, 211,33–40, Anm. 51). Diese hat freilich für Hamann nicht nur naturgesetzliche Gründe, aber die „Wiederherstellung ihrer Magie“ (N II, 211,8) wird die „Sprache der Natur von den Todten wieder auferwecken“. Wie das? Das Studium der verschiedenen Materien und Unterlagen von Natur- und Menschenverhältnissen wird die besprochenen Prägungen und Zeichen aufdecken, die den verschiedenen Lebensbereichen eingedrückt sind (N II, 211,33–40, Anm. 51). Das aber ist dann Sprache der Natur, die nach Bacon die Ideen des göttlichen Geistes abbildet (N II, 207,30–42; Anm. 40). Sie müsse man, so Bacon, deutlich von den fälschlich dafür gehaltenen Vorurteilen (idola) des menschlichen Geistes unterscheiden, die nach Hamann nichts anderes sind als Abstraktionen um des bequemen Lebens willen, durch die aber „unsere Begriffe von den Dingen eben so sehr verstümmelt werden, als der Name des Schöpfers unterdrückt und gelästert wird“ (N II, 207,12–14). Die Werke der Natur sind nämlich nicht nur nützliche Wohltaten für das Leben, sondern auch Unterpfänder der Wahrheit, denn in ihnen sind Wahrheit und Nützlichkeit identisch (Bacon, in Anm. 40 zitiert). Damit aber sind die Schuldigen an der Störung der Natur und an der Zerreißung ihres Schöpfers gefunden! Den Philosophen ruft Hamann deshalb zu: „Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt […] Bacon beschuldigt euch, daß ihr sie durch eure Abstractionen schindet.“ (N II, 206,4f. und 13) Denn „die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der empfinden? Sind auch gelähmte Sennadern zur Bewegung aufgelegt?“ (N II, 206,1–3) „Leidenschaft allein giebt Abstractionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; – Bildern und Zeichen Geist, Leben und Zunge“ (N II, 208,20–22). Werden philosophische Abstraktionen und Hypothesen durch Leidenschaften belebt, entsteht mit „Geist, Leben und Zunge“ eine Sprache – es ist 18 N II, 137–141.

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die gesuchte ausgestorbene Sprache der Natur, deren dreistufige Konkretisierung Geist, Leben, Zunge in drei immer dichteren Zeichen zur Anwendung kommt: „Wo sind schnellere Schlüsse? Wo wird der rollende Donner der Beredsamkeit erzeugt, und sein Geselle – der einsylbichte Blitz – –“ (N II, 208,22–24). Das Wort „Blitz“ ist im Deutschen einsilbig, und es ist, von Gott gesprochen, wirkendes Wort wie die Sache, die es bezeichnet, „denn so er spricht, so geschieht’s“, wie der von Hamann zitierte Ps 33, 9 sagt. Nicht nur die Sprache der Natur wird also wiederbelebt, sondern auch ihre Beredsamkeit; sie ist ja „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“. Wenn aber wir „an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig“ haben, so kennen wir nun auch den Schuldigen: es ist die mordlügnerische Philosophie, die die Natur durch ihre bequemen Abstraktionen schindet. Sie ist es auch, die Sinne und Leidenschaften verstümmelt, das sind die Werkzeuge, die aus Abstraktionen und Hypothesen wieder Sprache und Beredsamkeit der Natur werden lassen.

Bilder, Mythen, Zeichen, Menschen Was muss also der Poet leisten, wenn er die Natur nachahmt oder in Geschick bringt? Er muss bei den Menschen Sinne und Leidenschaften ansprechen und beleben, denn diese „reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.“ (N II, 197,22–24) Am Anfang der sinnlichen Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit steht das Wort „Es werde Licht!“, in dem sich „die erste Erscheinung und der erste Genuß der Natur vereinigen“ (N II, 197,25f.). Am Ende dieser Offenbarung steht die Erschaffung des Menschen „in Göttlicher Gestalt; – – zum Bilde GOttes schuf er ihn. […] Blinde Heyden haben die Unsichtbarkeit erkannt, die der Mensch mit GOTT gemein hat. Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußerste der Arme sind das sichtbare Schema, in dem wir einher gehn; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns; –“ (N II, 198,2–9). Gott ist also als Welt sichtbar und als Gott unsichtbar ; der Mensch hat die Unsichtbarkeit mit Gott gemeinsam, aber auch sichtbar die Weltstruktur, das Schema der Schöpfung in sieben Tagen: den Leib mit Kopf, zwei Armen, Herz, zwei Beinen, Genital; das Antlitz mit Stirn, zwei Augen, Nase, zwei Ohren, Mund; das Äußerste der Arme: Hände mit fünf Fingern, Handinnerem und Handwurzel. Herder hat in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts das in sich durch Einheit, Zweiheit, Dreiheit, Opposition, Parallele, Steigerung gegliederte und in drei Triaden verwobene siebenteilige Schema als Schöpfungshieroglyphe bezeichnet, sozusagen als Weltformel, die er sowohl als sinnliche Erfahrung im Sonnenaufgang und am Leib des Menschen wie auch als Lehrtafel für die

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grundlegenden Denkoperationen des Menschen beschrieb; die Einteilung in Tage war ihm ein äußeres Kalenderschema für die sinnvolle Strukturierung der Zeit und biologischer wie theologischer Verläufe. Gottes „sinnliche Offenbarung seiner Herrlichkeit“ (N II, 198,1) ist die siebentägige Schöpfung, die durch das siebenstufige Schema am Leib des Menschen mehrfach und verdichtet ständig sichtbar und in den Grundoperationen seines Denkens ständig am Werk ist. Hamann kennt nach neuplatonischer Tradition drei Dichtegrade von Zeichen: „die poetisch oder kyriologisch, historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch seyn können.“ (N II, 199,6–8)19 Die Schöpfungsrede hat, wie gesagt, den Menschen als krönendes Bild Gottes geschaffen; auch der Mensch erscheint in der dreifachen Übersetzung dieser Zeichen: erstens als dieser kyriologische, also eigentliche Mensch, der die Engelsprache der Gedanken in seiner verborgenen Unsichtbarkeit denkt und die Schöpfung als Hieroglyphe und sichtbares Schema am Leib trägt: der Adam Kadmon, den die Kabbala als „Sinnbild oder Hieroglyphe für die Welt als ,Makroanthropos‘ verstand“20 – das ist ein Grund, weshalb Hamann seine Schrift „in kabbalistischer Prose“ schreibt. Die Forscher übersehen allerdings meist diese von Hamann genannte höchste poetische oder kyriologische Stufe des Menschenbildes, auf der Adam immerhin mit der Namengebung der Tiere eine Menge zu tun hat.21 Viele Forscher beachten nur die zweite und dritte Abstufung des MenschenZeichens, zunächst „historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch“ (N II, 199,6f.). „Der hieroglyphische Adam ist die Historie des ganzen Geschlechts im symbolischen Rade“ (N II, 200,11f.). Denn ihm war im Paradies durch den „Umgang mit dem alten Dichter (der in der Sprache Kanaans Abaddon, auf hellenistisch aber Apollyon heist,)“ Lessings Prinzip der „allgemeinen Bestandheit thierischer Charaktere“ (N II, 198, 22–25) bekannt geworden: was er dort antrifft, ist tatsächlich der „Engel des Abgrunds“ nach Apk 9,11. Dieser Apollyon ist deshalb nicht Poet, sondern Dichter, weil er lügt und nach Lessings

19 In der von Zoroaster, Clemens von Alexandria, Plotin herkommenden Tradition heißt der erste Zeichentyp kyriologisch hieroglyphisch, der zweite symbolisch oder tropisch hieroglyphisch, der dritte charakteristisch. Vgl. zur Tradition Ulrich Gaier : Neue Quellen zu „Ottmar, Hom und Tello“. In: ders.: Hölderlin-Studien. Tübingen/ Eggingen 2014, S. 291– 310, hier S. 296–305. 20 Hans-Georg Kemper : Gott als Mensch – Mensch als Gott. Hamann und Herder. In: Oswald Bayer (Hg.): Johann Georg Hamann „Der hellste Kopf seiner Zeit“. Tübingen 1998, S. 156– 189, hier S. 165. 21 So Kemper ebd. Auch Jørgensen (wie Anm. 7, S. 174) spricht von dem „naturhaft-göttlichen Idyll“ des „Urzustandes“, ordnet ihm aber keine eigene Existenzform zu als „das erste Aufwachen der Menschheit bei der Anrede Gottes, die Existenz in dem Garten Eden in Harmonie mit den Tieren.“

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Lehre von der „allgemein bekannten Bestandheit“ der Tiercharaktere22 das Fabelbild der listigen Schlange annimmt23 und den historischen Adam zum Verlangen nach Erkenntnis verführt. Dies aber ist der Irrweg, den die mordlügnerische Philosophie heute nur zu Ende gegangen ist: ein Irrweg, denn nach der Lehre von der veritas ontologica lässt sich nur erkennen, was man selber gemacht hat. Deshalb kann nur Gott seine Werke in Wahrheit erkennen24, und umso weniger ist Gott selbst oder seine Werke und das in seinem Sinne Gute oder Böse begreifbar. Nach dem Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen erkennen unsere Stammeltern aber Gutes und Böses nur im Sinne der Schlange und des Menschen, weshalb sie sich schämen und Feigenblätter vorhalten nach der gängigen Theorie Beverlands, dass der Sündenfall als Entdeckung der Sexualität zu verstehen sei. Wenn Gott dann nach 1Mose 2,21 Röcke von Fellen macht, muss er zuerst ein Tier seiner eigenen Schöpfung schlachten, um den Menschen dessen „Balg“ ausleihen zu können. Diese Kleidung pflanze „eine anschauende Erkenntnis vergangener und künftiger Begebenheiten auf die Nachwelt fort“ (N II, 198,26f.): die vergangene Begebenheit ist der Sündenfall, die künftige ist die Kreuzigung, bei der das Lamm Gottes geschlachtet, die Erbsünde aufgehoben, das „symbolische Rad“ geschlossen und die Historie mit dem neuen Adam in der symbolischen Hieroglyphe fortgesetzt wird. Nach dem kyriologischen Adam Kadmon und dem hieroglyphischen Menschen und Menschensohn Adam kommen wir zur dritten entferntesten Abstufung des Menschen-Zeichens, dem „Charakter der Eva“. Ein Weib für Adam ist bei der Schöpfung vergessen worden und muss durch eine Notoperation in Vollnarkose aus einer Rippe Adams gebaut werden (1Mose 2, 21–23). Das Weib ist also die zweite Ableitung vom eigentlichen Menschen, von den eigentlichen Zeichen und von der vollen Erkenntnis, wie ja für Hamann die Philosophie nur eine ganz ausgedünnte Erkenntnis liefert. So wie die letzte Zeichenart („Charakter“) nicht die Sachen, sondern mit Buchstaben die Wörter für die Sachen in verschiedenen Sprachen bezeichnet, sind die Begriffe der Philosophie ganz unzuverlässig, haben unendlich viele „Nebenbegriffe“ und sind „in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar.“25 „Wenn uns unser Gebein verholen 22 Abhandlungen über die Fabel II: Von dem Gebrauch der Tiere in der Fabel. In: Lessings Werke. Stuttgart 1874, Bd. 8, S. 79. 23 Turbare heißt im Griechischen diaballein, durcheinanderwerfen. Der Durcheinanderwerfer ist der diabolos, der die Turbatverse der Natur durch Evas und Adams Verlangen nach Erkenntnis erzeugt. 24 Vgl. Hans Graubner : Erkenntnisbilder oder Bildersprache. Hamann und Hume. In: Bayer, Hamann (wie Anm. 20), S. 135–155, hier S. 137. Der Gedanke der veritas ontologica ist vor allem bei Cusanus in Idiota de mente leitend. 25 N II, 72,7 und 71,33f. (Sokratische Denkwürdigkeiten).

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ist, weil wir im Verborgenen gemacht, weil wir gebildet werden unten in der Erde; wie viel mehr werden unsere Begriffe im Verborgenen gemacht, und können als Gliedmassen unseres Verstandes betrachtet werden.“26 Der Verstand muss aber zum rechten Gebrauch der Begriffe erst erzogen werden; dazu dient dem Lehrer „ein Knäuel vortreflicher Begriffe“ oder das „Saamkorn einer fruchtbaren Wahrheit“27, aus dem sich viele Körner entwickeln lassen, während im Knäuel die Begriffe eingewickelt sind. Hamanns Beispiel dafür ist die Hebammenkunst des Sokrates, die die Frucht der Begriffe ans Licht zu bringen hilft, da der Begriff der Hebammenkunst im Zusammenhang mit Sokrates viele Begriffe eingeknäult enthält: seine Mutter war Hebamme, Sokrates lernte von ihr, brachte die Begriffe seiner Schüler zur Welt und wies nach, dass die Begriffe seiner Dialogpartner Totgeburten waren und dass die abstrakten eindeutigen Begriffe der Sophisten nicht weiterführten.28 Dagegen waren „die Heyden durch die klugen Fabeln ihrer Dichter an dergleichen Wiedersprüchen gewohnt“, nämlich „daß der Schönste unter den Menschenkindern ihnen zum Erlöser versprochen war, und daß ein Mann der Schmerzen, voller Wunden und Striemen, der Held ihrer Erwartung seyn sollte.“29 Solche klugen Fabeln, Mythen, haben dieselbe Struktur wie das besprochene „Saamkorn“ oder der „Knäuel vortreflicher Begriffe“ und der kyriologische Adam Kadmon. Sie sind multipel auslegbar wie etwa der Begriff der Nuss im Titel Aesthetica in nuce.

Reparatur Wir beginnen nun die Reparatur der Turbatverse zu verstehen: sie ist durch Verdichtung der Zeichen und durch Zusammensetzung der Glieder des zerrissenen Poeten zu erreichen. Verdichtete Zeichen sind zunächst die „klugen Fabeln“, d. h. die Mythen. „Wenn unsere Theologie nämlich nicht so viel werth ist als die Mythologie: so ist es uns schlechterdings unmöglich, die Poesie der Heyden zu erreichen – geschweige zu übertreffen; wie es unserer Pflicht und Eitelkeit am gemäßesten wäre. Taugt aber unsere Dichtkunst nicht: so wird unsere Historie noch magerer als Pharaons Kühe aussehen […]. An Philosophie lohnt es garnicht der Mühe zu denken“ (N II, 205,2–10). Hier haben wir zunächst wieder die Absteigerung Poesie – Historie – Philosophie wie bei den Abstufungen der Zeichen und den Gliedern des zerrissenen Poeten, die nun aufstufend 26 27 28 29

N II, 66,11–14 (Sokratische Denkwürdigkeiten). N II, 66,7 und 5f. (Sokratische Denkwürdigkeiten). Vgl. N II, 66 (Sokratische Denkwürdigkeiten). N II, 68,17–22 (Sokratische Denkwürdigkeiten).

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der Gelehrte sammeln, der Philosoph auslegen, der Poet nachahmen oder in Geschick bringen soll. Im Gegensatz zur Abwertung der Mythologie durch Philosophen und Theologen – „Mythologie hin!“ – wird sie angesichts ihrer multiplen Lesbarkeit und coincidentia oppositorum aufgewertet – „Mythologie her!“ (N II, 205,20). Hamann bekennt gegenüber Jacobi, dass er das principium coincidentiae oppositorum „ohne zu wißen warum? liebe und den principiis contradictionis und rationis sufficientis immer entgegengesetzt“ habe30 – das richtet sich wieder gegen die Philosophie und die Prinzipien, mit denen sie für Eindeutigkeit sorgt. Die Gegensätze, die in Gott zusammenfallen und seine „Einheit“ bilden, entfalten sich in Extremen der Schöpfung: „Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialecte seiner Werke; – in allen Ein Ton von unermäslicher Höhe und Tiefe!“ (N II, 204,7–9)31 Indem sich der Schöpfer so mitteilt, kommen „herrlichste Majestät“ und „leerste Entäußerung“, „unendliche Ruhe“ und „unendliche Kraft“ zusammen; es ist „ein Wunder von solcher unendlichen Ruhe, die GOTT dem Nichts gleich macht […]; aber zugleich von solcher unendlichen Kraft, die Alles in Allen erfüllt, daß man sich vor seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß! –“ (N II, 204,9–14). Wie in der Schöpfung als Rede in allen Mundarten die „Stimme“ der Losung gehört wird, so ist hier im Buch der Schöpfung und den Büchern des Bundes die 30 ZH V, 327,12–14 (an Fr. H. Jacobi, 16. 1. 1785). Für das Prinzip der coincidentia oppositorum braucht man weder Bruno noch die christliche Kabbala zu bemühen: Sie alle greifen auf Ficino und seinen christlichen Neuplatonismus zurück. Vgl. Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, übers. von K.P. Hasse. Hg. von Paul Richard Blum. Hamburg 1984, S. 277, 279, 351, 357. Vgl. auch Marsile Ficin: Th8ologie platonicienne de l’immortalit8 des .mes. Texte critique 8tabli et traduit par Raymond Marcel. Bd. 1 Paris 1964–1970 passim, z. B. Bd. 1, S. 73, 76f., 82. Vgl. auch Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt a.M. 1985, z. B. S. 409f. 31 Bayer, Zeitgenosse (wie Anm. 8), S. 100 schreibt hier Hamann neu und behauptet, die „Einheit des Urhebers“ sei „,in dem Dialekte‘, dem Wort und der Stimme, ,seiner Werke‘ in die Extreme auseinandergebrochen: in einen Ton, der so unermeßlich hoch ist, daß er nicht mehr gehört werden kann, und in einen Ton, der so unermeßlich tief ist, daß er auch nicht mehr gehört werden kann“. Was bei Hamann „Ein Ton“ heißt, sind bei Bayer zwei Töne, die er deshalb nicht hört, weil er das principium coincidentiae oppositorum nicht beachtet. Deshalb erwähnt er nicht die „unendliche Kraft, die Alles in Allem erfüllt“ und meint, Gott sei mit seiner Präsenz und Wirksamkeit in unserem Innersten „in schrecklicher und grausamer Weise zudringlich, zutätig, bedroht, ,verbrennt‘ und tötet er mich“ (ebd., S. 101). Die von Bayer in seiner Anm. 52 angegriffene Marie-Theres Küsters hatte die Stelle verstanden. Zur „Zuthätigkeit“ Gottes vgl. Ficino, Theol. Plat. (wie Anm. 30) Bd. 3, S. 191: „Dieu est donc le centre de tout de telle maniHre qu’il est plus intime / chaque Þtre que chaque Þtre ne l’est / luimÞme […] un cercle spirituel dont le centre est partout, la circonf8rence nulle part.“ Zitiert ist hier die berühmte zweite Definition Gottes aus dem Buch der 24 Philosophen (Kurt Flasch [Hg.]: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Latein. – Deutsch. München 2011, S. 29): „DEVS EST SPHAERA INFINITA CVIVS CENTRVM EST VBIQUE; CIRCVMFERENTIA NVSQVAM.“ Der Satz erscheint z. B. bei Bonaventura, Itinerarium mentis ad Deum, cap.15. Cusanus und Bruno nehmen ihn auf.

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„Einheit des Urhebers“, „Ein Ton“, eine „Kraft“, ein „Daseyn“ mit allen Sinnen spürbar, aber in „Exempel allgemeiner Begriffe“, „Exempel geheimer Artickel“ (N II, 204,4–6) ausgefaltet, in der Weise der Spiegelung, als „Beweis“ und „Wunder“, in denen die in Gott implizierten Widersprüche in der Natur und Geschichte expliziert sind. Deren poetische Darstellung durch Mythen kann nicht mehr durch die veraltete Mythologie der Heiden erfolgen, wenn auch Fontenelle sie um des Effekts willen auf neue, nämlich personifizierende Weise anwenden will.32 Aber „Nieuwentyts, Newtons und Büffons Offenbarungen werden doch wohl eine abgeschmackte Fabellehre vertreten können?“ (N II, 205,21–23) Die allgemeine Meinung, auch die moderner „Poeten“ ist, dass naturwissenschaftliche Ergebnisse sich nicht zur Mythologie eignen, weil sie sich nicht poetisieren lassen. Hamann lehnt jedoch trotz ihrer Frömmigkeit auch die physikotheologische Naturwissenschaft der genannten Forscher ab33, weil auch sie mit ihren abstrakten Begriffen die Natur schindet und damit der mythischen Zeichendichte und coincidentia oppositorum gerade entgegengesetzt ist. Es ist aber auch für Hamann durchaus denkbar, dass die zeitgenössischen Naturwissenschaften die Bildung einer neuen Mythologie ermöglichen.34 Darum geht es nun auch, wenn die Natur in Turbatversen verwirrt und ihr Schöpfer zerrissen ist. Hamann hat auf einen Mythos der Heiden, nämlich den Mythos vom zerrissenen Orpheus angespielt, damit auf die zerstreuten Glieder und das unversehrte singende Haupt. Dieser Mythos wird uns bezüglich des Poeten weiterbringen, doch zunächst hat der Menschenpoet die durcheinander gebrachte Natur zu reparieren – reparieren zum Gebrauch „für uns“: wir müssen wieder das Bild einer „schönen Natur“ von unseren menschlichen Poeten vorgestellt bekommen. Die neue Mythologie als „Nachahmung der schönen Natur“ – dafür scheint für manche die Physikotheologie Nieuwentyts, Buffons und Newtons als Grundlage dienen zu können – muss im besprochenen Sinne Gottscheds eine mögliche Welt vorzeigen und ins Bild bringen: in ihr muss Natur „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“ sein, sie muss ein Bild sein, das Sinne und Leidenschaften verstehen und das die Turbatverse wieder zum vollständigen, lesbaren, vorstellbaren und genießbaren Poem ordnet. Der Menschenpoet, nach Hamanns Initialargument (N II, 198, 1–10), ist als Mensch Bild und Beispiel Gottes; das gilt mithin auch für seine Schöpferkraft und die Kreativität seiner

32 Vgl. Johann Gottfried Herder : Werke in zehn Bänden. Frankfurter Ausgabe [FA]. Hg. von Günter Arnold u. a. Frankfurt a.M. 1985–2002. Bd. 1, S. 36, 910, 913. 33 Vgl. Hans Graubner : Hamann und die Physikotheologie. In diesem Band S. 35–51. 34 Vgl. Ulrich Gaier: Formen und Gebrauch Neuer Mythologie bei Herder. In: Herder-Jahrbuch 2000, S. 111–133; zu Hamann S. 119–121.

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Einbildungskraft,35 mit der er Gott als Weltendichter nachahmt, wie Baumgarten in seinen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) geschrieben hatte.36 Der Menschenpoet ist also kühn genug und fähig, die Natur in einem Mythos schön, gesetzmäßig, gut vorzubilden und damit die durch die Schlange im Paradies in Gang gesetzte Verstümmelung der Sinne und Leidenschaften bei den zeitgenössischen Menschen zu reparieren. Herder und Goethe haben sich dies zur Aufgabe gemacht. Mythen als Leistungen der coincidentia oppositorum reparieren auch die zu Begriffswörtern und philosophischen Argumenten heruntergekommene Sprache,37 hieroglyphisch verdichtete „Knäuel vortreflicher Begriffe“38 reparieren das Denken der Sprecher und Hörer, die damit die Freiheit von „Besinnung und Sprachschaffung“39 wieder gewinnen. Nun ist nicht nur die Natur zu unserm Gebrauch zu reparieren, sondern auch der zerrissene Poet, dessen Glieder nach dem Orpheus-Mythos im Land verstreut wurden, während der Fluss das singende Haupt wegtrug. Mit seiner Aufforderung an den Gelehrten, den Philosophen, den Poeten bezieht sich Hamann nicht auf das Haupt, sondern auf die Glieder, die von den drei Berufsgruppen zu sammeln, auszulegen, nachzuahmen oder in Geschick zu bringen sind. Wie der Orpheus-Mythos unterscheidet das Johannesevangelium zwischen Gott und fleischgewordenem Wort (Joh 1,1–3.14) sowie zwischen dem Vater und dem eingeborenen Sohn, der den Unsichtbaren verkündigt hat (Joh 1,18). Christus ist damit nach der communicatio idiomatum, dem „Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung“40 und zugleich nach Luthers These41 Schöpfer und Geschöpf: als Geschöpf ist er Verkündiger und Redner „an die Kreatur durch die Kreatur“ (N II, 198,29); von Gott ist zwar 35 Graubner (wie Anm. 24), S. 149 betont die Kreativität und Aktivität der Einbildungskraft bei Hamann, erkennt aber (ebd., S. 150) nicht ihre kreative Reparatur der Turbatverse durch die mythische Bildung einer zweiten Welt in der hiesigen. 36 Ein traditionsreicher Topos zur Rechtfertigung des Dichters: alter Deus (Scaliger), second maker under God (Shaftesbury), schöpferisches Genie (Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie), „einzige zweite Welt in der hiesigen“ (Jean Paul). 37 Johannes von Lüpke: Der Aberglaube der Vernunft. Zur Diagnose des Todes Gottes bei Hamann und Nietzsche. In: Bayer (wie Anm. 20), S. 190–205, hier S. 202 fragt: „Wodurch aber gewinnt die menschliche Poesie die erforderlichen schöpferischen Möglichkeiten, um den sprachlichen Kosmos wiederherzustellen oder allererst zu schaffen? […] Die Frage aber bleibt, aus welcher Quelle die poetische Kraft ihre Freiheit gewinnt, sich aus der Gefangenschaft in den Banden der überlieferten Sprache, wie sie in der Grammatik fixiert ist, zu befreien. In diesem Sinne ist die Frage nach dem göttlichen oder menschlichen Ursprung der Sprache erneut aufzuwerfen.“ Die Antwort wird hier aus der Analyse der Aesthetica in nuce entwickelt. 38 N II, 66,7 (Sokratische Denkwürdigkeiten). 39 Herder FA 1, 750. Vgl. Ulrich Gaier : Herders Theorie der Sprache und Sprachschaffung. In: Recherches germaniques 34 (2004), S. 81–100. 40 N III, 27,11–14 (Ritter von Rosencreuz). 41 Bayer: Zeitgenosse (wie Anm. 8), S. 98.

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die Stimme, der Ton überall zu hören, während aber die Rede hinsichtlich Sprache, Inhalt, Intention von Christus kommt. Wenn die Schöpfung nach unserem Text „eine Rede“ (N II, 198,29) ist, dann ist Christus auch Schöpfer der Schöpfung, gewissermaßen im Auftrag, denn nach Kol 1,15f. sind alle Dinge in der „Erstgeburt“, in Christus, „durch ihn und zu ihm geschaffen“. Christus ist „Schöpfungsmittler“42, während neuplatonisch Gott der Unbekannte ist, in dem wir leben, weben und sind (Apg 17,28; vgl. N II, 207,5–9), der durch Kraft in die Schöpfung hineinwirkt und sie durch Liebe wieder zu sich heranzieht. Wie im Orpheus-Mythos bleibt das Haupt unberührt, aber der Leib Jesu, des Zeugen der Wahrheit sollte „eines schmählichern und grausameren Todes sterben […] als der Vatermörder des allerchristlichsten Königes“ Ludwig XV., der gevierteilt und damit durch vier Pferde zerrissen wurde.43 Im übertragenen Sinne sind nach 1Kor 6,15 „eure Leiber Christi Glieder“ oder nach 1Kor 12,27 die Gläubigen „der Leib Christi und Glieder“. Und wenn beim Abendmahl Christus seinen Leib, das Brot, bricht und den Jüngern zu essen gibt, so kommt er in dieser Transsubstantiation dem physischen Tod zuvor. Die Auslegung dieses hieroglyphischen Todes – Orpheusmythos, Kreuzigung, Zerstreuung der Gemeinde, die aus Christi Gliedern besteht, Selbstausteilung des Leibes Christi an die Gläubigen – diese Auslegung soll ironischerweise der Philosoph leisten, dessen Erkenntnisdrang und Abstraktionswahn an der Zerstörung der Natur und der Verstümmelung des Menschen die Schuld hat. Der Gelehrte hat zu sammeln, was uns von den Turbatversen der Natur und den Gliedern ihres Schöpfers „zu unserm Gebrauch übrig“ bleibt, also die aufgezählten Verse und Lesarten dieses hieroglyphischen Todes, damit der Menschenpoet seine Aufgabe erfüllen kann. Diese besteht darin, den modernen kyriologisch hieroglyphischen Mythos einer zweiten Welt zu entwerfen, in dem die communicatio idiomatum Geist und Leib, Schöpfer und Schöpfung, Gottes- und Menschensohn in Wechselwirkung setzt und so „zu unserm Gebrauch“ den zerrissenen Schöpfer wieder „in Geschick bringt“. Der Menschenpoet, der für sich und die Mitmenschen das Bild des eigenen Schöpfers restauriert, repariert damit realiter, nicht nur im Bilde, sondern durch das Bild selbst die Menschen, die mit ihren Sinnen und Leidenschaften, mit ihrer Einbildungskraft und ihrem Verstand sich der Hieroglyphe widmen und damit erst wieder zu ganzen Menschen werden. Wer schafft diese heilende Hieroglyphe? Hamann hat sie geschaffen mit seiner Aesthetica in nuce, die mit der Nuss als „Knäuel vortreflicher Begriffe“ sowie mit Aesthetica als „Knäuel“ einer Lehre von der schönen Natur, ihrer poetischen Nachahmung, einer Reaktivierung von Sinnen und Leidenschaften und endlich einer restauratio ad integrum des Menschen ein moderner Mythos und eine 42 Ebd., S. 97. 43 N II, 82,9–16 (Sokratische Denkwürdigkeiten).

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Hieroglyphe ist, gar nicht zu sprechen von der nicht zu bewältigenden Fülle von Anspielungen, Zitaten und inneren Beziehungen des Textes. In diesem Sinne ist sie eine Dichtung, nämlich eine aus diesen Zitaten zusammengenähte „Rhapsodie“, und Hamann ihr Poet. Hamann hat damit nicht nur ein geniales Werk geschaffen, sondern einen Schritt zur Erneuerung der Religion, zur Rehabilitierung des Christentums und als sein eigener Poet zur Selbstschöpfung des Menschen getan, auf einem Weg, den einige Mit-Denker wie Herder und Goethe verstanden und weitergegangen sind. Hamann nähert sich hier dem Pelagianismus der Renaissancephilosophen, die die Würde des Menschen darin sahen, dass er nicht in Erbsünde von der Gnade abhängig ist, sondern sich in Freiheit entscheiden, die Mängel seiner Natur durch eigenes Bemühen kompensieren kann und aus natürlichem Drang auf allen Wegen strebt, Gott zu werden.44 Herder hat Hamanns Wort von der Vorbildhaftigkeit der „göttliche[n] Menschen unter den Heyden“, die „der Himmel zu seinen Boten und Dollmetschern salbte“ wie „die Propheten unter den Juden“45 zur Selbstschöpfung des Menschen verstärkt. Hamann schreibt dass „Cäsar Trähnen vergießt bey der Säule des macedonischen Jünglings, und dieser bey dem Grabe des Achills mit Eyfersucht an einen Herold des Ruhms [wie Homer] denkt“46, und Herder sucht den, „der sich an sich selbst zum Gotte schafft, wie Alexander am Achill, und dies weite Thema, groß wie eine Welt, umfasset.“47 Nach unseren Überlegungen zu Hamann und seiner Leistung als Menschenpoet, der das Bild der Natur und Christi „in Geschick“ bringt, hat Herder seinen Lehrer nicht falsch gedeutet, sondern durchschaut. In der Hamann gewidmeten Dithyrambischen Rhapsodie nennt er ihn „den unbarmherzigen, prahlerischen Züchtiger der Welt“48, und Hamann machte sich selbst zerknirscht den Vorwurf: „Es schmeckt alles in dieser ästhetischen Nuß nach Eitelkeit! – nach Eitelkeit!“ (N II 217) Goethe hat das den Menschen eingeborene Bestreben, Gott zu werden, nach Ficinos Platonischer Theologie Buch XIV zur Strukturierung des Faust verwendet.49 Hamanns poetisch hieroglyphischer Stil wurde von den seichten Rationalisten der Aufklärung nicht begriffen, sogar verlacht; er seinerseits lachte sie wegen der „flüßige[n] Prose der Coffeekreyse und Spieltische“ aus.50 Einmal spottete er über Herders Preisschrift Über den Ursprung der Sprache, sah aber ein, dass er seinen treuen Schüler missverstanden hatte, nachdem ihm dieser die Abhand-

44 45 46 47 48 49 50

Ficino: Theol. Plat. (wie Anm. 30), Bd. 3, S. 120. N II, 64,7–11 (Sokratische Denkwürdigkeiten). N II, 64,1–3 (Sokratische Denkwürdigkeiten). Herder FA 1, 34. Ebd., 37. Ulrich Gaier: Lesarten von Goethes „Faust“. Eggingen 2012, S. 84–103, 130–633. N II, 94,19–25 (Wolken).

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lung als notgedrungene „Schrift eines Witztölpels“ erklärt hatte.51 Die Idee des Triceps, also des dreiköpfigen anthropologisch integrativen Denkens, das Hamann noch in die drei aristotelischen Berufsgruppen des gelehrten Historikers, des Philosophen und des vermittelnden Poeten trennt (N II, 199,1–3; 205,6–10)52, bestimmt Herders Denk- und Argumentationsstil seit seinen frühesten Arbeiten und drückt sich z. B. im Titel seines Hauptwerks Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit aus, wo neben Geschichte und Philosophie „Ideen“ die poetischen Konjekturen und Bilder bezeichnen, mit denen Herder Hamanns Forderung nach der Verbindung von Naturwissenschaft oder Geschichte und Philosophie in Neuer Mythologie einlöst. Goethe hat aufmerksam Hamanns Schriften gesammelt und ihn noch 1823 als „hellsten Kopf seiner Zeit“ gerühmt.53 Trotz des scheinbaren Gegensatzes ist es vor allem Hamanns Erneuerung der Religion, die Goethe fasziniert hat und über die bisher noch nicht ausreichend gesprochen werden konnte.

Neuplatonismus Der Rationalismus der Aufklärung hat Tendenzen verstärkt, die seit dem frühen Christentum den Zugriff der Kirche auf die Selbstbestimmung des Menschen zu lockern oder zu beseitigen suchten. Goethe zum Beispiel hat sich gegenüber seiner Frankfurter Freundin Susanne von Klettenberg und ihrer besorgten Gemeinde von Herrnhutern zu seinem „Pelagianismus“ bekannt: Was mich nämlich von der Brüdergemeine so wie von andern werten Christenseelen absonderte, war dasselbige, worüber die Kirche schon mehr als einmal in Spaltung geraten war. Ein Teil behauptete, daß die menschliche Natur durch den Sündenfall dergestalt verdorben sei, daß auch bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste Gute an ihr zu finden, deshalb der Mensch auf seine eignen Kräfte durchaus Verzicht zu tun, und alles von der Gnade und ihrer Einwirkung zu erwarten habe. Der andere Teil gab zwar die erblichen Mängel der Menschen sehr gern zu, wollte aber der Natur inwendig noch einen gewissen Keim zugestehn, welcher, durch göttliche Gnade belebt, zu einem frohen Baume geistiger Glückseligkeit emporwachsen könne. Von dieser Überzeugung war ich aufs innigste durchdrungen.54 51 Ulrich Gaier : Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als „Schrift eines Witztölpels“. In: Gottfried Gabriel und Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, S. 155–165. 52 Ulrich Gaier : Poesie als Metatheorie. Zeichenbegriffe des frühen Herder. In Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder (1744–1803). Hamburg 1987, S. 202–224. 53 Kanzler Friedrich von Müller : Unterhaltungen mit Goethe. Hg. von Ernst Grumach. München 21982, S. 109. 54 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Walter Hettche. Stuttgart 1999. Bd. 1, S. 681.

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Der englische Mönch Pelagius (4./5. Jh.) lehrte gegen Augustinus die sittliche Freiheit des Menschen, lehnte die Erbsünde und die Erlösungsbedürftigkeit ab und sah im Vorbild und der Lehre Christi sowie der Selbstbestimmung des Menschen die zuvorkommende Gnade (nicht: nachträgliche Begnadigung). Dies kam mit der neuplatonischen Religiosität Plotins (204–270) überein, die z. B. wiederum für Goethe die Grundlage seiner frühen „Privatreligion“ bildete55 und trotz des heidnischen Ursprungs das Johannesevangelium und die Paulusbriefe durchdringt. Die ungebrochen neuplatonische Tradition trat gegen Ende des Mittelalters vor allem in den Protagonisten der philosophischen Renaissance und des Humanismus stark hervor. Marsilio Ficino übersetzte und kommentierte Platon neuplatonisch, übersetzte Plotin und leitete die Florentinische Akademie. Giovanni Pico della Mirandola schrieb seinen Traktat De dignitate hominis, in dem er die Menschenwürde auf der absoluten Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse begründete und damit wie schon Pelagius auch Gott absolut frei setzte. Der Neuplatonismus56 konzipiert fünf Stufen des Wirklichen, mit denen Platons Teilung der Welt in die eigentliche Wirklichkeit der Ideen und die Scheinwirklichkeit des Irdischen ,emanatistisch‘ überwunden wird: Das absolute Eine, in dem und durch das alle Wirklichkeit ist, fließt über und zugleich in sich hinein und geht in Sein, Leben und Geist hervor, die wiederum in Weltseele, Denkseele, Naturseele hervorgehen. Diese gehen in Welt, Natur, Gestalten, Schemata hervor, die endlich in der Materie nach Bedingungen von Zeit, Raum, Material mehr oder weniger unvollkommen vergegenständlicht werden. Das zweite zentrale Lehrstück des Neuplatonismus ist die triadische Denkstruktur von Beharrung, Hervorgang und Rückwendung. Schon das Eine bleibt es selbst, fließt über, aber in sich hinein, wendet sich mithin zu sich selbst zurück. So bleibt es, in sich bewegt, aber zugleich geht es hervor in das bleibende Sein, das hervorgehende Leben und den reflektierenden Geist, die wiederum alle drei sich zum Einen zurückwenden. Und so durchgängig bis zur Materie gehen alle Stufen aus dem Einen hervor, kreisen in sich selbst, gehen zur nächsten hervor und wenden sich im einzelnen und ganzen zum Einen zurück. Der Liebe des Einen, mit dem es sich zum Sein, zur Seele, zur Natur herunterlässt, begegnet die sehnsüchtige Liebe und der Wiederaufstieg des Wirklichen zum Einen. Diese beiden Lehrstücke – fünfstufige Wirklichkeit, triadische Denkstruktur – bestimmen in jeder Hinsicht das neuplatonische Denken. Für die Erkenntnis 55 Ebd., S. 375. 56 Zum Neuplatonismus Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus. München 2004. Zum Neuplatonismus in der Goethezeit Ulrich Gaier: „Heiliger Plato“. Platonismus in der Goethezeit. In: ders.: Hölderlin-Studien (wie Anm. 19), S. 159–209. Zum neuplatonischen Analogiedenken bei Hamann Andre Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 33–36 und passim.

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gilt, dass das Eine absolut unerkennbar ist, weil es das Erkennen überhaupt erst ermöglicht, der Weltgeist reflektiert Sein und Leben und entfaltet Ideen, die unendlich verdichtet alles Denkbare und Entwickelbare enthalten. Die Denkseele entfaltet die Ideen in Begriffe, die von der Naturseele und ihrer Einbildungskraft in Bildern, Gattungen und Schemata ausgestaltet werden, welche die Natur konkretisiert und die Materie je nach Gegebenheiten in Einzelgegenständen ausprägt. Diese werden als sinnliche Wahrnehmungen mit den Vorgaben der Natur abgeglichen, an den Bildern und Schemata korrigiert und veranlassen die Denkseele zur Revision, ggf. zur Erweiterung ihrer Begriffe und machen damit auf den Probecharakter aller Erkenntnis aufmerksam, die durch jede neue Erfahrung verändert werden kann. So gilt die Triadik auch für das Erkennen: das Eine ist Grund aller Weisheit und alles Wissens, geht hervor in die Stufen der Konkretisierung und kehrt in Stufen der Reinigung zu sich zurück. Wenn das Eine nicht erkannt werden kann, weil es zwei Wirklichkeitsstufen „über“ der Denkseele steht, kann es doch gefühlt, berührt, erlebt werden, als unendliche „Kraft, die Alles in Allen erfüllt“ (N II, 204,13), als das, in dem wir „leben, weben und sind“ (Apg 17,28): „wir schwimmen in einem Ozean der Allmacht, so daß jenes alte Gleichnis immer wahr bleibet: ,die Gottheit sei ein Kreis, dessen Mittelpunkt allenthalben, dessen Umkreis nirgend ist’.“57 Goethe fühlte sich im Brief an Friedrich Stolberg vom 26. 10. 1775 „schwebend im herrlich unendlichen heiligen Ozean unsers Vaters des unergreifflichen aber berührlichen.“58 In diesem Einen ist auch Kraft und Wille für alles Weltgeschehen; sie stufen sich ab über das Leben, die Naturseele mit dem Willen und der Möglichkeit zur Freiheit, wenn die Antriebskräfte ausgeglichen sind. Freiheit entsteht, wenn die Antriebskräfte zunächst in der Natur, im Körper des Menschen im Ungleichgewicht sind und sich dann als Leidenschaften positiv oder negativ auswirken können, aber beim Wiederaufstieg harmonisiert und in Übereinstimmung mit dem Leben der Weltseele und des Kosmos gebracht werden. Diese Kräfte und die Liebe, mit der sie dem Ozean der Allmacht wieder zustreben, brauchen keine Erkenntnis, da sie von vornherein Gewissheit, Vertrauen und Glaube sind. Dies gilt auch für die Zeichen. Das absolute Eine ist zeichenlos, Schweigen, Ozean der Ermöglichung von Zeichen und Bedeutung; man hat deshalb von neuplatonischer Mystik gesprochen. Im Hervorgang sind die Zeichen nach den besprochenen Zeichentheoretikern kyriologisch hieroglyphisch, tropisch hieroglyphisch und charakteristisch; in der Rückwendung werden sie immer mehr verdichtet und immer vielfältiger auslegbar. Plotin schrieb, die Götter dächten in 57 Herder FA 4, 712f.; s. o. Anm. 31. 58 Johann Wolfgang von Goethe: Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bdn. Hg. von Karl Robert Mandelkow und Bodo Morawe. Bd. 1, Hamburg 21968, S. 198.

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agalmata, das sind Bilder, Schmuckstücke, geschliffene Edelsteine mit unabsehbar vielen Facetten und Bedeutungsstrahlen. Gesteigerte Sprachzeichen sind, mit Hamanns Ausdruck, „Knäuel vortreflicher Begriffe“; gesteigerte Rede ist Bild, Mythos, durch unendliche intra- und intertextuelle Beziehungen angereicherte hochverdichtete poie¯sis. Eine solche Steigerung im Aufstieg ist, wie wir beim Erkennen, beim Willen, bei der Liebe gesehen haben, zugleich Einschwingung in die harmonischen Verhältnisse des Kosmos, Korrektur, Reinigung, durch welche Störungen wie „Turbatverse“ in „Geschick“ gebracht werden.

Hamann als Neuplatoniker Mit diesem Einblick in die neuplatonische Philosophie wurden unversehens viele von Hamanns Gedanken und Verfahren rekonstruiert; wie Goethe hätte er sagen können: „Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Cabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah.“59 Hamann schreibt 1761 von seinem Glück, Platon (d. h. Ficinos Übersetzung und Kommentare), Plotin, Proklos und unter anderem „noch einen großen Folianten von der Cabbala“ erworben zu haben60 ; sein Bücherkatalog („Biga“) von 1776 nennt Plotin.61 Seinen Schüler Herder hat er so früh in den Neuplatonismus eingeführt, dass dessen erste überlieferte Schrift Versuch über das Sein (1764), mit der er Kant entscheidend kritisiert, wie seine andern Frühschriften als rein neuplatonisch bezeichnet werden kann.62 Die beiden wichtigsten Lehrstücke des Neuplatonismus sind bei Ficino reich belegt und bei Hamann präsent (Belege sind bevorzugt aus der Aesthetica in nuce gewählt): die fünf Stufen des Wirklichen erscheinen, selbstverständlich ohne das absolute Eine, in den drei Stufen des Menschen, dem kyriologisch hieroglyphischen, makro- und mikrokosmischen Adam Kadmon (Geist), dem tropisch hieroglyphischen Adam (Seele) und der Eva („Original zur schönen Natur“), der Gebärerin „unten in der Erde“. Parallel setzt Hamann die Absteigerung von Poesie, Historie und Philosophie: auch die Poesie beginnt ihre Schöpfung als geistiger Hervorgang des Einen, und am andern Ende werden unsere Begriffe wie

59 Goethe (wie Anm. 54), S. 681. 60 ZH II, 124,16–21 (an J. G. Lindner, 19. 12. 1761). Im selben Brief spricht er vom Plan einer „Rhapsodie in kabbalistischer Prosa“ (ZH II; 125,32); noch im folgenden Jahr arbeitet er z. B. an „Platons Büchern de republica“ (ZH II, 156,1f.). 61 Vgl. Hölderlin-Studien (wie Anm. 19), S. 164, Anm. 17. 62 Ulrich Gaier : Herder’s Early Neoplatonism. In: Herder’s Essay on Being. A Translation and Critical Approaches. Ed. By John K. Noyes. Rochester, New York 2018, pp. 162–182.

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wir selbst „unten in der Erde“ gebildet,63 woraus sich die Abwertung der Vernunft und der Abstraktionen der mordlügnerischen Philosophie herleiten. Die Triadik ist für Hamann entscheidend, wie auch für das Verständnis der Aesthetica in nuce. Die „Einheit des Urhebers“ spannt sich in äußerste Gegensätze aus, die durch die coincidentia oppositorum wieder in ihr zusammenfallen: Die Einheit ist Nichts, Nicht-Etwas, schweigende Ruhe und zugleich „unendliche Kraft, die Alles in Allen erfüllt“, auch das Innerste des Menschen, für den es deshalb keine Distanzierung und Rettung vor dieser vollständigen Durchdringung gibt (N II, 204,10–14). Aber diese Einheit trennt, entfaltet, reflektiert, erkennt sich selbst, weshalb nach 1Kor 8,3 der Mensch zwar Gott nicht erkennt, aber von ihm erkannt ist (1Kor 13,12f.). Hamann betont aus religiösen Gründen den Hervorgang (prohodos) unter dem Namen der „leersten Entäußerung“ (kenosis). John Milbank hat ihm vorgeworfen, er neige dazu, „die Bedeutung eines analogischen Aufstiegs zu Gott oder einer immer tieferen Teilnahme an der göttlichen Ewigkeit durch sein Verständnis von Gottes kenotischer Herablassung zu uns ganz und gar zu ersetzen“. Dagegen fehle ihm „Jacobis legitimer Sinn für einen mystischen Aufstieg zur Einheit mit Gott“.64 Es ist bedauerlich, dass der sonst wohlinformierte Forscher die neuplatonische Trias in der „göttlichen Ewigkeit“, dem Hervorgang in der „kenotischen Herablassung“ und die Rückwendung im „Aufstieg zu Gott“ weder bei Hamann noch bei Jacobi erkennt. Noch bedauerlicher ist es, dass er meint, die überbetonte kenosis ersetze „ganz und gar“ die Rückwendung, und dass er deshalb wie so viele andere die epistrophische Reparaturarbeit und die Herstellung eines neuen Bildes von Christus übersieht. Ähnlich wird die „Höllenfahrt der Selbsterkänntnis“ nur als Hervorgang und Demütigung gesehen: sie ist es, die uns „den Weg zur Vergötterung“65 bahnt und eine Rückwendung zur Gottebenbildlichkeit ermöglicht. Bayer referiert dies nur, während Graubner die Höllenfahrt auf den Sündenfall zurückführt,66 was bei Hamann nicht vorkommt. Beide erkennen nicht die Beziehung zur Höllenfahrt und Auferstehung Christi als Weg zur Vergötterung nach dem Glaubensbekenntnis, das ja ebenfalls triadisch angelegt ist und von Luther und Hamann typologisch auf den Gläubigen bezogen wird.

63 N II, 66,11–13 (Sokratische Denkwürdigkeiten). 64 John Milbank: Hamann und Jacobi: Propheten radikaler Orthodoxie. In: Bayer, Hamann (wie Anm. 20), S. 217–241, hier S. 233. 65 N II, 164,17f. (Chimärische Einfälle). 66 Bayer: Zeitgenosse (wie Anm. 8), S. 82 mit Anm. 65. Graubner (wie Anm. 24), S. 146.

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Fideismus Es zeigt sich also, dass Hamann vom Neuplatonismus inspiriert ist und die beiden Lehrstücke der fünfstufigen Wirklichkeit und der triadischen Bewegung durchgängig benutzt. Dieses Ergebnis ist umfassender als der hin und wieder zu lesende Begriff des Fideismus67, der nur die religiöse Seite berührt und von da aus auf die Erkenntnistheorie übergeht. Ausgangspunkt ist die Unsichtbarkeit, Unerkennbarkeit, Unberechenbarkeit Gottes gepaart mit der spontanen Gewissheit der Existenz und des Aufgehobenseins in die Liebe und „Kraft, die Alles in Allen erfüllt“. Beide scheinbaren Gegensätze fallen im absoluten Einen der Neuplatoniker zusammen. Zweifel an der Existenz, die Descartes nur durch die Tatsache seines eigenen Denkens zu lösen meinte, dreht Hamann um in seinen Ansätzen zu einer „Metakritik der Vernunft, von der ich ohne Erfahrung u Ueberlieferung keinen Begriff habe. Nicht Cogito; ergo sum, sondern umgekehrt, oder noch Hebräischer Est; ergo cogito“.68 Ähnlich hatte Pascal argumentiert: „La nature confond les Pyrrhoniens, et la raison confond les Dogmatistes.“69 Pyrrhon hatte aufgrund der Plausibilität gegenteiliger Meinungen die Ungewissheit menschlicher Erkenntnis gelehrt; Pascal pocht mit seinem Satz auf die durch die Natur gegebene Seinsgewissheit und die doppelte Unendlichkeit, in die der Mensch gestellt ist, damit er so ihre Größe und Macht unmittelbar und die Erkenntnis in jeder Hinsicht übersteigend erfährt. „Die fideistische demonstratio religiosa et christiana wendet sich […] an den religiösen Sucher mit dem Gedanken: Was du suchst, kannst du durch reines Denken nie erzeugen. Alle Gewißheit der Verstandeserkenntnis ruht nicht im Verstande, sondern in der positiven Erfahrung. Es muß etwas ,gegeben‘ sein, ehe es ,gewußt‘ werden kann.“70 Angesichts der Unberechenbarkeit Gottes muss auch seine absolute Freiheit angenommen werden: auch seine Urteile, Belohnungen und Strafen, wenn es denn solche gibt, können nicht zu bestimmtem Preis erkauft oder abgewendet werden. Hamann schreibt an Lavater, der mit seinen Aussichten in die Ewigkeit viel mehr über Gott zu wissen vorgab, als Hamann gutheißen konnte, mit 1Kor 13,12: „Unsere Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer, Stück- und Flickwerk – “, und fügt hinzu, Gott sei „nicht ungerecht, 67 Emil Adler : Herder und die deutsche Aufklärung. Wien 1965, S. 62, 66. Zitiert bei Jørgensen: Querdenker (wie Anm. 7), S. 168f. Milbank, Hamann (wie Anm. 64), S. 234 spricht entgegen Adlers traditionellem Vorwurf des „Irrationalismus“ von Hamanns und Jacobis „fideistischem Rationalismus“. 68 ZH V, 448,24–27 (an Fr. H. Jacobi, 2. 6. 1785). 69 Karl Eschweiler : Die katholische Theologie im Zeitalter des deutschen Idealismus. Hg. von Thomas Marschler. Münster 2010, S. 183 bezeichnet den von Jacobi, Sailer u. a. verwendeten Satz „geradezu als das Schibboleth der Glaubensphilosophie“, d. h. des Fideismus. 70 Ebd., S. 245.

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daß er vergesse unseres Werks und Arbeit der Liebe für seinen Namen, und den Dienst der Heiligen.“71 Wie beim neuplatonischen Einen ist für den Fideisten jeder Versuch einer anthropomorphen Bestimmung Gottes falsch; das tadelte er bei Lavater und Jacobi. Der göttlichen Freiheit entspricht die sittliche Freiheit und Selbstständigkeit des Menschen, die vor allem Jacobi als „das höchste und einzige Offenbarungswunder der Religion“ feierte72, während Hamanns „geschwächtes Nervengebäude […] in einer glücklichen Abhängigkeit mehr Sicherheit und Ruhe findt.“73 Er versucht Jacobi von seiner unablässigen Suche nach Wissen über Gott zu befreien: „Ich wünschte Sie so gern aus den Labyrinthen der Weltweisheit in die kindliche Einfalt des Evangelii versetzen zu können […].“74 Gott sei „Heilig und Hehr! oder wie Hiob sagt: Groß und unbekannt! wie er auf jenem Altar zu Athen geschrieben stand, den Paulus umsonst den Areopagiten offenbarte, ohngeachtet wir in Ihm leben, weben und sind – und wie Sie selbst ohne Wortspiel sagen – die vollkommenste Liebe […].“75

Zusammenfassung Was von dem unbekannten und unberechenbaren Gott gespürt werden kann, ist neuplatonisch seine umfassende Präsenz, seine hervorgehende Allmacht und seine der sehnsüchtig sich rückwendenden Liebe entgegenkommende Liebe. Vermittlung ist nötig; sie ist nach Ps 19,2 Rede, Erzählung, die zwar von Gottes Stimme getragen wird, deren Inhalte und Sachen jedoch von einem Redner, einer Kreatur, der Kreatur mitgeteilt wird. Nach Joh 1,3.18 ist der eigentliche Redner, Poet und Erzähler Christus. Neuplatonisch ist er aus dem Einen hervorgegangen, als zweite Stufe der Wirklichkeit ist er Sohn Gottes, aufgrund der communicatio idiomatum auf der dritten Stufe Menschensohn. Dass dieser gekreuzigt und zerrissen wird, zur Hölle hinunterfährt, um „vergöttert“ werden und auferstehen zu können, ist, neuplatonisch gesehen, Hervorgang in Leben, Leiden und Tod, Rückwendung in Reinigung und Verklärung. Christus leistet dies nicht für die Menschen; sie müssen nicht erlöst werden, um der Strafe Gottes zu entgehen. Denn Gott ist unbekannt und unberechenbar frei, aber unendlich und ewig alldurchdringend präsent. Damit schafft Hamann ein neues Bild von Jesus dem Christus und von seinem Verhältnis zum Vater und den Menschen. Die Menschen schaden jedoch sich selbst, indem sie zwar hervorgehen, aber die Rückwendung versäumen. Im Hervorgehen treten sie sich selbst entgegen: 71 72 73 74 75

ZH IV, 6,11f. und 26–28. Eschweiler (wie Anm. 69), S. 171. ZH IV, 416,30–33 (an Fr. H. Jacobi, 12. 8. 1782). ZH V, 332,28–30 (an Fr. H. Jacobi, 23. 1. 1785). Ebd., 333,21–24.

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Geist gegen Leib, Geist gegen Geist in der Reflexion, Geist gegen Natur, Geist gegen Gott etc.; all dies ist, neuplatonisch gesehen, notwendige Erscheinung des Hervorgehens. Die Bibel hat dies mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis in einem Mythos erzählbar gemacht. Hier kommt der Mensch in scheinbar unauflösliche Gegensätze mit sich selbst, seinen Mitmenschen, der Natur und dem Kosmos. Nun müsste er seine Suche nach Erkenntnis in einer „Höllenfahrt der Selbsterkenntnis“ mit äußerster Demütigung und Demut aufgeben und sein Verhältnis zu sich, zu den Mitmenschen, zur Natur, zum Kosmos, zur kosmischen Rede und zum Redner reinigen und bereinigen, um ebenfalls vergöttert zu werden. Dazu sind die modernen Menschen der Aufklärung nicht bereit, verlassen sich auf ihre Vernunft und Erkenntnisfähigkeit und leben deshalb mit falschem Bewusstsein in einer Welt, die ihren eigentlichen Zusammenhang, ihre Ordnung in der Rückbeziehung zum Kosmos und zum Einen verloren hat: die Natur ist für ihr Bewusstsein in Turbatverse zerfallen, als ganze unverständlich und nur partiell naturwissenschaftlich erklärbar. Dabei sind die erklärenden Begriffe abstrakt; die Erklärungen gehen am Eigentlichen vorbei, zeigen nur die Fäden und nicht das Muster des Gewebes oder beobachten eine Sonnenfinsternis nur in sekundärer Spiegelung (N II, 199,10–12). So bauen sich Gelehrte und Philosophen eine falsch, aus partiellen und sekundären Beobachtungen neu zusammengesammelte Welt und bezeichnen sie mit nur auf die menschliche Bequemlichkeit berechneten Begriffen, die ihr falsches Bewusstsein bekräftigen und sie sich als Schöpfer und Beherrscher der Natur vorkommen lassen. Neuplatonisch ist die Verweigerung der Rückwendung zum Einen in Liebe das Böse, für Goethe luziferisch oder mephistophelisch. Hamann hat damit den Sündenfall als „Undank“ neuplatonisch rekonstruiert. Der Sohn Gottes hat die Funktion des Schöpfers, Poeten und Redners anstelle des schweigenden, unbekannten, unberechenbaren Vaters. Jesu Wahrheit wird zunächst von Pilatus bezweifelt, sein Königtum von den Juden missverstanden, er wird gekreuzigt, was schlimmer ist als die Zerreißung in vier Teile, die Strafe der Königsmörder. Für das falsche Bewusstsein der Aufgeklärten bleibt er zerrissen und tot, denn sie glauben nicht an seine Auferstehung und „Vergötterung“; vielmehr setzen sie sich an seine Stelle als Schöpfer ihrer Welt. Diese Parallelwelt ist falsch und böse; auch hier muss es um den Bewusstseinswandel derer gehen, die in dieser Welt leben. Der Menschenpoet, im typologischen Bezug zum göttlichen Poeten, hat drei Möglichkeiten: Er kann erstens die Turbatverse der Natur nachahmen und ihren Schöpfern und Beherrschern sokratisch-satirisch ihre Welt und ihr Schöpfertum im Zerrspiegel zeigen. Er kann zweitens mythisch eine andere mögliche Welt mit einer schönen vollkommenen Ordnung und ihrem göttlichen Schöpfer vorstellen. Er kann drittens, „noch kühner“, die von Gelehrten und Philosophen zusammengesammelten, vermeintlich erklärten Turbatverse und Glieder des göttlichen Schöpfers in eine

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angemessene Ordnung, das Gedicht der Welt und ihren Poeten wieder „in Geschick“ und Einklang mit dem Kosmos bringen. Dabei handelt es sich nicht um reale Veränderungen der Natur, sondern um eine Änderung des Bewusstseins der zeitgenössischen Menschen und ihres Bildes von der Natur und ihrem Schöpfer. Diese Umpolung leisten Dichter von Mythen und möglichen Welten, und Verfasser von hochverdichteten kyriologisch hieroglyphischen Abhandlungen wie Hamann mit der Aesthetica in nuce.

Ildikj Pataky (Szentendre, Ungarn)

„Das versiegelte Buch auftun“. Johann Georg Hamann als Leser und Autor „Was für ein versiegeltes Buch ist selbst die Natur ohne die Auslegung seines Geistes und ihres Schöpfers.“1

Die Aussage, dass Hamann ein Bibliophile war, bietet Kennern seines Werkes keine Neuigkeit. Wenn ich aber sage, er war ein Büchermensch, dann denke ich nicht nur an seine auffallende Bücherliebhaberei, sondern auch an seine einzigartige Beziehung zu dem einen Buch: der Bibel, sowie an seine Autorschaft, in der er sich immer wieder zu offenbaren versucht, sich zum Buch verwandelt, so zu sagen. Dies macht die Fragen besonders interessant, wie es dazu kam, dass Hamann unmittelbar nach seiner Bekehrung in London die Buchmetapher für die Charakterisierung der Natur und der Geschichte benutzte. Inwiefern galt dieser Gebrauch der Buchvergleiche als fremd in jener Zeit? Und wenn es mit dem Zeitgeist doch in Einklang war, warum erregte seine Themenwahl und Annäherungsweise zu der Frage so großes Aufsehen? Wie beeinflusste die Erkenntnis der Bedeutung dieser Buchmetapher die Tätigkeit Hamanns als Leser und als Autor? In der Wirkung und Bedeutung der Begriffe ist eine Pendelbewegung zu erkennen, die Ernst Robert Curtius – die „Wertbetontheit“ der Epoche als Bezugspunkt stellend – folgenderweise formuliert: Die Verwendung des Schrift- und Buchwesens in bildlicher Rede findet sich in allen Epochen der Weltliteratur, aber mit charakteristischen Unterschieden, die durch den Gang der allgemeinen Kultur bedingt sind. Nicht jeder Sachbereich nämlich lässt sich für die bildliche Rede verwenden, sondern nur ein solcher, der wertbetont ist: der, wie Goethe es ausdrückt, einen ,Lebensbezug‘ hat oder ,das Wechselleben der Weltgegenstände‘ durchscheinen lässt. Darum betont Goethe, daß Shakespeare das Buch ,noch als ein Heiliges‘ erschien. Es ist daher zu fragen: wo und wann hat das Buch als ein Heiliges gegolten?2

1 N I, 148,19f. (Londoner Schriften, 209,32f.; Biblische Betrachtungen). 2 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern, München, 1948. S. 307.

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Die Frage nach der Heiligkeit des Buches – nicht unbedingt nur des Natur- und Geschichtsbuches – wird in meiner Analyse ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Curtius schildert den Lauf der Geistesgeschichte und die permanente Verwandlung der Buch- und Schriftmetapher sowie ihrer Beurteilung. Die sakralisierte Rolle der Schrift bei den Ägyptern, dann die Geringschätzung der Schriftlichkeit bei den Griechen – z. B. bei Platon3 – und später, der Bewegung des Pendels folgend, die Wiederaufnahme der Buchmetapher als Ausdruck sakraler Inhalte. Über das Buch der Natur sagt Curtius: In der Renaissance hat man die aus dem lateinischen Mittelalter stammende Metapher Buch der Natur wieder entdeckt, und diese „sollte [später] für den Prediger dem Bibelbuch als Stoffquelle zur Seite treten.“4 So wurde das Bild Buch der Natur „in der rechtgläubigen Aszetik und Mystik beliebt.“5 Und hier möchte ich Curtius widersprechen, oder mindestens seinen Ausdruck dem Hamannschen Denken anpassen und den Satz so umschreiben: So wurde das Bild Buch der Natur nicht nur in der rechtgläubigen Aszetik sondern auch in der Mystik beliebt. Denn, von der ersten Anwendung der Buchmetaphern an stellt Hamann seine Ansichten immer im Kontext mindestens zweier Kontroversen. Die Mystik und die natürliche Religion sind die zwei Weltanschauungen, (oder Denksysteme) denen Hamann die seine entgegenstellt. Hat Gott sich den Menschen und dem ganzen menschlichen Geschlecht zu offenbaren die Absicht gehabt, so fällt die Thorheit derjenigen desto mehr in die Augen, die einen eingeschränkten Geschmack und ihr eigenes Urtheil zum Probestein des göttlichen Worts machen wollen. Die Rede ist nicht von einer Offenbarung, die ein Voltaire, ein Bolingbroke, ein Schaftesbury annehmungswerth finden würden, sie ihren Vorurtheilen, ihrem Witz, ihren moralischen, politischen und magischen Grillen am meisten ein Genüge thun würde, sondern vor einer Entdeckung solcher Wahrheiten, an deren Gewißheit, Glaubwürdigkeit und Richtigkeit dem ganzen menschlichen Geschlecht gelegen wäre. Leute, die sich Einsicht genug zutrauen, um eines göttlichen Unterrichts entbehren zu können, würden in jeder anderen Offenbarung Fehler gefunden haben, und haben keine nöthig. Sie sind die Gesunden, die des Arztes nicht bedörfen.6

In den Biblischen Betrachtungen nimmt er nicht nur gegen die philosophische Sophisterei Stellung, sondern auch gegen die beiden Extreme, den philosophischen Materialismus und die Mystik. Es hat an dem guten Willen der Philosophen nicht gefehlt, die Schöpfung als eine natürliche Begebenheit zu erklären; es ist daher kein Wunder, daß sie Moses einen gleichen Einfall zugetraut haben und dieses anstatt eine Erzählung von ihm erwarten, ich sage eine Erzählung. Die nach dem Begriff der Zeit abgemessen, und gewisser3 4 5 6

Siehe Phaidros, 275 A–276 A. Curtius: Europäische Literatur (wie Anm. 2), S. 323. Ebd. N I, 10, 12–25 (Londoner Schriften, 68,12–25; Biblische Betrachtungen).

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maßen mit den Begriffen der Zeit, in denen er schrieb, in Verwandnis stehen mußte, kann Köpfen wenige Zufriedenheit geben, die eine Erklärung fordern, die die Begreiflichkeit einer Sache der Wahrheit vorziehen. Man weiß, in wie viel Thorheiten die Neigung, künftige Dinge zu erforschen, verleitet hat; daß diese Neigung dem Menschen das Vertrauen gegeben hat, sich hiezu fähig zu halten; daß sie die Mittel dazu in Sternen, im Vogelfluge ect für füglich und hinlänglich angesehen haben, um ihrem Vorwitz ein Genüge zu thun. Die Begierde, Dinge zu wissen, die uns zu hoch, die über unsern Gesichtskreys sind, die uns unerforschlich sind aus eben der Schwäche, die uns die Zukunft so dunkel macht, hat die Menschen in viele solche lächerliche Methoden und Irrthümer geführt. Solche Leute verdienen mit ebenso viel Recht Weltweisen und Philosophen zu heißen, als man die Zigeuner Astrologen ect. Wahrsager genannt hat.7

Ich denke also, wenn Hamann zu Buchvergleichen greift, tritt er bewusst, radikal, provozierend dem Zeitgeist gegenüber. Sein ,Image‘, „ein Fremdling im Gebiete der neuesten Litteratur“8 zu sein, war einerseits eine Rolle nach seiner Wahl, andererseits aber von den Umständen gezwungen. So versteht sich die Briefstelle an Lindner : „Wenn er [Berens] ja wißen will, was ich jetzt thue; so sagen Sie ihm, daß ich lutherisire; es muß doch was gethan seyn. Dieser ebentheuerl. Mönch sagte, zu Augspurg: Hie bin ich–ich kann nicht anders. Gott helf mir Amen.“9 Das heißt, dass Hamann den biblisch-Lutherischen Sprachgebrauch, und überhaupt die Bilder und Metapher mit Bezug auf die Offenbarungsbücher, demonstrativ benutzt. Da er sich betont von den Geistesrichtungen seiner Zeit distanzierte, so fand er sich leicht allein auf dem philosophischen Niemandsland. Er hat nicht nur Widersacher, sondern Verbündete unter seinen Zeitgenossen gefunden – diese aber waren nur Gelegenheitsbündnisse, und es geschah nur selten, dass der Sonderling Hamann einen Gleichgesinnten, einen Geistesverwandten fand, mit dem er lebenslanges Einverständnis haben konnte. Daher kommt es, dass man auf Schwierigkeiten stößt, wenn man Hamanns Stellung, seine Position in der Literatur- oder Philosophiegeschichte näher bestimmen möchte. Und daher kommen die Fragen, ob er ein verspäteter Lutheraner, eine anachronistisch denkende Figur der Aufklärung, oder ein Bahnbrecher der Sturm und Drang Bewegung, ein Vorläufer der Romantik war?

1.

Der Leser

Buchvergleiche in der bildlichen Rede anzuwenden erscheint im 18. Jahrhundert eigentlich zeitgemäß. Denn dieses Jahrhundert könnte man das Jahrhundert des Buches und des Lesens nennen. Denke man nur an die Demokratisierung des 7 N I, 11, 31–12,9 (Londoner Schriften, 69,33–70,12; Biblische Betrachtungen). 8 ZH II, 141,6–9 (an Fr. Nicolai, 21. 3. 1762). 9 ZH I, 307,31–34. (an J. G. Lindner, 21. 3. 1759).

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Buchmarktes und der Lektüre, an die sogenannte Leserevolution, an das Aufkommen der Benutzung der Bibliotheken, und überhaupt an die Entstehung der Leihbibliotheken und Lesezirkel. Ganz zu schweigen vom großen Paradigmenwechsel im Bereich des Lesens: vom Übergang aus dem „intensiven“ in das „extensive“ Lesen.10 Dieses Jahrhundert brachte also viele Neuigkeiten und Neuerscheinungen auf dem Gebiet des Buchwesens mit. Dazu gehört auch ein neuer Typ eines Lesers, der durch die Expansion der Lektüre beeinflusst gelesen und gelebt hat. Über ihn schreibt S#ndor Radnjti: Sein genau dokumentiertes Buchfressen, seine Buchausleihen und Bitten, seine Verhandlungen und Geschäften mit Buchhändlern und Leihbibliothekaren, sein ganzes – wie er es ausdruckt – ,Buchvampir‘-Wesen, sowie die thematisch extensive Natur seiner Lektüren, die von den Zeitschriften durch Belletristik bis zu den verschiedensten Wissenschaften und zur Philosophie reichten. Dies alles machten ihn zur typischen Figur des frühen extensiven Lesens, bzw. der deutschen Lesewut am Ende des 18. Jahrhunderts. Er war ein Büchermensch, der am liebsten ,mit gedruckten Menschen (mit Büchern)‘ Freundschaft schloss, und der jeder Zeit über Bücher und Büchereien geträumt hat.11

Radnjtis Schrift Der Büchermensch handelt von einem ebenfalls emblematisch gewordenen Leser, Schriftsteller und Theoretiker : Jean Paul. Dieser Typ des extensiven Lesers, der seinem zügellosen Hunger nach Büchern nicht widerstehen kann – könnte aber ebenso gut Hamann sein. Hamann war nicht nur unersättlicher Leser, sondern auch ein leidenschaftlicher Buchsammler, -Vermittler, -Makler. Ihm war nicht nur das Lesen, sondern selbst das Besitzen des Buches wichtig. Er hat Auszüge von Büchern verfertigt und als Kostprobe an seine Freunde geschickt. All diese Feststellungen gelten für die Zeit sowohl vor als auch nach dem Londoner Erlebnis. Ein Leben lang trägt er (in seiner Persönlichkeit und in seinem Äußeren) die Eigenschaften der Bibliophilen: er ist lebensfremd, hypochondrisch und nicht besonders athletisch.12 Denkt man nur an die Bibliothekare bei Borges, oder an die Erscheinung und Rolle der Bibliothek in Umberto Ecos Roman Name der Rose. Die Stereotypen der merkwürdigen Bibliophilen bestehen noch in unserer Zeit, und wie es Manfred Nagl beschreibt, werden z. B. die männlichen Bibliothekare in den 10 Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880. Tübingen 1982, S. 29. Vgl. außerdem Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800. Stuttgart 1974; Dominik von König: Lesesucht und Lesewut. In: Buch und Leser. Vorträge des 1. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens, 13./14.5. 1976. Hg. von Herbert G. Göpfert. Hamburg 1977, S. 89–125. 11 Radnjti S#ndor : A piknik. 2r#sok a kritik#rjl. Budapest 2000, S. 108. 12 Vgl. ZH, I, 38,7–12 (an die Eltern und den Bruder, 31.3./11. 4. 1753); ZH II, 225,27–29 (an die Königl. Preußische Kriegs- und Domänen-Kammer, 29. 7. 1763).

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Filmen meistens negativ – oder mindestens als komische Kreaturen – dargestellt: „[S]ie sind meistens lebensfremd, gehemmt und komplexbeladen, Schwächlinge, Außenseiter, Witzfiguren.“13 Und sein Spleen, sowie seine Hypochondrie war nicht nur der maladie imaginaire, sondern der „erzwungene[n] Lage und der[m] Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechselung von Vorstellungen und Empfindungen“14 einzurechnen. Denn, das übertriebene Lesen erzeugt Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfungen in den Eingeweiden, mit einem Worte, Hypochondrie, die bekanntermaaßen bey beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlechte, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt, Stockungen und Verderbniß im Blute, reitzende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper. Dass aber in einem siechen und weichlichen Körper die Reitze der Geilheit viel empfindlicher, daß die Anwandlungen des Geschlechtstriebes in einer, an ihrer innern Kraft und Selbstthätigkeit gekränkten, Seele weit unwiderstehlicher sind, als wenn Leib und Seele einer ungestörten Gesundheit genießen, ist mehrmals gesagt und braucht hier nicht weiter bewiesen werden .15

Wir wissen, dass einige von diesen Symptomen für Hamann ebenfalls zutreffen, aber auch dass diese teilweise in seiner Genetik wurzelten, und ihn von seiner Kindheit an quälten. Doch mit seiner Bekehrung hat sich seine Beziehung zu den Büchern wenn auch nicht völlig verändert, aber mindestens ambivalent geworden. Die innere Wende und den Paradigmenwechsel – was das Buch-Universum betrifft – sah Isaiah Berlin nicht als eine christliche Bekehrung (als Folge einer göttlichen Offenbarung). Er meint, dass diese Veränderungen hauptsächlich Hamanns neues Verständnis der Bibel, ihre Deutung als Schlüssel-Buch bewegte. Hamann ging aus dieser Erfahrung verwandelt hervor. Keine mystische Vision, keine spezifische Offenbarung war ihm zuteil geworden […]. Die Bibel war eine großartige universelle Allegorie, ein Gleichnis dessen, was sich überall und in jedem Augenblick begab. So verstand man sie richtig, die Geschichte des Menschen und die Natur – mit den Augen nicht der analytischen Vernunft, sondern des Glaubens und Gottvertrauens, der Selbstprüfung, denn all dies war eins.16

13 Manfred Nagl: Stille, Ordnung, Katastrophen. Bibliotheken im Film – Bibliotheken aus männlichem Blick? In: Bibliotheken in der literarischen Darstellung. Hg. von Peter Vodosek und Graham Jefcoate. Wiesbaden 1999, S. 115–127, hier S. 123. 14 Karl Gottfried Bauer : Über die Mittel, dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben. Leipzig 1791, S. 190. 15 Ebd. 16 Isaiah Berlin: Der Magus in Norden. Johann Georg Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Berlin 1995, S. 37ff.

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Über jene Zeit schrieb Hamann: „[…] die Dürre meiner Umstände und die Stärke meines Kummers entzogen mir den Geschmack meiner Bücher. Sie waren mir leidige Tröster, diese Freunde, die ich nicht glaubte entbehren zu können, für deren Gesellschaft ich so eingenommen war, daß ich sie als die einzige Stütze und Zierde des menschlichen Schicksals ansahe.“17 Dies ist der Zeitpunkt nicht nur der Neugeburt eines Christen, sondern auch der Geburt eines neuen Büchermenschen. Ein Büchermensch, der keinen Geschmack mehr an seinen Büchern hat? Zweifellos war Hamanns Beziehung zu den (profanen) Büchern ein heikler Punkt seiner Bekehrung. Er blieb ein Büchernarr und eine Leseratte – oder anders gesagt „eine typische Figur des frühen extensiven Lesens, bzw. der deutschen Lesewut“18 des 18. Jahrhunderts – aber die neue lebendige Überzeugung, die alles überwältigende Kraft des Lutherschen Grundsatzes sola scriptura bereiteten ihm einen lebenslangen Kampf. Kurz nach seinem Londoner Erlebnis schreibt er noch: Dieser Anfang, wo ich noch sehr unvollkommene und unlautere Begriffe von Gottes Worte zur Lesung desselben mitbrachte, wurde gleich mit mehr Aufrichtigkeit als ehmals den 13. März von mir gemacht. […] Ich vergaß alle meine Bücher darüber, ich schämte mich selbige gegen das Buch G o t t e s jemals verglichen, jemals sie demselben zur Seite gesetzt, ja jemals ein anderes demselben vorgezogen zu haben.19

Man könnte diese Sätze als ein Bekenntnis des intensiven Lesens deuten, also als eine Abwendung vom extensiven Lesen. In kurzer Zeit zeigt Hamann aber wieder sein neu- altes Gesicht. Er fährt nach Riga zurück und in seinem ersten Brief an den Bruder zählt er eine ganze Reihe Bücher auf, die sein Bruder entweder besorgen oder unbedingt lesen oder gar zu ihm mitbringen muss.20 Diese Ambivalenz, die in dieser Hinsicht Hamanns Wünsche und Werke (verstehe! hier Taten), charakterisiert, durchwebte sein ganzes Leben. Er scheint seiner Lesesucht bewusst zu sein, und dies bezeugt eine Geschichte, die er in einem Brief an Moser 1763 schildert. Gestern als am achten Sonntag nach Trinitatis wurde mir aus der hiesigen Kanterschen Buchhandlung die Fortsetzung Ihres Catalogi von der letzten Meße zugeschickt. Weil meines Vaters ganze Haushaltung in die Vesper gegangen war, so war ich Schuldig das Haus zu hüten. Unterdeßen fällt mir der Catalog in die Hände und indem ich lese, finde ich: Schreiben, treuherziges, eines Layenbruders im Reich pp. Der Titel schoß mir ich weiß nicht warum? aufs Herz, daß ich bald alles im Stich gelaßen hätte um meine Neugierde zu löschen. So bald ich wieder besann schämte mich meines Ungestüms, lachte ein wenig darüber, und kasteyte mich biß gegen Abend, da mir ein neuer Paro17 18 19 20

N II, 39, 25–30 (Londoner Schriften, 342,15–19; Gedanken über meinen Lebenslauf). Radnjti S#ndor : A piknik (wie Anm. 11), S. 108. N II, 40,10–17 (Londoner Schriften, 342,39–343,6; Gedanken über meinen Lebenslauf). Vgl. ZH I, 243,27–244,4 (an den Bruder, August 1758.); ZH I, 258,28–32 (an G. I. Lindner, Sept. 1758.)

„Das versiegelte Buch auftun“. Johann Georg Hamann als Leser und Autor

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xysmus anwandelte, daß ich einen guten Freund beynahe zwang für mich in den Buchladen zu gehen, ohne jemanden daselbst anzutreffen weil es Sonntag war. Heute frühe gehe ich zur Kirche ins Montaggebet, muß den Buchladen vorbey und kann der Versuchung nicht wiederstehen das treuherzige Schreiben mit in die Kirche zu nehmen. Einige Blicke, die ich darauf geworfen hatte, machten mich so unruhig, daß ich nach verrichtetem Gottesdienst gleich zu meinem Freund eilte, (der nächst der Kirche wohnt und mein Frühstück immer fertig hält, der aber morgen Gott Lob! Nach Kurland heimgehen wird) um mich zu guter Letzt bey ihm satt zu lesen und satt zu trinken.21

Man kann es nicht wissen, inwieweit Hamanns Benehmen als wirklich krankhaft zu deuten ist, denn es könnte sein, dass er Moser nur schmeicheln wollte, um ihm zu zeigen, welche Wirkung der bloße Titel seiner Schrift auf ihn machte. Er beklagt sich aber auch sonst über seinen Wolfshunger nach profanen Büchern.22 Was aber seine Bibellektüre betrifft, schreibt er stolz an Herder : „Ich habe die Bibel mit einem fame canina verschlungen und laß tägl. darinn. Sie war mein Element und Aliment; es war also ganz natürl. daß mein ganzer Nervensaft tingirt war […].“23 Und der innere Kampf setzte sich fort. Im Jahre 1776 entschloss sich Hamann, seine Bücherei zu versteigern. Anlass dazu gaben einerseits der Tod seines Freundes Lindner, der in seinem Testament verfügt hatte, seine Bibliothek in einer Auktion zu versteigern, andererseits die schwierige materielle Lage der Hamann-Familie. Hamann als Vollstrecker des Letzten Willens Lindners fing an, die Bücherei Lindners zu katalogisieren, und auf einmal betrachtete er seine eigene wertvolle Büchersammlung als Mammon, welcher die Stelle Gottes in seinem Leben besetzt hatte. In diesem inneren Konflikt entschied er sich, Gott ein Opfer zu bringen. Er versucht seine Ideale in die Taten umzusetzen, nämlich so, dass er etwas „biblisch meint und zugleich auf die alltägliche Tatsächlichkeit bezieht.“24 Und Nadler sagt: „Es war ein asketischer Entschluss, sich bei lebendigem Leibe von seinen Büchern zu trennen […].“25 Meines Erachtens, hätte er Befreiung und Erleichterung von dieser Geste erwartet, in der Tat bereitete ihm aber diese Entscheidung neue Qualen.26 Die Versteigerung fand nicht statt: bereits unter der Zusammenstellung des Katalogs fühlte sich Hamann immer schlechter, so dass er nach dem Druck des Katalogs im Bett lag: Er wurde

21 ZH II, 218,35–219,18 (an Fr. C. von Moser, 25. 7. 1763). 22 Vgl. ZH VII, 442,12 (an Fr. H. Jacobi, 30. 3. 1788; ZH II, 220,20f. (an J. G. Lindner, 26. 7. 1763); ZH II, 397,10–17. an Herder, 29. 7. 1767. 23 ZH II, 443,32–34 (an Herder, 9. 4. 1769). 24 Hansjörg Alfred Salmony : Johann Georg Hamanns metakritische Philosophie. Zollikon 1958, S. 125. 25 Josef Nadler : Johann Georg Hamann 1730–1788. Der Zeuge des Corpus Mysticum. Salzburg 1949, S. 263. 26 ZH III, 238,30–239,6 (an Herder, 10. 8. 1776).

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wirklich krank,27 als in einem Brief von Herder eine größere Summe ankam, die genau die Hälfte des Bücherpreises ausmachte. Aber noch überzeugender war für Hamann die Begründung von Herders Tat: Er zitierte nämlich eine Bibelstelle aus dem Buch Jeremia,28 in dem Jeremia – der Aufforderung Gottes nachkommend – den Acker seines Neffen (Hanamel) gekauft hat, um diesen auszulösen, da er das Erbrecht hatte. So sah Hamann Gottes Hand und Wille in der Sache, und verzichtete gern auf den Plan der Versteigerung. Ob es sein bitterer Ernst war, seine Bücher zu sortieren, den „Ausschuß u. Ballast“29 loszuwerden, und Gott ein williges Opfer seiner „liebsten bonorum et donorum“30 zu bringen, oder das ganze bloß eine Geste, ein seinem „Satrapenmährchen“ entgegengesetzter „gelehrte[r] Banqueroutier Streich“31 war, wissen wir nicht genau. Wahrscheinlich haben alle diese Intentionen in der Sache eine Rolle gespielt. Sein Entschluss kann aber auf jeden Fall als ein Zeichen des erwähnten inneren Kampfes verstanden werden. Warum betone ich diese Ambivalenz, die innere Spaltung Hamanns? Ich glaube, dass die zwei Büchermenschtypen, die gleichzeitig und parallel in ihm lebten, und mal größere mal kleinere Macht über seine Handlung ausübten, zwei verschiedene Ideologien verkörpern. Der intensive Leser – wo eigentlich die Intensität nicht heißt, dass man in seinem ganzen Leben ein einziges Buch las, sondern in diesem Fall eher die Vertiefung, das Sich-versenken in die (auch wenn es hinsichtlich der Anzahl weniger) Lektüre bedeutet – also dieser Lesertyp vertritt eine Art Fundamentalismus, im Sinne der seelischen oder geistigen Verankerung. In Hamanns Fall denke ich daran, dass er aus Büchermensch eigentlich der Mensch des Buches der Bücher wurde. Was den extensiven Leser betrifft, seine Grundeinstellung determiniert ihn zur Ansammlung und Aufhäufung von Büchern, die zur Aufbau von großen, umfassenden – sich in die Richtung der Universalität richtenden Bibliotheken führt. Ihre ideologische Grundlage (d. h. durch Bücher universelles Wissen zu erreichen) ist mit der der natürlichen Religion verwandt. Jan Assmann schildert die Geschichte der Idee der Vernunftreligion und zeigt, dass diese Tradition uns die Natur als die unmittelbare und universelle Offenbarung Gottes vorstellt. Auf dieser Unmittelbarkeit und Universalität beruht die These, dass die Natürlichebzw. Vernunftreligion vor der Offenbarungsreligion den Vorrang hat. In der Schöpfung hat sich Gott nämlich für die ganze Welt universell offenbart, in der Bibel hingegen nur partiell: für die Auserwählten. Laut dieser Aussage sind die Kenntnisse zu den man durch das Buch der Natur gelangt älter (bzw. ur27 28 29 30 31

Vgl. H V, 365,25–366,4 (an F. H. Jacobi, 16. 2. 1785). Jeremia 32,6–15. Vgl.: ZH III, 250,20–251,10. (an Herder, 24. 8. 1776) Herders Ausdruck. ZH III, 250,27 (von Herder, 24. 8. 1776). ZH III, 239,25–27 (an Herder, 9. 8. 1776). ZH III, 239,33–35.(an Herder, 9. 8. 1776).

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sprünglicher), als die Kenntnisse, die durch die Bibel zu gewinnen sind. Denn die Heilige Schrift ist erst nach der Schöpfung der Welt entstanden.32 So ist die natürliche (Vernunft)Religion, die sich auf das Buch der Natur stützt, ebenfalls älter und ursprünglicher als die Offenbarungsreligion.33 Diese Thesen waren im 18. Jh. allgemein bekannt. Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der bildenden Kunst entstanden Werke, die unendliche Bibliotheken darstellten. Die Büchereien als Sammlungen von Buch-Corpora versuchten – nach derer Ideal – die Welt des geschriebenen Wortes auf eine unserem Universum entsprechende Art und Weise einzurichten. Die Bibliotheken wurden organisch aufgebaut, das heißt: auf den Regalen wurde jedes Buch ans Nachbarbuch nach verschiedenen Kriterien angeknüpft, und die Themen oder die alphabetische Reihenfolge bestimmten ihre Ordnung. In Hamanns Zuhause gab es zwar viele Bücher, aber ohne allzu große Ordnungsansprüche. Wie Scheffner schreibt: „Sein Haus war ein chaotisches Magazin, in dem Kluges, Gutes, Gelehrtes und Religiöses durch einander und zum Gebrauch eines jeden, der hinkam, offen lag.“34 Seine Absicht war aber keineswegs, durch das Aufhäufen der Bücher die Idee des universalen Wissens zu verwirklichen. Es lag ihm fern seine Bibliothek als Corpora für den Logos zu verstehen – so richtete er eher „ein chaotisches Magazin“ statt eine Basilika – einen Tempel der Wissenschaft ein. Seine Meinung über die Vernunftreligion und ihre bevorzugte Stellung der Offenbarung der Bibel gegenüber stellt er in der Neuen Apologie des Buchstaben h folgenderweise dar : Lügt also nicht gegen die Wahrheit mit eurer pralerischen Kenntnis von GOtt; denn Lügen gehören zur Weisheit, die irrdisch, menschlich und teuflisch ist. Lügen sind alle Satzungen eurer so genannten allgemeinen, gesunden und geübten Vernunft – unbegreiflicher, widersprechender und unfruchtbarer als alle Geheimnisse, Wunder und Zeichen des allerheiligsten Glaubens, den ihr eben so umsonst verfolgt als der ausserordentlichste Religionslehrer eures Jahrhunderts in seinen zufälligen, zur Hauptsache passenden Gedanken mich, der ich mit euch rede, gleich jenem stummen lastbaren Thier um der Thorheit des Propheten zu wehren, den es trug und das er schlug im Affect seines Unglaubens oder seiner noch übertriebener Leichtgläubigkeit.35

32 Ps. 90,2; Sprüche 8,22–35; Joh. 8,58. 33 Jan Assmann: Religio duplex. Az egyiptomi miszt8riumok 8s az eurjpai felvil#gosod#s. Budapest 2013, S. 15–20 (über Theodor Ludwig Lau). 34 Johann George Scheffner : Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig 1816, S. 206; vgl. ZH II, 366,23–25 (an Herder, 19. 4. 1766). 35 N III, 105,35–106,8 (Neue Apologie des Buchstaben h.); vgl. N I, 8,36–9,21 (Londoner Schriften, 66,34–67,19; Biblische Betrachtungen).

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2.

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Der Autor

Die Selbstentäußerung Gottes in der Natur, in der Geschichte und in der Bibel führt zu schweren Fragen, was das Autor-werden eines Christen betrifft. Dieses Dilemma erscheint in der Aussage: „Unter allen Eitelkeiten, die Salomo begangen, weiß ich keine größere, als seine Schwachheit, Autor zu werden.“36 Sich Gott ähnlich machen ist wirklich die größte Eitelkeit, die man nach der Erbsünde begehen kann. Wenn Hamann Gott als den einzigen authentischen Autor betrachtet, wie kommt es, dass er sich nicht fürchtet, selbst Autor zu werden? In den Schriften Hamanns sind viele Antworten auf diese Frage zu finden, die (aus philosophischer oder ästhetischer Sicht) eindeutigsten gleich am Anfang seiner Autorschaft in der Aesthetica in nuce. Hamann macht es deutlich, dass seine Autorschaft auf einer göttlichen Berufung beruht. Das Motto aus dem Buch Hiob, sowie das Zitat von Horatius37 stellen einen Dichter dar, der Gottes „Mitarbeiter“, d. h. Bote ist. Denn die Offenbarung im Buch der Natur und der Geschichte ruft nach Rezitation: „[W]ir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – – sie in Geschick zu bringen, des Poeten bescheiden Theil.“38 Am höchsten Grade in dieser Hierarchie steht der Dichter, denn seine Sprache besteht aus kyriologischen Zeichen,39 die, wie wir es aus der Fußnote erfahren, unübertragen, oder eigentlich sind:40 sie sind teilhaftig der Wirklichkeit der Dinge, da sie sinnlich sind. So kann die Poesie die wahre Nachahmung der Natur werden, eine Art Abbildung. Und die Natur ist ja selbst die Paraphrase der Offenbarung: „eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur“.41 Der Poet am Anfange der Tage“42 „sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“.43 Wenn die schriftstellerische Intention Hamanns war, in seinen Werken die vollkommene göttliche Schöpfung nachzuahmen, warum hat er dunkle, schwerverständliche, brockenweise, fragmentarische Texte geschrieben?

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ZH II, 143,19f. (an M. Mendelssohn, 21. oder 25. 3. 1762). N II, 196 und 1971–9 (Aesthetica in nuce). N II, 198,33–199,3 (Aesthetica in nuce). N II, 199,21–24 (Aesthetica in nuce). Vgl. den Kommentar von Sven-Aage Jørgensen in der von ihm hg. Reclamausgabe: Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Stuttgart 1968, S. 88. 41 N II, 198,29 (Aesthetica in nuce). 42 N II, 206,20 (Aesthetica in nuce). 43 1Mose 1,31.

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Das Autor-Werden Gottes, wie Hamann formuliert, ist eine Selbsterniedrigung: „Wie hat sich Gott der heilige Geist erniedrigt, da er ein Geschichtsschreiber der kleinsten, der verächtlichsten, der nichts bedeutendsten Begebenheiten auf der Erde geworden, um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen der Rathschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?“44 Auf den Heiligen Geist wird hier übertragen, was die Bibel über Jesus als über den verkörperten Logos, über das lebendige Wort sagt: „Er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst.“45 In diese Tradition stellt sich Hamann: er setzt die Bücher der Natur und der Geschichte fort, und nimmt die Rolle des Geschichtsschreibers der partikulären Ereignisse auf. So transformiert er das Prinzip der Kondeszendenz und der Akkommodation in das ästhetische und textorganisatorische Prinzip der Partikularitäten,46 des im Augenblick Gegenwärtigen und der Flüchtigkeit. Neben dem Menschen des Buches ist der Büchermensch wieder gegenwärtig: durch die Anhäufung der partikularen Ereignisse erscheint nicht nur die Intention, Gottes Beispiel nachzuahmen oder ihm zu folgen. Durch die Menge der Partikularitäten wird Hamann auch seiner eigenen Hinfälligkeit (seiner eigenen Schwäche) ausgeliefert. Die flüchtigen Ereignisse in den Schriften Hamanns sind einerseits Ereignisse seines Mikrokosmos, andererseits aber auch der Gelehrtenrepublik; die großen Diskussionen und die alltäglichen Auseinandersetzungen, oder eben wieder (zufällige) Gedankengänge aus den aktuellen Lektüren, als Ergebnisse der von ihm entwickelten Methode des Schnelllesens.47 So

44 N I, 91,12–17 (Londoner Schriften, 152,3–8; Biblische Betrachtungen). 45 Philipper 2,7f. 46 Eine der Lieblingsausdrücke Hegels.: z. B.:„[…] die Menge von Partikularitäten, mit denen die Hamannschen Schriften ausgefüllt sind“ (Hamanns Schriften [1828]. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bdn. Bd. XI. Berliner Schriften 1818–1831, S. 275–352, hier S. 318). Vgl. auch Goethes Bemerkungen zum Stil Hamanns: „Kann man […] der Gestalten, die ihm vorschweben, sich nicht bemächtigen, aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur nicht gerade den Sinn einer nur angedeuteten Stelle herausfinden; so wird es um uns nur trüber und dunkler je mehr wir ihn studieren, und diese Finsternis wird mit den Jahren immer zunehmen, weil seine Anspielungen auf bestimmte, im Leben und in der Literatur augenblicklich herrschende Eigenheiten vorzüglich gerichtet waren.“ (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. von Dieter Borchmeyer, Martin Ehrenzeller u. a. Bd. XIV. Frankfurt a. M. 1986. S. 160f. 47 Vgl. Nora Imendörffer : Johann Georg Hamann und seine Bücherei. Königsberg, Berlin 1932, S. 9.: „Entsprechend kommt bei ihm die Ablehnung nicht aus einem verstandesmäßigen Abwägen, sondern sie ist das Ausstoßen von Stoffen, die ihm nicht entsprechen. So konnte er nur mit größter Mühe den Abstand gewinnen, der für ein Gedankenbild und eine Darstellung nötig ist. […] Diese Vereinfachung, die sein Geist und Gedächtnis vornimmt, prägt sich in

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kann man seine Schreibmethode teilweise als Folge seiner Geistesstruktur betrachten, als Konsequenz der Kraft seines Glaubens, oder aber steckt doch eher seine Neugierde, seine Willensschwäche oder die Faulheit dahinter (oder es noch komplizierter zu machen: der Wunsch den eigenen Schwächen zu widerstehen)? Hamann schreibt seine philosophischen Schriften mit kyriologischen Zeichen: poetisch, leidenschaftlich. So, auch wenn er anonym schreibt, erkennt man „das animal scribax […]an der Pfote“48. Den abstrakten begrifflichen Schemata und dem konventionellen Geschmack stellt er die Sprache der Natur, der Leidenschaften und der Geheimnisse gegenüber. So wurden seine Schriften – und vor allem die Aesthetica in nuce – in den Augen seiner Nachfolger eine Grundschrift des Genie-Gedankens der Sturm-und-Drang-Bewegung. Für ihn bedeuteten diese Schreibmethode und dieser Stil die Möglichkeit für die Versöhnung der zwei Teile in der Doppelnatur seiner Persönlichkeit: des Büchermenschen und des Menschen des Buches (der Bibel). Es entstand eine Hierarchie, die in der Welt und in der Natur Ordnung schafft – der Büchermensch wird dem Menschen des Buches untergeordnet. Das Ergebnis: der Magus aus Norden. Ein Orakel, der durch reichen philologischen Apparat wirkt: sprachwissenschaftliche Kleinarbeit mit eschatologischer Perspektive, Bibelcentos als Ästhetik oder Sprachtheorie – Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose. „Hamann ist eine bizarre Übergangsgestalt“ – sagt dazu Jochen Schmidt.49 Die Ambivalenz in seiner Autorschaft ist für den fernen Betrachter augenfällig, Ich denke aber, dass Hamann als Schriftsteller alles verwirklicht hat, was er als Leser nicht ganz schaffte: er blieb seiner Berufung treu. Was die Schreibmethode Hamanns betrifft, der Büchermensch erscheint in seinen Text-Centos. Die aus Texten gewebten „bunte Tücher“ sind „Beute“50 aus der Lektüre des extensiven Lesers. Unmittelbar nach der Londoner Zeit liest man aber noch andere Texte: die Biblischen Betrachtungen repräsentieren das – wie es Gerhard Maier formuliert – „dynamische Verständnis der Bibel“.51 Maier charakterisiert das dynamische Verständnis als hermeneutisch reflektiert, nicht aber hermeneutisch systematisiert: „[D]ie Offenbarung trifft den Menschen im Herzen, und d. h. zugleich im Nous“.52 In den Londoner Schriften sieht man die unmittelbaren, spontanen Reflexionen über das Geschehene: über seine Lektüre, und über die inneren Vorgänge. Auch wenn diese Schriften nicht als exegetische

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späteren Jahren noch stärker aus, und darauf ist ein gut Teil von Hamanns Klagen über seine Vergeßlichkeit zurückzuführen.“ ZH II, 163,19f. (an J. G. Lindner, 24. 7. 1762). Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Darmstadt 1988, S. 96. Vgl. N II, 195, hebräisches Motto aus Richter 5,30. Gerhard Maier : Biblische Hermeneutik. Wuppertal, Zürich 1990, S. 61–63. Ebd., S. 61f.

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Kommentare gewertet werden können, sind sie – den Vorreden Luthers zu den Büchern der Bibel ähnlich – im vertraulichen Ton geschriebene Bemerkungen zu einzelnen Bibelstellen. Nadler sagt: „Das Meiste vollends, was sich auf die Bibel bezieht, will die betreffende Schriftstelle gar nicht erläutern sondern das innere Erlebnis aus Anlaß dieser Stelle und die Nutzanwendung auf das eigene persönliche Leben festhalten.“53 Im Gestus des „Lutherisierens“ erkennt man das, was Gerhard Maier ethisches Verständnis der Bibel nennt: Dies zielt „auf die Anwendung des Verstandenen“.54 „Was soll ich tun?“ – diese ist die Frage des gehorsamen Gläubigen, deshalb sagt Maier, dass „vielleicht die rabbinische Lehrdiskussion dem ethischen Verständnis am engsten verbunden“ ist.55 Dies erklärt Hamanns Vorliebe zur dialogischen Form: Was den Leser (d. h. seine Lektüre) betrifft, zu Platons Dialogen, was aber den Autoren Hamann betrifft: einerseits zu den Quasidialogen in den Texten56 sowie zu den fingierten oder den wirklichen Briefen, andererseits zur Intertextualität, denn „Intertextualität ist Dialogizität zwischen Texten“.57 Aus der Sicht unserer Erläuterungen ist die dritte Phase – das kognitive Verständnis der Heiligen Schrift – von hoher Bedeutung. Am Anfang seiner Autorschaft lag Hamann viel daran, seinen Glauben, die lutherischen Traditionen zu legitimieren und zu verteidigen. Nach der zweiten Hälfte der 60er Jahren zitiert er die Bibel und Luther schon selbstverständlich, den aktuellen Gedankengang unterstützend. In diesen Schriften ist der Glaube die Grundlage, auf der Hamann in seinen theologischen und philosophischen Diskussionen steht. Gerhard Maier macht uns auf die Gefahr aufmerksam, „dass die Erkenntnis selbst schon als ein ausreichendes Ziel betrachtet wird“.58 Hamann verfehlt sein Ziel nicht: die Intention in seiner Autorschaft ist und bleibt, die göttliche Botschaft seinen Lesern zukommen zu lassen. Auf das kognitive Verständnis basiert Hamanns Zitatverwendung, im Sinne des Paulus, dass er „denen, die ohne Gesetz sind, einer ohne Gesetz geworden ist – obwohl er doch nicht ohne Gesetz war vor Gott, sondern war in dem Gesetz Christi – damit er sie, die ohne Gesetz sind, gewinnt“.59 Deshalb wurde sein Centostil nicht nur aus biblischen sondern auch aus profanen Textfragmenten zusammengesetzt.

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N I, 322. Maier : Biblische Hermeneutik (wie Anm. 51), S. 63. Ebd. Vgl. N. II. 200 (Aesthetica in nuce). Vgl. Manfred Beetz: Dialogische Rhetorik und Intertextualität in Hamanns ,Aesthetica in nuce‘. In: Acta 1992, 84. 58 Maier : Biblische Hermeneutik (wie Anm. 53), S. 64. 59 1Kor 9,21. Vgl. auch Römer 6,19.

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Ob extensiver oder intensiver Leser, ob Gottes Bote oder gefeierter Schriftsteller, Hamann war ein Büchermensch (sein Leben drehte sich um die Literatur und Bücher, sie beeinflussten seine Gedanken, Kommunikation, finanzielle Lage und teilweise wurde sein Privatleben seiner Bücherei unterworfen). Er war nicht nur Konsument, sondern auch Produzent von Büchern – seine Schriften sind ebenso Bausteine eines (seines) Buchcorpus als seiner Bibliothek. So ist auch der Titel meines Vortrags zu verstehen: durch Rezeption seines Werkes nähert man zum Wesen des Büchermenschen, und zum Kennenlernen oder gar Erkennen des geheimen Menschen, von dem in der Bibel steht, er sei „der verborgene Mensch des Herzens“.60 Obwohl das versiegelte Buch der Natur und der Geschichte und das versiegelte Leben eines Büchermenschen zu öffnen „ohne die Auslegung seines Geistes und ihres Schöpfers“61 schwer vorstellbar ist.

60 1Petr 3,4.; vgl. Offb. 7,3; Offenb. 2,17; Hld 4,12. 61 N I, 148,19f. (Londoner Schriften, 209,32f.; Biblische Betrachtungen).

Johann Kreuzer (Oldenburg)

Über den inneren Sinn, Laute und Buchstaben als reine Formen a priori oder die Frage der Natur der Geschichte(n)

1. Die barocke Unübersichtlichkeit des Titels der folgenden Überlegungen sei durch die Bitte um die Nachsicht ergänzt, sich von der in ihr leicht erkennbaren Absicht nicht verstimmen zu lassen. Die Absicht ist, Hamann mit seinem intimsten oder freundschaftlichsten Kontrahenten zu verspannen.1 Und dies nicht nur in der Weise, die Kant zum mentalistischen Unhold und transzendentalphilosophierenden Reduktionisten macht, sondern in der Weise der Frage, ob sich etwas und was sich bei Hamann für die Einlösung, d. h. bessere Erklärung dessen finden lässt, was wirkliches Erkennen, was Erkennen wirklich heißt. „Der kritische Weg ist allein noch offen“ – zu dieser Schlusswendung des Buches Kritik der reinen Vernunft hat Hamann sofort „H-m-nn“ gesagt.2 Hinter beides: den kritischen Weg wie die ,h-mm, hmm-Zustimmung‘ sollte man nicht zurück. Letztlich geht es dabei um den ,sensus communis‘, der Sprache ist – der sich also in ihr nicht bloß ,abbildet‘. Im Hinblick darauf schickt der Titel der folgenden Überlegungen eine These vorneweg: Laute und Buchstaben sind reine Formen a priori – sie sind transzendental im buchstäblichen Sinn der Bedingung der Möglichkeit. Laute und Buchstaben sind keine Lautsprecher einer Innenwelt. Die Sinnlichkeit der Sprache ist vielmehr Form wie Medium dessen, wie sich Innenwelten äußern und mitteilen. Das Geschehen wie die Geschichte dieses Sich-Mitteilens ist Sprache. Eine Auffassung, die meint, ohne diesen Bezug auf das lebendige Gegebensein der Sprache als ein ihr Transzendentales auskommen zu können oder auskommen zu wollen, bedeutet deshalb so etwas wie den Eingang in selbstverschuldete Unmündigkeit – eine Unmündigkeit nicht allein im metaphorischen Sinn, der 1 „Unser Hamann“, schreibt Kant am 30. August 1789 an F.H. Jacobi. 2 Vgl. J.G. Hamann: Rezension zur Kritik der reinen Vernunft, in: Vom Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes. Ein Hamann-Brevier. Mit einem Nachwort hg. v. Stefan Majetschak. München 1988, S. 204 (N III, 280,17).

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Johann Kreuzer

den Ausgang aus ihr fordert, sondern gerade auch in der buchstäblichen Bedeutung jener Mentalismen, die meinen, ohne ,den Mund‘, d. h. ohne das unverzichtbar sinnliche Moment der Sprache, auskommen zu können. In der Phobie gegenüber dieser unreglementierbar sinnlichen Seite von Sprache dürfte jenes Vorurteil wiederkehren, das Leibniz von den „Worten“ als „Rechenpfennigen“ oder „Wechselzetteln des Verstandes“ sprechen ließ. Hobbes war dem vorangegangen mit der Einschätzung, dass die ,Kraft der Wörter‘ darin bestehe, dass sie als „Rechensteinchen“ der „klugen“ Besitzer mentaler Daten zu fungieren hätten.3 An diese Dystopie gilt es gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu erinnern: Angesichts technologischer Heilsversprechen, die den unreglementierbaren (und damit auch nicht digitalisierbaren) sinnlichen Aspekt der Sprache durch Techniken der Informationserfassung und -übermittlung meinen ersetzen – in die ,cloud‘ auflösen – zu können und den Eingang in selbstverschuldete Unmündigkeit im realmetaphorischen Sinn generieren: Die Quellcodes der datenverarbeitenden Monopole kennt niemand; ihnen zu fügen aber hat sich alles, was als Datum erfasst und bedeutungsidentisch weitergegeben werden will. In bzw. mit solcher Reglementierung wird jene „Geistes-Freiheit“ abgeschafft, von der der Hamann-Leser Jean Paul gesagt hat, sie bestehe darin, „den Blick von der Sache zu wenden gegen ihr Zeichen hin“.4

2. Alles bisher Angesprochene dürfte für Teilnehmer eines Hamann-Kolloquiums nichts Neues sein. Ebenso wenig neu ist die Perspektive, dass Kant nicht einfach auf die Seite sprachallergischer Mentaltranszendentalisten zu stellen ist. Von Hamann und Kant zu sprechen heißt vielmehr ein Arbeitsprogramm zu formulieren oder auf ein solches zurückzukommen.5 Denn, um ein Beispiel zu

3 Vgl. G.W.F. Leibniz: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache §§ 6,7. Hg. v. Uwe Pörksen. Stuttgart 1983, S. 6f.; T. Hobbes: Leviathan, Kap. 4. 29. 4 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, § 52. In: ders.: Werke in zwölf Bänden. Hg. v. N. Miller. München 1975. Bd. 9, S. 194. 5 Vgl. Acta 1985, darin insbes. Josef Simon: Spuren Hamanns bei Kant, 89–110; Günter Wohlfart: Hamanns Kantkritik. In: Kant-Studien 75 (1984), S. 398–419; ders.: Logik und Ästhetik. In: Oswald Bayer u. a. (Hg.): Insel-Almanach auf das Jahr 1988. Frankfurt a.M. 1987, S. 76–82; ders.: Hamann – Sprache als logisches und ästhetisches Vermögen. In: ders.: Denken der Sprache, Freiburg, München 1984, S. 119–166; Stefan Majetschak: Metakritik und Sprache. Zu Johann Georg Hamanns Kantverständnis und seinen metakritischen Implikationen, in: Kantstudien 80 (1989), S. 447–471; Oswald Bayer : Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, insbes. S. 63–149; Josef Simon: Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin, New York 2003, insbes. S. 35f, 270f.

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nennen: bereits vor ca. neunzig Jahren hat Walter Benjamin zum ,Programm der kommenden Philosophie‘ (in einem gleichnamigen Aufsatz) bemerkt, dass die […] große Umbildung und Korrektur die an dem einseitig mathematisch-mechanisch orientierten Erkenntnisbegriff vorzunehmen ist, […] nur durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamann versucht hat[,] gewonnen werden [kann]. […] Ein in der Reflexion auf das sprachliche Wesen der Erkenntnis gewonnener Begriff von ihr wird einen korrespondierenden Erfahrungsbegriff schaffen, der auch Gebiete, deren wahrhaft systematische Einordnung Kant nicht gelungen ist, umfassen wird.6

Das ist freilich resonanzlos geblieben, gerade auch in der Rezeption Benjamins – da denkt man eher an den Medientheoretiker mit seiner Reproduktionsarbeit, nicht an den sich auf Hamann Berufenden, dem Scholem noch 1931 schreibt, dass deine eigenen und soliden Erkenntnisse, aus der, sagen wir kurz, Metaphysik der Sprache [wachsen], welche recht eigentlich das ist, womit du […] der legitime Fortsetzer der fruchtbarsten und echtesten Traditionen eines Hamann und Humboldt [sein könntest].7

1967 ist als einer der ersten Bände der „Theorie“-Reihe bei Suhrkamp die von Josef Simon herausgegebene und mit einer monographieähnlichen Einleitung versehene Ausgabe von Hamanns Schriften zur Sprache erschienen.8 Das war die heroische suhrkamp-Zeit – und Hamann war mittendrin: als Herausgeber der „Theorie 1“-Reihe stehen in diesem Hamann-Band Hans Blumenberg, Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes. Mag sein, dass deshalb Habermas in der Jaspers-Vorlesung zu Fragen der Zeit 1998 in Oldenburg auf die „originär sprachpragmatische[…] Kantkritik“ bei Hamann und Humboldt hingewiesen hat.9 Was aber – bleiben wir in der Terminologie von Habermas – kann das heißen: ,sprachpragmatische Kantkritik‘ von Hamann her? Um einen zentralen Punkt der Antwort auf diese Frage soll es im Folgenden gehen. Ich meine, dass sich dieser Punkt mit Hamann und mit Kant machen lässt. Dabei muss man freilich Kant sozusagen von Hamann her lesen. 6 Vgl. Über das Programm der kommenden Philosophie. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Herrmann Schweppenhäuser. Bd. II. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Herrmann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 168. 7 Vgl. Walter Benjamin: Briefe. Hg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M. 1966 (ND 1978), S. 526. 8 Vgl. J.G. Hamann: Schriften zur Sprache. Einleitung und Anmerkungen von Josef Simon. Frankfurt a. M. 1967. 9 Vgl. Jürgen Habermas: Hermeneutische und analytische Philosophie. Zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende? In: Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit. Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Hg. v. Institut für Philosophie. Oldenburg 1998, S. 11.

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3. Zitiert sei die bekannte Stelle: Laute und Buchstaben sind also reine Formen a priori, in denen nichts, was zur Empfindung oder zum Begriffe eines Gegenstandes gehört, angetroffen wird und die wahren, ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft. Die älteste Sprache war Musik und nebst dem fühlbaren Rhythmus des Pulsschlages und des Othems in der Nase, das leibhafte Urbild alles Zeitmaaßes und seiner Zahlverhältnisse.10

Wenn Laute und Buchstaben Formen a priori sind, dann ist eine Kritik der Vernunft, die auf Erfahrungserkenntnis hinauswill, ohne die Reflexion der Sprache – ohne ein Denken, das vom sinnlichen Datum der Sprache ausgeht – nicht zu haben. Jede Kritik der Vernunft – gerade auch eine der ,reinen‘ – ist vom Denken der Sprache her zu begreifen.11 Zugleich wird eine sich von der Sprache her begreifende Kritik der Vernunft ohne die Reflexion auf das Moment des Hörens (und damit die Nähe zwischen sprachlichem und musikalischem Verstehen) nicht auskommen. Hamanns Hinweis auf Musik als die älteste Sprache und den Rhythmus als Zeitmaßurbild legt das unüberhörbar nahe.12 Auch damit dürfte in diesem Kreis nichts Neues gesagt sein. Aber, so könnte man eine Frage formulieren, die vielleicht nicht nur für den Kreis von Hamannianern von Interesse sein dürfte: Erlangen Hamanns Anregungen ihre volle Wirkkraft nicht gerade dann, wenn man von ihnen her auf Kant zurückkommt? Beispielsweise im Hinblick auf die Bestimmung des ,inneren Sinns‘, wenn man dabei nicht die endlos repetierte Thetik der Lehren von Raum und Zeit als reinen Anschauungsformen im Sinn hat, sondern etwa folgende Bemerkung, die Kant im Zuge der transzendentalen Deduktion macht (also sozusagen im Zentrum der Höhle des Transzendentalen). Im § 18 der B-Deduktion der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet er die „transzendentale Einheit der Apperzeption“, die Objekte konstituiere, von der „subjektiven Einheit des Bewußtseins, die eine Bestimmung des inneren Sinnes“ und im Vermögen der Synthesis des anschaulich Mannigfaltigen wirklich bzw. gegeben sei. Allein das ,Ich denke‘ konstituiere ein Objekt, das von der Bedingung der Möglichkeit seiner Konstitution unabhängig – Kant sagt: „objektiv gültig“ – sei. Das will ich hier nicht weiter ausführen. Interessant scheint mir aber der Hinweis, mit dem Kant das plausibel zu machen sucht. 10 Hamann: Metakritik über den Purismum der Vernunft, zitiert nach: Vom Magus im Norden (wie Anm. 2), S. 209 (N III, 286,14–20). 11 Vgl. Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1964, S. 3. 12 Als genealogischer Beleg vgl. Thrasybulos G. Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik. Hamburg 1958, S. 45–53, 109–129.

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Er schließt den § 18 (der das Zentrum der Deduktion in der B-Fassung formuliert) mit der Bemerkung: Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache; und die Einheit des Bewußtseins, in dem, was empirisch ist, ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht notwendig und allgemein geltend.13

Das Ziel, der Fokus der Kritik ist klar : ,Sprache‘ ist kein sicherer Kantonist, sie lässt sich – d. h. wir als Sprecher lassen uns – keiner Regel unterwerfen, keinem datentechnisch bestimmbaren Algorithmus. Sie fügt sich nicht dem Wunsch von Hobbes, der die ,Kraft der Wörter‘ gerne hätte darin bestehen und darauf reduziert sein lassen, dass sie als „Rechensteinchen“ der „klugen“ Besitzer mentaler Daten fungieren.14 Solange es einen solchen Algorithmus nicht gibt, brauchen und benutzen wir die Fähigkeit, die die Vorstellung eines Wortes mit der Vorstellung einer Sache verbindet. Diese Fähigkeit – kantisch formuliert: die der Synthesis – ist es, die buchstäblich Sinn macht. Gerade dann, wenn wir mit Kant keinen Zugang zu irgendwelchen Sachen selbst haben, kommen wir ohne diese Fähigkeit nicht aus. Darauf nimmt Kant nun zwar polemisch Bezug, indem er einen transzendentalphilosophisch gesicherten Abstand von der Regellosigkeit alltäglicher Empirie zu installieren sucht. Aber er nimmt, wenn er von der mit einem Wort zu verbindenden Vorstellung spricht, auf ein Verfahren Bezug, das als Sprache gegeben ist: auf etwas, was wir sprachlich immer schon tun. Denn wodurch ist uns die Vorstellung einer Sache gegeben, mit der wir das ihr geltende Wort vergleichen, wenn nicht durch das Vermögen, das der Bildung, dem Gegebenwerden der Vorstellung eines Wortes zugrunde liegt? Und wodurch ist uns dieses Vermögen wirklich ,gegeben‘, wenn nicht dadurch, dass wir in Lauten und Buchstaben etwas nicht Gegenwärtiges vergegenwärtigen? Das aber ist Sprache: Laute und Buchstaben – oder auch die Schrift als vermittelte Unmittelbarkeit des sinnlichen Sprechens – erscheinen als Bedingungen der Möglichkeit des Gegebenseins wie der Reproduktion von ,Vorstellungen‘. Nun wäre das Vermögen der Einbildungskraft kein Vermögen, wenn sich ausund berechnen ließe, wie es funktioniert. Denn gerade darin besteht ihre Produktivität, dass sie nicht unter gegebene Regeln subsumiert werden kann. In der Übersetzung des Schlussteils von Buch I von Humes Treatise of Human Nature, die Hamann Nachtgedanken eines Zweiflers überschrieben hat, stellt er diesbezüglich fest, dass das

13 Vgl. Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden: KrV), B 139/140, zit. nach: Kant: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968. Bd. III, S. 141. 14 Vgl. Anm. 3.

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Gedächtniß, die Sinnen und der Verstand […] also sämmtlich bloß auf die Einbildungskraft [beruhen] oder auf die Lebhaftigkeit der Ideen, kein Wunder also, daß ein so unbeständiges und unzuverläßiges Grundgesetz uns in Irrthümer leitet, wenn ihm blindlings […] gefolgt wird […].15

Gibt es eine Richtschnur, die uns der Einbildungskraft folgen lässt, ohne dass dies blindlings geschieht? Dazu brauchen wir die Möglichkeit, uns zum Vermögen der Einbildungskraft selbst zu verhalten. Das geht nicht durch Introspektion. Das geht nur durch bzw. in Äußerungsformen, in denen uns dieses Vermögen durch den Abstand von den Formen, in denen es sich materialisiert, fühlbar wird. Fühlbar heißt, dass wir uns nicht nur auf das durch die Einbildungskraft Vergegenwärtigte, sondern auch auf den Impetus oder das Dabeisein dieses Vergegenwärtigens selbst beziehen. Was den inneren Sinn kennzeichnet, sind Relationen im Wahrnehmen, in denen die Einbildungskraft nach zwei Seiten zugleich wirkt: qua Einbildungskraft wird nie nur die gezählte Zeit des Wahrgenommenen vergegenwärtigt – gegenwärtig ist immer zugleich der Rhythmus bzw. die zählende Zeit, die die Akte des Wahrnehmens durchpulst. Es macht deshalb guten Sinn, wenn Hamann im Hinblick auf die wahren ästhetischen Elemente unseres Erkennens auf den „fühlbaren Rhythmus des Pulsschlags und des Othems in der Nase“ rekurriert. Der innere Sinn ist nichts rein Rezeptives, sondern ein Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität. Er ist Grund wie Erscheinung einer Tätigkeit, eines Pulsschlags, eines Rhythmus – deshalb wehrt sich Hamann gegen die „gewaltthätige, unbefugte, eigensinnige Scheidung“16 der Sinnlichkeit vom Verstand und umgekehrt, die Kant nicht nur in der Kritik der reinen Vernunft (dem Buch) mehrfach und gleichsam sentenziös beschwört. Zu diskutieren, dass Kant diese strenge Scheidung der Sache nach ebenfalls mehrfach und aus guten Gründen unterläuft, würde hier zu weitschweifig werden.17 Ist der von Hamann angemeldete Widerspruch gegen die drei Reinigungen, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft (dem Buch) vorgenommen habe – der Reinigung des Denkens von Geschichte, Erfahrung und Sprache18 –, mit dem Kernanliegen einer ,Kritik der reinen Vernunft‘ (nunmehr des Programms) aber vielleicht doch verknüpfbar? Es gibt Belegstellen bei Kant, die diese Frage bejahend beantworten lassen. 15 Hamann: Nachtgedanken eines Zweiflers, in: Vom Magus im Norden (wie Anm. 2), S. 185 (N IV, 365,19–23). 16 Metakritik über den Purismum der Vernunft, ebd., S. 209 (N III, 286,32f.). 17 So heißt es im § 24 der B-Deduktion der Kritik der reinen Vernunft: Der Verstand „[…] übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde.“ (KrV § 24, B 153/54 [wie Anm. 13], S. 150). 18 Vgl. Metakritik über den Purismum der Vernunft (wie Anm. 16), S. 206f. (N III, 284,7–32).

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4. Im Kapitel „Von dem Schematismus der Verstandesbegriffe“ geht es darum, „wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können“ – das zu beantworten, ist sozusagen der entscheidende Dreh für das, was eine ,Kritik der reinen Vernunft‘ grundlegen soll. Und hier nun formuliert Kant: Also sind die Schemate der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objekte, mithin B e d e u t u n g zu verschaffen […].19

Übergangen sei die Definition dessen, was Kant unter ,Bedeutung‘ versteht: Er definiert sie als Beziehung auf Objekte – nicht als ein mentales Objekt, das wir Gegenstand nennen: nicht als das, wofür ein Wort stehe. Wichtig für unsere Überlegungen ist allein, dass die Schemata der Verstandesbegriffe als relationale Bestimmungen gedacht werden, als ein Herstellen und Reproduzieren von Beziehungen – und dass es zeitliche Bestimmungen sind, die dies leisten. Noch einmal die Kritik der reinen Vernunft (das Buch), einen Absatz vorher : Die Schemate sind daher nichts als Z e i t b e s t i m m u n g e n a priori nach Regeln, und diese gehen, nach der Ordnung der Kategorien, auf die Z e i t r e i h e , den Z e i t i n h a l t , die Z e i t o r d n u n g , endlich den Z e i t i n b e g r i f f aller möglichen Gegenstände.20

Kommt das, was Kant hier als Zeitbestimmungen anspricht, deren Bedeutung darin besteht, den Begriffen Beziehung auf Objekte zu geben (worin zugleich Bedeutung besteht), Hamanns Feststellung nicht sehr nahe, dass ,Laute und Buchstaben reine Formen a priori und die wahren ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft wie das leibhafte Urbild jedes Zeitmaßes und seiner Zahlverhältnisse‘ sind? Denn in Lauten und Buchstaben wird sinnlich offenbar – so dass wir uns dazu zu verhalten vermögen –, dass (wie Kant zu Beginn der Erläuterung der „Zweiten Analogie der Erfahrung“ in der Kritik der reinen Vernunft erläutert) […] Verknüpfung kein Werk des bloßen Sinnes und der Anschauung [ist)], sondern […] das Produkt eines synthetischen Vermögens der Einbildungskraft, die den inneren Sinn in Ansehung des Zeitverhältnisses bestimmt.21

Hamann hat deshalb im Blick darauf, was Verknüpfung als und dass Verknüpfen Tätigsein ist, nicht nur vollständig recht, wenn er feststellt, dass es sich hier um 19 Vgl. KrV, B 177 (wie Anm. 13), S. 187; B 185, ebd., S. 193. 20 KrV, B 184/85, ebd., S. 192f. 21 KrV, B 233, 234, ebd., S. 226f.

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das Ineinanderspielen eines ästhetischen und eines logischen Vermögens handelt. Er hat recht auch mit dem Hinweis auf den Erfahrungsraum, in dem sich dieses Ineinanderspielen zeigt und zugleich befragbar wird. Dieser Erfahrungsraum ist der des Gebrauchs der Wörter, der als Praxis verstandenen Sprache: Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter sowohl reine und empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe: empirisch, weil Empfindung des Gesichts oder Gehörs durch sie bewirkt: rein, in so fern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird.22

Das dürfte entre nous, hier im Hamannkreis formuliert, als Gemeingut gelten. Denn es betrifft den sensus communis, der sich im Gemeinsinn der Sprache zeigt. Lässt sich die Einsicht in diesen Gemeinsinn der Sprache mit der Absicht der Sicherung dessen, was als Erkenntnis gelten könne, bei Kant verbinden? Auch dafür gibt es eine bejahende Antwort. Um zu ihr zu gelangen muss man freilich sich vorurteilsfrei dem nähern, was Kant unter „transzendentaler Reflexion“ versteht. Damit kommen wir zur zweiten Belegstelle. Im Eingangssatz des Anhangs zum 2. Buch der 1. Abteilung der Kritik der reinen Vernunft, dem Kapitel über die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe durch die Verwechslung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen“ heißt es: Die Überlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüts, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können.23 22 Hamann: Metakritik (wie Anm. 16), S. 210f. (N III, 288,1–9). 23 KrV, B 316 (wie Anm. 13), S. 285. – Die Bestimmung dessen, was transzendentale Reflexion meint, ist eine der Stellen, an denen Kant in exponierter Weise vom ,Gemüt‘ und einem ,Zustand des Gemüts‘ spricht (vgl. z. B. unten bei Anm. 29). Ihm war wie Hamann noch präsent, dass das Wort Gemüt „lange dem lat. mens gleich gesetzt [wird].“ Es umschreibt einen dynamischen Bewusstseinsgrund, dem „[…] auch das denken, verstand und vernunft zugeeignet werden, und zwar nahe bis an unsere zeit heran. […] mens, gemut […] intellectus, memoria et voluntas simul sumpta mens dicitur […].“ (Grimmsches Wörterbuch. ND München 1984. Bd. 5, Art. „Gemüt“, Sp. 3296) Darauf, was das Wort ,Gemüt‘ bis zu Kants Separierung der produktiven von der reproduktiven Seite des Vermögens der Einbildungskraft transportiert – und Hamann mit dem Hinweis auf die Produktivität der Einbildungskraft noch angemahnt hat (vgl. Anm. 15 und 30) –, kann hier nicht näher eingegangen werden. Es betrifft den Kern der Selbstreflexion der trinitarischen Natur des Geistes, die sich bei Augustinus grundgelegt findet: vgl. Augustinus: De trinitate, X.11.18. Neu übers. u. mit einer Einl. hg. v. Johann Kreuzer. Hamburg 2001, S. 122–126; vgl. auch Einleitung, ebd., S. VII–LXVII, sowie Johann Kreuzer : Wozu drei? Überlegungen zu Augustinus’ Trinitäts-

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Springt hier die Parallele zwischen der Bestimmung, dass die transzendentale Reflexion die subjektiven Bedingungen betrifft, die uns zu Begriffen, also zur Strukturierung von Erfahrung, kommen lässt, und der en passant gemachten Bemerkung, dass ,einer „die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache“ verbindet, nur dass die dabei bemerkbare „Einheit des Bewußtseins […] nicht notwendig und allgemein geltend“ sei,24 nicht gleichsam ins Auge? Will man es kantkritisch formulieren, könnte man sagen, dass er das, was Sprache ist und leistet, durch ein Verfahren ersetzen will, dass so etwas wie sprachlose Sicherheit schafft – und entsprechend sprachlos macht. Man könnte aber auch sagen, dass schon für das Erkenntniskonzept der „Kritik des reinen Verstandes“ – wie Kant das im Buch Kritik der reinen Vernunft Dargelegte in der Kritik der Urteilskraft rückblickend bezeichnet25 – Sprache, d. h. der Gebrauch der Sprache das (wenn man so will) geheime Vorbild ist. Für letztere Option – dass das, was sich im Gebrauch der Sprache zeigt, das geheime Vorbild ist dafür, was die (als Programm zu verstehende) ,Kritik der reinen Vernunft‘ mit den Bedingungen der Möglichkeit als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis rekonstruiert – spricht die dritte Belegstelle bei Kant. Sie stammt aus dem § 51 der Kritik der Urteilskraft, in dem es im Zusammenhang der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ um die „Einteilung der schönen Künste“ geht: Wenn wir die schönen Künste einteilen wollen: so können wir […] kein bequemeres Prinzip dazu wählen, als die Analogie der Kunst mit der Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen, um sich, so vollkommen als möglich ist, einander, d.i. nicht bloß ihren Begriffen, sondern auch Empfindungen nach, mitzuteilen. – Dieser besteht in dem Wo r t e , der G e b ä r d u n g und dem To n e (Artikulation, Gestikulation und Modulation). Nur die Verbindung dieser drei Arten des Ausdrucks macht die vollständige Mitteilung des Sprechenden aus. Denn Gedanke, Anschauung und Empfindung werden dadurch zugleich und vereinigt auf den andern übergetragen.26

Kein einziges Wort Hamanns wurde in diesen Passus interpoliert: die Art des Gebrauchs der Sprache, in dem Mitteilung sich nicht im Transport gedanklicher Fertigprodukte – das, was Kant hier ,Begriffe‘ nennt – erschöpft, dient ihm als Koordinatensystem der Einteilung. Indexikalische Referenzen (das, was im Zitat als „Gedanke“ konnotiert wird) reichen ausdrücklich als Kriterium einer „vollständigen Mitteilung des Sprechenden“ nicht zu. Vielmehr muss gerade die spekulation. In: Echnaton und Zarathustra. Zur Genese und Dynamik des Monotheismus. Hg. von Jan Assmann und Harald Strohm. München 2012, S. 273–292. 24 S. o. Anm. 13. 25 Vgl. Kritik der Urteilskraft (im Folgenden: KU), Einleitung, B XXV, in: Werke (wie Anm. 13). Bd. VIII, S. 251. 26 KU, § 51, B 204/05, ebd., Bd. VIII, S. 422.

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sinnliche Dimension wie Präsenz der Art des Ausdrucks, dessen wir uns im Sprechen, d. h. im Gebrauch der Sprache bedienen, einbezogen werden. Der Gebrauch der Sprache ist das vorzügliche Medium, in und an dem einsichtig wird, was Bedingung der Möglichkeit nicht nur von Erkennen, sondern von Erfahrung selbst ist – wie der Art sie mitzuteilen, wodurch sie erst de facto dem Kriterium entspricht, synthetisch zu sein. Gibt es eine bessere kantische Probe auf das Exempel der sprachphilosophisch geballten Faust Hamanns?

5. Was hat das nun aber mit der Natur der Geschichte(n) zu tun? Beginnen wir mit dem Plural der Geschichten – den stories. In Geschichten findet sich erzählt wieder, was erfahren wurde. Sie sind das Archiv wie das Reservoir, in dem die Einbildungskraft als Vermögen wirklich geworden ist und zugleich im Verstehen jeweils von neuem wirkt. Der Singular ,der‘ Geschichte kommt später. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern eher als regulatives Vorsichtspostulat. Und in dieser regulativen Bedeutung ergibt der Singular ,die‘ Geschichte guten Sinn.27 Die sich in Äußerungsformen darstellende Produktivität des Vermögens der Einbildungskraft gesellt uns – im sinnlichen Datum der Sprache (oder der Musik als der anderen, Zeit als Bedingung von Erfahrung organisierenden Äußerungsform) – einander zu. Die Geschicklichkeit der Menschen, sich ihre Gedanken mitzuteilen, erfordert auch ein Verhältnis der Einbildungskraft und des Verstandes, um den Begriffen Anschauungen und diesen wiederum Begriffe zuzugesellen, die in ein Erkenntnis zusammenfließen […]. [D]a, wo die Einbildungskraft in ihrer Freiheit den Verstand erweckt, und dieser ohne Begriffe die Einbildungskraft in ein regelmäßiges Spiel versetzt: da teilt sich die Vorstellung nicht als Gedanke, sondern als inneres Gefühl eines zweckmäßigen Zustandes des Gemüts, mit.28

So Kant in der Kritik der Urteilskraft. Klingt das nicht so, als halle hier, Jahre später, das Gespräch mit Hamann doch wider? Doch was hat dieser Widerhall mit unserem Thema – dass Laute und Buchstaben als die Bedingungen der Möglichkeiten von Sprache „reine Formen a 27 Regulativ im Sinne jenes „vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen […] Gebrauch[s]“ verstanden, der „dazu dient, [den Verstandesbegriffen] die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.“ (KrV, B 672 [wie Anm. 13], S. 565) 28 KU § 40 (Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis), B 160/61 (wie Anm. 26), S. 392.

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priori“ darstellen – zu tun und damit, worauf die Frage nach der Natur der Geschichte(n) zielt? Zitiert sei noch einmal aus Hamanns Übersetzung des Schlussabschnitts von David Humes viertem Teil seines Treatise of Human Nature, den Nachtgedanken eines Zweiflers, mit welcher Überschrift Hamann zugleich mit einer Art Lemma versehen hat, was er übersetzt: Ohne die „Einbildungskraft“ als jener Eigenschaft des Gemüths, sich gewiße Begriffe lebhafter vor andern vorstellen zu können, […] würden wir niemals im Stande seyn, […] unsern Blick über die wenige Gegenstände, welche unsern Sinnen gegenwärtig sind, hinaus zu werfen. […] Das Gedächtniß, die Sinnen und der Verstand beruhen […] sämmtlich bloß auf die Einbildungskraft […].29

Warum gibt Hamann dem Fazit, das Hume seiner Übersicht über die ,Systeme der Philosophie‘ – ,skeptischen‘ wie anderen – im Treatise of Human Nature gegeben hat, den Titel ,Nachtgedanken‘ (eines Zweiflers)? Ist das ein Spiel mit der Angst vor dem „Indifferentism“?30 Die metaphorische Assemblage, die Hamann mit der Überschrift ,Nachtgedanken‘ vollzieht, wirkt subkutan bis zu Hegel, der (um nur zwei exponierte Äußerungen zu zitieren) in der Jenaer Zeit von der „Nacht des Fürmichseins“ als „Nacht des Aufbewahrens“ spricht und der Instrumentalisierung dieser Aufbewahrens zu Zwecken mentaler Repräsentation den „Mittag des Lebens“ als Vernunftforderung der „Nacht der bloßen Reflexion“ entgegenstellt.31 Später liest sich das anders. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik etwa wird Hegel Gegenstandsbereich wie Geltungsdimension dessen, worauf Hamann mit der ,Nacht‘ in den Nachtgedanken eines Zweiflers anspielt, gleichsam unter Bann stellen, wenn er behauptet, dass „am meisten in der Einbildungskraft […] das Gesetzlose zu Hause“ sei.32 Mag es sein, dass sich hier bei Hegel Verdrängungsleistungen durchgesetzt haben? Das ist hier nicht zu diskutieren. Fragen aber können wir, ob sie mit einem Sachverhalt zu tun haben, der die Einbildungskraft betrifft und damit unsere Überlegungen. Sie ist kein Vermögen, das sich selbst – sich nicht durch sich: automatisch – mitteilt. Das unterscheidet die 29 Vgl. J.G. Hamann: Nachtgedanken eines Zweiflers (wie Anm. 15), S. 184f. (N IV, 365,8– 12.19f.). 30 Kant verschwistert die Nacht mit dem Chaos dem „Indifferentism“ als beider „Mutter“ (vgl. KrV, Vorrede zur Ersten Auflage [wie Anm. 13], S. 12). 31 Vgl. G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Philosophie des Geistes. Hg. v. R.-P. Horstmann. Hamburg 1976, S. 172f.; vgl. auch die Randbemerkung zu „In dieser Nacht ist das Seiende zurückgegangen“: „S e l b s t s e t z e n ; i n n e r l i c h e s B e w u ß t s e i n , Tu n , Entzweien.“ (Ebd., S. 173). – Zum „Mittag des Lebens“ vgl. Vergleichung des Schelling’schen und Fichteschen Systems der Philosophie. In: G.W.F. Hegel: Jenaer Kritische Schriften. Hg. v. Hartmut Buchner u. Otto Pöggeler. Hamburg 1968, S. 23. 32 Vgl. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, zit. nach: Theorie-Werkausgabe. Bd. 13. Frankfurt a.M. 1970, S. 19.

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als Vermögen zu verstehende Einbildungskraft von einem Datenträger. Was Einbildungskraft heißt, teilt sich nur mittels und in Äußerungsformen mit. Es will erzählt werden. Wenn das so ist, dann gehört es zur Natur des Menschen, dass das Vermögen der Einbildungskraft in Geschichten produktiv und festgehalten wird. Damit sind wir beim Plural der Geschichten. Zum Singular kommen wir, wenn wir an das Vermögen denken, dass sich darin bezeugt: Das sind nicht verschiedene Einbildungskräfte, sondern die Einbildungskraft als ein Vermögen, das uns gemeinsam die Bedingung der Möglichkeit des Hervorbringens und Verstehenkönnens von Geschichten ist. Die weitergehende Frage nach der Geschichte im Singular ist die danach, ob sich der logische Singular der aus dem ,einen‘ Vermögen der Einbildungskraft ergebenden ,Geschichte von Geschichten‘ zu dem Singular ,der‘ oder ,einer‘ Geschichte fügt bzw. zusammenpuzzlen lässt. Der Rekurs aufs Puzzlen mag den Argwohn ausdrücken, ob dieser Schritt – der von den stories zur history – machbar ist. Man sollte ihm – nicht nur in geschichtstheoretischer Hinsicht – eine Beobachtung mit auf den Weg geben, die sich in Kants Nachlass findet, wenn er anmerkt, dass „[…] die Natur bleibt, […] aber wir wissen noch nicht, was Natur ist, und müssen von ihr das Beste vermuten“.33 Haben wir dazu Veranlassung? – Sicherheit oder gar Gewissheit gibt es hier gewiss nicht: Denn um eine solche zu haben, müsste man die Grenzen der Erfahrung übersteigen können. Was wir über solches Vermuten hinaus ,haben‘, ist die (Möglichkeit der) Besinnung auf das Vermögen wie dessen Reflexion, in dem entsprechende Versuche gründen: das der Einbildungskraft. Zugang zu diesem Vermögen wie seiner Reflexion gibt es allerdings nur durch und in Formen der Äußerung. Aus diesem Grund können Laute und Buchstaben als Formen a priori in jenem transzendentalen Sinn gelten, der auf ein Hervorbringen, auf ein Aktivwerden verweist. Laute und Buchstaben sind Bedingung der Möglichkeit wie Bedingung der Wirklichkeit der als Geschehen zu verstehenden Sprache. Darin gründet jede Geschichte. „Reden ist Übersetzen“34 – dieses Diktum aus der Aesthetica.in.Nuce. hat einen sehr ursprünglichen, man könnte auch sagen: einen naturgegebenen Sinn. ,Natur‘ ist der Ursprung jener Sprachlichkeit – und damit der Geschichte –, die sich in ihrem Übersetztwerden – in ,Geschichten‘ – wirklich zeigt. 33 Kant: Geschichte der Menschengattung (Nachlaßreflexion 1524, S I, zit. nach: I. Kant: Schriften zur Geschichtsphilosophie. Hg. v. Manfred Riedel. Stuttgart 1985, S. 239). – Man sollte das mit einem zu wenig beachteten Diktum von Augustinus zusammenbringen: „Figura ergo praeterit, non natura […]“, heißt es in De civitate dei (vgl. De civ. dei 20.14). Vgl. Johann Kreuzer: Augustinus zur Einführung. Hamburg 22013. 34 Aesthetica.in.Nuce. In: Vom Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes (wie Anm. 2), S. 102 (N II, 199,4).

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Als was sich Natur – als was Geschichte sich – herausstellt, wird sich freilich erst am Ende jener Geschichten wissen lassen, die sie erzählen. Wie, was und ob dieses ,Ende‘ ist, sollte man mit Hamann nicht „länger und breiter und tiefer matagrabolisiren […].“35 Vor dem A posteriori solcher Enden kommt es aufs Erzählen – die Unersetzlichkeit der Sprache, ihrer Sinnlichkeit in den Lauten und Buchstaben als reinen Formen a priori – an.

6. Fassen wir zusammen. – Die „Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen, um sich, so vollkommen als möglich ist, einander, d.i. nicht bloß ihren Begriffen, sondern auch Empfindungen nach, mitzuteilen […] besteht in dem Worte, der Gebärdung und dem Tone (Artikulation, Gestikulation und Modulation). Nur die Verbindung dieser drei Arten des Ausdrucks macht die vollständige Mitteilung des Sprechenden aus. Denn Gedanke, Anschauung und Empfindung werden dadurch zugleich und vereinigt auf den andern übergetragen“ – so Kant in der Kritik der Urteilskraft.36 Dafür sind ,Laute und Buchstaben‘, materialisierte, d. h. raum-zeitlich sich versinnlicht habende Formen der Äußerung transzendental im buchstäblichen Sinn der Bedingung der Möglichkeit. Denn erst durch sie vermag, was innerer Sinn heißt, ein Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen. In diesem (Selbst-)Verhältnis gründet nicht nur die Natur der Geschichte(n), weil es sie möglich macht. Für endliche Wesen hängt von diesem Selbstverhältnis auch die Freiheit ab, mehr als ein Rechensteinchen zu sein und in sprachlose Fremdbestimmung zurückzufallen. Freilich muss man diese Freiheit der Sprache wollen.

35 Vgl. Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache. In: Der Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes (wie Anm. 2), S. 82 (N III, 32,32f.). 36 S. o. Anm. 27.

II. Zeiten und Kulturen

Oswald Bayer (Hennef)

Mitte – Anfang und Ende. Johann Georg Hamanns Gesamtverständnis von Natur und Geschichte

1.

Zwischen Metaphysik und Mythologie

Er sei „kein Theolog“, sagt Hamann in den Kreuzzügen des Philologen – kein Theolog „wie die meisten Kinder unsers schriftstellerischen, gleissnerischen, unzüchtigen Geschlechts“.1 Gewiss ist Hamann kein regulärer Theologe wie etwa die Neologen, aber eben doch ein Theologe, der sich als solcher zwischen Metaphysik und Mythologie bewegt. Hamann hat dies in einer eigentümlichen, lutherischen Weise getan, die wir uns nun deutlich machen wollen. Da die These, dass ein Theologe sich zwischen Metaphysik und Mythologie bewegt, meinen Blick auf Hamann perspektiviert, sei sie vorweg erläutert. Die Ausbildung des trinitarischen und christologischen Dogmas geschah im engsten Bezug und härtesten Widerspruch zur mythologiekritischen griechischen Metaphysik. Die durch das Wort vom Kreuz bestimmte christliche Theologie artikuliert sich im kritischen Bezug sowohl auf die Mythologie wie auf die Metaphysik, der sie durch ihre Hauptthese ein unerhörtes Skandalon bietet: „Der unendlich seiende Gott kommt im kontingenten, einmaligen und daher endlichen geschichtlichen Vorgang.“2 Gottes ewiges Sein, in dem er sich selbst und seiner Zusage die Treue hält, und sein zeitliches Kommen, mit dem er sich auf seine in der Sünde verkehrte Schöpfung einlässt bis zum Tod am Kreuz, sind beieinander und ineinander : „unvermischt, unveränderlich, ungetrennt, unteilbar“.3 Gottes ewiges Sein selbst ist von Jesu Tod am Kreuz nicht unberührt. Indem christliche Theologie dies zu denken versuchte, zerbrach sie das Apa-

1 N II, 115,8–10 (Kreuzzüge des Philologen, 1762, Vorrede). 2 Werner Elert: Der Ausgang der altkirchlichen Christologie. Eine Untersuchung über Theodor von Pharan und seine Zeit als Einführung in die Dogmengeschichte. Hg. von Wilhelm Maurer und Elisabeth Bergsträßer. Berlin 1957, S. 70. 3 Symbolum Chalcedonense. In: Heinrich Denzinger : Enchiridion Symbolorum. Hg. von Peter Hünermann. Freiburg i.Br. 371991, S. 142f. (Nr. 302).

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thieaxiom der griechischen Metaphysik – wonach Gott unfähig ist zu leiden.4 Nach der anderen Seite hin – mythologiekritisch – wird der Gedanke einer Metamorphose abgewiesen, als ob „die Gottheit in die Menschheit verwandelt sei“5 und Gott in seinem Tode aufgehört habe, Gott zu sein. Mythologiekritisch ist die Geschichte vom gekreuzigten Gott zugleich darin, dass sie der Phantasie nicht die Freiheit gewährt, die ihr der Mythos gewöhnlich lässt. Sie nagelt vielmehr die Aufmerksamkeit auf das historische Faktum der Kreuzigung Jesu von Nazareth in seiner zeitlichen und räumlichen Bestimmtheit fest und lässt sich nicht von den Texten lösen, in die sie sich ursprünglich verfasst hat. Die Geschichte des auferweckten Gekreuzigten bleibt in diesen Texten – Hamann redet von „Urkunden“6 – verbindlich verfasst und lässt sich, ein für allemal „sub Pontio Pilato“ geschehen, nicht fortschreiben – es sei denn, sie werde ihres eschatologischen Charakters beraubt.

2.

Die undurchdringliche Nacht

In Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht der allgemeinen deutschen Bibliothek heißt es: „[A]ller philosophische[r] Widerspruch und das ganze historische Rätzel unserer Existenz, die undurchdringliche Nacht ihres Termini a quo und Termini ad quem sind durch die Urkunde des Fleisch gewordnen Worts aufgelöset.“7 Anfang und Ende unserer Existenz sowie der ganzen Welt liegen in „undurchdringlicher Nacht“, wie Hamann in seiner Skepsis gegenüber allen Gestalten der Metaphysik geltend macht, wenn es denn das Kennzeichen einer jeden Metaphysik ist, Anfang und Ende – arche und telos – begrifflich zu erhellen, ins helle Licht des Denkens zu bringen, das Göttliche aus dem Ganzen und seiner Einheit zu prädizieren bzw. als Einheit und Einheit stiftend zu behaupten.8 4 Elert: Der Ausgang (wie Anm. 2), bes. S. 71–132; ders.: Die Theopaschitische Formel. In: ThLZ 75 (1950), S. 195–206. 5 „Unus autem non conversione divinitatis in carne“ (Pseudo-Athanasianisches Bekenntnis Quicumque. In: Denzinger: Enchiridion Symbolorum [wie Anm. 3], S. 50 [Nr. 76]). 6 S. u. Anm. 61. 7 N III, 192,22–26 (Zweifel und Einfälle, 1776). 8 Hamanns Metaphysikkritik bekundet sich beispielsweise in seiner scharfsinnigen Stellungnahme zu Kants – von diesem später selbst revozierten – Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759): Kant „beruft sich auf das Gantze, um von der Welt zu urtheilen. Dazu gehört aber ein Wißen, das kein Stückwerk mehr ist. Vom Gantzen also auf die Fragmente zu schließen, ist eben so als vom Unbekannten auf das Bekannte. Ein Philosoph, der mir also befiehlt[,] auf das Ganze zu sehen, thut eine eben so schwere Forderung an mich, als ein anderer, der mich befiehlt[,] auf das Herz zu sehen, mit dem er schreibt. Das ganze ist mir eben verborgen, wie mir Dein Herz ist. Meynst Du denn, daß ich ein Gott bin? […]“ (an Johann Gotthelf Lindner am 12. Oktober 1759; ZH I, 425,30–426,12); „das gantze […] übersieht

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Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Die Frage nach Anfang und Ende meines Weges samt der Geschichte der ganzen Welt greift in eine undurchdringliche Nacht. Und wenn die Metaphysiker eine Antwort geben, ist sie nach Hamann „hundemager“,9 ein Nichts, ein Griff in die Tiefe und Höhe reiner Abstraktion;10 „sie haben am Ende […] entweder ein reines Nichts oder ein zweydeutiges Etwas gefunden, das wie gut und böse entgegengesezt – –“11, „ein blendendes Nichts, ein eitles Etwas“12 ist. Diese höchsten allgemeinsten Gattungsideen (Nichts und Etwas, gut und böse) sind bekanntermaaßen die ersten Gründe (Initia) und lezten Resultate (teletai) aller theoretischen und practischen Erkenntnis. Aus ihrer Zusammensetzung und Anwendung durch’s Anschauen des Einen in dem Vielen entsteht das außer- und übersinnliche oder transcendentale Licht der Vernunft (von welchem Lichte, Grund und Logos unsere heutigen Apostel in ihren Opusculis profligatis predigen, daß es alle Menschen erleuchte[,] in diese und jene Welt hineinzukommen [vgl. Joh 1,9] – – auf dem schmalen Wege – durch die enge Pforte [vgl. Mt 7,13f.]) und ihrer Fackelträgerin, der eigentlichen Wissenschaft.13

Ist Hamann, der Theologe, auf der einen Seite metaphysikkritisch, so auf der andern keineswegs in demselben Maße mythologiekritisch, sondern, wie be-

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keiner“ (an Kant Ende Dezember 1759; ZH I, 452,32f.). Erkenntniskritik ist für Hamann nicht möglich ohne umfassende Existenzkritik: Oswald Bayer unter Mitarbeit von Benjamin Gleede und Ulrich Moustakas: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. StuttgartBad Cannstatt 2002, S. 67–90: Der Begriff der „Kritik“ im Streit zwischen Hamann und Kant. Es liegt „der Grund der Religion in unserer ganzen Existenz und außer der Sphäre unserer Erkenntniskräfte, welche alle zusammengenommen, den zufälligsten und abstractesten modum unserer Existenz ausmachen. Daher jene mythische und poetische Ader aller Religionen, ihre Thorheit und ärgerliche Gestalt in den Augen einer heterogenen, incompetenten, eiskalten, hundemagern Philosophie“: N III, 191,31–192,2 (Einfälle und Zweifel, 1776). Ausführlich: Oswald Bayer und Christian Knudsen: Kreuz und Kritik. Johann Georg Hamanns Letztes Blatt. Text und Interpretation (= Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 66). Tübingen 1983, S. 69–82: Metaphysik und Offenbarung. Vgl. weiter: Vernunft ist Sprache (wie Anm. 8). N III, 218,5–8 (Konxompax, 1779). Vgl. N III, 142, (4–9) 6: „metaphysische Scheidekunst“ (Hierophantische Briefe, 1775). N III, 219,13f. (Hamanns Auszeichnung aufgehoben). N III, 218, 9–19. Auf Joh 1,9 beruft sich beispielsweise Leibniz in seinem Brief an Seckendorf vom 29. Dezember 1684, um die rationale Evidenz mathematischer Axiome zu begründen: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. von der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1972. Reihe II, 1. Bd., S. 544,2ff. Mt 7,13f. wird später von Kant in Anspruch genommen: „Wissenschaft […] ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt“ (KprV A 291f.). Hamann (N III, 218,19 und 38) verweist auf die Schrift von Johann August Eberhard Von den [sic!] Begriff der Philosophie und ihren Theilen etc. Berlin 1778. Parallel zu S. 218, (9–19)12f. („Anschauen des Einen in dem Vielen“) polemisiert Hamann S. 219,9f. gegen die Idee einer „mystischen Einheit im Begriff“. Sie ersetzt nicht den Jüngsten Tag (S. 219,16f.; s. u.Anm.47) und verkennt den „philosophischen Fluch und Widerspruch der Contingenz“ (S. 219,14f.), die den metaphysischen Begriff der Einheit in Frage stellt.

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kannt, sehr mythologiefreundlich und mythologiebewusst.14 Denn analog zur Menschwerdung Gottes in der Geschichte Jesu Christi sieht er „im Herzen und Munde aller Religionen“ das „Senfkorn der Anthropomorphose und Apotheose“ verborgen.15 Ist die Metaphysik für ihn zentrifugal, so die Mythologie zentripetal – jedenfalls in dem Maße, in dem sie das Geheimnis der „Grundlehren des Christenthums von der Verklärung der Menschheit in der Gottheit und der Gottheit in der Menschheit durch die Vaterschaft und Sohnschaft“16 bewahrt. Freilich wird dieses Geheimnis meist verkannt, „weil man den ewigen mystischen, magischen und logischen Circul menschlicher Vergötterung und göttlicher Incarnation nicht gefaßt“ hat17 und deshalb „Widerspruch am Schandpfahl des Kreuzes“18 laut wird, so dass „sich die Nicolaiten“, enthusiastische Gnostiker, „der göttlichen Kraft und der göttlichen Weisheit im Worte vom Kreutze schämen und sich daran stoßen“.19

3.

Gegebene Mitte

Hamann macht sich keinen metaphysischen Begriff von einem Anfang und einem Ende. Er denkt weder von einem Ursprung her noch auf ein Ziel hin, sondern aus einer gegebenen Mitte heraus.20 Er geht von einem Schlüsselereignis aus, das die Bedeutung der vorausgehenden und nachfolgenden Ereignisse erschließt und zugleich deren Vollendung vorgegeben sein lässt. Damit das Ergriffensein von solcher Vollendung sich nicht zum selbstmächtigen und illusionären Vorgriff auf ein Ende, der in nichts als eine undurch14 Vgl. Sven-Aage Jörgensen: Arbeit am Mythos? (1987). In: ders.: Querdenker der Aufklärung. Studien zu Johann Georg Hamann. Göttingen 2013, S. 97–102. Grundlegend für Hamanns Mythologieaffinität ist seine Schrift Aesthetica in nuce (1762): „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.“ (N II, 197,22–27) 15 N III, 192,19–21 (im unmittelbaren Zusammenhang des Anm. 7 zitierten Textes). 16 N III, 192,29–32 (Zweifel und Einfälle, 1776). 17 N III, 223,23–224,7 (Konxompax, 1779). Vgl. Friedemann Fritsch: Communicatio idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 89). Berlin/New York 1999, S. 196– 201: Der „ewige Circul“ als Strukturmerkmal des Geschichtlichen. Weiter : Andre Rudolph: Hamann, Gichtel und die Theosophie. In: Acta 2006, 391–414, 410. 18 N III, 223,19f. 19 N III,193,1f. (Zweifel und Einfälle, 1776). 20 Als gegenwärtige, „nahe“ liegende (vgl. Dtn 30,11–14 und Röm 10,6; dazu: Londoner Schriften, 397–403 = N I, 291–297 [Biblische Betrachtungen eines Christen, 7. Mai 1758]) ist diese Mitte weder in unbekannter Höhe noch unbekannter Tiefe zu suchen; sie ist „eben so unersteiglich dem kühnsten Riesen und Himmelstürmer, als unergründlich dem tiefsinnigsten Grübler und Bergmännchen“ (N III, 132,17–19; Prolegomena über die neueste Auslegung der ältesten Urkunde des menschlichen Geschlechts, 1774).

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dringliche Nacht griffe, verkehrt, muss ich gegenwärtig in die Mitte der ganzen Geschichte „versetzt“ (Kol 1,13) sein. Haman sieht im poetischen Verfahren Homers ein Gleichnis des Redens und Handelns Gottes als Geschichte. Der Ilias, die damit beginnt, dass Homer seinen Leser sofort in die Mitte der ganzen Geschichte „versetzt“,21 „wird unser Leben ähnlich, wenn eine höhere Muse den Faden deßelben von der Spindel der ersten Schicksalsgöttin bis zur Scheere der letzten regiert – – und in das Gewebe ihrer Entwürfe einträgt – –“.22 Dazu beruft sich Hamann auf De arte poetica des Horaz: Semper ad eventum festinat, et in medias res Non secus a[d]c notas, auditorem rapit: et quae Desperat tractata nitescere posse, relinquit.23

Es geht Hamann keineswegs darum, sich selbst in die Mitte der darin zu einer einzigen Geschichte werdenden vielen Geschichten zu setzen, um selbstbezogen Anfang und Ende, Ursprung und Ziel zu zeitigen und in sich hineinzunehmen, oder darum, solche Mitte in mir immer schon vorzufinden – etwa als „unmittelbare Gegenwart des ganzen, ungetheilten […] Daseins“24 – auch nicht darum, diese Mitte als isolierten „Augenblick“ wahrzunehmen.25

21 ZH I, 360,32–35; an den Bruder am 16. bzw. 5. Juli 1759: „Dies ist sein Mittelpunct, in den er seinen Leser versetzt, als wenn er die Geschichte der Belagerung von Troja, der Sclavin pp schon alle erzählt [hätte], und der Zuhörer schon den mannigfaltigen Innhalt künftiger Gesänge überstanden hätte.“ Es will beachtet sein, dass die den ganzen Brief durchziehende Frage nach dem „Ende der Dinge“ (S. 357,33; 358,11 und 20 [„das Ende der Dinge als nahe“: 1Petr 4,7]); 359,29; 360,21) ihre Antwort im Hinweis auf die gegebene Mitte findet: „[S]o lebt der Mensch, der für die Ewigkeit lebt“ (ZH I, 360,27). 22 ZH I, 360,36–361,2. 23 ZH I, 360,24–26: Horaz: De arte poetica 148–150; übersetzt: „Immer strebt er rasch zum Endziel und reißt den Hörer mitten hinein in die Geschichten – nicht anders, als wären sie bekannt – und läßt das weg, von dem er die Hoffnung aufgibt, daß es das Behandelte zum Glänzen bringen kann.“ Zu den verschiedenen poetischen Verfahren: Frank Kermode: The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction. Oxford 1967. 24 Henrich Steffens: Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben. Eine Stimme aus der Gemeinde. Breslau1823, S. 99f.; vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher : Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Hg. von Martin Redeker. Bd. I. Berlin 71960, S. 17 (§ 3.2). 25 Vgl. in der Nachfolge Kierkegaards: Rudolf Bultmann: Geschichte und Eschatologie. Tübingen 1958, S. 184.

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4.

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Der archimedische Punkt: der Gottesname

Ein isolierter Augenblick wäre „nur ein todter Rumpf, dem der Kopf und die Füße fehlen“;26 er hätte sozusagen weder Hand noch Fuß. Hand und Fuß aber hat die Mitte durch den, der in sie versetzt: durch jene „höhere Muse“, die einen ganz bestimmten Namen trägt – den Gottesnamen. Er ist der archimedische Punkt schlechthin: „Ein anderes dos moi pou sto kenne und weiß ich nicht, als Sein Wort, sein Schwur, und sein Ich bin – und werde seyn, worinn die ganze Herrlichkeit seines alten und neuen Namens besteht“,27 des „alten“: gemeint ist Ex 3,14, des „neuen“: gemeint ist die Dreieinheit Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Die Wahrnehmung des Gottesnamens geschieht nun aber nicht isoliert. Denn ihre existentielle Tiefe ist nicht ohne geschichtliche und kosmische Weite, ihre Intensität nicht ohne zeitliche und räumliche Extensität. Der in seinem Namen, in seinem Wort und Schwur offenbare – in bestimmter Hinsicht aber durchaus auch verborgene – Poet ist in seiner Gegenwart „der Grund des Vergangenen und Zukünftigen“,28 der Schöpfer der Welt und ihr Vollender. Der Einsatz bei der Gegenwart in ihrer von Gott gewährten Fülle ist für Hamanns Gesamtverständnis von Natur und Geschichte charakteristisch. Es muss nicht eigens betont werden, dass diese Gegenwart nicht die ewige Gegenwart des Seins ist – kein parmenideisches nunc stans zeitloser Gegenwart. Es ist die zeitvolle Gegenwart Gottes in seinem sowohl von der Metaphysik wie von der Mythologie missbrauchten29 Namen, von dem schon die Rede war. Dieser „individuelle“30 Name liegt in der Zusage seiner in Liebe freien, mitgehenden Gegenwart (Ex 3,14): Ich bin der, als der ich in Freiheit mit euch bin, und ich werde sein, der ich in Freiheit mit euch gehe. Dieser Name, „das einzige unaussprechliche Geheimniß des Judentums“31, trägt für den Christen Hamann das Antlitz Jesu Christi, der kraft des Heiligen Geistes, sich in die Kleinliteratur der Bibel – in das genus humile32 – entäußernd, 26 Londoner Schriften, 186, 31f. = N I, 125, 32f; zu 1Chr 12,32 ( Biblische Betrachtungen eines Christen, 1758). 27 ZH V, 333,18–20 (an Friedrich Heinrich Jacobi am 23. Januar 1785). 28 Londoner Schriften, 309,8f. = N I, 248,31f.; zu Apk 1,3f. (Biblische Betrachtungen eines Christen, 1758). Vgl. Londoner Schriften, 231,16–18 = N I,170,4–6; zu Koh 3,14: „bey Gott ist dasjenige, was am Anfange geschah, gegenwärtig und das[,] was am Ende der Zeit und der Tage geschehen soll, gegenwärtig“. 29 Vgl. u. bei Anm. 37 und 38. 30 Am 4. Mai 1788 schreibt Hamann an Johann Gottlieb Steudel: „Das höchste Wesen ist im eigentlichsten Verstande ein Individuum“ (ZH VII, 460,4) und damit ein Name; es lässt sich nicht in ein Genus einzeichnen. Vom anredenden Namen her hat der angeredete Mensch seinen Namen, ist er unverwechselbar er selbst. 31 N III, 224,15f. (Konxompax, 1779). 32 Vgl. bes. N II, 169–173 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe, Erster Brief; 1762).

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mich anblickt und zu mir spricht. Allein die Geschichte Jesu Christi macht alle anderen Geschichten zu einer einzigen Geschichte – eine Einsicht, die Hamann schon in seinen Gedanken über meinen Lebenslauf (1758) festhielt: Ich fand die Einheit des göttlichen Willens in der Erlösung Jesu Christi, daß alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf diesen Mittelpunct zusammen liefen[,] die Seele des Menschen aus der Sclaverey, Knechtschaft, Blindheit, Thorheit und dem Tode der Sünden zum grösten Glück, zur höchsten Seeligkeit und zu einer Annehmung solcher Güter zu bewegen […].33

„Alle Geschichte“, Universalgeschichte, hat ihre Einheit aus einer Mitte heraus, in der die in dem Sein und Werk Jesu Christi liegende Wende vom Unheil zum Heil geschieht. Es ist das lutherische Proprium Hamanns, diese soteriologische Wende mit der Figur der Idiomenkommunikation zur Sprache zu bringen. Sie bildet sich eindrucksvoll im Titel von Golgatha und Scheblimini ab: Kreuzigung (Golgatha) und Auferweckung (Scheblimini) Jesu Christi verschränken sich; Gott und Mensch sind beieinander in „der irrdischen Dornen- und himmlischen Sternenkrone und dem kreutzweis ausgemittelten Verhältnis der tiefsten Erniedrigung und erhabensten Erhöhung beyder entgegengesetzten[!] Naturen“34. Die so bestimmte Mitte prägte Hamanns Leben, Lesen und Schreiben bis in die feinsten Verästelungen hinein. Die wechselseitige Teilhabe der Besonderheiten göttlicher und menschlicher Natur aneinander, die „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung“.35 Allen neutrischen, zeitlosen und monistischen Formeln vom ,Ganzen‘, wie sie die Metaphysik – nicht zuletzt in ihrer Rede vom Einen, Wahren, Gerechten und Schönen – ausgebildet hat, begegnet Hamann mit einem christologisch personalen Verständnis, in dem das ,Ganze‘ nur als ewig zeitliche Geschichtswahrheit36 und als in sich differenzierte Gemeinschaft zur Sprache gebracht, geglaubt und von daher auch gedacht werden kann. Dieses Urteil fasst sich in Hamanns Vermächtnis, dem Letzten Blatt, in die Formel „OMNES – UNUS“ (Gal 3,28: nicht neutrisch [UNUM], sondern chris33 Londoner Schriften, 343,6–12 = N II, 40,17–23 (Gedanken über meinen Lebenslauf; 1758). Vgl. Londoner Schriften, 184,39–185,1 = N I, 123,40–124,2; zu 2Kön 24,14 (Biblische Betrachtungen eines Christen, 1758): „der Plan der ganzen Zeit hat einen Mittelpunct, auf den sich alle Linien, alle Figuren, beziehen und vereinigen.“ Weiter : Londoner Schriften, 130,38–131,24 = N I,70,19–71,28; zu Dtn 4,39 (Biblische Betrachtungen eines Christen, 1758). 34 N III, 405,29–407,3 (Fliegender Brief, 1786/1789). 35 N III, 27,11–14 (Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, 1772). 36 Vgl. N III,303,36f. (Golgatha und Scheblimini, 1784): „Weil ich auch von keinen ewigen Wahrheiten, als unaufhörlich zeitlichen weiß […].“ Vgl. 311,37: „zeitliche und ewige Geschichtswahrheiten“.

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tologisch personal: UNUS) zusammen, die sich im Kontext des Letzten Blattes als Kontrastformel zum metaphysischen „Allerhöchsten Vernunftwesen“, dem „Maximum personifie“,37 und damit zu einem bestimmten metaphysischen Theismus darstellt – sachlich zugleich aber auch als Kontrastformel zu einem mythologischen Polytheismus, der als „anonyme prolepsis“ des jüdischen und christlichen Gottesnamens „tausend mythologische Namen, Idole und Attribute hervorgebracht“ hat.38 Wir haben damit auf den einzigen archimedischen Punkt, den Hamann kennt und der für sein Verständnis der Geschichte und Natur, der Natur und Geschichte39 grundlegend ist, geachtet und dies vor allem in christologischer Perspektive getan. Der Gottesname müsste nun noch – unter Berücksichtigung der Rede Hamanns vom Heiligen Geist – in umfassend trinitätstheologischer Hinsicht, vor allem in seiner dreifachen Kondeszendenz,40 bedacht werden. Doch mag für unsere Fragestellung die gewählte Fokussierung auf die christologische Dimension genügen; sie ist ohnehin die entscheidende: Jesus Christus ist „das Geheimniß des Himmelreichs von seiner Genesis an bis zur Apokalypsi – der Brennpunkt aller Parabeln und Typen im ganzen Universo, der Histoire generale und Chronique scandaleuse aller Zeitläufte und Familien“.41 Das Universale ist christologisch konkret, das Konkrete universal. Jesus Christus ist das concretum universale.

37 ZH VII, 482,9. Vgl. Kreuz und Kritik (wie Anm. 10), S. 63 und die Interpretation: S. 69–82. 38 N III, 224,17f. im Zusammenhang der Zeilen 13–20 (Konxompax, 1779). Vgl. N III, 226,9–15. Der Griff, der den einen Gottesnamen verfehlt, macht diesen Namen namenlos, anonym und zugleich „tausendzüngig“ (226,15). 39 Natur und Geschichte sind für Hamann eine in sich differenzierte Einheit: „Wie die Natur uns gegeben, unsere Augen zu öffnen; so die Geschichte, unsere Ohren“ (N II, 64,12f.; Sokratische Denkwürdigkeiten, 1759). „Natur und Geschichte sind […] die 2 grossen Commentarii des göttlichen Wortes; und dies hingegen der einzige Schlüssel[,] uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen“ (Londoner Schriften, 411,30f. = N I, 303,35–37; Brocken, 1758). Vgl. Londoner Schriften, 417,7–9 = N I, 308,34–36). Vgl. Hamanns Zeit- und Raumverständnis in ZH V, 213,29–214,4 (Metakritik über den Purismum der Vernunft, 1784). Dazu Bayer: Vernunft ist Sprache (wie Anm. 8), S. 329–336. 40 Vgl. paradigmatisch nur Londoner Schriften, 151,37–152,8 = N I, 91,7–17 (Biblische Betrachtungen eines Christen, 1758; zu 1Sam 3,9f.). Umfassend: Christina Reuter : Autorschaft als Kondeszendenz. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 132). Berlin, New York 2005, bes. S. 9–47. Weiter : Naomi Miyatani: Hamanns Sprache der Kondeszendenz. Tokyo 2013. 41 N III, 226,21–25 (Konxompax, 1779).

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5.

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Ganzes und Fragmente

Ausgegangen waren wir von dem Satz in Zweifel und Einfälle, dass „aller philosophische[r] Widerspruch und das ganze historische Rätzel unserer Existenz, die undurchdringliche Nacht ihres Termini a quo und Termini ad quem […] durch die Urkunde des Fleisch gewordnen Worts aufgelöset“ sind.42 Sowenig sich für Hamann von einem vorgefassten metaphysischen Begriff oder mythologischen Bild eines terminus a quo und terminus ad quem, eines Anfangs und eines Endes aus die Mitte – die „Urkunde“ des fleischgewordnen Wortes (Joh 1,14) – bestimmen und verstehen lässt, so sehr erzählt und bezeugt diese Urkunde mit der Vereinigung von Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf eine mit dem Gottesnamen gegebene Gegenwart, die „der Grund des Vergangenen und Künftigen“ ist43, damit auch einen schlechthinnigen Anfang gesetzt hat44 und ein vollendendes Ende verspricht und gibt – gibt und verspricht doch der Gottesname „Geschichtswahrheiten nicht nur vergangener[,] sondern auch zukünftiger Zeiten“,45 „die ihrer Natur nach […] nicht anders als durch Glauben angenommen werden können“.46 Da die vergangenen wie die zukünftigen Geschichtswahrheiten nur geglaubt, nicht gewusst werden können, widerspricht die Erwartung des Endes, der Weltvollendung durch das Gericht hindurch47 nicht dem Fragmentarischen und Fragilen unserer angefochtenen Existenz und unseres endlichen Denkens. „Wir leben hier von Brocken. Unsere Gedanken sind nichts als Fragmente. Ja unser Wissen ist Stückwerk [1Kor 13, 9].“48 Allgemeinen „Wahrheiten, Grundsätze[n], Systems bin ich nicht gewachsen“. Dagegen „Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle“.49 Wir sehen: Die von der Zeit einer Mitte – von der Geschichte des Fleisch gewordnen Worts“ (Joh 1,14) – begründete Einheit der Universalgeschichte verbindet sich für Hamann keineswegs mit der Spekulation einer Totalvermittlung; die „undurchdringliche Nacht“ des Anfangs und Endes unserer Existenz samt der ganzen Weltgeschichte ist durch das Christusgeschehen nicht so 42 S. o. Anm. 7. 43 Vgl. o. Anm. 28. 44 „Anfang“ ist nicht nur als principium zu verstehen, sondern auch als initium. Vgl. Jan Muis: Anrede und Anfang. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 48 (2006), S. 60–73. 45 N III, 305,2f. (Golgatha und Scheblimini, 1784). 46 N III, 305,5f. 47 Dass nur durch das Gericht hindurch sich die Natur als Schöpfung wahrnehmen lässt, schärft in besonderer Deutlichkeit die Aesthetica in nuce (1762) ein: N II, 217,15–19; 197,10f. (vgl. Mt 3,12); 206,20f.; 207,10f. (Mal 3,2, womit Mt 3,12 zu vergleichen ist); 213f. Zum Jüngsten Gericht: N III, 219,16f. (Konxompax, 1779) sowie o. Anm. 13. 48 Londoner Schriften, 407,14–16 = N I, 299,27–29 (Brocken, 1758). 49 ZH I, 431,29f. (an Johann Gotthelf Lindner am 12. Oktober 1759).

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„aufgelöst“, dass die „Histoire generale und Chronique scandaleuse aller Zeitläufte“ und Generationen50 dem, der dem Gottesnamen glaubt, durchsichtig geworden wären und er kraft der Offenbarung erkennen könnte, „daß die Vernunft die Welt beherrscht“ und „es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist“, wie etwa Hegels Geschichtsphilosophie will.51 Hamann ist skeptisch: „Wenn Seine Zukunft gleich einem Diebe in der Nacht seyn wird: so vermögen weder politische Arithmetiken noch prophetische Chronologien Tag zu machen“.52 Damit teilt Hamann die Skepsis Kohelets: Zwar hat Gott jedem Menschen die „Ewigkeit“ – die Frage nach dem Einen und Ganzen – „ins Herz gegeben“ (Koh 3,11a); „nur dass der Mensch das Werk, das Gott von Anfang bis Ende tut, nicht ergründen kann“ (Koh 3,11b; 8,17; 11,5).53 So lässt sich Hamanns Geschichtsverständnis nur dann als ,heilsgeschichtlich‘ bezeichnen, wenn damit nicht chronologische Konstruktionen und Rechenkünste – wie etwa bei Johann Albrecht Bengel54 – oder föderaltheologische Schemata verbunden sind. ,Heilsgeschichtlich‘ ist Hamanns Geschichtsverständnis vielmehr darin, dass eine einzige – die vom alten und neuen Gottesnamen gesprochene und gewirkte – Geschichte alle Geschichten durch und durch bestimmt.

6.

Das Elementarbuch aller historischen Literatur: die Bibel

Diese historia historiarum55 ist in der Bibel verfasst. In seiner Auseinandersetzung mit Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum 50 S. o. bei Anm. 41. 51 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. Hg. von Johannes Hoffmeister (= PhB 171a). Hamburg 51955, S. 28; vgl. S. 46. 52 ZH IV, 315,3–5 („Authentiken“ ist nach der Handschrift in „Arithmetiken“ zu korrigieren); an Johann Caspar Häfeli am 22. Juli 1781. 53 Vgl. ZH V, 266,9–11; an Friedrich Heinrich Jacobi am 14. November 1784: „Alles ist eitel! – nichts Neues unter der Sonne! [Koh 1,2,9] – ist das Ende aller Metaphysik und Weltweisheit, bey der uns nichts übrig bleibt als der Wunsch, die Hofnung und der Vorschmak eines neuen Himmels und einer neuen Erde“. Zu Hamanns Bejahung der Skepsis und seiner Wendung gegen den Skeptizismus: Bayer: Kreuz und Kritik (wie Anm. 10), S. 89f. im Kontext von S. 87–91. 54 Vgl. Gerhard Sauter : Die Zahl als Schlüssel zur Welt. Johann Albrecht Bengels ,prophetische Zeitrechnung‘ im Zusammenhang seiner Theologie. In: Evangelische Theologie 26 (1966), S. 1–36. 55 Vgl. Martin Luther : „Symbolum, das bekentnuß unsers heiligen christlichen glaubens, est historia historiarum, ein historien über alle historien, die aller höchste historia, darinnen uns die unermeßlichen wunderwergk gottlicher maiestet von anfang bis in ewigkeit furgetragen werden, wie wir und alle creaturen erschaffen, wie wir durch den Son Gottes vermittels seiner menschwerdung, leiden, sterben und aufferstehung erlöset, wie wir auch durch den Heiligen Geist verneuret, geheiliget und eine neue creatur und allesamt tzu einem volck

Mitte – Anfang und Ende

157

(1783) verteidigt Hamann das Alte Testament eindrucksvoll als Geschichtsbuch – nicht als irgendein Geschichtsbuch, sondern als Buch der Geschichte schlechthin: als historisches, sprachlich-sinnliches Apriori, als Matrix aller Geschichte. Statt ein reines Apriori aller Erkenntnis zu konstruieren, lässt Hamann sich dieses historische Apriori aller Erkenntnis, aller umfassenden Weltwahrnehmung mit dem Alten Testament vorgegeben sein. Er liest und hört „die ganze Geschichte des jüdischen Volks“ als „ein lebendiges geist- und herzerweckendes Elementarbuch aller historischen Litteratur im Himmel, auf und unter der Erde – – ein diamantner, fortschreitender Fingerzeig auf die Jobelperioden und Staatsplane der göttlichen Regierung über die ganze Schöpfung von ihrem Anfange bis zu ihrem Ausgange“.56 „Moses, die Psalmen und Propheten“ – der ganze dreigeteilte alttestamentliche Kanon also – „sind voller Winke und Blicke“ auf den, „dessen Abkunft nach dem Fleisch aus dem Stamme Juda, sein Ausgang aus der Höhe aber des Vaters Schooß seyn sollte“.57 Mose, die Psalmen und die Propheten machen zusammen mit den neutestamentlichen Schriften die „Urkunde des Fleisch gewordnen Wortes“58 aus: die Matrix der Welt- und Naturgeschichte,59 ihre Tiefengrammatik: „Die heilige Schrift sollte unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst seyn, worauf alle Begriffe und Reden der Christen sich gründeten und aus welchen sie bestünden und zusammen gesetzt würden.“60

56

57 58 59

60

Gottes versamlet vergebung der sunden haben und ewig selig werden“ (WA.TR 5, 581,36–43; Nr. 6288). N III, 311,4–10 (Golgatha und Scheblimini, 1784). Die Bibel als historisches, kontingentes „Elementarbuch“ schränkt jedoch nicht ein, schließt die Weite der Natur und Geschichte (s. o. Anm. 39) nicht aus, sondern auf. „Wir haben ein groß Vorurtheil in Ansehung der Einschränkung[,] die wir von Gottes Wirkung und Einfluß bloß auf das jüdische Volk machen. Er hat uns bloß an dem Exempel desselben die Verborgenheit, die Methode und die Gesetze seiner Weisheit und Liebe erklären wollen, sinnlich machen; und uns die Anwendung davon auf unser eigen Leben und auf andere Gegenstände, Völker und Begebenheiten überlassen.“ (Londoner Schriften, 411,7–13 = N I, 303,11–18; Brocken, 1758). Zur „Anwendung davon auf unser eigen Leben“: „Ich erkannte meine eigene[n] Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eigenen Lebenslauf“ darin: Londoner Schriften, 343,14–16 = N II, 40,25–27 (Gedanken über meinen Lebenslauf, 1758). N III, 311,24 und 22f. Vgl. o. bei Anm. 7. Vgl. o. Anm. 39. Genauso wie für die Weltgeschichte gilt nach Hamann für die Naturgeschichte, dass „ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein [rein] logischer“ ist: ZH I, 446,33f.; an Kant 1759 im Zusammenhang des gemeinsamen Planes einer „Kinderphysik“. Dazu: Oswald Bayer: Erzählung und Erklärung. Das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften. In: ders.: Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie. Tübingen 1999, S. 240–254. Londoner Schriften, 304,8–10 = N I, 243,18–20 (Biblische Betrachtungen eines Christen, 1758; zu 1Petr 4,11). Solcher Tiefengrammatik, wie sie Hamanns Textwelt prägt, entspricht ebensowenig eine historistische wie eine spekulative Methode.

158

7.

Oswald Bayer

Urkunde, historisches Apriori

Das Wort „Urkunde“, das Hamann in dem Satz, von dem wir ausgingen, und auch sonst gerne gebraucht,61 macht in glücklicher Verbindung der Momente zugleich auf den schriftlich definitiven, verbindlichen wie auf den mündlich lebendigen – kündenden – Charakter der auf leiblich-sprachliche Weise geschehenden Selbstmitteilung Jesu Christi aufmerksam, zu der die ganze Bibel gehört. „Urkunde“ nimmt gleichsam die Stelle philosophischer Letztbegründung ein. Sie ist das Apriori jeder Welt-, Selbst- und Gotteswahrnehmung – freilich kein zeitlos notwendiges und allgemeines, sondern ein zufälliges und partikulares, ein, wie gesagt: historisches Apriori; es ist – einem Kantianer tut dies zu hören in der Seele weh – a priori zufällig, a posteriori „notwendig“.62 Zur Bibel als historischem Apriori lässt sich weder etwas Übergreifendes noch etwas Transzendentales finden. Es lassen sich nur andere historische Apriori, etwa der Koran, finden – mögen diese sich auch als ,rein‘ rational ausgeben, was sie aber nachweisbar nicht sind. Es bleibt nur, das In-, Mit- und Gegeneinander der verschiedenen Apriori zu bedenken und auszuhalten; die konkurrierende Vielzahl lässt sich nicht auf eine neutrale Einheit und Allgemeinheit hintergehen Es bleibt nur das Gespräch – und wo es sein muss: das Streitgespräch.63

Schlussbemerkung So kritisch mit Großerzählungen umzugehen ist, so wenig ist ihre Notwendigkeit zu verkennen; die Aufgabe einer Geschichtstheologie bzw. Geschichtsphilosophie ist unabweisbar. Kein Denken kann auf metaphysisches Suchen nach einem Anfang und einem Ende verzichten. Es stellt sich also nicht die Frage, ob nach einem Anfang und einem Ende zu suchen sei, sondern allein die Frage, wie dies stichhaltig und verantwortlich 61 Umfassend: Ulrich Moustakas: Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 114), Berlin, New York 2003. 62 ZH V, 215, 28–30. In seiner Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784) redet Hamann von der „Verknüpfung eines zwar a priori willkührlichen und gleichgiltigen, a posteriori aber nothwendigen und unentbehrlichen Wortzeichens mit der Anschauung des Gegenstandes selbst“: ZH V, 215,28–30. Dazu eingehend Bayer: Vernunft ist Sprache (wie Anm. 8), S. 374–396. Vgl. S. 173–175 und S. 289–295. 63 Zum gesamten Vortrag ergänzend: Oswald Bayer: Scheidekunst und Ehekunst. Glaube und Geschichte bei Kant und Hamann. In: Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung. Hg. von Jörg Frey, Stefan Krauter und Hermann Lichtenberger. Tübingen 2009, S. 611–632.

Mitte – Anfang und Ende

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geschehen kann. Christliche Theologie hat zwar metaphysischem Fragen, das unausrottbar mit der menschlichen Natur verbunden ist, unbedingt Rechnung zu tragen, muss aber gegenüber metaphysischen Antworten kritisch sein, wenn diese Antworten Abschlüsse sind. Ebenso muss sie gegenüber mythologischen Geschichten kritisch sein, wenn sie das Geheimnis des einen Gottesnamens verkennen. Christliche Theologie sieht sich in die im Gottesnamen gegebene Mitte versetzt und lässt sich die Gegenwart – Gottes Gegenwart – als Grund des Vergangenen und Zukünftigen zugesagt sein.

Joachim von Soosten (Wuppertal)

Im Responsorium der Präsenz. Gottes „innigste Zuthätigkeit“

Ob die Erfahrung der Zeit von einer Mitte aus gedacht werden kann, ist fraglich. Ebenso ungewiss ist, ob sich diese Mitte als eine Präsenz auszusprechen vermag, die in der Erfahrung vieler Gegenwarten und flüchtiger Momente sich behaupten kann. Zu überlegen bleibt, ob die Vermutung einer solchen Mitte überhaupt sinnvoll ist, bleibt doch die Rede von einer Mitte der Zeit selbst der Klärung bedürftig. Freilich ist die Unterstellung einer solchen Mitte von der Vermutung begleitet, dass sich in einer solchen Mitte zugleich das Wesen des Menschen, das Humanum, auffinden ließe. Sprechen für diese Vermutung aussichtreiche Gesichtspunkte oder ist sie ins Blaue hinein vernünftelt? In das Relief solcher Fragen ist die Wendung vom „Geschick“ des Menschen eingezeichnet. In Transformation antiker Motive ist die Frage nach dem Los des Menschen in der Erfahrung der Zeit unter modernen Problemstellungen mit dem Verweis darauf beantwortet worden, dass er in ein „Geschick“ gestellt sei, in Geschick als Schicksal und Schickung. Spezifisch modern daran ist, dass mit dem Losungswort des Geschicks die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit „und die damit zusammenhängenden Gegenstände“ zum andränglichen Thema erhoben wird.1 Freilich kann es auch das „Geschick“ des Menschen in Los und Schickung sein, mit dieser seiner Bestimmung in eigener Freiheit mit „Geschick“ umzugehen. In diesem Fokus siedelt die Wendung vom Geschick eher im Bedeutungsfeld von Befähigung und Vermögen, eben der „Geschicklichkeit“ des Menschen im Umgang mit seinem Geschick. Für ein Nachdenken über die Mitte der Zeit erfährt dieser Weg von Johann Georg Hamann denkwürdige Richtungsanzeigen. Geschick im Sinne von Geschicklichkeit ist bei Hamann genuin poetischer Art. Die zerstreuten Dinge, Fragmente und Verse der Natur in der Erfahrung der Zeit „in Geschick zu bringen“ sei „des Poeten bescheiden Theil“ –

1 Vgl. für diese Konstellation Michael Theunissen: Schicksal in Antike und Moderne. München 2004.

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Joachim von Soosten

so lautet das Losungswort Hamanns über die Fügung des Menschen im Geschick der Zeit.2 Die Auslegung dieser Devise im Blick auf den Zusammenhang von Poesie und Zeiterfahrung im Los der Zeit ist Angelegenheit der folgenden Überlegungen. Für dieses Vorhaben soll zunächst die Eigentümlichkeit der Thematisierung von Zeit aus drei unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Sie stehen in einer engen Verbindung mit den schöpferischen Möglichkeiten von Sprache und Poesie (I–III). Hamann versucht, uns in seinen Rhapsodien zu der Vorstellung einer Gegenwart zu überreden, in der sich die Mitte der Zeit behauptet. Wie diese Mitte aus der „innigsten Zuthätigkeit“3 Gottes von Hamann verstanden wird, steht im Mittelpunkt zweier Abschnitte, die sich an die einführenden Erläuterungen anschließen (IV und V). Dass der Zusammenhang von Poesie und Leben bei Hamann etwas über die Mitte der Zeit (Präsenz) zur Entdeckung bringt, welche uns zugleich über das Humanum des Menschen in seiner offenen Situation belehrt (Responsorium der Präsenz), ist Angelegenheit einiger Hinweise, die den Abschluss meiner Skizze bilden (VI).

I

„Chronique scandaleuse“, oder: Traumzeit

Hamanns Schriften folgen nicht der traditionellen Form der akademischen Abhandlung. Schon gar nicht arbeitet Hamann an dem Entwurf eines Systems. Vielmehr überlagern sich in seinen Schriften theoretische Überlegungen und die dichterische Expressivität von Sprache. Mehr noch: diese Expressivität überwuchert geradezu die geordnete Abfolge von diskursiven vorgetragenen Argumentslinien. Schon der Form nach weisen Hamanns Schriften Bezüge zu einer rhetorisch-sprachlich inszenierten Traumwelt auf.4 Hamann entwindet uns die chronologische Zeit und entführt uns in eine Traumzeit. Diese Zeit fügt sich keiner chronologischen Ordnung. In ihr herrscht kein Vorher, nachher, später. In Hamanns expressiven Traumwelten herrscht Gleichzeitigkeit. Die lineare Zeit diffundiert. Strukturen, Substanzen und Bilder geraten in Bewegung. Traumzeiten sind belebt von Bildwelten. Sie werden durchherrscht von Imagination und Übertreibungen, die quer zur Zeitrechnung stehen. Diesen Querstand nennt Hamann eine „chronique scandaleuse.“5 Das Skandalon be2 N II, 199,2f. (Aesthetica in nuce), in der Reclamausgabe, hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1968, S. 87. 3 N II, 204,13f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 107. 4 Für die Ausdrucksfunktion der Sprache für die Entführung in einer Traumzeit vgl. die Überlegungen von Charles Taylor in: Bedeutungstheorien. In: ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (1985). Frankfurt a. M. 1988, S. 52–117. 5 N III, 226,24 (Konxompax).

Im Responsorium der Präsenz. Gottes „innigste Zuthätigkeit“

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steht darin, das „Krach“ geschlagen wird: Sprache führt sich auf wie ein „rollender Donner“ und der „einsylbichte Blitz“.6 In den Querständen der Traumzeit kommt wahrhaft „Unerhörtes“ zur Sprache. Sprachliche Klangschlünde tun sich auf; zuweilen befindet man sich der Rauschhöhle aus lauter Bildwelten. Der Stil von Hamanns Schriften gibt uns Zeugnis von den Querständen dieser Traumzeit. Zwar begegnen Zitationen (Anspielungen, Fragmente, Überschichtungen, Collagen) bei Hamann auf Schritt auf Tritt. Genau genommen folgt Hamann aber nicht der Logik des Zitats und der Zitation. Kennzeichen der Kommunikationsform Zitat ist der Transfer. Wer zitiert, markiert die vergangene Zeit, wenn er das Zitierte aus der Vergangenheit in die Gegenwart überführt. Ebenso gilt: Wer zitiert, läßt das Vergangene im Zitat gegenwärtig werden. Hamann erweitert die Kommunikationsform Zitation in Stil und Sprachbewerbung um die Logik der Re-Zitation. Wie die Losung oder die Parole, wie das Gebet, das Bekenntnis oder die Lautwerdung der Einsetzungsworte dient die Rezitation der Sammlung. In der Rezitation fallen uns die Zeiten an und versammeln uns auf die Mitte der Zeit, die mehr ist als Gegenwart in der Abfolge der Zeiten. Das Wesen der Rezitation als Sammlung in der Mitte der Zeit ist nach Hamann Anrede. Wer sich in Rezitationen befleißigt, weist sich nicht in eigenen Worten aus, sondern weist sich durch die Rezitation als Angeredeter aus. Darin vermag sich die Struktur von Sprache selbst zu zeigen. Sprache folgt einer Anrede. Wir erfinden nicht Sprache, sondern finden uns in der Sprache vor. Von Woher kommt diese Anrede? Nach Hamann kommt diese Anrede, dem sich unser Reden verdankt, aus der Mitte einer Präsenz, die Luther einmal in der Unterscheidung dreier Gegenwarten die repletive Gegenwart genannt hat. Repletive Gegenwart „ist, wenn etwas zugleich ganz und gar an allen Orten ist und alle Orte füllt und doch von keinem Raum abgemessen und begriffen wird nach dem Raum des Ortes, da es ist“.7 In Hamanns Sprachstil träumt der Traum von einem Traum, der eine Wirklichkeit sui generis bildet: der „Geschmack an Zeichen“,8 die uns eine fortlaufende Anrede „gegenwärtig und anschaulich“ macht, aus der heraus wir uns in allen Zeitläufen aus der Mitte der Zeit sinnlich verstehen lernen können.9

6 N II, 208,23f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 121. 7 Martin Luther : Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528). In: Ders.: Studienausgabe. Bd. IV. Hg.von Hans-Ulrich Delius. Leipzig 1986, S. 89 (Orthographie modernisiert). 8 ZH IV, 6,5f. (an J.C. Lavater, 18. 1. 1778). 9 Vgl. für diese Überlegungen mit Bezug auf Hamann Ernst Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1924/25). Darmstadt 1964, bes. S. 300–303.

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II

Joachim von Soosten

Poeterey und Magie, oder: Zeitzauber

Menschen im Wechsel der Zeiten erfahren sich im Bruch der Zeit. Ihre Position in einer Mitte der Zeit ist keineswegs ausgemacht. Ganz im Gegenteil. Für die Erfahrung der Zeit ist das Leiden an der zerbrechenden und zerstreuten Zeit basal. Nach Hamann ist die Sprache nicht nur davon betroffen, sondern sie verschafft uns allererst eine Auskunft über das Leiden an der zerbrochenen Zeit. Wir „haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig.“10 Durcheinander geratene Wörter und zerstückelte Sprachfetzen zeugen vom Leiden an der Zeit. Erst diese Erfahrung hält die Frage nach einer möglichen Ordnung der Zeit im Wechsel der Zeit über alle Konventionen sprachlicher Mitteilungen bis zum Totgeschwiegenen wie umgekehrt Totgelaberten schmerzlich wach. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung entwirft Hamann drei Möglichkeiten im Umgang mit dem Leiden an der Zeit. Die erste Aufgabe besteht in der Arbeit am Gedächtnis. Die Arbeit am Gedächtnis ist die Aufgabe des Gelehrten. In diesen Fachbereich fällt die Sammlung: die Aufgabe Verse zu sammeln, ist die des Gelehrten. Man könnte an Anthologien denken. Freilich müssen solche Sammlungen der Auslegung geöffnet werden. Diese Aufgabe weist Hamann den Philosophen zu. Damit die Verse aber in der Gegenwart an Leben und Kraft gewinnen, braucht es das Geschäft des Poeten. Das ist der Punkt, auf den sich Hamann fokussiert. Wie verfährt der Poet? Im Sprachgebrauch und allen Sprechhandlungen sind Latenzen im Spiel. In der Zeit liegt die Mitte der Zeit in Latenz verborgen. „Ich bin ein Gott von nahe und nicht von ferne.“ (Jer 23, 23f.) Um diese Latenz in Gegenwärtigkeit, in Präsenz zu überführen, braucht es die Kunst der Nachahmung. „Poesie ist eine Nachahmung der schönen Natur.“11 „Natur und Schrift […] sind die Materialien des schönen, schaffenden, nachahmenden Geistes – –“.12 Mimesis poetischer Art kann nach Hamann verstanden werden als eine Art Rückführung in einen ursprünglichen Sprachgebrauch. Worin besteht aber der ursprüngliche, gleichsam authentische Sprachgebrauch? Er besteht in der Sprechhandlung, einer eigenen Kunst, etwas „in Geschick zu bringen“.13 Die Distanz, die Sprache als Werkzeug der Mitteilung bestimmt, tritt in den Rückwärtsumwendung der Sprache in ihre originäre Arbeit, etwas ins Geschick zu bringen, zurück in ein Rufen, Benennen und Beschwören, zurück in den magischen Grund von Sprache selbst als genuine Angelegenheit der Poeterey. Nachahmende Poesie hat zur Aufgabe „neue Verhältniße uns gegenwärtig [zu] 10 11 12 13

N II, 198,33–199,1 (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 87. N II, 205,20f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 111. N II, 210,7f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 127. N II, 199,2f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 87.

Im Responsorium der Präsenz. Gottes „innigste Zuthätigkeit“

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machen, oder vielmehr die ältesten ursprünglichen, wahren widerher[zu]stellen“.14 Verneuung durch Poesie bedeutet Wiederherstellung und Vergegenwärtigung des Ursprungs: von „Zeit“ gehalten durch die Mitte der Zeit. Aus diesem Grund muss nach Hamann die Vernunftsprache einer Metakritik ausgesetzt werden, die Sprachvernunft in ihrer schöpferischen Expressivität zur Entdeckung bringt.15

III

Der „Caviar des Leviathans“, oder: Weltzeiten

Was heißt „ins Geschick bringen“? Was soll ins Geschick gebracht werden? Ins Geschick gebracht werden muss die diejenige Weltzeit, deren „Einheit“ nichts anderes ist als die zerbrechende und zersplitterte Zeit, welche die Zeit (Tempus) verschlingt (Chronos). „Auch ihr wart tot durch eure Verfehlungen und Sünden, in denen ihr einst gelebt habt, wie es eben dieser Weltzeit entspricht, wie es dem Fürsten der Lüfte, des Geistes, der jetzt noch wirksam ist in den Söhnen und Töchtern des Ungehorsams, entspricht“ (Epheser 2, 1f.).16 Für diese Zeitschründe, zerbrechende Zeit und Zeitverschlingung der Zeit durch sich selbst setzt Hamann das mythische Bild des Levianthans erneut in Kraft. „Todter und unfruchtbarer Wohlstand, scheinheiliger Pharisäer unsers Jahrhunderts! Deine moralische und bürgerliche Vorurtheile, und der hohe Geschmack oder Tand ihrer Verdienste ist nichts als Caviar des Leviathans, der hoch in den Wellen des Luftkreises herrscht –“.17 Wenn „Gegenwart“ im Laufe historischer Zeit verschlungen wird und sich nicht zur Präsenz zeitloser Zeit in Übertreibungen, etwa im Rausch der Hyperbeln18 erweitern kann, braucht es die erneute Rückerinnerung – im mythischen Bild – an Jahwes Vernichtung der Chaos-Drachen im Schöpfungshandeln. „Du hast die Köpfe des Leviatan[s] zerschlagen, ihn den Seeleuten zur Speise gegeben“ (Ps 74,14). „Verstand und Wohlklang des Dichters“19 dienen dieser Rückkehr in den Ursprung der Zeit als Restauration (Re-Stauration) einer Präsenz, durch die wir mit der „Gegenwart der Dinge“20 in Fühlung kommen. Freilich kommt die Fas14 ZH VII, 156,28–30 (an F.H. Jacobi, 23. 4. 1787). 15 Für die Neuentdeckung wie Rehabilitation der poetischen (wie magischen) Sprachfunktion vgl. über Hamann hinaus Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960). In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a. M. 1979, S. 83–121. 16 Eph 2,1f.; vgl. die Anspielungen auf diese Verse bei Hamann N III, 202,18–22 (Versuch einer Sibylle über die Ehe). 17 Ebd. 18 Vgl. N II, 211,13 mit Bezug auf 1Kor 12,31 und das folgende Hohelied der Liebe (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 129. 19 N II, 207,19 (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 117. 20 N II, 197,27 (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 83.

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Joachim von Soosten

zination dieser Wahrheitsberührung nicht ohne Schrecken. Man muß erschrecken können über den Schrecken der Zeitverschlingung. Schrecken von Chronos kann nach Hamann nur durch Schrecken des Chronos selbst überwunden werden. Hamann erfindet hierfür den Titel und Namen des Dämonomastix.21 Ihm gelingt es den Herden der Glückssuche „ein panisches Schrecken einzujagen, durch die Magie des Wortes!“22 Die Angelegenheit der Poeterey in der Restauration neuester wie ältester Ur-Kunde ist Beschwörung, Rezitation und Zeitzauber aus der magischen Kraft der Sprache. Darin gleicht Poesie einem „archaischen“ Unternehmen: Nennen, Rufen und Beschwören, das sind allesamt Verfahren der Magie.

IV

Präsenz des Namens, oder: Festzeit

Die Weltzeit der Zeitschlünde, die Traumzeit der Einbildungskraft und die Sprache im Zeitzauber der Magie kennen in Hamanns Entwurf einer originär theologischen „Poeterey“ sowohl Ausdehnung wie Konzentration. Die Poeterey dehnt die Räume aus, beispielsweise durch Bilder und Metaphern. Zugleich konzentriert sie in dieser Ausdehnung der poetischen Räume die Zeit auf eine Mitte hin. Die Poesie hat die Aufgabe, etwas ins Geschick zu bringen. Was sie ins Geschick bringt, ist die Mitte der Zeit, durch welche die Zeit („tempus“ und „chronos“) gehalten wird und eigene Umwendung erfährt. Diese Mitte kann nicht anonym bleiben. Sie hört auf einen Namen. Ausdehnung und Konzentration finden in einem Namen zusammen. Ein Name in Nennung, Anrufung und Beschwörung hält die Schöpfung in Präsenz. Der Ruf eines Namens führt die verschwindenden Momente einer Gegenwart zwischen Vergangenheit (Orientierung an der Tradition) und Zukunft (Entwurf in Möglichkeiten) in die Form der Präsenz. Poeterey läßt nach Hamann eine Sprache laut werden, „damit Dein Name […] kund werde“23. Sie spricht so, „dass der Geist der Weissagung [Apk 19,10] im Zeugnisse des Einigen Namens lebe“24. Sie spricht im Namen eines Namens, „den niemand kennt, als der ihn empfäht [Apk 2, 17], der über alle Namen ist, dass in dem Namen JESU sich beugen sollen

21 Für diese Figur vgl. Joachim von Soosten: Versifikationen. Rhetorik in der Wandelbande des Glaubens. In: Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch 34 (2015), S. 95–114. 22 N III, 158,28–159,1 (Hierophantische Briefe, 5.). Hamann zitiert hier die Erzählung von der Heilung des besessenen Geraseners Mk 5,1–20; vgl. dazu Johannes von Lüpke: Ohne Sprache keine Vernunft. Eine Einführung in das Sprachdenken J.G. Hamanns. In: Neue Zeitschrift für Syst. Theologie und Religionsphilosophie 46 (2004), S. 1–25, insbes. S. 16–20. 23 N II, 211,16f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 129. 24 N II, 212,2 (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 131.

Im Responsorium der Präsenz. Gottes „innigste Zuthätigkeit“

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aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind [Phil 2, 9–11]“.25 Lässt sich eine Zeitform ausmachen, wenn die Zeit in einen Namen über alle Namen zurückkehrt und sich von hier aus wieder entfaltet? Wenn die Zeit in einen Namen zurückkehrt und in diesem Namen sich erneuert, dann ist Festzeit. Hamann grenzt mit der Festzeit als Zentrum von Kultur und Sprache als Schöpfungsgeschehen die ästhetische Sphäre der Poetik gegen die Sphäre des praktischen Handels ab. Der „ganzen Weltzeit“ inne zu werden, folgt nach Hamann dem Ruf einer Stimme, in der sich alles, was ist, sich einer Stimme und ursprünglichen Anrede verdankt. Menschliche Stimmen und die Rhetoriken des Glaubens in den vielfältigen „Versifikationen“26 in der Festzeit des Namens wiederholen (Responsivität) und rezitieren in schöpferischer, schöner und wahrhaftiger Kraft und Geist eine Anrede, in der das Seiende sich im Da-Sein eines Namens über alle Namen gehalten wissen kann.27 Von dieser Anrede ist Hamanns Pathos bestimmt: Sprache im Zwiegespräch aus der Passion eines Angeredetwerdens findet im Responsorium inmitten der Zeit ihre eigene Stimme. Klage und Lob kommen nach dem Modell der Psalmen hier zusammen, in allem was Gott in aller Sprachversagung bekennt und lobt und klagt.

V

Gottes „innigste Zuthätigkeit“, oder Präsenzzeit

Die Präsenz, von der hier die Rede ist, meint mehr als nur eine bloße Gegenwart. Im historischen Denken imaginiert sich der Mensch als auf einem linearen Weg durch die Zeithorizonte befindlich. In dieser Vorstellung verengt sich die „Gegenwart“ zu einem kurzen, kaum wahrnehmbaren Moment des Übergangs zwischen dem Orientierungswissen und den Erfahrungen der Vergangenheit und einer Zukunft als des offenen Horizonts von Möglichkeiten. Präsenz, auf den Spuren von Hamann verstanden, hingegen meint eine Berührung mit der Welt, in der diese Welt – als Schöpfung – in ihren Zeithorizonten „vor“ uns liegt, im Sinne von „prä-esse“ präsent, in unseren Sinnen entgegenkommt und somit greifbar wird und sich dem Vernehmen und Verstehen öffnet. Wir könnten auch 25 N II, 212,4–7 (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 131; zur Bedeutsamkeit des Namens in theologischer Hinsicht vgl. auch N III, 224,13–28; 226,13–15 (Konxompax); ZH V, 333,18–21 (an F.H. Jacobi, 23. 1. 1785): „Ein anderes Dor loi pou sty kenne und weiß ich nicht, als Sein Wort, sein Schwur, und sein Ich bin – und werde seyn, worinn die ganze Herrlichkeit seines alten und neuen Namens besteht, den kein Geschöpf auszusprechen im stande ist.“ Dazu Oswald Bayer, Mitte – Anfang und Ende, in diesem Band S. 152–154. 26 Vgl. N II, 204,16f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 107. 27 Zum Zusammenhang von Schöpfungsrede und „heilender“ Anrede bei Hamann vgl. von Lüpke: Ohne Sprache keine Vernunft (wie Anm. 22), 11–20.

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Joachim von Soosten

von Transparenz in einer undurchdringlichen Abscondität sprechen: „aller philosophische Widerspruch und das ganze historische Rätzel unserer Existenz, die undurchdringliche Nacht ihres Termini a quo und Termini ad quem sind durch die Urkunde des Fleisch gewordenen Worts aufgelöset.“28 Diese Auffassung von Präsenz ist temporaltheoretisch betrachtet paradox verfaßt. Wir könnten sie als eine Zeit verstehen, in der keine Zeit mehr herrscht. Zugleich bildet sie nach Hamann ein Sprachereignis mitten in der Zeit. Die Form dieser Präsenz ist konstituiert und durchwirkt von dem, was Hamann Gottes „innigste Zuthätigkeit“ nennt.29 Drei Momente kommen in dieser „Zuthätigkeit“ zusammen. Zum einen die unauflösliche Bindung und Verbundenheit Gottes mit seiner Schöpfung: das Bündnis Gottes in der Faszinationsgeschichte des Menschen im Umgang mit der Erfahrung von Zeit. Zum zweiten die Zuthätigkeit im Sinne eines Zugetan-Seins in der Form eines geneigten und entgegenkommenden Wohlwollens. Und drittes der Tatcharakter dieser Zuneigung nicht so sehr als eines Handelns, das auf die Verwirklichung von Zukunft in Gestalt von Zielen aus ist, sondern vielmehr einer spezifischen Form der Kommunikation – als performative Resonanz von Sprache im Lebensatem Gottes.30 Die Erfahrung dieser Präsenz ist uns freilich nicht unmittelbar gegeben. In der zersplitterten und zerbrechenden Zeit dieses Äons finden in der Sprache der rhapsodischen Poesie (Gesang, Gedicht, Bilder, Gleichnisse) die „innigste Zuthätigkeit Gottes“ und „des Poeten bescheiden Theil“31 zugunsten dieser Präsenz im Responsorium und der Zu-Stimmung in der Wirklichkeit von Sprache selbst zusammen.32 Hinter der Sprache waltet keine weitere oder höhere Macht. Präsenz stellt sich vielmehr ein im magischen und „übertreibenden“, hyperbolischen Zauber der Sprache des Sprechens selbst.33 Sprachbarrieren werden durch 28 N III, 192,22–26 (Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht). 29 N II, 204,13f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 107; dazu sachlich parallel die Rede von „Geheimniße[n] einer höheren, einzelnen, unbekannten, aber zur Mittheilung Ihrer Selbst höchst aufdringlichen Natur“ (N III, 190,32f. [Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht]). 30 „Nachdem GOTT durch Natur und Schrift, durch Geschöpfe und Seher, durch Gründe und Figuren, durch Poeten und Propheten sich erschöpft, und aus dem Othem geredet hatte: so hat er am Abend der Tage zu uns geredt durch Seinen Sohn, – gestern und heute! – bis die Verheißung der Zukunft – nicht mehr in Knechtsgestalt – auch erfüllt seyn wird –“ (N II, 213,6–11 [Aesthetica in nuce], Reclamausgabe, S. 137; Hervorhebungen JvS). 31 N II, 204,13f. und 199,3 (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 107 und 87. 32 Von Traum und Erwachen (Traumzeit) im Muster einer Äonenlehre spricht Hamann in „Aesthetica in nuce“ (N II, 200,17–24, Reclamausgabe, S 93/ 95) unter Aufnahme von Genesis 2, 21–23; vgl. in derselben Schrift die Rede vom „Fürst[en] dieses Äons“ und seinen „Lieblingen“: Hofnarren der Buchstabenvernunft, „Bauchpfaffen“ und „starke Geister“ der Vernunftsprache (N II, 208,15–19, Reclamausgabe, S. 119/121). 33 Der Richtweg der Poesie durch die „Hyperbel“ wird von Hamann hervorgehoben; s. o. Anm. 18.

Im Responsorium der Präsenz. Gottes „innigste Zuthätigkeit“

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den hyperbolischen Zauber der Sprache konfrontiert mit außer-ordentlichen Anredeereignissen, die von einer verborgenen Mitte der Zeit zu sagen sich trauen. Dies kann nach Hamann als ein Sprachereignis verstanden werden, das seine Berührungen zwischen der poetischen und der magischen Funktion von Sprache nicht leugnen muss, sondern offensiv zur Geltung bringt. Die „heilige“ Mittlerin der Poesie im Responsorium der Mitte der Zeit, in ihren Imaginationen und fiktionalen Kräften, heilt uns von einem Realismus, der behauptet, dass wir in unserem Wirken und Tun in den Läuften der historischen Zeit alternativloser Entscheidungen ausgeliefert seien. Eine letzte Unterscheidung: Poesie dient nicht der Produktion von Präsenz, vielmehr provoziert (ProVokation) sie zur Aufmerksamkeit und Wahrnehmung einer Anrede, „die im Reiche der Todten eben so willkommen als im Reiche der Lebendigen ist“.34 Der Hinweis auf Auferweckung der Toten im Zusammenhang von Poesie und Leben aus der Mitte der Zeit ist beileibe nicht zufällig. Wenn nach Hamann von einer Mitte der Zeit gesprochen werden kann, dann heißt das, dass die Erfahrung der Zeit von einer Mitte her und aus einer Mitte heraus verstanden werden will, von der her die Gegenwart des gelebten Lebens jeweils neue und vor allem erneuernde schöpferische Möglichkeiten zugespielt werden. Die Gegenwart des gelebten Lebens, theologisch verstanden, gleicht darin einem sich stets erneuernden Schöpfungsmorgen aus dem Lebensatem Gottes. In phänomenologischer Hinsicht kann damit diese Gegenwart eines gelebten Lebens in ihrer Lebendigkeit als eine offene Situation verstanden werden, offen im Sinne einer schöpferischen Form der Welterschließung, die ihre Pointe (Telos) und ihre Bedeutsamkeit in sich selbst besitzt. Drei Abgrenzungen können in diesem Verständnis einer Offenheit gelebter Gegenwart festgehalten werden. Die Bedeutsamkeit schöpferischer Welterschließung für die Gegenwart und Mitte des gelebten Lebens entdeckt sich nach Hamann mittels der Poesie noch diesseits aller Richtungsanzeiger einer evolutionär verstandenen Anthropologie wie z. B. dem „struggle for life“ als einem Streben nach Selbstbehauptung, so die korrekte Übersetzung einer prominenten Formel. Dies ist der erste Gesichtspunkt. Sie bleibt aber zweitens nicht vollständig angewiesen auf die Umwendung der Zeit in einem günstigen „Augenblick“. Drittens kann diese Mitte nicht im Sinne der Statik einer Präsenzmetaphysik (Parmenides) verstanden werden. Wenn es zutreffend ist, dass sich diese Mitte immer wieder im Prozess einer schöpferischen Erneuerung von Gegenwart einstellt, ist sie selbst als eine im Kommen begriffene Mitte zu denken. Der Austragungsort dieser Form poetischer Welterschließung ist damit nicht ontologisch, sondern eschatologisch zu denken. Die letzten Überlegungen leiten über zu einem vorletzten Hinweis. 34 N II, 201,20f. (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 99.

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VI

Joachim von Soosten

„Die allerletzte Thräne“, oder: Zeitansage

Bei Hamann bilden der Vollzug schöpferischer Sprachmacht (Poesie) und die Vergegenwärtigung der Mitte der Zeit – als Zeit der Mitte – einen unauflöslichen Zusammenhang. Wohl versteht Hamann Poesie im Sinn von „poesis“, gemeint nach alter Übersetzung im Sinn eines ursprünglichen Machens und Herstellens. Zugleich liegt das Schwergewicht dieses „Machens“ noch nicht auf dem freien Spiel der Einbildungskraft. Erst die treuen wie angefixten Hamannleser Friedrich Schlegel mit seinem Entwurf einer Transzendentalpoesie wie anders auch Jean Paul Richter in seinen Entwürfen über die „Magie der Einbildungskraft“ werden die Akzente zugunsten der Einbildungskraft deutlich verschieben.35 Bei Hamann bleibt die Poesie als „Poeterey“ fundiert in einer An-Rede, die ungleich größer ist als jede Form von schöpferischer Sprachmacht im Sinne eines KunstWollens mit soteriologischen Potenzen. Poesie bleibt bei Hamann rückgebunden an die gemeine Form von Prosa in Form einer Anrede, die ursprünglicher ist als die Eigenbewerbung von Sprache um den Platz, der als Ort und Vollzug einer „transzendentalen Apperzeption“ im Geist der Einbildungskraft taugen könnte.36 Wer die Geschichte des Zusammenhangs von Poesie und Leben verfolgt, mag darin eine Beschränkung sehen. Freilich liegt in der Entdeckung von Poeterey im vorlaufenden Prozess einer AnRede ein bleibendes Recht einer genuin theologischen Option, die ihre Berührung mit Entdeckungen der phänomenologischen Betrachtung von Sprachereignissen zwischen Totalität und Unendlichkeit nicht zu scheuen braucht: ein Reden als Anrede von einem Anderen her, als genuin sozietäres „Sprachereignis“. Über diese Berührung von Theologie und Phänomenologie kann und muss aussichtsreich weiter beraten werden.37 Stellt man den heilsgeschichtlichen Rahmen, in den Hamanns Erkundigungen über den Zusammenhang von Sprachmagie und Zeitverständnis zweifelsohne eingelassen sind, für einen Moment zurück, kann doch sichtbar werden, dass die Aufgabe der Poesie eingelassen bleibt in die Momente eines vorgängigen wie nie vollständig einzuholenden und zu beruhigenden Angesprochen-Seins. Diese Fügung („Schickung“) mit der daraus resultierenden Aufgabe der Sprache, für die Zeit der Mitte nicht nur zu werben, sie nicht nur als bloßes Angebot, als kraftlosen Appell oder als aktualistische Mitteilungskonvention der Denkfaul35 Für Jean Paul Richter als Leser, der Hamann die Treue hält, vgl. Jean Paul: Über die natürliche Magie der Einbildungskraft. In: Leben des Quintus Fixlein (1796). Stuttgart 1972, S. 219–231. 36 Zum Entwurf einer Transzendentalpoesie vgl. vor allem Friedrich Schlegel, exemplarisch: Äthenäumfragment 238 (Athenäums-Fragmente, 1798). In: ders.: Kritische und theoretische Schriften. Stuttgart 1978, S. 105. 37 Vgl. für diese Begegnung exemplarisch Emmanuel L8vinas: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über Betroffenheit von Transzendenz (1982), Freiburg i. Br. 42004.

Im Responsorium der Präsenz. Gottes „innigste Zuthätigkeit“

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heit ins Schaufenster zu stellen, sondern sie selbst „ins Geschick“ zu bringen, hat Konsequenzen für das eigentümliche Verständnis von Präsenz, das für Hamann leitend ist. Die Präsenz einer Gegenwart als Zeit der Mitte lässt sich infolge des Vorrangs der Anredestruktur in einer präsenzmetaphysischen Ontologie nicht unterbringen. Mit Hamann vermittelt sich eine Ahnung von einer bleibenden Unruhe und Unterscheidung, die sein gesamtes Werk durchzieht. Pointiert gesagt: Vernunftsprache im Sinne eines präsenzontologischen „logos“ spricht Griechisch nach Parmenides – Sprachvernunft hingegen singt auf Hebräisch weiter eine „Rhapsodie in Kabbalistischer Prose“. Schon der Untertitel der „Aesthetica in nuce“ enthält das ganze sprachphilosophische Programm: Die Fundierung von Sprache in An-Rede als Vollzugsgeschehen für die schöpferische Entdeckung von Ewigkeit inmitten von endlicher Freiheit und begrenztem Wissen. In der präsenztheologischen Kommunion von Sprache und Zeit walten nach Hamann Sprechweisen wie Sprachbarrieren, die älter und zugleich jünger sind als alles, was in bloß menschlicher Poesie und Poeterey zur Sprache kommt. Die Sprachbarrieren in aller Sprachmagie werden von Hamann keineswegs übersehen. Ganz im Gegenteil. Sie bilden allererst die Unruhe, die für die Aufmerksamkeit auf die schöpferisch-expressiven Exzesse von Sprache verantwortlich sind. „Wir leben hier von Brocken. Unsere Gedanken sind nichts als Fragmente. Ja unser Wissen ist Stückwerk.“38 Der Fragmentcharakter der Gedanken und des Wissens wird nicht einfach aufgehoben, wenn Hamann der Poesie die erste Rolle darin zuerkennt, die Dinge in fühlbare Gegenwart zu verwandeln und darin ins Geschick zu bringen. An den Grenzen der Sagbarkeit spricht nach Hamann noch die leibkörperliche Sprache der Tränen – bis denn die „allerletzte Thräne“39 in den Kelch endlicher Sprachvernunft gefallen ist. Zugleich spricht diese Sprache von einer Ahnung von einer Zeit, die sich von Anfang und Ende bewegt und umfangen weiß. Was in Hamanns eigener Sprachbewerbung um die Mitte der Zeit jenseits von Erbaulichkeit und Kontemplation erhalten bleibt, ist die Sensibilität für eine Wirklichkeit, die, weil sie uns anspricht, uns an eine ansprechbare Wirklichkeit erinnert. Das Geheimnis der Zeit ist laut Hamann in Latenz und Kreativität darin verborgen und findet in der Poesie ihr Zaubergemach.

38 Londoner Schriften, 407,14–16 (Brocken). 39 N II, 214,5–10 (Aesthetica in nuce), Reclamausgabe, S. 137.

Eric Achermann (Münster)

Schema und Kabbala. Hamanns Geschichte von Anfang und Ende

Ist es ein Ding der Unmöglichkeit, Geschichte ohne Anfang und Anfang ohne Geschichte zu denken, so erscheint die Vorstellung eines Gottes ohne Schöpfung der Natur und des Menschengeschlechts dem Christen um nichts naheliegender. Ist dieser zudem rechtgläubig, so gilt es, in diesem Ursprung Schöpfungslehre, Christologie und Pneumatologie in Einklang zu bringen. Spätestens seit Augustinus steht die Frage nach dem Ursprung allen Seins, dem Zweck der Schöpfung und dem offenbarten Sinn des Lebens im Zeichen des einen Zeitlosen, der sich in die Zeit einlässt. Geschichte erscheint mit der trinitarischen Entfaltung des Göttlichen untrennbar verbunden. Sie ist das eigentliche Medium (Mitte und Mittel) der Kommunikation Gottes mit der Kreatur, in welcher und durch welche sich das Göttliche konkretisiert. Zu den meist zitierten Stellen aus Hamanns Schriften gehört der Abschnitt der Aesthaetica,1 der direkt auf den Musenanruf folgt und dem Ursprung der Künste gilt. Ihm folgen ein Absatz zur sinnlichen Erkenntnis der Schöpfung und ein weiterer zur Gottebenbildlichkeit des Menschen. In nuce enthalten diese drei Absätze dasjenige, was Hamann bis hin zur Metakritik als sein großes Thema betrachten wird: das Verhältnis von göttlichem Wort zu Natur und Geschichte. Dieses Verhältnis ist es auch, das sein Geschichtsverständnis fundamental prägt; es beruht auf der Analogie einer Mitteilung in der Schrift durch die Schrift mit einer Mitteilung durch die Kreatur an die Kreatur. In ihm verbinden sich die beiden Säulen seiner Erkenntnismethode und Semiotik, die ästhetische Erfahrung sowie die hermeneutische Erschließung der Absicht, die sich in den Erscheinungen verbirgt. Die folgenden Ausführungen versuchen zu zeigen, wie Hamann Erfahrung ursprünglicher Gegenwärtigkeit mit der Zeitlichkeit des Vorgriffs zu verbinden versucht. Hierzu bedient er sich vorzüglich einer Figur, die er im dritten Absatz der Aesthaetica ,Schema‘ nennt. Das Schema ist, so die hier vertretene Ansicht, das Scharnier, das die Sinneswahrnehmung mit einem Plan verbindet, das aus 1 Es wird hier die Schreibweise des Erstdrucks beibehalten.

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Eric Achermann

der Figur – als Objekt der Erkenntnis und der Rhetorik – Geschichte hervorgehen lässt. Den Plan dieser Geschichte nennt Hamann die wahre ,Kabbala‘, die für ihn nichts anderes zu bezeichnen erlaubt als den Schlüssel zu dem geheimnisvollen Verhältnis von Altem und Neuem Testament, oder – für den Lutheraner – von Gesetz und Evangelium.

1.

Anfang

Im unmittelbaren Anschluss an den ironischen Musenanruf, der die Aesthaetica in nuce eröffnet, bildet Hamann zwei Begriffsreihen. Er setzt darin ursprüngliche und zivilisierte Ausdrucksformen gegeneinander, um anschließend die intensive Erfahrung von Gegenwärtigkeit zum eigentlichen Prinzip einer sensualistischen Theologie und Kulturgeschichte zu erklären: Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker : Malerey, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation: Gleichnisse, – als Schlüsse: [*] Tausch, – als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung, ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinns oder Erstaunens saßen sie; – – und thaten ihren Mund auf – zu geflügelten Sprüchen. Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit. Der erste Ausbruch der Schöpfung, und der erste Eindruck ihres Geschichtschreibers; – – die erste Erscheinung und der erste Genuß der Natur vereinigen sich in dem Worte: Es werde Licht! hiemit fängt sich die Empfindung von der Gegenwart der Dinge an. [**] [*] – vt hieroglyphica literis: sic parabolae argumentis antiquiores [wie Hieroglyphen älter als Buchstaben sind, so auch Gleichnisse älter als Begründungen], sagt Bacon, mein Euthyphron. [**] Pam caq to vameqoulemom, vyr esti [Alles Erscheinende nämlich ist Licht]. Ephes. V, 13.2

Was Rudolf Unger „diese gewaltigen Gleichungen“ genannt hat,3 ist der Versuch, Bibelphilologie und Anthropologie ins Geschick und beide auf die Leitbegriffe einer noch jungen Disziplin, nämlich der Ästhetik, zu bringen. Aus dem ursprünglichen Zeichen, das als „Bild“ auf die „Sinne“ und die „Leidenschaften“ wirkt, erwächst durch die und in der Empfindung ein sinnliches Analogon des Schöpfungsaktes. In diesem Anfang steht die interesselose Tätigkeit ebenso vor Nutzen wie intensive Gegenwärtigkeit vor geplanter Handlung. Wer sein Tun auf ein Künftiges hin ausrichtet, der ist nicht ganz bei sich – und so dem Anfang 2 Aesthaetica in nuce. In: Kreuzzüge des Philologen. Königsberg 1762, S. 163f. Im Folgenden wird Hamann, wo möglich, nach den Erstdrucken zitiert. Der Seitenzahl nachgestellt findet sich zur leichteren Orientierung die Angabe nach der Nadlerschen Ausgabe, hier N II, 197. 3 Rudolf Unger : Hamann und die Aufklärung. Bd. II. Halle an der Saale 21925, S. 653.

Schema und Kabbala. Hamanns Geschichte von Anfang und Ende

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bereits entronnen. Der Anfang liegt dort, wo Ausdruck dem Eindruck gleichzeitig ist, indem Wahrnehmung in Tätigkeit übergeht; wo hingegen Tätigkeit zur Handlung wird, da verbindet sich Natur ein erstes Mal mit Geschichte. Der Ursprung ist für Hamann also nicht ein Versprechen, das sich an eine Zukunft und auf diese hin richten würde, sondern noch vor allem anderen und ganz eigentlich Gegenwart. Und dennoch beschränkt sich die „Gegenwart der Dinge“, die mit der Äußerung des Schöpfungswortes einhergeht, nicht bloß auf Sein und Erscheinen eben dieser Dinge. Ganz im Sinne Luthers ist die Gegenwart für Hamann vorzüglich eine christologische: Das Wort, das „im Anfang“ war, „ward“ Fleisch,4 dem Vater „eingeboren“ (Jo 1,1–3,14), und also, wie es das für Hamann unbestreitbare Dogma der Trinität will, gleich ewig (coaeternus). Die Gegenwärtigkeit manifestiert sich stets aufs Neue in der sakramentalen Inkraftsetzung. Diese bedeutet die performative Aufhebung des Unterschieds zwischen Ding und Zeichen; hier, im Anfang, wirkt – wie es in der Metakritik heißen wird – das „Sacrament der Sprache“,5 hier, im Anfang, ist Ding Zeichen und Zeichen Ding. In dieser ursprünglichen Gegenwärtigkeit gründet denn auch die natürliche Motiviertheit der Hieroglyphe ebenso wie diejenige der sinnlichen ,Wirk-Worte‘ Gesang, Parabel und Sentenz. Als Muster für den gesamten Parallelismus dient inhaltlich und formal das von Hamann als Fußnote angeführte Zitat aus Bacons De augmentis scientiarum: „ut hieroglyphica literis, ita parabolae argumentis erant antiquiores“ [wie Hieroglyphen älter als Buchstaben, so waren Gleichnisse älter als Begründungen].6 Bacons Begründung nimmt ihren Ausgang bei den „geistigen Fähigkeiten“ (intellectus facultates), welche die Trias der Wissenschaften zu Beginn des Zweiten Buches von De augmentis scientiarum begründen: „Geschichte“, „Dichtung“ und „Philosophie“ entsprechen „Gedächtnis“ (memoria), „Einbildungskraft“ (phantasia; imaginatio) und Vernunft (ratio). Die Folge zeigt an, worauf Bacon rekurriert; es sind Aristoteles’ Ausführungen zur Geschichte als Wissenschaft vom Individuellen, der Philosophie als Wissenschaft vom Allgemeinen und der Dichtung als Wissenschaft vom Wahrscheinlichen.7 Zudem führt Aristoteles in der Poetik aus, dass der Mensch über eine natürliche Disposition zur Mimesis verfüge: 4 Vgl. Albrecht Schöne: Herder als Hamann-Rezensent. Kommentar zur ,Dithyrambischen Rhapsodie‘. In: Euphorion 54 (1960), S. 195–201. 5 Metakritik über den Purismus der Vernunft, zit. n. Oswald Bayer : Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Canstatt 2002, S. 413; N III, 289; vgl. hierzu den Kommentar ebd. (Bayer), S. 419–421. 6 Francis Bacon: De augmentis scientiarum (1623). In: The Works. Hg. von James Spedding, Robert Lesslie Ellis und Douglas Denon Heath. Bd. I. London 1858, S. 520. Hamann zitiert De augmentis ausschließlich nach seiner lat. Ausgabe: Amsterdam 1694. Biga Bibliothecarum. […]. Königsberg 1776; In: N V, 13–121, hier : 129/449; N V, 83. 7 Aristoteles: Poetik, 9, 1451b5–10.

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Eric Achermann

Den Menschen nämlich ist sowohl das Nachbilden – sie unterscheiden sich von Kindheit an von den anderen Lebewesen, da sie nachbildende sind und erste Erkenntnisse durch Nachbildungen gewinnen – als auch die Freude an den Nachbildungen angeboren.8

Aus dem Zusammenspiel von produktiver Repräsentation und rezeptivem Genuss geht die Mimesis ganz natürlich hervor. Es sind diese anthropologischen Grundannahmen, die Bacon universalhistorisch oder menschheitsgeschichtlich dimensioniert. Erkenntnis nämlich basiert auf einer ursprünglichen Semiose, die in der für den Menschen untrennbaren Gleichzeitigkeit von Empfindung und Bild besteht. Bilder sind es, die in unser Inneres dringen, und Bilder sind es, die dort, in unserem Gedächtnis, abgelagert werden. Da Empfindungen Bilder bewirken und diese als Zeichen fungieren, ist mit der Empfindung die zeichenhafte Entfremdung von der Natur gegeben. Expliziter noch als bei Aristoteles erhalten so die drei Grundoperationen wissenschaftlicher Erkenntnis eine psychologische und gleichzeitig genetische Basis: Der rohe Sinneseindruck wird Bild und als Bild einer rationalen „Verdauung“ zugeführt.9 Dass der Geist sich von sinnlicher Empfindung nährt, ist nicht nur für den frühen Empirismus, sondern auch für das gesamte anthropologische Programm des Sensualismus grundlegend. Erst durch Aufmerksamkeit, Vergleich und Verallgemeinerung entsteht aus der Empfindung Wahrnehmung, aus der Wahrnehmung Erfahrung sowie aus der Erfahrung Erkenntnis, die letztlich die Menschheit als Kollektiv befähigt, die natürliche Schwäche der individuellen 8 Aristoteles: Poetik, 4, 1448b5: „T| te c±q lilei˜shai s}lvhtom toWs !mhq~poir 1j pa_dym 1st_ (ja· to}t\ diav]qousi t_m %kkym f`ym dti lilgtij~tat|m 1sti ja· t±r lah^seir poiei˜tai di± lil^seyr t±r pq~tar) ja· t¹ wa_qeim toi˜r lil^lasi p\mtar.“ 9 Bacon: De augmentis scientiarum (wie Anm. 6), S. 494f.: „Haec autem ita se habere, si quis intellectualium origines petat, facile cernet. Individua sola sensum percellunt, qui intellectus janua est. Individuorum eorum imagines, sive impressiones a sensu excepta, figuntur in memoria, atque abeunt in eam a principio tanquam integrae, eodem quo occurunt modo. Eas postea recolit et ruminat anima humana; quas deinceps aut simpliciter recenset; aut lusu quodam imitatur ; aut componendo et dividendo digerit. Itaque liquido constat ex tribus his fontibus, Memoriae, Phantasiae, et Rationis, esse tres illas emanationes. Historiae, Poeseos, et Philosophiae; nec alias aut plures esse posse. Etenim historiam et experientiam pro eadem re habemus, quemadmodum etiam philosophiam et scientias.“ [Dass dem so ist, das wird leicht erkennen, wer den Ursprüngen der intellektuellen Dinge nachgeht. Das Individuelle dringt nur durch die Sinne ein, die das Tor zum Intellekt sind. Die Bilder dieser Individuen bzw. die Eindrücke, die von den Sinnen erfasst werden, bleiben im Gedächtnis haften; sie gehen anfänglich in dieses so unverfälscht ein, wie sie sich ereignen. Die menschliche Seele erinnert und käut sie anschließend wieder ; daraufhin bedenkt sie diese entweder einfach oder bildet sie durch Spiel nach oder verdaut sie, indem sie sie zertrennt und zusammenfügt. Deshalb steht ganz gewiss fest, dass aus den drei Quellen des Gedächtnisses, der Phantasie und der Vernunft diese drei Emanationen stammen. Geschichte, Dichtung und Philosophie – weder kann es andere, noch mehr davon geben. Und so erachten wir Geschichte und Erfahrung als dasselbe, nicht anders als auch die Philosophie und die Wissenschaften.].

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Erkenntniskräfte historisch, und zwar universalhistorisch, zu überwinden.10 In diesem Prozess spielen sowohl Historie als auch Poesie ihre jeweilige Rolle: Angehalten durch die Triebfeder des Genusses vermittelt die poetische Imagination zwischen der besonderen historischen Erfahrung und der allgemeinen philosophischen Idee. Schon zu seiner Studienzeit fühlt sich Hamann von dem empfindsamen Topos angesprochen, dass in dem vorreflexiven Genuss die Gegenwärtigkeit der Empfindung sich als unmittelbare äußert. Der Verfasser des 50. Stücks der Daphne, den Josef Nadler als Hamann identifiziert, zitiert Hagedorns zweite Strophe aus dem Gedicht Die Jugend, deren Schluss lautet: „Kein Genuß ergrübelt sich, / Ich weiß gnug, indem ich mich / Im Empfinden übe.“ Hamann wird sich noch in einem Brief an Jacobi aus dem Jahre 1784 an die Verse erinnern: Bey mir ist nicht so wol die Frage: was ist Vernunft? Sondern vielmehr : was ist Sprache? und hier vermuthe ich den Grund aller Paralogismen und Antinomien, die man jener zur Last legt. Daher kommt es, daß man Wörter für Begriffe, und Begriffe für die Dinge selbst hält. In Wörtern u. Begriffen ist keine Evidenz möglich, welche blos den Dingen und Sachen zukommt. Kein Genuß ergrübelt sich – und alle Dinge folglich auch das Ens entium ist zum Genuß da, und nicht zur Speculation. –11

In der Vorreflexivität des Genusses erkennt Hamann wohl auch den wesentlichen Beitrag der Ästhetik für seine eigenen theologischen Überlegungen. Mit Bacon teilt er die Überzeugung, dass der Geist zu einer korrekten Erkenntnis der Wirklichkeit einzig dann gelangen kann, wenn den zunehmend allgemeinen (und also philosophischen) Begriffen die sinnliche Wahrnehmungserfahrung der Wirklichkeit nicht abhanden kommt. Für Bacon steht aber fest, dass die Natürlichkeit einer primordialen Sprache nicht auf das Konto einer Erkenntnis der Natur oder auch nur schon einer natürlichen Erkenntnis geht, sondern sich zuvorderst einer ebenso ursprünglichen wie natürlichen Beschränktheit des Menschen verdankt. Aus der Not heraus schafft sich der Mensch ein Surrogat der Wirklichkeit, das ihn – und darin liegt der eigentliche Sündenfall – von den Sachen entfremdet und einem Reich der Ideen zuführt, die er als Abgötter oder lügenhafte Götterbilder an die Stelle der erfahrbaren Wirklichkeit setzt. Wer aber erkennen will, der muss seine Begriffe, Vorstellungen und Ideen läutern und sie in eine erneuerte Entsprechung zu den Sachen setzen. Will man einen Unterschied zwischen Hamann und Bacon finden, dann scheint er in Ansehung dieses philosophischen Erkenntnisziels der größtmög10 Zur philosophiehistorischen Bedeutung der empirizistischen These von der „Ohnmacht des menschlichen Intellekts“ (bei Bacon) und deren Wirkung auf den Fideismus vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1981, S. 128f. 11 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 14. November 1784, ZH V, 264.

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liche. So mag sich denn der Verdacht bestätigen, dass die Übereinstimmung sich ihrerseits auf die Betonung „des ,parabolischen‘ […] Momentes in der Dichtung und ihrer darauf beruhenden organischen Beziehung zur Religion“ beschränkt.12 Gegen diese Einschätzung hat Sven-Aage Jørgensen mit guten Gründen geltend gemacht,13 dass Bacon-Euthyphron14 nicht etwa bloß die Rolle eines Stichwortgebers für Hamann-Sokrates spiele, der sich von Euthyphrons Lehre – wie es im Kratylos geschieht – zunehmend distanziere. Trotz aller Ironie bleibt es Euthyphron, den Sokrates als Quelle seines Enthusiasmus bezeichnet. Jener beflügelt diesen zu einer beachtlichen Zahl von Etymologien, die Sokrates „Eqh}vqomor Vppoi“ [Euthyphrons Pferde], Hamann aber „Euthyphrons stolze Hengste“ nennt. Auf Wunsch seines Dialogpartners Hermogenes lässt Sokrates diese Pferde zügellos durch die Etymologien von „Hermes“ und dessen „zwitterhaften“ Sohn „Pan“ jagen, wobei er sich nicht zuletzt zu einer ,panischen‘ Definition der Rede (Logos) hinreißen lässt: Du weißt, dass die Rede ,Alles‘ [to pan] bedeutet und immer kreist und schweift, auch zwiefältig ist, nämlich wahr und trügerisch. […] So ist das Wahre derselben glatt und göttlich und haust droben bei den Göttern, während das Trügerische drunten bei dem gemeinen Volke rau und bockshaft ist. Die meisten Mythen und der Trug sind hier, im tragischen Leben.15

An gleicher Stelle erfahren wir, dass Hermes nicht nur Übersetzer, Bote, Dieb, Täuscher und Händler ist, sondern seinen Namen sowohl der „Rede“ (t¹ eUqeim) als auch dem „Einfall“ (1l^sat|) verdanke.16 Der Mythologe Pan, der die Titelblätter zu Hamanns Kreuzzügen sowie zu seinen Essais / la Mosa"que schmückt, ist also Sohn des Götterboten Hermes oder Merkur, den Hamann in seiner Übersetzung von Pitavals Gascogner-Sendschreiben Contre les plagi-

12 Unger : Hamann und die Aufklärung (wie Anm. 3), Bd. I, S. 263. 13 Jørgensens Untersuchung aus dem Jahr 1961 ist einer der wichtigsten Beiträge, der die empirizistische Grundlage nicht nur von Hamanns Religiosität im Besonderen, sondern des zeitgenössischen Fideismus im Allgemeinen zu erklären vermag; Sven-Aage Jørgensen: Hamann, Bacon, and Tradition. In: Orbis Litterarum 16 (1961), S. 48–73; wieder abgedruckt in ders.: Querdenker der Aufklärung. Studien zu Johann Georg Hamann. Göttingen 2013, S. 35–64. 14 Bacon wird in der Fußnote zu Ende des ersten Absatzes mit „mein Euthyphron“ bezeichnet; Aesthaetica in nuce, S. 162; N II, 197. Die Fußnote zitiert zwei Stellen aus Platons Kratylos (396d–397a und 407d); darin führt Sokrates seinen Enthusiasmus auf Euthyphrons Lehre zurück, die ihn zu seinen Etymologien beflügle. 15 Platon: Kratylos, 408c: „oWsha fti b k|cor t¹ p÷m sgla_mei ja· jujkei˜ ja· pokei˜ !e_, ja· 5sti dipkoOr, !kgh^r te ja· xeud^r. […] oqjoOm t¹ l³m !kgh³r aqtoO kei˜om ja· hei˜om ja· %my oQjoOm 1m toi˜r heoi˜r, t¹ d³ xeOdor j\ty 1m toi˜r pokkoi˜r t_m !mhq~pym ja· tqaw» ja· tqacij|m: 1mtaOha c±q pkei˜stoi oR lOho_ te ja· t± xe}dg 1st_m, peq· t¹m tqacij¹m b_om.“ 16 Ebd. 407e–408a.

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aires17 als „Gott der Diebe und Gelehrten“ apostrophiert, wobei „Gelehrte“ etwas eigenwillig für „Gens de lettres“ [Schriftsteller] zu stehen kommt. Hamann wäre nicht Hamann, setzte er dieses Spiel von panischer Schreib- und hermetischer Lesart nicht fort. Den Zwittergott der Dichter und Diebe deutet er in einem bedeutungsvollen Passus der Aesthaetica christologisch aus: „Der Poet am Anfange der Tage ist derselbe mit dem Dieb am Ende der Tage.“18 Dem Dieb lässt er die Fußnote „Offenb. XVI, 15“ („Sihe / ich kome / als ein Dieb“), dem Poeten hingegen „2 Kor. IV, 6“ folgen, der „da [am Anfang] hies das Liecht aus der finsternis erfur leuchten“, damit wir erkennen die Klarheit Gottes „in dem angesichte Christi“. Dass „alles Erscheinende […] Licht“ sei, hatte Hamann ja bereits mit Epheser 5,13 in der Fußnote zu unserer Eingangsstelle angezeigt. Dem erleuchteten Angesicht19 können wir im Werk Hamanns allenthalben begegnen. Bevor wir uns aber dieser ,schematischen‘ Erscheinung zuwenden, gilt es den Blick nochmals auf Sokrates’ etymologisches Verfahren zurückzulenken. Sokrates nämlich sieht den Ursprung der Wörter bei einem „Gesetzgeber“ (moloh]tgr) oder „Wortwerker“ (amolatouqc|r),20 dem „seltensten“ unter allen Handwerkern, der Wörter prägt und durch Setzung oder Imposition (das Verb ist ,t_hgli‘) der Etymologie ihren Grund bereitet. Weder Sokrates noch Bacon behaupten aber, dass die Willkür des Nomotheten auf einer richtigen oder angemessenen Erkenntnis der benannten Dinge beruhe.21 Dass die Worte in ihrem Ursprung motiviert sind, heißt nicht, dass der Weg zurück zu diesem menschlichen Ursprung zu eigentlicher Erkenntnis der Dinge führt. Auch für Bacon ist es ausgemacht, dass der parabolische Ausdruck zwar sinnlich motiviert ist, das heißt ein Bild des Sachverhalts darstellt, doch erst als ein charakteristischer, als ein „real character“, steht dieser nach korrekter Erkenntnis einer 17 Die Übersetzung, die sich im sogenannten ,Königsberger Notizbuch I‘ findet und also aus frühester Zeit stammt, entpuppt sich bei Vergleichung mit dem Original als Fundgrube für Hamanns paratextuellen Spielereien; so wird von Aristoteles’ Werken behauptet, sie seien „autant de Mosa"ques“, was Hamann durchaus korrekt mit „mosaische Arbeiten“ wiedergibt. Die Stelle dürfte als Quelle für den Titel von Hamanns Essais / la Mosaique in Frage kommen, den ja ebenfalls der Pans-Kopf ziert (N II, 279) und so ein französisches Pendant zu den Kreuzzügen bildet. Auch finden sich hier „rapsodistes“, die Hamann mit „Zusammenschmierer“ übersetzt. Vgl. Sendschreiben über die Gelehrten Diebe, N V, 267; Übers. von: FranÅois Gayot de Pitaval: Art d’orner l’esprit en l’amusant, ou nouveau choix de traits vifs, saillans & legers, soit en vers, soit en prose, & de morceaux d’Histories singulieres. Bd. II. Paris 1732, S. 91f. 18 Aesthaetica in nuce, S. 190; N II, 206. 19 Das leuchtende Angesicht verbindet als wiederkehrendes Prädikat der Theophanie Altes und Neues Testament; vgl. etwa Num 6,25. Bezeichnenderweise ist Gottes Angesicht sichtbar und unsichtbar ; Ex 33,11 u. 20, vgl. Ex 34,29 u. 33. 20 Platon: Kratylos, 388e. 21 Vgl. zu dieser Interpretation des Kratylischen Problems Pierre Boyanc8: La ,doctrine d’Euthypron‘ dans le Cratyle. In: Revue des Ptudes Grecques 54 (1941), S. 141–174, hier S. 144.

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Sache in ebenso korrekter Übereinstimmung mit dieser.22 Bacons ,Natursprache‘ hat also eine doppelte Bedeutung: Es verweist sowohl auf den natürlichen Ursprung in den defizitären Fähigkeiten des Menschen als auch auf die perfekte Angemessenheit einer philosophischen Terminologie, die der Natur der Sachen gerecht wird.

2.

Entwicklung

Das spannungsreiche Verhältnis von Natürlichkeit und Arbitrarität, das Bacons Sprachauffassung prägt, lässt sich mithilfe der Wachterschen Terminologie genauer bestimmen, die Hamann seinem berühmten Diktum von der „Engelsprache“ anhängt: Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, – historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch seyn können.23

Folgen wir Wachter, so bedient sich der Mensch anfänglich einer „kyriologischen Schrift“ (scriptura cyriologica), „weil sie die Sache durch eigentliche oder ähnliche Charaktere ausdrückt“,24 bevor er im weiteren Verlauf der Kulturentwicklung zum „genus symbolicum et hieroglyphicum“ [zur symbolischen und 22 Dass die Worte Bilder der Dinge sind („for words are just the images of matter“; Francis Bacon: Advancement of learning. In: Works. Hg. von James Spedding, Robert Lesslie Ellis und Douglas Denon Heath. Bd. III. London 1859, S. 284), dass vorzüglich die Hieroglyphen im Gegensatz zu den „real characters“ der chinesischen Schrift, welche „Things or Notions“, nicht aber Buchstaben oder Wörter zum Ausdruck bringen (ebd. S. 399), auf sinnlichen Eindrücken beruhen, bedeutet für Bacon nicht, dass die ursprünglichen Zeichen die Natur zum Ausdruck bringen, sondern vielmehr dass eine Charakteristik, die auf ein geordnetes Verhältnis von Sachen und Zeichen Wert legt, Aufgabe einer philosophischen Sprachreform sein muss. Zur Tradition des Renaissanceverständnisses von Hieroglyphen sowie zu deren Bedeutung bei Bacon vgl. Thomas C. Singer : Hieroglyphs, Real Characters, and the Idea of Natural Language in English Seventeenth-Century Thought. In: Journal of the History of Ideas 50/1 (1989), S. 49–70; sowie Jonathan E. Lux: ,Characters reall‘. Francis Bacon, China and the Entanglements of Curiosity. In: Renaissance Studies 29/2 (2015), S. 184–203. Zu Hamann und Bacon vgl. Unger : Hamann und die Aufklärung (wie Anm. 3), Bd. I, S. 244f.; Jørgensen: Hamann, Bacon, and Tradition (wie Anm. 13). Dass Bacons eigentliches Hieroglyphenverständnis – entgegen der Tradition – nicht in der Vorstellung einer motivierten Natursprache, sondern einer konventionellen Symbolik bestanden habe, hält Peter Harrison: The Fall of Man and the Foundations of Science, S. 176f. zurecht fest. 23 Aesthaetica in nuce, S. 168f.; N II, 199. 24 Johann Georg Wachter : Naturae et scripturae concordia. Commentario de literis ac numeris primaevis, aliisque rebus memorabilibus cum ortu literarum coniunctis illustrata, et tabulis Aeneis depicta. Leipzig 1752, S. A2r : „quia res per proprios seu consimiles characteres exprimit“.

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hieroglyphischen Gattung] wechselt, die einen „allegoricum sensum“ [allegorischen Sinn] durch Vergleichung zum Ausdruck bringt und so auch abstrakte, sinnlich nicht erfahrbare Gegenstände zu bezeichnen vermag.25 Schließlich bildet sich die charakteristische Schrift aus, „die nicht mehr sprechendes Bild, sondern stummer Ausdruck ist, der eine Beziehung zu den Dingen nicht aufgrund einer Ähnlichkeit mit den Sachen hat, sondern gleichsam durch stumme Zeichen willkürlich für Laute und Namen der Sachen eingesetzt wurde.“26 Dieses letzte „genus“ enthält nicht etwa unsere Buchstaben; älter als diese ist es vielmehr die chinesische Schrift, die hier gemeint ist. Es sind also Piktogramme, Symbole und Ideogramme, die nach Wachter die drei Phasen einer ersten Stufe der Schriftentwicklung bilden. Ihre Zeichen aber, und das ist wichtig, beruhen in diesen ersten drei Stadien allesamt auf Beziehungen, die sie mit Sachen bzw. Vorstellungen eingehen, und nicht mit Silben oder Lauten. Genau darin – in der Selbstbezüglichkeit von Sprachzeichen auf Sprachzeichen – sieht Bacon aber die große Gefahr, die ein semiotisches System für die Erkenntnis der Wirklichkeit birgt: An die Stelle von Sachen und Vorstellungen treten Zeichen und Worte, so dass eine solche denaturierte Sprache mit Zeichen Zeichen und mit Wörtern Worte bezeichnet, nicht aber Sachen, noch Vorstellungen. Auf der Anklagebank sitzt ein verschwörerisches „Bündnis von Wörtern und Namen“, das zu Irrglauben und Götzendienst verleitet: Die Idole des Marktplatzes aber sind die allerlästigsten, die sich aus dem Bündnis von Wörtern und Namen in den Intellekt schleichen. Die Menschen glauben, dass ihre Vernunft die Wörter befehligt; es geschieht aber auch, dass die Wörter ihre Befehlsgewalt auf den Intellekt zurückbiegen und zurückspiegeln. Das hat die Philosophie und die Wissenschaften sophistisch und untätig gemacht. Worte nämlich werden meist aus dem gemeinen Verstand eingesetzt und zerteilen die Sachen mit Grenzlinien, die dem gemeinen Intellekt am stärksten einleuchten. Wenn aber ein schärferer Intellekt oder eine genauere Beobachtung diese Grenzen verschieben möchte, damit sie mehr der Natur entsprechen, so hindern sie die Wörter. Daher kommt es, dass die großen und feierlichen Disputationen gelehrter Männer oft in Auseinandersetzungen um Wörter und Namen enden. Es wäre weiser, bei diesen (nach Art und Umsicht der Mathematiker) anzusetzen und sie mithilfe von Definitionen zur Ordnung zurückzuführen. Die Definitionen aber, was natürliche und körperliche Dinge betrifft, können dieses Leiden nicht heilen, weil dieselben Definitionen aus Wörtern bestehen und Wörter Wörter

25 Ebd., S. A2r–A2v. – Zu Ursprungstheorien figurativer Sprache im 18. Jahrhundert vgl. Paolo Rossi: I segni del tempo. Storia della Terra e storia delle nazioni da Hooke a Vico (1979). Mailand 22003, S. 221–308. 26 Wachter : Naturae et scripturae concordia (wie Anm. 24), S. D3v : „quae non amplius esset pictura loquens, sed vox muta, commercium habens cum rebus, non per aliquam rerum similitudinem, sed per tacita quaedam signa, sonis & nominibus rerum pro lubitu imposita“.

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erzeugen. Deshalb ist es nötig, zu den besonderen Instanzen sowie deren Verbindungen und Ordnungen zurückzugreifen […].27

Auch Wachter entwickelt seine Stufenfolge der Zeichenevolution mit Rekurs auf den Aristotelischen Topos vom Menschen als mimetischem Wesen. Den Topos kombiniert er gleich zu Beginn seiner Abhandlung mit Lukrez’ Kulturentstehungslehre, indem er diejenigen elf Verse aus De rerum natura anführt,28 welche die Entwicklung der Künste in nuce darstellen. Die menschlichen Erwägungen und Absichten, aus welchen die Künste hervorgehen, zielen auf „praemia, delicias quoque“ [Vorteil, auch Vergnügen].29 Es sind dies die Begriffe, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts die doppelte Triebfeder der gesellschaftlichen Entwicklung bezeichnen und als anthropologische Kernelemente die Fortschrittstheorien der französischen und schottischen Geschichtsschreibung beherrschen.30 Aus Not und Genuss gehen zwei Klassen von Künsten hervor, von denen d’Alembert in seinem Discours pr8liminaire der Encyclop8die weiß, dass ihr Nutzstreben auf „avantage“ [Vorteil] einerseits und „agr8ment“ [Annehmlich27 Francis Bacon: Novum Organum Scientiarum (1620): In. The Works, Bd. I (wie Anm. 6), S. 170f.: „At Idola Fori omnium molestissima sunt; quae ex foedere verborum et nomimum insinuarunt in intellectum. Credunt enim homines rationem suam verbis imperare; sed fit etiam ut verba enim summa super intellectum retorqueant et reflectant; quod philosophiam et scientias reddidit sophisticas et inactivas. Verba autem plerunque ex captu vulgi induntur, atque per lineas vulgari intellectui maxime conspicuas res secant. Quum autem intellectus acutior aut observatio diligentior eas lineas transferre velit, ut illae sint magis secundum naturam, verba obstrepunt. Unde fit ut magnae et solennes disputationes hominum doctorum saepe in controversias circa verba et nomina desinant; a quibus (ex more et prudentia mathematicorum) incipere consultius foret, easque per definitiones in ordinem redigere. Quae tamen definitiones, in naturalibus et materiatis, huic malo mederi non possunt; quoniam et ipsae definitiones ex verbis constant, et verba gignunt verba: adeo ut necesse sit ad instantias particulares earumque series et ordines recurrere; […].“ 28 Wachter : Naturae et scripturae concordia (wie Anm. 24), S. A1v. Zitiert sind die Verse 1448–1457 aus dem fünften Buch von Lukrez’ De rerum natura. 29 Zu den Begriffen vgl. Egert Pöhlmann: Lukrez als Quelle griechischer Kulturentstehungslehre (zu Lukrez 5, 1448–1457). In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 17 (1991), S. 217–228, hier S. 225f. Zu den verschiedenen antiken Varianten, den Ursprung von Kultur zu denken, vgl. Arnaldo Momigliano: Die Ursprünge der Universalgeschichte. In: ders.: Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. Bd. I. Die Alte Welt. Stuttgart, Weimar 1998, S. 111–140. Zum Einfluss Lukrez auf die „sciences of origin“ vgl. Catherine Wilson (2016): Lucretius in Eighteenth-Century French and German Philosophy. In: Lucretius and Modernity. Epicurean Encounters Across Time and Disciplines. Hg. von Jacques Lezra und Liza Blake. London 2016, S. 71–88, hier S. 73 und 76–78. 30 Johannes Rohbeck: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M., New York 1987, S. 110–124; Annette Meyer : Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008, S. 130f.; Eric Achermann: Kraft der Subsistenz. Ökonomisches Handeln und die Periodisierung des Fortschritts. In: Die Gestaltbarkeit der Geschichte (1750–1850). Hg. von Kurt Bayertz und Matthias Hoesch. Hamburg 2018, S. 245–268.

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keit] andererseits zielt.31 Mag bei Lukrez die Bedürfnislehre auch in Konkurrenz zur Vorstellung eines goldenen Zeitalters stehen, mag die Natur dem Menschen bald Mutter, bald Stiefmutter32 sein, so segelt die Rezeptionsgeschichte von De rerum natura eindeutig unter der Flagge der „imbecillitas“ als Signum einer spezifisch epikureischen Anthropologie und nicht etwa unter derjenigen der Menschenwürde, welche für die Stoa zu stehen kommt.33 Bei Lukrez findet sich so das Spannungsfeld eröffnet, das den Ursprung der Kultur und deren Verhältnis zur Natur bestimmt: Notwendigkeit und imbecillitas einerseits sowie Annehmlichkeit und sociabilitas andererseits verteilen sich auf zwei Klassen von Künsten, die dem Selbsterhalt sowie der Herausbildung von Zivilisation und Geselligkeit dienen. Hamann ordnet nun die Elemente dieser Kulturentstehungslehren neu, und er tut es, indem er die Wachtersche Begrifflichkeit mit der Baconschen kombiniert, das heißt „kyriologisch“, „symbolisch oder hieroglyphisch“ und „charakteristisch“ auf die Trias Poesie, Historie und Philosophie projiziert. Damit verändert er zum einen die Baconsche Reihenfolge Historie, Poesie und Philosophie, zum anderen legt er die Phasen und deren Folge neu aus: Poesie ist Mimesis als Vorstellung und Ausdruck, Historie hingegen sinnliches Zeichen für geistige Inhalte, Philosophie schließlich bedient sich willkürlicher Zeichen, die im Guten für Vorstellungen oder Sachen, im Schlechten aber für Worte und Zeichen stehen. Bemerkenswert ist diese Veränderung der Abfolge ebenso wie die sich daraus ergebende Umkehrung der Hierarchie der geistigen Fähigkeiten. Die Aufmerksamkeit gilt hauptsächlich der Gegenwärtigkeit und Simultaneität, das heißt der ursprünglichen Identität von Eindruck und Ausdruck. Es lohnt sich, diesen freien Umgang mit Bacon erneut gegen die andere, den Zeitgenossen ungleich bekanntere Bacon-Rezeption im Discours pr8liminaire zu halten, der Hamanns Aesthaetica nur wenige Jahre voraus hat. Für d’Alembert nämlich muss die richtige Reihenfolge Gedächtnis, Vernunft und Einbildungskraft heißen:

31 [Jean le Rond d’Alembert:] Discours pr8liminaire des Pditeurs. In: Encyclop8die, ou Dictionnaire raisonn8 des sciences, des arts et des m8tiers. Bd. 1. Paris 1751, S. iij. 32 Zu den Quellen des antiken Topos von der „natura noverca“, wie er prominent bei Lukrez (De rerum natura, 5, 222–225) und bei Plinius (Naturalis historia, 7,1) auftritt, vgl. Wolfgang Hübner: Der Mensch in Aelians Tiergeschichten, Antike und Abendland 30 (1984), S. 154– 176, hier S. 174f.; zu dessen zentraler Funktion in Herders Sprachursprungsschrift vgl. Wolfgang Proß: Anmerkungen zu Herders ,Über den Ursprung der Sprache‘. In: Johann Gottfried Herder: Werke. Hg. von W. Proß. Bd. II. München 1987, S. 952f. 33 Dass eine Anthropologie, die den Menschen als Mängelwesen bestimmt, sich gegen die stoische Tradition richtet, vgl. Urs Dierauer : Mensch und Tier im Denken der Antike. Studien zur Tierpsychologie, Anthropologie und Ethik. Amsterdam 1977, S. 275–278, sowie Egert Pöhlmann: Der Mensch – das Mängelwesen? Zum Nachwirken antiker Anthropologie bei Arnold Gehlen. In: Archiv für Kulturgeschichte 52/2 (1970), S. 297–312, hier S. 302f.

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Die Gegenstände, mit denen sich unsere Seele beschäftigt, sind entweder geistig oder körperlich, und unsere Seele beschäftigt sich mit diesen Gegenständen entweder direkt oder mithilfe reflektierter Ideen. Das System direkter Kenntnisse kann einzig in der rein passiven und quasi-maschinellen Sammlung eben dieser Kenntnisse bestehen, und dies nennt man Gedächtnis. Die Reflexion aber ist von zweierlei Art, […]: Entweder sinnt sie über die Gegenstände direkter Ideen nach oder sie ahmt diese nach. So sind das Gedächtnis, die Vernunft und die Einbildungskraft die drei unterschiedlichen Arten, mit denen unsere Seele auf die Gegenstände unseres Denkens einwirkt. Wir verstehen die Einbildungskraft hier also nicht als Fähigkeit, sich Gegenstände vorzustellen, denn diese Fähigkeit ist nichts anderes als das Gedächtnis sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände, Gedächtnis, das sich in ständiger Arbeit befände, wäre es nicht durch die Erfindung der Zeichen erleichtert worden. Wir verstehen die Einbildungskraft in einem edleren und genaueren Sinn als Talent zu nachahmender Schöpfung. Diese drei Fähigkeiten bilden vorerst die drei allgemeinen Abteilungen unseres Systems und die drei allgemeinen Gegenstände menschlicher Erkenntnis: die Geschichte, die in Beziehung steht zum Gedächtnis, die Philosophie, welche die Frucht der Vernunft ist, und die schönen Künste, welche die Einbildungskraft hervorbringt. Wenn wir die Vernunft vor die Einbildungskraft stellen, so hat das seinen guten Grund und stimmt mit dem natürlichen Fortschritt der Geistestätigkeiten überein; die Einbildungskraft nämlich ist eine schöpferische Fähigkeit; der Geist aber denkt, bevor er darauf sinnt, Neues zu erschaffen, zuerst über dasjenige nach, was er sieht und kennt.34

Dem Parallelismus der Entwicklung geistiger Fähigkeiten und kultureller Stufen können wir in den Ursprungs- und Kulturentstehungstheorien des 18. Jahrhunderts allenthalben begegnen. Hamann nimmt insofern eine Sonderstellung ein, dass er die gängigen Topoi nicht nur kombiniert und rekombiniert; er verbindet sie mit theologischen Lehrelementen, die nicht primär und vorgängig auf den heilsgeschichtlichen Rahmen einer providentiell eingerichteten Uni34 [d’Alembert:] Discours pr8liminaire (wie Anm. 31), S. xvi: „Les objets dont notre ame s’occupe, sont ou spirituels ou mat8riels, & notre ame s’occupe de ces objets ou par des id8es directes ou par des id8es r8fl8chies. Le systHme des connaissances directes ne peut consister que dans la collection purement passive & comme machinale de ces mÞmes connaissances; c’est ce qu’on appelle m8moire. La r8flexion est de deux sortes, […]; ou elle raisonne sur les objets des id8es directes, ou elle les imite. Ainsi la m8moire, la raison proprement dite, & l’imagination, sont les trois manieres diff8rentes dont notre ame opere sur les objets de ses pens8es. Nous ne prenons point ici l’imagination pour la facult8 qu’on a de se repr8senter les objets; parce que cette facult8 n’est autre chose que la m8moire mÞme des objets sensibles, m8moire qui seroit dans un continuel exercice, si elle n’8toit soulag8e par l’invention des signes. Nous prenons l’imagination dans un sens plus noble et plus pr8cis, pour le talent de cr8er en imitant. / Ces trois facult8s forment d’abord les trois divisions g8n8rales de notre systHme, & les trois objets g8n8raux des connaissances humaines; l’Histoire qui se rapporte / la m8moire; la Philosophie, qui est le fruit de la raison; & les Beaux-arts, que l’imagination fait na%tre. Si nous plaÅons la raison avant l’imagination, cet ordre nous paro%t bien fond8, & conforme au progrHs naturel des op8rations de l’esprit: l’imagination est une facult8 cr8atrice; & l’esprit, avant de songer / cr8er, commence par raisonner sur ce qu’il voit, et ce qu’il conna%t.“

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versalhistorie,35 sondern vielmehr ästhetisch auf die zentralen Mysterien – Trinität und Menschwerdung – zielen. Wie bei Lukrez steht die Natürlichkeit des Menschen bei Bacon im Zeichen natürlicher Mangelhaftigkeit.36 ,Natürlichkeit‘ reimt auf natürliche Beschränktheit; die Menschennatur wird vorgängig nicht durch ihren Anteil an der Vernunft, sondern durch die Sinne bemessen. Und darin scheint auch einer der wesentlichen Gründe für Hamanns Bacon-Bewunderung zu liegen, dass die Gründer- und Galionsfigur des Britischen Empirismus nämlich eine Anthropologie favorisiert, die den Menschen als von Bedürfnissen und deren Befriedigung beherrschtes Wesen versteht. Anders als bei Lukrez ist der Mangel bei Bacon jedoch nicht dem Naturzustand des Menschen eigen, er resultiert vielmehr aus dem Sündenfall: Nachdem die Schöpfung vollbracht war, lesen wir, dass der Mensch ins Paradies gesetzt wurde, um darin zu arbeiten; dieses Werk konnte in nichts anderem bestehen als in demjenigen, was zur Kontemplation gehört, soll heißen, dessen Ziel sich nicht auf irgendeine Notwendigkeit, sondern einzig auf Vergnügen und mühelose Tätigkeit beziehen lässt. Da damals die Kreatur weder Sträuben, noch Schweiß des Angesichts kannte, so folgt daraus notwendig, dass die menschlichen Handlungen mit Genuss und Kontemplation, nicht aber mit Arbeit oder Werk verglichen wurden.37

„Gartenbau älter als der Acker“, sagt Hamann; und nicht „Arbeit“, die auf „Notwendigkeit“ (necessitas) zielt, können wir mit Bacon ergänzen. Ackerbau nämlich ist Folge des Falls und steht im Zeichen des „Mangels“ (necessitas). Was der Sündenfall für eine Bedeutung in Hamanns theologischem Ursprungs- und Entwicklungsdenken hat, ist eine heikle Frage. Bekanntlich ist die Vorstellung der Kondeszendenz für Hamann fundamental. Die unendliche Distanz, die Gott vom Menschen trennt, macht den göttlichen Ratschluss, sich dem Menschen mitzuteilen, zu einem unbegreiflichen Mysterium. Da es nun diese Distanz zwischen Allgegenwart und Beschränktheit, zwischen Vollkommenheit und 35 Vgl. dazu Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006, namentlich zu Fleury und Bossuet S. 86–107. 36 Zur Lukrez-Rezeption im Zeitalter der Aufklärung vgl. Wilson: Lucretius in EighteenthCentury French and German Philosophy (wie Anm. 29), S. 78; Wolfgang Fleischmann: The Debt of the Enlightenment to Lucretius. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 25 (1963), S. 631–643; sowie ders.: Lucretius and English Literature, 1680–1740. Paris 1964, S. 17: „it was Bacon, who first took Lucretius, the philosopher, seriously.“ 37 Bacon: De augmentis scientiarum (wie Anm. 6), S. 465: „Post creationem absolutam legimus Hominem collocari in Paradiso, ut illic operaretur ; quod quidem opus aliud esse non poterat quam quale pertinet ad contemplandum; hoc est, cujus finis non ad necessitatem aliquam, sed ad delectationem et activitatem sine molestia, referri possit. Cum enim tunc temporis nulla potuerit esse creatura reluctatio, nullus sudor vultus, necessario sequitur actiones humanas ad voluptatem et contemplationem, non ad laborem aut opus, comparatas fuisse.“

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Mangel ist, die Gott überwindet, um sich in die Zeitlichkeit seiner Schöpfung einzulassen, kann die primordiale Natur nicht ohne Mangel, Differenz und unendliche Distanz zu Gott gedacht werden. Das heißt nicht, dass die Kondeszendenz in einem gefährlichen Widerspruch zu den konfessionell und innerkonfessionell heftig umstrittenen Interpretationen des Sündenfalls stünde.38 Allein die analoge Übertragung der Kondeszendenz aus der Christologie in die Schöpfungslehre macht die Kreatur bereits vor dem Fall zu einer Verkörperung eben jener Idiomenkommunikation, die für Christus konstitutiv ist. Wer zudem das Wechselspiel von Bedürfnis als Mangel und Befriedigung als Genuss als die eigentlichen und ursprünglichen Triebräder menschlicher Natur erkennt, der rückt von Erklärungen ab, die Sündhaftigkeit und animalische Verfasstheit des Menschen in eins zu setzen trachten.39 Ja, mehr noch, die Schöpfung steht notwendig im Zeichen des „Uebel[s]“, das Hamann von dem Bösen nicht kategorisch geschieden sieht: „Das Daseyn eines jeden endlichen Wesens ist schon ein würkliches Uebel.“40 Und ebenso steht die Gottebenbildlichkeit bei Hamann nicht in Opposition zur sinnlichen Körperlichkeit,41 die Gottebenbildlichkeit ist 38 Vgl. dazu die hervorragende Darstellung bei Anselm Schubert: Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung. Göttingen 2002, passim. 39 Zu den theologischen Risiken von Hamanns Sündenverständnis vgl. Friedemann Fritsch: Communicatio idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns. Berlin, New York 1999, S. 54–59. 40 Biblische Betrachtung[en] eines Christen (1758). In: Londoner Schriften, 270. 41 Sehr überzeugend hat Graubner das supralapsarische Verständnis des Sündenfalls beim jungen Hamann nachgewiesen, namentlich unter dem Einfluss von Samuel Shuckfords Abhandlung von der Schöpfung und dem Falle Adams; Hans Graubner : ,Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse‘. Der Theodizee-Entwurf des jungen Hamann in der Auseinandersetzung mit Hume, Sulzer, Shuckford und Hervey. In: Acta 2006, 255–291, hier vor allem 258–262. – Dass die Gottebenbildlichkeit als eine äußere, der sinnlichen Erscheinung geschuldete, gedacht wird, hierzu Samuel Shuckford: Abhandlung von der Schöpfung und dem Falle Adams nebst einer Einleitung worinnen theils einige zu seiner Uebereinstimmung der Biblischen und Profan=Scribenten erläutert theils einige Widerlegungen der neuern Religionsfeinde absonderlich des Lord Bolingbrocks widerleget werden. Hamburg 1755, S. 77f.: „Es ist eine in dem Hebräischen Texte nicht ungewöhnliche Redensart, daß von Dingen, die vortrefflichere Eigenschaften als andere besitzen, die blos gemeine Vollkommenheiten haben, gesagt wird, daß sie von Gott sind. Nach dieser Art zu reden werden Bäume, von einer außerordentlichen Höhe, Bäume Gottes, oder Bäume des Herrn genannt; […]. Auf eben die Art kann auch von dem Menschen gesagt werden, daß er nach dem Ebenbilde Gottes gemacht sey. Seine äußere Gestalt war ganz anders, weit ehrwürdiger, weit vortrefflicher als die Gestalt als der andern Geschöpfe der Welt […]. Der Apostel [Paulus] untersucht hier [1Ko 11,7] nicht die Würde des Gemüths oder der Seele des Mannes oder Weibes, sondern er betrachtet, wie sie äußerlich erscheinen und sich kleiden sollen, weil der Mann das Ebenbild Gottes ist. Seine Gestalt war original, nicht die Copey von einer andern, und daher wird ihre ursprüngliche Vortrefflichkeit vor allen andern dadurch ausgedrückt, daß es heißt, sie sey von Gott. Aber die Gestalt des Weibes war in dieser Absicht schlechter, sie war nach der Gleichheit des Mannes gemacht, es sollte also das Weib eine Decke auf dem Haupte tragen, um dadurch anzuzeigen, daß sie nicht suae formae, nicht das Originalmuster der Bildung sey, die sie hätte;

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vielmehr in der äußeren Gestalt ursprünglich gegeben und artikuliert sich im Akt göttlicher Mitteilung durch Sinne und Empfindungen stets von neuem. Hamann versteht den Sündenfall wohl primär als Abkehr von dem lebendigen und lebhaften Gespräch zwischen Gott und dem Menschen, als eigentliche Kommunikationsstörung, die sich in Abwendung und Ungehorsam vollzieht.42 Sekundär und analog hierzu artikuliert sich der Sündenfall, ganz im Sinne Bacons, im Kraftverlust der Zeichen. Die Trias ,poetisch – kyriologisch, historisch – hieroglyphisch, philosophisch – charakteristisch‘ bildet die Folge von göttlicher Schöpfung sowie prä- und postlapsarischer Rede ab. Auf die kyriologische Rede des göttlichen ,Poeten‘, i. e. Schöpfers, folgt das hieroglyphische Sprechen Adams, das Ebenbild Gottes. Die verführende und verführte Vernunft schließlich äußerst sich in dem domestizierenden Ästhetizismus und Systemglauben, die charakteristisch und philosophisch sich anschicken, die Natürlichkeit aus der Natur zu vertreiben. Dies geschieht in der Sprache des Ebenbildes des Ebenbildes, nämlich Eva: Der hieroglyphische Adam ist die Historie des ganzen Geschlechts im symbolischen Rade: – – der Charakter der Eva, das Original zur schönen Natur und systematischen Ökonomie […].43

Die wesentlichen Momente des Sündenfalls, Erkenntnis von Gut und Böse und Zweigeschlechtlichkeit, sind für Hamann „signaculum Creatoris“ [Zeichen Gottes]. In dieser nun auf den Sündenfall hin ausgedeuteten communicatio idiomatum findet sich nicht nur „vielleicht“ der „Schlüssel“ zum Verständnis einer Übertragung „ad placitum nach der Analogie“, die in unsere Begriffsbildung eingeht,44 sondern vielmehr „ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unserer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung.“45 sie war hierinn geringer als der Mann, weil die Würde ihrer Bildung ihm zugehörte, sie war die Herrlichkeit des Mannes, die hohe Trefflichkeit ihrer Bildung war nur eine Copey von der Bildung, worinn der Mensch vor ihr erschaffen war.“ 42 Für eine eingehende Darstellung von Hamanns sprachtheologischer Erbsündenlehre vgl. Tom Kleffmann: Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns. Tübingen 1994, S. 247–305. 43 Aesthaetica in nuce, S. 171; N II, 200. 44 Schürze von Feigenblättern (1777), N III, 212: „Die Erkenntniß des Guten und Bösen und der zureichende Grund eines auf diesen Widerspruch beruhenden Systems ist das älteste und höchste Problem der Vernunft, der wir soviel Abstractiones ad placitum als Wörter auf der Welt zu verdanken haben; unterdeßen der Grundbegriff des Guten und Bösen so identisch und transcendent als der natürliche Unterscheid der Geschlechter ein verum signaculum Creatoris ist. Weil aber alles, was durch den natürlich=gemeinen Menschensinn und für selbigen irgend hervorgebracht worden und es je werden kann, das Ebenbild der sichtbaren Schöpfung und des Werkzeuges ihrer Offenbarung und Oekonomie an sich trägt, auch gar kein ander Muster noch Charakter des Gepräges stattfinden kann: so ist es mehr ein physisches Bedürfnis als ästhetische Nachahmung oder philosophische Erfindung, wenn der

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Das Heil kann denn bei Hamann auch nicht aus dem Baconschen Programm einer tätigen Naturphilosophie folgen, welche die Möglichkeit intuitiver Schau nach dem Fall für verwirkt erachtet und einzig durch den Nutzen empirischer, mühseliger Forschung zu heilen weiß.46 Vielmehr scheint Hamann eine Rückkehr zur Kindlichkeit47 und dem einfachen historischen Sinn des mosaischen Berichts zu empfehlen, um der Entfremdung des Menschen von der Schöpfung zu begegnen.48 Jedem Kind nämlich, teilt Hamann Kant mit, sei der Plan der Schöpfung eingeboren:

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Begriff des Geschlechts bis auf die Bilder unserer Begriffe übertragen und denselben größthenteils ad placitum nach der Analogie aller Abstractionen einverleibt worden. Hier also vielleicht liegt der Schlüssel.“; N III, 212. – Vgl. hierzu John R. Betz: After Enlightenment. The Post-Secular Vision of J. G. Hamann. Chichester 2008, S. 180f. Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache. [Königsberg] 1770 [recte: 1772], S. 3; N III, 27: „Wenn man Gott als die Ursache [spätere handschriftliche Korrektur : „zum Ursprung“] aller Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden, voraussetzt; so ist jedes gezählte Haar auf unserm Haupte eben so göttlich, wie der Behemoth, jener Anfang der Wege Gottes. Der Geist der mosaischen Gesetze erstreckt sich daher bis auf die ekelsten Absonderungen des menschlichen Leichnams. Folglich ist alles göttlich, und die Frage vom Ursprung des Uebels läuft am Ende auf ein Wortspiel und Schulgeschwätz hinaus. Alles Göttliche ist aber auch menschlich; weil der Mensch weder wirken noch leiden kann als nach der Analogie seiner Natur, sie sey eine so einfache oder zusammengesetzte Maschiene, als sie will. Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unserer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung.“ – Vgl. hierzu die überzeugende Darstellung von Ulrich Moustakas: Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann. Berlin, New York 2002, S. 99–103. Stephen Gaukroger: Francis Bacon and the Transformation of Early-Modern Philosophy. Cambridge 2001, S. 127. Vgl. Brief an den Bruder vom 10. April 1756, ZH I, 178: „Der Gedanke des Autors [i. e. Shuckford] hat mir insbesondere sehr gefallen, daß dieser Fall über den ersten Menschen verhängt worden, den seine Kindheit noch retten konnte, daß er durch ein Gebot gefallen, deßen Inhalt mit seinem Glück nicht unmittelbar zusammenhing. Wär es ein wenig gleichgiltiger Gebot, ein nothwendigeres, das man sich dieser Behältniswörter bedienen darf, als wir Thörichten zur Rettung der göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit zu verlangen scheinen: so würden wir ohne Hülfe der Strafe deßelben vielleicht unterliegen müßen. Hätten wir es bey mehr Einsichten von Gott und später gebrochen: so wäre der Fall gleich und unsere Schuld muthwilliger gewesen. Worüber beschweren wir uns endlich. Hat uns Gott nicht genung gethan an statt daß wir ihm hätten bezahlen sollen. Leben wir kürzer wie unsere ersten Eltern; so reichten ihre langen Jahre ihrer Unerfahrenheit kaum zu den ,wenigen‘ Erkenntnissen zu die uns jetzt eine Woche schaffen kann. Dank Gott daß euch weniger Zeit zu sündigen gelaßen wird.“ Hamann bezieht sich hier auf Shuckford: Abhandlung von der Schöpfung und dem Falle Adams, hier wahrscheinlich S. 269f. Die Inhaltswiedergabe ist jedoch (auch auf das gesamte Werk hin betrachtet) sehr frei, insbesondere was Aussagen wie „den seine Kindheit noch retten konnte“ oder „daß euch weniger Zeit zu sündigen gelaßen“. Aesthaetica in nuce, S. 178f.; N II, 202: „– – und wahrlich, wahrlich, Kinder müssen wir werden, wenn wir den Geist der Wahrheit empfahen sollen, den die Welt nicht fassen kann, denn sie sieht ihn nicht, und (wenn sie ihn auch sehen sollte) kennt ihn nicht.“

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Diese Betrachtungen gehen darauf hinaus, Sie zu bewegen, daß Sie auf keinen andern Plan ihrer Naturlehre sinnen, als der schon in jedem Kinde, das weder Heyde noch Türke ist, zum Grunde liegt, und der auf die Cultur Ihres Unterrichts gleichsam wartet. Der beste, den Sie an der Stelle setzen könnten, würde menschliche Fehler haben, und vielleicht größere, als der verworfene Eckstein der mosaischen Geschichte oder Erzählung. Da er den Ursprung aller Dinge in sich hält; so ist ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein logischer, er mag so künstlich seyn als er wolle. Die Natur nach den sechs Tagen ihrer Geburt ist also das beste Schema für ein Kind, das diese Legende ihrer Wärterin so lange glaubt, bis es rechnen, zeichnen und beweisen kann; und dann nicht Unrecht thut, den Zahlen, Figuren und Schlüssen, wie erst seinen Ammen zu glauben. Ich wundere mich, wie es dem weisen Baumeister der Welt hat einfallen können uns von seiner Arbeit bey dem großen Werk der Schöpfung gleichsam Rechenschaft abzulegen; da kein kluger Mensch sich leicht die Mühe nimmt Kinder und Narren über den Mechanismus seiner Handlungen klug zu machen. Nichts als Liebe gegen uns Säuglinge der Schöpfung hat ihn zu dieser Schwachheit bewegen können.49

Ungeachtet allen Fortschrittsglaubens soll uns die Ursprungs- und Entwicklungsgeschichte unserer Ideen lehren, dass Erkenntnis nicht in der Negation sinnlicher und halb-sinnlicher Operationen liegen kann, sondern vielmehr auf eine vorurteilsfreie, für Hamann also begriffskritische Analyse unserer Empfindungen und Erfahrungen rekurrieren muss. Wer die Erkenntnis ihres Ursprungs in den Sinnen beraubt, der ist ein Schinder. In diesem negativen Moment erkennt Hamann den gemeinsamen Nenner mit Bacon: – Fragt ihr nicht auch: Wodurch ihr die Natur aus dem Wege geräumt? – – – Bacon beschuldigt euch, daß ihr sie durch eure Abstractionen schindet. Zeugt Bacon die Wahrheit; wohlan! so werft mit Steinen – und sprengt mit Erdenklößen oder Schneeballen nach seinem Schatten – – –50

Es ist also eine gemeinsame empiristische Grundüberzeugung, die Hamanns massiven Rekurs auf Bacon in der Aesthaetica zu erklären vermag.51 In der Wechselbeziehung von Ausdruck und Eindruck, in der ,Kyriologie‘ des Zeichens, liegt die Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet, die sich in der ,Spontaneität‘ seiner sprachlichen und semiotischen Veräußerung manifestiert.

49 Brief an Immanuel Kant 1759, ZH I, 446f. 50 Aesthaetica in nuce, S. 190; N II, 206. 51 Aesthaetica in nuce, S. 163, 165, 170, 174, 175–178, 185, 190, 193, 203, 204; N II, 197, 198, 199, 201, 202, 204, 206, 207, 210, 211.

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3.

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Schema

Ursprung und Geschichte sind für Hamann ganz selbstverständlich auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu beziehen. Diese erscheint ihm als natürliche Veranlagung und nicht etwa – wie es die katholische Kontroverstheologie will – als Resultat einer hinzutretenden (superaddita) übernatürlichen Gnade. Für Hamann äußert sich die Gottebenbildlichkeit in einem „sichtbaren Schema“: Endlich krönte GOTT die sinnliche Offenbarung seiner Herrlichkeit durch das Meisterstück des Menschen. Er schuf den Menschen in Göttlicher Gestalt; – – zum Bilde GOttes schuf Er ihn. Dieser Rathsch[l]uß des Urhebers löst die verwickeltesten Knoten der menschlichen Natur und ihrer Bestimmung auf. Blinde Heyden haben die Unsichtbarkeit erkannt, die der Mensch mit GOTT gemein hat. Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Aeußerste der Arme sind das sichtbare Schema, in dem wir einher gehn; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns; – Exemplumque DEI quisque est in imagine parua [*] [*] Manilius Astron. lib. IV.52

Die „verhüllte Figur des Leibes“ sowie das „Anthlitz des Hauptes“ stehen für den verklärten Christus. Das „Antlitz“ des transfigurierten Heilands erstrahlte „wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht“ (Mt 17,1–8).53 Das „sichtbare Schema“ aber greift einen Begriff auf, den Hamann von Paulus her kennt und hier auch den Zusammenhang zwischen der Erniedrigung, Entäußerung54 und Verklärung55 Christi sowie dessen „Göttlicher Gestalt“56 herstellt. Der von Hamann geschätzte Bengel kommentiert in seinem Gnomon das „ja· sw¶lati erqehe·r ¢r %mhqypor“ [und seinem Benehmen nach als Mensch befunden] dahingehend, dass er „sw/la“ als „habitus hominis“ der „forma Dei“ entgegensetzt und anschließend mit „cultus, vestitus, victus, gestus, sermones & actiones“ [Aussehen, Kleidung, Lebensführung, Gebärden, Reden und Hand-

52 Aesthaetica in nuce, S. 164, N II, 198. 53 Eine typologische Entsprechung stellen das strahlende Antlitz Moses’ und die Hülle dar, mit welcher dieser das Gesicht bedeckt, nachdem er die Gesetzestafeln auf Sinai empfangen; Ex 34,29–35. Hamann greift das Bild und seine typologische Bedeutung in Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten ([Riga] 1784, S. 37f.; N III, 304) auf. – Vgl. dazu Timothy Beech: Hamann’s Prophetic Mission. A genetic study of three late works against the Enlightenment. London 2010, S. 148f. 54 Phil 2,7: „!kk’ 2aut¹m 1j´mysem loqvµm do¼kou kab¾m“ [sondern er entäußerte sich, indem er die Gestalt eines Knechtes annahm]. 55 Phil 3,21: „letaswglat¸sei t¹ s_la“ [„er wird den Leib umwandeln/verklären“]. 56 Phil 2,6: „1m loqv0 heoO“.

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lungen] paraphrasiert.57 So rückt ,Schema‘ in die Nähe eines von Hamann gerne zitierten Apophthegmas, das Cicero und Quintilian Demosthenes zuschreiben. Auf die Frage, was das wichtigste an der Rede sei, antwortet dieser, dass die „actio“ (griechisch rp|jqisir; hypokrisis) den ersten, den zweiten und den dritten Rang einnehme.58 Das „Rede, daß ich dich sehe!“59 stellt den Übergang von Figur zu Schema dar ; in der Rede als Handlung sind Figur und Erscheinung kopräsent. Wir finden in ,Schema‘ also das ganz Bedeutungsspektrum von Wandel, Umwandlung und Verwandlung des Sichtbaren, wodurch sich der Mitteilende dialogisch und unter Masken durch das Äußere im Inneren zu erkennen gibt.60 Das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wirft die schwierige Frage auf, welche Konjunktion zwischen die beiden letzten Sätzen des zitierten Abschnitts sinngemäß einzufügen wäre. Geht der Verstand auf „Blinde Heyden …, in dem [auch] wir einher gehen“ oder aber „Blinde Heyden …, in dem wir [hingegen] einher gehen“? Das heidnische Noumenon, das Unsichtbare, scheint nicht dasjenige zu sein, was Hamann hier herausstreichen möchte [also ,auch wir‘], sondern das christliche Phainomenon [also ,wir hingegen‘], nämlich der ,Schematismus‘, wodurch und womit Gott sich dem Menschen zeigt und mitteilt. Dieser Gott ist nicht getrennt, sondern kommunikativ anverwandelt, und ebenso anverwandelt ist der Mensch als göttliches Ebenbild. Dass dieses Ebenbild auch hier christologisch zu verstehen ist, zeigt Hamann in gewohnter Manier durch ein Bibelzitat an: Christus „ist das ebenbilde des vnsichtbaren Gottes / der Erstgeborner vor allen Creaturen“ (Kol 1,15). Im Schema finden wir den christologischen Entwurf, der das gesamte Menschengeschlecht in seiner ganzen Geschichte präfiguriert. Die Übersetzungstätigkeit, welche die menschliche Kommunikation bestimmt, ist somit ein Über-Setzen, das im Akt der Anverwandlung vom Göttlichen und Menschlichen ,Vorstellung‘ und ,Vorgriff‘ vereint. Zu wahrer Erkenntnis und angemessenem Ausdruck befähigt ein Unterricht, den das Buch der Natur und das Buch der Geschichte erteilt. Gelesen wird die doppelte Offenbarung auf die historische Erfahrung und die zukunftsgerichtete Ahnung hin. Und so begegnen wir neben dem In-Erscheinung-Treten einer Figur einer zusätzlichen Bedeutung von ,Schema‘ als „Plan“61 in Hamanns Entwurf 57 Johann Albrecht Bengel: Gnomon Novi Testamenti in qvo ex nativa verborvm vi simplicitas, profvnditas, concinnitas, salvbritas sensvvm coelestivm indicatur. Tübingen 1742, S. 799. 58 Der Ausspruch wird bei Cicero (De oratore III, 56 [213]) und Quintilian (Institutio oratoria XI, 3, 6) überliefert. 59 Aesthaetica in nuce, S. 166; N II, 198. 60 Vgl. dazu Eric Achermann: Johann Georg Hamann. In: De Gruyter Handbuch ,Brief‘. Hg. von Eve-Marie Becker, Isabel Marie Schlinzig, Jörg Schuster und Jochen Strobel. Berlin, New York 2020, S. 946–953. 61 Im Englischen ist die Bedeutung von ,scheme‘ als Plan noch deutlicher als im Deutschen, wo jedoch auch ,nach einem Schema verfahren‘ werden kann.

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einer Kinderphysik, den er 1759 an die Adresse Kants richtet: Als „das beste Schema für ein Kind“ gilt ihm hier die „Natur“, und zwar als Geschichte, das heißt „nach den sechs Tagen ihrer Geburt“.62 Offensichtlich kommen ,Aussehen‘, ,Gestalt‘ oder ,habitus hominis‘ hier als Synonyme nicht in Betracht. Passender scheint die Bedeutung, die Bacon den Begriffen „Schematismus“ und „Metaschematismus“ in seinem Novum Organum gibt: Der menschliche Intellekt zielt kraft seiner ihm eigenen Natur auf das Abstrakte; und gibt vor, dass dasjenige, was im Fluss ist, beständig sei. Besser aber ist es, die Natur zu zerlegen, als zu abstrahieren; was Demokrits Schule tat, die tiefer in die Natur drang als die übrigen. Die Materie muss vielmehr in ihrem Schematismus und Metaschematismus betrachtet werden, und das Gesetz der Tätigkeit und der Bewegung; die Formen nämlich sind Erfindungen des menschlichen Geistes, es sei denn, man ziehe es vor, diese Gesetze der Tätigkeit ,Formen‘ zu nennen.63

Gesetze der Tätigkeit oder des Wandels deuten den neuen Begriff von ,Form‘ aus, der Bacon – hier wie anderswo64 – dazu dient, die aristotelische Vorstellung substantieller Formen zu disqualifizieren.65 Die Begriffe von „Schematismus“ und „Metaschematisus“ stellt er der Abstraktion entgegen, die das fehlgeleitete und von der sinnlichen Erfahrung entfremdete Erkenntnisvermögen hervor62 Brief an Kant von Herbst 1759, ZH I, 447. – Vgl. dazu Josef Simon: Zwei Liebesbriefe an einen Lehrer der Weltweisheit, der eine Physik für Kinder schreiben wollte. In: Johann Georg Hamann. Insel-Almanach auf das Jahr 1988. Frankfurt a. M. 1987, S. 105–115. 63 Bacon: Novum Organum (wie Anm. 27), I, 51, S. 168: „Intellectus humanus fertur ad abstracta propter naturam propriam; atque ea, quae fluxa sunt, fingit esse constantia. Melius autem est naturam secare, quam abstrahere; id quod Democriti schola fecit, quae magis penetravit in naturam, quam reliquae. Materia potius considerari debet, et ejus schematismi, et meta-schematismi, atque actus purus, et lex actus sive motus; Formae enim commenta animi humani sunt, nisi libeat leges illas actus Formas appellare.“ 64 Vgl. ebd., II, 17, S. 257f.: „Nos enim quum de Formis loquimur, nil aliud intelligimus quam leges illas et determinationes actus puri, quae naturam aliquam simplicem ordinant et constituent; ut calorem, lumen, pondus; in omnimoda materia et subjecto susceptibili.“ [Wir aber, wenn wir von ,Formen‘ sprechen, verstehen darunter nichts anderes, als jene Gesetze und Determinationen reiner Akte, die eine jede einfache Natur anordnet und konstituiert, wie Wärme, Licht, Gewicht, in jeglicher Materie und jeglichem Subjekt, die diese aufzunehmen fähig sind.]; ebd., II, 2, S. 228: „Licet enim in natura nihil vere existat praeter corpora individua, edentia actus puros individuos ex lege; in doctrinis tamen, illa ipsa lex, ejusque inquisitio et inventio atque explicatio, pro fundamento est tam ad sciendum quam ad operandum. Eam autem legem, ejusque paragraphos, Formarum nomine intelligimus; […].“ [Mag in der Natur auch nichts wahrhaft existieren außer individuelle Körper, die reine individuelle Akte in Übereinstimmung mit dem Gesetz ausführen, so ist in der [Natur]lehre dieses selbe Gesetz sowie dessen Untersuchung, Entdeckung und Erklärung das Fundamt sowohl des Wissens als auch des Handelns. Es ist dieses Gesetz und dessen Paragraphen, die wir unter der Bezeichnung ,Formen‘ verstehen.] 65 Zu Bacons Kritik am aristotelischen Formbegriff vgl. Gaukroger : Francis Bacon (wie Anm. 46), S. 138–141; Paolo Rossi: Francis Bacon. From Magic to Science. Abingdon, New York 1968, S. 42–48.

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bringt. Die empiristische Kritik an den abstrakten Begriffen favorisiert das sich Verändernde. Nur widerwillig möchte Bacon es noch als „Form“ bezeichnet, sondern vielmehr als den Dingen „eingeborenes“ Gesetz verstanden sehen. Mit Bezug auf die Aesthaetica sind im Anfang „allgemeine Begriffe“ oder Gesetze, die sich in den sechs Tagen der Schöpfung ebenso konkret wie exemplarisch äußern und den Schlüssel zur Erkenntnis der Naturgeschichte liefern. Diese Gesetze werden durch „geheime […] Artickel“ der Offenbarung ergänzt und damit heilsgeschichtlich verwirklicht.66 Diese Natur und deren historische Entfaltung im Sechstagewerk sollen als das „beste Schema“, als ein „historischer Plan“, der „immer besser als ein logischer“ ist,67 geglaubt und nachbildend ,vorgestellt‘ werden, wie das Kind der Amme glaubt. Wen jedoch diese „pqokexir“ (prolepsis) in ihrer Gleichzeitigkeit von Erkenntnis und Entwurf in die Irre führt, um „Gott gleich zu seyn“, der hat „aller philosophishen Erkenntniß und geseztlichen Gerechtigkeit die Bahn gebrochen“.68

66 Aesthaetica in nuce, S. 183f.; N II, 204: „Das Buch der Schöpfung enthält Exempel allgemeiner Begriffe, die GOTT der Kreatur durch die Kreatur ; die Bücher des Bundes enthalten Exempel geheimer Artickel, die GOTT durch Menschen dem Menschen hat offenbaren wollen.“ – Vgl. hierzu Kleffmann: Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont (wie Anm. 42), S. 264: „Von Exempeln statt einfach Begriffen und (Glaubens-)Artikeln ist die Rede, um zunächst zu betonen, daß ihre Offenbarung geschichtlich individuell und konkret, nicht aber ungeschichtlich allgemein gegenwärtig ist und also als positiv vorgegebene der aktuellen Übersetzung bedarf, in der sich die konkrete Allgemeinheit der offenbarten Begriffe, die Bedeutung der Artikel aktuell verwirklicht. Eine solche Übersetzung oder Konkretion scheint hier nicht gegeben und damit der ,Inhalt‘ der Begriffe und Artikel nicht ausgesprochen zu werden. Und doch ist davon die Rede: die Einheit des Urhebers als Einheit seiner Majestät und Entäußerung – die Kondeszendenz, welche für uns definitiv ist in Christus als Inbegriff des menschlichen Wortes Gottes. Christus als Definitivität der Kondeszendenz schließt nicht nur die Wahrheit der Bibel auf, sondern auch die Bücher Natur und Geschichte als ursprünglich in der Einheit von Majestät und Entäußerung bzw. der Identität der Kommunikation von Gott und Mensch vermittelte Äußerungen.“ 67 Brief an Kant von Heberst 1759, ZH I, 446f.: „Diese Betrachtungen gehen darauf hinaus, Sie zu bewegen, daß Sie auf keinen andern Plan Ihrer Naturlehre sinnen, als der schon in jedem Kinde, das weder Heyde noch Türke ist, zum Grunde liegt, und der auf die Cultur Ihres Unterrichts gleichsam wartet. Der beste, den Sie an der Stelle setzen könnten, würde menschliche Fehler haben, und vielleicht größere, als der verworfene Eckstein der mosaischen Geschichte oder Erzählung. Da er den Ursprung aller Dinge in sich hält; so ist ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein logischer, er mag so künstlich seyn als er wolle. Die Natur nach den sechs Tagen ihrer Geburt ist also das beste Schema für ein Kind, das diese Legende ihrer [sic!] Wärterin so lange glaubt, bis es rechnen, zeichnen und beweisen kann; und dann nicht unrecht thut, den Zahlen, Figuren und Schlüssen, wie erst seinen Ammen zu glauben.“ – Vgl. dazu Karlfried Gründer : Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns ,Biblische Betrachtungen‘ als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg, München 1958, S. 183f. 68 Konxompax. Fragmente einer apokryphischen Sibylle über apokalyptische Mysterien. o.O. [1779], S. 21; N III, 224. Zur irregeleiteten Prolepse als Grund für den Sündenfall vgl. den

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Das „sichtbare Schema“ also, „in dem wir einher gehen“, ist nichts anderes als der „Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns“. Es ist vorzüglich diese Stelle, die zusammen mit dem „hieroglyphische[n] Adam“ und der „Historie des ganzen Geschlechts im symbolischen Rade“69 herangezogen wird, um zu erklären, wie denn die Aesthaetica zu ihrem Untertitel Rhapsodie in Kabbalistischer Prose kam. Wilhelm Schmidt-Biggemann erkennt in der „verhüllte[n] Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Aeußerste der Arme“ den kabbalistischen Adam Kadmon, dessen Gestalt Hamann über Johann Jacob Bruckers ausführliche Darstellung der „Philosophia Iudaeorum“ gekannt haben dürfte.70 Folgen wir Brucker, so heimelt ,Schema‘ in der Tat kabbalistisch an: Die Lichtquellen, aus denen das göttliche, im erstgeborenen Menschen umfasste Licht in die emanierenden Welten fließt, werden von den Kabbalisten durch verschiedene Bilder ausgedrückt; es werden uns Personen vor Augen gestellt, die aber keine Kreaturen sind, sondern Ideen und unendliche Strahlen, die über verschiedene Rangordnungen hindurch so von der höchsten Quelle herabfließen, dass sie dennoch nicht von ihr abgetrennt sind, sondern diese Quelle vielmehr durch sich selbst auf die Schöpfung und Regierung aller Wesen ausgedehnt wird. Und so werden diese Lichtquellen bzw. Lichter und Welten ensophische Geschöpfe der Person ,Adam Kadmon‘ genannt, d. h. des ersten Menschen, da er unmittelbar aus sich selbst ist, und gleichsam erstrahlende Strahlen aus einem einzigen Mittelpunkt hervorgehen, was R. Naphtali Hirtz mittels des Schematismus von schräg aus einem Mittelpunkt hervorleuchtenden Strahlen nicht unelegant beschreibt und Irira [i. e. Abraham Cohen Herrera] mittels Sätzen nachzeichnet, die sich stark an die scholastische Metaphysik anlehnen.71

Auf den vielen Seiten, die dieser ersten Bestimmung folgen, unterzieht Brucker die Lehre von der ersten Emanation Gottes und der Quelle aller Sephiroth bei aller vorgeblichen Hochschätzung72 einer zunehmend harschen Kritik, die dem

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Kommentar von Evert Jansen Schoonhoven: HHE V, 236; Kleffmann: Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont (wie Anm. 42), S. 276. Aesthaetica in nuce, S. 171; N II, 200. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Christologische Poesie. Bemerkungen an Hamanns Aesthetica in nuce. In: ach so verstehen wir. Texte über das Verstehen. Hg. von Susanne Schulte. Münster 2014, S. 140–158, hier S. 155. Johann Jacob Brucker: Historia critica philosophiae. Bd. II. Leipzig 1742, S. 995: „Hos fontes lucidos, per quos in mundos emanantes influit lux diuina in primogenito homine comprehensa, variis iterum imaginibus exprimunt Cabbalistae, et personas nobis ex iis effingunt, quae vero non creaturae sunt, sed notiones et radii infiniti, qui per varios gradus ita a summo fonte descendunt, vt tamen ab eo non separentur, sed ipse per has extendatur ad creationem et gubernationem entium omnium. Hi itaque fontes lucidi, siue lumina, mundique ensophici personae creaturae Adam Kadmon, id est, hominis primi vocantur, eo quod ab eo immediate, et tanquam radii eradiantes ex vno centro proficiscuntur, quod R. Naphtali Hirtz schematismo radiorum ex centro oblique emicantium non ineleganter depinxit, et phrasibus ad metaphysicam scholasticam magis adaptatis delineauit Irira.“ Ebd., S. 999: Die Lehre von Adam Kadmon bilde den „nicht unwürdigen Hauptgegenstand der Kabbalistischen Philosophie“ (haud ignobile Cabbalisticae philosphiae caput).

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unauflösbaren Widerspruch von Kabbala und christlichem Trinitätsdogma gilt.73 Adam Kadmon nämlich sei eine Emanation, der Sohn Gottes im Christentum hingegen mit Gottvater gleich ewig. Zwar kennt auch Hamann die Rede von Radius und Mittelpunkt, doch ist sie ihm Ausdruck denknotwendiger Gleichzeitigkeit von Ursache, Mittel und Ziel jedweder Kommunikationshandlung: Gott, Natur und Vernunft haben eine so innige Beziehung aufeinander, wie Licht, Auge und alles, was jenes diesem offenbart, oder wie Mittelpunct, Radius und Peripherie jedes gegebenen Circuls, oder wie Autor, Buch und Leser. Wo liegt aber das Räzel des Buchs? In seiner Sprache oder in seinem Inhalt? Im Plan des Urhebers oder im Geist des Auslegers?74

Kein Kreis kommt ohne Mittelpunkt, Radius und Peripherie aus, keine Mitteilung ohne Sprecher, Botschaft und Hörer. Bedeutet für Brucker,Schema‘ in erster Linie die verräumlichte Entfaltung des sich emanierenden Gottes,75 so steht es bei Hamann für nichts anderes als für die Totalität von Ursprung, Zeichen und Plan. Um diesen Gedanken Ausdruck zu geben, scheint Hamann auf eine weit verbreitete Gottesvorstellung zurückzugreifen, nämlich auf die Rede von Gott als Kreis, dessen Mittelpunkt überall, die Peripherie nirgends ist.76 Doch – und das ist der springende Punkt –: Er folgt dieser paradoxen Vorstellung der Allgegenwärtigkeit des Umkreisten und der Unendlichkeit des Umkreisenden nicht, 73 Ebd., S. 1001f., 1008 und 1061. Brucker hält fest, dass die Gleichsetzung dreier Sephiroth mit den drei Personen des dreifaltigen Gottes einzig darin bestehen könnte, sie alle drei als das erste und alles begründende Ensoph zu erachten, womit durch ihre Ewigkeit und Unendlichkeit aber die ganze Rede von dem Ursprung der Emanation, dem „occultus occultorum“ [der Verborgene unter den Verborgenen] und „senior seniorum“ [der Ältere unter den Älteren] (S. 996) sowie „caussaque caussarum et caussatorum, fonsque fontium“ [der Ursache aller Ursachen und Verursachungen, die Quelle aller Quellen] (S. 1008) ad absurdum geführt würde. Kurz, es handelt sich bei der Gleichsetzung von Adam Kadmon mit einer der trinitarischen Personen, vorzugsweise dem Sohn, um „mataeologia“ [eitel Geschwätz], wenn nicht „fraus“ [Betrug] (S. 1061). 74 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 1. Dezember 1784, ZH V, 272. – Vgl. auch Martin Luther : Auslegung des dritten und vierten Kapitels Johannis in Predigten 1538–1540. In: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 47. Bd. (=WA 47), Weimar 1912, S. 66: „Aber der Herr weiset uns darmit den rechten grieff, Mosen und alle propheten auszulegen, un gibt zu verstehen, das Moses mit allen seinen geschiechten und Bildern auff in deute und auff Christum gehöre und ihnen meine, nemlich, das Christus sei der punct im Circkel, da der gantz Circkel aufgezogen ist, und auff in sehet, wer sich nach ime richtet, gehort auch drin. Den er ist das mittel punctlein im Circkel, und alle Historien in der heiligen schriefft, so sie recht angesehen werden, gehen auff Christum.“ 75 Brucker: Historia critica philosophiae (wie Anm. 71), S. 1004. 76 Zur Verbreitung dieses Bildes, ausgehend vom Buch der 24 Philosophen, über das gesamte westliche Abendland, vgl. Dietrich Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Halle 1937, passim.; Susanne Edel: Art. ,Sphäre. II. Unendliche Sphäre‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. IX. Basel 1995, Sp. 1376–1379.

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sondern spricht vielmehr von einfachen geometrischen Grundbegriffen, die den Kreis definieren. Der Zirkel ist kein hermetischer, der auf die mystische Vereinigung von Mittel, Zweck, Urheber und Leser drängt, sondern die Veranschaulichung einer Kommunikation in deren notwendig sprachlichen Verfasstheit sowie ebenso notwendig göttlichen Urheberschaft und menschlichen Maßstabhaftigkeit.77 Unter den Schematisierungen des Adam Kadmon, welche die Historia critica wiedergibt, kommt diejenige unserer Stelle am nächsten, die Adam Kadmon als gekrönten Regenten mit Zepter darstellt. Seine Erscheinung trägt die Namen der klassischen Dekade der Sephiroth.78 Das Schema versinnbildlicht mit „Corona“ [Krone], „Prudentia“ [Klugheit] und „Sapientia“ [Weisheit] die Trinität; sie bilden das Haupt. Die übrigen Sephiroth bezeichnen die Prädikate Gottes: „Magnitudo“ [Größe] heißt der rechte Arm, „Robur“ [Stärke] der linke, die Hüfte „Pulchritudo“ [Schönheit], die Schenkel jeweils „Victoria“ und „Gloria“, die beiden Beine „Fundamentum“. Adam Kadmon steht auf Erden, seinem „Regnum“ [Reich]. Wer sich an solchen und ähnlichen „aenigmata“ ergötzt, den verweist Brucker auf Knorrs Cabbala denudata.79 Zwar sind Leib, Antlitz und Arme hier dargestellt, doch auch Krone, Zepter, Rumpf und Beine; an anderer Stelle listet Brucker einmal „Augen, Bart, Mund, Lippen und das ganze Haupt, Brust, Arme, Füße und alle Glieder“, ein anderes Mal „Schädel, Augen, Nase, Mund, Bart und Haare, Brust, Hände und Füße“ explizit als Lichtquellen Adam Kadmons auf.80 Die Unterschiedlichkeit dieser „Schematismi“ erklärt sich Brucker dadurch, dass sie reine Produkte der Einbildungskraft seien.81 Sicher, Brucker kennt sich aus in der christlichen Kabbala, sei es in derjenigen eines Knorr von Rosenroth, der in den Sephiroth Adam Kadmons die eigentliche „adumbratio“ [äußere Gestalt] Christi erblickt, sei es in derjenigen eines Henry More, der den Genesis-Bericht der Erschaffung Adams als Hauptdokument einer ätherischen, Licht-emanatischen immerwährenden Philosophie liest.82 Seine Darstellung nimmt aber bei aller Unparteilichkeit – mehr volens denn nolens – Argumente einer apologetischen Literatur auf, die sich routiniert in der Kritik sowohl an der Kabbala als auch am (Neo-)Platonismus als abwegige allegorische 77 Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zu einer mystischen Interpretation dieses Zirkels bei Fritsch: Communicatio idiomatum (wie Anm. 39), S. 198f. 78 Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala. 15. und 16. Jahrhundert. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012, S. 18f. 79 Brucker: Historia critica philosophiae (wie Anm. 71), S. 1005. 80 Ebd., S. 995 und 1001. 81 Ebd., S. 1005: „quod a cuiuslibet imaginatione eiusmodi schematismi dependent“. 82 Vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala (1660–1850). Stuttgart-Bad Canstatt 2013, S. 143.

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Abb. 1: Brucker : Historia critica philosophiae. Bd. II. Leipzig 1742, ad pag. 1005. Wiederabgedruckt bei Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala (1660–1850), S. 318.

Lesarten christlicher Offenbarung ergeht.83 Für sie widerspricht die kabbalistische Allegorese dem Literalsinn und somit einer reformatorischen Exegese, allen voran der lutherischen. Prominent finden wir diese Kritik an der ,Jüdischen Philosophie‘, die durch die Publikation von Spinozas Ethica und deren angeblich kabbalistischen Quellen bei Autoren wie Wachter,84 Colberg85 und dem von 83 Schmidt-Biggemann nennt zurecht Bruckers Darstellung eine „Destruktion der Kabbala“ und nennt als Grund die Ablehnung der Tradition eines Origenes und Klemens sowie das protestantische Schriftprinzip; vgl. ebd., S. 302, 309 und 312. 84 Johann Georg Wachter : Der Spinozismus im Jüdenthumb / Oder / die von dem heütigen Jüdenthumb / und dessen Geheimen Kabbala Vergötterte Welt / An Mose Germano sonsten Johann Peter Speeth von Augspurg gebürtig. Amsterdam 1699. Die Interpretation der Kabbala als Pantheismus wird von Wachter später dahingehend revidiert, dass Spinozismus und Kabbala für eine Naturreligion zu stehen kommen, der Wachter positiv begegnet; in

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Hamann geschätzten Orientalisten Hinckelmann noch verschärft wird.86 Doch auch von diesen Schriften und den heftigen Auseinandersetzungen, die hauptsächlich in die 90er Jahre des 17. Jahrhunderts fallen,87 finden sich bei Hamann allenfalls Spuren.88 Falls wir Schlüsse anstellen dürften oder auch nur könnten, dann ließe dieses Schweigen wohl eher Desinteresse an der Kabbala und deren Beziehung zum Spinozismus vermuten. Zwar behauptet er im November 1784 gegenüber Jacobi, er habe „Spinoza und Hobbs […] vor 20 Jahren mit wahrer Andacht gelesen und ihnen mehr zu danken […], als Shaftesbury u Leibnüts, dessen posthuma ich auch nicht alle recht kenne und nichts als seine Theodicee selbst besitze“,89 doch äußert er nur einige Monate später, dass das „wenige“, was er vom Spinozismus verstehe, ihn „theils gleichgültig, theils mistrauisch“ mache. Ja, er lässt sein Widerwillen auf eine Sentenz auslaufen, die dem Zweifel wenig

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ders.: Elucidarius Cabalisticus, Sive Reconditae Hebraeorum Philosophiae Brevis & Succincta Recensio. Rom 1706. – Zu Wachter, Spinoza und Kabbala vgl. Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala (1660–1850) (wie. Anm. 82), S. 217–242; Miquel Beltran: The Influence of Abraham Cohen de Herrera’s Kabbalah on Spinoza’s Metaphysics. Leiden 2016, S. 83–141. EhreGott Daniel Colberg: Das Platonisch=Hermetische Christenthum begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, Unterm Namen der Paracelsisten / Weigelianer / Rosencreutzer / Quäcker / Böhmisten / Wiedertäuffer / Bourignisten / Labadisten / und Quietisten (1690–91). Leipzig 1710. Hamann lobt Hinckelmanns Einleitung zu seiner Koran-Edition; vgl. Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 5. Mai 1761, ZH II, 82: „Hinckelmanns Vorrede zum arabischen Alkoran hat mich ganz begeistert, und ich habe fast Lust bekommen als Untercopist mit einem Abgesandten nach die Türkey zu gehen, ehe ich vierzig Jahr alt würde.“ Abraham Hinckelmann: Detectio fundamenti Böhmiani, Untersuchung und Widerlegung Der Grund=Lehre / Die In Jacob Böhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht=gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalae, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgötterey der Welt endecket wird. Hamburg 1693. – Vgl. zu Hinckelmann sowie den Vorigen Eric Achermann: Fromme Irrlehren. Zur Böhme-Rezeption bei More, Newton und Leibniz. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt. Tübingen 2012, S. 313–361, hier S. 319–323; vgl. im selben Band Martin Mulsow: Abraham Hinckelmann und die Genealogie von Böhmes ,Grund=Irrtum‘, ebd. S. 295–312. An Friedrich Heinrich Jacobi schreibt Hamann mit Brief vom 27. April 1787, ZH VII, 169f.: „Kennst Du Wachters Spinozismum im Judentum Amst. 699 Er hat sich einige Wochen auf meinem Tische ugetrieben. Bey dem Beschluß meines letzten Briefes an Dich fiel er mir in die Hände. Ein langweiliges eckles Buch, wo Spinoza nicht um ein Haar beßer als Machiavel widerlegt wird. Eben dieses Autors Elucidarium Cabalisticum Rom. 706 habe ich vor mehr als 20 Jahren in Curl. gelesen und Auszüge gemacht ohne sie zu verstehen nebst seiner eben so kleinen Diss. amica de haeresi circa mensas. […] ins Unendliche theilbare und wirkl. getheilte Materie ist auch für mich sjotor und beruht auf kabbalistischen, kartesianischen oder leibnitzianischen Teufelchen, Monaden u Engelchen, der ich, meine Vernunft u vvie ziemlich entbehren kann.“ Die Bekanntschaft mit Wachter lässt sich also auf die Zeit zwischen 1753 und 1756 eingrenzen, in welchen Jahren Hamann seine ersten Notizbücher u. a. als Hofmeister im Grünhof in der Nähe des kurländischen Mitau führte. Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 14. November 1784, ZH V, 264.

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Raum lässt: „Seit Adams Fall ist mir alle Gnosis verdächtig, wie eine verbotene Frucht.“90 Bekanntlich geht Hamanns Ablehnung, spätestens seit seiner Londoner Zeit (wenn nicht vorher) auf die Reinheit einer Philosophie, die sich in Systematik übt: „Alle metaphysische Untersuchungen sind mir durch die Kritik der reinen Vernunft jüngst fast so vereckelt worden, als ehemals durch Wolfens lateinische Ontologie.“91 Betont unbeteiligt gibt er knapp vor Ausbruch des Pantheismusstreits um Lessings angeblichen Spinozismus seinem Freund Jacobi zu erkennen, dass er Spinozas Philosophie stets für „einen Cartesianisme outr8“ gehalten habe92 und äußert seine Vermutung, dass Lessings angebliche Anverwandlung des Spinozismus von der „Cartesianischen u Jüdischen“ Gestalt dieses Systems wohl freizusprechen sei.93 Natürlich können diese Bemerkungen, die mehr als zwei Jahrzehnte nach der Aesthaetica verfasst werden, nicht uneingeschränkt für die Überzeugungen und Interessen des Verfassers der Kreuzzüge herhalten, doch findet sich in Werk und Korrespondenz durch Jahre und Jahrzehnte der „Eckel“, den ihm der „jüdische ,Schwätzer‘ Mückenfänger und cartesianische Teufel“94 bereite und seinen Magen verderbe, zur Genüge ausbuchstabiert.95

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Wenden wir uns den erhaltenen Zeugnissen zu, so bleibt von dem vielen, was an christlicher Kabbala bei Hamann angeführt wird,96 wenig Gesichertes übrig. Als zentraler Beleg für den bibliographischen Schatz, auf den Hamann zurückge90 91 92 93

Brief an Franz Kaspar Bucholtz vom 26. Juni 1785, ZH V, 470. Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 14. November 1784, ZH V, 262. Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 1. Dezember 1784, ZH V, 270. Ebd., S. 271. – Zu Hamann und dem Pantheismusstreit vgl. Hamanns Münsterschen Entwurf „Die andere Vorlesung war die Parasche vom pollnischen Rock bis zum Bilderkram, S. 8–11, und geschah den 9. Nov. zu einer ungewöhnlichen Mittagsstunde“, den Nadler mit der Sammelüberschrift Über das Spinozabüchlein Friedrich Heinrich Jacobis 1787/1788 versehen hat; N IV, 457. Darin bezieht sich Hamann aber nirgends auf die Philosophie Spinozas, sondern kritisch auf einige Formulierungen Jacobis im Sendschreiben an Mendelssohn. Insbesondere findet er die geometrische Grundlage der Metapher vom Tiefsinn und Sehnen eines Kreises zweifelhaft. 94 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 2. Mai 1787, ZH VII, 181. – Vgl. die Sammlung ähnlicher Aussagen gegen das ,Spinnen‘-System bei Moustakas: Urkunde und Experiment (wie Anm. 45), S. 231f. 95 Vgl. die einschlägigen Zitate bei Oswald Bayer: Spinoza im Gespräch zwischen Hamann und Jacobi. In: Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Hg. von Eva Schürmann, Norbert Waszek und Frank Weinreich. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 319–325. 96 Andreas Kilcher : Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 1998, S. 247; Schmidt-Biggemann: Christologische Poesie (wie Anm. 70), S. 155f.

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griffen haben könnte, dient mitunter der Verweis auf eine etwas in die Jahre gekommene Untersuchung von Hamanns Bibliothek, insbesondere die Rubrik „Erforschung der außerchristlichen Religionen; Freimaurertum“.97 Zählt man hier großzügig, so handelt es sich um ein halbes Dutzend Texte, worunter für die Kabbala, einschließlich der christlichen, im Wesentlichen die Sammlung des katholischen Kontroverstheologen Johannes Pistorius d. J. als einschlägig zu gelten hat.98 Das Gros der Texte aber, die mit oder ohne Verweis auf Imendörffer angeführt werden, findet sich weder in Hamanns gedrucktem Auktionskatalog Biga Bibliothecarum,99 noch in genannter Rubrik, sondern vielmehr in Peter Krafts ungedruckter Dissertation Christliche Kabbalistik,100 deren Ergebnisse durch die einschlägige Forschung nicht bestätigt werden konnten.101 Kraft nun behandelt den Doppelkatalog der Biga, der die Bibliotheken Hamanns und Johann Gotthelf Lindners zum Kauf anbietet, mit Verweis auf die „gemeinsame Landsmannschaft“ eigentlich als Katalog einer Bibliothek. Was hier zu finden ist, wird im eigentlichen Sinne ,verbucht‘. Zudem stellt er die Geschichte von Hamanns Bibliothek, dessen Bücherkäufe und Lektüreberichte – milde gesagt – etwas verkürzt dar.102 Die Liste an kabbalistischen Büchern, die er konstruiert, hat in den meisten Fällen mit Kabbala wenig, gelegentlich auch nichts zu tun.103 „Eine besondere Rolle“ im Erwerb eines spezifisch kabbalistischen Wissens weist Kilcher dem 17. Kap. von Hamanns Rapin-Übersetzung zu.104 Hier finden sich rund 60 Zeilen zur anti-aristotelischen Naturphilosophie eines Lullus, Cardanus und Paracelsus, wobei die letzten zehn Zeilen tatsächlich auf die Kabbala zu sprechen kommen, und dies in Form einer kleinen Diatribe: 97 Nora Imendörffer : Johann Georg Hamann und seine Bücherei. Königsberg, Berlin 1938, S. 109–111. 98 In der Sammlung kabbalistischer Schriften, die Pistorius herausgibt, findet sich u. a. auch Reuchlin; Artis Cabalisticae: Hoc est, reconditae Theologiae et Philosophiae, scriptorum: Tomus I. […] Ex Ioannis Pistorii […] Bibliotheca. Basel [1587], darin enthalten Johannes Reuchlin: Phorcensis de Arte Cabalistica: id est, de Diuinae revlationis ad salutiferam Dei, & Formarum paratarum contemplatio, Libri III, S. 609–871. Vgl. Biga (wie Anm. 6) 96/10, N V, 66. – Zu Pistorius’ Sammlung vgl. Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala. 15. und 16. Jahrhundert (wie Anm. 78), S. 678–683. 99 Biga (wie Anm. 6). 100 Peter Kraft: Christliche Kabbalistik als sprachformendes Prinzip im Schaffen Johann Georg Hamanns. Wien 1961. 101 Vgl. die sowohl deutliche als auch berechtigte Anmerkung bei Hans-Martin Lumpp: Philologia crucis. Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von der Dichtkunst. Mit einem Kommentar zur ,Aesthetica in nuce‘ (1762). Tübingen 1970, S. 32; sowie Bayer und Weissenborn: Kommentar zu: Londoner Schriften, 541. 102 Kraft: Christliche Kabbalistik (wie Anm. 100), S. 52–; wir finden hier Argumente der Art, dass Bücher aus Amsterdam wahrscheinlich in Amsterdam, Bücher aus London in London gekauft worden sind. 103 Ebd., S. 54–57. 104 Kilcher : Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma (wie Anm. 96), S. 247.

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Man könnte diesen drey Weltweisen noch den Cornelius Agrippa, Arnault de Villeneuve, Peter von Apono, Baco105 und mehrere Cabbalisten hinzufügen, von denen Agrippa selbst in der ZueignungsSchrift der geheimen Weltweisheit an den Abt Trithemius redet. Diese gantze Philosophie dient nur zum Betrug und zur Ausschweifung zu führen: weil sie unter dem Schein einer natürlichen Wissenschaft alle Bosheit und Abscheulichkeit der Zauberey bedeckt. Reuchlin wollte um diese Zeit die Pythagoräische Weltweisheit in Deutschland wieder einführen, wie es Marsilius Ficinus mit der platonischen in Italien gemachte hatte. Dieses waren Krankheiten ihrer Zeiten, von deren Schwäche man aus den mannigfaltigen Geschmack, mit der Verschiedenheit der Meinungen und selbst aus der Unbeständigkeit der Gemüther urtheilen kann.106

Bekanntlich macht Josef Nadler viel Aufhebens von einer Neigung zur Mystik,107 die Hamanns Naturell von Kindsbeinen an präge und sich nicht zuletzt in dessen Begeisterung für die Kabbala äußere. Diese Begeisterung behauptet er nicht zuletzt mit Blick auf die Exzerpte, die Hamann in seiner Hofmeisterzeit aus Francesco Zorzis (Franciscus Georgius Venetus, Giorgio Veneto) De Harmonia mundi totius cantica tria anfertigt. Vergleicht man die knapp anderthalb Seiten mit den detaillierten Abschriften zu Domats Rechtslehre oder Forbonnais’ ökonomischer Abhandlung aus der gleichen Zeit, so relativiert sich auch diese 105 Gemeint ist Roger Bacon, nicht Francis; jener darf auch in anderen Aufzählungen der Naturmagie nicht fehlen. 106 Betrachtungen über die Philosophie; ungedruckte Übersetzung von Ren8 Rapin: Reflexions sur la philosophie ancienne et moderne, et sur l’usage qu’on en doit faire pour la religion. Paris 1676; N IV, 62f. Hamann besaß eine Ausgabe Amsterdam 1686, die nebst der „Philosophie“ die „Eloquence“, die „Poetique“ und die „Histoire“ umfasste; vgl. Biga (wie Anm. 6) 175/741, N V, 107. 107 Josef Nadler : Johann Georg Hamann. Der Zeuge des Corpus Mysticum. Salzburg 1949, S. 58: „Von der englischen und französischen Aufklärungsliteratur hat er nicht mehr als jene Psychologie angenommen, für die sein ganzes Wesen und gerade seine pietistisch gefärbte Seele zubereitet war. Hier setzen nun seine zielbewußten Studien der älteren und neueren Philosophenliteratur ein. Daß er Spinoza schon in dieser baltischen Zeit gelesen hat, weiß man aus einem späten Brief. Die Schriften Ren8 Rapins, die er jedenfalls später besaß, hat er sich in deutscher Sprache und auf nicht weniger als hundert Seiten übersetzt. Er kannte Descartes und hat über den einen Essay entworfen. Auch Shaftesbury hat ihn beschäftigt. Hamann hat kein Zugeständnis gemacht, das er etwa in London hätte widerrufen müssen. Ganz im Gegenteil. Gerade der mystische Zug, der sich in seinem Londoner Erlebnis mit Gott und in seinem Rigaer Erlebnis mit Katharina verrät, versteckt sich auch in dem Berliner Notizbuch nicht, das sonst wahrhaftig anderen Geistes ist. Da ist eine seltsame Teilnahme für die kabbalistische Mystik der Buchstabenzahlen. Da ist die Mystik der Farbenwerte, worüber sich Hamann eingehende Notizen macht. Da sind die Auszüge aus der ,Harmonia mundi‘ des Franciscus Georgius Venetus und manches andere. Mag sich darin auch seine stets aufs neue bezeugte Vorliebe für alles Apokryphe und Unverbürgte spiegeln, es ist lediglich Zufall, wenn ihm nicht damals schon Jakob Böhme vor Augen kam, aus dem er sich erst zwei Jahrzehnte später seine Auszüge machte.“ – Zu den Auszügen aus Böhme und Gichtel, letztere hat Rudolph als erster ediert, vgl. Andre Rudolph: Hamann, Gichtel und die Theosophie. Anhand eines ungedruckten Gichtelexzerpts aus Hamanns Notizbüchern. In: Acta 2006, 391–414, hier 411–414.

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Begeisterung. Das Exzerpt, oder vielmehr die Exzerpte,108 werfen einige knifflige philologische Fragen auf. Es ist zum einen alles andere als sicher, auf welche Quelle Hamann zurückgreift. Zwar nennt er die erste venezianische Ausgabe 1525 von De harmonia mundi, fügt aber sogleich hinzu: „Man hat auch eine Pariser Ausgabe von 544“. Es liegt nahe, dass Hamann – falls er denn die seltene venezianische Ausgabe zur Hand hatte – über ein zusätzliches bibliographisches Hilfswerk verfügte, das nicht nur die Pariser Ausgabe, sondern auch die anschließend erwähnte Rezension in den Hallischen Observationes Selectae109 anführt. Als erstes zitiert Hamann das orphische Dictum: „Du stimmst den ganzen Himmel wie eine zehnsaitige Kithara“. Sowohl das griechische Zitat als auch die lateinische Übersetzung finden sich – ebenso wie das Original zu der folgenden deutschen Notiz110 – in allen Ausgaben von De harmonia mundi nicht etwa im dritten „Tonus“ des zweiten „Canticus“, wie Hamanns Exzerpt vermuten lässt, sondern im „Tonus Octavus“ des ersten „Canticus“.111 Der hier bezeichnete Ort112 handelt auch nicht „de consonantia inter corpus et animam“ [vom Zusammenklang zwischen Körper und Seele].113 Es ist vielmehr „Cant. III, Ton. I, Cap. 2“, das den Titel „De ea consonantia que est inter corpus & animam“ [Von demjenigen Zusammenklang, der zwischen Leib und Seele besteht] trägt und am Anfang des „Tonus“ „De animae et corporis atque virtutum concordia multiplici“ [Von der mannigfaltigen Einheit der Seele und des Körpers sowie der Tugenden] steht,114 während der zweite „Tonus“ als ganzer mit „De animae consonantia per rerum intelligentias“ [Vom Zusammenklang der Seele durch 108 Die Exzerpte finden sich in den Berliner Notizbüchern verstreut (i. e. S. 137r, 63r und 138v); sie sind etwas fehlerhaft wiedergegeben in N V, 187f. 109 [Johann Franz Budde:] Observatio XVI. Francisci Georgii Veneti Harmonia Mundi. In: Observationes selectae ad rem litterariam spectantes. Bd. II. Halle 1700, S. 338–400. Weder die ausführliche Paraphrase, noch die Auswahl der Stellen, die Budde vornimmt, können Hamann als Vorlage für seine Exzerpte gedient haben; sein Augenmerk liegt auf dem dritten „Canticus“, die wörtlichen Zitate finden sich bis auf zwei Übereinstimmungen (vgl. S. 389f.) bei Budde nicht. – Martin Mulsow (Ein kontroverses Journal der Frühaufklärung. Die ,Observationes Selectae‘, Halle 1700–1705. In: Aufklärung 17 (2005), S. 79–99, hier S. 83 und 92) nennt Budde als Verf. dieser „Observatio“. 110 N V, 187: „Doryläus, ein Pythagoraeo-Platoniker hat die Welt organum Dei [Musikinstrument Gottes] genannt.“ 111 Francesco Zorzi: De Harmonia mundi totius canticum tria. Venedig 1525, S. CLXIIIIr. Nadler schreibt durchgehend „Tomus“ bzw. „Tom.“ statt „Tonus“; bei Hamann findet sich korrekt und deutlich „n“. 112 Vgl. N V, 187: „Canticum II, Ton. III, cap. II.“ 113 Der „Tonus“ ist mit „Christus est verus sacerdos, verus panis, hostia, & sacrificium omnia purgans / & omnia pacificans.“ [Christus ist der wahre Priester, das wahre Brot, die wahre Hostie und das Opfer, das alles reinig und alles befriedigt] überschrieben, das erste Kapitel mit „Qvid sit sacerdos/ et eivs officivm“ [was ein Priester sei und welche Aufgaben er hat]; Zorzi: De Harmonia mundi, Bd. I, S. CCXXr. 114 Ebd. Bd. II, S. IIv.

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die Intelligenzen der Dinge] überschrieben ist.115 Die Kapitelüberschriften, auf die sich Hamanns Wiedergabe im Wesentlichen beschränkt, entsprechen genau dem Inhaltsverzeichnis des zweiten „Tonus“ des dritten „Canticus“, wobei er einige Überschriften auslässt, andere durch kurze Auszüge ergänzt.116 Am auffälligsten ist sein Notat zu „einer alten Theologie die dem Abraham zugeschrieben wird“ und von den „32 Stufen oder Grade der Weisheit“ handelt. Eine solche Lehre findet sich nicht in dem angegebenen Kapitel „An semper intellectus ad id perveniat ad quod pervenire possit?“ [Ob der Intellekt immer zu demjenigen gelangt, wozu er gelangen kann?], sondern im fünften Ton des ersten „Canticus“.117 Die Auszüge aus Zorzi geben Rätsel auf; nach erster Sichtung können sie als Nachweis für eine intensive Beschäftigung mit Form und Tradition einer hochspekulativen christlichen Kabbala nicht ausreichen.118 Die Zahl der fehlerhaften oder unklaren Bezüge nämlich lässt sich kaum aus Flüchtigkeit erklären. Zu disparat sind die Notate, die sich über das Berliner Notizbuch verstreut finden, als dass eine eingehende oder auch nur kursorische Lektüre dieses dickleibigen Werkes vorausgesetzt werden könnte. Ob der Erwerb, den Hamann im Dezember 1761 seinem Freund Johann Gotthelf Lindner anzeigt,119 eines „großen Folianten von der Cabbala, wo Reuchlinus cet. darinn stehen“, zu einer eingehenderen Auseinandersetzung mit der Kabbala geführt haben, dürfte ebenso schwierig nachzuweisen sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um die erwähnte Ars Cabalistica von 115 Ebd. Bd. II, S. Ir. 116 Die Auszüge finden sich im 2. Bd. von De Harmonia mundi auf S. XVIr, XVIv, XVIIr, XXIIv und XXIIIIv, die dt. Paraphrase zu den Engeln (N V, 188, Z. 17) auf den Seiten XXXIr–v. 117 Cant. I, Ton. 5, Cap. XVII, Bd. I, S. XCVIv, Ausg. Campanini S. 570: „Quibus causis intervenientibus haec multiplicia genera conducantur“ [Durch welche dazwischentretenden Ursachen die vielfältigen Gattungen verbunden werden]: „Hinc Abraham docens de mundi genitura, atque de concinna formatione, & compositione ipsius inguit: In triginta duabus semitis sapientiae Deus Benedictus suum mundum creavit: Quamvis hoc dictum interpretari possimus de triginta duobus gradibus intellectualibus.“ [Deshalb spricht Abraham, als er Unterricht von der Schöpfung der Welt sowie der schönen Bildung und Zusammensetzung gab: In 32 Pfaden der Weisheit hat Gott, der gelobt sei, seine Welt erschaffen. Dennoch können wir diesen Ausspruch als die 32 Stufen des Intellekts verstehen.“ Später wird Zorzi Abrahams 32 Stufen mit denjenigen der Jakobsleiter identifizieren; die entsprechenden Ausführungen finden sich in den Problemata (In Scripturam sacram problemata, 206. Venedig 1536, S. 27r); sie werden ihrerseits zum Gegenstand heftiger Kritik von Seiten Mersennes; vgl. hierzu Wilhelm Schmidt-Biggemann (Geschichte der christlichen Kabbala. 15. und 16. Jahrhundert. [wie Anm. 78], S. 427f. sowie ders.: Geschichte der christlichen Kabbala. [1600–1660] (wie Anm. 82], S. 150–160). 118 Hamann greift auch nicht auf die wesentlich detailliertere Gesamtdarstellung von De harmonia mundi bei Brucker zurück; vgl. Johann Jacob Brucker : Historia critica philosophiae. Bd. IV/1. Leipzig 1743, S. 374–385. 119 Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 19. Dezember 1761, ZH II, 124.

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Johannes Pistorius, welche die Biga verzeichnet; doch was auch immer Hamann mit dem Folianten tat oder zu tun gedachte, auf die Aesthaetica selber kann der Einfluss nicht allzu groß gewesen sein. Im gleichen Brief an Lindner nämlich kommt er auf den Untertitel seiner Aesthaetica zu sprechen: „Der Kern soll eine Rhapsodie in kabbalistischer Prosa seyn von ungefehr 3 Bogen“.120 Doch nicht bloß der Untertitel „kabbalistische Prosa“ steht bereits fest, nur zwei Monate später meldet er Moses Mendelssohn Vollzug und begründet die Wahl seiner Begriffe: Ich besorge nämlich jetzt (vermuthlich für den Verf. der Sokr. Denkw.) eine kleine Sammlung aufgewärmten Kohl, zu dem Agorakrit, den Sie aus dem Aristophanes kennen werden, zwo neue Würste erfunden hat. „Abermal Schimmel!“ – Graut Ihnen nicht für eine Nachahmung a.) des hellenistischen Briefstyls b.) der kabbalistischen – – vox faustibus haesit. Das letzte Scheusaal zu vergrößern, hat der Verfaßer den Kabbalisten mit dem Rhapsodisten zusammengeflochten. – Weil im ältesten Verstande Qaxydoi Eqlgmeym eqlemeir waren: so wird Fulbert Kulm nach dieser ersten Grundbedeutung den Zusammenhang der Rhapsodie mit der Kabbala nicht verfehlen können.121

Neue Würste zu altem Kohl steuert der Wursthändler und demagogische Grobian Agorakrit [der vom Volk erwählte] aus Aristophanes Ritter bei. Es handelt sich ganz offensichtlich um die beiden Originalbeiträge zu den Kreuzzügen, das heißt um das Kleeblatt Hellenistischer Briefe und die Rhapsodie in kabbalistischer Prose. Dass die Rhapsoden nach Platons Ion „Boten der Boten“ oder „Übersetzer der Übersetzer“ genannt werden,122 dass der Paulinische Briefstil für das Kleeblatt Hellenistischer Briefe, der kabbalistische hingegen für die rhapsodische Aesthaetica kombiniert werden, mag dem Leser tatsächlich die Stimme verschlagen.123 Der Bezugspunkt zwischen ,Rhapsodie‘ und ,Kabbala‘ aber liege in der griechischen Etymologie, genauer in der Bedeutung ,Übermittler oder Ausleger eines bereits Versprachlichten‘. Neben diese hermeneutische Bedeutung tritt aber eine stilistische, die sich in der Opposition ,hellenistischer Briefstil‘/,kabbalistische Prosa‘ äußert. Sie hat für Hamanns Kreuzzüge durchaus programmatischen Charakter. Um dies zu ermessen, ist ein Blick auf den Anlass dieser Äußerung nötig. Das „Abermal“ des Schimmels spielt auf Mendelssohns Replik zu den Chimärischen Einfällen an, die gezeichnet mit dem Namen Fulbert Kulm124 in den Briefen, die Neueste Litteratur betreffend erschienen war : 120 121 122 123

Ebd., S. 125. Brief an Moses Mendelssohn vom 11. Februar 1762, ZH II, 128. Platon: Ion, 535a. Bei „vox faustibus haesit“ handelt es sich um eine Verballhornung von Vergils „vox faucibus haesit“ [die Stimme blieb im Hals stecken] (Vergil: Aeneis, IV, v. 280). 124 „Fulbert“ steht für den Onkel von H8lo"se, der den Liebhaber Ab8lard entmannen ließ. Es handelt sich um eine Anspielung auf die Kritik Mendelssohns an Rousseaus Nouvelle H8-

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Die Musen sind Ihnen gnädig, und bewahren Ihr Genie für Miswachs, warum opfern Sie, parcus dearum cultor, so selten auf ihren Altären, und bringen nur einzelne vergängliche Blätter dar, die jedes Lüftchen verweht. Warum stossen Sie ihr Gebet in kurzen geheimnißvollen Seufzern aus, und gewöhnen Ihre Brust nicht lieber zu einem längern Othem, der die heilige Gegenwart der Gottheit andächtiger verehrt? Und endlich, warum wählen Sie eine Schreibart, deren Schönheiten nur microscopische Augen ergötzen. Hät die Natur keine Gegenstände, die der Nachahmung würdiger sind, als der Schimmel? – Es ist wahr, Socrates der Bildhauer, bekleidet die Grazien, um ihre nackte Reitze nicht jedem unkeuschen Auge bloszustellen; wenn ich aber von den Werken des Weltweisen auf das Wort des Künstlers schliessen kan; so wird er die holden Schönheiten bekleidet, aber nicht versteckt haben. Das Gewand muss den Wuchs, die Gelenkigkeit den freyen Schwundg der Glieder ohne Neid durchschimmern lassen, damit die Augen des Geistes geniessen, was den fleischlichen Augen entzogen wird. Die Kenner loben an Ihren Ausarbeitungen, Erfindung, Zeichnung und Ausdruck; aber sie vermissen die weise Vertheilung des Lichts und Schattens. Die Gegenstände sind wie in einer düstern Wolke verhüllt, und nur hier und da durchstreifet ein Wetterstrahl der die Augen blendet. […] Da Sie wie aus den Wolken zu mir herab geredet; so muste ich mir aus meinem Staube eine ähnliche Wolke aufblasen, um ihnen zu antworten. Wollen sie sich aber von einem Unbekannten rathen lassen; so treten Sie aus ihrer Maschine hervor, und zeigen sich den Zuschauern in menschlicher Bildung. Gedrungene Kürze ist eine ästhetische Tugend, aber die Faßlichkeit muß nicht darunter leiden.125

Feststeht, dass Hamann noch vor Kenntnis der Replik Fulbert Kulms auf seinen eigenen Abälardus Virbius in den Briefen, die Neueste Litteratur betreffend den späteren Untertitel „Rhapsodie in kabbalistischer Prose“ entworfen hatte. Feststeht aber auch, dass diese Replik Anlass zu einer Reihe von Anspielungen wird, die sich in den Kreuzzügen äußern. Dem „Schimmel“ sowie der Dichotomie hellenistisch/kabbalistisch begegnen wir in der Vorrede, Dem Leser unter der Rose! wieder : „Die hellenistischen Briefe, (werden sie sagen, die nichts verstehen, weil sie sich bey sich selbst messen und allein von sich selbst halten) sind schwer und stark, aber die Gegenwärtigkeit der Person ist schwach und die Rede verächtlich.“ – Handlung, sagte Demosthenes, ist die Seele der Beredsamkeit, und auch der Schreibart. […]

lo"se. „Kulm“ setzt sich, nach der Interpretation Hamanns, der Erhalt und Inhalt des Literaturbriefs in seinem Schreiben an Lindner vom 12. Febrauar 1762 (ZH II, 131) anzeigt, aus den Kürzeln „K“, „dem karacterischen Buchstaben“, „L“ für Lessing und „M“ für Mendelssohn zusammen. 125 [Moses Mendelssohn:] Fulberti Kulmii Antwort an Abälardum Virbium im Namen des Verfassers der fünf Briefe die neue Heloise betreffend. Beschluß des hundert und zwey und neunzigsten Briefes (29. Oktober 1761). In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend. XII. Theil. Berlin 1763, S. 217f.

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Das Commisßbrodt, was die Bürger zu Gibeon mit sich nahmen war hart und schimmlich* – – Also ist Kabbala; und damit holla! [Hebr.:] Was meine Seele widerte anzurühren, das ist meine Speise, mir zum Ekel.** * Jos. IX. ** Hiob VI, 7126

Der hellenistische Briefstil geht auf die „Handlung“ und bemisst sich an der Kraft („schwach“ „verächtlich“), die kabbalistische Prosa hingegen am sinnlichen Genuss („Ekel“). Zwei Formen der Kritik begegnen sich in dieser Analogie, die sich als rhetorische bzw. ästhetische zu erkennen geben. Doch auch in ästhetischer Hinsicht ist „Upojqisir“ [Hypokrisis], das Hamann in einer späteren handschriftlichen Notiz zum Ausdruck „Handlung“ hinzufügt,127 für den Bereich der Kabbala relevant. Der erste Bibelverweis „Jos. IX“ (gemeint ist Jo 9,5 oder 9,12) verweist auf das Brot der Gibeoniter, das diese über den Jordan mit sich führten als List gegen Israel, damit sie als Knechte der Israeliten verschont blieben. Der Schimmel erscheint also als Mittel der Verstellung und Herunterlassung, und so auch der Hypokrisie. „Also ist Kabbala; und damit holla!“ steht im Zeichen der Geschichte des Jüdischen Volkes, nicht im Zeichen der sich freimütig in ihren Reizen zeigenden Muse. Es gehört in den Bereich von Jerusalem und Moses, und nicht von Athen,128 an dessen falschen Maßstäben gemessen Paulus verächtlich erscheinen muss. Die Geschichte des jüdischen Volkes ist die Kabbala, die hinter aller Geschichte steht, nämlich die Heilsgeschichte, die sich von der Schöpfung bis zum letzten Gericht entfaltet und den figuralen Zusammenhang aller Geschichte bestimmt. Sie liegt schematisch „verholen“, zeigt sich mikroskopisch verkleinert in den Ereignissen und liefert so das Vorbild für einen Stil, der die Natur in ihrer eigenen geschichtlichen Dimension nachzuahmen hat. Bekanntlich hat Hamann in den Sokratischen Denkwürdigkeiten diesen „Schimmel“ bereits in der Vorrede An die Zween zum programmatischen Bild seiner Autorschaft erhoben: „Wo ein gemeiner Leser nichts als Schimmel sehen möchte, wird der Affect der Freundschaft Ihnen, Meine Herren, in diesen Blättern vielleicht ein mikroskopisch Wäldchen entdecken.“129 Auch hat Mendelssohn in seiner Rezension der Sokratischen Denkwürdigkeiten nicht gefehlt und das gelungene Bild von Schimmel und Wäldchen gehörig herausgestrichen.130 126 Dem Leser unter der Rose! In: Kreuzzüge des Philologen, S. 5r–v ; N II, 116. 127 N II, 116. 128 Zu Hamanns Gegenüberstellung von Jerusalem und Athen vgl. die Ausführungen zu Moses, Paulus, Gesetz und Vernunft bei Lothar Schreiner : Erklärung zu: Johann Georg Hamann: Golgatha und Scheblimini. In: HHE VII, 110f. 129 Sokratische Denkwürdigkeiten […]. Amsterdam [Königsberg] 1759, S.13; N II, 61. 130 [Moses Mendelssohn:] Hundert und dreyzehnter Brief. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend. VI. Theil. Berlin 1760, S. 385–400, hier S. 387: „Ich bin einer von den gemeinen

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Kritisch hingegen begegnet er Hamanns Verständnis der Sokratischen Maieutik, die er als unvorteilhaft dargestellt erachtet. Hamann nämlich verstehe die Sokratische Hebammenkunst im Lichte der Gottebenbildlichkeit: Wie der Mensch nach der Gleichheit Gottes erschaffen worden, so scheint der Leib eine Figur oder Bild der Seelen zu seyn. Wenn uns unser Gebein verholen ist, weil wir im Verborgenen gemacht, weil wir gebildet werden unten in der Erde; wie viel mehr werden unsere Begriffe im Verborgenen gemacht, und können als Gliedmassen unsers Verstandes betrachtet werden. Daß ich sie Gliedmaassen des Verstandes nenne, hindert nicht, jeden Begrif als eine besondere und ganze Geburt selbst anzusehen.131

Gegen den 139. Psalm,132 den Hamann zum Erweis der Geburtsgeschichte unserer „Begriffe“ a posteriori bezeichnend mit Begriffen wie „Figur“ und „Verborgenes“ paraphrasiert, hält Mendelssohn Platons Menon: Der Gedanke ist völlig in dem Socratischen Sinn, aber wie mich dünkt, von dem Verf. nicht in seinem vortheilhaftesten Lichte gezeigt worden. Unser Lernen, behauptete Socrates, sey nur ein bloßes Erinnern, denn der Same aller Begriffe, die wir erlangen, liegt von je her in der Seele […]. Dieses zu beweisen, verrichtete er einst seinen Hebammendienst bey den Knaben seines Wirths, und lockte durch blosses Fragen einen tiefsinnigen mathematischen Satz aus dem Munde eines Unwissenden, der kaum wußte, was Länge und Breite sey.133

Während sich Hamann von einem platonisierten Sokrates ausdrücklich distanziert134 und auf den engen Zusammenhang von Hebammenkunst und Schwangerschaft abhebt, sieht Mendelssohn den Seminalgrund der Ideen in der Wiedererinnerung mathematischer Wahrheiten exemplifiziert. Doch auch hier erweist Hamann Luthers Bibel die Treue, die den „Samen“ auf die Erwählung des jüdischen Volkes und den Messias bezieht.135

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Lesern, und glaube dennoch ein sehr anmuthiges Wäldchen entdeckt zu haben, ob ich gleich gestehe, daß mir manche Stelle dunkel scheinet […].“ Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 28f.; N II, 66. Ps 139,15: „Es war dir mein Gebein nicht verholen / da ich im verborgen gemacht ward / Da ich gebildet ward vnten* in der Erden. *Das ist / Tieff in Mutterleibe.“ Ebd. S. 398. Vgl. Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 27; N II, 65: „Sokrates besuchte öfters die Werkstätte eines Gerbers, der sein Freund war, und wie der Wirth des Apostel Petrus zu Joppe, Simon hieß. Der Handwerker hatte den ersten Einfall die Gespräche des Sokrates aufzuschreiben. Dieser erkannte sich vielleicht in denselben besser als in Platons, bey deren Lesung er gestutzt und gefragt haben soll: Was hat dieser junge Mensch im Sinn aus mir zu machen? – – Wenn ich nur so gut als Simon der Gerber meinen Held verstehe!“ – Von der Platonischen Anamnese distanziert sich auch die Aesthaetica (S. 198; N II, 209): „Gerade, als wenn unser Lernen ein bloßes Erinnern wäre, […].“ Zur typologischen und christologischen Bedeutung von „Samen“ (Gen 3,15) in Luthers Verhältnisbestimmung von Altem und Neuen Testament vgl. William M. Marsh: Martin Luther on Reading the Bible as Christian Scripture. The Messiah in Luther’s Biblical Hermeneutic and Theology. Eugene 2017, S. 104–106. – Zu Hamanns Lektüre der Lutherschen

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In gewohnter Manier zieht Hamann also typologische Verbindungen, welche die Begriffe ,Kabbala‘ und ,Rhapsodie‘ in ein dichtes Gewebe kleiden. So wählt er „Schimmel“ als mikroskopische Variante der pseudo-generischen silvae (Wäldchen), ein nach Statius gerne gewählter Titel für Kausalsammlungen und andere Buntschriftstellerei.136 Neben dem sensus cabbalisticus zeichnet sich so eine zweite Bedeutung von ,Kabbala‘ als stylum cabbalisticum ab, der sich in Anspielungen ergeht und – der Gelegenheit geschuldet – einer anti-klassizistischen Heterogenität frönt. Bezeichnenderweise ist des Philologen Muse in der Aesthaetica nicht die „holde Schönheit“, die zwar leicht bekleidet, dennoch graziös ihre Reize durchscheinen lässt, sondern eine „Margot la Ravaudeuse“,137 eine Rhapsodin ganz eigener Art, Flickschneiderin ihres Zeichens, deren Karriere ihren Ausgang von einer zynischen Tonne nimmt, die ein Hund bepisst. Dass es sich bei diesem Skandalroman von Monbron um die fiktive Autobiographie einer Prostituierten handelt, gibt der ganzen Fußnote zu Klopstock einen durchaus pikanten und provokativen Sinn. Die Pointe besteht aber nicht bloß in der schlüpfrigen Anspielung, sondern reiht sich vielmehr in eine ganze Reihe von Unschicklichkeiten ein, mit welchen Hamann seiner Positionsnahme für das Kreatürliche und Körperliche Nachdruck zu verleihen sucht. Margots Hülle dient nicht der delikaten Andeutung eines guten und schönen Kerns; unter ihrem Putz verbirgt sich keine „platonische Zärtlichkeit“, denn von solch ungesunden „Dünsten“ lässt sie sich nicht „füttern“. Dass sie Platonismus auf die Kastraten Abälardus und Origenes reimt, Sokrates hingegen als mannhaft darstellt,138 darin könnte der Grund für Hamanns merkwürdige Wahl seiner Muse liegen.139 Vorreden zu den biblischen Büchern vgl. Martin Seils: Luther und Hamann. In: Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Crhistian Danz und Rochus Leonhardt. Berlin 2008, S. 41–74, hier S. 53f. 136 Vgl. Martin Opitz: Buch von der Teutschen Poeterey (1624), V. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 32f: „Sylven oder wälder sind nicht allein nur solche carmina / die auß geschwinder anregung vnnd hitze ohne arbeit von der hand weg gemacht werden / […] sondern / wie jhr name selber anzeiget / der vom gleichniß eines Waldes / in dem vieler art vnd sorten Bäwme zue finden sindt / genommen ist / sie begreiffen auch allerley geistliche vnnd weltliche getichte / als da sind Hochzeit- vnd Geburtlieder / Glückwündtschungen nach außgestandener kranckheit / item auff reisen / oder auff die zuerrückkunft von denselben / vnd dergleichen.“ 137 Folgen wir der vierten Ausgabe des Dictionnaire de l’Acad8mie (Bd. II. Paris 1762, S. 545) so finden wir u. a. „Ravaudage“ für ein schlechtes Zusammenflicken, „Ravaudeuse“ für eine Flickschneiderin und „Ravauderie“ für eine Rede, die aus Bagatellen und Unsinn besteht. 138 [Louis-Charles Fougeret de Monbron:] Margot la ravaudeuse. Hamburg 1800 [recte: 1750], S. 143f.: „S’entÞte qui voudra de belles passions & de tendresse Platonique: je ne me repais point de vapeurs: les sentimens 8pur8s & alambiqu8s de l’amour sont des mÞts qui ne conviennent pas / ma constitution; il me faut des nourritures plus fortes. Vraiment, Mr. Platon 8toit un plaisant original avec sa faÅon d’aimer. OF en seroit aujourd’hui le genre humain, si l’on eut suivi les id8es creuses de ce g.te-m8tier? Il y a grande apparence que la

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Abb. 2: Die junge Margot als Flickschneiderin in der Tonne. Titelkupfer von Christian Friedrich Fritzsch zu: [Fougeret de Monbron:] Margot la Ravaudeuse. Hamburg 1800 [recte: 1750]. nature ne l’avoit pas mieux partag8 qu’Orig8ne, ou qu’on lui avoit fait quelque soustraction / l’instar de celle que l’on fit au doucereux Amant d’H8loi¨se. Au moins, ce qu’il y a de bien s0r, c’est que son ma%tre Socrate, qui avoit les pi8ces sans lesquelles on ne sauroit Þtre Pape, ne lui a pas prÞch8 cette m8taphysique. Il a suivi tout uniment le grand chemin; & s’il s’en est 8cart8, Å’a 8t8 de bien peu de chose.“ [Möge sich, wer wolle, schöne Leidenschaften und Platonische Zärtlichkeiten in den Kopf setzen. Ich füttere mich nicht mit Dünsten. Gereinigte und destillierte Liebesgefühle sind nicht die Gerichte, die meiner körperlichen Verfassung bekommen. Ich brauche stärkere Nahrung. Herr Platon war wirklich ein origineller Kauz mit seiner Art zu lieben. Wo wäre heute das Menschengeschlecht, wäre man den hohlen Vorstellungen dieses Pfuschers gefolgt? Es scheint sehr wohl zu sein, dass die Natur ihn nicht besser versehen hatte als Origenes, oder dass man ihm etwas abgezogen hatte, wie man es mit H8loi¨ses süsslichem Liebhaber [Ab8lard] tat. Was zumindest feststeht, sein Lehrer Sokrates, der alle Teile hatte, um Papst zu sein, hat ihm diese Metaphysik nicht

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„Schimmel“ statt Patina, „Tennen“ statt Altäre, „Wurfschaufeln“ statt „Leyer“ und „Pinsel“,140 leichte Mädchen statt gräziöse Musen – von der invocatio der Aesthaetica bis zur „Apostille“,141 Hamann zelebriert seinen „panischen oder Popanzstyl[…]“,142 den „stylus atrox“,143 seine „punische“144 Schreibart, die nicht „kämpft, sondern sich vielmehr prügelt“.145 Hinter der programmatischen Verabschiedung vom Apollonischen Parnass, die den Musenanruf des Philologen zu einem ganz eigenen macht, kristallisiert sich eine Bedeutung heraus, die Hamann „kabbalistisch“ zuspricht. Sie ist einer Ästhetik des Primitivismus mosaischer Provenienz gegen eine gräkisierende Glättung starker Empfindungen verpflichtet – auch hier hält Hamann Jerusalem gegen Athen. Den Modewörtern ,Kabbala‘ und ,kabbalistisch‘ können wir allenthalben begegnen, nicht bloß in Hamanns Korrespondenz, sondern auch bei den Zeitgenossen. Wenn Boyer d’Argens mit seinen Lettres cabalistiques Erfolge feiert, so treten seine Briefschreiber tatsächlich mit jüdisch anmutenden Namen auf, tragen mitunter die Berufsbezeichnung „cabaliste“ und zeichnen sich als kundige Reisende in einem Reich von Elementargeistern aus, das mehr dem Comte de Gabalis146 als Luria, Hirtz oder Herrera verdankt. Als Modewörter – für alles, was geheimnisvoll ist und die Neugierde weckt – verwendet auch Hamann „Kabbala“ und dessen Derivate. Bald ist ein gewisser Georg Kalm#r, Bauernfänger und „Cabalist“,147 bald findet er in Johann Gellius’ Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter „Kabbala und blaue[n] Dunst“,148 bald wirft er

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gepredigt. Er hat ganz einfach die Hauptstraße gewählt; und wo er von dann abgekommen ist, dann war es nur ein Stück weit.] Vgl. auch Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997, S. 218. Aesthaetica in nuce, S. 161; N II, 197. Ebd., S. 219; N II, 217. Ferdinando Warner’s vollständige und deutliche Beschreibung der Gicht. In: Königsbergsche Gelehrte und politische Zeitungen, 64. Stück (10. August 1770); N IV, 362. – Mit Verweis auf Samuel Johnsons „terrifick“ oder „bugbear style“; vgl. Achermann: Worte und Werte (wie Anm 139), S. 156f. Über den Styl [Übers. von Buffons Discours prononc8 dans L’Acad8mie franÅoise]. In: Königsbergsche Zeitungen, Beylage zum 6.–10. Stück (18. Januar bis 1. Februar 1776); N IV, 421. Aesthaetica in nuce, S. 207; N II, 212. Beurtheilung der Kreuzzüge; N II, 267: „non pugnat sed rixatur“ (das Zitat entnimmt Hamann aus Tacitus: Dialogus de oratoribus, 26,4). Im ersten ,Entretien‘ (Jean-Baptiste de Boyer, marquis d’Argens: Lettres cabalistiques ou correspondance philosophique, historique et critique entre deux cabalistes, divers esprits 8l8mentaires, et le seigneur Astaroth. Paris 1671, S. 4f.) dieses Erfolgswerks kommt Nicolas Villars de Montfaucon, der eigentliche Verfasser des Comte de Gabalis, persönlich auf sein kabbalistisches Vermächtnis zu sprechen. Zu den Quellen vgl. nun die krit. Ausgabe: Boyer d’Argens: Lettres cabalistiques. Hg. von Jacques Marx. Bd. I. Paris 2017, S. 24–27. Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 25. Juli 1761, ZH II, 99. Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 16. April 1762, ZH II, 146.

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Herder vor, „die algebraische wie die kabbalistische Prose“ eines Hemsterhuis zu milde zu beurteilen und ihm „Aufwasser zu geben“.149 Doch auch Herder verspricht seinem Freund „zum Spaß“150 die aufsehenerregende Prophetie Conrad Siegesmund Ziehens über den nahen Untergang weiter Teile Deutschlands, der „Physisch u. Kabbalistisch“ erklärt sei. Hamann goutiert den Spaß und antwortet: Sie wissen, daß sich meine Neugierde bis auf Ziegenpropheten151 erstreckt trotz einer Nachtigall. Cabbalistisch, ein Buch Chevilah, Hieroglyphenschrift – das ist lauter Lockspeise für meinen verwöhnten Geschmack, wahres Wildbret für meinen Adlerhunger.152

Alsbald nach dem Erhalt eines Exemplars, das lange ausbleibt, vergeht dem starken Esser bei dem „alten Tröster“, gemeint ist das Sefer Shevile ha-’Emunah, jedoch der Appetit.153 Von einer „begeistert wiederentdeckten Kabbala“154 kann hier nicht die Rede sein, und auch nicht in der von Christian Sinn als Beleg angeführten BriefStelle,155 in der sich „Cabbala“ auf Herders Offenbarungsinterpretation LAQAM AHA bezieht.156 Was Herder unter ,Kabbala‘ versteht, bringt dieser zum Schluss seines Büchleins vor, und zwar eben genau dort, wo es ihm um den von Hamann explizit zitierten „Plan des Buches“ geht: Endlich das große Ganze des Buchs157 – ich habe lange darauf bereitet, ich habe es um damit nicht zu stören, bis ans Ende versparet, und vielleicht kommts unsern AntiJüdischen Vorurtheilen noch zu früh – das Ganze des Buches, sage ich, die Anlage, aus 149 Brief an Johann Gottfried Herder und Caroline Herder vom 20. April 1782, S. 74. 150 Brief von Johann Gottfried Herder von Anfang Juni 1780, ZH IV, 188. 151 Es handelt sich hier weder um Pan noch Moses, sondern um Jan Paulikowicz Komarnicki, dem Hamann einen bemerkenswerten Artikel in den Königsbergschen Zeitungen (5. Stück, 10. Februar 1764; N IV, 269) widmet. 152 Brief an Johann Gottfried Herder vom 25. Juni 1780, ZH IV, 198. 153 Brief an Johann Friedrich Hartknoch vom 7. Juni 1781, ZH IV, 307f.: „wie Ziehen in diesem alten Tröster die hieroglyphische Sprache hat entdecken können begreif ich nicht.“ 154 Christian Sinn: Schreiben – Reden – Denken. Hamanns transtextuelles Kulturmodell im Kontext der Kabbalarezeption des 18. Jahrhunderts. In: Das 18. Jahrhundert 28 (2004), S. 27–45, hier S. 29. 155 Brief an Johann Gottfried Herder vom 1. Januar 1780, ZH IV, 147: „Die jüdische Cabbala, welche Sie im Plan des Buchs finden, scheint mir eben so wahrscheinlich in dem Entwurf der ganzen Zeitfolge zu liegen, und jüdische Geschichte ist immer für mich die einzige universal Geschichte gewesen, wie das Volk selbst ein Vorbild des Christentums sowol als Zeichen des menschl. Geschlechts. Hier liegt ein reiches Feld, die Lästerungen unserer unwißenden Hephästione über das Judentum auszudreschen und auszuflegeln. Ein Wunder aller Wunder der göttl. Vorsehung, Regierung und Staatskunst – mehr als Noahs Kasten und Loths Weib u Moses brennender Busch ist für mich jeder Jude.“ 156 Vgl. Brief an Johann Gottfried Herder vom 12. Dezember 1779, ZH IV, 138f. 157 Gemeint ist die Offenbarung des Johannes, nicht – wie Sinn (Schreiben – Reden – Denken [wie Anm. 154], S. 29) vermutet – Flavius Josephus.

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der ich alles bis jede Erscheinung, jeden Engel, jedes Zeichen, fast jedes Wort möchte ich sagen, auf seiner Stelle erklären kann, und ohne die im Plane vieles ein Wald bleibt; sie ist – die Gestalt Christi im Anfange des Buches, in den Glanz der Sephiroth gekleidet *). Ärgere dich nicht, Leser, sondern komm und sieh! – *) Ich lasse mich nicht aufs Alter dieser Sephiroth, des Grundes der Kabbala der Juden, ein, noch weniger aufs Alter ihrer Zeugen. Spuren davon sind in den ältesten Überbleibseln Rabbinischer Weisheit, so wie ihr Grund in der Schrift (1 Chron. 29,11) und ihr offenbarer Erweis in vielen Stellen der Offenbarung, die doch, von wem sie auch seyn mögen, gewiß vom ersten Jahrhundert her ist. Es folgt hieraus nicht, daß Johannes die Sephiroth betrachtet, wie sie neuere Rabbinen betrachtet haben; noch daß er an sie gehangen, was diese an sie hängen. Offenbar ist ihm nur ein Bild von Namen der Herrlichkeit Gottes (1 Chron 29,11) in die Gestalt des Menschensohns (Jes. 11, 1–9) verkleidet. Also gehörte auch zu ihrer Anwendung keine Rabbinische Gelehrsamkeit, so wenig als sie dazu gehört, seinen Vortrag nach den 6 Hauptstücken des Katechismus Lutheri, oder eine Predigt nach dem mancherlei gewöhnlichen Vsu einzurichten. Auf die Art der Anwendung, nicht auf die Form des Urbildes kommt alles an; und die ist ihm leicht und natürlich. Zum Gebrauch eines allbekannten Typus braucht es kein Studium vieler Jahre. – –158

5.

Textus nuceus

Einiges spricht dafür, dass Hamanns Auffassung einer für den Christen akzeptablen Vorstellung von ,Kabbala‘ sich von derjenigen Herders zur Zeit von LAQAM AHA nicht wesentlich unterscheidet. Für unseren Zusammenhang, den die Aesthaetica bildet, ist dieser – wenn auch späte – Nachweis wichtig. Er zeigt an, dass ,Kabbala‘ bei Hamann nicht das ausgeklügelte System eines sich durch alle Seinsstufen hindurch emanierenden göttlichen „Ungrunds“ bezeichnet, sondern in einigen wenigen Fällen als Synonym für den einen „Plan“ stehen kann. Worauf diese positive Bedeutung von ,Kabbala‘ beruht, gilt es zu zeigen. Herders paradoxe Prämisse, der Sinn der Offenbarung des Johannes sei einfältig und ,offenbar‘, weist deutlich in die Richtung einer Grundsatzentscheidung, welche die zeitgenössischen Debatten um die biblische Hermeneutik angeht. Für Herder findet sich der „Plan“ in die „Gestalt des Menschensohns verkleidet“, und dies von Anfang an und bis zum letzten Gericht: „[W]ers verschmäht, als Kind zu sehen“, dem verschließt sich Schema und Plan, und an die Stelle ganzer Bilder treten „Farben“, denn „ihm bedeutet nicht, was am klärsten bedeutet, was jedermann beim ersten Blick siehet.“159 Für Hamann nun stellt dieser Plan Fun158 Johann Gottfried Herder: LAQAM AHA. Das Buch von der Wiederkunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel (1779). In: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. IX. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1893, S. 281. 159 Ebd., S. 246.

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dament und Perspektive eines Gesamts dar, das sich von selbst erschließt und das es beobachtend zu erschließen gilt: Jede individuelle Wahrheit wächst zur Grundfläche eines Plans, wunderbarer als jene Kuhhaut zum Gebieth eines Staats; und ein Plan, geraumer als das Hemisphär, erhält die Spitze eines Sehpuncts.160

Doch kehren wir von den hermeneutica nochmals zu den aesthetica zurück. Wie wir gesehen haben, begründet Hamann aus der Gottebenbildlichkeit heraus das Schema, in welchem der Mensch „einhergeht“. Er lässt dem Absatz ein lateinisches Zitat aus Manilius’ Astronomica folgen: „Jeder ist ein Gott in einem kleinen Abbild.“161 Manilius Absicht ist es, die Möglichkeit menschlicher Welterkenntnis zu erweisen. Er folgert nämlich, dass es „kein Wunder“ sei, dass wir die „Welt erkennen können“ (quid mirum, noscere mundum).162 Wie so oft kommt es auch hier auf den Kontext an. Die Stelle sollte uns nicht dazu verführen, den reichen Schatz an Mikro-Makrokosmos-Analogien der gesamten neo-platonischen Tradition zu heben. Manilius geht es um die stoische Sonderstellung des Menschen, der zum Herrscher und Eroberer der Welt bestimmt ist; als solcher ist er ein Gott im Kleinen. Da der göttliche Geist den Menschen durchdringt, kann der Mensch erkennen. Der Mensch erkennt Absichten, weil er selbst welche hat.163 Als einziges aufrechtes und sprachfähiges Wesen kommt ihm von Natur aus die Bestimmung zu, sich zu entwickeln, Felder zu pflegen, Straßen und Brücken zu bauen, Städte zu gründen etc.164 Die christlich-neoplatonische Tradition hingegen, wie sie prominent von Philon in De mundi opificio vertreten wird,165 deutet die Analogie von Gott, Kosmos und Mensch anders: Hier steht „b aQshgt¹r j|slor, eQ le_fym t/r !mhqyp_mgr 1st_m, l_lgla he_ar eQj|mor“ [der sinnlich erfahrbare Kosmos, der eine größere Kopie als der menschliche des göttlichen Bildes ist,] im Zeichen eines „archetypischen Siegels“ (B !qw]tupor svqac_r), das ihm als göttliche Idee aufgedrückt wird. Diese hermetische Interpretation der Gottebenbildlichkeit als reduziertes Abbild des Kosmos im Menschen wird bezeichnenderweise – wenn auch nicht ein erstes Mal, so doch äußerst einflussreich 160 Aesthaetica in nuce, S. 297f.; N II, 209. 161 Aesthaetica in nuce, S. 164; N II, 198: „Exemplumque DEI quisque est in imagine parua“. 162 Marcus Manilius: Astronomica, IV, v. 895. Hier n. der lat./engl. Ausg. Hg. und übers. von George P. Goold. Cambridge, MA 1977, S. 294. 163 Auf die Bedeutung dieses Gemeinplatzes für die Geschichtstheorie der Frühen Neuzeit hat Andreas Urs Sommer (Historischer Pyrrhonismus und die Entstehung der spekulativuniversalistischen Geschichtsphilosophie. In: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850. Hg. von Carlos Spoerhase, Dirk Werle und Markus Wild. Berlin, New York 2009, S. 201–214, hier S. 204f.) hingewiesen. 164 Manilius: Astronomica (wie Anm. 162), IV, v. 903–905, S. 294. 165 Philo: De opificio mundi, 25 (6.). In: Philonis Alexandrini opera quae supersunt. Bd. I. Hg. von Leopold Cohn. Berlin 1896, S. 8.

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– von Bacon verworfen. Nicht zuletzt durch die Rückführung von ,Form‘ auf ,Gesetz‘ und ,Schema‘ versteht er ,Siegel‘ nunmehr als Petschaft des göttlichen Willens, genauer : als Gesetz kraft göttlichen Willens, „Werke“ (opera) somit als „veritatis pignora“ [Pfänder der Wahrheit],166 nicht aber als Kopien vorliegender Bilder : Wie nämlich die Werke des Handwerkers dessen Macht und Geschicklichkeit zeigen, nicht aber sein Bild, so zeigen die Werke Gottes die Allmacht und Weisheit des Schöpfers, sie zeichnen nicht aber sein Bild. Und darin also weicht die Meinung der Heiden von der heiligen Wahrheit ab, denn die Heiden hielten die Welt für das Bild Gottes und den Menschen für das Bild der Welt. Die Hl. Schrift aber erachtet die Welt nirgends einer solchen Ehre wert, Gottes Bild genannt zu werden, sondern einzig das Werk seiner Hände. Den Menschen aber setzt sie unvermittelt für das Bild Gottes.167

Bacon formuliert diese seine Einsicht in die Wirkmacht Gottes, das „Urkundliche der Natur“168 und die tätige Gottebenbildlichkeit des Menschen mit dem „Coeli ennarunt Gloriam Dei et opus manus eius adnuntiat firmamentum“169 des 19. Psalms. Der folgende Vers lautet bekanntlich: „Ein Tag sagts dem andern / Vnd ein Nacht thuts kund der andern“ – es sind die nämlichen Verse, die Hamann zwischen die Abschnitte „Rede, daß ich Dich sehe!“ und „Reden ist übersetzen“ der Aesthaetica einfügt.170 Mehr noch: In der englischen Urfassung von De augmentis, dem Of the Proficience and Advancement of Learning von 1605, eröffnete Bacon die zitierte Stelle mit den Worten „For as all works do shewe forth the power and skill of the workeman, and not his Image.“171 Diesem „workman’s skill“ begegnen wir in dem Zitat aus dem Essay on Translated Verse des Earl of Roscommon wieder, das Hamann dem Diktum „Reden ist übersetzen“ 166 Aesthaetica in nuce, S. 193; N II, 207. – Hamann zitiert mit Angabe seiner Quelle Bacon: Novum Organum (wie Anm. 27), I, 124, S. 218. 167 Bacon: De augmentis scientiarum (wie Anm. 6), S. 545: „Sicut enim opificis potentiam et peritiam ostendunt opera ejus, imaginem autem minime; sic opera Dei conditoris omnipotentiam et sapientiam ostendunt, imaginem ejus haudquaquam depingunt. Atque hac in re ethnicorum opinio a sacra veritate recedit. Illi siquidem mundum imaginem Dei statuebant, hominem mundi. At Sacrae Literae haud tali honore mundum dignantur, ut Dei uspiam imago dicatur, sed solummodo opus manuum ejus; hominem vero imaginem Dei immediate substituunt.“ vgl. Bacon: The Advancement of Learning (wie Anm. 22), S. 341. 168 Vgl. Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 5. Mai 1761, ZH II, 84. 169 Ps 19,2f.: „DJe Himel erzelen die Ehre Gottes / Vnd die Feste verkündiget seiner Hende werck. Ein Tag sagts dem andern / Vnd ein Nacht thuts kund der andern.“ – Vgl. hierzu Paolo Rossi: Bacon’s Idea of Science. In: The Cambridge Companion to Bacon. Hg. von Markku Peltonen. Cambridge 1996, S. 25–46, hier S. 31f. 170 Hamann: Aesthaetica in nuce, S. 166; N II, 198: „Rede, daß ich Dich sehe! – – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme.“ 171 Francis Bacon: The Tvvoo Bookes of the proficience and aduancement of Learning, diuine and humane. London 1605, S. 22v.

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nachstellt. Im Original zielt die Zeile auf die Prosa-Übersetzungen von HorazGedichten: Degrading prose explains his [i. e. Horaz’] meaning ill, And shews the stuff, but not the workman’s skill.172

Die philosophische oder charakteristische Art der „Übersetzung“ ist diejenige, die – wahlweise griechisch, gnostisch oder mystisch173 – die planvolle Hand des Schöpfers über den bloßen Abbildern vergisst und die Erscheinungen somit nicht primär als intendierte Bedeutung (his meaning) des ersten Autors versteht.174 Was Hamann dem Begriff ,Kabbala‘ im Guten einzuräumen bereit ist, liefert er mit seinem Lieblingswort aus Ciceros De oratore: „Und actio, actio, actio ist immer das Heiligtum meiner Kabbala und Philologie seel. Andenkens gewesen.“175 „Kabbala und Philologie“ also, oder Hermeneutik und Ästhetik, Eschatologie und Schöpfungslehre, sie alle führen zu dem einen „Kern“ der „Nuss“,176 der für Hamann aus Handlung und abermals Handlung besteht. Die Handlung des einen schöpferischen und wirkmächtigen Gottes gilt es in und durch Christus zu verstehen, und zwar als das absichtsvolle, planvolle Tun, das – wie jede Absicht – durch dieses Tun und in diesem Tun als dieses Tun Übersteigendes zu finden ist. Das A und Y der Historia, die dieses Tun erzählt,177 172 Wentworth Dillon, Earl of Roscommon: Essay on Translated Verse (1684). In: ders.: The Works. Glasgow 1753, S. 4. – Von Hamann zitiert in der Aesthaetica, S. 169; N II, 199. Die Schreibweise (in der Erstausgabe: „And shews the Stuffe, but not the Workman’s skill“) verrät, dass Hamann eine zeitgenössische Ausgabe verwendet; natürlich könnte es sich auch um eine Anthologie oder eine indirekte Quelle (sowohl das Gedicht als auch unser Vers werden oft zitiert) handeln. 173 Zu Hamanns Verwendung von griechisch, gnostisch und mystisch als Elemente zur Paraphrasierung einer reinheitsbesessenen, kastrierten Philosophie, vgl. Betz (After Enlightenment [wie Anm. 44], S. 250) erhellende Anführung von Stellen aus der Aesthaetica, der Bibel und der Metakritik. 174 Ob Hamann hier auch die deutliche Absage des Earl of Roscommon gegen Enthusiasmus, mehr noch gegen den mystischen Ton, im Sinne führte, gälte es zu klären; vgl. Roscommon: Essay on Translated Verse (wie Anm. 172), S. 8: „Abstruse and Mystick thoughts you must express, / With painful Care but seeming easiness, / For truth shines brightest through the plainest dress.“ Die Verse sind als Ergänzung markiert und finden sich nicht in der Erstausgabe von 1684. 175 Brief an Johann Gottfried Herder vom 3. April 1774, ZH III, 76. 176 Vgl. Martin Luther : Dictata super Psalterium. 1513. In: ders.: Werke. Kritische Gesammtausgabe. Weimar 1883 (=WA 3), S. 12: „Ego autem quandocunque habeo aliquem textum nuceum, eius cortex mihi durus est, allido eum nox ad petram et invenio nucleum suavissimus.“ [Ich aber, wann immer ich einen nussigen Text habe, dessen Schale mir hart ist, werfe ich die Nuss auf einen Felsen und finde so den süßesten Kern.] Der Fels ist, so zeigt es der Zusammenhang an, Christus. 177 ,Historia‘ in der Bedeutung von ,Erzählung‘, ,Ereignisbericht‘ ist bei Luther präsent und sollte beim sensus historicus immer mitgedacht werden; vgl. Martin Luther : Eyn kleyn

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verbindet sich im Schema, das ebenso natürlich als notwendig die latente Absicht in der manifesten Erscheinung zu erkennen gibt. Die Ästhetik geht auf die Empfindung der Erscheinung, die Hermeneutik aber auf die Ahnung der Absicht. Beide verbinden sich in der „Gottmenschengestalt“, wie es in Herders Kommentar zu seiner Apokalypse-Paraphrase heißt: Wer vermag die Gestalt zu malen? Wer ist kühn gnug, Bilder, die nur unvollkommene Merkmale sind, das Antlitz, das wie die Sonne leuchtet, und das Haar, das wie wolliger Schnee glänzt, und die Flamme des Blicks, und den schneidenden Athem und den zermalmenden glühenden Fuß und die rauschende Stimme, als mißverstandene Wortsymbole auf Papier und Lumpen zu gestalten oder zu verunstalten? […] – Malet Würkung, wenn ihr malen wollt und nicht Gleichniß.178

Für Hamann liegt der geschichtsphilosophische Akzent auf dem Schema als sinnlich erfahrbarem Ausdruck göttlichen Handelns, das in den historischen Ereignissen nicht allegorisch, sondern ,historisch‘ und ,literal‘ zu verstehen ist, das heißt in den Ereignissen, den gesta, als dem Sichtbaren.179 Ist ihm die Problemstellung, nämlich die Vermittlung von Unsichtbarem und Sichtbarem im Schema mit der Kabbala gemein, so ist es die Lösung nicht.180 Das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist nun eben die Crux, mit der sich die philologia sacra, insbesondere die reformatorische in ihrem Kampf gegen die Gleichstellung von Schriftüberlieferung und kirchlichen ExegeseTraditionen, kritisch anzunehmen hat. Die Erforschung der historischen Sinnebene, in sprachlicher oder lebensweltlicher Hinsicht, bildet die Hauptaufgabe. Die philologia soll den beweiskräftigen Grund festlegen, und dabei verbindliche Deutungen von denjenigen unterscheiden, die das Verständnis der Hl. Schrift pervertieren, aber auch von denjenigen, die es im Guten vermögen, den Einzelnen ,anzugehen‘, einen frommen Gedanken zu bewirken oder den Glauben zu unterricht, was man von den Euangelijs suchen und gewartten soll. In: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. X/1. Weimar 1910 (=WA 10/1), S. 10: „Da siehstu, das das Euangelium eyn historia ist von Christo, Gottis und Dauids ßon, gestorben und aufferstanden unnd tzum herrnn gesetzt, wilchs da ist summa summarum des Euangli.“ – Hierzu Joachim Knape: ,Historie‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984, S. 85–92. 178 Herder : LAQAM AHA (wie Anm. 158), S. 111. 179 Der oft zitierte Merkvers Nikolaus’ von Lyra: „Littera gesta docet, quid credas allegoria, / Moralis quid agas, quo tendas anagogia.“ [Der Buchstabe lehrt die Ereignisse (oder Taten), was Du glauben sollst, die Allegorie, / der moralische Sinn, was du zu tun hast, wohin du streben sollst, die Anagogie.] Zu den Quellen und älteren Nachweisen vgl. Ulrich Kuther : Kirchliche Tradition als geistliche Schriftauslegung zum theologischen Schriftgebrauch in Henri de Lubacs ,Die Kirche. Eine Betrachtung‘. Münster 2000, S. 123f. 180 Vgl. Schmidt-Biggemann: Geschichte der christlichen Kabbala, 15. und 16. Jahrhundert (wie Anm. 78), S. 22: „Die Symbole waren [den christlichen Kabbalisten] Schemata dessen, was extramental noch nicht sichtbar war. Die äußere Sichtbarkeit der Symbole wurde erwartet – im Eschaton, in der Vollendung und in der himmlischen Herrlichkeit.“

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bestärken. So notiert Luther, beim Hl. Augustinus die bemerkens- und beherzigenswerte Sentenz „Figura non probat“181 oder „Figura nihil probat“182 gefunden zu haben. Darf die Priorisierung des Literalsinns auch nicht als Alleinstellungsmerkmal der protestantischen Hermeneutik erachtet werden, so bewirkt die Infragestellung kirchlicher Autorität, die mit der sola scripturaForderung einhergeht, polemisch die Identifizierung von immanenter Auslegung und anti-allegorischer Haltung, die von Gegnern ihrerseits als exegetische Schwachstelle ausgemacht wird.183 Die kernige Sentenz, die Augustinus zugesprochen wird, vermag für sich genommen nicht, die Schwierigkeiten zu beheben, die sich immer dort ergeben, wo sie der Exeget anschickt, den Bedeutungsbereich von sensus historicus zu bemessen und die partikularen ,Notwendigkeiten‘ zur Aufgabe des buchstäblichen oder historischen Sinns für einen anderen, übertragenen Sinn allgemein zu bestimmen. Spätestens seit dem Hl. Thomas kursiert nämlich die Sprachregelung, dass der sensus litteralis oder historicus nicht bloß den buchstäblichen Sinn, sondern auch den gemeinten bezeichnen kann, der einen offensichtlich metaphorischen oder parabolischen Sinn miteinschließt.184 Im Unterschied zu einem sensus allegoricus umfasst der sensus litteralis in diesem erweiterten Sinn auch die Sache, die uneigentlich bezeichnet wird (,Wolf‘ für ,grausamer Mensch‘, ,lachen‘ für ,erfreulich anzusehen‘), nicht aber die Sache, die durch eine andere Sache ersetzt wird, die weder

181 Zu Luthers Quellen und zur Verbreitung dieses methodologischen Prinzips vgl. Lutz Danneberg: Hermeneutik zwischen Theologie und Naturphilosophie. Der ,sensus accommodatus‘ am Beginn des 17. Jahrhunderts. In: Philologie als Wissensmodell / La philologie comme modHle de savoir. Hg. von Denis Thouard, Friedrich Vollhardt und Fosca Mariani Zini. Berlin, New York 2010, S. 231–283, hier : S. 240–243; ders.: ,Pyrrhonismus hermeneuticus‘, ,probabilitas hermeneutica‘ und hermeneutische Approximation. In: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit. 1550–1850. Hg. von Carlos Spoerhase, Dirk Werle und Markus Wild. Berlin, New York 2009, S. 365–436, hier S. 412f.; ders.: Keckermann und die Hermeneutik. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Hg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel und Christian von Zimmermann. Berlin, New York 2011, S. 161–179, hier S. 168f. 182 Johann Anselm Steiger : Philologia Sacra. Zur Exegese der Heiligen Schrift im Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts. Neukirchen-Vluyn 2011, S. 90. Steiger zitiert Jacob Hertel (Allegoriarum, typorum, et exemplorum veteris & novi Testamenti Libri duo. Basel 1561, S. 5v), der seinerseits – jedoch ohne Quellenangabe – auf Augustin verweist. 183 Vgl. Reimund Sdzuj: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit. Würzburg 1997, S. 27–83. 184 Vgl. Lutz Danneberg: Der ,sensus metaphoricus‘ in der Geschichte der Hermeneutik und die neuere sprachanalytische Metaphern-Diskussion. In: Metapher und Innovation. Beiträge aus philosophischer und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hg. von L. Danneberg, Andreas Graeser und Klaus Petrus. Bern, Stuttgart, Wien 1995, S. 66–104. Mit Bezug auf Thomas von Aquin vgl. Michael O’Connor : Cajetan’s Biblical Commentaries. Motive and Method. Leiden 2017, S. 167–169.

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eigentlich bezeichnet, noch notwendig gemeint ist (die bezeichnete Stadt Jerusalem wird durch Seele, ecclesia militans oder ecclesia triumphans ersetzt).185 Hier, bei der Erweiterung von ,litteralis‘ und der damit einhergehenden Verengung von ,allegoricus‘, kann die hermeneutische Wende lokalisiert werden, die sich entschieden, wenn auch nicht konsequent, von dem vierfachen Schriftsinn verabschiedet. Als Erzvater allegorischer „nugae“ [Spielereien] wird Origenes ausgemacht,186 der geradezu topisch zur Diffamierung eines falschen Schriftverständnisses angeführt wird.187 Die reformatorische Richtschnur orientiert die Auslegungspraxis auf einen ursprünglichen Sinn hin. Der sensus litteralis ist in seiner erweiterten Bedeutung nämlich litteralis, weil er der erste ist; alle anderen aber sind allegorici, weil sie es nicht sind. Wo die Grundbedeutung eines Ausdrucks keinen Sinn zu stiften vermag, ist der sensus metaphoricus oder parabolicus der erste Sinn, weil kein anderer, der näher läge, zu

185 Zu diesen und weiteren Bsp. vgl. Santiago Garc&a-Jaljn: A propjsito del sentido literal. Una puntualizacijn de Pablo de Santa Mar&a a Nicol#s de Lira. In: Scripta theologica 45 (2013), S. 427–443, hier S. 436f. 186 Vgl. etwa Matthias Flacius: Altera pars Clavis Scripturae, seu de Sermone Sacrarum literarum, plurimas generales Regulas continens. Basel 1567, S. 49: „Origenis audacia haudquaquam digna est, cuius ulla ratio in pia Scripturae tractatione habeatur : qui passim in Sacris literis contemnens literalem sensum, allegorias, aut somniorum potius figmenta pro libitu excogitauit, eumq´ ; esse uerum ac genuinu- loci sensum & Dei sententiam contendit. […] Sicut quida- no- ignobilis pater scripsit: Origenes sui ingenii lusus pro Dei mysterijs uenditat.“ [Origenes’ Kühnheit ist ganz und gar nicht wert, dass sie in der rechtmäßigen Behandlung der Hl. Schrift berücksichtigt wird. Er verachtet durchgehend den Literalsinn, denkt sich Allegorien oder eher nach Gutdünken erdichtete Träume aus und behauptet, dass er der wahre, eigentliche Sinn einer Stelle und Gottes Ausspruch sei. /…/ So schrieb denn ein nicht unwürdiger Vater : Origenes verkauft Spielereien seines Scharfsinns für Mysterien Gottes.]; Caspar Goldtwurm: Die Fürnemsten / schöne vnd Tröstliche Allegorie vnnd Geystliche Bedeutunge / des Ersten Buchs Moysi / von allen fürnehmen Patriarchen vonn Adam an biß auff Joseph / darinn nach geystlicher erklärung Christus sampt seinem Reich vnnd Regimennt / vnnd der standt / wesen vnd gestalt / der jetzigen waren Christlichen Kirchen erklärt vnd angezeygt wirdt / Sehr nützlich vnnd tröstlich zu diesenn zeytthen zu lesen. Frankfurt a. M. 1552, S. 9v : „Es haben sich auch vorzeiten die alten Lerer / als Augustinus, Hieronymus, Hilarius, Ambrosius, vn- besonderlich Origenes, Hoch vnd etwa zu überflüssig Allegorias zufüren / vnnd zu machen vnderstanden / Aber ettliche derselbigen sein dermassen gestalt / das sie weder zu erbauwung des Glaubens / noch befestigunge Christlicher Religion fürderlich sein / Sonder sein alleyn als Philosophische / als zur eusserlichen Disciplin gericht vnd gestalt / wie wir ettliches kürtzlich erzelen wöllen.“ – Zu Luthers Ablehnung von Origenes vgl. Stellen und Ausführung bei Thomas J. Tillmann: Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe. Berlin 2006, S. 17–19. 187 Vgl. Johann Anselm Steiger : Martin Luthers allegorisch-figürliche Auslegung der Heiligen Schrift. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), S. 331–351, hier S. 347: „Von Luther recht häufig angeführte abschreckende Beispiele derer, die es mit der Allegorese übertrieben haben […] sind Hieronymus, Origenes, Gregor u. a. Weniger scharf geht der Reformator mit Augustin ins Gericht […].“

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finden ist.188 Und diese Unterscheidung wird auch für Stellen nutzbar gemacht, die explizit allegorisch sind, wie etwa die Gleichnisse des Neuen Testaments. Sie sind litteralis, weil sie litteraliter allegorisch sind. Eine jede Stelle hat also notwendig ihren sensus litteralis, und dies im Gegensatz zu Origenes und seinen Anhängern, die in jeder Bibelstelle einen ,geistlichen Sinn‘, einen senus spiritualis, annehmen.189 Dass der Sinn der Hl. Schrift vom göttlichen Geist durchdrungen sei, dies bestreitet niemand. Und so gibt es keine namhafte Bibelexegese, die den Spiritualsinn schlankweg verwürfe. Wer sich aber diesem Sinn eröffnen will, der muss sich vor spekulativem Übermut hüten und seine Kühnheit bescheiden. Für Luther äußert sich die hermeneutische Bescheidung im Zulassen der Identität von Spiritualsinn und Literalsinn, allen voran in den Evangelien, die durch ihre Klarheit dem Glauben und der richtigen Auslegung die Regel (regula fidei) geben.190 Den Forderungen Paulus’ (Röm 12,7) und Petrus’ (2Petr 1,20) vermöge zu entsprechen, wer sich der ,Einfalt‘ nicht verweigere: Dann wer der einfeltigen Warheyt nicht glauben / vnnd darbey bleiben / sonder aus eigner witz vnd sinn / eigne Interpretation vn- außlegung der schrifft suchen / vnd darinn wie ein saw in eynem rübenacker grüblen will / den gibt Got inn eine- verkörten vnd bösen Sinn.191

Der katholische Haupteinwand, der sensus litteralis könne das theologische Fundament und die Glaubensartikel alleine nicht garantieren, untergräbt die „Regel Gottes“192 ; er sieht in der Bibel ein opakes Gefäß, das auf das Licht eines kirchlich sanktionierten Interpreten wartet, anstatt das Licht des „festen prophetischen Wortes“, „das da scheinet in einem tunckeln ort“ (2Petr 1,19). Wo aber Klarheit herrscht, so die orthodoxe lutherische Position, da ist Dunkelheit 188 Nikolaus von Lyra: Prologus in moralitates Bibliorum. In: Patrologia series latina. Hg. von Jacques-Paul Migne. Bd. 113. Paris 1879, Sp. 34C–D: „Quod autem aliqui doctores dicunt sensum parabolicum esse litteralem, hoc est intelligendum large loquendum, quia ubi non est sensus per voces significatus, parabolicus est primus, et ideo large loquendo dicitur litteralis, eo quod litteralis est primus quando non est ibi alius […]. Et hoc modo loquendo ego sensum parabolicum vocavi in pluribus locis litteralem. [Wenn aber einige Gelehrte sagen, dass der parabolische Sinn ,litteralis‘ sei, so ist dies in einem weiten Sinn zu verstehen, weil dort, wo der Sinn durch die Bedeutungen nicht angezeigt wird, der parabolische der erste ist, und deshalb in einem weiten Sinn ,litteralis‘ genannt wird, insofern der Literalsinn der erste ist, wenn kein anderer da ist. Und so nenne ich an mehreren Stellen den parabolischen Sinn ,litteralis‘.] 189 Zu Origines’ Priorisierung des sensus spiritualis vgl. Wolfgang A. Bienert: Allegoria und Anagoge bei Didymos dem Blinden von Alexandria. Berlin, New York 1972, S. 64–68. 190 Luther hatte diese in seiner Evangelien-Auslegung vorgemacht und zunehmend auf allegorische Interpretationen verzichtet; vgl. Gerhard Ebeling: Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik. Tübingen 31991, S. 48–90. 191 Goldtwurm: Die Fürnemsten / schöne vnd Tröstliche Allegorie (wie Anm. 186), S. 8v. 192 Ebd., S. 8r.

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die Geburt des Bösen. Es erwächst aus philosophischer Verstiegenheit. Die Sündhaftigkeit des Menschen geht Hand in Hand mit einer verdorbenen und verderbenden Vernunft, die den Ausleger von dem einfältigen Verstand der Bibel weg in den Irrtum führt.193 Diese Priorisierung des sensus litteralis stellt für den Ausleger jedoch ganz andere Probleme dar, wenn er seinen Blick auf das Alte Testament und dessen prophetischen Sinn richtet. Bezeichnend ist hier Luthers Lavieren mit der angestammten Begrifflichkeit. In seinen frühen Dictata über den Psalter unterscheidet er mit LefHvre d’Ptaples einen „sensus literalis historicus“ von einem „sensus literalis propheticus“. Dieser „sensus litteralis propheticus“ wird ihm, wie einer der bedeutendsten Luther-Forscher sich ausdrückt, zum „sensus mysticus des sensus literalis historicus“.194 Dass Luther hier auch weiterhin von ,litteralis‘ spricht, liegt in der Absicht begründet, in diesem Fall der prophetischen Intention des Psalmisten. Unter der Ägide der Absicht wird der prophetische Sinn zum Prinzip der Literalität erhoben, so dass der Psalter als „Fundament der übrigen, Lehrmeister und Licht und Urheber und Brunnen sowie Ursprung“195 bezeichnet werden kann. So kann zwar die Auslegungspraxis der Allegorese beibehalten werden, sie steht nun aber im Zeichen der Literalität. Bezeichnenderweise erhält diese Form der Allegorie ihren eigenen Namen, der die diesbezügliche Differenz anzeigt und die zulässige Form der Allegorese näher zu bestimmen hat: ,Typologie‘. Ohne hier auf die Debatte um den wesentlichen oder unwesentlichen Unterschied zwischen Typologie und Allegorie eingehen zu wollen,196 so gilt es, die Favorisierung dieser Figur textueller Bezüglichkeit auf dem Hintergrund der Favorisierung des sensus litteralis zu betrachten.197 In unserem Zusammenhang entscheidend ist die Abkoppelung des Prädikats ,historicus‘ von ,litteralis‘ und der Bezug von ,historicus‘ und ,propheticus‘. War ,litteralis‘ in gut rhetorischer Tradition an den Bericht gebunden, der die Ereignisse klar und eigentlich zu erzählen hat, so rückt das prophetische Wort als Verheißung in einen Zusammenhang, der aus der Literalität die Heilsgeschichte 193 Vgl. Sdzuj: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie (wie Anm. 183), S. 37f.; Steiger : Philologia Sacra (wie Anm. 182), S. 54. 194 Vgl. zum Ganzen Gerhard Ebeling: Lutherstudien. Bd. 1. Tübingen 1971, S. 32–38 und S. 51–61, hier S. 56. 195 Martin Luther : Dictata super Psalterium. 1513–1516. In: ders.: Werke. Bd. IV. Weimar 1886 (=WA 4), S. 305, zu Ps 119: „quia propheticum, id est literalem […]; qui est fundamentum ceterorum, magister et lux et author et fons atque origo.“ 196 Vgl. Marius Reiser : Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik. Tübingen 2007, S. 102f.; hingegen Erich Auerbach: Figura. In: ders.: Scenes from the Drama of European Literature (1959). Manchester 1984, S. 11–76, hier S. 50–56; Eric Achermann: Wie liest sich das Buch der Welt? Zu Buch und Büchern in der ,Continuatio‘. In: Simpliciana 36 (2014), S. 109–133, hier S. 119f. 197 Zur Typologie bei Luther und in der Lutherschen hermeneutica sacra vgl. die hervorragende Darstellung bei Gründer : Figur und Geschichte (wie Anm. 67), S. 122–127.

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hervorgehen lässt. Löst eine solche Vorstellung zwar nicht die Pluralität von Ereignissen durch den modernen Kollektivsingular ,Geschichte‘ ab, so verzeitlicht die Doppelung von ,historisch‘ und ,prophetisch‘ aber die Bezüglichkeit von Gesetz und Evangelium zum einheitsstiftenden Sinn der gesamten Hl. Schrift. Der für die weitere Entwicklung der orthodoxen Schriftauslegung entscheidende Grundsatz ist das stets von neuem bekräftigte „sui ipsius interpres“, dass also die Bibel sich letztlich nur selbst auslegen könne.198 Wort und Buchstabe können nur Schlüssel zum Glauben sein,199 wenn sie sich nicht dem planen, wörtlichen und gemeinten Verständnis entziehen, sondern durch dieses den Glauben ermöglichen. Ob die Demut nun im Dienste des Buchstabens oder kirchlicher Autoritäten zu üben sei, dies ist die Frage, welche protestantische und katholische Hermeneutik entzweit.200 Argumente für und wider treten höchst routiniert auf: Wer sich auf den Buchstaben verlasse, der verlasse sich letztlich auf sein eigenes Urteil, statt der Tradition und den Vätern zu folgen, so die katholische Position; dagegen halten die Lutheraner fest, dass der Verlass auf Tradition und Väterliteratur ein Verlass auf menschliches Urteil und nicht auf den Hl. Geist sei. Die Favorisierung des einen oder anderen Sinntypus ist also nicht von der Logik und der Unterscheidbarkeit dieser Typen abhängig, sondern von einer schrift-theologischen und christologischen Präsupposition: Wem die Bibel als der offene und einzige Zugang zu Gott erscheint, der entdeckt in den gesta, den geschilderten Ereignissen, den ersten Sinn, der ihm zu erkennen hilft, worum es eigentlich geht; wer dies eingesehen hat, der wird das Verhältnis von Buchstabe und Geist als demjenigen von Mensch und Gott in Christus gleichartig erachten und so das Göttliche nicht in einem hiervon separierten Jenseits menschlicher Vernunft suchen.201 Nicht also in der Einheit der Schrift und auch nicht in der analogia fidei ist der dogmatische Unterschied des Schriftverständnisses zu finden, sondern in der von Origenes behaupteten Priorität des

198 Vgl. dazu Steiger : Philologia Sacra (wie Anm. 182), S. 51; mit Verweis auf Martin Luther : Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leoni X. novissima damnatorum (1520). In: ders. Werke. Bd. VII. Weimar 1897 (=WA 7), S. 97: „ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans“ [dass diese durch sich selbst äußerst gewiss, leicht zugänglich, offen, sich selbst auslegend, alles in allem prüfend, beurteilend und erleuchtend sei]. 199 Vgl. Karl-Heinz zur Mühlen: Reformatorische Prägungen. Studien zur Theologie Martin Luthers und zur Reformationszeit. Hg. von Athina Lexutt und Volkmar Ortmann. Göttingen 2011, S. 96–110. 200 Anstatt vieler vgl. prominent Roberto Bellarmino: Dispvtationes de controversiis Christianae fidei, adversvs hvivs temporis haereticos, I, 3, 9. Bd. I. Ingolstadt 1586, Sp. 187. 201 Steiger : Philologia Sacra (wie Anm 182), S. 44–46. – Vgl. hingegen Origenes: De Principiis, IV, 2,4.

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Spiritualsinns, den der Hl. Geist in das Herz der Kirche gegossen habe, um von hier aus den Buchstaben der Hl. Schrift zu erleuchten.202 Wer den sensus historicus als das plane Verständnis der biblischen Äußerungen zum Ausgangspunkt wählt, der muss sich sowohl der sprachgeschichtlichen, als auch der lebensweltlichen Bedingungen annehmen,203 in und durch die sich die Schrift204 dem Leser mitgeteilt hat. Die Ausbildung einer protestantischen philologia sacra trägt der geschilderten Positionsnahme Luthers Rechnung, ja überzeichnet in kontroverstheologischer Absicht die Eindeutigkeit dieser Haltung noch. Die historische Forschung soll zum einen die Priorität des sensus litteralis gegenüber den „Ausdünstungen“ der Allegorese herausstreichen, die der Papisten Hirn allzu leicht entsteigen,205 zum anderen ein Zeichenverständnis entwickeln, das der Leugnung der Realpräsenz durch Calvinisten und Zwinglianer entgegenwirkt, um den klaren buchstäblichen Sinn der Einsetzungsworte „Das ist mein Leib“ zu erweisen.206 Es ist nicht die Historizität um ihrer selbst willen, worauf die historische Erforschung der schriftlichen Offenbarung zielt. Die einfache Teleologie, dass mit einem fortschreitend philologischen Methodenbewusstsein ein kritischer Geist die Geschichte der Erforschung des Alten und des Neuen Testaments wie von selbst überkäme, trifft weder den historischen Anlass noch die Heterogenität und Gleichzeitigkeit der sich entwickelnden Auslegungspraxen. Der philologische Anspruch folgt der Glaubensgewissheit, die Autorität, Integrität und 202 Origenes: Homiliae in Leviticum, 5 (37). In: Patrologia graeca. Hg. von Jacques Paul Migne. Bd. 12. Origenes. Paris 1862, Sp. 454: „secundum spiritalem [sic!] sensum, quem spiritus donat Ecclesiae“ [gemäß des spirituellen Sinns, den der Hl. Geist der Kirche gibt.] 203 Dieses Programm bleibt, als Programm, bis in Hamanns Zeit unverändert; vgl. die von Sven-Aage Jørgensen (Hamanns hermeneutische Grundsätze. In: Aufklärung und Humanismus. Hg. von Richard Toellner. Heidelberg 1980, S. 219–231; wieder abgedr. In: ders.: Querdenker der Aufklärung [wie Anm. 13], S. 103–114, hier S. 107) abgedruckte Bestimmung der „hermeneutischen Fertigkeit“ bei Johann Salomo Semler (Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, zur weiteren Beförderung des Fleisses angehender Gottesgelehrten. Halle 1760, S. 160f.): „Das wichtigste komt, kurz, in der hermenevtischen Fertigkeit darauf an, daß einer sowol den Sprachgebrauch der Bibel recht gewis und genau kennet, als auch die historischen Umstände einer biblischen Rede genau unterscheidet und sich vorstellen kan; und nun auch im Stande ist von diesen Gegenständen auf eine solche Weise iezt zu reden, als es die veränderte Zeit und andere Umstände der Menschen neben uns erfordern; oder in der Abfassung seiner Erklärung für sie verständlich zu seyn. Man kann die ganze übrige Hermeneutik auf diese 2 Stüke bringen; […].“ 204 Zum Grundsatz „Scriptura per Scripturam“ vgl. die Angaben bei Steiger : Philologia Sacra (wie Anm. 182), S. 51. 205 Salomon Glassius: Philologia Sacra, qua totius SS. Veteris et Novi Testamenti Scripturae tum stylus et literatura, tum sensus et genuinae interpretationis ratio et doctrina libris quinque expenditur ac traditur ; […]. Hg. von Johann Gottfried Olearius und Franz Budde. Leipzig 1713, Sp. 397: „allegoriarum Papisticarum mephiti[s]“ [die Ausdünstung papistischer Allegorien]. 206 Ebd., Sp. 405.

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Authentizität der Bibel vorweg behauptet. Es sind denn auch so prominente theologische und hermeneutische Figuren wie Kenose, Herablassung und Akkommodation, die ein zutiefst christologisches Schriftverständnis dem protestantischen Exegeten als Richtschnur vorgeben. Ihre Erklärung sichert die Möglichkeit einer überzeitlichen Kommunikation zwischen Gott und dem Leser der Hl. Schrift, indem die historische Bedingtheit der Kreatur nicht als Skandalon verworfen, sondern zum Signum einer spezifisch christlichen Mitteilung erhoben wird. Deutlich wird der Zusammenhang von Theologie, Anthropologie und Geschichte bei einem der zentralen Gewährsmänner lutherischer Bibelphilologie, Salomon Glassius. Für ihn ist Geschichte weder propädeutische Gabel, noch kritisches Messer, sondern ein Kelle, um Authentizität, Integrität und Sinn der Offenbarung dem Leser nachvollziehbar zu machen. Diese vollzieht sich in dem und durch das schriftliche commercium. Die philologia sacra ist darum nicht kritische Prüfung, die eine Abwertung der Hl. Schrift aufgrund ihrer kontingenten Überlieferung zum Ziel hätte, oder zur Folge hat, sondern vielmehr das Mittel, „die Klarheit der Schrift“ (claritas Scripturae) zu erweisen und jene unvermeidlichen „Dunkelheiten“ (obscuritates) auf die historischen und anthropologischen Gründe zurückzuführen, die einer veränderten Lebenswelt sowie den jeweiligen „Fähigkeiten“ (captus) entsprechen. Und auch hier ist das Ziel nicht, den menschlichen Literalsinn wegzuschneiden, um die göttlichen Mysterien in ihrer Reinheit und Herrlichkeit hervorstrahlen zu lassen, sondern die Einsicht, dass die Hl. Schrift sich durch Menschen an Menschen richtet und dass die Entwicklung dieser Menschen selbst integraler Bestandteil der Sendungsgeschichte ist. Es mag denn auch nicht überraschen, dass Glassius die Figur der Herablassung oder Synkatabase zum Fundament seiner Hermeneutik erhebt: Dessen [des sensus mysticus] Fundament ist die Herablassung [sucjat\basir] Gottes, die auch menschliches Mitleiden [!mhqypop\heia] heißt, weil nämlich Gott in der Schrift mit den elenden Menschen handelt, sich also oft herablässt oder kondeszendiert, und sich so ihrer Auffassungsgabe [captus] anpasst [accomadans], indem er die himmlischen Mysterien in der Hülle menschlicher Angelegenheiten bekannt macht.207 207 Glassius: Philologia Sacra (wie Anm. 205), Sp. 406: „Fundamentum ejus est DEI sucjat\basir, quam !mhqypop\heiam etiam vocant; quia enim DEUS in Scriptura sacra cum misellis agit hominibus, igitur saepius ipsis sucjataba_mei seu condescendit, & ad captum ipsorum se accommodans, sub involucris rerum humanarum mysteria sua coelestia proponit.“ – Auf den Zusammenhang zwischen Glassius und Hamann weist einzig Steiger mit einer ebenso kenntnisreichen wie treffenden Bemerkung hin; Johann Anselm Steiger : Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio, imago, figura, Maria, exempla. Leiden, Boston 2002, S. 210f.: „Johann Georg Hamann war es, der auf die aufgeklärte Akkommodationstheorie reagierte, an ihr Metakritik übte und seine Idee von der trinitarischen Kondeszendenz entwickelte, die die Niedrigkeit Gottes, des Schöpfers, aber auch des Heiligen Geistes, der sich nicht scheut, das menschliche Stammeln als seinen

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Das Verhältnis von sensus historicus und sensus mysticus entspricht der notwendigen Gleichzeitigkeit von Menschlichem und Göttlichem. Für Glassius besteht die Offenbarung nicht im Verstand der Attribute Gottes in der Schöpfung, sondern des Sinns der offenbarten Heilsgeschichte, deren Ökonomie in der intentio auctoris und in dem Auftrag begründet liegt, das „Geheimnis seines Willens“, nämlich den Heilsplan als „göttlichen Rathschluss“ zu „verwalten“ (Eph 1,9; Eph 3,3; 1Kor 9,17).208 Auf dem Hintergrund der fundamentalen Entsprechung von Erscheinung und Absicht, von Gebot und Verheißung sowie Gesetz und Evangelium behandelt Glassius die Kabbala, die er zwar – was die eben bezeichnete Duplizität betrifft – lobt, deren spekulative Kühnheit oder Frechheit209 er jedoch rundweg verurteilt: Für den mystischen und kabbalistischen Sinn der Hl. Schrift halten sie, was auch immer ihre Hirnchen oft aus Aberglaube, öfter noch aus Wahn- und Leichtsinn, am öftesten aber ganz unnützer Weise liefern, ja was durch irgendwelche Wahnvorstellungen in ihren nächtlichen Träumen hervorgebracht wird.210

Glassius folgt in seinem Verständnis einer legitimen Kabbala Petrus Cunaeus.211 In dem höchst einflussreichen, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nachgedruckten De republica Hebraeorum nennt Cunaeus „wahre Kabbala“ das „mystische Verständnis derjenigen Dinge“, „die in der Hl. Schrift verborgen liegen“ und „als göttlicher Auftrag den Aposteln und Evangelisten aufgegeben“ sind.212 Davon zu unterscheiden, so Cunaeus213 und mit ihm Glassius, sei eine rabbinische Kabbala, die sich in Spekulationen / la Origenes und Zahlen-Deuteleien, der Gematria also, ergehe. Letztere sei „damit beschäftigt, mathematisch

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ureigenen Artikulationsmodus zu erwählen, als bleibende Bestimmung des göttlichen Handelns in den Vordergrund hob. Darf dieser Gedanke in seiner Stringenz als typisch Hamannsch gelten, so ist er dennoch – und das zeigt der Vergleich mit Glassius – innerhalb der lutherischen Orthodoxie längst gedanklich vorbereitet, worauf in der bisherigen Hamann-Deutung – so weit ich sehe – nicht geachtet worden ist.“ Vgl. hierzu Gerhard Richter : Oikonomia. Der Gebrauch des Wortes ,Oikonomia‘ im Neuen Testament, bei den Kirchenvätern und in der theologischen Literatur bis ins 20. Jahrhundert. Berlin, New York 2005, S. 80–88. Allegorische Entgleisungen werden in der Literatur der Zeit topisch durch die Lemmata ,audacitas‘ und ,temeritas‘ angezeigt. Glassius: Philologia Sacra (wie Anm. 205), Sp. 363: „Pro mystico & Cabbalico ipsius S. Sanctae Scripturae sensu habent, quicquid ipsorum cerebella, saepe supersitutiose, saepius nugaciter & frivole, saepissime inutiliter suppeditant, imo quibuscunque fere per nocturna somnia delitiis aguntur.“ Ebd., Sp. 349. Petrus Cunaeus: De Republica Hebraeorum libri III. Leiden 1617, S. 497f.: „Ego veram Cabalam appello, mysticium intellectum earum rerum, quae in sacris libris latent. Is intellectus […] divino munere Apostolis & Evangeliorum concessus scriptoribus est.“ Vgl. hier auch S. 501f. Ebd., S. 507f.

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gleichsam bemessend von den Buchstaben oder Texten der Hl. Schrift auf gewisse abstruse Mysterien zu schließen.“214 Die ganze – auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts215 – ebenso populäre wie schlecht beleumundete Divinationskunst, die sich vom Orakel für Glücksspieler bis zu angeblich magischen Trickkünsten gerne als ,Kabbala‘ ausgibt, hat ihre kirchliche Verurteilung schon längst hinter sich. So ist es auch für den Lutheraner nicht nur naheliegend, sondern geradezu selbstverständlich, ,deutelnde‘ Kabbala nicht nur in die gefährliche Nähe zu Magie und Divinatorik zu rücken,216 sondern beide mit papistischen Wortverdrehern zu vergleichen.217 Beide, die Kabbala der Rabbinen sowie die traditiones der Päpste, zeichnen sich durch ihren übermäßigen und willkürlichen Hang zum Allegorisieren aus, die den Literalsinn nicht als Fundament, sondern als kniffliges Rätsel verstehen, das es zu lösen und somit in seiner manifesten sprachlichen Form wegzuerklären gelte. Wer das Wort dem Sinn opfert, der öffnet der Willkür Tür und Tor. Hamann lobt Glassius’ Kabbala-Verständnis ausdrücklich: „Im 2 [Buch von Glassius] habe einige Nachrichten von der Cabbala gefunden, welche die ersten und besten sind, die ich noch gelesen.“218 Dieses Kabbala-Verständnis nun unterscheidet sich nicht grundlegend von den kritischen Bemerkungen Herders zur rabbinischen Tradition. Auch hier steht der Heilsplan im Zentrum derjenigen Ökonomie, die den sensus mysticus als Plan zu erschließen und als Geheimnis zu verwalten hat. Hinter der Schrift, dies steht für den orthodoxen Lutheraner Glassius nicht minder als für Hamann oder Herder fest, stiftet der Wille und Plan Gottes die Einheit, die es erlaubt, die historisch bedingten Äußerungen und damit schwer einsehbaren Bezüge durch Analogie (analogia fidei) recht zu verstehen. Im Gegensatz zu einem Johann Jacob Rambach aber kann weder Glassius’ noch Hamanns Analogie- und Einheitsverständnis auf die Metapher eines „wohleingerichtete[n] Gebäude[s]“ gebracht werden, dessen „Balken und Sparren“ sich wechselseitig stützen und durch „schönste Symmetrie“ in „har-

214 Glassius: Philologia Sacra (wie Anm. 205), Sp. 427: „in literis vel textibus Scripturae, Mathematice quasi dimetiendis & exinde abstrusis quibusdam mysteriis eliciendis, occupat sit. 215 Man denke bloß an Casanova, Cagliostro oder Saint Germain. Vgl. hierzu Peter Hanns Reill: The Hermetic Imagination in the High and Late Enlightenment. In: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Hg. von Monika Neugebauer Wölk. Tübingen 2008, S. 317–330, hier S. 318f. 216 Glassius (ebd., Sp. 438f.) unterscheidet ausdrücklich eine magische von einer ,tolerierbaren‘ Kabbala, die er analog zum Gegensatz „Allegoria illata“ /„Allegoria innata“ nur dann für unschädlich (wenn auch „superstitiosae“ [abergläubisch]) erachtet, wenn sie der Frömmigkeit dient. Unter die monströsen Anwendungen rechnet er (mit einigen Kirchenvätern) die Kabbala der „Gnostici“ und „Valentiniani“. 217 Ebd., Sp. 425. 218 Brief an den Bruder vom 22. März 1760, ZH II, 115. – Vgl. bereits den Hinweis bei Lumpp: Philologia crucis (wie Anm. 101), S. 32.

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monischer Ubereinstimmung“ erstrahlen.219 Vielmehr sind es sowohl Übereinstimmung als auch Differenz, Harmonie und Disharmonie, die es zu erkennen gilt, um diese große Erzählung von verheißener Erfüllung und jeweiliger Not in deren gegenseitigen Bedingtsein zu verstehen.220 Das Schriftverständnis, das wir bei Hamann finden, ist wie dasjenige Luthers und der Lutherschen Hochorthodoxie zutiefst christologisch geprägt. In der Schrift findet sich vereint, was recht eigentlich unvereinbar ist. Im Dienste dieser heterogenen Erscheinung und bruchstückhaften Geschichte steht Philologie als Übersetzungskunst. Denn ebenso wie ich die Sonne nicht mit bloßem Augen erkennen kann, so übersteigt auch die Sonnenfinsternis die Fassungskraft, und es bedarf – wie noch zu zeigen sein wird – des filternden Blickes durch ein Wassergefäß, um das seltene Spektakel wahrzunehmen. Sicher, die Philologie hat sich der Sprachaltertümer und Realien anzunehmen, deren Erlernung seit dem frühen 17. Jahrhundert im theologischen Curriculum der protestantischen Orthodoxie fest verankert ist. Dass diese Ausbildung im Licht oder Schatten einer Apologetik steht, welche die konfessionelle Identität von eben dieser Frage um den Stellenwert der Sprachlichkeit abhängig macht, ist an sich nicht verwunderlich. Nicht nur kennt Hamann diesen Anspruch, er vertritt ihn offensiv. Das falsche Schriftverständnis liegt bei denen, welche die Bibel über die Maßen ,vergeistigen‘ und den sensus mysticus dort suchen, wo er nicht mehr litteralis ist.221 Hinzu kommt das seit dem 17. Jahrhundert allenthalben erahnte Gespenst 219 Johann Jacob Rambach: Dogmatische Theologie oder Christliche Glaubens=Lehre, Vormals in einem Collegio thetico Uber des Hochberühmten Herrn D. Joachim Langens […] Oeconomiam Salvtis Dogmaticam Mit Zuziehung des gewöhnlichen Compendii theologiae positiuae des sel. D. Bayers, auf der Universität Giessen mündlich vorgetragen, Nun […] ans Licht gestellet von D. Ernst Friedrich Neubauer. Frankfurt, Leipzig 1744, S. 273–275: „Wollen wir eine kürtzere definition machen, so ist analogia fidei die harmonische Ubereinstimmung aller Grundwahrheiten der christlichen Religion, welche aus klaren und deutlichen Zeugnissen der heiligen Schrift genommen ist.“ 220 Johann Anselm Steiger : Salomon Glassius’ Hermeneutik des sensus mysticus. Dargestellt anhand seiner Predigten über die Jona-Erzählung. In: Hebraistik – Hermeneutik – Homiletik. Die ,Philologia Sacra‘ im frühneuzeitlichen Bibelstudium. Hg. von Christoph Bultmann und Lutz Danneberg. Berlin, New York 2011, S. 383–412, hier S. 394: „Bemerkenswert ist, wie Glassius seine Ausführungen in der Philologia Sacra bezüglich der Tatsache, dass im Verhältnis von Typos und Antitypos stets auf deren Konsonanz und Dissonanz zu achten sei, […] konsequent anwendet […]. So wie ein jedes Bild Abbild eines Urbildes und mithin nicht das Urbild selbst ist, so gilt dies für einen jeden Typos, der dadurch definiert ist, dass er den Antitypos gerade aufgrund dieser Differenz zum Leuchten bringt. […] Die typologische Exegese gereicht daher gerade nicht zu einer christologisch motivierten Destruktion der in ihr herangezogenen alttestamentlichen Texte, sondern trägt umgekehrt zur Entzifferung ihrer bleibenden Andersartigkeit bei.“ 221 Vgl. die sakrastische Bemerkung zu Allegorie und Buchstäblichkeit in Vetii Epagathi Regiomonticolae hierophantische Briefe. [Riga] 1775, S. 35f.; N III, 152: „Der aufrichtigste Scepticismus scheint durch seine Untersuchungen, sehr natürlicher Weise, in eine größere und übertriebnere Verleugnung des Sensus communis zu verfallen, als diejenige ist, welche

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des Sozinianismus, das die christliche Religion ihrer Mysterien beraube und ihre Botschaft auf einen bloß moralischen Gehalt runterbreche.222 Auch diesen ,Ungeist‘, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der grassierenden Neologie und in allen möglichen Spielarten vernünftigen Erklärens äußert, zu bekämpfen, wird Hamann zeitlebens nicht müde.223 Einem Sinn, der als eigentlicher hinter oder über der Schrift liege, gilt Hamanns Widerrede in seinem Hierophantischen Brief. Sein überraschender Befund lautet, dass die angebliche Reinheit einer Urbotschaft oder auch einer Urkirche ein Hirngespinst sei, das Katholiken wie Reformierte, Quäker wie Mennoniten gleichermaßen beherrsche. Die Reinheit verführe nämlich zur Privilegierung der Interpretation über das Original, gleichviel ob die Auslegung bald durch die Kirche dogmatisch, bald durch die innere Erleuchtung privatistisch sanktioniert werde. Gegen diese beiden Pole der Schriftauslegung setzt Hamanns Polemik gegen seinen späteren Beichtvater, Johann August Starck, an, dem er nicht nur explizit und primär Kryptokatholizismus, sondern implizit auch Kryptocalvinismus vorwirft: Wenn dem Hierophanten im Ernst der Schade Josephs zu Herzen gegangen wäre; wenn seine ganze Anklage des Heidentums etwas mehr als jede Declamation eines Sophisten auf sich hätte; wenn er in seinem eigenen Gewissen von der Überzeugung seines gelehrten Beweises gerührt gewesen wäre: was hätte wol die unumgängliche Anwendung seines Textes und des darüber ausgearbeiteten Sermons seyn müssen? – – Ist die Hinterthür, durch welche er von dem andächtigen Leser Abschied nimmt, einem ehrlichen Schriftsteller anständig? Statt an Calvin, Mennon und Fox zu denken über man aus bloßer sittlicher Scheu für die im Evangelio aufgedeckte Herunterlassung zur Throhet und Schwäche und Trost unsers im Ganzen genommenen Geschlechts schuldig wäre. Daher ist die unvermeidliche Folge des künstlichen Unglaubens eine eben so unerkannte als unwillkührliche Leichtgläubigkeit, die sich zu einander verhalten wie des Origines Allegorien zu seiner Hexapla oder auch zu seiner buchstäblichen Vollziehung des Evnuchismus.“ 222 Zur topischen Verwendung von ,Sozinianismus‘ in der Apologetik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts vgl. Eric Achermann: ,Ratio‘ und ,oratio mentalis‘. Zum Verhältnis von Aristotelismus und Sozinianismus am Beispiel der Philosophie Ernst Soners. In: Nürnbergs Hochschule in Altdorf. Beiträge zur frühneuzeitlichen Wissenschafts- und Bildungsgeschichte. Hg. von Hanspeter Marti und Karin Marti-Weissenbach. Köln, Weimar, Wien 2014, S. 98-157, hier S. 98–103. – Zur Moralisierung der Bibel im 18. Jahrhundert vgl. die hervorragende Darstellung bei Jonathan Sheehan: The Enlightenment Bible. Translation, Scholarship, Culture. Princeton 2008, S. 118–147. 223 Eher überraschend ist das große Interesse, das Hamann an Fausto Sozzini nimmt, da er in dessen Bestreitung der Möglichkeit einer natürlichen Religion den Vorläufer Humes und seiner eigenen Position gegen Mendelssohn erkennt; vgl. Brief an Johann Friedrich Hartknoch vom 23. August 1781; ZH IV, 342; sowie Brief an Johann Gottfried Herder vom 9. Dezember 1781, ZH IV, 353. – Zu den einschlägigen Stellen, die diese Position Sozzinis, nicht aber des Gros der Sozinianer untermauert, vgl. Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas PolitischTheologischem Traktat. Neue Ausg. Hildesheim, New York 1981, S. 35.

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eine allgemeine Frage, die als schon entschieden der ganzen Abhandlung zum Grunde liegt, war es denn gar nicht der Rede werth, den Gottesmenschen zu nennen, der den größesten Theil jener heidnischen Gräuel aus dem calotschen Gemälde vom Christentum vor des Hierophanten Creation und Promotion glücklich getilgt, und desselben zweydeutig entscheidendes Gutachten in Ansehung der Kirchengebräuche mit Rath und That längstens erfüllt hat? –224

Der „Gottesmensch“ Luther hat das „calotsche Gemälde“ – wohl die monströse Ausgeburt einer von Riten und Traditionen zersetzten papistischen Katholizität – derart gereinigt, dass es keines Jean Calvin, Menno Simons oder George Fox bedarf,225 um einen allfälligen Rest auch noch auszufegen. Dass aber Starck, seines Zeichens nicht nur Theologe und Orientalist, sondern auch lutherischer Geistlicher, in seinem „Abschied“ bezeichnenderweise Luther vergisst, dies sei nicht zuletzt Folge eines verqueren Schriftverständnisses, das den Leib des Buchstabens als kontingenten Träger eines geistigen Sinns weit unter denselben stelle. Für Hamann ist es ausgemacht, dass das Austarieren zwischen Schrift und innerer Stimme, zwischen sola scriptura und sola conscientia, letztlich zu einer Hintansetzung der Schrift führen muss, wenn diese nicht als dasjenige verstanden wird, was sie für sein Dafürhalten ist: Leib und Zeugnis unerhörter Begebenheiten, in der Gott Mensch und Wort wurde. Hamanns eigene Strategie eröffnet eine doppelte Front, die er gegen den Purismus – sei dieser spiritualistisch oder historisch-kritisch – macht. Das polemische Aufeinandertreffen der skizzierten konfessionellen und innerkonfessionellen Zerwürfnisse treibt seines Erachtens einen Keil zwischen philologia und sacra. Auf der Suche nach einem exegetischen Verfahren, das die Schrift in ihrer ursprünglichen und authentischen Reinheit zu rekonstruieren vermag, gerät die Schrift als Schlüssel und Fundament des Glaubens aus den Augen. Aus der Stütze des biblischen Sinns wird unter der Feder so einflussreicher Autoren wie Richard Simon und Baruch Spinoza ein Fallstrick, den die unkritische und unhistorische Vorannahme einer angeblich ursprünglichen Authentizität und Autorität des biblischen Wortes gegen dieses selbst spannt. Der Preis, den sowohl die privatistische als auch historisch-kritische Erforschung der Schrift bezahlt, ist die Integrität der Schrift. Die Schmälerung der Schriftautorität resultiert paradoxerweise aus der unveränderten Grundzuversicht, dass in der Echtheit der Überlieferung sowie der Wahrheit des Inhalts die Kriterien zu finden sind, die jenseits der Geschichte als Geschichte ein ge224 Hierophantische Briefe, S. 7; N III, 139; wie Jansen Schoonhoven in seinem Kommentar (HHE V, 44f.) aufgezeigt hat, bezieht sich Hamann auf Johann August Starck: De tralatitiis ex gentilismo in religionem Christianam. Königsberg 1774, S. 65. 225 Zum Schriftverständnis der Quäker vgl. Scott Mandelbrote: ,Bondage in Babylon‘. The Bible, Freedom of Conscience, and Ideas of Civil Liberty in England, c. 1640–c. 1750. In: Hebraistik – Hermeneutik – Homiletik (wie. Anm. 220), S. 469–497.

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schichtsloses Göttliches präsupponieren.226 Darin erkennt Hamann den wunden Punkt. Die Vorstellung einer natürlichen Religion, deren Reinheit vor aller Geschichte liegt, ist selbst unnatürlich. Eine Natur, die jenseits oder außerhalb der Zeit und in der Zeit sich vollziehenden Kommunikation liegt, verkennt Natur als Ausdruck des Schöpfungs-, Offenbarungs- und Heilszusammenhangs. Der Einwand betrifft also das Urteil, was denn schlichtweg als ,historisch‘ zu gelten habe. Für ihn ist Historizität in ihrer Kontingenz uneinholbar, und dies gilt für die „heilige Geschichte“ nicht minder. Davon zeugt nicht zuletzt die kirchliche Tradition. Der gesamte Ritus („unser ganzes Kirchenjahr“) nämlich sei darnach eingerichtet, das Volk in dramatisch-symbolischen Vorstellungen und Feyerlichkeiten mit dem bekannt zu machen, was die heilige Geschichte des vom Himmel auf die Erde herab – und von der Erde in den Himmel heraufgefahrnen Helden, ewigen Vaters und Friedefürsten – zu Seinem Gedächtnisse! und zu einem Zeichen desjenigen Widerspruchs, den Er selbst wider Sich erduldet, damit wir nicht in dem Muth und den „Thaten“ Seiner Nachfolge matt werden und ablassen – in einigen Körben von Fragmenten aufbehalten hat, gleich jenen Schaubrodten in dem Vordertheil der Hütte, jener güldenen Gelte, die hinter dem Vorhange das Himmelbrod hatte. Als Wahrzeichen des Gedächtnisses und Widerspruchs aber wird der Eckstein unsres evangelischen und apostolischen, historischen und dogmatischen Systems, statt eines lebendigen Brods und Stabes, ein Stein des Anstoßes und ein Fels der Aergerniß; der Fisch zu einer Schlange; und das Ey zum Scorpion. –227

Ein Skandalon also ist die „heilige Geschichte“, denn sie lässt sich bedingungslos auf den „philosophischen Fluch und Widerspruch der Contingenz“228 ein. Was Geschichte ausmacht, ist die Vorstellung von Freiheit als Möglichkeit eines Sinns, der sich der Notwendigkeit entzieht. Der Mensch als „Lehnträger und Erbe[…]“ des göttlichen Geschenks der Schöpfung, ist von Gott in „einer ursprünglichen Einsetzung“ ermächtigt, und zwar gegenüber der Natur als auch, jeder nach seinem Stande oder in seiner „Ungleichheit“, gegenüber den Mitmenschen.229 Diese Ermächtigung besteht primär in der Sprachbefähigung, die den Menschen gegenüber Gott, der Natur und Seinesgleichen in Kommunikation treten lässt. 226 Vgl. Saverio Mirri: Richard Simon e il metodo storico-critico di Baruch Spinoza. Florenz 1972; Jacques Le Brun: Das Entstehen der historischen Kritik im Bereich der religiösen Wissenschaften im 17. Jahrhundert. In: Trierer Theologische Zeitschrift. Pastor Bonus 89 (1980), S. 100–117; Reiser : Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift (wie Anm. 196), S. 185–273. Zum Übergang von Orthodoxie zu historischer-kritischer Methode vgl. Sascha Müller : Grammatik und Wahrheit. Salomon Glassius (1593–1656) und Richard Simon (1638–1712) im Gespräch. In: Hebraistik – Hermeneutik – Homiletik (wie Anm. 220), S. 515–533. 227 Konxompax. Fragmente einer apokryphischen Sibylle über apokalyptische Mysterien. [Riga 1779], S. 15f.; N III, 222. 228 Ebd., S. 9; N III, 219. 229 Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung, S. 12; N III, 32.

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Doch ist all dasjenige, was uns zeichenhaft entgegentritt, einzig deshalb zeichenhaft, weil es Ausdruck einer zutiefst freien Absicht ist. Was es wahrzunehmen gilt, ist Handlung, was es zu verstehen gilt, aber Absicht: Das menschliche Leben scheinet in einer Reihe symbolischer Handlungen zu bestehen, durch welche unsere Seele ihre unsichtbare Natur zu offenbaren fähig ist, und eine anschauende Erkäntniß ihres würksamen Daseyns ausser sich hervor bringt und mittheilet. Der blosse Körper einer Handlung kann uns ihren Werth niemals entdecken; sondern die Vorstellung ihrer Bewegungsgründe und ihrer Folgen sind die natürlichsten Mittelbegriffe, aus welchen unsere Schlüsse nebst dem damit gepaarten Beyfall oder Unwillen erzeuget werden.230

Eine jede critica nun, die zwischen dem Kontingenten und dem Notwendigen, zwischen dem wahrhaften Ausdruck der Majestät und dem bedingten Ausdruck des Anstößigen zu scheiden beabsichtigt, verkennt die Knechtgestalt, die nicht nur die Herablassung in Christus, sondern auch die Schrift bis ins kleinste, nebensächlichste Detail zu erkennen gibt. Einer Philologie des Kreuzes ist es weder um ästhetischen Wohlgefallen noch um delikate Geschmacksurteile zu tun, welche beide Majestät mit weltlicher Pracht verwechseln. Diese Haltung nun betrifft nicht zuletzt die Sprache selbst, in welcher das Evangelium erscheint. Aus Begriffen wie ,Einheit‘, ,Harmonie‘ und ,Symmetrie‘ scheint denn auch das Kriterium hervor, das Hamann vom Gros seiner Zeitgenossen trennt, seien diese Physikotheologen, Neologen, Spiritualisten oder der Vernunft verpflichtete Spätorthodoxe. Ob das Verhältnis von Göttlichem und Fleischlichem, von Geist und Buchstabe, die eigenen vernünftigen Maßstäbe von Moral und Ästhetik widerzuspiegeln habe, oder aber aus einem freien Handeln, das in seiner Freiheit nicht nur über der, sondern auch wider die Menschenvernunft ist, heraus zu verstehen sei, ist eine Alternative, die auf grundverschiedenen hermeneutischen Voraussetzungen beruht. Argumente, die sich heute arguments from design nennen, berufen sich gerne auf einen bereits realisierten Plan, dessen Vortrefflichkeit die Natur stets aufs Neue demonstriert.231 Hamann hingegen erkennt in Makel und Bedürfnis die dramatische Grundvoraussetzung von Geschichte. Und so erfreut er sich auch ob der sprachlichen Konfusion, die im Neuen Testament herrscht: Die Schreibart ist ihm in ihrer Unreinheit höchster Beweis für die Authentizität der Rede, und 230 Die Magi aus Morgenlande, zu Bethlehem. In: Kreuzzüge des Philologen, S. 45; N II, 139. 231 Zur Verbreitung dieses Arguments in der englischen Philosophie und Dichtung der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Holger Steinmann: Absehen – Wissen – Glauben. Physikotheologie und Rhetorik 1665–1747. Berlin 2008, passim. – Zur christologischen Umdeutung der Oikonomia von der göttlichen Einrichtung zur göttlichen Handlung, die im Leben Christi in Erscheinung tritt, vgl. Richter : Oikonomia (wie Anm. 208), S. 97.

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zwar „jat’ amhqypom“,232 nach Maßstab des Menschen. Auch „hier“ finden sich „heilige Schriftsteller in der vertraulichsten Gesellschaft unreiner Musen“.233 Mit den „Hauptkennzeichen“ der oft zitierten Guten Sache des Sohns von Hamanns Paten, Theodor Christoph Lilienthal, hat das wenig bis nichts zu tun. Dieser fordert: 1.) Eine Göttliche Offenbarung muß lauter Wahrheiten in sich halten, und zwar fürnemlich solche, an deren Kenntniß dem menschichen [sic] Geschlecht sehr viel gelegen ist, und welche ihre Vernunft ihnen nicht entdecken kan: 2.) Sie muß weder sich selbst, noch anderen unleugbaren Wahrheiten der Vernunft und der Erfahrung widersprechen: 3.) Sie muß in Ansehung ihrer Hauptwahrheiten, sehr alt, und auf eine allgemeine Art bekannt gemacht seyn: 4.) Sie muß auf eine GOtt anständige Art abgefaßet, und in einer deutlichen, gewißen und reinen Schreibart vorgetragen seyn.234

6.

Die Politik des decorum

Die Schreibart, und dies wird Hamann zeitlebens nicht müde zu unterstreichen, darf weder dem Urteil „moralische[r] Pharisäer“, noch „orthodoxe[r] Schriftgelehrte[r] und ihres Otterngezüchts“ überantwortet werden.235 Der von Hamann in seiner Korrespondenz öfters gebrauchte Ausdruck ,orthodox‘ soll nicht dazu verführen, eine Haltung zu vermuten, die Hamann nirgends bezieht, nämlich diejenige für den Pietismus (egal welcher Couleur) und somit gegen die Orthodoxie. Hamann geht es mit der Verwendung von ,orthodox‘ um eine puristische Glaubensanmaßung, wie sie die Exegeten im Streit für und wider den guten Geschmack und die guten Sitten der biblischen Sprache an den Tag legen, und nicht um die kirchenpolitische Spaltung, die so gerne mit dem nicht minder wirkungsvollen als vieldeutigen ,Pietismus‘ zum Ausdruck gebracht wird.236 Im 232 Kleeblatt Hellenistischer Briefe (1762). In: Kreuzzüge eines Philologen, S. 101; N II, 169f. 233 Beurtheilung der Kreuzzüge des Philologen (1763); N II, 273. 234 Theodor Christoph Lilienthal: Die gute Sache der in der heiligen Schrift alten und neuen Testaments enthaltenen Göttlichen Offenbarung, wider die Feinde derselben erwiesen und gerettet werde (1750). Bd. I. Königsberg 31779, S. XIV. 235 Zum Bruch der aufgeklärten Spätorthodoxie eines Lilienthal mit dem hochorthodoxen Schriftverständnis, das eben „nicht nur supra, sondern auch contra rationem“ ist, Steiger : Philologia Sacra (wie Anm. 182), S. 151. 236 Wie weit das fromme Harmonieerlebnis von demjenigen Hamanns absteht, mag ein Stelle bei Knutzen, dem Lehrer Hamanns und Kants, illustrieren: „Nicht nur der Inhalt […], sondern auch die Schreibart [der Hl. Schrift] unterscheidet dieses göttliche Buch […] von allen anderen menschlichen Schriften. Hoheit und Niedrigkeit, ungekünstelte Einfalt und majestätische Weisheit sind darinn in lieblichlicher Eintracht.“; Martin Knutzen: Betrachtungen über die Schreibart der Heiligen Schrift und ins besondere über die Mosaische Beschreibung der Erschaffung der Welt, durch ein göttliches Sprechen. Königsberg 1747, S. 275. – Zu Ähnlichkeiten und Differenzen in den Ansätzen Hamanns und Knutzens vgl.

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Gegenteil gilt Hamanns ausdrückliche Anerkennung einer hochorthodoxen philologia, wie sie von einem Glassius vertreten wird. In seinem Respekt gegenüber der historischen Form, in welcher das Neue Testament nun mal erscheint, bekundet Glassius keine Mühe, die ckyttos}cwusir237 (Sprachverschmelzung oder -verwirrung) aus Griechisch, Hebräisch, Chaldäisch, Syrisch und Lateinisch für den Hellenismus des Neuen Testaments einzuräumen. Hamanns Anliegen ist weder der fromme Erweis der ästhetischen Vorzüglichkeit noch die kritische Abwertung der Sprache der Propheten und Apostel. Kurz, er wisse nicht, „warum man dergleichen obseruationes eben sacras und nicht profanas, criticas u. s. w. nennt“.238 Auf diesem ,metakritischen‘ Hintergrund ist die Übersetzung von Hervey, Bolingbroke und Hunter zu sehen. Hamanns Übersetzung aus dem Jahr 1774 greift eine Debatte auf, die mehr als 20 Jahre zurückliegt.239 In seiner Vorrede erklärt Hamann seine „letzte Übersetzung“ als Beitrag zu der „uralte[n] Fehde zwischen Vernunft und Offenbarung, Moral und Religion, und über ihre beyderseitige Verhältnis zur Politik.“240 Im Zentrum der Hamannschen Übersetzungen steht, ausgelöst durch Bolingbrokes kritische Abrechnung mit der biblischen Urgeschichte, die Frage nach der Zuverlässigkeit historischer Berichte. Dieser Frage werden drei Übersetzungen gewidmet; den Anfang macht ein Brief aus Henry St. John, Lord Viscount Bolingbrokes 1752 posthum erschienenen Letters on the Study and Use of History,241 es folgen James Herveys Remarks on Lord Bolingbroke’s Letters242 aus dem selben Jahr und – etwas überraschend – Thomas Hunters Observations on Tacitus. In which his Character as a Writer and an Historian, is impartially

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Gründer : Figur und Geschichte (wie Anm. 67), S. 56–60. – Zu Pietismus bei Knutzen vgl. James Jakob Fehr: Die Schriften der Königsberger Pietisten Franz Albert Schultz und Martin Knutzen zwischen Pietismus und Aufklärung. In: Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte. Köln 2004, S. 629–653. Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zum Verhältnis von Pietismus und Aufklärung bei Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009, S. 92f. Glassius: Philologia sacra (wie Anm. 205), Sp. 324–346, der Ausdruck ,Glottosynchysis‘ findet sich Sp. 330. Kleeblatt Hellenistischer Briefe, S. 99; N II, 169. So findet sich Hamanns erste Erwähnung von Hervey bereits in einem Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. Januar 1756, ZH I, 134. Zum Einfluss Herveys auf Hamann in der Londoner Zeit vgl. Bayer und Weissenborn: Londoner Schriften, 7; sowie Graubner : ,Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse‘ (wie Anm. 41). Heinrich St. Johann Vitzgraf Bolingbroke und Jakob Hervey etc. etc. Uebersetzt von J. G. Hamann. Mitau 1774, Vorrede, S. A2v ; N IV, 441. Henry St. John, Lord Viscount Bolingbroke: Letters on the Study and Use of History. London 1752. James Hervey : Remarks on Lord Bolingbroke’s Letters on the Study and Use of History. So far as they relate to the History of the Old Testament; And especially to the Case of Noah, denouncing a Curse upon Canaan. In a Letter to a Lady of Quality. London 1752.

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considered, and compared with that of Livy, ebenfalls aus dem Jahr 1752.243 Das Kleeblatt erwächst aus einer gemeinsamen Frage, nämlich welcher Affekt, welches Decorum und welche rhetorische Absicht dem Geschichtsschreiber eigen sei oder eigen zu sein habe. Im Gegensatz zu Bolingbroke und Hervey trägt Hunters Tacitus-Demontage nichts zur Frage nach der historischen Zuverlässigkeit des Alten Testaments bei, sondern dient der Kritik eines Geschichtsverständnisses, das die politische Maxime zur eigentlichen Geschichtserkenntnis erhebt.244 Den Anlass, Hunters Tacitus der Auseinandersetzung zwischen Bolingbroke beizufügen, liefert ein längeres Zitat, das Hervey gegen Bolingbroke in Anschlag bringt. Das Zitat macht Tacitus’ „Charakter“ für die Unzuverlässigkeit von dessen Geschichte verantwortlich: Nachdem ich die vornehmsten Eigenschaften des Tacitus als eines Schriftstellers und Geschichtsschreibers betrachtet habe; so kann ich mich nicht entbrechen zu urtheilen, daß in seinen Beschreibungen eine falsche und affektierte Erhabenheit herrscht; daß sein Witz eine satyrische Ader und unartige Leichtfertigkeit (Scurrilität) mit einer gar zu epigrammatischen Kürze an sich hat; daß in seinen Anmerkungen der Scharfsinn gar zu speculativisch, und die Staatsklugheit zu spitzfindig aussieht, daß in seinen Charakteren eine boshafte und heimtückische Wendung; in seinen Reden eine gar zu abstrakte und übertriebene Weltweisheit und Eitelkeit in seiner Gelehrsamkeit herrscht. Kurz, er ist in den Alterthümern ein Pedant; in der Philosophie der Natur ein Sceptiker ; in der Sittenlehre ein Freygeist; in Gemälden bunt und prächtig; in der Politik arglistig, verschmitzt und schelmisch.245

Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass gegen Tacitus bzw. Bolingbroke Geschmackskriterien angelegt werden, die Hamann auf die eigene ,punische‘ Ader angewendet kennt: Skurrilität, Epigrammatik, Satire u. a.m. Schenken wir Hamanns einleitenden Zeilen Gehör, so ist es aber nicht Tacitus’ dreifaltiges 243 Thomas Hunter : Observations on Tacitus. In which His Character as a Writer and An Historian Is impartially considered, and compared with that of Livy. London 1752. 244 Charakter des Tacitus als Schriftstellers und Geschichtsschreibers mit des Livius seinem verglichen von Thomas Hunter (übers. Hamann), S. 165f.: „Seine [Tacitus’] Betrachtungen sind oft spitzfindiger denn natürlich, glänzender denn gründlich; überraschender denn richtig; bisweilen aber, muß man mit Wahrheit sagen, sind sie alles dieses zusammen. Ihr einziger Fehler besteht in einer übelangebrachten Anwendung auf Personen und Sachen. Die unermeßliche Fundgrube seines vortrefflichen Verstandes wird bloß durch den geflißentlichen Mißbrauch, selbigen bey allen Gelegenheiten zu zeigen, geschändet. Dies veranlaßt ihn so oft in den entferntesten Zeitaltern und Gegenden, beyde Seiten einer Frage zu behandeln, bey einem Gegenstande, der an sich entschieden ist. Dies verleitet ihn zu sprichwörtlichen und maximartigen Beobachtungen, die so häuftig bey den gemeinsten Gelegenheiten und gewöhnlichsten Charakteren aufstoßen. Daher jene abstracte, kalte und philosophische Mine, welche seine Schauspieler und Sprecher unter den heftigsten Leidenschaften annehmen.“ 245 Jakob Hervey’s Anmerkungen über Lord Bolingbroke’s Briefe, in so fern selbige die Geschichte des alten Testaments, und besonders den Fluch des Noah über den Kanaan betreffen. Uebersetzt von J. G. Hamann, S. 70.

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Vergehen gegen Natur, Geschichte und Moral, das die Lust auf eine Übersetzung von Hunters Character beflügelt hat, sondern die Politik. Tatsächlich wird Tacitus aus der Feder Hunters zu einem Machiavelli ante Machiavellum,246 und mit ihm der Ränke schmiedende Bolingbroke.247 Als prominenter Tory kriegt dieser die vom whiggism248 geprägte Abneigung solcher Autoren wie Hervey zu spüren, ja, Hunter versteigt sich gar zur Behauptung, dass derjenige ein eitler Tacitus sei, wer hoch verehrten Personen wie Warburton, Locke, Tillotson und Hervey so frech „die Stirne eines Kunst= oder Ketzer=Richters“249 zu bieten wage. Die „Politik“, die hinter dem Verhältnis von „Vernunft und Offenbarung, Moral und Religion“ steht, ist eine Wissenschaft der „geheimen Artikel“ oder arcana; sie meint das politische Handeln und nicht die Staatsform. Als Handlung nämlich steht diese Politik im Schnittpunkt von Moral und Vernunft. Wie nun diese ihrerseits in ein ausdrücklich politisches Verhältnis zu Offenbarung und Religion zu stehen kommen, kann wohl nur der Rekurs auf die Rhetorik beantworten. Tacitus, und also Bolingbroke, ist nämlich nicht in erster Linie Historiker, sondern Rhetoriker : Tacitus mahlt mehr wie ein Poet, denn wie ein Geschichtschreiber. Er ist aber noch mehr ein Redner als ein Dichter, mehr ein Moralist und Witzling, als ein Redner, und mehr als alles übrige, ein Staatsmann.250

Die Reihung Historiker, Poet, Redner, Moralist, schließlich Staatsmann, entfernt den Autor nach Ansicht Hunters von der wesentlichen Aufgabe des Historikers, d. h. unvoreingenommen und wahrheitsgetreu zu berichten. Und dieser Aufgabe gerecht zu werden, bedeutet die mores oder den Charakter zu haben, den ein Historiker offensichtlich mehr benötigt als ein Schriftsteller.251 Hunter verficht 246 Das hat gute Tradition; vgl. Else-Lilly Etter : Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Basel, Stuttgart 1966, S. 15–26 36–44, 100–103; sowie 151–153; Michel Senellart: Machiav8lisme et raison d’Ptat. Paris 1989, S. 56. 247 Zur politischen Bedeutung Bolingbrokes vgl. Isaac Kramnick: Bolingbroke and His Circle. The Politics of Nostalgia in the Age of Walpole. Ithaca, London 1992, S. 8–38. 248 Zum Dichtungsverständnis der whigs, insbesondere dem Religiösen in der Nachfolge Miltons, vgl. Abigail Williams: Poetry and the Creation of a Whig Culture (1681–1714). Oxford 2005, S. 182–186 und S. 244f.; Autoren wie Shaftesbury, Addison, Young, Hervey, Thom[p]son, die allesamt – wenn auch in unterschiedlichem Maße – Teil von Hamanns Lektüre sind, stellen einen eigentlichen Kanon der Erhabenheitsdichtung dar, wie sie die Whigs favorisieren. Gleichzeitig zitiert Hamann jedoch auch gerne die gegnerische Partei: Roscommon, Warton, Gay, Swift, Pope. Diese englischen Debatten um das ,Sublime‘, Vernunft und Natur sowie deren politische Implikationen gälte es mit Blick auf Hamanns noch zu untersuchen. 249 Hunter : Charakter des Tacitus (übers. Hamann), S. 169. 250 Ebd., S. 163. 251 Hunters Vorrede präzisiert und gibt dem Inhalt des Berichts den klaren Vorrang vor den formalen Tugenden der Rede; vgl. Hunter : Observations on Tacitus (wie Anm. 243), S. ix: „Thus in History, what is monstrous, and affected, a departure from Truth, from Nature, and

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eine Zielsetzung, die von der politischen Maxime als Resultat historischer Erkenntnis weg und zu einer Erkenntnis des Menschen hinführen soll: „Tacitus giebt euch Einsichten; Livius aber Gesinnungen.“252 Weder Hunter, noch Hamann beabsichtigen hiermit, die Geschichte von der Berichtspflicht der Fakten zu entheben, sondern erkennen eine zusätzliche, wohl auch die hauptsächliche Aufgabe in der Erkenntnis des Menschen, was eine emphatische und sympathetische Einstellung erfordert, oder einfach: Menschenkenntnis.253 Diese Verbindung von Geschichtserzählung und Moralität ist nun alles andere als neu,254 ja es ist für alle christlichen Apologeten, die sich der Funktionsbestimmung politischer Geschichte seit Mitte des 16. Jahrhunderts angenommen haben, geradezu Pflicht, das rechte Maß an geforderter moralischer Reflexion und gesunder Moral zu finden. Dies unterscheidet den guten Historiker vom bösen Machiavellisten. Nur der gute Mensch vermag „das Herz zu bessern“, statt bloß den „Kopf zu füllen.“255 Dies nämlich sind die Begriffe, die Hunters Original für Hamanns „Einsichten“ und „Gesinnungen“ vorgibt: „Head“ und „Heart“. Der Charakter eines Historikers wird bemessen zum einen an der Gattungsfunktion, die spezifische Aufgabe des faktentreuen und unparteiischen Berichtens zu erfüllen, zum anderen an der jeweiligen moralischen Disposition, nützliche Lehren aus der Geschichte zu ziehen, um so den Leser zu bessern. Auf die Bibelphilologie bezogen heißt dies, dass der historische Sinn der Hl. Schrift durch Selbst- und Menschenkenntnis moralisch oder tropologisch auf „das thätige Leben“ oder die „Action“256 des Lesenden einzuwirken habe, also von diesem auf die eigene Gesinnung zu applizieren ist. Die Lektüre im Zeichen der Geschichte wird so zu einer „Kunst zu leben und zu regieren“, zu Moral und

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decency of Character, will readily strike a Mind intelligent and sober, tho’ unequal to the arduous Task of a Writer, and not acquainted with the formal Rules of just Composition.“ Hunter : Charakter des Tacitus (übers. Hamann), S. 194. Vgl. Hunter : Vorrede zu: Observations on Tactius, S. ixf.: „But History being a Recital of Fact, the Foundation and Subject whereof is Human Nature; the Power of which we experimentally feel and know, a blot here is sooner discovered. No Powers of Genius can recommend to our serious Belief what is false and fabulous.“ Zu Bolingbrokes „Lebensweisheit in moralischen exempla“ vgl. Andreas Sommer : Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006, S. 165–182. Hunter : Vorrede zu: Observations on Tacitus (wie Anm. 243), S. xf.: „Mere Narration would be a Journal, not a History. Yet he [the Historian] must not be always reflecting and moralizing; for then he would depart from his proper Character, and assume the Moralist and Politician. He must too be a good Man; otherwise, he will but entertain, where he should instruct; and fill the Head, rather that improve the Heart.“ Hunter : Der Charakter des Tacitus (übers. Hamann), S. 194: „Des Livius Geschichte ist für das thätige Leben eingerichtet.“; vgl. Hunter : Observations on Tacitus (wie Anm. 243), S. 288: „Livy’s History is composed for Life and Action“.

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Politik. Das lutherische applica!257 bildet den Imperativ einer historischen, ja allgemeinen Hermeneutik, in welcher die Vergegenwärtigung des Vergangenen in der Erkenntnis der Absicht besteht und durch empathische Simulation auf das Künftige hin erschlossen wird:258 Es gehört beynahe eben die Sagacität und vis diuinandi dazu, das Vergangene als die Zukunft zu lesen. Wie man in den Schulen das Neue Testament mit dem Evangelisten Johannes anfängt; so werden auch die Geschichtschreiber als die leichtesten Schriftsteller angesehen. Kann man aber das Vergangene kennen, wenn man das Gegenwärtige nicht einmal versteht? – – Und wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel – – Wir sind gleichwohl hierin schon an ein usteqom pqoteqom in unserer Denkungsart gewohnt, das wir alle Augenblicke durch unsere Handlungen, wie die Bilder im Auge, umkehren ohne selbst etwas davon zu merken. – – Um das Gegenwärtige zu verstehen ist uns die Poesie behülflich auf eine synthetische, und die Philosophie, auf eine analytische Weise. […] Ich möchte eher die Anatomie für einen Schlüssel zum cmyhi seahtom ansehen; als in unsern historischen Skeletten die Kunst zu leben und zu regieren suchen, wie man mir in meiner Jugend erzählen wollen. Das Feld der Geschichte ist mir daher immer wie jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, – – und siehe! sie waren sehr verdorret. Niemand als ein Prophet kann von diesen Beinen weissagen, daß Adern und Fleisch darauf wachsen und Haut sie überziehe. – –259

Das politische Verhältnis von Moral und Vernunft zu Offenbarung und Religion, das Hamann in seiner Einleitung zu seiner Übersetzung von Bolingbroke, Hervey und Hunter anzeigt, hat sein tertium in einer rhetorica sacra, welche die Wirkung der Hl. Schrift anthropologisch begründet. Die Kunst, Geschichte zu beleben, macht den Propheten.260 Um dieser zu entsprechen, steht er in der 257 Zum Hamannschen applica! vgl. die hervorragenden Ausführungen und die Sammlung der Belege bei Bayer und Weissenborn: Einführung zu: Londoner Schriften, 6–10. 258 Vgl. Luthers Vorrede zum Psalter. Schon das Luthersche applica! umfasst Bildung der Gesinnung und sokratische Selbsterkenntnis ebenso wie Erkenntnis der Natur und Geschichte. Martin Luther : Vorrede auf den Psalter (1545). In: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Die Deutsche Bibel. Bd. X/1. Weimar 1956 (=WA DB 10, 1), S. 105: „Aber der Psalter helt dich von den Rotten zu der heiligen Gemeinschafft, Denn er leret dich in Freuden, Furcht, Hoffnung, Trawrigkeit, gleich gesinnet sein vnd reden, wie alle Heiligen gesinnet vnd gerdt haben. / SVmma, Wiltu die heiligen Christlichen Kirchen gemalet sehen mit lebendiger Farbe vnd gestalt, in einem kleinen Bilde gefasset, So nim den Psalter fur dich, so hastu einen feinen, hellen, reinen, Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sey. Ja, du wirst auch dich selbs drinnen, vnd das rechte Gnotiseauton finden, Da zu Gott selbs vnd alle Kreaturen.“ 259 Kleeblatt Hellenistischer Briefe, S. 115f.; N II, 175. 260 Die göttliche Aufgabe, Geschichte zu beleben, ist auch der zeitgenössischen Geschichtstheorie nicht fremd und trägt einen deutlichen empiristischen Stempel; vgl. Johann Christoph Gatterer : Vorrede von der Evidenz in der Geschichtskunde. In: Die Allgemeine

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Pflicht, menschliche Regungen und Veranlagungen in seiner Auslegung der Geschichte in Anschlag zu bringen. Die „Gesinnungen“ zu verstehen, gelingt aber nur demjenigen, der unvoreingenommen an die Texte herangeht und sich von dem Vorurteil der eigenen Maßstäbe – seien sie philosophisch, seien sie ästhetisch – verabschiedet. Die Unvoreingenommenheit garantiert so, dass er vom Text eingenommen wird: Das „rem totam applicam ad te“ geht dem „te totum applica ad textum“ voraus. Das hysteron proteron von Handlung und Absicht, das Hamann im Kleeblatt Hellenistischer Briefe anzeigt, reimt auf das hysteron proteron von Textrezeption und -applikation, das dem applica! eignet.261 Ob die Bewegung vom Text zum Glauben oder vom Glauben zum Text zu gehen habe, ist in der Tat ein Problem protestantischer Hermeneutik und der Anwendung der regula fidei,262 das kaum treffender bezeichnet werden kann: Versteht, wer glaubt, oder glaubt, wer versteht? Die belebende Kraft des Glaubens aber, vollzieht sich in ,Maskenrede‘ (pq|sypom), in „heiliger Prosopopee“,263 welche die Toten zum Leben, die stummen Zeugen zur Sprache erweckt.264 Diese

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Welthistorie die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertiget worden. In einem vollständigen und pragmatischen Auszug. Hg. von Friedrich Eberhard Boysen. Bd. I. Halle 1767, S. 20f.: „Der Dichter erschafft ein Ganzes, das unter den Umständen, wie er es zusammensetzet, niemals vorhanden gewesen ist: der Geschichtsschreiber hingegen bringt durch die Evidenz seiner Erzählung ein Ganzes, das schon einmal da gewesen ist, auf eben die Art, wie es da gewesen ist, nur aufs neue zum Vorschein: er macht gleichsam das Todte wieder lebendig und das Vergangene wieder gegenwärtig, und nähert sich und seine Leser durch eine zwar schwache Nachahmung, die aber doch eine wirkliche Nachahmung ist, auf gewisse Art der Gottheit, in deren Verstande nichts Vergangenes, nichts Zukünftiges, sondern alles gegenwärtig, nichts abstractes, sondern alles individuell, alles anschauende Erkenntniß ist.“ Vgl. die subtile Korrektur an Bengels berühmtem Diktum, welche die Hauptzüge von Hamanns Hermeneutik freilegt; Brief an den Bruder vom 19. Februar 1760, ZH II, 9: „Ich studiere jetzt mit viel Nahrung für mich Bengels Zeigefinger [i. e. Gnomon] über das N. T. Dieser Autor hat sich durch seine Ausgabe des N. T. und durch seine chronologische Versuche [i. e. Erklärte Offenbarung Johannis] in der historischen und prophetischen Zeitrechnung berühmt gemacht. Du weist daß ich die kleine Ausgabe des ersteren besitze, über die ich mich sehr freue. Die große habe gestern zum erstenmal gesehen, und ich würde sie allen andern vorziehen, der Vollständigkeit des Textes, und der Reinligkeit wegen, womit er gedruckt ist in 4. Er hat einen glücklichen Ausdruck in Sinnsprüchen; einer der seinigen ist gewesen: Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te. Es ist ein usteqom pqoteqom in dieser Sentenz. Das erste muß das letzte. Je mehr der Christ erkennt, daß in diesem Buch von ihm geschrieben stehet; desto mehr wächst der Eyfer zum Buchstaben des Wortes. Die Critik ist eine Schulmeisterinn zu Christo; so bald der Glaube in uns entsteht, wird die Magd ausgestoßen und das Gesetz hört auf. Der geistl. Mensch urtheilt denn; und sein Geschmack ist sicherer als alle pädagogische Regeln der Philologie und Logic.“ Vgl. Marsh: Martin Luther on Reading the Bible (wie Anm. 135), S. 24f. Aesthaetica in nuce, S. 174; N II, 201. Zur Bedeutung der Prosopopöie in unserem Zusammenhang vgl. Rolf P. Lessenich: Dichtungsgechmack und althebräische Bibelpoesie im 18. Jahrhundert. Zur Geschichte der englischen Literaturkritik. Köln, Graz 1967, S. 48–66.

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Prosopopöie betrifft sowohl den sensus litteralis des Alten Testaments, der recht verstanden nicht historicus, sondern mit Blick auf seinen christologischen Mittelpunkt im Zirkel der Hl. Schrift immer auch propheticus sowie mit Blick auf denselben Mittelpunkt eine direkte Anrede zu sein hat. Hans Martin Lumpp hat gezeigt, dass die gesamte Aesthaetica als eine Prosopopöie gelesen werden kann, die Michaelis’ Ablehnung der Typologie aufs Korn nimmt.265 Wer als Historiker den Vorgriff historischer Texte ihrer Wirkung auf die Gesinnung des Lesers beraubt,266 der verkennt die Kraft des Typos, die Altes und Neues Testament zusammenhält und dafür sorgt, dass „die viua vox […] Tochter einer lebendigen Erkenntnis“267 ist, die den Leser erkennen lässt, „daß in diesem Buch von ihm geschrieben steht.“ Hamann schenkt, insbesondere zu Zeiten der Sokratischen Denkwürdigkeiten und der Kreuzzüge, dem decorum hohe Aufmerksamkeit.268 In dem bereits zitierten Brief an seinen Bruder macht er es als Desiderat einer künftigen Exegese aus. Als Ausgangspunkt und Anstoß nennt er Bengel: In der Vorrede führt der Autor [Bengel] einen sehr merkwürdigen Ausspruch unsers Luthers an, der von dem philosophischen Geiste dieses Mannes ein Zeugnis giebt: Nil aliud esse Theologiam, nisi Grammaticam in Spiritus Sancti verbis occupatam. [Die Theologie ist nichts anderes als eine Grammatik, die sich mit dem Wort des Hl. Geists beschäftigt.]269 Diese Erklärung ist erhaben und nur dem hohen Begrif der wahren Gottesgelehrsamkeit adaequat. Das Pathetische und das affectuoso in der Schreibart der Bücher des N. B. ist ein Gegenstand; ta ghg, oder das Decorum der andere. Von dieser Seite hat man wenig Ausleger ; und in dieser Betrachtung ist dies Werk ein Hauptbuch. Argumenta haben Ausleger genung; affectus und mores gar kein oder sehr wenige gehabt.270 265 Lumpp: Philologia crucis (wie Anm. 101), S. 33 und S. 66. 266 Vgl. Johann David Michaelis: Entwurf der typischen Gottesgelartheit. Göttingen 1753, vor allem S. 20–23. 267 Brief an den Bruder vom 12. Februar 1760; ZH II, 9. 268 Zu den Quellen und der systematischen Bedeutung von ,decorum‘ beim jungen Hamann vgl. Achermann: Verbriefte Freiheiten, S. 63f., 69f. und 98–101. 269 Zur Quellenlage vgl. Johannes von Lüpke: Theologie als ,Grammatik zur Sprache der heiligen Schrift‘. Eine Studie zu Luthers Theologieverständnis. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 34 (1992), S. 227–250, hier S. 229–232. – Die Stelle konnte so bei Luther nicht gefunden werden; vgl. hierzu Achermann: Worte und Werte (wie Anm. 139), S. 175, der hier aber fälschlich „merkwürdigen“ nicht als ,denkwürdigen‘, sondern ,überraschenden‘ liest; Martin Seils: Hamann und Luther. In: Luther – zwischen den Zeiten. Hg. von Christoph Markschies und Michael Trowitzsch. Tübingen 1999, S. 159–184, hier S. 167. 270 Brief an den Bruder vom 12. Februar 1760, ZH II, 10. Vgl. auch Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. März 1761, ZH II, 75: „Bengel läst sich besonders angelegen seyn das Pathos und Decorum der heiligen Schriftsteller anzumerken.“ Bengel führt die Trias ,Logos, Pathos, Ethos‘, auf die sich Hamann hier wie andernorts bezieht, in seiner Harmonie aus: „In einer wohlgearteten Rede ist allemal dreyerlei anzutreffen. 1. Die Lehr= und Beweis=Gründe (kocoi,) womit eine Sache erkläret und bekraftiget wird. 2. Die starke Ge-

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In Hamannscher Manier werden Pathos und Ethos, Leidenschaft und Empfindung, Affekte und Sitten gegensätzlichen Paradigmen zugeordnet. Auffällig ist die Gleichsetzung von ,decorum‘, eigentlich ,t¹ pq]pom‘, mit ,t± Ehg‘. Natürlich stehen ,decorum‘, ,aptum‘, ,kairos‘, ,ethos‘ u. a.m. in der rhetorischen Terminologie nahe beieinander ; die Opposition von ,affecuts‘ und ,mores‘ jedoch zeigt die anthropologische Dimension an, in welche Hamann die Offenbarung, genauer : die Akkommodationslehre zu stellen beabsichtigt. Was ,affectus‘ und ,mores‘ betrifft, kann Hamann auf die zeitgenössische Rhetorik zurückgreifen, die das Verhältnis aus dem Gegensatz von Innen und Außen erklärt. Der Begriff ,decorum‘ – der im 17. und 18. Jahrhundert vorzugsweise mit ,Gebühr‘, ,Artigkeit‘, ,Zierlichkeit‘, ,Anständigkeit‘ und ,Wohlstand‘ übersetzt wird271 – zielt auf „die äußerliche[n] umstände, auch die geringsten kleinigkeiten, nach dem geschmack derer, denen wir zu gefallen ursach haben.“272 Hamann erweitert diesen Begriff nun in seiner Auseinandersetzung mit Lindners Schuldramen, indem er unter Verwendung eines Milton-Zitats das decorum zu einem Zentralbegriff der Poetik und zur eigentlichen „Seele der Action“ erklärt, wobei diese – wir erinnern uns – ja selbst die Seele273 allen Wortwechsels ist: Das Decorum, sagt Milton, ist das große Meisterstück, das ein Autor und Kunstrichter zu beobachten. Das Decorum ist vielleicht auch die Seele der Action, die Demosthenes so erhob.274

Decorum avanciert zu einem Handlungsbegriff, ja zum Leitbegriff allen sprachlichen Handelns. Wie eng Hamann hier das Netz seiner Bezüge webt, lässt

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müth=Bewegungen, (pahg,) als Liebe, Verlangen, Freude und dergleichen. 3. Das, was zum Wohlstand und zur Anmuth gehöret, und oft zarte Herzens Regungen (ghg) nach siech ziehet. Die zwey erstere GStücke werden von denen Auslegern ziemlicher massen betrachtet: aber das dritte wird nicht fleissig, als es sich gebührte, mitgenommen. Nirgend aber kan dasselbe reichlicher beobachtet werden, und nirgend solte man es weniger übergehen, als in der Vergleichung der Evangelisten. Hierzu gehöret nun insonderheit folgendes. So oft nemlich der Heiland sich zu etwas beqvemet hat, das, so zu reden, seiner himmlischen Reputation und Hoheit nicht gemäß scheinen mögen, so ist etwas dabey geschehen, das allem Präjudiz und Anstoß abgeholfen hat.“; Johann Albrecht Bengel: Richtige Harmonie der Vier Evangelisten, Da die Geschichten / Werke und Reden Jesu Christi unsers Herrn in ihrer geziemenden naturlichen Ordnung zur Bevestigung der Wahrheit wie auch zur Uebung und Erbauung in der Gottseligkeit vorgestellet werden. 2. Aufl. Tübingen 1747, S. 454. Zur Übersetzung des Begriffs vgl. Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Göttingen 1978, S. 75–82. Johann Andreas Fabricius: Philosophische Oratorie, Das ist: Vernünftige anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit […]. Leipzig 1724, S. 366. Der Ausdruck ,Seele‘ ist seit Aristoteles’ Poetik (6, 1450a37) in diesem Zusammenhang geläufig: „!qwµ l³m owm ja· oXom xuwµ b lOhor t/r tqac\d_ar“ [Ursprung und gleichsam Seele der Tragödie ist die Handlung (Mythos)]. Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. März 1761, ZH II, 69.

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sich am bereits erwähnten Übersetzungsbegriff zeigen, den Hamann nicht nur mit dem Bild des Earl von Roscommon, sondern mit einer ganzen Reihe von Angaben versieht, die sich auf den ersten Blick nur schwer erschließen lassen. Die „verkehrte[…] Seite von Tapeten“275 findet er nämlich nicht nur beim Earl von Roscommon, sondern auch in dem ältesten Briefroman, James Howells Epistolae Ho-Elianae. Familiar Letters Domestick and Foreign.276 Als gemeinsame Quelle für das ähnliche Bild verweist Hamann auf „Saavedra“ d. h. auf Miguel de Cervantes.277 Hamann zitiert aber weder Howell, noch Cervantes noch die anderen Quellen, die hier in Frage kämen,278 sondern den Earl of Roscommon und keinen anderen und damit auch das Element „workman’s skill“, das in allen übrigen Versionen dieses Topos fehlt. Nicht Bild, nicht Umriss, nicht Farbe, sondern die Fertigkeit des Urhebers und dessen Handschrift gilt es hinter der mittelbaren Übersetzung als Unmittelbarkeit zu erkennen. Die Tapete aber ist 275 Aesthaetica in nuce, S. 169; N II, 199. 276 James Howell: Epistolae Ho-Elianae. Familiar Letters Domestick and Foreign, 1. Teil, Sect. VI, Letter 27. Hier nach der 5. Ausgabe. London 1678, S. 246; es handelt sich um die Ausg., die Hamann laut Biga (wie Anm. 6) besessen hat. Die Stelle wird von Sven-Aage Jørgensen (Kommentar zu: Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Stuttgart 21998, S. 90), mit Verweis auf die Ausg. 1705 richtig angezeigt. Die gemeinten Verse aus dem Decastich lauten: „Some hold translations not unlike to be, / The wrong-side of a Turky Tapistry : / Or Wine drawn off the Lees, which fill’d in Flask, / Lose somewhat of their strength they had in Cask.“ Howell greift, wie Jørgensen ebenfalls vermerkt, das Bild nochmals auf (3. Teil, Letter 21, S. 422), wobei die zweite Stelle den Übersetzungsbegriff aufgrund der „servility“ der Übersetzungstätigkeit deutlicher abwertet; die Kunst des Übersetzens zielt aber auf das Gemeinte („skill“; „the tru genuin sence of the Author“), nicht auf die Ähnlickeit („similitude“) des Ausdrucks. 277 Kenneth Haynes zeigt die Quelle in seinem Kommentar zur Aesthaetica (Hamann: Writings on Philosophy and Language. Cambridge 2007, S. 67) korrekt an; Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote de la Mancha, 2. Teil, Cap. 62. Hg. von John Jay Allen. Bd. II. Madrid 1977, S. 503 [es spricht Don Quijote]: „me parece que el traducir de una lengua en otra, como no sea de las reinas de las lenguas, griega y latina, es como quien mira los tapices flamencos por el rev8s, que aunque se veen las figuras, son llenas de hilos que las escurecen y no se veen con la lisura y tez de la haz; y el traducir de lenguas f#ciles ni arguye ingenio ni elocucijn, como no le arguye el que traslada ni el que copia un papel de otro papel.“ [das Übersetzen von einer Sprache in eine andere, solange es sich nicht um die Königinnen der Sprache, d. h. Griechisch und Latein, handelt, erscheint mir wie jemand, der die flämischen Wandteppiche von hinten anschaut, denn wenn wir auch die Figuren sehen, so sind sie doch voller Fäden, die jene verdunkeln, und so sehen wir nicht die Glattheit und die Farbe des Gewebes. Für das Übersetzen einfacher Sprachen hingegen braucht es weder Scharfsinn noch Beredsamkeit, wie es auch derjenige nicht braucht, der ein Papier in ein anderes überträgt oder kopiert.] 278 Die Cervantes-Philologie hat nachgewiesen, dass die Metapher bereits 1591 von Luis Zapata in der Einleitung zu seiner Horaz-Übersetzung bemüht wird; und auch dieser dürfte sich bei Esteban Manuel de Villegas (Einleitung zu seiner Boethius-Übersetzung) bedient haben. Quelle ist Plutarch: Themistokles, 29,3; vgl. Theo Hermans: Metaphor and Imagery in the Renaissance Discourse on Translation. In: The Manipulation of Literature. Studies in Literary Translation. Hg. von dems. London 1984, S. 103–135, hier S. 114f.

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nicht das einzige Bild, das Hamann für das Übersetzen bemüht. „Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden)“ kommt auch „mit einer Sonnenfinsternis, die in einem Gefäße voll Wassers in Augenschein genommen wird“ überein. Das Bild „ist einem der vorzüglichsten Wochenblätter (The Adventurer) entlehnt.“279 Es dürfte sich um den 49. Beitrag aus dem Jahre 1753 handeln.280 Dem Verfasser, Joseph Warton, geht es in diesem Beitrag um den Erweis, dass mit der Verbreitung des Wissens dieses an Tiefe verliere. Im Zentrum der Kritik stehen französische Autoren wie Montaigne, La Rochefoucauld, La BruyHre, Le Bossu und auch der PHre Rapin. Sie alle werden – mit der einzigen Ausnahme des Übersetzers Pierre Brumoy – durchgehechelt. Der Artikel schließt jedoch mit der Warnung: Let no one, however, deceive himself, in thinking that he can gain a competent knowledge either of Aristotle or Sophocles, from Bossu or Brumoy, how excellent soever these two commentators may be. To contemplate these exalted geniuses through such mediums, is like beholding the orb of the sun, during an eclipse, in a vessel of water. But let him eagerly press forward to the great originals: „juvet integros accedere fontes.“281 Let him remember, that the Grecian writers alone, both critics and poets, are the best masters to teach (in Milton’s emphatical style) „What the laws are of a true epic poem, what of a dramatic, what of a lyric; what decorum is; which is the grand master-piece to observe. This would make them soon perceive, what despicable creatures our common rhymers and play-wrights be; and shew them, what religious, what glorious and magnificent use might be made of poetry, both in divine and human things.“282

Miltons „grand master-piece“ hat Hamann beeindruckt. In einem Brief an Lindner, in dem er Bezug nimmt auf seine Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend, greift er die Stelle auf: Das Decorum ist die grand master-piece to observe für jeden, besonders den Dramatischen Dichter. Das höchste Decorum besteht öfters in Beleidigung des subordinirten; und Convenance bricht öfter die feyerlichsten Conventions. Da meine Nächsten schon einmal unter sich einig geworden jeden Zug der Wahrheit, der mir entfährt, eine Beleidigung zu nennen, und das Recht Dingen Nahmen zu geben ein praerogativ der menschlichen Natur ist, das eben so wie das Regale Münzen zu schlagen geschändet wird: so muß ich schon diese Schwachheit so gut ich kann tragen, und mich in selbige zu schicken wißen. Der größte Liebesdienst den man seinen Nächsten thun kann, ist ihn 279 Aesthaetica in nuce, S. 169; N II, 199. 280 Die Quelle findet sich bei Jørgensen (Kommentar [wie Anm. 276], S. 90) präzise angezeigt: „The Adventurer, No. 49, vom 24. April 1753.“ 281 „es ergötzt, unversehrten Quellen sich zu nahen“; es handelt sich um Lukrez: De rerum natura, I, v. 927 (hier „iuvat“ statt „juvet“, „fontis“ statt „fontes“). 282 Zitiert nach der Buchausgabe: The Adventurer. Bd. I. London 1753, S. 294. – Zur Bedeutung von Brumoy für Hamann im Zusammenhang mit den Hirtenbriefen vgl. Sven-Aage Jørgensen: Einführung zu: Johann Georg Hamann: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend. Kopenhagen 1962, S. 75–78.

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zu warnen, zu bestrafen, zu erinnern, sein Schutzengel, sein Hüter zu seyn; diesen Kreutzzug hält nicht jeder Ritter aus.283

Der Zusammenhang fügt sich in die Überlegungen, die Hamann an sein Diktum von der „Engelssprache“ anhängt. Nicht auf Schicklichkeit zielt sein Ethos, sondern auf einen Bruch mit den Konventionen. Diesen bezeichnet er als Vorrecht des Menschen, sein Prägerecht über Worte und Werte auszuüben. In der Folge entwickelt Hamann das Bild einer doppelten Offenbarung als „gläsernes Meer“ (Apk 4,6) einerseits und „kleine Wolken aus dem Meer, als eine Manneshand“ (1Kön 18,44) andererseits.284 Es sind dies die beiden Seiten, die mit Bacon als doppelte Quelle der Wissenschaften zu gelten haben. Im folgenden Abschnitt wird Hamann diese in Analogie zu den Dichotomien „Wort“ und „Handlung“, „Schauplatz“ und „Mensch“ und schließlich „epische“ und „dramatische Dichtkunst“ setzen. Und nochmals ist es Bacon, der dem Philologen der Kreuzzüge die Begriffsdoublette liefert, wohin die ganze Rede von der Übersetzung hinzielt. Die Tapeten nämlich, so lehrt uns „Eutyphrons Muse“285 zum Ende dieser gelehrten Fußnote, sind „ad illustrationem (zur Verbrämung des Rockes)“, die „Sonnenfinsternis“ hingegen „ad involucrum (zum Hemde auf bloßem Leibe)“. Gemäß Bacon läuft die „parabolische Dichtung“ Gefahr, die „Kommunikation des Göttlichen mit dem Menschlichen“ durch „Leichtfertigkeit und Nachgiebigkeit des Scharfsinns in Bezug auf Allegorien zu verunreinigen“.286 Ungeachtet dieser Gefahr vermag die Parabel jedoch zwei gegenläufige Funktionen („usus ambigui, atque ad contraria adhibetur“) zu erfüllen, die ihren Gebrauch legitimieren, nämlich „docere“ und „occultare“, also zeigen und verbergen. Wie Gleichnisse oder „Hieroglyphen“ erhellen die Rückseiten der Tapeten, was die „Argumente“ geradeaus, doch ohne sinnliche, ursprüngliche Beglaubigung sagen wollen, während die Sonnenfinsternis im Wassergefäß durch einen „Schleier“ zum Ausdruck bringt, was anders nicht gesagt werden kann. Dieser von Bacon in De augmentis ausdrücklich als „mysticus“ bezeichnete Sinn erfordert einen politischen „Kunstgriff“ (artificum), nicht eine didaktische „Methode“ (ratio). Und so kann denn Hamann in einer bemerkenswerten Volte, die Verkleidung „zum Hemde auf bloßem Leibe“ aus dem kommunikativen Primat des Metaschematismus ableiten, der in der Herablassung und damit vorzüglich in Christus seine Verwirklichung erfahren hat: „ad invo283 Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. März 1761, ZH II, 71. 284 Aesthaetica in nuce, S. 170; N II, 199. 285 Jørgensen (Kommentar [wie Anm. 276], S. 90) zeigt die Quelle an; es handelt sich erneut um De augmentiis und erneut um das Kapitel, dessen sich die Aesthaetica schon eingangs (S. 163; N II, 197) bedient. 286 Bacon: De augmentis scientiarum (wie Anm. 6), S. 520: „et per eam [i. e. Poe¨ sis Parabolica] commercia divinorum cum humanis exerceat. Attamen et haec quoque ingeniorum circa allegoris levitate et indulgentia contaminata invenitur.“

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lucrum“ ist dem Autor näher, nämlich am „Leibe“, als „ad illustrationem“, das bloß das Gewand verschönert. Akkommodation bedeutet somit nicht nur eine Anpassung an einen historisch bedingten captus, sondern bezeichnet das eigentliche arcanum der Kommunikation. Das decorum der Handlung führt uns zurück zur Beziehung, die Bolingbroke, Hervey und Hunter zu einem trifolium verbindet. Bolingbroke nämlich ist wie Tacitus durchaus ein Meister der staatsmännischen Rede, doch steht diese nicht im Zeichen derjenigen Gesinnung (Ethos), die den Wahrheitskern der Rede auszeichnet. Zwar weiß sich Bolingbroke durchaus anzupassen, das heißt zu verkleiden, doch ist zwischen einer hypokrisis als legitimen und nötigem Mittel göttlicher Offenbarung und einer hypokrisis gleisnerischer Menschenvernunft zu unterscheiden.287 In Ansehung heiliger Ziele werden die Mittel geheiligt, doch sind auch die Verstellungen der Feinde nicht einfach als falsch zu bezeichnen, sondern ebenso sympathetisch288 zu verstehen, um letztlich den wahren Kern jeglicher Kritik von einer allenfalls trügerischen Politik zu trennen. Bezeichnenderweise liefert Hamann die Religionskritik Bolingbrokes ohne jeglichen Kommentar, während der erste deutsche Übersetzer, Christian Gottlieb Bergmann,289 das Kapitel „Ueber die heilige Geschichte“ mit einer ausdrücklichen Warnung vor der verborgenen Arglist einleitet und mit dem Verweis auf Leland Bolingbroke in die Ecke der Freigeisterei stellt: Man möchte sich wundern, warum man diesen Theil der Bolingbrokischen Schriften dem Drucke überlassen, da der Verfasser in demselben die Religion am heftigsten angegriffen, […]. Bolingbroke ist auch in Deutschland seiner gefährlichen Sätze wegen eben so bekannt als in England, er wird bisweilen widerlegt, ohne daß man mehr davon 287 Vgl. die erhellende Untersuchung zu Hamanns Verständnis von Politik, hypokrisis und „hypocrite renvers8“ bei Oswald Bayer und Christian Knudsen: Kreuz und Kritik. Johann Georg Hamann Letztes Blatt. Text und Interpretation. Tübingen S. 115–126. 288 Vgl. Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 6. Januar 1785, ZH V, 316: „Dergl. individuelle Personalitäten [Hamann bezieht sich auf seine Übersetzungen des Tucker und Warner], die gantz aus dem Gedächtniße verschwinden, sind die Ingredentien meiner Composition gewesen, die sich öfters auf einen sehr einzelnen Gesichtspunct oder auf einen eben so zufälligen Gemüthszustand bezog. Ich habe so viel poßierliche Autorversuche gemacht mich selbst zu lesen, daß ich fast eben so leicht und lebhaftig mit den Vorurtheilen meiner Freunde als Feinde sympathisiren kann.“ – Zu bedenken wäre hier wohl auch Hamanns hypokritisches Verhältnis zu Voltaire, dessen „initiateur philosophique“ niemand anderes als Bolingbroke war ; Ren8 Pomeau: La religion de Voltaire (1969). Paris 21995, S. 94. 289 Hamann gibt die Übersetzung Bergmanns nicht einfach wieder. Nicht nur, was Zusätze und Noten betrifft, sondern auch im Ausdruck sind Unterschiede Legion. Als Beispiel sei angeführt: Hamanns Übersetzung, S. 22: „Diese heilige Mährchen verwandelten sich in Tradition, und wurden endlich Geschichte.“; Bergmanns Übersetzung (vgl. Anm. 290), S. 74f.: „Diese heilige Romanen verwandelten sich in Sagen, diese Sagen aber wurden zur Geschichte.“

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weiß, als man aus seinen Gegnern gesehen hat […]. Allein ich habe noch zwey wichtiger Ursachen diese Stelle stehen zu lassen: weil man 1) in dem Theil dieses Briefes den Lord in seinem völligen Lichte siehet, wie er sich nicht scheuet Wahrheiten mit Unwahrheiten zu vermengen, um sein System zu gründen, da er sich in den übrigen Briefen nur begnüget kleine und flüchtige Spöttereyen mit einzumischen, welche um desto gefährlicher sind, je aufrichtiger sein Charakter sonst zu seyn scheint; hier hingegen siehet man ihn gänzlich ohne Maske, und die übrigen Spöttereyen können mit allem ihrem Witze keinen Eindruck machen, weil sich sich alle aus dem Gewebe seines Systems erklären lassen. 2) Wird man sehen, daß die Angriffe eines Bolingbroke noch nicht so beschaffen sind, daß unsere Kirche dafür erzittern dürfte, da ich überzeugt bin, daß sie die Wahrheit auf ihrer Seite hat, wie solches noch deutlicher und überzeugender in die Augen fallen wird, wenn man das vortreffliche Buch des Herrn D. Lelands ansiehet […].290

Hamann nun verzichtet auf den Vorwurf und überlässt den Einspruch einem Hervey. Die Maske aber ist bekanntlich ein Signum Hamannscher Schreibart. Sie verbindet – qua persona – decorum mit dramatischer Dichtkunst. Sie dynamisiert den Wortwechsel, indem die Verstellung sokratisch auf den anderen eingeht,291 ihn zu Wort kommen lässt. Dass dieses Wort nicht rundweg falsch ist, weiß auch Hervey, der Bolingbrokes Kritik am Alten Testament zwar verwirft, diejenige an jüdischen „Traditionen“ (also Kabbala) hingegen bekräftigt: Jedermann weiß, daß wir, und zwar mit großem Fug jene abergläubische Grillen der Juden verlachen, welche unter dem Namen ihrer Traditionen laufen; gleichwohl hält es Mylord für schicklich, die Geschichte des alten Testaments mit diesem übelberufenen Namen zu belegen, indem er nur den einzigen Unterschied annimmt, daß erstere vermittelst des bloßen Gedächtnisses überliefert, letztere aber schriftlich aufbehalten sind. – Ist dies wohl eine ehrliche Vorstellung der Sache? Sollte man hier nicht vielmehr eine arglistigste Verkleidung vermuthen?292

Aufgrund der Unzuverlässigkeit der Berichte aus vorgeschichtlicher Zeit empfiehlt Bolingbroke, die Integrität der Bibel aufzugeben. Nennt Hamann zwar nirgends den Grund, wieso er den Bolingbrokeschen Text unkommentiert an den Anfang seiner drei Übersetzungen stellt, so dürfte es eine Unterscheidung sein, die den springenden Punkt der ganzen aufwändigen Veranstaltung bildet: Mit 290 Des hochgebohrnen Herrn Heinrich St. John Lord, Vicomte Bolingbroke Briefe über die Erlernung und Gebrauch der Geschichte / aus dem Englischen übersetzt durch C. G. Bergmann. Leipzig 1758, S. 71f. – Bergmann verweist hier auf John Leland: Reflections on The late Lord Bolingbrokes’s Letters on the Study and Use of History ; Especially so far as they relate to Christianity, and the Holy Scriptures […]. London 1753. 291 Bezeichnenderweise gilt Bolingbroke Hamann als sokratischer Schriftsteller: „Zweydeutigkeit und Ironie und Schwärmerey können mir nicht selbst zur Last gelegt werden, weil sie hier [Sokratische Denkwürdigkeiten] nichts als Nachahmungen sind meines Helden und der sokratischen Schriftsteller, besonders Bollingbroke [sic?] und Schaftesbury.“; Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 11. September 1759, ZH II, 410. 292 Hervey : Anmerkungen über Lord Bolingbroke’s Briefe (übers. Hamann), S. 74.

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Verweis auf den Übervater der historischen Bibelkritik, Richard Simon, empfiehlt Bolingbroke, die Bücher der biblischen Überlieferungen kritisch in unzuverlässige, d. h. historische, einerseits und verbindliche, d. h. gesetzliche, dogmatische und prophetische, andererseits zu scheiden: Simon führt in der Vorrede zu seiner kritischen Geschichte des alten Testaments einen Gottesgelehrten der Sorbonne an, welcher der Meynung war, daß die Eingebungen bey den Schriftstellern dieser Bücher, welche die Kirche für das Wort Gotts annimmt, nicht weiter ausgedehnt werden sollten, als einzig und allein auf solche Sachen, welche die Glaubenslehren angehen, oder doch eine nahe und nothwendige Verwandtschaft mit selbigen haben; und daß diese Schriftsteller, sobald sie von andern Sachen schreiben, die zur egyptischen, aßyrischen und andern Geschichten gehören, nicht mehrern göttlichen Beystand gehabt als andere andächtige Leute. Dieser Begriff einer Eingebung, welche sie nach Zeit und Umständen richtete, welche die Gemüther dieser heiligen Männer erleuchtete und ihnen die Feder führte, wenn sie ein Blatt schrieben, die aber ihren Einfluß zurück hielt, wenn eben diese Schriftsteller ein ander Blatt schrieben, dürfte vielleicht verlacht werden, und was ist wohl nicht diesem Schicksale ausgesetzt? Unterdessen verdiente dieser Begriff wohl eine ehrerbietiegere Aufnahme, weil er darauf abzielet, den gesetzlichen, lehrmäßigen und prophetischen zu unterscheiden, ohne welchen Unterschied es unmöglich ist, die ersten Theile so deutlich und so gründlich, als es der Nutzen der Religion erfordert, festzusetzen; […].293

Gegenüber einer solchen Strategie meldet Hervey, wenig überraschend, seine Bedenken an. Er tut es, indem er bezüglich Bolingbrokes tatsächlichen Absichten den Unwissenden mimt, gleichzeitig ihm aber einen „schlauen Plan“ unterstellt.294 Für Hamann ist der sensus der Hl. Schrift nicht auf der Wortebene, sondern auf der Aussageebene zu finden. Wahre Kabbala, richtig verstandenes decorum, Verkleidung als hypokrisis, sie alle sind ihm „actio, actio, actio“. Allen gemeinsam ist, dass das Gesamt der Kommunikation die Bedeutung der Elemente bestimmt. In den Vermischten Anmerkungen bezieht Hamann den „Reichtum aller menschlichen Erkenntnis“ auf den Wortwechsel, führt Bengels Luther-Wort der Grammatik an und verweist mit Salomo (Pred 10,19) auf den allgemeinen 293 Bolingbroke: Betrachtungen über den Zustand der alten Geschichte (übers. Hamann), S. 29f. Bolingbroke bezieht sich auf das Epoche machende Werk von Richard Simon: Histoire critique du Vieux Testament, Pr8face. Paris 1678, S. aiiv. Simon bezieht sich seinerseits auf Henri Holden: Divinae Fidei Analysis sev de Fidei Christianae Resolvtione libri dvo. Paris 1652, S. 82f. 294 Hervey : Anmerkungen über Lord Bolingbroke’s Briefe (übers. Hamann), S. 74: „Ob Mylord bey einem so scheinbaren Vorwande, sich der wahren Religion anzunehmen, die hämische Absicht gehabt habe, sie zu untergraben, unterfange ich mich eben nicht zu behaupten; so viel aber darf ich wohl sagen, daß sein Plan zu einem solchen Endzwecke sehr schlau angelegt ist. Räumt man des Lords Forderung ein; so folgt unmittelbar, was alle Feinde des Christenthums wünschen.“

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Maßstab, den die Sprache analog zum Geld darstellt.295 Was die Bedeutung der Elemente betrifft, so werden die lexikalischen Elemente (als Resultat der analysis) von der Grammatik als synthesis überformt und beide zusammen von der Kommunikation, dem commercium. Bereits in den Sokratischen Denkwürdigkeiten hatte Hamann festgehalten: Ein sorgfältiger Ausleger muß die Naturforscher nachahmen. Wie diese einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen; so macht es jener mit seinem Texte. Ich habe des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Überschrift zusammen gehalten; jetzt will ich einige andere Versuche thun, die Energie desselben sinnlicher zu machen. Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den Münzen, nach Ort und Zeit wandelbar. Wenn die Schlange der Eva beweiset: Ihr werdet seyn wie Gott, und Jehova weissagt: Siehe! Adam ist worden als Unser einer ; wenn Salomo ausruft: Alles ist eitel! und ein alter Geck es ihm nachpfeift: so sieht man, daß einerley Wahrheiten mit einem sehr entgegen gesetzten Geist ausgesprochen werden können.296

Der logos oder das Argument ist abhängig von pathos oder affectio und beide vom ethos oder dem decorum, d. h. der Angemessenheit der Rede an Sprecher, Sache und Hörer. Das „Rede, daß ich dich sehe!“ heißt durch Rede in Erscheinung treten, durch Worte Gestalt annehmen. Doch geschieht dies nicht frei vom Kontext. Für einen Meister des Zitats wie Hamann kann dies nur heißen, dass die „Personalität“ nicht in der bloßen Fertigkeit besteht, Wörter und Sätze zu kombinieren, sondern in der ,actio‘, durch welche fremdes Wort gewählt und vermittelt wird. So zeigt sich Hamann beeindruckt von einer Stelle aus Hottingers Primitiae Heidelbergenses, die er aus Heumanns Erklärung des Neuen Testaments297 kennt: Das Neue Testament ist voller Parodien, so z. B. Matth. 2, 8 und 23 [etc.], wo die Schrift auch dann vervollständigt [impleta] genannt wird, wo keine historische oder typische Vervollständigung [impletio], sondern nur eine analogische vorliegt.298 295 Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache, zusammengeworfen, mit patriotischer Freyheit, von einem Hochwohlgelahrten Deutsch=Franzosen. In: Kreuzzüge des Philologen, S. 21f.; N II, 129. – Vgl. zu dieser Stelle Achermann: Worte und Werte (wie Anm. 139), S. 171–176. 296 Sokratische Denkwürdigkeiten, N II, 71f. 297 Christoph August Heumann: Erklärung des Neuen Testaments. Hannover 1750, S. 14. 298 Johann Heinrich Hottinger : Primitiae Heidelbergenes […]. Dissertation De Scriptorum Hebraicorum in N. T. usu. Heidelberg 1657, S. 80: „Parodiarum in N. T. omnia sunt plena: [Matth. 2. 8. 23. c. 8. 17. c. 13. 35. Joh. 12. v. 38. c. 13. v. 1. c. 17. 12.] ubi impletae dicuntur Scripturae, tum etiam, cFm, [ut loquitur Scultetus,] nulla historica aut typica est impletio: sed Analogica tantFm […].“ Die eckigen Klammern zeigen an, was Heumann und Hamann mit ihm auslassen.

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,Parodie‘ bezeichnet hier nicht den uneigentlichen Ausdruck, dessen Bedeutung zu übertragen ist („aliud verbis significo“),299 sondern eine übertragene Rede, das heißt ein Zitat, dessen veränderte Bedeutung sich aus einem veränderten Kontext ergibt. Sie ist also weder eine „angeborene Allegorie“ (allegoria innata), noch eine „von den Interpreten herangetragene Allegorie“ (allegoria illata), die einer „pictura“ ähnelt und wie ein „Schau-Essen“ den Hungrigen nicht recht zu nähren vermag.300 Diese Parodien erhalten ihren Sinn weder durch wahrgenommene Übereinstimmungen in präsentia, also innerhalb des Textes noch durch assoziierte Ähnlichkeiten in absentia, also mit Ausdrücken außerhalb des Textes, sondern durch das Wechselspiel von Identität und Differenz, das sich aus der Buchstäblichkeit des Zitats sowie dem veränderten Handlungskontext ergibt.

7.

Zu welchem Ende?

Rede steht im Zeichen der Handlung und eines simulatorischen Vorgriffs, der mit dem Begriff ,decorum‘ bezeichnet wird. Das „Rede, daß ich Dich sehe!“ zielt auf diese Menschenkenntnis, die letztlich den Begriff der historischen Erkenntnis fundiert. Jenseits dieser historischen Erkenntnis, jedoch auf ihr basierend, liegt die analoge Erkenntnis der Absicht des epischen Schöpfers der Natur und des dramatischen Lenkers der Geschichte. Beide Seiten verwirklichen den gesamten Mythos, also die ,Handlung‘. Die wahre Kabbala – in dem eingeschränkten Sinn, den ihr Hamann zu geben bereit ist – tritt poetisch in Erscheinung, in einem Konzept also, dass räumliche Figur und zeitlichen Plan, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Gegenwart und Prophetie zu fassen vermag. Das Schema aller Schemata ist die Erscheinung des Menschensohns, der das als A und Y gleichzeitig und gegenwärtig verkörpert.

299 Glassius: Philologia Sacra (wie Anm. 205), Sp. 408. 300 Ebd., S. 410f.: „Illata allegoria est, quam ipsa Scriptura non ostendit, sed quae ab interpretibus infertur. Ejusmodi allegoriae similes sunt picturis; expositiones vero literales similes muris lapideis. Domus suam habet firmitatem ex muris lapideis, picturae domui nec minimam dabunt firmitudinem, es sind Schau-Essen, (allegoriae) unde substantia hominis ali nequit.“ [Die herangetragene Allegorie ist eine, welche die Hl. Schrift nicht anzeigt, sondern von Interpreten herangetragen wird. Derartige Allegorien sind Bildern ähnlich; die buchstäblichen Bedeutungen sind wie Mauersteine. Ein Haus hat seine Festigkeit durch Mauersteine, Bilder geben dem Haus nicht die mindeste Festigkeit, ,es sind Schau-Essen‘, Allegorien, woraus die Substanz des Menschen keine Nahrung ziehen kann.“ – Zur Unterscheidung der beiden Formen vgl. Lutz Danneberg: Grammatica, rhetorica und logica sacra vor, in und nach Glassius’ ,Philologia Sacra‘ – mit Blicken auf die Rolle der Hermeneutik in der Beziehung von Verstehen, Glauben und Wahrheit der Glaubensmysterien bei Leibniz. In: Hebraistik – Hermeneutik – Homiletik (wie Anm. 220), S. 11–298, hier S. 156; Steiger : Salomon Glassius’ Hermeneutik des ,sensus mysticus‘ (wie Anm. 220), S. 391f.

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Das „Vertrauen […] in die Gegenwart der Zukunft“301 hat Hamann mit Luther gemeinsam. Beiden ist ein Interesse am Katastrophismus apokalyptischer Visionen fremd, beiden die Anfechtung der Gegenwart als Vereitelung des Heilsplans aber stets gegenwärtig. Das moralische Urteil, das gleichermaßen auf Gefahren und Hoffnungen zielt, erfolgt aus der Kenntnis der Absicht heraus. Diese imputatio macht für Hamann die Verbindlichkeit der Redehandlung als eigentliches „Recht der Natur“ aus,302 stiftet also auch dasjenige, was aller Hermeneutik den Zugang verschafft, Glaube und Unglaube. Die „Energie“, welche überzeugt und bewegt, und welche der Exeget (mit den bereits zitierten Worten) „sinnlicher zu machen“ hat,303 fließt aus eben jener Quelle, die Bacon allenthalben in der Schrift findet, und deren bald vereinende, bald verteilende („collective, sed distributive“) Kraft, die eigentliche Integrität und Authentizität der Hl. Schrift garantiert.304 Es ist dieselbe Stelle, in der Bacon vor Paracelsisten, Kabbalisten und Rabbinern warnt, welche „nichts anderes“ tun, als „die Toten unter den Lebenden“ zu suchen, statt „in einem Wort“ die Hl. Schrift „auf dieselbe Weise auszulegen wie menschliche Schriften“, wobei es jedoch zu bedenken gilt, dass Gott als dem Urheber der Schrift zwei Dinge offenbar sind, die sich dem menschlichen Geist entziehen: Die Geheimnisse des Herzens zweifellos und die Abfolge der Zeiten.305

Menschenkenntnis und Schrift, die verborgenen arcana und die offenbarten „lebendigsten Quellen“,306 sie allein erlauben den sensus historicus zu erschlie301 Notger Slenczka: Christliche Hoffnung. In: Luther Handbuch. Hg. von Albrecht Beutel. Tübingen 22010, S. 442; auch zum Folgenden. 302 Vgl. Eric Achermann: Natur und Freiheit. Hamanns Metakritik in naturrechtlicher Hinsicht. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 46/1 (2004), S. 72–100, hier S. 98f.; Vgl. Golgatha und Scheblimini!, S. 26f.; N III, 300 : „alte [korr. alle] gesellschaftlichen Verträge beruhen, nach dem Rechte der Natur, auf dem sittlichen Vermögen Ja! oder Nein! zu sagen, und auf der sittlichen Notwendigkeit, das gesagte Wort wahr zu machen. Das sittliche Vermögen Ja! oder Nein! zu sagen gründet sich auf den natürlichen Gebrauch der menschlichen Vernunft und Sprache; die sittliche Notwendigkeit, sein gegebenes Wort zu erfüllen, darauf, daß unsere innere Willenserklärung nicht anders als mündlich oder schriftlich oder tätlich geäußert, geoffenbart und erkannt werden kann, und unsere Worte, als die natürlichen Zeichen unserer Gesinnungen, gleich Taten, gelten müssen. Vernunft und Sprache sind also das innere und äußere Band aller Geselligkeit, und durch eine Scheidung oder Trennung desjenigen, was die Natur durch ihre Einsetzung zusammengefügt hat, wird Glaube und Treue aufgehoben, Lüge und Trug, Schand und Laster zu Mitteln der Glückseligkeit gefirmelt und gestempelt.“ 303 Sokratische Denkwürdigkeit, S. 44; N II, 71. 304 Vgl. die lange Fußnote in: Aesthaetica in nuce, S. 177f.; N II, 202. 305 Aesthaetica in nuce, S. 177; N II, 202: „Meminisse autem oportet, DEO, Scripturarum Auctori, duo illa patere, quae humana ingenia fugiunt: Secreta nimirum cordis & successiones temporis.“ 306 Aesthaetica in nuce, S. 198f.; N II, 209„Gerade, als wenn unser Lernen ein bloßes Erinnern wäre, weist man uns immer auf die Denkmale der Alten, den Geist durch das Gedächtnis zu

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ßen. Hamanns Anthropologie, als Wissenschaft vom commercium animae ac corporis und als Erzählung der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten, liefert das Licht zu einer umfassenden Geschichtsbetrachtung. Gottebenbildlichkeit als natürliche Disposition reicht dabei nicht aus; neben Geburt tritt das Erbe der Tradition, die den göttlichen Plan, der sich hinter der Entwicklung verbirgt, erkennen lässt. Betrachten wir Hamanns Interessen, seine Bücherkäufe und die Auseinandersetzung mit Herders Ältester Urkunde, so sehen wir, dass es vor allem die Urgeschichte, der Urzustand und die Sitten der Völker sind, die seine Aufmerksamkeit sowohl in theologischer als auch allgemein geschichtsphilosophischer Hinsicht auf sich ziehen. Diese Zeugnisse dienen ihm aber nicht die bereits erwiesene Gottebenbildlichkeit und den Vorzug des Menschen zu beweisen, sondern konventionelle Sitten und Gebräuche zu berichten. Sie erzählen die Geschichte einer Antwort, die der Mensch auf den in der Scham erfahrenen Vorwurf gibt, gefehlt zu haben: Der Mensch ist vorzüglich ein GOTT der Erde, durch seine Bestimmung der Schöpfer, Selbsterhalter und Immer Vermehrer seines Geschlechts zu seyn. Zwar ist dies Göttliche der ganzen sichtbaren Haushaltung einverleibt, und scheint eine Entwickelung des am Anfange ausgesprochenen Seegens zu seyn; doch ist kein einziges unserer Nebengeschöpfe, für einen überlegten u. freywilligen Rathschluß oder einen Bund und gesellschaftlichen Vergleich zu dieser Absicht gemacht: so wie keines einer größeren Ausbildung fähiger ist und selbige nöthiger hat als der Mensch. Woher kommt es nun, daß wir uns dieser Gleichheit mit GOTTals eines Diebstahls oder Raubes schämen? Ist nicht diese Schaam ein heimlicher Schandfleck unserer Natur, und zugleich ein stummer Vorwurf ihres herrlichen, allein weisen und hochgelobten Schöpfers? – Ein angeborner, allgemeiner Instinct ist es nicht, wie aus dem Beyspiele der Kinder, Wilden und cynischen Schulen zu ersehen; sondern eine angeerbte Sitte, und alle Sitten und Gebräuche sind bedeutende Zeichen u. Merkmale zur Erhaltung urkundlicher Begebenheiten und Fortpflanzung conventueller Gesinnungen eingesetzt.307

Das Erbe, das die Menschheit antritt und diese zur Menschheit macht, sind die Zeichen, allen voran die Sprache. Aus der tradierten Sprache kann die Stimme des Vorwurfs vernommen werden, die natürliche Freiheit verwirkt zu haben. Sie nämlich gründet in einem Akt, der noch vor aller Konvention ist. bilden. Warum bleibt man aber bey den durchlöcherten Brunnen der Griechen stehen, und verläst die lebendigsten Qvellen des Alterthums?“ 307 Brief an Johann Friedrich Hartknoch vom 25. Dezember 1774. In: ders.: Briefwechsel. Hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Bd. III. Wiesbaden 1957, S. 136. Vgl. N III, 199. – Zur Bedeutung in sprachtheoretischer und -historischer Hinsicht vgl. Taylor, der die von ihm „HHH (Hamann, Herder, Humboldt)-Theorie“ genannte Position gegen die instrumentelle und naturalistische Sprachtheorie stark macht und weiterentwickelt: Charles Taylor : Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens. Übers. von Joachim Schulte. Darmstadt 2017, passim.

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Äußern sich Reden und Verstehen zwar in „Bildern“, aus denen der „Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit“ besteht, so folgt dennoch sowohl Bild als auch Schatz dem Wort, das selbst kein Bild, sondern Bedingung und Ursache des Bildes ist. „Es werde Licht!“, diese performativste aller performativen Äußerungen, ermöglicht die Gegenwärtigkeit der Erscheinungen und damit auch das Gesamt von „Erkenntniß“ und „Glückseligkeit“. Verstehen wir unter „Schatz“ Werte, die aufbewahrt, geschätzt und zur Verfügung gestellt werden, so sind diese eben nicht ursprünglich; am Anfang steht vielmehr das Wort, und zwar als Einsetzung oder impositio und nicht als conventio. Hier, am Ursprung des Seins, beim eigentlichen „Apriori“308 sind Zeichen und Ding unterschiedslos bei sich, und zwar kraft des Wortes als reines Wirken, nicht aber als Wirkung oder Bewirkung, als Erscheinung, nicht aber als Verweis. Es ist die geschichtliche Tat, die als Sprechhandlung die Welt als Erscheinung notwendig aus der Dimension des Raumes in diejenige der Zeit trägt. Die Geschichte vervollständigt das Schema der Erscheinung des Göttlichen durch den Plan, der diesen Erscheinungen eingeschrieben ist. Dieser prophetischen Dimension widmet sich Hamann mit seinem Schreiben wider die eigene und für die Verwirklichung einer göttlichen Zeit. So steht über seinem Interesse an der Natur als Epos, dass die Basis des Freiheitsbegriffs sowie die Möglichkeit zur Erkenntnis qua Ebenbildlichkeit garantiert, das Drama, worin sich Gesinnung und That zu dem eigentlichen entscheidenden Mythos verbinden. An eben diesem Drama nimmt Hamann denn auch Maß, um Autor in einem eigentlichen Verstand zu heißen: Kein Impromptu, sondern ein Plan, vor dessen Umfang ich bis weilen selbst erschrecke und ihm allen Antheil des sensus communis abspreche, und, was mir noch weniger ähnlich sieht, aber im Grunde immer mein Geschmack gewesen, gantz Drama, kein Epor [Epos]. Es kommt mir aber selbst lächerlich vor, davon einmal zu reden; wie wol es das punctum saliens meiner gantzen Autorschaft von jeher gewesen; kein Autor zu sein als jata to etulom [kata to etymon; gemäß der Wahrheit].309

308 Zu Einsetzung als „Apriori“ von Hamanns Zeichen- und Rechtsdenken vgl. Achermann: Natur und Freiheit (wie Anm. 302), S. 82–93. – Zur willkürlichen impositio als Gegenbegriff zu einer natürlichen conventio bei der Erklärung des Sprachursprungs vgl. Eric Achermann: ,Imputatio‘, ,impositio‘ und die Verbindlichkeit von Zeichen. Zum Topos der Sprachkonvention in naturrechtlicher Hinsicht. In: Philologie als Literatur- und Rechtswissenschaft. Germanistik und Romanistik 1730–1870. Hg. von Claudia Lieb und Christoph Strosetzki. Heidelberg 2013, S. 13–36. 309 Brief an Johann Gottfried Herder vom 28. August 1774, ZH III, 104.

Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin)

Mendelssohn, Hamann und das himmlische Jerusalem*

In seinem wirkungsmächtigen Büchlein Jerusalem oder religiöse Macht und Judentum interpretiert Mendelssohn das Judentum als universale natürliche Religion einerseits und als politisch neutrale, göttlich offenbarte Kultgesetzgebung für das israelitische Volk andererseits. Diese Interpretation basiert auf Grundlagen, die durch das christliche Naturrecht, besonders durch Samuel Pufendorf, gelegt worden sind. Mendelssohn adaptiert das Naturrecht freilich nicht in toto, sondern er übernimmt Haupttopoi und interpretiert sie um. Sein Konzept ist nicht mit Lessings Geschichtstheologie vereinbar, der in der Erziehung des Menschengeschlechts die Aufhebung aller Offenbarung in einem philosophischen Pantheismus prophezeit hatte. Für Johann Georg Hamann, den überzeugten christlichen Offenbarungstheologen, ist Lessings Pantheismus ebenso inakzeptabel wie Mendelssohns Orientierung der Religion am Naturrecht. Er kann sich deshalb weder mit Mendelssohns naturrechtlicher Deutung noch mit dem daraus folgenden Anspruch des Judentums auf Universalität anfreunden. In Golgotha und Scheblimini weist er die aufgeklärte Position Mendelssohns scharf zurück. Die folgenden Gedanken gliedern sich entsprechend: Sie skizzieren zunächst Pufendorfs Naturrechtskonzeption, behandeln anschließend Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und wenden sich danach ausführlicher Mendelssohns und Hamanns Theorien zu.

* Dieser Aufsatz ist anlässlich des 75. Geburtstages von Walter Sparn im Jahr 2018 bereits erschienen in Das Projekt der Aufklärung. Philosophisch-theologische Debatten von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Walter Sparn zum 75. Geburtstag. Hg. von Joar Haga, Sascha Salatowsky, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Wolfgang Schoberth. Leipzig 2018, S. 121–146.

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I.

Wilhelm Schmidt-Biggemann

Pufendorfs Naturrecht: Pflichten, Familie, Eigentum, Souveränität

Samuel Pufendorf hat in seinen juristischen Grundsatzwerken De iure Naturae et gentium (1672) sowie in De officio hominis et civis (1673) mit Cicero und der ihm folgenden abendländischen Naturrechtslehre die Pflichten gegenüber Gott, dem Nächsten und sich selbst bestimmt.1 Die Pflichten gegenüber Gott, die er in seinem Büchlein De officio hominis et civis kurz darstellt, entsprachen den Lehrsätzen, die Herbert von Cherbury als ethische Elemente des Deismus formuliert hatte.2 Pufendorf akzeptierte sie sämtlich, strich aber die Vorstellung von jenseitiger Belohnung und Bestrafung und erweiterte sie mit einigen Bestimmungen zum Gottesbegriff. So definierte er sechs Pflichten Gott gegenüber, vier theoretisch vorausgesetzte Einsichten, und zwei praktische Anweisungen:3 1. Gott existiert. 2. Gott ist der Schöpfer der Welt. 3. Gott regiert die ganze Welt und besonders das Menschengeschlecht. 4. Gott hat kein unvollkommenes Attribut. Die praktischen Pflichten bestehen 5. im inneren Dienst, in dem Gott die Ehre gegeben wird, und im äußeren Handeln, d.i. reziprok, 6. im Gehorsam gegen Gott, in seinem Lob und Preis. Das ist eine sehr weite und milde Definition der Pflichten Gott gegenüber. Wegen der Regel, dass jeder Pflicht ein Recht entspricht, enthalten die Pflichten Gott gegenüber das Recht auf Gottesdienst. Für Pufendorf ist die Verehrung Gottes deshalb ein Menschenrecht; die kultische Form der Verehrung ist im Einzelnen nicht vorgeschrieben. Hier liegt die Begründung für Pufendorfs Konzept der Toleranz. Die Pflichten gegen sich selbst teilen sich auf in solche gegen die Seele und solche gegen den Körper. Die Pflichten gegen die Seele umfassen 1. die erbauliche Übung des guten Willens. d.i. die Ausübung des freien Willens, um Gutes und praktische Tugend zu erreichen. 2. Streben nach äußeren Gütern und Besitz, insofern dieser Besitz in gesellschaftlich vertretbarem Umfang bleibt. 3. Gutes bürgerliches Leben in Übereinstimmung mit der bürgerlichen Gewohnheit. Das 1 Vgl. Wolfgang Kersting: Pflichtenlehre. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Bd. 7. Basel 1989, Sp. 456–458. 2 Herbert von Cherbury : De veritate. Hg. von Günter Gawlick. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. 210–222. „1. Daß es irgendein höchstes Wesen gibt; 2. daß dieses göttliche Wesen verehrt werden muß, 3. daß die mit Frömmigkeit verbundene Tugend als Hauptbestandteil der Verehrung Gottes betrachtet wird und immer betrachtet worden ist, 4. daß jedes Laster und jedes Verbrechen durch Reue gesühnt werden muß, 5. daß es nach diesem Leben Lohn oder Strafe gibt.“ – Vgl. David A. Pailin: Herbert von Cherbury. In: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philos. des 17. Jahrhunderts. Hg. von Jean Pierre Schobinger. Bd. 3. Basel 1988, S. 229. 3 Samuel Pufendorf: De officio hominis et civis 1,4. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Hg. von Gerald Hartung. Berlin 1997.

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schließt, wie Pufendorf betont, „Belustigung und Ergötzlichkeit“4 im menschlichen Umgang ein. Teilhabe an der Bildung (Studia), Kenntnis und Praxis der schönen Künste sind Teile der Pflichten des Menschen gegen sich selbst und gehören zum Bereich der Sociabilitas, der Pufendorf vor allem interessiert. Wie in De officio, so betont er auch in De iure naturae et gentium, dass der „Mensch ein Gemeinschaftswesen [animal sociabile] sei, weil er, anders als andere Lebewesen, fähig sei, das Leben komfortabel zu gestalten.“5 Die Pflichten gegen den Körper umfassen die Erhaltung des körperlichen Lebens, der Gesundheit sowie das Recht auf Selbstverteidigung. Die drei Pflichten des Menschen seinem Nächsten gegenüber zitieren zunächst die Rechtsprinzipien aus dem Römischen Recht: Neminem laedere, suum cuique tribuere und honeste vivere. Das gilt vor allem für die 1. Pflicht: Keiner soll einen anderen verletzen. Das ist das Naturrecht auf körperliche Unversehrtheit. Die 2. Pflicht besteht darin, „daß jeder den anderen für seines gleichen halten solle.“6 Mit dieser Bestimmung hebt Pufendorf die bürgerliche Rechtsgleichheit hervor, das neuzeitliche Prinzip der Gerechtigkeit. Die Konsequenz dieser Pflicht ist, dass die Gleichheit vor dem Gesetz als Menschenrecht akzeptiert wird. Das honeste vivere ist das Leben, das die Möglichkeiten der Sociabilitas mit Anstand und Ehre ausfüllt. Familie, Eigentum, Staat. Pufendorf unterscheidet deutlich zwischen den Rechten des Einzelnen, seiner Sociabilität, die zur natürlichen Gesellschaft führt, und der Konstitution des Staats. Der Weg zum Staat führt für ihn über die Entstehung der Herrschaft (imperium). Diese hat ihren Ursprung zunächst in der Familie, die aus der doppelten Geschlechtlichkeit des Menschen seit seiner Schöpfung abgeleitet wird.7 So ist die vorstaatliche Gesellschaft für Pufendorf 4 1,5, § 6 der deutschen Übersetzung von De officio hominis et civis von Immanuel Weber, die aber mit Pufendorfs Einverständnis gemacht wurde. Die Ausgabe ist im Anhang von Bd. 2 der Gesammelten Werke Pufendorfs, Berlin 1997 mitabgedruckt. Zum Zusammenhang siehe die Einleitung des Herausgebers Gerald Hartung. Vgl. dazu Samuel Pufendorf: De iure naturae et gentium [im Folgenden: JNG]. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hg. von Frank Böhling. Berlin 1998, II, 4: De Praestationibus hominis adversus seipsum tam circa culturam animi quam culturam corporis et vitae. Vgl. dazu Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur. Tübingen 2001. 5 Cf. JNG (wie Anm. 4), II, 3, § 15: „Nam etiam ideo animal sociabile hominem diximus, quod homines mutua commoda, magis quam ullum animantium, promovere idonei sunt; sicuti & contra nullum animal plus commodi ab homine experiri potetst, quam ipse homo.“ 6 De officio (wie Anm. 3), I, 7: De agnoscenda naturali hominum aequalitate. 7 JNG (wie Anm. 4), VI, 1, § 1: „Sed cum imperium non nisi inter plures possit intelligi, & vero sacrarum literarum auctoritate constet, abs Deo unum duntaxat par hominum ab initio fuisse productum ad quod quidquid est mortalium suas refert origines; igitur priusquam de imperio civili agamus, discipiendum fuerit de matrimonio, ex quo familiae proveniunt, & unde imperiis & civitatibus constituendis velut materies oriuntur.“

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durch die Ehe als „seminarium generis humani“8 und die daraus erwachsende Familie bestimmt. Sie ist nach dem aristotelischen und alteuropäischen Muster des Großen Hauses gesehen, an dessen Spitze der Paterfamilias steht. Dieses Große Haus ist für ihn selbstverständliches natürliches Eigentum, das patriarchalisch organisiert ist. Der Paterfamilias ist den Kindern gegenüber erziehungsberechtigt, für alle seine Hausgenossen verantwortlich und deshalb auch weisungsbefugt. Die Hausmutter hat ein untergeordnetes Weisungsrecht im Haus und übernimmt bei Abwesenheit oder Tod des Vaters seine Aufgaben.9 Aus dem Sozialtrieb, der zur Geselligkeit und Familiarität führt, folgt für Pufendorf keineswegs schon organisch der Staat (Civitas). Es besteht ein Hiatus zwischen den im Großen Haus besitzmäßig organisierten Familien und dem Staat. Das natürliche Bedürfnis nach Gemeinschaft wird durch Familien und Vereinigungen erfüllt, der Staat ist dagegen eine bürgerliche Zwangsordnung aufgrund der Lasterhaftigkeit der Menschen. Pufendorf stellt sich die Entstehung des Staates so vor, dass sich die im Naturzustand verstreuten Familien, die untereinander konkurrieren, in einem Bundesschluss unter eine gemeinsame Herrschaft stellen. „Deshalb haben sich die Familienväter, nachdem sie ihre natürliche Freiheit aufgegeben hatten, entschlossen, sich ein Präsidium zu geben gegen die Bosheiten, die dem Menschen vom Menschen drohen.“10 Der Übergang in den Staat ist folglich für Pufendorf ein Bundesschluss (foedus), kein privatrechtlicher Vertrag und kein Entschluss eines Einzelnen. Der Bundesschluss ist Pufendorfs Variante des Gesellschaftsvertrages. Er kann nicht gekündigt werden; sein Verlassen führt zu Verurteilung, Verfolgung und Strafe. Den Akt der Staatskonstitution sieht Pufendorf in zwei Schritten: 1. als Wahl der Verfassungsform,11 2. als Unterwerfung unter die gewählte Verfassung.12 Den Staat hat Pufendorf in der Tradition von Bodin, Grotius und Hobbes ganz am Begriff der Souveränität orientiert. Das summum imperium ist für ihn allerdings nicht, wie für die französische Tradition, gottgegebene absolute Herr-

8 Ebd., VI, 1, § 2. 9 Ebd., VI, 2, § 5. 10 Ebd., VII, 1, § 7: „Genuinum igitur, & princeps causa, quare patresfamilias, deserta naturali libertate, ad civitates constituendas descenderint, fuit, ut praesidia sibi circumponerent contra mala, quae homini ab homine imminent.“ 11 Ebd., VII, 2, § 7: „Pactum primum, & illum subsequens decretum. […] prius fit, quando quis sese obstringit adhaerere isti coetui, quaecunque demum regininis forma pluribus arriserit. Posterius, quando hanc conditionem adjecit; siquidem introducatur forma rigiminis ipsi probatur.“ 12 Ebd., VII, 2, § 8: „Pactum alterum, complementum civitati afferens. Post decretum circa formam regiminis novo pacto opus erit, quando consituuntur ille, vel illi, in quem vel quos regimen coetus confertur ; quo hi quidem ad curam communis securitatis & salutis, reliqui ad obsequium his praestantem sese obstringunt; cui simul subjectio illa & unio voluntatum inest, per quam civitas una persona intelligitur. Ex quo demum pacto perfecto resultat.“

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schaft,13 sondern wird von den beiden Gesellschaftsverträgen, d.i. der Wahl der Verfassung und dem Unterwerfungsakt, abhängig gemacht.14 Dabei legt Pufendorf Wert auf die Feststellung, dass in allen Verfassungen, auch in der Demokratie,15 ein imperium absolutum16 besteht. Dieses Imperium ist die höchste Handlungsfreiheit im Rahmen des göttlich gegebenen Naturrechts und hängt von niemandem auf dieser Welt ab.17 Pufendorf schließt daraus, dass der Souverän niemandem rechenschaftspflichtig sei, und, dem menschlichen Strafrecht entzogen,18 über dem menschlichen Gesetz stehe.19 Wie Grotius und Hobbes ist Pufendorf kein Vertreter der Volkssouveränität, denn er betont, dass die Könige über ihrem Volk als Ganzem stehen können.20 Sein Hauptargument ist das Erbrecht, das die königliche Souveränität über ein Volk setzt, denn im Erbfall kann die Königswürde von einem fremden, dem verstorbenen Souverän blutsverwandten Erben ausgeübt werden. Die Elemente der souveränen Herrschaft bestehen (wie bei Bodin und Hobbes) im Recht auf Gesetzgebung, im Recht zu strafen, im Richteramt, dem Recht des Kriegs und Friedens sowie der Vertragsfähigkeit, im Recht, eine Verwaltung einzusetzen und in der Steuerhoheit. Analysiert man Pufendorfs Staatsrecht, so hinkt es nach zwei Seiten: Auf der einen Seite betont es die Rolle des Naturrechts und der Sociabilitas, der freiwilligen Zusammenschlüsse. Diese menschliche Natur mit ihrem Gemeinschaftstrieb kann sich im Rahmen der vor- und innerstaatlichen Gesellschaft verwirklichen. Weil Pufendorf die Familie als Keimzelle der natürlichen Gesellschaft begreift, die in ihrer Familiarität auch im Staat prinzipiell nicht aufgehoben wird, vermeidet er die Vereinzelung der Personen, die Hobbes in seiner Fassung des absolutistischen Unterwerfungsvertrags benötigt und bremst damit den Absolutismus des Staats. Auf der anderen Seite gibt es das Recht der Souveränität, das ein Widerstandsrecht gegen einen legitimen Herrscher nicht zulässt,21 denn der zweite Teil des Foedus, des Gesellschaftsvertrages, der Unterwerfungsvertrag, konstituiert das absolute imperium der civitas, die für Pufendorf selbstverständlich eine Monarchie ist. Allerdings hat auch der Souverän nicht das Recht, gegen die

13 14 15 16 17 18 19 20 21

Ebd., VII, 3, § 3. Ebd., VII, 3, § 1. Ebd., VII, 5, § 5. Ebd., VII, 6, § 7. Ebd., VII, 6, § 1. Ebd., VII, 6, § 2. Ebd., VII, 6, § 3. Ebd., VII, 6, §§ 5f. Ebd., VII, 8, § 1.

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naturgesetzliche Grundlage allen Rechts zu handeln. Er ist deshalb zur Wahrung der religiösen Rechte der Familien verpflichtet. Im Prinzip ist diese Rechtsstruktur statisch, ihr Geltungsanspruch ist zeitlich unbegrenzt; die Religion ist innerhalb dieser Staatsverhältnisse nur soweit variabel, als sie weder den naturrechtlichen Rahmen noch die staatsrechtliche Autorität in Frage stellen darf. Das bedeutet im Übrigen, dass in Pufendorfs naturrechtlich normiertem Staat Atheismus ausgeschlossen ist, weil die Pflichten gegenüber Gott konstitutiver Teil des Naturrechts sind.

II.

Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und die vernünftige Vollendung der Geschichte

Das Naturrecht schließt eine Geschichtsphilosophie, die das Naturrecht am Ende aufheben würde, aus. Die Natur gilt als dauerhaft, und das gilt auch für das Naturrecht, das den Anspruch auf unbegrenzte Geltung hat. Es rechnet nicht mit dem Ende der Geschichte, darin besteht seine Differenz zur Offenbarungstheologie. Die Offenbarungstheologie rechnet dagegen mit einem Geschichtsende, an dem Gott das Gute belohnen und das Böse bestrafen wird. Geschichtszeit ist deshalb etwas Anderes als Naturzeit. Der formale Grund für die besondere Struktur der Geschichtszeit ist, dass Geschichtszeit Handlungszeit ist. Die Struktur der Handlung wird auf die Zeit übertragen: „Omne agens agit propter finem.“ Wenn dieses ,agere‘ personal verstanden wird, dann impliziert es eine bewusste Intention auf ein Ziel hin, um dessentwillen die Handlung unternommen wird. Historische Zeit ist freilich auch dann Handlungszeit, wenn nicht klar ist, wer das Subjekt der Geschichte ist oder ob es überhaupt eines gibt. Immer dann, wenn eine Epoche ihr Ende erreicht hat, ist sie vollendet, aber auch vergangen. Diese Dialektik gilt auch für die Weltgeschichte – sofern man sich überhaupt auf sie einzulassen traut. Das muss man freilich, wenn man denn von der Einheit der Geschichte ausgeht. Diese Einheit kann man nicht vermeiden, sofern man von ,der Geschichte‘ redet. Jede Geschichte wird, als Ganzes betrachtet, zu einer Gesamt-Geschichte. Ihre unvermeidliche Einheit ist ein Ganzes – und ein Ganzes hat bekanntlich einen Anfang, eine Mitte und ein Ende; das gilt für alle Dinge und deshalb eben auch für Geschichten. Nur wenn sie vollendet sind, können sie als Einheit betrachtet werden, und erst dann sind sie hermeneutisch zu erfassen. Damit etwas in ,seinem‘ Sinn begriffen werden kann, muss es als Ganzes vorausgesetzt werden; und es muss als ein Zweckzusammenhang, als ein ,Umwillen‘, gefasst werden. Sinn ist immer ein Umwillen, teleologisch. Der Zweck und das Ziel sind ununterscheidbar. Nun hat die Weltgeschichte, wie alle Ge-

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schichten, die die Gegenwart einschließen, eine Besonderheit: sie ist noch nicht zu Ende. Die Zukunft ist noch Teil ihrer Vollendung. Wenn man also den Sinn der Gegenwart begreifen will, muss man von der Zukunft reden. Lessings Erziehung des Menschengeschlechts erfüllt alle Kriterien dieser von der Zukunft bestimmten Geschichtstheologie. Die Schrift zeigt zugleich, wie stark die Geschichtsphilosophie von der Theologie abhängig ist und dass die Geschichtsphilosophie von einem Ganzen her denkt, das einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Nach diesen Kriterien muss Geschichte erzählt werden. Drei Stadien der vernünftigen Heilsgeschichte. Lessing exponiert das Grundmuster des aufgeklärten Erziehungsoptimismus, und zwar in deutlich theologisch-heilsgeschichtlicher Terminologie.22 Lessing gibt in seiner Geschichtstheologie drei Stadien vor: 1. Das Alte Testament deutet er als göttliches Erziehungsprogramm zum Monotheismus. Das ist die Phase, in der das Volk Israel die Heils- und Fortschrittsgeschichte prägt. 2. Das Geschichtsziel des Neuen Testaments ist die Erziehung zur Moral. Diese Erziehung ist die Aufgabe des Christentums. 3. Die dritte, das Neue Testament ablösende Phase erzieht zur vernünftigen und erhofft bekömmlichen Selbständigkeit. In dieser Phase werden Christentum und Judentum gleichermaßen in einer endgültigen Vernunftepoche aufgehoben. Lessing denkt hier an Spinozas Pantheismus, worüber er 1781 in dem berühmten Gespräch mit Friedrich Heinrich Jacobi bekannt hatte: „Hen kai Pan, Ich weiß nichts anderes.“23 Im Einzelnen ist Lessings Erziehungstheologie klar konturiert: Das Alte Testament wird in den ersten 52 Paragraphen behandelt. In §§ 1–5 geht es um die Erziehung im theologischen Rahmen, von §§ 6–12 um die adamitische Religion und das Verhältnis von Monotheismus zum Polytheismus. Das alttestamentliche Konzept des Monotheismus und des Einen (§§ 13–15) schließt diese Thematik ab. Nach den Entwürfen zur Moral des Alten Testaments (§§ 16–21) und der Feststellung, dass das Alte Testament die Unsterblichkeit der Individualseele noch nicht kenne (§§ 22–26), geht es Lessing um die zukunftsweisenden Momente: Die Vernunft-Emanzipation werde durch das AT angestoßen (§§ 27–36); der Einfluss der Chaldäer in der Exilzeit habe das Judentum aus seiner Isolierung gelöst (§§ 37–42), die Typologie gebe Fingerzeige auf das Kommende (§§ 43–47). Den Schluss dieses Abschnitts bilden

22 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Lessings origenistische Eschatologie. In: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2011, S. 138–153. 23 Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe Bd. 1,1 Schriften zum Spinozastreit. Herausgegeben von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske. Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 16.

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Thesen zum Stil und zum Lehrbuchcharakter des Alten Testaments. Das Neue Testament wird in den §§ 53–80 verhandelt. Lessing beginnt mit der „neuen Lehre der Unsterblichkeit“, die Christus verkündet habe (§§ 53–58). Er ignoriert die orthodoxe Christologie von Inkarnation und Kreuzesopfer und bestimmt die Moral als Kern des Christentums (§§ 59–61). Das Neue Testament, das er als Lehrbuch interpretiert, sei 1700 Jahre das non plus ultra der religiösen Erleuchtung gewesen, „sollte es auch nur durch das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug. (§§ 62–67). Jetzt stehe das Menschengeschlecht am Ende seiner Kindheitsphase (§§ 68–71) und erkenne, welches der moralische Sinn der Lehren von Trinität, Erbsünde und Genugtuung sei (§§ 72–75). Lessing schließt die Behandlung des Neuen Testaments mit fragenden Erwägungen zum Verhältnis von Religion und Vernunft: Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren historischen Wahrheit, wenn man will, es so mißlich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unseren Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre?24 Vielmehr sind dergleichen Spekulationen – mögen sie im einzelnen doch noch ausfallen, wie sie wollen – unstreitig die schicklichsten Übungen des menschlichen Verstandes überhaupt, solange das menschliche Herz überhaupt höchstens nur vermögend ist, die Tugenden wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu lieben.25

Den Schluss der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (§§ 81–100) bilden Mutmaßungen zum Dritten Reich. Hier geht es um die joachitisch-origenistische Konzeption der Eschatologie und um Metempsychose als moralische Vollendungsidee. Lessing erinnert zunächst an das Evangelium aeternum Apk. 14,6 (§§ 81– 87) und berichtet kurz von den „Schwärmern des joachitischen Zeitalters“ (§§ 88–90). Als Prophetie und sogar in Gebetform kündigt er das kommende Reich an (§§ 91f.) und beschreibt das Ewige Ende (§§ 93–100). Hier erwägt er auch die Seelenwanderung: „Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?“26 Es scheint ihm darum zu gehen, dass der Einzelne und die Menschheit durch Metempsychose verbessert werde: „Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin. Bringe ich auf einmal nicht soviel weg, dass es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet?“27 24 Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 77. In: Werke. Bd. 10. 1778–1781. Hg. von Arno Schilson und Axel Schmitt. Frankfurt a. M. 2001, S. 95 25 Ebd., § 79, S. 95. 26 Ebd., § 94, S. 98. 27 Ebd., § 98, S. 99.

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Was geschieht hier? Im dritten Zeitalter wird die Zeit festgestellt. Die Vernunft, die jetzt realisiert wird – was immer das genau auch heißen mag – ist eine, die ihre ewigen Wahrheiten an die Stelle der zufälligen Geschichtswahrheiten setzt. Das dritte Reich ist die Apokatastasis panton und zwar als innerweltliche Feststellung eines letzten, zeitlosen Status. Ein jüngstes Gericht, ein himmlisches Jerusalem ist nicht mehr nötig: Die Vernunft verwirklicht ihr himmlisches Jerusalem im Diesseits. Wenn Gott in diesem Stadium Alles in Allem sein wird, dann ist das die theologische Fassung des spinozistischen Pantheismus, der als die Religion begriffen wird, in der alle anderen Religionen aufgehen.

III.

Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum

Der Titel von Mendelssohns einflussreichster Schrift ist anspruchsvoll: Jerusalem ist für die Juden der Inbegriff ihrer religiösen und politischen, gleichwohl verlorenen Heimat, die heilige Stadt ist das Symbol der kommenden Vollendung. Und das Christentum hat wesentliche Momente dieser Symbolik übernommen: Jerusalem ist für die Christen der Ort von Jesu Kreuzigung und Auferstehung, und das himmlische Jerusalem ist für beide Denominationen das Symbol himmlischer Herrlichkeit. Dass Mendelssohn seinem Buch diesen Titel gab, zeugt von einem erheblichen Pathos; und übernimmt nicht nur die religiöse Tradition des Namens, sondern verändert für seine Denomination zugleich die Bedeutung dieses Symbols. Das Buch hat zwei deutlich unterschiedene Teile; es behandelt zunächst die Natürliche Religion und das staatliche Ius circa sacra. Auf dieser religionsphilosophischen und religionspolitischen Grundlage wird dann im zweiten Teil die besondere Rolle der jüdischen ,Nation‘ entfaltet, die durch den Bund mit Gott und durch sein Gesetz definiert ist.

A.

Natürliche Religion und das staatliche Ius circa sacra

Ius circa sacra. Die Verhältnisbestimmung von Staatsrecht und religiösen Gemeinschaften ist ein Kernproblem der europäischen Frühen Neuzeit. Es wurde ausgelöst durch den Streit der christlichen Konfessionen in der Reformation. Juristisch wurde es von Jean Bodin so gelöst, dass der souveräne Staat oberhalb der Konfessionen stehe und dass sich folglich die Konfessionen den staatlichen Gesetzen unterordnen mussten. Gegen dieses absolutistische Religionsdiktat hatten sich die großen Konfessionen mit dem naturrechtlichen Argument zur

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Wehr gesetzt, das Recht auf Gottesdienst folge aus den natürlichen Pflichten Gott gegenüber. Die Frage, wie diese Gottesdienste gefasst wurden, bleibe den Konfessionen überlassen, sofern die Konfessionen staatsloyal seien. Die Frage danach, wie denn die doppelte Loyalität des Katholizismus gegenüber dem Papst und dem Landesherrn im Konfliktfall entschieden werden sollte, blieb strittig. Entscheidend war, dass der Gottesdienst als Recht aller Menschen begriffen wurde. Dem Staat war nach dieser naturrechtlichen Theorie das Recht auf Eingreifen in die Religionsausübung solange verboten, wie die Religion nicht staatsfeindlich war. Das ist genau der Freiraum, den auch Mendelssohn für das Judentum in Anspruch nehmen wird. Mendelssohn beginnt seine Diskussion des Ius circa sacra mit der Zurückweisung von Hobbes’ staatskirchlichem Absolutismus: Hobbes unterwerfe den „äußeren Gottesdienst“ völlig dem Befehl der weltlichen Obrigkeit.28 Mendelssohn hält dagegen, dass zwischen „Recht und Pflicht, Macht und Verbindlichkeit“29 unterschieden werden müsse. Damit stellt er sich auf den Boden eines Naturrechts, das natürliche Rechte und Pflichten des Menschen vom positiven Recht („Macht und Verbindlichkeit“) des Staates unterscheidet. Mendelssohns Staatsverständnis ist nicht absolutistisch. Vielmehr bezieht er seine Argumente aus Lockes Briefe über die Toleranz, der seinerseits Pufendorf voraussetzt: „ein Staat sey eine Gesellschaft von Menschen, die sich vereinigen, um ihre zeitliche Wohlfahrt gemeinsam zu befördern.“30 Wesentlich ist für ihn die Einschränkung des Staatszwecks auf das zeitliche Wohl. Das ist eine nicht unwesentliche Einschränkung der staatlichen Souveränität und der staatlichen Verpflichtung. Der Staat ist nicht mehr für das Seelenheil seiner Untertanen verantwortlich. Damit ist auch schon im Vorfeld die Frage nach dem Toleranzspielraum beantwortet: Wenn der Staat nicht für die Religion seiner Untertanen verantwortlich ist – was für den absolutistischen Staat keineswegs selbstverständlich ist – dann ist die Religion Privatsache, dann kann jeder nach seiner FaÅon selig werden. Religiöse und säkulare Pflichten: Gesinnung und Handlung. Mendelssohn ist kein Staatsabsolutist, denn diese Verfassung impliziert das staatliche Religionsdiktat. Er will auf den freiwilligen Gesellschaftsvertrag pufendorfscher und lockescher Prägung hinaus, der Naturrecht und Gesellschaftsvertrag verbindet. Er geht zunächst von den drei Prinzipien des klassischen Naturrechts aus; den Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst, und gegen den Nächsten. Er situiert diese 28 Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Zuerst Berlin 1783. Zitiert nach ders.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe Bd. 2. Herausgegeben und eingeleitet von Christoph Schulte, Andreas Kennecke und Graz˙yna Jurewicz. Darmstadt 2009, S. 129–206, hier S. 135. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 136.

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Rechte innerhalb der menschlichen Gemeinschaft; deren Zweck sei die Beförderung des gemeinen Besten. „Ihr gemeinsames Beste aber begreift das Gegenwärtige sowohl als das Zukünftige, das Geistliche sowohl als das Irdische, in sich.“31 Beide, das geistliche und das irdische Beste, sind an Pflichten gebunden, die das Glück im Himmel und auf Erden erwarten lassen. Mendelssohn unterteilt nun die geistlichen und weltlichen Pflichten strikt in „Handlung und Gesinnung“.32 Für die Handlung, den äußeren Vollzug der Pflichten, ist der Staat zuständig, der Wohlverhalten durch Gesetze vorschreiben und erzwingen kann. Gesinnung, die nicht erzwungen werden kann, ist die Domäne der Religion. Auch das Rechtsprinzip honeste vivere ist bei Mendelssohn noch präsent: Der Staat sei bemüht, die Menschen nicht nur durch äußere Gesetze, sondern „durch Sitten und Gesinnungen zu regieren“,33 und das entspreche dem menschlichen Glücksstreben, denn „Wohlwollen macht im Grunde glücklicher, als Eigennutz.“34 Die Religion kann dem Staat bei der Stärkung der Sittlichkeit der Untertanen helfen, aber der Staat kann im Konfliktfalle nur nach der äußeren Handlung Recht sprechen. Religion hingegen „kennet keine Handlung ohne Gesinnung.“35 „Der Staat gebietet und zwinget; die Religion belehret und überredet.“36 Der Staat, der aus dem freiwilligen Gesellschaftsvertrag entsteht, darf nur nach äußeren Handlungen belohnen und bestrafen. Dieser Staat hat für Mendelssohn durchaus Sozialaufgaben, die den Pflichten gegenüber dem Nächsten entsprechen, und er kann die Erfüllung dieser äußeren Pflichten erzwingen. Vom Staat kann man deshalb Leistungen erwarten, die durch die Pflichten dem Nächsten gegenüber begründet werden: „Kann der Staat nicht durch innere Triebfedern wirken, und dadurch für mich mit sorgen, so wirkt er wenigstens durch äußere, und verhilft meinem Nächsten zu dem Seinigen.“37 Hier wird das „suum cuique tribuere“ bedient. Der deistische Gott verlangt keinen Kult. Der Gesellschaftsvertrag betrifft zwar die beiden Pflichten gegen sich selbst und gegen den Nächsten, aber die Pflichten gegen Gott sind nicht Gegenstand des Gesellschaftsvertrages. Mendelssohn lehnt die Konzeption einer Staatsreligion ebenso ab wie den Absolutismus; er will die Religionspraxis gerade aus den Kompetenzen des Staates herausdefinieren. Für diesen Zweck definiert er die Pflichten Gott gegenüber um: „[…] alle Pflichten 31 32 33 34 35 36 37

Ebd., S. 137f. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Ebd., S. 138. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Ebd., S. 150.

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des Menschen sind Obliegenheit gegen Gott.“38 Das gilt sowohl für die Pflichten gegen mich selbst als auch gegenüber dem Nächsten. Mit dieser Definition ist die kultische Gottesverehrung, die die erste Pflicht des Naturrechts war, aufgehoben. Die Verpflichtungen gegen Gott werden als „Verhältnis zwischen Mensch und Natur, und als Verhältnis zwischen Geschöpf und Schöpfer“39 definiert. Das Verhältnis von Mensch und Natur sei Moralphilosophie, die Beziehung zwischen Geschöpf und Schöpfer sei Religion. Beide fielen zusammen, weil alles auf Gott zurückgeführt werden müsse. Weil es sich sowohl bei den Pflichten als auch bei der Natur um von Gott Geschaffenes handele, gebe es keine besonderen Pflichten, die über die beiden Pflichten sich selbst und dem Nächsten gegenüber hinausgingen. Denn der Schöpfer qua Schöpfer verlange keine Verehrung, er sei sich selbst genug und habe sich in der Schöpfung offenbart. „Gott bedarf unseres Beystandes nicht; verlanget keinen Dienst von uns, keine Aufopferung unserer Rechte zu seinem Besten, kein Verzicht auf unsere Unabhängigkeit zu seinem Vorteil.“40 Daraus folgt: Alle rechtlichen Kultvorschriften, alle Opfer und Kirchenbeiträge sind naturrechtlich unbegründet und also illegitim. „Alle menschlichen Verträge haben also der Kirche kein Recht auf Gut und Eigentum beilegen können.“41 Religionsgemeinschaften sind rhetorikgesteuerte Erbauungsvereine. Mendelssohn zieht aus der Aufhebung der Kultpflichten eine radikale kirchenpolitische Konsequenz: Die „Pflichten der Bürger gegen die Kirche sind ein geneigtes Ohr und ein williges Herz.“42 Die Kirchenlehrer, d. h. die Prediger sollten (wie die Rabbinen) kein Salär bekommen, denn „Bezahlen“ sei „für diese erhabene Beschäftigung“ „unnatürlich“, es erniedrige den Stand und seine Würde. Der Staat könne höchstens den Zeitaufwand der Prediger entschädigen.43 Mendelssohn spricht den Kirchen zugleich das Recht auf juridische Verfasstheit ab,44 die Kirche brauche deshalb auch intern keine Organisation; die Rolle der Prediger sei, zu überzeugen, nicht zu zwingen; und das gelte zumal für Religionsstreitigkeiten. Weder Staat noch Kirche seien Richter in Religionsangelegenheiten. Der Staat habe sich nur „von Ferne“ um die Religion zu kümmern. Freilich geht Mendelssohn durchaus noch davon aus, dass der Staat die „Hauptgrundsätze, in 38 39 40 41 42 43 44

Ebd., S. 150. Ebd., S. 150. Ebd., S. 151. Ebd., S. 151. Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Er geht auch weiter als Thomasius, der die Kirchenorganisation im Staat zwar kritisiert hatte, aber der Kirche Organisationsrecht im Staat zugestanden hatte. Siehe dazu meine Einleitung in Pufendorfs De habitu religionis ad vitam civilem in: Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 6. Berlin 2016.

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welchen alle Religionen übereinstimmen,“ d. h. die deistischen Prinzipien, stützen solle, weil diese „Glückseligkeit“ und „Tugend“ garantierten. Wegen dieser klaren Trennung lehnt Mendelssohn auch die religiöse Eidesformel im staatlichen Recht ab. Vor allem aber scheint er gegen die Vereidigung der Prediger auf die symbolischen Bücher zu polemisieren, aber er hat sicher auch den jüdischen Kultus im Auge, wenn er definiert: Der Zweck „religiöser Gesellschaften ist gemeinschaftliche Erbauung.“45 Wenn man die Argumente bündelt, dann sind sie ein Angriff auf die Kirchenrechte und die Kirchenorganisation. Mendelssohn propagiert eine Entinstitutionalisierung des Kirchenkonzepts, praktisch die Auflösung der Kirchen in geistliche Rhetorikvereine, die aus Predigern und Gemeinden bestehen. Unter diese Definition von Kirche fallen auch die jüdischen Gemeinden. Die argumentative Bilanz: Religiöse Hoheit der Gemeinden innerhalb des Staates, Auflösung der Heilsgeschichte. Mendelssohn deutet die naturrechtlichen Pflichten gegenüber Gott, dem Nächsten und sich selbst in einen Gesellschaftsvertrag mit dem Ziel des gemeinen Besten um. Das gemeine Beste hat eine irdische und eine himmlische Dimension, die durch Staatsgewalt und durch Gesinnung gekennzeichnet sind. Die Staatsgewalt kann die äußere Erfüllung der Pflichten erzwingen, im Glücksfall kann er auch für Gesittung und Gesinnung sorgen. Die Religionspflege ist keine Staatsaufgabe, vielmehr wird die religiöse Gesinnung in Gemeinden gepredigt, die sich selbst bilden können. Die Frage nach der Wahrheit der Religion und nach den Pflichten des Kultus sind ausgeklammert. Der Gottesbegriff ist auf einen schöpfungstheologischen Deismus reduziert, Sündenfall und Messianismus spielen keine Rolle, es gibt keine Heilsgeschichte. Dieser deistische Gott braucht keinen Kult; die Religion ist allein Lehre der rechten Gesinnung – was immer das heißt –, organisierte Kirchen sind überflüssig, weil es außer der Schöpfung keine für alle Völker verbindliche Offenbarung gibt.

B.

Das Judentum ist eine historisch entstandene Nation, keine gesonderte Religion

Natürliche Religion und die Frage nach der Legitimität des Kultus. Wenn sich die natürliche Religion bei allen Völkern findet, dann ist der Deismus, der die Existenz Gottes, die Schöpfung und die Unsterblichkeit der Individualseele lehrt, universell. Diese religiöse Grundausstattung ist Teil der allgemeinen menschlichen Vernunft; und sie liegt damit auch vor allen politischen Verträgen. Religion ist vorpolitisch und damit ursprünglicher als alle staatlichen Institutionen. Diese 45 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 28), S. 161.

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naturrechtliche Annahme hat die juristische Folge, dass „nach den Grundsätzen der gesunden Vernunft, deren Göttlichkeit wir alle anerkennen müssen, weder Staat noch Kirche befugt wären, sich in Glaubenssachen ein anderes Recht anzumaßen, als das Recht zu belehren.“46 Damit werden die Kirchen zu pädagogischen Einrichtungen degradiert, ihre Offenbarungsverkündigung und ihre Kultverwaltung sind angesichts der Vernunftreligion allenfalls erbauliche Dekoration. Sie dürfen überzeugen, aber wovon? Über die möglichen Inhalte christlicher Glaubensverkündigung macht Mendelssohn – natürlich – keine Angaben; aber wenn er es täte, dann wäre das Christentum ebenso auf Gesetzesgehorsam reduziert wie das Judentum. Aber woher nehmen die kultischen Praktiken der Denominationen überhaupt die Autorität, dass man sich ihnen fügen muss? Ein staatliches Zwangsgebot ist ausgeschlossen, als Religion gilt allein der vernünftige Deismus. Was sind kultische Gesetze unter diesen Bedingungen anderes als leere Traditionen, die von selbsternannten und deshalb illegitimen Autoritäten geschaffen worden sind? Genau dieser Frage stellt sich Mendelssohn im zweiten Teil von Jerusalem. In der Vorrede zu seiner Ausgabe von Menasseh Ben Israels Rettung der Juden hatte er die Freiheit der Wahl eines Kultus auf der Grundlage einer natürlichen Religion verteidigt. Diese Argumentation war von christlicher Seite mit zwei Einwürfen kritisiert worden: 1. Auch das jüdische Religionsgesetz beanspruche Autorität; 2.Der Religionsbegriff Mendelssohns mache eine Offenbarung überflüssig. 1. Das zentrale Argument des ersten Kritikpunktes ist die Autorität auch der jüdischen Religion, die Mendelssohn nicht akzeptiere. Mendelssohns Gegenargument: „Autorität kann demüthigen, aber nicht belehren.“ Religion ist für Mendelssohn immer eine theoretische Einsicht, keine Kultpraxis. Mendelssohns Überzeugung ist deshalb: Die Religion könne im Letzten der Vernunft nicht widersprechen. Wenn sie das täte, könne sie die Vernunft zwar unterdrücken, aber diese werde doch „im geheimsten Winkel meines Herzens“47 dieser Zumutung widerstehen und um Einsicht bitten. 2. Das zweite Argument, das Mendelssohn zu kontern versucht, ist viel tiefergehend: Mendelssohn entferne auch die christliche Religion von ihrem Ursprung ebenso weit wie die, „die er von seinen Vätern empfing.“48 Der entscheidende praktische Punkt ist, dass Mendelssohn zwar für Christentum, Judentum und Islam gegenseitige Toleranz fordert, und auch die Duldung der

46 Ebd., S. 163. 47 Ebd., S. 169. 48 Ebd., S. 170.

Mendelssohn, Hamann und das himmlische Jerusalem

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„Naturalisten“.49 Aber die Frage nach dem positiven Sinn der Offenbarung kann er nicht beantworten; mindestens im Bezug auf das Judentum macht er deutlich: „das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird.“50 Die Israeliten hätten Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, diese seien offenbart; aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeine Vernunftgesetze. Diese offenbarte der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Name und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen.51

Entscheidend ist: Lehrmeinungen, Heilswahrheiten und Vernunftgesetze sind Elemente einer natürlichen Religion – worin, außer im Gesetz, die Offenbarung für die Christen, auch für die Muslime, denn bestehen könnte, lässt Mendelssohn offen. Vernunft- und Geschichtswahrheiten. Nachdem Mendelssohn Lehrmeinungen, Heilswahrheiten und Vernunftgesetze als Momente der natürlichen Vernunft bestimmt hat, können sie mit den Leibniz-Kategorien der v8rit8s de raison (Vernunftwahrheiten) gefasst werden. Vernunftwahrheiten sind Mathematik, Physik, Moral, Gott und Schöpfung. V8rit8s des faits (Tatsachenwahrheiten) sind hingegen historisch kontingente Wahrheiten; sie können wegen der begrenzten Kapazität des Menschen von diesen nicht auf ewige Vernunftwahrheiten zurückgeführt werden. Damit sind die Offenbarungswahrheiten auf v8rit8s des faits reduziert. Aber was heißt das? Für Christen ist es zweifellos eine Tatsachenwahrheit, dass Jesus von Nazareth am Kreuz gestorben ist. Aber die Interpretation dieser Tatsachenwahrheit, dass er als Sohn Gottes die Welt erlöst habe, fällt sicher nicht unter diesen Begriff ,v8rit8 de fait‘. Um eine ewige Vernunftwahrheit jedoch handelt es sich auch nicht. Mendelssohn besteht auf der Leibniz-Dichotomie von Vernunft- und Geschichtswahrheiten. Diese Unterscheidung ist für ihn deshalb essentiell, weil er – offensichtlich / tout prix – das Judentum nicht als messianisch und eschatologisch bestimmen will. Diese Momente, die er zu Recht dem Christentum konzediert, würden auch das Judentum zu einer Religion machen, die am Ende im Christentum aufgehoben würde. Aber genau das hatte Lessing in seiner Erziehung des Menschengeschlechts gelehrt. Weil der religiöse Fortschritt für Lessing eine Aufhebung des Judentums und des Christentums gleichermaßen impliziert, lehnt Mendelssohn dieses Konzept ab. Das ist auch der Grund dafür, dass er ungläubig und geradezu entsetzt auf den Brief reagierte, in dem Friedrich Heinrich Jacobi von Lessings Pantheismus berichtete. Mendelssohn konzediert 49 Ebd., S. 170. 50 Ebd., S. 171. 51 Ebd., S. 171f.

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einen Fortschritt der einzelnen Menschen im Bezug auf die praktische Toleranz, aber die Vernunft selbst, die die natürliche Religion garantiere, sei zur Erkenntnis der ewigen Wahrheiten immer fähig gewesen.52 Das jüdische Gesetz und das Bilderverbot. Mendelssohn betont das Gesetz als Besonderheit des Judentums. Der Offenbarungsbegriff wird für das Gesetz reserviert. Judentum ist „geoffenbarte Gesetzgebung“.53 Mendelssohn stellt dieses Gesetz als Tradition ausführlich dar. Ob es durch die Tradition eine Autorität habe, behandelt er hier nicht noch einmal, sondern er geht von der Gesetzesoffenbarung als einer Tatsachenwahrheit aus. Der Monotheismus gehöre zur natürlichen Religion; diese sei als Vernunftwahrheit „vorausgesetzt“, „und nun rief die göttliche Stimme: ,Ich bin der Ewige, dein Gott! der dich aus dem Lande Mizraim geführt, aus der Sklaverei befreit hat u.s.w.‘“54 Jahwe hat seinen Bund mit den Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob geschlossen, „aus ihrem Samen eine mir eigene Nation zu bilden.“55 Diese Nation bekommt nun ihr Gesetz. Mendelssohn distanziert sich von den Glaubensdefinitionen der rabbinischen Theologie, wenn er klarstellt, einen Katechismus habe das Judentum erst durch Maimonides’ Dreizehn Artikel bekommen; und diese 13 Artikel, die täglich morgens gebetet würden, seien in Schriften von Chasdai, Albo und Abrabanel56 variiert worden. Chasdai habe sie reduziert auf den Status der Gebote des Deismus bei Herbert von Cherbury. Der Kabbalist Isaak Luria (Mendelssohn schreibt Lorja) erkenne überhaupt keine Kernlehren an, weil alles Kernlehre sei. Für Mendelssohn ist entscheidend: Im Judentum gibt es keine dogmatische Festsetzung des Glaubens. „Hierin haben wir den wichtigen Ausspruch unserer Weisen noch nicht außer Acht gelassen: ,Obgleich dieser löset, jener bindet, so lehren sie doch beide Worte des lebendigen Gottes‘.“57 Und Hillel der Ältere habe die Quintessenz des Gesetzes so formuliert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“58 Das Judentum sei eine Buchreligion; diese Tatsache habe dazu geführt, dass die Rabbinen „Buchstabenmenschen“59 geworden seien. Dieses sei ein Irrweg, und Mendelssohn zeichnet jetzt diesen Weg des Judentums zur Buchreligion nach. Er geht davon aus, dass die Schrift aus Abbildungen der Dinge entstanden sei und diese Zeichen zugleich allegorisch gedeutet worden seien: Hund – Treue, 52 53 54 55 56

Ebd., S. 176. Ebd., S. 177. Ebd., S. 177. Ebd., S. 177. Don Chasdai Crescas, 1340–1410, spanisch-jüdischer Religionsphilosoph; Joseph Albo, 1380–1444, jüdischer Religionsphilosoph; Isaak Abrabanel, 1437–1508, jüdischer Religionsphilosoph. 57 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 28), S. 179. 58 Ebd., S. 180. 59 Ebd., S. 181.

Mendelssohn, Hamann und das himmlische Jerusalem

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Pfau – Eitelkeit etc. Das sei hieroglyphisch – und die hebräische Schrift habe hier ihren Ursprung.60 Er führt eine Buchstabenliste an: 4 Rind; 5 Haus; 6 Kamel; 7 Türe; etc.61 Aus dieser Art der Tier-Symbolik habe sich der abergläubische Tierkult entwickelt, wie man bei den Ägyptern sehen könne. Die Tierallegorien zeigten das noch immer, zumal in den Fabeln.62 Beispiele anderer Religionen findet er in den „Nachrichten von Bengalen und dem Kaisertum Indostan von J. Z. Hollwell“.63 Er wendet sich auch hier – wieder eher indirekt – gegen die pythagoreisch-kabbalistische Interpretation der Bibel, wenn er klarstellt, die Pythagoreer hätten sich zwar gegen diese Tierverehrung gewandt, aber sie seien vom Regen in die Traufe gekommen, als sie die Zahlen vergöttlicht hätten.64 Dagegen stellt er nun die Geschichte des Bundes Gottes mit Abraham, Isaak und Jakob: Sie sind dem Ewigen treu geblieben. Es handelt sich, wohlgemerkt, um die Geschichte des Bundes und der Treue, nicht des Glaubens. Aller Glaube reduziert sich hier auf die Natürliche Religion. Der Gott der Natürlichen Religion wird freilich personal gefasst, denn es ist eine personale Gottheit, die sich mit dem Gesetz speziell den Juden zugewandt habe. Wegen des Gesetzes spricht er den Juden zu, „ eine priesterliche Nation zu seyn; das ist, eine Nation, die durch ihre Einrichtung und Verfassung, durch die Gesetze, Handlungen, Schicksale und Veränderungen immer auf gesunde, unverfälschte Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften hinweise, solche unter Nationen gleichsam durch ihr blosses Daseyn, unaufhörlich lehre, rufe, predige und zu erhalten suche.65

Das Durchhalten dieses Bundes sei gefährdet gewesen, wie man an der Geschichte vom goldenen Kalb, das ja „den Wahn der Ägypter“ im jüdischen Volk zeige, sehen könne. Der jüdische Gottesbegriff zeige, wenn man ihn genau betrachte, dass Macht und Liebe, Nachsicht und Verzeihung die Prädikate Gottes seien, die das israelische Volk an Gott erkenne und verehre. 60 Gideon Freudenthal behandelt das in der Mendelssohn-Literatur strittige Thema im 5. Kapitel seiner Mendelssohn-Monographie und führt es zurück auf William Warburtons Divine Legation of Moses demonstrated on the Principles of a Religious Deist (1737–1741). Gideon Freudenthal: No Religion without Idolatry. Mendelssohn’s Jewish Enlightenment. Notre Dame, Indiana 2012, S. 105–125. Zum selben Thema vgl. Alexander Altmann: Moses Mendelssohn. A Biographical Study. Alabama 1973, S. 546. 61 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 28), S. 185, Anm. 62 Ebd., S. 187; hier führt er Lessings Fabel-Abhandlung an. 63 Er benutzt wahrscheinlich die Übersetzung von Johann Friedrich Kleuker : Holwells merkwürdige historische Nachrichten von Hindostan und Bengalen nebst einer Beschreibung der Religionslehren, der Mythologie, Kosmogonie, Fasten und Festtage der Gentoos und einer Abhandlung über die Metempsychose. Aus dem Englischen. Mit Anmerkungen, und einer Abhandlung über die Religion und Philosophie der Indier begleitet. Leipzig 1778. 64 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 28), S. 190. 65 Ebd., S. 191.

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Mendelssohn dichtet zur Erklärung dieser Lehren einen schönen kleinen Dialog zwischen Gott und Moses, in dem nach biblischem Zeugnis Gottes Prädikate bestimmt werden: Der Herr (ist, war und wird seyn66) ewiges Wesen, allmächtig, allbarmherzig, und allgnädig; langmüthig, von großer Huld und Treue; der seine Huld dem tausendsten Geschlechte noch aufbehält; der Missethat, Sünde und Abfall verzeihet; aber nichts ohne Ahndung hingehen lässt.“67

Sündenstrafen werden deshalb als wohlverdiente Züchtigung begriffen; die Strafe ist Teil der „väterlichen Haushaltung Gottes.“68 Er setzt sich freilich gegen das Christentum ab, wenn er feststellt, eine stellvertretende Buße gebe es nicht.69 Im Deismus gibt es keinen Grund für die Judenmission. Man kann Mendelssohns Argumente thesenhaft zusammenfassen: 1. Religionslehren und ewige Wahrheiten, Gott betreffend, sind nicht spezifisch jüdisch, sondern Teil der allgemeinen Natürlichen Religion. 2. Die Thora erzählt „Geschichtswahrheiten, oder Nachrichten aus dem Schicksale der Vorwelt“.70 3. Sie enthält zugleich Gesetze und Vorschriften. Diese wurden geoffenbart; es sind geschriebene und ungeschriebene Gesetze, vor allem Zeremonialgesetze. Diese Zeremonialgesetze waren ursprünglich die Gesetze der jüdischen Theokratie.71 Die Theokratie als jüdische Priesterherrschaft ist aber mit David und Salomon brüchig geworden, Es existiert seit der Eroberung Israels durch die Römer der konkurrierende Anspruch zwischen Staat und Religion. Mendelssohn zitiert: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Deshalb sind die jüdischen Gesetze im Rahmen der übergeordneten souveränen Staatlichkeit gültig. Nimmt man das neuzeitliche ius circa sacra, so sind sie staatsneutrale Zeremonialgesetze, die vom Staat nach dem Naturrecht geduldet werden müssen. Unter diesen Voraussetzungen gibt es keinen Grund für irgendeine vom Staat unterstützte Judenmission. Mendelssohn ist hier ganz deutlich: Die bürgerliche

66 Das ist grammatisch „Jahwe“. 67 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 28), S. 194, Ex. 33,15ff. Mendelssohn zitiert hier seine eigene (in hebräischen Buchstaben erschienene) Übersetzung. 68 Ebd., S. 195. 69 Ebd., S. 195. 70 Ebd., S. 197. 71 Vgl. Reinhold Hülsewiesche: Theokratie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Bd. 10. Basel 1998, Sp. 1075–1080.

Mendelssohn, Hamann und das himmlische Jerusalem

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Emanzipation der Juden darf nicht (wie Dohm in seiner Emanzipationsschrift insinuiert72) mit ihrer Christianisierung erkauft werden, wenn die bürgerliche Vereinigung unter keiner andern Bedingung zu erhalten, als wenn wir vom Gesetze abweichen, das wir für uns noch für verbindlich halten; so thut es uns herzlich leid, was wir zu erklären für nöthig erachten: so müssen wir lieber auf bürgerliche Vereinigung Verzicht thun.73

Und, so endet seine Geschichtstheologie: Brüder! ist es euch um wahre Gottseligkeit zu thun; so lasset uns keine Uebereinstimmung lügen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Natur ist.74

Mendelssohn insistiert deshalb auf einer Kultvielfalt bis ans Weltenende – und diese Lehre richtet sich vor allem implizit gegen Röm 11.25, in dem Paulus die endzeitliche Bekehrung der Juden prophezeit, aber sie richtet sich auch gegen Lessings Fortschrittskonzept. Einer der Gründe, weshalb Mendelssohn so entsetzt auf Friedrich Heinrich Jacobis Behauptung reagierte, dass Lessing Spinozist gewesen sei, besteht darin, dass Mendelssohn diesen Spinozismus – wohl zu Recht – als die Religion des dritten Zeitalters des Menschengeschlechts interpretierte, in dem eben auch das Judentum aufgehoben sein werde.

IV.

Hamann: Golgotha und Scheblimini

Der Titel ist anspruchsvoll, mindestens so anspruchsvoll wie Mendelssohns Jerusalem. Haman zitiert das Glaubensbekenntnis: „Gekreuzigt wurde er sogar für uns!“ – „Golgotha“, und verbindet dieses Zitat mit dem Ps. 110: „Setze Dich zu meiner Rechten“ – „Scheblimini“. Das ist ein christologisches Programm: Der Gekreuzigte „sitzt zur Rechten Gottes, […] von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Das Werkchen ist 1784 in Riga bei Hartknoch erschienen; es antwortete auf Mendelssohns Jerusalem und steht im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Humes Dialoge, die natürliche Religion betreffend. Es ist, wie bei Hamann so üblich, durchaus gelehrt polemisch. Hamann stellt gleich anfangs fest, dass „eine große Kluft zwischen unsern religiösen und philosophischen Grundsätzen befestiget ist.“75 Er folgt in seiner Schrift Mendelssohns Gliederung; er behandelt im ersten Teil die politische Theorie, im zweiten die Geschichtskonzeption.

72 73 74 75

Christian Wilhelm Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin 1781. Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 28), S. 203. Ebd., S. 205. Golgotha und Scheblimini, N III, 293.

270 A.

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Politische Theorie

Die Dilemmata der Autonomie. Die Pflichtenlehre gegenüber Gott, dem Nächsten und sich selbst war das Herz des Naturrechts; Mendelssohn hatte diese Lehre so umgedeutet, dass die Pflichten gegen den Nächsten zugleich Pflichten gegen Gott seien. Diese Pflichtenlehre begründete sein Toleranzkonzept. Für Hamann ist die im Naturrecht unterstellte harmonische Korrespondenz von Recht und Pflicht, von Weisheit und Güte, Selbstliebe und Wohlwollen durchaus fraglich. Er sieht vielmehr Konflikte zwischen unterschiedlichen absoluten moralischen Werten und stellt zur Diskussion, ob denn eine Pflicht als sittliche Notwendigkeit nicht mit der Freiheit in Konflikt stehe.76 Im Bezug auf das Freiheitspathos Mendelssohns, das dieser mit der gesamten politischen Philosophie der Aufklärung teilt, fragt Hamann – durchaus als Skeptiker : „Giebt es denn keine Mishelligkeit, keine Feldzüge zwischen moralischen Eigenschaften, wie zwischen moralischen Wesen?“77 Das „schreckliche Muß“ der Gesetze von Weisheit und Güte ist für ihn ein „Zwangsrecht“. Was Hamann hier einklagt, ist die Frage nach dem Zwangscharakter der praktischen Vernunft. Wenn man der Vernunft folgen müsse, dann sei das „Muss“ der Zwang der Vernunft. In diesem Sinne ist die Vernunft alles andere als Freiheit – sie übt einen schlechthinnigen Zwang aus, aus dem es kein Entkommen gibt. Deshalb unterscheidet Hamann zwischen dem „Rechthabenden“ im natürlichen Recht und dem Rechtleidenden, dem das Naturrecht zur Last ist. Der Rechthabende hat Recht, weil er die Vernunft gepachtet hat: Er verfügt über die Pflicht und ist sich ihrer sicher. Er hat kein Gewissen und keine Skepsis im Bezug auf das Eingesehene; er weiß zwar nicht genau, worin die Pflicht im Einzelnen besteht, aber er gehorcht ihr. „Wer darf über seine Gewissenhaftigkeit den Stab brechen? Das Recht ist ja in seiner Hand.“78 Die Pflicht leide beim Rechthabenden keine Diskussion darüber, ob die verschiedenen Vorschriften zueinander passten, es reicht die formale Einsicht in die Verpflichtung. Das Verbot der Frage nach den konfligierenden Pflichten sei Bärenwäsche: Wasch mir den Pelz aber mach ihn nicht nass. Aber wie soll man die Pflicht zur Nächstenliebe mit der Pflicht der Gerechtigkeit – im Strafrecht: „Strafe muss sein“ kompatibel machen? Hamanns Kritik: Vollkommene Rechte und Pflichten – auch wenn sie untereinander konfligieren – sind moralische Zwangsveranstaltungen, deshalb stimmen sie mit der Freiheit nicht zusammen. „Kurz, alle gelobte Gesetze der Weisheit und Güte, das Gesetz der Gerechtigkeit und das

76 Die kantische Autonomiekonzeption kennt er wahrscheinlich, akzeptiert sie aber nicht. 77 Golgotha und Scheblimini, N III, 295. 78 Ebd.

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Gesetz der Vernunft verlieren sich in dem allergnädigsten Willen.“79 Für Hamann ist die Verbindlichkeit, die der Hobbessche Zwangsstaat verhängt und verlangt und die Zwangspflichten der moralischen Vollkommenheit gleichermaßen „Verbindlichkeit der Furcht“.80 Das ist natürlich auch eine kritische Darstellung des Problems der Autonomie: Ich gebe mir die Gesetze, die ich befolgen muss; und Moralgesetze heben folglich die Freiheit auf, die sich diese Gesetze selbst gab. Hamann akzeptiert die Autonomiekonzeption nicht. Die Struktur der moralischen Werte, d.i. die absoluten Begriffe = Werte sind für ihn keineswegs harmonisch und widerspruchsfrei, sondern konfliktträchtig. Gleichviel ob die Normen nun harmonieren oder konfligieren; man kann sie einsehen, aber mit der Einsicht ist noch lange nicht der Gehorsam gekoppelt. Für die Differenz zwischen Einsicht und Gehorsam ist die Lücke zwischen Vernunft und Wille verantwortlich: Die Moral gibt mir die Gesetze, die ich befolgen muss. Wenn ich sie nicht einsehe, bin ich dumm; wenn ich ihnen nicht gehorchen will, bin ich böswillig. Ist das Freiheit? Dieses Verhältnis von Befehl und Gehorsam ist eine Willensfrage, keine Einsichtsfrage und kein rational choice. Die Unnatürlichkeit des Eigentums. Hamann fragt, woher denn die Gesetze der Weisheit und Güte, d.i. die Sittlichkeit, stammten, ob, wenn sie denn natürlich wären, dieses nicht schon das Naturrecht wäre. Und es erscheint ihm nicht plausibel, dass aus den Gesetzen der Weisheit und Güte ein Recht auf Eigentum folge.81 Wenn es ein Recht auf Eigentum gebe, damit die Glückseligkeit erreicht werde, so habe jeder Mensch im Stande der Natur dasselbe Recht – und Konkurrenzansprüche auf Eigentum führten zu Mord und Todschlag – durchaus ein hobbesianisches Argument. Hamann kennt deshalb kein natürliches Recht auf Eigentum. Damit ist auch die familiare Grundlage des Naturrechts, das Modell des Großen Hauses, von dem Pufendorf ausgegangen war und das Mendelssohn übernommen hatte, hinfällig. Hamann dagegen: Wenn es einen Naturstand gebe, dann wäre der nur so zu verstehen, dass der Mensch sich den Gesetzen der gesamten Natur einfüge und keinen Sonderstatus für sich beanspruche, indem er im Unterschied zu anderen Wesen Eigentum haben möchte. Hamann variiert hier Rousseaus (und Ockhams) Konzeption eines paradiesischen Naturstands ohne Eigentum. Eigentum gibt es für Ockham erst nach dem Sündenfall – für Rousseau ist die Eigentumsbildung selbst der Sündenfall. Der berühmte Anfang des zweiten Teils des Discours sur l’in8galit8 parmi les hommes lautet: 79 Ebd., N III, 299. 80 Ebd., N III, 302. 81 Ebd., N III, 294.

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Der erste Mensch, der ein Terrain eingrenzte und sich anmaßte zu behaupten ,das gehört mir‘, und der Menschen fand, die einfältig genug waren, das zu glauben, der wurde der wirkliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.

Das ist der Sündenfall – und die Sündenfolgen: Wie viele Verbrechen, wieviel Lüge, wieviel Elend und Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Steine herausgerissen, den Graben zugeschüttet und seinesgleichen zugerufen hätte: Hütet euch vor diesem Betrüger. Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.82

Hamann verschärft diese Anklage Rousseaus theologisch; er geht so weit, dass er sogar das irdische Glückstreben des Menschen als sündhaft diskreditiert: „Alle Mittel, deren er sich zur Erlangung einer ihm nicht gegebenen und beschärten Glückseeligkeit bedient, sind gehäufte Beleidigungen der Natur und entschiedene Ungerechtigkeit.“83 Freiheit, Vertrag und Versprechen. Schon zu Beginn von Golgotha und Scheblimini hatte Hamann sehr grundsätzlich mit den Grundlagen der modernen politischen Theorie abgerechnet: Er könne sich weder von einem Naturstand noch von einem Gesellschaftsvertrag einen rechten Begriff machen. Stattdessen verweist er auf den Bund Gottes mit Abraham und seinem Samen, der beiden, Mendelssohn und Hamann, gleichermaßen wichtig sei. Hier präzisiert er diese Kritik. Hamann ist kein Kantianer. Für ihn besteht Freiheit nicht in der Zustimmung zur als notwendig eingesehenen Vernunft. Er insistiert vielmehr auf der Distanz zwischen Einsicht und Handlung. Freiheit besteht in „dem sittlichen Vermögen Ja! oder Nein! zu sagen, und aus der sittlichen Nothwendigkeit, das gesagte Wort wahr zu machen.“84 Zunächst geht es also um die Frage nach der willentlichen Zustimmung oder Ablehnung eines als pflichtmäßig deklarierten Satzes; das ist zugleich die Frage danach, ob ich die Akzeptanz dieses Satzes „ernst“ gemeint habe. Diese Präzisierung bestimmt zugleich die Differenz von Wahrheit und Lüge. Die Ernsthaftigkeit der Einsicht in die Pflicht ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Versprechen impliziert, auch in Handlung umgesetzt zu werden. Das Einhalten des Versprochenen ist ein Abbild der göttlichen Schöpfung durch das Wort: „sprach und es ward.“ Entscheidend ist das Umsetzen von Einsicht in Handeln. Deshalb sieht das eigentliche Naturrecht, laut Hamann, ganz anders aus als bei Mendelssohn, Pufendorf und Locke beschrieben: es ist nämlich das „Recht der Natur, sich des Worts, als des eigentlichsten, edelsten und kräftigsten 82 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’in8galit8. Hg. von Jean Starobisnki. In: ders.: Œuvres complHtes. Hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Bd. 3. Paris 1964, S. 164. 83 Golgotha und Scheblimini, N III, 299. 84 Ebd., N III, 300.

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Mittels zur Offenbarung und Mittheilung unserer innigsten Willenserklärung zu bedienen.“85 Dieses ist die Voraussetzung unserer Entscheidung zum Ja und Nein, und nur als „Mittheilung unserer innigsten Willenserklärung“86 sind wir in der Lage, einen Vertrag zu schließen. Die Kritik an Hobbes, Locke und Mendelssohn geht auf dasselbe hinaus: Sprache ist als wirkendes Wort die Bedingung jeden Vertrages. Ohne diese Dimension der Sprache ist kein Gesellschaftsvertrag denkbar. Wenn aber der Gesellschaftsvertrag so konzipiert ist, dass sich alle – mindestens virtuell – zugehörig fühlen müssen, dann gibt es keine Freiheit des ja und nein. Unter diesen Bedingungen ist der Gesellschaftsvertrag alles andere als die Bedingung der politischen Freiheit, er ist die Bedingung der gesellschaftlichen Unfreiheit. Das Ergebnis: Weder die Fragen der Pflicht noch die Konstruktion des Gesellschaftsvertrages sind in sich theoretisch stimmig – welchen Kredit sollte man ihnen geben? Gesinnungen und Handlungen. Gesinnungen sind für Hamann Gedanken, die eine Tendenz haben, handlungsleitend zu sein, der zugehörige Terminus heißt „Beweggründe“. Den Gesinnungen folgen die Handlungen. Mendelssohn hatte darauf bestanden, dass moralische Gesinnungen des Einzelnen in den Bereich der natürlichen Religion gehören; Handlungen aber im Bezug auf ihre Rechtsförmigkeit nur vom Staat beurteilt werden könnten. Hamann findet, dass mit dieser Unterscheidung wie beim Urteil Salomos, wo das lebendige und das tote Kind geteilt werden sollen,87 zusammenhängende Teile auseinandergeschlagen würden. Hamann besteht darauf, dass Beweggründe auch Wahrheitsgründe sein müssen – das bedeutet wohl: dass die Gesinnung der Wahrhaftigkeit auch Bedingung der Staatlichkeit sein muss. Der Staat darf zwar nur nach äußeren Kriterien urteilen, aber er bleibt dennoch darauf angewiesen, dass Treu und Glaube in ihm funktionieren. Dieses Prinzip, dass es eine sittliche Notwendigkeit sei, die Sprache als wirkendes Wort zu begreifen, hatte Hamann schon als die Bedingung jedes Vertrages, bestimmt; hierin bestand die Bedeutung von ,pacta sunt servanda‘. Wenn die Argumentation hier auf den unvermeidlichen Böckenförde-Satz hinausläuft, dass der Staat auf Grundlagen beruht, die er nicht selbst produzieren kann, dann wird dieses Argument von Hamann in logos-theologische Sphären erhoben: Ohne die Vereinigung von Gesinnung und Handlung höre die göttliche und menschliche Einheit auf. Die Einheit von Gott und Mensch sei in Christus (das ist die dogmatische communicatio idiomatum) vollzogen; und die schöpfungstheologische Bedeutung des göttlichen Wortes ist der Befehl, „Es werde“. 85 Ebd., N III, 301. 86 Ebd., N III, 301. 87 Ebd., N III, 302f.

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Hamann hatte schon vorher beschrieben: Dem schöpfungstheologischen „Es werde“ der göttlichen Sprache korrespondiere in der menschlichen Dimension das Versprechen und damit zugleich die Grundlage aller Verträge. Jetzt geht Hamann einen Schritt weiter : Er politisiert die Logostheologie. Das wirkende Wort des Versprechens, das sich im Vertrag und im Bund der Menschen mit Gott zeigt, ist die Anwesenheit des göttlichen Wortes im Gemeinwesen; und das gilt für Kirche und Staat gleichermaßen. Wegen des göttlichen Bundes mit Abraham, der ein Versprechen Gottes an die Juden war, und wegen der Fleischwerdung des Wortes in Christus, in dem Gottheit und Menschheit sich vereinigen, ist die Trennung von Staat und Kirche für Hamann inakzeptabel. Das fleischgewordene Wort repräsentiert Kirche und Staat gemeinsam. Ohne diese politische communicatio idiomatum ist der Staat tot und die Kirche kraftlos. Der „Staat wird ein Körper ohne Geist und Leben – ein Aas für Adler! Die Kirche ein Gespenst ohne Fleisch und Bein, ein Popanz für Sperlinge.“88 Diese politische Christologie ist mithin der Grund, weshalb Hamann Mendelssohns Naturrechtsargumentation und die aus ihm folgende Trennung von Staat und Kirche ablehnt. Sein antimodernistisches Menetekel: „Die Sprachverwirrung der Begriffe bleibt nicht ohne practische Folgen.“89

B.

Geschichte

Ewige Wahrheiten sind offenbarte Wahrheiten. Mendelssohn hatte – gegen Lessings Erziehung des Menschengeschlechts – darauf insistiert, dass es keinen heilsgeschichtlichen Fortschritt gebe; die ewigen Wahrheiten der Natürlichen Religion seien zeitunabhängig, die Offenbarung, sofern sie sich ans Judentum wendete, sei das Gesetz, das Gehorsam verlange. Mendelssohn hatte sich zwar gehütet, die prophetisch-christologische Dimension des Alten Testaments explizit anzugreifen, aber mit dem Konzept, das Alte Testament enthalte allein historische Geschichten und Ritualvorschriften, hatte er implizit klargestellt, dass die christliche Beziehung des Alten auf das Neue Testament gegenstandslos sei. Dem entsprach auch Mendelssohns Kritik an Lessings Erziehungsschrift. Hamann behandelt diese beiden Probleme mit der ihm eigenen theologischen Polemik: 1. Er lehnt die Unterscheidung zwischen zeitlichen und ewigen Wahrheiten ab, die Mendelssohn von Leibniz übernommen hatte. Er argumentiert wie immer theologisch. Ewige Wahrheiten definiert er als unaufhörlich zeitlich; deshalb kann er den Unterschied „zwischen unmittelbarer Offenbarung durch Wort und Schrift, die nur itzt und hier verständlich ist, und zwischen mittelbarer 88 Ebd., N III, 303. 89 Ebd., N III, 303.

Mendelssohn, Hamann und das himmlische Jerusalem

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Offenbarung durch Sache (Natur) und Begriff“90 nicht akzeptieren. Hamann versteht „Wort“ offensichtlich wieder logostheologisch, deshalb ist für ihn „Wort“ immer zugleich Schöpfungs-und Offenbarungswort. Mithin sind auch die Natur und die Vernunft Offenbarungen Gottes, ebenso wie die Geschichte. Damit ist die Leibnizsche Unterscheidung hinfällig. 2. Den provokativen Satz Mendelssohns: „Das Judentum weiß von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird“91 interpretiert Hamann im Sinne des paulinischen Schleiers (2 Kor 3.13), den die Juden im Bezug auf Jesus Christus vor Augen hätten. Das ist natürlich nicht der Sinn von Mendelssohns Deutung der Thora, sondern die paulinische Polemik des Christen Hamann: Dem Judentum sei in der Tat nichts anvertraut worden „als nur das sinnliche Vehiculum des Geheimnisses, der Schatten von zukünftigen Gütern“. An die Stelle der Unterscheidung von zeitlichen und ewigen Wahrheiten setzt Hamann seine Konzeption der prophetischen Heilsgeschichte. ,Zeitliche Geschichtswahrheiten‘ definiert er zunächst als Tatsachen zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort – das heißt als Ereignisse92. Er definiert: „zeitliche Geschichtswahrheiten, die sich zu einer Zeit zugetragen haben, und niemals wieder kommen – Thatsachen, die durch einen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen in einem Zeitpunct und Erdraum wahr geworden, und also nur von diesem Punct der Zeit und des Raums als wahr gedacht werden können, und durch Autorität bestätigt werden müssen.“93

Was sich ereignet, kann überhaupt nur als wirklich geschehen begriffen werden, wenn es mit Autorität berichtet wird. Dieses Ereignis hat für Hamann nun im theologisch-biblischen Sinn nicht nur die Dimension des Vergangenen, sondern auch eine typologisch-prophetische Zukunftsdimension, die man als Christ mit „Glaube, Vertrauen und Zuversicht“ akzeptieren solle. Das Vergangene wird durch die Autorität der jüdischen Zeugnisse wahr, aber der Sinn der Verheißungen wird in ihrer Wahrheit im Laufe der Heilsgeschichte immer deutlicher „bis zur völligen Aufdeckung und Apokalypse des am Anfang verborgenen und geglaubten Geheimnisses in die Fülle des Schauens von Angesicht zu Angesicht“.94 Insofern seien die Lehrmeinungen der Philosophie kein christlicher Glaubensbestand. Hamann ist sich der mathematischen Dimension der Ewigen 90 Ebd., N III, 304. 91 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 28), S. 171. 92 Der Begriff Ereignis steht ihm noch nicht zur Verfügung. Frühester Beleg nach dem Grimmschen Wörterbuch: Goethe, Faust II: Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis. 93 Golgotha und Scheblimini, N III, 304. 94 Ebd., N III, 305.

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Vernunftwahrheiten durchaus bewusst, deshalb geht er davon aus, dass pythagoreisch-platonische Zahlen keine Glaubenstatbestände seien. Das Argument geht sowohl auf die Mathematik, die keine Heilsbedeutung hat, als auch gegen die natürliche Theologie, die bis zur vernünftigen kabbalistischen Trinitätstheologie diskreditiert wird. Hamanns Christentum sieht „das feste prophetische Wort in den allerältesten Urkunden des menschlichen Geschlechts und in den heiligen Schriften des Judentums, ohne samaritische Absonderung und apokryphische Mischna.“95 Das Judentum habe von diesen Verheißungen allein die Gesetzgebung behalten – und Mendelssohn habe dieses im seinem „Schattenriß des jüdischen Kirchenstaates“96 beschrieben. Aber er habe die Juden isoliert, einerseits habe er sie aus der großen Literatur verbannt, die doch sämtlich Rede Gottes an die Menschen sei97. Denn was sind alle miracula speciosa einer Odyssee und Iliade und ihrer Helden gegen die einfältigen aber bedeutungsreiche[n] Phänomene des ehrwürdigen Patriarchenwandels? was die sanfte liebesvolle Seele des blinden Bänkelsängers gegen den von eigenen Thaten und hohen Eingebungen a priori und a posteriori glühenden Geist Moseh!98

Andererseits habe Mendelssohn die Sonderrolle des Judentums in der Weltgeschichte vernachlässigt. Das Judentum sei der eigentliche Adel des menschlichen Geschlechts und dieses genau wegen der Zehn Gebote, die den „zusammengebettelten“ zwölf Tafeln des römischen Rechts haushoch überlegen seien. Allerdings: auch die Zehn Gebote seien Offenbarungen – und kein autochthones natürliches Gesetz. Heilsgeschichte des göttlichen Wortes. Die Theorie des göttlichen Wortes und der Heiligen Schrift bildet den Kern von Hamanns Kritik an Mendelssohn. Mendelssohn hatte die Schrift nicht als Zeichen von Lauten, sondern als hieroglyphisches Abbild von Dingen interpretiert. Die Buchstaben der Schrift waren für ihn Ursache der Idolatrie – ein Argument, das sich gegen jeden Bilderkult, aber auch gegen die Kabbala wandte. Diese Konzeption diskutiert Hamann höchst polemisch: Diese Schrifttheorie sei eine merkwürdige „Erziehung des Menschengeschlechts“. Ob Mendelssohn tatsächlich glaube, die Schrift sei ursprünglich keine Abbildung der sprachlichen Laute, sondern „unmittelbare Bezeichnung der Sache“.99 Und er spottet: „Nur schade, daß taubgeborene 95 Ebd., N III, 306. 96 Ebd., N III, 308. 97 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Christologische Poesie. Bemerkungen an Hamanns ,Aesthetica in nuce‘. In: So verstehen wir. Texte über das Verstehen. Hg. von Susanne Schulte. Münster, New York 2014, S. 140–157. 98 Golgotha und Scheblimini, N III, 309. 99 Ebd., N III, 310.

Mendelssohn, Hamann und das himmlische Jerusalem

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Philosophen allein auf dieses Vorrecht Anspruch machen können!“ Für ihn ist diese Theorie der Naturbilderschrift schlechterdings sinnlos, weil sie die Geschichtlichkeit ausschließt. Für Hamann ist vielmehr das Konzept der universalen Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Apokalypse entscheidend, die er im Alten Testament angelegt und im Neuen prophezeit findet. Die Bibel, die das Alte Testament im Lichte des Neuen deutet, ist, wie er in Anspielung an den paulinischen Philipperbrief und Lessings Erziehung des Menschengeschlechts schreibt ein lebendiges geist- und herzerweckendes Elementarbuch aller historischen Litteratur im Himmel, auf und unter der Erde – – ein diamantener, fortschreitender Fingerzeig auf die Jobelperioden und Staatsplane der göttlichen Regierung über die ganze Schöpfung von ihrem Anfange bis zu ihrem Ausgange.100

Und genau hier, am Ausgang der Geschichte, sieht Hamann sein Jerusalem: nicht das Gesetzes-Jerusalem Esras und Mendelssohns, sondern die sichtbare Verwirklichung einer ins kosmische gesteigerten Christologie. Hamann redet sich in biblischen Bildern nachgerade in Entzückung: Moses, die Psalmen und die Propheten sind voller Winke und Blicke auf diese Erscheinung eines Meteors über Wolken- und Feuersäule, eines Sterns aus Jakob, einer Sonne der Gerechtigkeit, mit Heil unter ihren Flügeln! – auf die Zeichen des Widerspruchs in der zweydeutigen Gestalt seiner Person, seiner Friedens – und Freudenbotschaft, seiner Arbeiten und Schmerzen, seines Gehorsams bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz! Und seiner Erhöhung aus dem Erdenstaube eines Wurms bis zum Thron unbeweglicher Herrlichkeit – – auf das Himmelreich, das dieser David, Salomo und Menschensohn pflanzen und vollenden würde zu einer Stadt, die einen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott, zu einem Jerusalem droben, die frey und unser aller Mutter ist, zu einem neuen Himmel und einer neuen Erde, ohne Meer und Tempel drinnen – –.101

Gottes Herablassung und Wiederkunft. Mendelssohn hatte argumentiert, dass die Religion als natürliche Erkenntnis allen Menschen zugänglich sei. Er hatte die naturrechtlichen Pflichten gegenüber Gott als Plichten gegenüber dem Nächsten uminterpretiert. Als Offenbarung hatte er allein das jüdische Gesetz akzeptiert. Dieses Gesetz komme allein den Juden zu, es definiere die Besonderheit des Jüdischen – für die Religion als solche sei es gleichgültig. Deshalb könne das göttliche Gesetz als reines Kultgesetz akzeptiert werden. Daraus folge, dass die Juden toleriert und in Ruhe bei ihren als Adiaphora interpretierten Zeremonien bleiben könnten. Hamann kontert auch hier paulinisch-christologisch. Die Bedrückung, die der Gehorsamsanspruch des Kultgesetzes erzeugt, kann nur durch die Einläss100 Ebd., N III, 311. 101 Ebd., N III, 311.

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Wilhelm Schmidt-Biggemann

lichkeit Gottes auf den Menschen aufgehoben werden. Man komme aus diesem Dilemma der schlechterdings akzeptierten Gesetzlichkeit und der Angst vor der Gottheit nicht heraus, es müsse „entweder der Mensch der göttlichen Natur teilhaftig werden oder auch die Gottheit Fleisch und Blut an sich nehmen.“ Die Juden hätten ihre Gesetze, die Naturalisten vergötterten die Vernunft, für die „Christen und Nikodemen“ bleibe, „von ganzem Herzen und von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe zu glauben: Also hat Gott die Welt geliebt – – Dieser Glaube ist der Sieg, welche die Welt überwindet.“102 Es ist deutlich, das ist kein Toleranzapell, sondern ein christliches Bekenntnis. Und deshalb endet Hamanns Auseinandersetzung mit Mendelssohn mit Christi apokalyptischer Verheißung (Apk. 22,20): „Ja ich komme bald! Amen.“103

Bilanz? Überleben in einer politischen Welt oder Heimkehr ins himmlische Jerusalem Kann man angesichts dieser Entgegensetzung bilanzieren? Mendelssohns Schrift ist ein politisch-theologisches Kalkül mit dem Zweck, das Judentum für die neuzeitliche Staatlichkeit akzeptabel und deshalb tolerierbar zu machen. Gleichzeitig definiert er das Judentum so um, dass die naturrechtlich definierte Staatlichkeit auch für die Juden akzeptabel wird. Mendelssohns Argumente sind für das Judentum seither von erheblicher Bedeutung gewesen. Sie haben die Assimilation der Juden im neunzehnten Jahrhundert maßgeblich gefördert, mit allen doppeldeutigen Konsequenzen im zwanzigsten Jahrhundert. Hamann hingegen argumentiert als Christ gegen ein deistisches Naturrecht und überhöht Mendelssohns Argumente logos-theologisch – diese Dimension ist Mendelssohn fremd. Sie muss es sein, weil aus der Logostheorie spekulative Trinitätstheologie und Christologie folgen. Zwar eröffnen die Spekulationen Hamanns Dimensionen einer theologischen Anthropologie und Weltgeschichte, die in Mendelssohns politischer Theologie gar nicht vorkommen und auch nicht vorkommen dürfen, aber Hamann verpasst auch eine wesentliche Pointe von Mendelssohns Schrift, das politische Plädoyer für die Tolerierung des Judentums, das nur durch den Verzicht auf genau die spekulativen Dimensionen erreicht werden kann, die Hamann so emphatisch hervorhebt. Überleben in einer politischen Welt steht gegen spekulative Heilsgeschichte. Quis iudicabit?

102 Ebd., N III, 318. 103 Ebd., N III, 318.

Gideon Stiening (München)

„Gegen die Zeiten und das System eines Hobbs“. Hamanns Kritik des Naturrechts im Kontext

1.

Einleitung: Wider die „Theoristen“ Mendelssohn, Kant und Lessing

Hamanns kritische Ausführungen zum Naturrecht, die er vor allem in Golgotha und Scheblimini aus dem Jahre 1784 vorträgt,1 stehen zunächst und zumeist im Zusammenhang seiner theologisch motivierten und fundierten Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohns politischer Philosophie, die dieser in seiner Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum 1783 vorgestellt hatte.2 Wie viele andere der Schriften Hamanns auch ist auch Golgotha und Scheblimini seinem Bedürfnis, aber auch seiner Befähigung zur polemischen Analyse und Interpretation anderer, zeitgenössisch einflussreicher oder erfolgreicher Texte zu verdanken. In einer kleinen Nachschrift von 1786 hat er diesen polemiologischen Zug seiner Schrift deutlich herausgestellt: Diese kleine musivische Schrift ist aus lauter Stellen des Mendelssohnschen Jerusalems zusammengesetzt, und den Wolfianischen Spitzfindigkeiten entgegengesetzt, womit er seine Unwissenheit des Judentums und seine Feindschaft gegen das Christentum, welche er r e l i g i ö s e M a c ht nennt, zu bemänteln gesucht.3

Hamann macht in dieser Nachschrift aus seinen andijudaischen Affekten keinen Hehl,4 auch weil er sie mit seiner Kritik an allen Formen politischer Philosophie 1 Johann Georg Hamann: Golgotha und Scheblimini. In: N III, 291–320. 2 Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. In: ders.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe 2 Bde. Hg. von Christoph Schulte, Andreas Kennecke und Graz˙yna. Darmstadt 2009, S. 129–206. 3 N III, 319,1–5. 4 Siehe hierzu auch Grit Schorch: Carl Schmitt und die Hamann-Mendelssohn-Kontroverse. Ein sprachpolitischer Austausch in Hobbes. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 62/2 (2012), S. 147–174; die allerdings von Hamanns Antisemitismus spricht. Schorchs Studie, die ohne jeden Zweifel gegen das dumpfe und philosophisch schwachbrüstige Gemurmel der Jungen Freiheit (Rüdiger Lohmann: Von Hobbes über Hamann zu Schmitt und Hitler. In: Junge Freiheit, 05. 04. 2013) Recht behält, krankt gleichwohl an der methodischen Vorgabe, die

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Gideon Stiening

identifiziert, vor allem der des Rationalismus. Denn es geht in seiner Polemik nicht allein gegen „den letzte[n] Berlinische[n] Wolfianer“, sondern auch gegen die „blinden Nicolaiten“, die den Jerusalem „bis zu Rasery bewundert“ hätten.5 Kurz: Hamanns kritische Analyse des mendelssohnschen Textes ist nur dem Anlass nach eine Kontroverse über naturrechtliche Fragen.6 Im Zentrum geht es dem Königsberger Publizisten um eine kontroverstheologische und religionspolitische Attacke, die den Lavater-Mendelssohn-Streit verlängern sollte;7 es geht für Hamann gegen „[d]iese eingefleischten Widersacher [des christlichen Glaubens], die mit bitterm Neid und Zank im Herzen wider die Wahrheit lügen und sich einer Weisheit rühmen, die nicht von oben herab kommt, sondern irrdisch, menschlich, dämonisch, jüdisch und rothwelsch ist […].“8 Aus dieser Perspektive sind Mendelssohns Wolffianismus und seine jüdische Religion ein und dasselbe, sie sind „beschnittene Glaubensbr[ü]der im Geist und Wesen des heidnischen, naturalistischen, atheistischen Fanatismus“.9 Dass dieser antijudaische und antirationalistische Furor auch Kant und Lessing mit in den Blick genommen hatte, wurde dem Text überdeutlich eingeschrieben, wenn er ineins mit seinem Verriss der mendelssohnschen Naturrechts- und Staatsphilosophie gegen Tendenzen eines „römisch- und metaphysischkatholischen Despotismus, dessen transcendenter Verstand seine Gesetze der Natur selbst vorschreibt“,10 vorgeht. Dabei wird zwar ein konstitutives Element der kantischen Erkenntnistheorie umstandslos und fälschlicherweise in

5 6 7

8 9 10

Interpretation der Mendelssohn-Hamann-Kontroverse durch Schmitt mit dessen politischen Verschuldungen nach 1933 zu präludieren, womit sie einen Biographismus betreibt, der in den Philologien und in der Philosophie mit guten Gründen überwunden wurde. Die Empörungs-Hermeneutik der Autorin findet allerdings ihre Grenze in der Schmitt attestierten „berechtigte[n] Aufklärungskritik“ (S. 150), die andeutet, dass die Autorin selber eine Position einnimmt, von der aus Schmitt, der als „Sprachmagier“ (S. 158) bewundert wird, nur schwer zu erfassen ist. Das zeigt sich auch an den wenig überzeugenden Rekonstruktionen der hobbesschen und mendelssohnschen Naturrechtskonzeptionen (so wird dem Wolffianer Mendelssohn unter Absehung aller Leistungen der philosophiehistorischen Forschung ein Nominalismus attestiert und das hobbessche exeundum wird darauf zurückgeführt, dass die Individuen des Naturzustandes dessen Elend nicht mehr sehen könnten), sondern auch derjenigen der Kritik durch Hamann, die über weltanschauliche Polemik kaum hinauskommt. N III, 319,11–22. So auch Karlfried Gründer : Hamann und Mendelsohn. In: Religion und Religionskritik in der deutschen Aufklärung. Hg. von dems. Berlin, New York 1989, S. 113–144. Dass es Hamann auch um die Verlängerung dieser Debatte zu tun war, zeigt sein Terminus „Booksbeutelreligion“ für das „Judentum“ (N III, 308,20f. u. 14), weil der ,Bockbeutel‘ noch im 18. Jahrhundert als Metapher für einen „überwundenen Standpunkt“ galt; vgl. hierzu u. a. Ferdinand Hommel: Bocksbeutel und Aryballos. Philologischer Beitrag zur Urgeschichte einer Gefäßform. Heidelberg 1978. N III, 319,32–35. N III, 315,18–20. N III, 297,16–18.

„Gegen die Zeiten und das System eines Hobbs“

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den Kontext der Naturrechtsdebatte verlagert;11 der Vorwurf aber, Kant betreibe katholische Metaphysik, wird Schule machen: noch 1790 wird Johann Georg Heinrich Feder anonym einen umfangreichen Essay publizieren, der eben diese Stoßrichtung der Kant-Kritik forcieren wird.12 Lessing wird hingegen als Autor der Erziehung des Menschengeschlechts zum eingebildeten Schulmeister der Menschheit erklärt, dessen „speculativer Schlummer“13 nurmehr Gähnen hervorrufen könne. Trotz der vordringlich Mendelssohn-, Lessing- und Kant-kritischen Ausrichtung des Textes ist er zugleich in ein dichtes Netz naturrechtlicher Theoriebildung zu lozieren, die seit Beginn der 1780er Jahre neue Thesen und Beweisgänge zu dieser Wissenschaft lieferten.14 Tatsächlich wird auch in der Forschung von einem seit den 1780er Jahren zu verzeichnenden „jüngeren Naturrecht“ gesprochen, das die Anregungen oder Herausforderungen Kants annehmend der Disziplin und der Wissenschaft ein neue Blüte verschaffte.15 Zu entnehmen ist dieser kontextuelle Rahmen allerdings den Ausführungen Hamanns selbst nicht, wohl aber einem berühmten zeitgenössischen Referenztext. So heißt es in Gottlieb Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, der im Jahre 1785, also nur ein Jahr nach Hamanns Entwurf, in Leipzig erschien, im Zusammenhang einer neuen Aktualität der altehrwürdigen Wissenschaft vom Naturrecht: Ich darf nur an das, was Feder, Hißmann, Mendelssohn, Zöllner, Garve, Hamann, Höpfner, Schlettwein, Selle, Ulrich, Flatt und andere in den letzten Jahren hierüber

11 Ohne jeden Zweifel hält Kant in den 1783, also ein Jahr zuvor, publizierten Prolegomena fest, dass „der Verstand der Natur die Gesetze vorschreibt“ (Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft will auftreten können. In: Kants Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später : Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. [im Folgenden AA Band, Seitenzahl], hier AA IV, S. 319f.), gleichwohl sind die hier angesprochenen Gesetze theoretische Gesetze der Natur und damit ohne jede normative Kraft wie etwa das Naturrecht. 12 Anon. [Feder]: Blicke über das Grab. [Offenbach] 1790; siehe hierzu Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth und Gideon Stiening: Zur Einführung. In: ,Mit dem Menschen hat es die Philosophie zu thun‘. J. G. H. Feder – Von einer ,Physik des Herzens‘ zur praktischen Anthropologie. In: Johann Georg Heinrich Feder : Ausgewählte Schriften. Hg. von dens. Berlin, Boston 2018, S. IX–XXXIV. 13 N III, 310,20. 14 Vgl. hierzu u. a. Diethelm Klippel: Ideen zu einer Revision des Naturrechts. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 73–90; ders.: Das deutsche Naturrecht am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert. Hg. von Vanda Fiorillo und Frank Grunert. Berlin 2009, S. 301–325. 15 Vgl. hierzu Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976, S. 178ff.

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geschrieben haben, erinnern, um es einleuchtend zu machen, dass diese Wissenschaft zu unsern Zeiten ein vorzügliches gelehrten Interesse gewonnen hat.16

Hamanns Text, der in methodischer, argumentationslogischer und systematischer Hinsicht deutlich von allen anderen genannten Beispiele naturrechtlicher Theoriebildung abweicht,17 wird gleichwohl als Beitrag zu dieser Debatte der politischen Theorie im 18. Jahrhundert wahrgenommen.18 Dabei ist sich Hufeland darüber im Klaren, dass diese schlichte Reihung einiger, für die 1780er Jahre neuer Naturrechtstheorien in ein systematisches Tableau überführt werden muss, um die je spezifischen Eigenheiten eines Entwurfs und die daraus resultierenden Unterschiede zu erfassen, damit diese letztlich wissenschaftlich und politisch bewertet werden können. Denn neuzeitliche Naturrechtstheorien sind schon seit ihrem Auftreten als eigenständige Grundlagenkonzeptionen im frühen 17. Jahrhundert19 – und verstärkt im 18. Jahrhundert20 – einerseits außerordentlich variantenreich, andererseits Theorien einer Praxis, die unmittelbare politische Virulenz besaßen.21 Auch deshalb sind die Grundlegungen für die Beantwortungen der Fragen nach der Geltung von Recht überhaupt, dem Verhältnis von Recht und Moral, 16 Gottlieb Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, nebst einem Anhang. Leipzig 1785, S. 4f. 17 Dass Hamann durchaus eine Systematik verfolgte, zeigen u. a. Hans Graubner : ,Gott selbst sagt: ich schaffe das Böse‘. Der Theodizee-Entwurf des jungen Hamann in der Auseinandersetzung mit Hume, Sulzer, Shuckford und Hervey. In: Acta 2006, 255–291 und Martin Seils: § 25 ,Johann Georg Hamann‘. In: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts 5. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. Erster Halbband. Hg. von Helmut Holzhey und Vilem Murdoch. Basel 2014, S. 538–547. 18 Zum Aufrufen dieses Kontextes für eine naturrechtliche Hamann-Interpretation vgl. auch Anja Kalkbrenner : Anthropologie und Naturrecht bei Johann Georg Hamann. Göttingen 2016, S. 106–108. 19 Vgl. hierzu, um nur einige Beispiele zu nennen, Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 41962; Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1970; Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ,ius naturae‘ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999; Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 21999; Sebastian Kaufmann: Die stoisch-ciceronianische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann. Bd. 1. Berlin, New York 2008, S. 229–292; Daniel Eggers: Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes. Berlin 2008; Die Naturrechtslehre des Francisco Su#rez. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2017. 20 Diethelm Klippel: Naturrecht als politische Theorie. Zur politischen Bedeutung des deutschen Naturrechts im 18. und 19. Jahrhundert. In: Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hg. von Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann. Hamburg 1987, S. 267–293. 21 Siehe hierzu Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts. Hg. von Diethelm Klippel. 17.–19. Jahrhundert. München 2006.

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den Überlegungen zu einem möglichen Naturzustand, den Gründen für die Konstitutionen eines status civilis und die daraus resultierenden Strafrechtstheorien von erheblicher Bedeutung und insofern hart umkämpft:22 Es macht nämlich einen Unterschied, ob man auf der Grundlage rationalistischer (wie Wolff und Mendelssohn), empiristischer (wie Garve und Feder), materialistischer (wie von Selle und Hißmann) oder transzendentaler (wie Kant und Hufeland) Voraussetzungen argumentiert – oder ein theologisches Naturrecht formt, wie Melanchthon23 oder Hamann.24 Im Folgenden soll vor diesem kontextuellen Hintergrund eine Analyse von Golgotha und Scheblimini versucht werden, weil Hamanns Stellung im und zum Naturrecht des späten 18. Jahrhunderts vor allem in diesem Text deutlich zu erkennen ist. Dabei scheinen mir weder der Darstellungsstil noch die Darstellungsmethode besondere Schwierigkeiten bei einer Rekonstruktion der doktrinalen Positionen Hamanns zu Recht und Moral bzw. zu dem, was er „himmlische Politik“25 nennt, zu bereiten. Im Zentrum wird folglich eine Rekonstruktion von Hamanns Überlegungen zu spezifisch naturrechtlichen Fragen und Theoremen stehen.26 Denn Hamann ist über das systematische Tableau, auf dessen einzelne Positionen er deutliche Anspielung in seine Texte integriert, offenbar gut informiert und bemüht sich in Aufnahme älterer Modelle, seine theonome Begründungstheorie mit den Leistungen des modernen Naturrechts zu verbinden. Er erweist sich beispielsweise nicht nur als Gegner der strengen Trennung von Staat und Kirche, sondern auch derjenigen von Recht und Moral – ohne ihre vormoderne Identität zu behaupten. Darüber hinaus leistet Hamanns eigentümliche Darstellungsform sowohl für seine polemische Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Modellen des Naturrechts im späten 18. Jahr22 Siehe hierzu u. a. Diethelm Klippel: Der Staat und die Staatstheorie des aufgeklärten Absolutismus. In: Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich. Hg. von Helmut Reinalter und Harm Klueting. Wien u. a. 2002, S. 223–243. 23 Vgl. hierzu Christoph Strohm: Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon. In: Der Theologe Melanchthon. Hg. von Günter Frank. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 339–356. 24 Zu einem vorläufigen systematischen Tableau der Naturrechtsentwürfe der 1780er und 1790er Jahre vgl. Wolfgang Rother : Natur- und Staatrecht im Zeitalter der Revolution. In: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts 5. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nord- und Osteuropa. Zweiter Halbband. Hg. von Helmut Holzhey und Vilem Murdoch. Basel 2014, S. 1260–1294. 25 N III, 307,21f. 26 Zum bisherigen Forschungsstand zu Hamanns Reflexionen auf das Naturrecht vgl. insbesondere Oswald Bayer: Der Mensch als Pflichtträger der Natur: Naturrecht und Gesellschaftsvertrag in der Kontroverse zwischen Hamann und Mendelssohn. In: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Hg. von Eva J. Engel und Michael Albrecht. Tübingen 1994, S. 175–189; Eric Achermann: Natur und Freiheit. Hamanns ,Metakritik‘ in naturrechtlicher Hinsicht. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 46/1 (2004), S. 72–100 und Kalkbrenner : Anthropologie und Naturrecht (wie Anm. 18), S. 105–180.

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hundert als auch für die Reflexion auf die Problemlagen eines christlichen Naturrechts unter den Bedingungen der anbrechenden Moderne bemerkenswerte Dienste.

2.

Naturzustand versus Abrahamsbund bei Hamann

Zu den auch von Hamann reflektierten Kernthemen der Naturrechtsdebatten gehört zunächst und zumeist der Reflexionsbegriff eines Naturzustands bzw. das Verhältnis von status naturalis und status civilis, das seit Hobbes, erheblich modifiziert seit Pufendorf und Locke, zum kategorialen Grundbestand rechtsphilosophischer bzw. -theologischer Konzeptionen zählte und auch im 18. Jahrhundert noch kontrovers debattiert wurde.27 Hobbes hatte dieses Theorem inauguriert und ihm eine spezifische Wendung gegeben, indem er es als Idee bzw. Fiktion bezeichnete, der für die rechtslogische Deduktion des status civilis eine essentielle Funktion zukam, ohne eine raum-zeitliche Konkretion je erfahren zu haben oder auch nur erfahren zu können.28 Allein diese Überlegungen wurden von Pufendorf oder Locke mit Nachdruck kritisiert, weil sie einen Zustand extra societatem für wirklich hielten.29 Darüber hinaus hatte Hobbes behauptet und begründet, dass der Naturzustand ein ewiger Kriegszustand sein müsse, weil in ihm jeder einzelne darüber zu urteilen habe, wann und in welcher Weise er sein Leben verteidigen müsse, weil in diesem Zustand der Rechtlosigkeit eine übergeordnete mit Zwangswalt ausgestattete Ordnungsinstanz fehle.30 Gegen Hobbes’ Vorstellung hatte eine breite Front von aufklärerischen und gegenaufklärerischen Naturrechtstheoretiker angeschrieben,31 und zwar vor 27 Siehe hierzu u. a. Hasso Hofmann: Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung. In: Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hg. von Reinhard Brandt. Berlin, New York 1982, S. 12–46 sowie Jan Rolin: Der Ursprung des Staates. Die naturrechtlich-rechtsphilosophische Begründung von Staat und Staatsgewalt im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts. Tübingen 2005, S. 15–32. 28 Siehe hierzu Thomas Hobbes: De Cive / Vom Bürger. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt von Andree Hahmann, hg. von dems. und Dieter Hüning. Stuttgart 2017, 1. Kapitel. 29 Siehe hierzu Samuel von Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. und übersetzt von Klaus Luig. Frankfurt a. M. 1994, S. 141–158; John Locke: Two Treatises of Government. Hg. von Peter Laskett. Cambridge 1988, S. 269– 278. 30 Vgl. Hobbes: De Cive (wie Anm. 28), S. 32/33. 31 Zu der zumeist kritischen Hobbes-Rezeption des 17. und 18. Jahrhundert vgl. u. a. Horst Dreitzel: Hobbes-Rezeptionen. Zur politischen Philosophie der frühen Aufklärung in Deutschland. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2001, S. 134–174; Merio Scattola: ,Ein Stein des Anstoses‘. Thomas Hobbes und die deutsche Naturrechtslehre des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. In: Der Lange Schatten des Leviathan. Hobbes politische Philo-

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allem deshalb, weil sie Hobbes eine negative Anthropologe unterstellten, die es – vor dem Hintergrund der göttlichen Schöpfungstat – abzulehnen gelte:32 So wird für Pufendorf der status integritatis keineswegs durch einen allgemeinen Krieg ausgemacht33 und auch für Christian Wolff wird – wie schon für Grotius und noch für Ernst Platner oder Christoph Martin Wieland – die Natur des Menschen durch einen appetitus societatis geprägt, der einen uneingeschränkten und uneinschränkbaren bellum omnium contra omnes unmöglich macht.34 Oswald Bayer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Hamann und Mendelssohn gegen Hobbes argumentieren, in dieser kritischen Perspektive auf den britischen Natur- und Staatsrechtler also durchaus einer Meinung sind.35 Allerdings sind die Positionen, von denen aus beide Theoretiker Hobbes’ Naturzustandstheorem verwerfen, substanziell unterschieden. Für Hamann ist schon die Unterscheidung zwischen status naturalis und status civilis ohne Überzeugungskraft: Herr Mendelssohn glaubt einen Stand der Natur, welchen er der Gesellschaft, wie die Dogmatiker einen Stand der Gnade, theils voraus- teils entgegen setzt. Ich gönne ihm und jedem Dogmatiker seine Überzeugung, wenn ich mir weder einen rechten Begriff noch Gebrauch von dieser den meisten Buchstabenmännern unsers Jahrhunderts so geläufigen Hypothese zu machen fähig bin. Mit dem gesellschaftlichen Contract geht es mir nicht besser!36

Hamanns Selbstpositionierung ist im Kern polemisch: Keineswegs nämlich ist das theologische Konzept vom Gnadenstand mit dem politphilosophischen des Naturzustands logisch oder metaphysisch identisch;37 vielmehr ist allein der Status des Naturzustandes als Hypothese – Kant spricht vom „Ideal des hob-

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sophie nach 350 Jahren. Vorträge des internationalen Arbeitsgesprächs am 11. und 12. Oktober 2001 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Hg. von Dieter Hüning. Berlin 2005, S. 331–354. Vgl. hierzu auch Wolfgang Kersting: Der Kontraktualismus im deutschen Naturrecht. In: Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution. Hg. von Otto Dann und Diethelm Klippel. Hamburg 1995, S. 90–110. Zum Verhältnis von Naturzustand und status integritatis bei Pufendorf vgl. Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, S. 242ff. Siehe hierzu Gideon Stiening: Appetitus societatis seu libertas. Zu einem Dogma politischer Anthropologie zwischen Su#rez, Grotius und Hobbes. In: Neue Diskurse der Gelehrtenkultur. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann und Gideon Stiening. Berlin, Boston, 2016, S. 389–436. Vgl. Bayer: Der Mensch (wie Anm. 26), S. 180ff. N III, 293,21–27. Da selbst diese – falsche – Verknüpfung nur polemisch gemeint ist, kann keineswegs die Rede davon sein, dass „Hamann durchaus eine Vorstellung von Naturzustand“ habe, d. h. das Theorem selbst positiv verwende (so Kalkbrenner : Anthropologie und Naturrecht [wie Anm. 18], S. 121); vielmehr zeigt sich deutlich, dass Hamann Begriff und Idee des Naturzustandes für Ketzerei hält.

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bes“38 – ontologisch von dem des Realität beanspruchenden Paradieses substanziell unterschieden.39 Darüber hinaus ist das exeundum e statu naturali seit Hobbes eine rationale Notwendigkeit qua Widerspruchsvermeidung,40 während die Vertreibung aus dem Paradies in der Heiligen Schrift eine Strafe für sündiges Vergehen darstellt.41 Trotz des streng theologischen Charakters der hamannschen Einwände steht der Königsberger Essayist mit seiner Kritik am Kontraktualismus, den er zu Recht mit Hobbes und Mendelssohn verbindet, weshalb er sich im Kampf „gegen die Zeit und das System des Hobbs“42 wähnt, nicht isoliert da: Im Gegenteil hatten schon 1742 der von ihm so verehrte David Hume und 1776 Jeremy Bentham die Theorie des Gesellschaftsvertrages und die dazugehörige Naturzustandshypothese einer strengen Kritik unterzogen.43 Auch der Rousseau des Discours sur l’inegalit8 hatte 1755 deutlich gemacht, dass er jede Form von Gesellschaftszustand für instabil halte und damit der Weg zurück in den – nun durch Zivilisation verschärften – Naturzustand, der ausschließlich das Recht des Stärkeren kennt, vorgezeichnet sei.44 Diesen Argumenten folgte der von Hufeland erwähnte Göttinger Materialist Michael Hißmann, Hamann durch eine Nähe zum Sturm und Drang durchaus verbunden,45 wenn er 1780 festhält: Die rechtliche Gründung des Rechts des Stärkeren beruhet daher auf einer gedoppelten Beobachtung. Einmal, des uns von der Natur eingepflanzten unbegränzten Triebes zur Glückseeligkeit, nach welchem wir uns so vollkommen und glüklich machen dürfen, wie wir immer können. Zweitens, der Ungleichheit der physischen und der moralischen Kräfte mehrerer Menschen.46

38 Vgl. AA XIX, S. 99 sowie hierzu Karlfriedrich Herb und Bernd Ludwig: Naturzustand, Eigentum und Staat. Immanuel Kants Relativierung des „Ideal des hobbes“. In: Kant-Studien 83 (1993), S. 283–316. 39 Siehe auch Alexander Altmann: Moses Mendelssohn über Naturrecht und Naturzustand. In: ders.: Die Trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns. Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, S. 164–192, hier S. 182. 40 Vgl. hierzu Hobbes: De Cive (wie Anm. 28), S. 68/69ff. 41 Siehe hierzu 1 Mose 3. 42 N III, 302,4f. 43 Vgl. David Hume: Of the Original Contract. In: ders.: Essays. Moral, Political, and Literary. Ed. by T. H. Green a. T. H. Grose. London 1882, pp. 443–459 sowie Anon. [Jeremy Bentham]: Fragment on Government. London 1776. 44 Siehe hierzu Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit – Discours sur l’in8galit8. Edition Meier. Paderborn, München, Wien, Zürich 31993. 45 Vgl. hierzu Gideon Stiening: ,Die Nerven deines Schönheitsgefühls‘. Hißmann als materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des Sturm und Drang. In: Michael Hißmann (1752– 1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Hg. von Heiner F. Klemme, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin 2013, S. 253–276. 46 Michael Hißmann: Untersuchungen über den Stand der Natur. Lemgo 1780, S. 100 [ND: Ausgewählte Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin 2012, S. 194].

„Gegen die Zeiten und das System eines Hobbs“

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Und selbst der durch seinen verwilderten Denkstil und seine unkonventionelle Lebensweise Hamann verwandte, gleichwohl als Materialist von ihm substanziell unterschiedene Johann Karl Wezel stellt in seinem Skandalroman Belphegor von 1776 fest: In allen Ständen der Gesellschaft und der Menschheit ist der Mensch Krieger, Unterdrücker, Räuber, Mörder gewesen. Ein Theil unseres Planeten ist endlich dahin gelangt, daß die Menschen sich einander ruhig unterwarfen, die Obergewalt, die der Zufall begünstigte, für Rechte gelten ließen, dem Stärkeren wichen, der Nothwendigkeit der Inferiorität nachgaben, in die Verhältnisse geduldig sich bequemten, die der Zufall angeordnet hat. Aber das Spiel der Welt ist im Ganzen immer noch das alte, nur in regelmäßigere Form gebracht und mit weniger grausen und unmenschlichen Scenen überhäuft.47

Unverkennbar geht es Hamann mit seiner Ablehnung des Theorems nicht um eine Universalisierung des Naturzustandes als eines allgemeinen und ewigen Kriegszustandes, wie Rousseau, Hißmann und Wezel. Dennoch befindet er sich sowohl mit seiner Zurückweisung der Naturzustandstheorie überhaupt als auch mit deren Konsequenzen in einem Theoriefeld, das durch philosophische Autoren wie Hume, Rousseau oder Hißmann bestellt wird und das durch Mandeville, Voltaire oder Wieland in den 1770er Jahren auch literarisch reflektiert und dadurch vielfältiger wird. Auch in diesen literarischen Texten geht es um die Kritik an den Vorstellungen eines kriegerischen Naturzustandes48 oder gar – wie bei Freund Herder49 – um eine Kritik an der Vorstellung eines Naturzustandes überhaupt. Allerdings begründet Hamann seine Kritik nicht wissenschaftstheoretisch oder epistemologisch, wie Hume und Bentham, und schon gar nicht politischmaterialistisch, wie Hißmann oder Wezel; vielmehr entwickelt er eine genuin theologische Kritik. Denn es gibt auch für ihn durchaus einen Vertrag, gar einen ursprünglichen Vertrag der Menschheit, wenngleich nicht untereinander, sondern zwischen Gott und seinen Geschöpfen: Desto wichtiger muß uns beiden [d.i. Mendelssohn und Hamann] der göttliche und ewige Bund mit Abraham und seinem Saamen seyn, wegen des auf diesem urkündlich 47 Johann Karl Wezel: Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. [EA Leipzig 1776]. Hrsg. von Hubert Gersch. Frankfurt a. M. 1984, S. 120. 48 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Glück statt Freiheit – Sitten statt Gesetze. Wielands Auseinandersetzung mit Rousseaus politischer Theorie. In: Wieland-Studien 9 (2016), S. 61–103 sowie Heidi Nenoff: Religions- und Naturrechtsdiskurs in Johann Gottfried Schnabels Wunderliche FATA einiger Seefahrer. Leipzig 2016. 49 Siehe hierzu Gideon Stiening: ,Der Naturstand des Menschen ist der Stand der Gesellschaft‘. Herders Naturrechts- und Staatsverständnis. In: Herder und die Klassische Deutsche Philosophie. Festschrift Marion Heinz zum 65. Geburtstag. Hg. von Dieter Hüning, Gideon Stiening und Violetta Stolz. Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, S. 115–135.

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feyerlichen Vertrage beruhenden und allen Völkern auf Erden verheissenen und gelobten Seegens.50

Festzuhalten ist an dieser Stelle zunächst, dass Hamann keineswegs Probleme mit dem Begriff des Vertrages hat, der seit Hobbes und Pufendorf die politischen Debatten beherrschte, und der schon bei Hume und Bentham, spätestens nach Kant einer vehementen Kritik verfällt.51 Entscheidend ist vielmehr, dass Hamanns Vertrag nicht einer ist, der unter und zwischen Menschen zum Behuf der staatsrechtlichen Sicherung der Existenz bzw. der Freiheit gestiftet wird. Vielmehr wird dieser asymmetrische ,Vertrag‘ durch die Gottesinstanz in dem durch sie inaugurierten „Bund“ mit dem Menschengeschlecht aufgesetzt, d. h. allen Völkern auf Erden gestiftet.52 Dabei erhebt Gott Abraham zum Vater vieler Völker und damit zu deren ursprünglichen Herrscher, wobei er strengen Gehorsam ihm gegenüber voraussetzt; auch der biblische Abrahamsbund hat folglich weitreichen politische Implikationen, und zwar durch sein paternalistisches Herrschaftsmodell, das noch im 18. Jahrhundert – trotz der Kritik durch John Locke53 – große Wirksamkeit entfalten konnte.54 Hamann lehnt den neuzeitlichen Kontraktualismus seit Hobbes und Pufendorf nicht etwa ab, weil er als politische Theorie mangelnde Leistungsfähigkeit aufweist, sondern weil er ihn als Säkularisat, als „atheistische“ Variante des alten Bundes, des Abrahamsbundes interpretiert. Die theologischen Implikationen der kontroversen Positionierung Hamanns scheinen mir hinreichend erforscht;55 das gilt allerdings nicht für die politischen bzw. politiktheoretischen Konsequenzen. Denn Hamann bringt den Abrahamsbund, der seiner Ansicht nach für ihn und Mendelssohn „umso wichtiger“ sei, als sie sich über die Frage eines Natur- und Gesellschaftszustands nicht einigen könnten, gegen den politphilosophischen Kontraktualismus dergestalt in Stellung, dass der religiöse Mythos das politszientifische Modell ersetzen können soll. Wie das politisch konkret aussehen sollte – etwa durch eine christliche Universalmonarchie als Realisation des Gottesbundes, eine Vorstellung, die auch im

50 N III, 293,28–31. 51 Siehe hierzu Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt 1994, S. 250ff. 52 Siehe 1 Mose 17; vgl. hierzu auch Jörg Jeremias: Theologie des Alten Testaments. Göttingen 2015, S. 301ff. 53 Vgl. Locke: Two Treatises (wie Anm. 29), S. 303–318. 54 So nachzulesen bei Frank Grunert: Paternalismus in der deutschen Aufklärung. In: Paternalismus und Recht. Hg. von Michael Anderheiden, Peter Bürkli, Hans Michael Heinig, Stephan Kirste und Kurt Seelmann. Tübingen 2006, S. 9–27. 55 Siehe hierzu u. a. Friedemann Fritsch: Communicatio idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns. Berlin, New York 1999, S. 252ff.

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18. Jahrhundert noch Wirksamkeit entfaltete56 –, darüber macht sich Hamann hier wie andernorts keine Gedanken; seine vor allem kontroverstheologischen Intentionen können von solcherart Konkretionen auch abstrahieren.57 Gleichwohl bleibt erkennbar, dass nur die theologische Referenz auf den Bund und damit laut Hamann auf den ursprünglichen Vertrag Gottes mit den Menschen – ein theologisch-philosophisches Problemfeld, das auch im 18. Jahrhundert intensiv debattiert wurde58 – die Geltung des politischen Kontraktualismus „der speculativen Freunde des Naturrechts“59 in Frage stellt. Für Hamann kann ein legitimer Vertrag nur der zwischen Gott und den Menschen bestehen, der damit auch all jene Funktionen erfüllen muss, die der Gesellschaftsvertrag seit Hobbes zu konstituieren und zu garantieren hatte: Stabilität und Sicherheit: Die Ju d e n haben sich durch ihre g ö t t l i c h e G e s e t z g e b u n g , und die N a t u r a l i s t e n durch ihre g ö t t l i c h e Ve r n u n f t eines Palladiums zur Gleichung bemächtigt: folglich bleibt den Christen und N i ko d e m e n kein anderer Mittelbegriff übrig, als von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe zu glauben: A l s o h a t G o t t d i e We l t g e l i e b t – – Dieser Glaube ist der Sieg welcher die Welt überwunden hat.60

Für Hamann ist die einzig legitime und dem Menschen einzig angemessene Vergemeinschaftung jene, die durch Gott gestiftet und in jenem urkundlich feierlichen Vertrage fixiert wurde, den er mit Herder die Älteste Urkunde nennt. Ist diese Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen – ein für Hamann zentrales theologisches Problem61 – in der jüdischen Religion durch die politische, also weltliche Gesetzgebung tendenziell verwirklicht, weil diese Gesetze je schon Gottesgesetze sind; soll sie bei den Naturalisten, d. h. den philosophischen Kontraktualisten, durch die Vernunft realisiert sein, weil sich in ihr als recta ratio die natürlichen Gesetze, mithin das Naturrecht, dem Menschen erschließt,62 so kann der Christ die Gottesgemeinschaft nur als Glauben verteidigen. 56 Siehe hierzu Franz Bosbach: Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit. Göttingen 1988, S. 122–124. 57 Was unmittelbar mit seiner konsequenten politischen Theologie verbunden ist, die ihn davon ausgehen lässt, dass „die Weltregierung Gottes […] ohnehin alles zu einem glücklichen Ende führen wird“. So Øystein Skar : Zwischen Gleichgültigkeit und Idealismus: Hamann und der beste Staat. In: Acta 2006, 95–102. 58 So gilt die im Bund Gottes mit den Menschen realisierte Versöhnung als Zentrum der Theologie des schon zu Lebzeiten berühmten Hallenser Philosophen und Theologen Franz Budde; vgl. hierzu u. a. Frederike Nüssel: Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus. Göttingen 1996. 59 N III, 293,33. 60 N III, 313,7–14. 61 Siehe hierzu Oswald Bayer: Art. ,Hamann, Johann Georg‘. In: TRE 14 (1985), S. 395–403, spez. S. 398f. 62 Dass es für Hamann auch in diesem Zusammenhang keinen substanziellen Unterschied zwischen jüdischer Gesetzesorientierung und philosophischer Vernunftausrichtung gibt,

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Erst mit dieser erneuten Abgrenzung sind die formalen und materialen Bedingungen der hamannschen Vergemeinschaftungskonzeption erfüllt: Die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, die einzig wahre, einzig gute und einzig legitime Gemeinschaft des Menschen und der Menschen, kann nicht mit den Vermögen der Vernunft erfasst, sie muss geglaubt werden, und sie kann und darf nicht durch Gesetze als Instrumenten des Zwangs, sie muss und kann einzig durch und in der Liebe Gottes wirklich werden. Besteht ein ethischen gemeines Wesen als Gemeinde bei Kant neben und geschützt durch den Rechtsstaat,63 so wird beides bei Hamann durch eine Gemeinschaft der Gläubigen identifiziert und ersetzt, die letztlich nicht von dieser Welt ist, d. h. „die Welt überwunden hat“,64 und doch ganz politisch verfasst sein soll – als Lösung des „Rätsels der Theokratie“.65

3.

Mendelssohns status naturalis und dessen Kritik bei Hamann

Für Mendelssohn hingegen sind das Naturzustandstheorem und die Philosophie des Gesellschaftsvertrages durchaus Elemente einer tragfähigen politischen Theorie.66 Allerdings ist für ihn in Anbindung an Pufendorf, Leibniz und Wolff – und damit in Abgrenzung von Hobbes und Rousseau – der Stand der Natur keineswegs durch ein ius in omnia, also ein ius ad nihilo, bestimmt,67 sondern vielmehr durch ein „Recht“ auf Glückseligkeit und auf die Mittel ihrer Verwirklichung. Beide Naturrechte stellen allerdings nur dann ein Recht und nicht die blanke Willkür des Hedonismus dar, wenn die Befugnis zur Anwendung jener Mittel durch „Weisheit und Güte“ beschränkt bzw. eingeschränkt wird: Die Befugniß (das sittliche Vermögen) sich eines Dinges als Mittel zu seiner Glückseligkeit zu bedienen, heißt ein Recht. Das Vermögen aber heißt sittlich, wenn es mit den Gesetzen der Weisheit und Güte bestehen kann, und die Dinge, die als Mittel zur

63 64 65 66

67

zeigt sich einige Zeilen später an der Formulierung von „jüdischen Naturalismus“ (N III, 313,27), der dem „königlichen Gesetz“ der Nächstenliebe nur mit Selbstliebe und Neid begegnen könne. Vgl. hierzu Manfred Baum: Das ethische Gemeinwesen in Kants Religionsphilosophie. In: Subjektivität und Autonomie. Praktische Selbstverhältnisse in der klassischen deutschen Philosophie. Hg. von Stefan Lang und Lars-Thade Ulrichs. Berlin, Boston 2013, S. 81–94. N III, 313,14f. N III, 311,11. Siehe hierzu die exzellenten Studien von Altmann: Naturrecht und Naturzustand (wie Anm. 39), S. 164–192; Cord-Friedrich Berghahn: Moses Mendelssohns ,Jerusalem‘. Tübingen 2001 sowie Anne Pollok: Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Hamburg 2010, S. 429ff. Zu dieser Tradition des deutschen Naturrechts vgl. Klippel: Politische Freiheit (wie Anm. 15), S. 35–42; Hofmann: Lehre vom Naturzustand (wie Anm. 27), S. 21ff.; Kersting: Der Kontraktualismus (wie Anm. 32), S. 94f.

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Glückseligkeit dienen können, werden Güter genannt. Der Mensch hat also ein Recht auf gewisse Güter und Mittel zur Glückseligkeit, in so weit solches den Gesetzen der Weisheit und Güte nicht widerspricht.68

Diese Überlegungen sind von Hobbes weiter entfernt, als Hamann suggeriert. So kann es nach Hobbes kein ,Recht‘ auf Glückseligkeit geben, ebenso wenig wie ein solches auf die Mittel zu deren Verwirklichung.69 Mendelssohn entwirft diese Bestimmungen auf der Grundlage anthropologischer Voraussetzungen, die von denen des Thomas Hobbes grundlegend verschieden sind und von denen auch Hamann abweichen muss. Diese Bestimmungen lauten wie folgt70 : 1. Der Mensch strebt nach Glückseligkeit, d. h. nach der Vermehrung der Lust und der Abwehr von Unlust; aufgrund dieser anthropologischen Grundausstattung hat der Mensch das Recht auf die Mittel zur Erlangung dieses Zustandes. Schon diese Prämisse bildet einen substanziellen Unterschied zu Hobbes aus, nach dem es dem Menschen nicht um Glück, sondern schlicht um Selbsterhaltung bzw. äußere Freiheit geht.71 Selbst nach John Locke oder Georg Joachim Darjes gibt es im Naturzustand vor allem ein Recht auf bzw. eine Pflicht zur Selbsterhaltung.72 Gottfried Achenwall, einer der profiliertesten Naturrechtstheoretiker der zweiten Jahrhunderthälfte, lehnt die Glückseligkeit als Prinzip des ius naturae gar explizit ab.73 Es ist vielmehr – wie oben zitiert – der Materialist Hißmann, der diese Prämisse teilt. Mendelssohns anthropologischer und politischer Eudämonismus74 ruht demgegenüber auf den Schultern von Thomasius75 und Wolff.76

68 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 2), S. 141. 69 Siehe hierzu u. a. Kersting: Der Kontraktualismus (wie Anm. 32), S. 90–110. 70 Zum Folgenden vgl. auch Björn Pecina: Mendelssohn diskrete Religion. Tübingen 2016, S. 259ff. 71 Hobbes: De Cive (wie Anm. 28), S. 68/69ff. (I.13) 72 John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg. von Walter Euchner. Frankfurt a.M. 1977, S. 203 sowie Georg Joachim Darjes: Discours über Natur- und Völkerrecht. Bd. I. Jena 1762, S. 39: „Habeo ius. Z.E. Ich habe das Recht mein Leben zu erhalten, von andern zu fordern, mich nicht zu beleidigen.“ 73 Siehe hierzu Gottfried Achenwall und Johann Stephan Pütter : Anfangsgründe des Naturrechts. (Elementa iuris naturae). Hg. und übers. von Jan Schröder. Frankfurt a. M. 1995, S. 79 (§ 229): „Der Zweck des ganzen Naturrechts liegt deshalb darin, daß jedermann wohlbehalten und unversehrt von Verletzungen durch einen anderen bleibt.– Über die Erhaltung hinaus strebt es nicht. Diese Erhaltung ist aber meilenweit entfernt von der Glückseligkeit, die vom Recht überhaupt gänzlich ignoriert wird.“ 74 Anders dazu Altmann: Naturrecht und Naturzustand (wie Anm. 39), S. 188, für den bei Mendelssohn die Glückseligkeit ein Epiphänomen der natürlichen Freiheit ist, die als unveräußerliche ein Naturrecht sei, nun spricht Mendelssohn aber von Recht auf die Mittel zur Glückseligkeit, von der die natürliche Freiheit als Recht der selbsteigenen Wahl zwischen Selbstgebrauch und Wohlwollen „einen großen Theil“ ausmache, die Freiheit ist folglich nur ein Moment der umfassenderen Glückseligkeit.

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2. Im Stand der Natur gibt es keine äußere Instanz, die die Inhalte dieses menschlichen Handlungszieles wie die Mittel ihrer Verfolgung reglementieren könnte; insofern ist der Naturzustand ein Zustand der libertas naturalis. Einzig die innere Natur des Menschen – seine anthropologisch verbürgte, daher zu den „Gesetzen“ der Natur des Menschen zählende Befähigung zu „Weisheit und Güte“ – soll dieses Recht auf den Zweck der und die Mittel zur Glückseligkeit eingrenzen. Aus den „Gesetzen der Weisheit und Güte“, die der Natur des Menschen ebenso zukommen wie seine Freiheit, entsteht eine „sittliche Nothwendigkeit“, mithin die Pflicht. Zugleich frei in der Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit und weise sowie gütig, d. h. sich selbst und anderen gegenüber verpflichtet zu sein, ist aber nur möglich durch eine theonome Fundierung der Pflichtenethik in der Nachfolge Pufendorfs.77 Denn wie für Pufendorf, so gilt auch für Mendelssohn, dass die Pflichten gegen sich selbst und die Pflichten gegen andere nur Derivate der Pflichten gegen Gott sind: Im Grunde machen in dem System der menschlichen Pflichten, die gegen Gott keine besondere Abtheilung; sondern alle Pflichten des Menschen sind Obliegenheiten gegen Gott. Einige derselben gehen uns selbst, andere unsere Nebenmenschen an. Wir sollen, aus Liebe zu Gott, uns selbst vernünftig lieben, seine Geschöpfe lieben, so wie wir aus vernünftiger Liebe zu uns selbst verbunden sind, unsere Nebenmenschen zu lieben.78

Damit ist das Problem des Verhältnisses von Selbstliebe und Geselligkeit, von natürlicher Freiheit und sittlicher Notwendigkeit handstreichartig, und zwar mit den Mitteln der natürlichen Theologie gelöst.79 Mendelssohns politische Philosophie ist keine Theologie – darin ist Hamann Recht zu geben –, aber sie bedient

75 Siehe hierzu Christian Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. Halle 1709, S. 114. 76 Vgl. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worinnen alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigem Zusammenhange hergeleitet werden. Halle 1754, S. 30 u. S. 76f. (§ 46 u. § 118); der entscheidende Unterschied zwischen Mendelssohns naturrechtlicher Skizze im Jerusalem und Wolffs Naturrechtskonzeption besteht darin, dass für Wolff die Glückseligkeit eine unter vielen im Naturzustand Geltung innehabenden iura connata ist (so gibt es noch das Recht auf Kleidung, auf Nahrung, auf Arbeit u.v.m.; zu einem Katalog vgl. Hans-Martin Buchmann: Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs. Berlin 1977, S. 107f.), während für Mendelssohn – zumindest in dieser späten Schrift – die Glückseligkeit das naturzuständliche Grundrecht ist, aus dem alle weiteren Bestimmungen abzuleiten sind. 77 Siehe hierzu die präzisen Ausführungen bei Hartung: Naturrechtsdebatte (wie Anm. 19), S. 69–81. 78 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 2), S. 150. 79 Altmann: Naturrecht und Naturzustand (wie Anm. 39), S. 189ff. sieht hier vor allem Einflüsse Richard Cumberlands; die Frage nach der Bedeutung der natürlichen Theologie für eine Vermittlung von Selbsterhaltung und Sozialtrieb ist mit dieser Kontextualisierung aber noch nicht beantwortet.

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sich wie auch das Naturrecht Pufendorfs, Lockes oder Wolffs80 – theonomer Argumente.81 3. Die Momente dieser, das natürliche Recht begrenzenden inneren menschlichen Natur sind also „Weisheit und Güte“. Definiert hat diese Begriffe in der für Mendelssohn gültigen Semantik Gottfried Wilhelm Leibniz:82 „Weisheit ist nichts anderes als die Wissenschaft der Glückseligkeit, so uns nämlich zur Glückseligkeit zu gelangen lehrt.“83 „Güte“ ist der Wille, Gutes zu tun.84 Weisheit ist mithin eine pragmatische Rationalität, die das uneingeschränkte Begehren nach Glück im Naturzustand in vernünftige Bahnen lenkt; und Güte ist die Lenkung des freien – im Naturzustand durch keine äußere Instanz begrenzten – Willens auf das gute Handeln gegenüber anderen. 4. Über die Frage, wann „Collisionsfälle“ zwischen Glückseligkeitsstreben einerseits sowie Weisheit und Güte andererseits, d. h. Eigennutz und Wohlwohlen, auftreten und wie sie aufzulösen sind, hat im Naturzustand der einzelne Mensch selbst zu entscheiden; soweit geht Mendelssohn auf das ipse-iudexPrinzip des hobbesschen Naturzustands ein.85 In diesem Zusammenhang hat Hamann also durchaus Grund, eine Nähe zwischen Mendelssohn und Hobbes zu suggerieren, auch wenn ähnliche Formulierung bei Wolff zu finden sind.86 5. In diesem von Mendelssohn auch als „Naturgesetz“87 bezeichneten Recht der freien Entscheidung über und in Kollisionsfällen zwischen „Selbstgebrauch und Wohlwollen“ gegen andere besteht die „natürliche Freyheit des Menschen“,88 die – wie skizziert – durch Weisheit und Güte begrenzt werden soll. Zugleich gibt es eine gewichtige Selbstbeschränkung dieser Freiheit, insofern „die Ausübung des Wohlwollens glücklicher macht, als Eigennutz“.89 Mit dieser Identifizierung von Tugend und Glückseligkeit liefert Mendelssohn schlicht 80 So Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen (wie Anm. 29) 1.2.6; Locke: Zwei Abhandlungen (wie Anm. 72), S. 203; Wolff: Grundsätze (wie Anm. 76), S. 27 (§ 41). 81 Vgl. hierzu auch Hartung: Naturrechtsdebatte (wie Anm. 19), S. 69ff. oder auch Johannes Müller : ,Das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlichen weisen Schöpfers‘. Zur religiösen Fundierung der Staatsphilosophie John Lockes. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2011, S. 207–234. 82 Zur Bedeutung Leibnizens und Wolffs in diesem Zusammenhang vgl. auch Altmann: Naturrecht und Naturzustand (wie Anm. 39), S. 176f. sowie Bayer: Der Mensch (wie Anm. 26), S. 178. 83 Gottfried Wilhelm Leibniz: Von der Glückseligkeit. In: ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. von Hans Heinz Holz. Darmstadt 1965, S. 391–401, hier S. 391. 84 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Übersetzt von Artur Buchenau. Hg. von Morris Stockhammer. Hamburg 1968, S. 172f. 85 Siehe hierzu Hobbes: De Cive (wie Anm. 28), S. 62/63f. (I.9). 86 Siehe hierzu Wolff: Grundsätze (wie Anm. 76), S. 40ff. (§ 64ff.). 87 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 2), S. 145. 88 Ebd., S. 146. 89 Ebd., S. 147.

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solide Aufklärungsethik, die von Shaftesbury bis Feder vertreten wurde; so heißt es bei Johann Joachim Spalding: Aber noch unmittelbarer finde ich mich durch das Wohlgefallen und Wohlbehagen an der Tugend selbst belohnt, auf welches ich so oft und so gerne zurückkomme, weil es sich mir so mächtig aufdringt. […] Lauter Recht, lauter guter Wille! Das ist doch das einzig wahre Erhabene und Liebenswürdige; und dieß nur mit vollem theilnehmenden Gefühl zu denken, ist schon Glückseligkeit.90

Auch in den von Christan Grave übersetzten und kommentierten Grundsätzen der Moralphilosophie Adam Fergusons heißt es: „Es erhellet, daß nach diesen Erklärungen Tugend und Glückseligkeit eine und dieselbe Sache sind.“91 6. Durch den Abschluss von Verträgen, deren Notwendigkeit insbesondere in Eigentumsfragen entsteht, „verläßt der Mensch den Stand der Natur und tritt in den Stand der gesellschaftlichen Verbindung“.92 Zu diesem Schritt wird der Mensch nach Mendelssohn nicht durch praktische Notwendigkeit gedrängt wie bei Hobbes,93 sondern vielmehr durch kulturanthropologische Bedingungen veranlasst: „Die Menschen bedürfen einander, hoffen und versprechen, erwarten und leisten dem andern Dienst und Gegendienst. Die Vermischung von Ueberfluß und Mangel, Kraft und Bedürfniß, Eigensucht und Wohlwollen, die ihnen die Natur gegeben, treibet sie an, in gesellschaftliche Verbindung zu treten, um ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen weiteren Spielraum zu verschaffen.“94 Wie auch bei Pufendorf und vielen anderen Naturrechtstheoretikern ist dieser Ausgang aus dem status naturalis kein notwendiger Vorgang, sondern freie und daher auch abzulehnende Entscheidung des Einzelnen.95 Fasst man diese Variante von Kontraktualismus kurz zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Durch die der menschlichen Natur eignenden Vermögen einer pragmatischen Rationalität und eines Willens zum Guten wird eine hemmungslose Willkür der rechtmäßigen Suche nach den Mitteln zur und dem Ziel der Glückseligkeit begrenzt. Nicht erst der Staat mit seiner Zwangsgewalt, sondern schon die Natur des Menschen selber ist in der Lage, den Krieg aller gegen alle im Naturzustand zu verhindern, auch wenn seine natürliche Freiheit den Menschen stets mehr zum Eigennutz als zum Wohlwollen sich wenden lässt. 90 Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen. Hg. von Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski und Daniel Prause. Tübingen 2006, S. 131–133. 91 Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christian Grave. Leipzig 1772, S. 139; dass Mendelssohn diese Schrift kannte und sich von ihr beeindrucken ließ, zeigt Altmann: Naturrecht und Naturzustand (wie Anm. 39), S. 180. 92 Ebd., S. 149. 93 Vgl. hierzu Hobbes: De Cive (wie Anm. 28), S. 68/69ff. (I.13). 94 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 2), S. 149. 95 Siehe hierzu auch Kersting: Der Kontraktualismus (wie Anm. 32), S. 95f

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Gegenüber dieser Konstruktion des Naturzustands ist der Eintritt in den Gesellschaftszustand relativ indifferent. Hamann hält diese gesamte Argumentationsbewegung für wenig überzeugend; schon die von Mendelssohn gesetzten Prämissen, werden von ihm aufgespießt: Wo kommen aber die G e s e t z e d e r We i s h e i t u n d G ü t e h e r ? Giebt es solche Gesetze; was hat man noch nöthig nach einem Licht und Recht der Natur zu forschen? Wären diese Gesetze nicht schon an sich das beste Recht der Natur? – Am allerwenigsten begreife ich, wie aus den drey vorausgeschickten Erklärungen von Re c ht , S i t t l i c h k e i t und G ü t e r n der Schluß folge, – daß der Mensch a l s o ein Recht auf gewisse Güter oder Mittel habe; wenn man sich nicht willkürlich im Sinn ein Recht auf Glückseeligkeit zueignet, dessen Allgemeinheit doch eben so wenig behauptet werden kann, als ein allgemeines Recht auf göttliche Gesetzgebung und unmittelbare Offenbarung.96

Wie Achenwall so bestreitet auch Hamann schon die Grundtatsache des mendelssohnschen Naturrechts, nämlich dass der Mensch ein Recht auf Glückseligkeit habe und damit auf alle Mittel, diese zu erlangen. Anders als bei Achenwall, der den Individualismus des Glücksstreben für nicht rechtsförmig hält,97 bietet Hamann theologische Gründe auf, weil für ihn der Mensch als gnadenbedürftiges Wesen keinerlei Ansprüche stellen, damit aber auch keinerlei Rechte innehaben kann.98 Dies gilt vor allem für einen Zustand, der für Hamann diesund jenseitige Dimensionen hat, deren letztere vor allem (eigentlich aber beide) mit einem Rechtsanspruch in keiner Weise zu belegen ist. Für den gestrengen Lutheraner99 ist dieses angebliche Recht eine ,Anmaßung‘: Er [d.i. der Mensch] hat also weder ein physisches noch ein moralisches Vermögen zu einer anderen Glückseeligkeit, als die ihm zugedacht, und dazu er beruffen ist. Alle Mittel, deren er sich zur Erlangung einer ihm nicht gegebenen und beschärten Glückseeligkeit bedient, sind gehäufte Beleidigungen der Natur und entschiedene Ungerechtigkeit. Jede Lüsternheit zum Besserseyn ist der Funke eines höllischen Aufruhrs.100

Auch wenn Hamann in theologischer Hinsicht mit der Warnung vor dem Funken eines höllischen Feuers an einem gewichtigen Ziel seines Argumentierens in 96 N III, 294,29–39. 97 Siehe nochmals Achenwall und Pütter : Anfangsgründe des Naturrechts (wie Anm. 73), S. 79. 98 So auch Arno Krieg: Der Ursprung der Verlässlichkeit in der Kontroverse zwischen Hamann und Mendelssohn. In: Johann Georg Hamann. ,Der hellste Kopf seiner Zeit‘. Hg. von Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 106–134. 99 Vgl. hierzu u. a. Martin Seils: Haman und Luther. In: Acta 2002, 427–453 und Tom Kleffmann: Luther und Hamann als Theologen des Kreuzes. In: Acta 2006, 208–227. 100 N III, 299,28–34.

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diesem Text angekommen ist, ist doch die folgende Überlegung in philosophiehistorischer Hinsicht interessanter : Wenn ich ein Recht habe, mich eines Dinges als Mittel zur Glückseeligkeit zu bedienen, so hat jeder Mensch in Stande der Natur ein gleiches Recht; gleichwie der Soldat während des Krieges die Befugnis hat, den Feind umzubringen, und der Feind ihn.101

Hamann, der hier seine guten Hobbes-Kenntnisse ausspielt, d. h. hier mit Hobbes gegen Mendelssohn argumentiert,102 fragt ganz zu Recht, was Gesetze der Weisheit und der Güte im Naturzustand zu suchen haben. Wer garantiert, dass das Recht auf Glückseligkeitsmaximierung, das nach Mendelssohn als allgemeines Recht jedem Menschen im Naturzustand zustehe, durch Weisheit und Güte tatsächlich begrenzt wird? Wer garantiert die Geltung und Verbindlichkeit von Recht und Gesetz im Naturzustand überhaupt? Für Hobbes und noch für Kant waren die Antworten auf diese Fragen klar : niemand; nur der Staat kann diese Garantie leisten. Für Mendelssohn, Wolff und Pufendorf war diese Garantieinstanz aber die Natur des Menschen und daher auch extra societatem zu gewährleisten; doch ist, so Hamanns Einwand (den er mit Kant durchaus teilt), diese Natur nicht eben so individuell wie der Inhalt und die eingesetzten Mittel zur Glückseligkeit? Darüber hinaus klagt Hamann schon zuvor und völlig zu Recht Gründe für die Geltung jener „Gesetze der Weisheit und Güte“ ein. Tatsächlich hatte Mendelssohn keinerlei Gründe dafür geliefert, sondern setzte jene Fähigkeiten bzw. Vermögen zur klugen Realisation von Selbstliebe und Geselligkeit schlicht voraus, und zwar als – widerspruchsfreie – Momente einer praktischen Anthropologie. Zudem legt Hamann ein weiteres Problem in Mendelssohns Argumentation frei, wenn er fragt, ob „nicht die Freyheit dort, wie hier, ein Schlachtopfer sittlicher Nothwendigkeit und des schrecklichen Muß nach den Gesetzen der Weisheit und Güte [ist], in denen also auch schon ein Zwangsrecht liegt.“103 Hamann sieht ganz richtig, dass die dem Naturzustand zugeschriebene unbeschränkte Freiheit durch Mendelssohns Argumentation eingeschränkt wird, was ihrem natürlichen Status aber widerspricht, wodurch das gesamte Naturzustandstheorem fragwürdig wird. Der Königsberger bedient sich dabei durchaus hobbesscher Argumente, im Zentrum seiner kritischen Position steht aber keine alternative philosophische Naturrechtskonzeption, sondern eine politische Theologie. Gegen das von Mendelssohn und Hobbes geteilte ipse-iudexPrinzip, nach dem „der Mensch im Stande der Natur Herr ist über das Seinige, 101 N III, 295,15–18. 102 Das heißt allerdings nicht, dass Hamann nunmehr tatsächlich die Position des Thomas Hobbes übernommen hätte, vielmehr bedient er sich seiner Argumente, um immanente Widersprüche des „Naturalismus“, d. h. aller politischen Philosophie herauszuarbeiten. 103 N III, 295,27–30.

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über den freien Gebrauch seiner Kräfte und Fähigkeiten, über den freien Gebrauch alles dessen, so er durch dieselbe hervorgebracht“ u.v.m.,104 hält er an der ungeteilten und unteilbaren Existenz einer Gemeinschaft der Gläubigen fest: Ist aber das Ich, selbst im Stande der Natur, so ungerecht und unbescheiden, und hat jeder Mensch ein gleiches Recht zum Mir! und Mir allein! – so laßt uns fröhlich seyn über dem Wir von Gottes Gnaden […].105

Dem freien Individuum des Naturzustandes, über das Hamann im Übrigen unangemessen als angeblich egoistisches und anspruchsvolles Wesen moralisiert, obwohl Hobbes deutlich gemacht hatte, dass im Naturzustand auch moralische Normen keinerlei Geltung haben können,106 wird die Gemeinschaft „von Gottes Gnaden“ entgegengehalten. Für Hamann ist die Vorstellung unbeschränkter naturzuständlicher Freiheit durchaus nicht unplausibel, aber sie ist Sünde. Seinen entscheidenden Einwand richtet Hamann jedoch gegen das Rechtsund Gesetzesverständnis Mendelssohns und damit der politischen Philosophie überhaupt, denn: Das Christentum glaubt also nicht an Lehrmeinungen der Philosophie […], an keine Gesetze, die auch ohne den Glauben daran gethan werden müssen, wie sich der Theorist irgendwo ausdrückt, trotz seiner epikurischstoischen Wortklauberey über Glauben und Wissen. (Hvhb. von mir).107

Unverkennbar bezieht sich Hamann an dieser Stelle auf das seit Grotius die Naturrechtdebatten beherrschende Argument des etiamsi daremus, das besagt, dass die Bestimmungen des Naturrechts auch Geltung hätten, wenn es keinen Gott gäbe108 – ein erneut unerträglicher ketzerischer Gedanke für Hamann, der aber gleichzeitig zum Inbegriff politischer Philosophie für ihn avanciert. „Gesetzgebung“, sei sie nun überpositiven oder positiven Charakters, ist für Hamann apriori nicht nur „systematischer Atheismus“,109 sondern auch und vor allem Ausdruck eines Zwangsverhältnisses zwischen Sklaven und Despoten.110 Der Christenmensch aber, der keine „andere Glaubensfesseln als das feste prophetische Wort in den allerältesten Urkunden des menschlichen Geschlechts“111 104 105 106 107 108

Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 2), S. 146. N III, 300,4–7. Vgl. Hobbes: De Cive (wie Anm. 28), S. 146/147ff. N III, 306,14–27. Vgl. hierzu u. a. Javier Hervada: The Old and The New in the Hypothesis ,Etiamsi daremus‘ of Grotius,. In: Grotiana 4 (1983), S. 4–20; Paola Negro: Un Topos in Hugo Grotius. Etsiamsi Daremus Non Esse Deum. In: Studi Filosofici 18 (1995), S. 57–80. 109 N III, 309,35. 110 N III, 307,5–8. 111 N III, 306,28–30.

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kennt, weiß um das grundlegend Defizitäre von „Gesetzgebung und Sittenlehre, die blos menschliche Gesinnung und menschliche Handlungen betreffen“,112 d. h. den sündigen Menschen einhegen sollen. Ihm geht es nicht und kann es nicht gehen um Recht und Gesetz, sondern um die „Ausführung göttlicher Rathschlüsse durch göttliche Thaten, Werke und Anstalten zum Heil der ganzen Welt“.113 Aus der „Verheißung“ Abrahams und dem „Zeichen seines Bundes“ mit Gott, die nach Hamann ausdrücklich keinen Gesetzescharakter innehaben, entsteht so allererst „ächte“, weil „himmlische Politik“.114 Hamann hat also erkennbar einen rechtstheologischen Grund, warum er auf die Positivität und einzig angemessene Legitimität des göttlichen Bundes mit den Menschen referiert: Für den gläubigen Christen hat ausschließlich dieser Bund als Vertrag Geltung und Verbindlichkeit. Klar wir dadurch auch, warum Hamann die Theoreme des Natur- und Gesellschaftszustandes in ihrer philosophischen Kontur ablehnen musste: Wenn es ausschließlich die Gottesinstanz ist, die eine legitime und stabile Gemeinschaft unter den Menschen stiften kann, dann ist jeder Rekurs auf die Natur des Menschen, wie bei Pufendorf, Wolff oder Mendelssohn,115 oder den freien Wille des Menschen, wie bei Hobbes, Rousseau oder Kant,116 nicht nur theoretisch falsch, sondern auch politisch gefährlich, weil sie eine Legitimität von Vergemeinschaftung und deren Stabilität nur vortäuschen.117

4.

Hamanns Verständnis von Recht, Pflicht und Glauben

Hamann stellt nun dem streng zurückgewiesenen Konzepten von philosophischen Naturzustands-, Rechts- und Staatsvorstellungen ein alternatives Modell entgegen, das über die Preisung des Abrahamsbundes durchaus hinausgeht. 112 113 114 115

N III, 312,13–15. N III, 312,15–17. N III, 307,21–29. Vgl. hierzu Gideon Stiening: Von der ,Natur des Menschen‘ zur ,Metaphysik der Sitten‘. Zum Verhältnis von Anthropologie und Sittenlehre bei Kant und in den Rechtslehren des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Das Verhältnis von Recht und Moral in Kants praktischer Philosophie. Hg. von Günter Kruck, Bernd Dörflinger und Dieter Hüning. Hildesheim 2017, S. 13–44. 116 Vgl. hierzu Georg Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. In: Der Staat 21 (1982), S. 161–189. 117 Insofern „verzerrt“ die irdische Politik als pragmatische Umsetzung politischen Philosophie die himmlische Politik als Verwirklichung politischer Theologie nicht nur (so aber Eva Kosziszky : Die Schwierigkeit des Nichts-Tuns. Welt und Gesellschaft in Hamanns Kontroverse mit Lavater. In: Acta 2006, 102–116, spez. 108), sie verunmöglicht eine angemessene Ausrichtung politischen Handelns an den Prinzipien der heiligen Schrift, jener ältesten Urkunde, die nach Hamann und Herder die theoretischen und praktischen Vorgaben für eine angemessene Politik enthält.

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Dabei verbleiben Hamanns Vorschläge, die konsequent polittheologischen Charakter haben, im Status des Rhapsodischen.118 Zu den konstitutiven Elementen der eigenen politischen Theologie Hamanns gehört zunächst und überraschender Weise ein ursprüngliches Naturrecht, auf dessen Geltung die Gültigkeit aller Verträge gründet. Im Rahmen einer barschen Zurückweisung der mendelssohnschen Eigentumstheorie, die dieser als konstitutives Element seiner Naturrechtstheorie entworfen hatte,119 die Hamann aber als „speculativen und theoretischen Schutt“120 abtut, heißt es mit einiger Verve, dass „alle gesellschaftlichen Verträge […], nach dem Rechte der Natur, auf dem sittlichen Vermögen, Ja! oder Nein! zu sagen, und auf der sittlichen Nothwendigkeit, das gesagte Wort wahr zu machen“,121 beruhen. Hamann fasst diese ihm ganz eigentümliche Vorstellung des Zusammenhangs von Naturrecht, Sprachvermögen und Verwirklichungspflicht des Gesprochenes wie folgt zusammen: Vernunft und Sprache sind also das innere und äußere Band aller Geselligkeit […]. Auf dieses Recht der Natur, sich des Wortes als des eigentümlichsten, edelsten und kräftigsten Mittels zur Offenbarung und Mittheilung unserer innigsten Willenserklärung zu bedienen, ist die Gültigkeit aller Verträge gegründet.122

Zunächst ist festzuhalten, dass es auch für Hamann eine ursprüngliche Geselligkeit des Menschen gibt, die allerdings, wie seine Argumente gegen das ipseiudex-Prinzip zeigten, keinem natürlichen Trieb, jenem seit Grotius für die Neuzeit aktualisierten appetius societatis, entspringt,123 sondern die durch Gott hervorgebrachte menschliche Schöpfungsgemeinschaft ist. Allein aufgrund dieser Prämisse muss sich Hamann vom „System des Hobbs“ abwenden, hatte dieser doch die These von einer ursprünglichen Geselligkeit des Menschen als unwissenschaftlich zurückgewiesen.124 Hamanns Gemeinschaft bedient sich zur 118 Nur anmerkungsweise sei darauf hingewiesen, dass solcherart Fragmentarisches, in der theologischen oder poststrukturalistischen Hamann-Forschung gerne als besondere Leistung, wenigstens aber Eigenheit des Autors gefeiert wird, aber für eine politische Theorie desaströse Auswirkungen hat, weil deren stets intendierte normative Ordnung der empirischen Praxis nur mit einem systematischen, d. h. in sich kohärenten und möglichst vollständigen Konzept möglich ist. 119 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 2), S. 142; dabei ging es Mendelssohn vor allem um den Nachweis, dass es Eigentum nicht erst – wie bei Hobbes, Grotius u.v.a. – im status civilis, sondern schon im status naturalis gibt: „Nicht alles Eigentum ist blos conventionell“ (ebd.); vgl. hierzu auch Altmann: Naturrecht und Naturzustand (wie Anm. 39), S. 185. 120 N III, 300,19. 121 N III, 300,22–25. 122 N III, 300,31f. u. 301,23–25. 123 Vgl. Stiening: Appetitus societatis (wie Anm. 34), S. 394ff. 124 So Hobbes: De Cive (wie Anm. 28), S. 46: „Eorum qui de Rebus publicus aliquid conscripserunt, maxima pars, vel supponunt, vel petunt, vel postulant, Hominem esse animal aptum natum ad Societatem, Græci dicunt F`om pokitij|m, eoque fundamento ita su-

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Herstellung ihrer selbst allerdings der ebenfalls durch die Schöpfung dem Menschen ermöglichten Sprache; sie bedient sich auch der Vernunft, aber letztere ist bei Hamann sprachlich verfasst und die Sprache folglich das eigentliche Band der Gesellschaft.125 Entscheidend ist nun, dass der Sprache an sich – auch innerhalb der durch Johann Peter Süßmilch popularisierten theonomen Sprachentstehungstheorie126 – keinerlei normative Qualität zukommt. Hamann schreibt ihr diese Qualität allerdings ausdrücklich zu, und zwar durch die mit ihr verbundene Fähigkeit, Ja oder Nein zu sagen, d. h. durch das Vermögen, Zustimmung oder Ablehnung zu verbalisieren. Doch weder diese zunächst rein sprachlich gefasste Fähigkeit noch die Aufgabe, das „gesagte Wort wahr zu machen“, also den semantischen Gehalt des eigenen Sprechens in die empirische Praxis restlos zu überführen, haben an ihnen selbst normative Qualität, mithin jene „sittliche Nothwendigkeit“, die Hamann ihnen attestiert.127 Die Forschung hat versucht, aus Hamanns These, die Verwendung der Sprache sei ein ursprüngliches Recht der Natur, eine sprachphilosophische Naturrechtskonzeption zu rekonstruieren, der zufolge die Regeln und Gesetze der Sprache die normative Kraft, d. h. die Pflichtenordnung des Naturrechts generierten.128 Doch selbst Hamanns emphatisch-theonome Sprachtheorie129

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perædificant doctrinam ciuilem, tanquam ad conseruationem pacis, & totius generis humani regimen, nihil aliud opus esset, quam vt homines in pacta & conditiones quasdam, quas ipsi iam tum leges appellant, consentirent. Quod Axioma, quamquam / plurimis receptum, falsum tamen errorque / nimis leui naturæ humanæ contemplatione profectus est.“ Siehe hierzu u. a. Johannes von Lüpke: Über Protestantismum, Catholicismum und Atheismum. Konfessionelle Vielfalt und Einheit in der Sicht Hamanns. In: Acta 2006, 173–195, spez. 181ff. Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, in der academischen Versammlung vorgelesen und zum Druck übergeben von Johann Peter Süßmilch, Mitglied der Königl. Preußischen Academie der Wissenschaften. Berlin 1766; vgl. hierzu die Ausführungen von Hans-Peter Nowitzki: ,Wortforschen ist nicht Becanissen …‘ Tetens’ Sprachkritik und Philosophiereform. In: Johann Nikolaus Tetens (1736–1807). Philosophie in der Tradition des Europäischen Empirismus. Hg. von Gideon Stiening und Udo Thiel. Berlin, Boston 2014, S. 343– 363. Dabei ist mit dem Begriff der „sittlichen Nothwendigkeit“ Normativität überhaupt gemeint im Sinne des kantischen „Inbegriffs von unbedingt gebietenden Gesetzen“ (Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. In: AA VIII, S. 370) – seien diese rechtlich, seien sie ethisch. Die Annahme, dass es sich bei der Notwendigkeit lediglich um ethische Normen handele (so Kalkbrenner: Anthropologie und Naturrecht [wie Anm. 18], S. 144ff.), ist unzutreffend. So insbesondere Achermann: Natur und Freiheit (wie Anm. 27), S. 77ff. sowie Kalkbrenner: Anthropologie und Naturrecht (wie Anm. 18), S. 146ff. Siehe hierzu u. a. Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. StuttgartBad Cannstatt 2002 sowie ders.: Wider die Sprachvergessenheit transzendentaler Vernunftkritik. Eine Einführung in Hamanns ,Metakritik über den Purismum der Vernunft‘.

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trägt diese These nicht. Auch und vor allem unabhängig von der Sicht des Autors selber ist nicht zu bestreiten, dass technisch-praktischen Imperative des Sprachsystems keinerlei moralisch-praktische Sollensordnung für das menschliche Handeln aus Freiheit generieren.130 Und das gilt nicht erst seit Kant. Schon 1612 hielt beispielsweise der Jesuit Francesco Su#rez mit kritischem Bezug auf Thomas von Aquin fest, dass „die Regeln des angemessenen Sprechens, die gemeinhin als grammatikalische Gesetze“ bezeichnet werden, von den praktischen Gesetzen der auf Freiheit basierenden Handlungen des Menschen substanziell unterschieden seien.131 Kurz: Aus den Regeln und Gesetzen der Sprache kann keine normative Ordnung von Rechten und Pflichten abgeleitet werden. Diese Unterscheidung gilt auch für Hamann, denn die von ihm für das ursprüngliche Recht der Natur beanspruchte Sprache ist nicht an ihr selbst normativ. Ausschließlich als Ausdruck – Hamann spricht von Offenbarung oder Zeichen – der je eigenen „Willenserklärung“ kommt den Worten des Menschen normative Kraft zu.132 Auch in seinem sprachtheologischen Voluntarismus ist Hamann strammer Lutheraner. Nur soll diese Willensäußerung nicht Realisation freier Willkür sein, sondern muss selbst erneut geleitet werden durch den göttlicher Auftrag der Namensgebung an den Menschen. Nur dieser göttliche Auftrag macht die Benennung der Sache durch den Menschen mit dieser identisch. Indem der Wille des Menschen den göttlichen Auftrag erfüllt, wird die Sprache zum geoffenbarten Instrument aller Verträge der Menschen.133 Im Zentrum der hamannschen Sprachtheorie findet sich folglich eine Theorie des Willens, weil das Wort dessen zeichenhafte, auf die Interpersonalität des Menschen ausgerichtete Entäußerung ist. Der Wille des Menschen ist aber in seiner Wahrheit gebunden an den göttlichen Auftrag, der die Identität von Wort und

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In: Herders ,Metakritik‘. Analysen und Interpretationen. Hg. von Marion Heinz. StuttgartBad Cannstatt 2013, S. 65–79. Zu dieser Unterscheidung zwischen technisch- und moralisch-praktischen Imperativen vgl. Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Nach der Handschrift. Hg. von Gerhard Lehmann. Hamburg 41990, S. 7f.; vgl. auch ders.: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Heiner Klemme. Hamburg 2001, S. 9f. Vgl. hierzu Francisco Su#rez: De legibus ac Deo legislatore. Liber I.–III / Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Buch I–III. Hg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 2014, I.1.5. Vgl. auch Achermann Natur und Freiheit (wie Anm. 27), S. 96f. Vergleichbar – wenn auch ohne Referenz auf die Offenbarung – ist Hamanns Position zum Verhältnis von Sprache und menschlicher Gemeinschaft mit der Hugo Grotius’, der schon in De Iure Belli ac Pacis festhielt: „Homini vero perfectae aetatis cum circa similia similiter agree norit, cum societatis apprtitu excellente, cuius peculiare solus inter animantes instrumentum habet sermonem, inesse etiam facultatem sciendi agendique, secundum generalia praecepta, par est intelligi, cui quae conveniunt ea sunt non omnium quidem animantium, sed humanae naturae congruentia.“ Hugo Grotius: De Iure Belli ac pacis. Libri Tres, in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicvatur. Hg. Von B. J. A. De Kanter und Van Hettinga Tromp. Aalen 1993, Prol. § 7.

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Sache allererst garantiert. Als Recht der Natur bezeichnet Hamann diesen Willen zur sprachlich induzierten Geselligkeit, weil er durch den göttlichen Auftrag zur Pflicht wurde, die – wie auch für das Gros der Naturrechtskonzeptionen seit Pufendorf134 – die Substanz jedes Rechts ausmacht. Ein Recht der Natur ist diese Willensentäußerung, weil jene Pflicht in der Natur des Menschen als Schöpfung Gottes grundgelegt ist.135 Eng verknüpft mit dieser Theorie eines im göttlichen Auftrag fundierten menschlichen Willens zur sprachlich konstituierten Vergemeinschaftung ist Hamanns Auffassung des Verhältnisses von Rechts- und Tugendpflichten. Beide stehen nach Hamann nämlich – anders als für die praktische Philosophie seit Thomasius136 – in enger Verbindung. Gegen Mendelssohns Trennung von „Staat und Kirche“ und damit von „innerer Glückseeligkeit und der äußeren Ruhe und Sicherheit“137 hält der Theologe fest: Zur wahren Erfüllung unserer Pflichten, und zur Vollkommenheit des Menschen gehören H a n d l u n g e n und G e s i n n u n g e n . Staat und Kirche haben beyde zu ihrem Gegenstande. Folglich sind Handlungen ohne Gesinnungen, und Gesinnungen ohne Handlungen, eine Halbirung ganzer und lebendiger Pflichten in zwo todte Hälften.138

Rechts- und Tugendpflichten hängen für Hamann also untrennbar zusammen. Damit ist er den Vorstellungen Christian Wolffs und seiner Nachfolger näher, als er wahrhaben will;139 auch Wolff begründete ausführlich eine Notwendigkeit, die Gesinnungen der Staatsbürger für ihre politischen Pflichten zu kultivieren, d. h. zu beherrschen. Das ging bis zur Reglementierung des Alkoholgenusses und den Inhalten von Theateraufführungen.140 Gleichwohl bleiben bei Wolff Recht und 134 Vgl. Hartung: Die Naturrechtsdebatte (wie Anm. 19), S. 135f.; für Mendelssohn auch Altmann: Naturrecht und Naturzustand (wie Anm. 39), S. 177. 135 Und eben keineswegs in der Natur des Menschen als Freiheit, die zwar Moment seiner Geschöpflichkeit, keinesfalls aber diese selbst ist; vgl. aber Achermann: Natur und Freiheit (wie Anm. 27), S. 98. 136 Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York 1971, S. 300ff. 137 N III, 302,34f. 138 N III, 303,3–7. 139 Dass diese für andere Sachverhalte auch gilt, zeigt Kalkbrenner : Anthropologie und Naturrecht (wie Anm. 18), S. 117. 140 Vgl. hierzu Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. ,Deutsche Politik‘. Bearbeitet, eingeleitet und hg. von Hasso Hofmann. München 2004, S. 236: „Vielleicht wird dieses einigen etwas seltsam vorkommen: Sie werden meinen, im gemeinen Wesen begnüge man sich an der äußerlichen Zucht und bekümmere sich nicht um das Innere, welches mit zur Tugend hauptsächlich gehört. Allein der Irrtum kommt bloß daher, daß sie sehen, man pflege in dem gemeinen Wesen bloß das äußerlich Tun und Lassen der Menschen zu betrafen, keineswegs aber die Gedanken, welche sich durch keine Werke äußern. Es ist aber ganz etwas anderes, wenn man fragt, was in dem gemeinen Wesen zu bestrafen ist, und ganz was

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Moral noch soweit unterschieden, als strafrechtlich relevant nur äußere Handlungen sind.141 Bei Hamann hingegen ist jede Rechts- mit einer Tugendpflicht verbunden und umgekehrt, weil sie ansonsten je nur zur Hälfte ihre Geltung und Verbindlichkeit entfalteten. Damit steht Hamann in jener Tradition neuzeitlicher Gesetzestheorien, die eine Gewissensverpflichtung positiver wie überpositiver Gesetze für unabdingbar hielten. Von Francisco Su#rez über Robert Sanderson bis zu Pufendorf wird eine obligatio in conscientia auch der äußeren Gesetze als Notwendigkeit begründet, u. a. um neben der rational zu begründenden objektiven Geltung auch eine subjektive Verbindlichkeit des Rechts zu garantieren.142 Hamann ist – wie seine Vorgänger – aus zwei Gründen an der Engführung von Recht und Moral, von Rechts- und Tugendpflichten, von Handlungen und Gesinnungen interessiert, bzw. zu ihr verpflichtet: Erstens gilt das forum conscientiae dem Gros der Moraltheorien der voraufklärerischen frühen Neuzeit – und auf diesen Kontext ist hier zurückzugreifen143 – als innerweltliches forum dei.144 So heißt es bei dem Jesuiten Francisco Su#rez: Ratio autem dubitandi esse potest, quia forum conscientiae est forum Dei; sed homo non potest obligare in foro Dei; ergo nec in foro conscientiae.145

Auch für den Protestanten Samuel von Pufendorf gibt es eine unmittelbare Verbindung zwischen der Wirksamkeit des Gewissens und der Geltung religiöser und politischer Normen: Denn ohne Bindung an das Gewissen wären bei den Herrschern alle Amtspflichten einschließlich des Richterspruches für Geld zu haben.146

Für beide Autoren gilt bei aller konfessionellen Differenz, dass das Gewissens zum einen der Ort und damit die Garantie der innerweltlichen Wirksamkeit

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anders, wenn man fragt, zu was für Handlungen man die Menschen im gemeinen Wesen bringen soll.“ Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: ,Politische Metaphysik‘. Zum Verhältnis von Politik und Moral bei Isaak Iselin. In: xviii.ch Jahrbuch der Schweizer Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 5 (2014), S. 136–162. So auch Hartung: Die Naturrechtsdebatte (wie Anm. 19), S. 64f. 74–77 u. 79ff. Dass sich diese Kontextualisierung unterschiedlich werten lässt, zeigt die bemerkenswerte Studie von John R. Betz: After Enlightenment. Hamann as postsecular Visionary. Oxford 2012, spez. S. 258–290. Siehe hierzu Frank Grunert: Äußere Norm und inneres Gewissen. Das Gewissen in den Naturrechtslehren von Samuel Pufendorf und Christian Thomasius. In: Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformation. – Conscience in the Legal Teachings of the Protestant and Catholic Reformations. Hg. von Michael Germann und Wim Decock. Leipzig 2017. S. 297–312. Su#rez: De legibus (wie Anm. 131), III.2, S. 20. Samuel von Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. und übersetzt von Klaus Luig. Frankfurt a. M. 1994, S. 57 u. ö.

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Gottes in normativer Hinsicht ist, deren Inhalte folglich notwendig zeitlos sein müssen, und dass die conscientia zum anderen nicht allein für die Tugendpflichten, sondern auch für die Verbindlichkeit von Rechtspflichten unentbehrlich ist.147 Eine konsequente Synthese der Theorien zur notwendigen Verbindung von Gesetz und Gewissen lieferte für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts der anglikanische Theologe Robert Sanderson, der in weitgehendem Rückgriff auf Su#rez eine strenge Bindung von göttlichen und menschlichen Gesetzen an eine obligatio in conscientia entwickelte.148 An diese Tradition knüpft Hamann erkennbar an, um durch die konstitutive Funktion des Gewissens für die Rechtsgeltung die rechtslogische Stellung Gottes und damit die Lückenlosigkeit seiner politischen Theologie zu garantieren. Hamann ist zu dieser strengen Bindung von Recht und Moral aber auch genötigt, weil er Recht und Gesetz für letztlich defizitäre Instrumente der menschlichen Vergemeinschaftung hält. Ohne Vermittlung ans Gewissen gründen sie seiner Ansicht nach lediglich auf Zwang. Das „System des Hobbs“ (und damit das Kants oder Mendelssohns) lehnt er deshalb ab, weil diese ,philosophischen Naturalisten‘ Recht mit Macht identifizierten, weshalb Pflichten als Rechtspflichten zu reinen Zwangspflichten degenerierten. Hamann begründet diese Defizienz jeder staatlichen Rechtsordnung zunächst historisch unter Rückgriff auf die religionsgeschichtliche Entstehung des jüdischen Staates. Nachdem er – wie oben schon zitiert – festgestellt hat, dass das Christentum keine Gesetze benötige als „die Glaubensfesseln“ des „prophetischen Wortes der ältesten Urkunde des menschlichen Geschlechts“, heißt es scheinbar konzedierend: Eine den eisernen Ofen ägyptischer Ziegelbrennerey und Frohndienstarbeit entführte Horde hatte freylich Handlungsfesseln nöthig, und einen Zuchtmeister zur bevorstehenden Bildung eines sonderlichen Staats. […] Der außerordentliche Geschmack an Gesetzgebung und der Königliche Luxus darinn beweist eine eben so große Unfähigkeit sich selbst als seines gleich zu regieren und ist ein gemeinschaftliches Bedürfnis für Sclaven und ihnen ähnliche Despoten.149

147 Zu Su#rez’ Gewissenstheorie vgl. Mathias Perkams: Gesetz und Gewissen. Die historischen Hintergründe der Position des Thomas von Aquin und ihre Rezeption bei Cajetan und Su#rez. In: Ethik und Politik des Aristoteles in der frühen Neuzeit. Hg. von Christoph Strosetzki. Hamburg 2016, S. 123–146; zu Pufendorf vgl. Hans Welzel: Gesetz und Gewissen. In: ders.: Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie. Berlin 1975, S. 297–314, hier S. 299. 148 Vgl. hierzu Robert Sanderson: De Oligatione Conscientiae. London 1660; zu dessen Bedeutung für eine rechtslogische Funktionalisierung des Gewissens und damit eine Verbindung von Rechts- und Tugendpflichten vgl. Hartung: Die Naturrechtsdebatte (wie Anm. 19), S. 74ff. 149 N III, 306,36–307,8.

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Staatlichkeit und deren zentrales Ordnungsinstrument, eine Rechtsordnung, ist nach Hamann als Vergemeinschaftungsform insofern apriori defizitär, als sie nur als Tyrannei zu denken und zu verwirklichen ist – hierin besteht das zentrale politische Argument Hamanns. Diese Analyse bezieht sich allerdings nicht allein auf den jüdischen Staat, sondern – über die anschließend zitierte „wolfianische Wünschelrute“150 – auf alle rational begründete Staatlichkeit überhaupt. Damit richtet sich diese Argumentation nicht allein gegen Wolff oder Mendelssohn, sondern gegen jede Form philosophischen Natur- und Vernunftrechts seit Thomas von Aquin und Duns Scotus. Zugleich macht Hamann unmissverständlich klar, dass das je schon Depravierte staatlicher, also tyrannischer Vergemeinschaftung notwendig instabil ist gegenüber den Ordnungsleistungen göttlicher Gesetze, und d. h. eines theokratischen Systems: Durch schnöde und feindliche Gesinnungen, voll Lügen und Zorns, wird der ganze Mechanismus religiöser und politischer Gesetzlichkeit mit einem höllischen Feuereifer getrieben, der sich selbst und sein eigen Werk verzehrt, daß am Ende nichts als ein caput mortuum der göttlichen und menschlichen Gestalt übrig bleibt. – Ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, kann daher auf kein ander Kirchen-Recht Anspruch machen, als mit genauer Noth geduldet und gelitten zu werden; weil alle öffentlichen Anstalten von blos menschlicher Autorität neben einer göttlichen Gesetzgebung unmöglich bestehen können, sondern Gefahr laufen, mit Dagon Haupt und Hände zu verlieren, daß der Rumpf allein, turpiter atrum desinens in piscem der schönen Philisternatur auf seiner eigenen Thürschwelle liegen blieb – (Hvhb. von mir).151

In dieser notwendigen Schwäche der vis obligandi des jüdischen wie des weltlich-philosophischen Gesetzes, beide durch Genealogie verbunden und daher im „jüdischen Naturalismus“ der Selbstliebe und des Neids152 systematisch vermittelt, gegenüber der lex divina positiva ist die Überzeugung Hamanns gegründet, dass das „höchste Gute“ – auch und gerade in politicis – durch die „Ausführung göttlicher Rathschlüsse durch göttliche Thaten, Werke und Anstalten zum Heil der Welt“153 zu verwirklichen ist. Auch für Hamann, wie für viele seiner Zeitgenossen, ist es nicht der Rechtsstaat, sondern die Form der Gemeinde, die durch moralische oder religiöse Regeln eine stabile und gerechte Ordnung ermöglicht.154 Hamanns politische Theologie ist aber nicht nur im Hinblick auf ihren Rechts- und Staatsbegriff konsequent, auch in Bezug auf das mentale Verhältnis des menschlichen Individuums sowohl zu dieser kritisierten als auch zu der positiv intendierten Gemeinschaft bleibt das Konzept des Königsberger Publi150 151 152 153 154

N III, 307,12. N III, 314,7–19. N III, 313,26f. N III, 312,15–17. Vgl. hierzu Stiening: Glück statt Freiheit (wie Anm. 48), S. 61–103.

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zisten bemerkenswert kohärent: Denn das von ihm an Hand der Kritik an Mendelssohns Naturrecht entwickelte Modell politischer Ordnung ist nicht philosophisch zu begründen. Die Philosophie kann lediglich „das Mißverhältnis des Menschen zum Menschen […] in allen öffentlichen Staatsangelegenheiten“155 darlegen. Hamanns Modell „wahrer […] himmlischer Politik“ muss daher und kann einzig im Modus des Glaubens erfasst werden: Daher heißt die g e o f f e n b a r t e Religion des Christentums, mit Grund und Recht, Glaube, Vertrauen, Zuversicht, getroste und kindliche Versicherung auf göttliche Zusagen und Verheißungen, […].156

Dass in diesem polittheologischen Paternalismus nicht weniger despotische Elemente enthalten sind als im philosophischen, ist allein der Formel von der „kindlichen Zuversicht“ zu entnehmen, die jede Beteiligung an der Entscheidungsfindung „apriori und aposteriori“ ausschließt.157

5.

Hamann auf den Schultern Luthers

Im Hinblick auf die Gründe für das Auftreten von „Confliktfällen“ zwischen Eigennutz und Wohlwollen bei Mendelssohn oder zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe bei Hamann gibt es im Rahmen der philosophischen und theologischen Naturrechtstheorien der Neuzeit unterschiedliche Ansichten über deren Herkunft: 1. So gibt es die These, der Mensch wolle sich selbst erhalten und bediene sich aller Mittel hierzu (Hobbes). 2. Eine andere These besagt, der Mensch sei von Natur aus böse, und daher müsse es rechtliche Regulierungen seines Zusammenlebens geben (so die Hobbes-Interpretation seit Pufendorf). 3. Dann aber gibt es die These, der Mensch sei in seinen äußeren Handlungen vor allem frei und dies müsse, unabhängig von seiner moralischen Qualität, zu Konflikten führen, so Freiheit nur im Zusammenhang der Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Prinzip bestehen könne (Kant). 4. Und natürlich gibt noch die These, der Mensch sei eben sündig und müsse daher durch Gesetze in seinem sündigen Handeln so beschränkt werden, dass er den anderen nicht gefährde (Augustinus).

155 N III, 313,15f. 156 N III, 305,13–15. 157 N III, 309,9. – Vgl. hierzu auch Oswald Bayer: Au Salomon de Prusse. Hamanns Verständnis von Kritik und Politik. In: Acta 2006, 21–32.

„Gegen die Zeiten und das System eines Hobbs“

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Diese hier grob skizzierten, sich erheblich unterscheidenden Theorien für die Entstehung und Legitimität positiver menschlicher Gesetze führen zu grundlegend divergierenden, sich gar ausschließenden Thesen zum Begriff des Rechts: Sehen die These 1., 2. und 4. das Recht als Begrenzungen der menschlichen Freiheit (vinculum iuris) an,158 so begreift These 3 das Recht als Verwirklichung der Freiheit, weil sie als unbegrenzte im Naturzustand zugleich eine Freiheit zu nichts bedeutet und erst im status civilis sich tatsächlich realisieren kann.159 Alle Theorien, die das Recht als Begrenzung der Freiheit des Menschen interpretieren, müssen die dieses Recht in staatlichen Gemeinschaften garantierende Zwangsgewalt als defizitäre Institution begreifen, die es zur Ermöglichung einer uneingeschränkten Realisation der Natur des Menschen zu überwinden oder abzuschaffen gelte. Und das gilt eben auch für Hamann: Zwar verknüpft er wie Kant160 das Recht mit einer durchsetzenden Zwangsgewalt, identifiziert beides aber als ,Zwangsrecht‘. Deshalb muss für Hamann die Institution des Staates vorläufig ergänzt und verbessert werden – prospektiv ist sie natürlich aufzuheben – , und zwar unter anderen durch die Aufhebung der Differenz von Staat und Kirche oder die enge Bindung rechtlicher an moralische Prinzipien. Mit dieser Skepsis gegenüber dem Recht steht Hamann allerdings erneut nicht alleine im späten 18. Jahrhundert.161 Man werfe nur einen Blick in Rousseaus, Forsters oder Lessings politische Theorien, die alle darauf hinauslaufen, sich – wenigstens auch, bisweilen gar ausschließlich – moralpolitischer Instrumente zu bedienen, um die Stabilität und Sicherheit menschlicher Gemeinschaften nicht zu gefährden. Als Beispiels kann auch der Herder des fünften Buches der Ideen dienen, der den Staat überhaupt als defizitäre Vergemeinschaftungsform begreift und auf die Familie als Vorbild für kleine Staaten zurückgreift, weil in diesen kein kodifiziertes Recht, sondern die Macht des Patriarchen für Ruhe und Ordnung sorgt;162 oder auch Christoph Martin Wieland, der am Ende der Geschichte des Agathon in seiner Utopie von Tarent anschaulich ausgestaltet, dass dieses Gemeinwesen deshalb so beispielhaft funktioniert, weil die Untertanen die Gesetze gleichsam als moralische Maximen internalisiert haben, also immer 158 Zu diesem aus dem römischen Recht tradierten Verständnis von Recht vgl. Hartung: Naturrechtsdebatte (wie Anm. 19), S. 17ff. sowie Götz Schulze: Naturalobligation. Rechtsfigur und Instrument des Rechtsverkehrs einst und heute – zugleich Grundlegung einer zivilrechtlichen Forderungslehre. Tübingen 2007, S. 52ff. 159 Vgl. hierzu u. a. Georg Geismann: Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 229–266. 160 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. In: AA VI, S. 231–233. 161 Vgl. auch Gideon Stiening: Von Despoten und Kriegern. Literarische Reflexion auf den sensus communis politicus bei Christoph Martin Wieland und Johann Karl Wezel. In: Denken fürs Volk. Popularphilosophie vor und nach Kant. Hg. von Christoph Binkelmann und Nele Schneidereit. Würzburg 2015, S. 35–56. 162 Siehe hierzu Stiening: Herders Naturrechts- und Staatsverständnis (wie Anm. 49).

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Gideon Stiening

schon wollen, was sie sollen, d. h. was das staatliche Allgemeine von ihnen verlangt.163 Selbst Moses Mendelssohn vertritt dieses Ideal rechtsfreier Vergemeinschaftung, wenn er im Jerusalem festhält: Heil dem Staate, dem es gelingt, das Volk durch die Erziehung selbst zu regieren, das heißt ihm solche Sitten und Gesinnungen einzuflößen, die von selbst zu gemeinnützigen Handlungen führen und nicht immer durch den Sporn der Gesetze angetrieben werden.164

Hamann unterscheidet sich von diesen spätaufklärerischen Vorstellungen von rechtsfreien Tugendrepubliken lediglich durch die Ersetzung der Rechtsnorm nicht durch Moral, sondern durch die göttlichen Gesetze der Heiligen Schrift. Damit ist er allerdings nur konsequenter. Denn im Hintergrund all dieser Interpretationen des Rechts als reine, und daher zu überwindende Zwangsmaßnahme steht eine politische Theologie und d. h. eine genuin theonome Rechtsinterpretation, nämlich die Luthers. Denn für Luther war die Frage nach der Leistung des Rechts für den Christenmenschen im Ausgang von Augustinus eindeutig zu beantworten; so heißt es in Von der weltlichen Obrigkeit etc.: Nun sieh, diese Leute [d. h. alle Rechtgläubigen in Christus und unter Christus] bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts. Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist rechte Gläubige, wäre, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht notwendig oder nützlich. Denn wozu sollte es ihnen dienen, da sie den heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehrt und macht, daß sie niemandem Unrecht tun, jedermann lieben, von jedermann gern und fröhlich Unrecht leiden, auch den Tod? […] Warum das? Weil der Gerechte von sich aus alles und mehr tut, als alle Rechte fordern. Aber die Ungerechten tun nichts Rechtes, darum bedürfen sie des Rechts, das sie lehre, zwinge und dringe wohlzutun. […] Diejenigen, die keine Christen sind, (werden) durchs Gesetz äußerlich von bösen Taten abgehalten.165

Diese Überzeugung, nach der eine ideale Vergemeinschaftung ohne rechtliche Regelungen auskomme bzw. allererst durch die Überwindung aller rechtlichen Ordnung zu erreichen sei, weil der Rechtgläubige je schon wolle, was er im Sinne des gemeinschaftlichen Allgemeinen solle,166 wird die säkulare Rechts- und 163 Vgl. Stiening: Glück statt Freiheit (wie Anm. 48), S. 70ff. 164 Mendelssohn: Jerusalem (wie Anm. 2), S. 138. 165 Martin Luther : Von der weltlichen Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling. Bd. IV. Frankfurt a. M. 1983, S. 43f. 166 Vgl. hierzu u. a. Johannes Heckel: Lex Charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers. Darmstadt 21973, S. 38ff.; Hans Karl Scherzer : Luther. In: Klassiker des politischen Denkens. Hg. von Hans Maier, Hein Rausch und Horst Denzer. München 61986, S. 199–215, spez. S. 204ff. sowie Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 22006, S. 409f.: „Denn für diese Leute, für ,rechte Christen‘, die den Heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehrt und bewirkt, dass sie niemandem Unrecht tun, jedermann lieben und

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Staatstheorie der Neuzeit mit guten Gründen zurückweisen. An Mendelssohns Jerusalem wie an Hamanns Kritik lassen sich diese Gründe gut studieren, stehen doch letztlich beide Positionen auf dem Fundament der durch Luther an die Neuzeit weitergereichten augustinischen Annahme, dass das Recht und dessen Zwang nur dem sündigen Menschen aufzuerlegen sei.

Unrecht bereitwillig leiden, ist – weltlich bezogen – kein Fürst oder Herr, kein Schwert und kein Recht nötig.“

Linda Simonis (Bochum)

Hamanns Konzept der Urkunde zwischen Natur und Geschichte

Das Thema ,Natur und Geschichte‘, dem sich die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen, exponiert ein Begriffspaar, das dem philosophischen und religiösen Denken des späten 18. Jahrhunderts als Spannung, Gegensatz oder Paradoxon entgegentrat: Da ist zum einen die Welt der Erfahrung der Vergangenheit und Gegenwart, die sich im Vorstellungshorizont der Epoche mit dem Ausdruck ,Geschichte‘ verband und deren kritische Erschließung sich die zu jener Zeit im Entstehen begriffene akademische Geschichtswissenschaft zur Aufgabe machte, da ist zum anderen die sei es als göttliche Anlage des Kosmos, sei es als naturhafte Disposition des Menschen gedachte ,Natur‘, die ein über die geschichtlichen Vorgänge hinausreichendes oder doch in jenen nicht aufgehendes Moment bezeichnet. Vor dem Hintergrund dieser im Kern paradoxen Konstellation, die sich Hamann und seinen Zeitgenossen als grundlegende Problemstellung präsentierte, nimmt der vorliegende Beitrag im Begriff der ,Urkunde‘ ein Motiv auf, das im genannten Kontext als eine Art Antwort auf die skizzierte Problematik zu begreifen ist. Dabei gilt es näherhin der Bedeutung dieses Begriffs in Hamanns Überlegungen nachzugehen sowie dessen Rolle im Zusammenhang der Diskussionen zu beleuchten, die Hamann mit seinen damaligen Schriftsteller-Kollegen führte. Es war Johann Gottfried Herder, so darf man annehmen, der Hamann das entscheidende Stichwort und damit den Anstoß zu einer vertieften Reflexion gab, in deren Zuge letzterer sein eigenes Konzept von ,Urkunde‘ bzw. urkundlichen Schreibens entwickelte. Herder lancierte den Begriff im Titel einer Schrift, die Gegenstand des brieflichen Austauschs und Gesprächs zwischen ihm und seinem befreundeten Kollegen war – der Abhandlung Älteste Urkunde des Menschengeschlechts von 1774/1776,1 in der Herder seine Auslegung des alttestamentlichen Schöpfungsberichts (Gen 1-11) darlegte.

1 Johann Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: ders.: Schriften zum Alten Testament. Hg. von Rudolf Smend. Frankfurt a. M. 1993, S. 179–659.

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Linda Simonis

Der Begriff der ,Urkunde‘ gewinnt, soviel sei vorwegnehmend gesagt, in den Verwendungsweisen, die Herder und Hamann in je unterschiedlichen Akzentuierungen von ihm machen, insofern einen besonderen diskursgeschichtlichen Stellenwert, als er sich anzubieten scheint, ein vermittelndes Bindeglied zu eröffnen zwischen Geschichte und Dichtung einerseits, Natur und Geschichte andererseits. Der genannte Terminus ist mit anderen Worten im hier interessierenden Sprachgebrauch Herders und Hamanns durch eine charakteristische Zweiseitigkeit gekennzeichnet: So erscheint er zunächst in den Schriften der beiden in einem Zusammenhang mit einer Reihe von sprachlich und semantisch affinen Begriffen wie ,Urgeschichte‘, ,Ursprung‘, ,Urform‘ etc., denen gemeinsam ist, dass sie im Vorstellungskomplex des Ursprünglichen, Urtümlichen und Anfänglichen auf etwas verweisen, das vor bzw. diesseits des geschichtlichen Verlaufs zu verorten ist, und die so eine transhistorische Bedeutungsdimension evozieren. Daneben und komplementär dazu führt der Ausdruck Urkunde indessen auch Bedeutungsaspekte mit, die ihm als juristischem und gelehrtem Fachbegriff im Kontext der Amtssprache und der Diplomatik, der historischen Urkundenlehre, zukommen.2 Diese zweite Bedeutungskomponente des Terms Urkunde wird vor allem in Hamanns Texten aufgenommen und als relevantes Merkmal herausgestellt. Die Urkunde stellt sich – in dieser Begriffstradition – vor allem als amtliches Schriftstück dar, dem ein bestimmter rechtlicher Status zukommt3 und das es in seinem sprachlichen Gehalt wie in seiner materiellen Beschaffenheit zu erschließen gilt.4 Auch wenn Hamann und Herder als primär religionsgeschichtlich und literarisch interessierte Autoren sich zunächst weniger um Spezialfragen und Details der akademischen Urkundenforschung zu kümmern scheinen, rückt dieser Bereich im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Urkunde gleichwohl mehr und mehr in den Blick, so dass Aspekte der sprachlichen und schriftlichen Verfasstheit des Dokuments, seines historischen und rechtlichen Status, seiner Materialität etc. als wichtige Fragen hervortreten. Betrachtet man die Diskussionen Herders und Hamanns über die Urkunde, die sie ausgehend von der Lektüre des alttestamentlichen Buchs der Genesis führen, im historischen Kontext der Zeit, so gilt es zu bedenken, dass sich unsere beiden Autoren mit ihren Überlegungen auf ein Gebiet begeben, das im damaligen religionsgeschichtlichen und exegetischen Diskurs ein bereits vielfach behandeltes und besetztes Terrain darstellt. Der zeitgeschichtliche 2 Vgl. Thomas Frenz: Urkunde (rechtlich). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. von Adalbert Erler u. a. Bd. 5. Berlin 1998, Sp. 574–576. 3 Vgl. Tilo Werner : Urkunde. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 9. Tübingen 2009, Sp. 934–941, hier Sp. 934f. 4 Vgl. Theo Kölzer : Diplomatik. In: Archiv für Diplomatik 55 (2009), S. 405–424, hier S. 405– 409.

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Hintergrund, vor dem die beiden Autoren ihre Deutungsversuche entwickeln, ist dabei bestimmt vom Aufkommen der historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung,5 die ihnen vor allem durch die Studien von Robert Lowth vertraut war und die im damaligen Kontext als Herausforderung der theologischen Orthodoxie wahrgenommen wurde. Die Beiträge Hamanns und Herders schreiben sich in diesen Zusammenhang ein:6 Obgleich sich die beiden den quellenkritischen Ansatz der historischen Bibelkunde nicht ganz zu eigen machen, teilen sie unterdessen die kritische Stoßrichtung gegen eine als unfruchtbar und verhärtet empfundene offizielle Exegese vom Standpunkt der Orthodoxie.7 Hamann und Herder kommen überdies darin überein, dass sie einer ahistorischen Auffassung der biblischen Texte, sei es im Sinne eines überzeitlichen rationalen, sei es eines dogmatischen Gehalts, kritisch gegenüber stehen.8 Herders Einsatz besteht vor dieser Folie darin, durch das Interesse an der Formgeschichte und poetischen Sprache der alttestamentlichen Texte9 ein Moment geltend zu machen, dass die verkrusteten Strukturen der überkommenen Exegese in Bewegung bringt. Rufen wir uns Einsatz und Argumentationsrichtung von Herders Abhandlung Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, die das Stichwort auch für Hamanns Nachdenken über die Idee der Urkunde gegeben hat, kurz in Erinnerung. In der genannten Schrift, deren Entstehung Hamann aufmerksam mitverfolgte, geht es Herder um eine zugleich poetisch und historisch sensibilisierte Relektüre der Schöpfungsgeschichte der Genesis (Gen 1,1–2,3):10 Er versucht, die biblische Darstellung sowohl texthermeneutisch als literarische Beschreibung einer anfänglichen und zugleich konstitutiven Erfahrung nachzuzeichnen als auch sie im historischen Vergleich im Zusammenhang der antiken orientalischen Kulturen zu begreifen.11 Herder versteht dabei den genannten Text vornehmlich als Manifest einer archaischen Dichtung, die die Erfahrung des Anfangs in poetischer

5 Vgl. hierzu: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Hg. von Henning Reventlow. Wiesbaden 1988; darin besonders den Aufsatz von Dieter Gutzen: Ästhetik und Kritik bei Johann Gottfried Herder, S. 263–285. 6 Vgl. Meik Gerhards: Johann Gottfried Herder. In: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, S. 15–20. https://www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibelmodul/media/wi bi/pdf/Herder_Johann_Gottfried2017-10-10_11_09.pdf. (konsultiert am 10. 02. 2018). 7 Vgl. Christoph Bultmann: Herder’s Biblical Studies. In: A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder. Hg. von Hans Adler und Wulf Koepke. Rochester 2009, S. 233–246. 8 Vgl. Christoph Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tübingen 1999, S. 154–155. 9 Vgl. Silvio Vietta: Poeto-Theologie Herders. In: Herders Wirkung als Provokation / Challenges of Herder’s Legacy. Hg. von Sabine Gross. Heidelberg 2010, S. 75–86. 10 Vgl. Rudolf Smends Kommentar zu seiner Ausgabe von Herders Ältester Urkunde (wie Anm. 1), S. 1365–1367. 11 Vgl. Bultmann: Die biblische Urgeschichte (wie Anm. 8), S. 165–169.

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Sprache zu erfassen versucht.12 Um den Tenor dieser archaischen Poesie nachzuzeichnen, bedient sich Herder eines Stils, der dem seiner Quellen nachempfunden ist und der das Ereignis des Anfangs im Modus sinnlichen Wahrnehmens und Erlebens evoziert. Als besonders eindringliche Metapher erweist sich dabei das Bild des Sonnenaufgangs,13 das Herder seinen Lesern gleichsam als Urszene althebräisch-orientalischer Schöpfungserfahrung vor Augen stellt. Darüber hinaus rückt Herder die Siebenzahl der mosaischen Schöpfungsgeschichte in einem genealogischen Zusammenhang der antiken Mythen- und Religionsgeschichte, insbesondere des Alten Orients.14 Er begreift diese Figur als Bestandteil und Ausläufer einer historisch weit zurückreichenden mythischen Tradition, eines Emblems der Schöpfung, das sich seiner Grundform nach in sämtlichen religiösen Kulturen des Alten Orients findet. Dieses Schema, das Herder in der Gestalt des altägyptischen Hermes vorgeprägt sieht und das sich seinem Ansatz zufolge ebenso in den Figuren der Chaldäischen Orakel ausgeprägt findet wie in den Visionen Zoroasters, ist für Herder im Kern ein bildhaftes, anschauliches Zeichen bzw. Zeichenensemble. Es handelt sich um ein aus sieben Elementen zusammengesetztes Rätselbild, das Herder auch als „Schöpfungshieroglyphe“ bezeichnet15 und das sich in der biblischen Genesis in der Symbolik der sieben Tage der Schöpfung niederschlägt. Im Blick auf Herders Verständnis und Interpretation der Urkunde lässt sich somit festhalten, dass er in seiner Deutung des Konzepts ein sinnliches und wahrnehmungsästhetisches Moment zur Geltung bringt, das zugleich mit einem Interesse an der sprachlichen und poetischen Verfasstheit des untersuchten Textes Hand in Hand geht. Schon bei Herder findet sich somit eine Vorstellung der Urkunde, die deren sprachliche und textuelle Verfasstheit hervorhebt und bis zu einem gewissen Grad auch deren materielle Dimension, d. h. Stil, Gattungen oder literarische Form der Quellen, herausstellt. Das sich hier in Ansätzen abzeichnende Interesse an der materiellen, schriftlichen und dokumentenhaften Dimension, das im Konzept der Urkunde angesprochen ist, bekundet sich stärker und deutlicher in der Aufnahme und Weiterentwicklung dieses Konzepts, die sich bei Hamann beobachten lassen und die jener insbesondere in seinen Äußerungen und Kommentaren zu Herders Abhandlung artikuliert.

12 Vgl. Dieter Gutzen: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Diss. Bonn 1972, S. 110–112. 13 Zu diesem Motiv vgl. Willy Schottroff: ,Offenbarung Gottes ist Morgenroth, Aufgang der Frühlingssonne fürs Menschengeschlecht.‘ Johann Gottfried Herder und die biblische Urgeschichte. In: Bibel und Literatur. Hg. von Jürgen Ebach und Richard Faber. München 1998, S. 259–276. 14 Vgl. Herder: Älteste Urkunde (wie Anm. 1), S. 209–212. 15 Ebd., S. 270–271.

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Wenden wir uns also im Folgenden der Adaptation und Reinterpretation zu, die das genannte Konzept in Hamanns Rezeption erfährt. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Briefwechsel, den Hamann im April 1774 mit dem Philosophen Immanuel Kant über Herders Abhandlung bzw. deren ersten Teil führt16 und der in der Hamann-Forschung bereits vielfach diskutiert wurde.17 Wenn ich hier gleichwohl nochmals auf diesen Briefwechsel zurückkomme, so geschieht dies deshalb, weil Hamann in der Diskussion mit Kant eine bemerkenswerte Reakzentuierung von Herders Ansatz vornimmt, die nähere Aufmerksamkeit verdient. Hamann entwickelt in diesem Briefwechsel mit anderen Worten ein eigenes Konzept der Urkunde, das sich von demjenigen Herders unterscheidet. Die entscheidende Modifikation, die sich in den genannten Briefen abzeichnet, besteht, soviel sei vorwegnehmend gesagt, darin, dass Hamann vor allem das dokumenthafte und rechtliche Moment der Urkunde zur Geltung bringt. Damit man Stellenwert und Reichweite von Hamanns Adaption des Begriffs besser einschätzen kann, seien hier kurz einige Erläuterungen zu Anlass und Rahmen jener Diskussion, die sich zwischen Hamann und Kant über Herders Abhandlung entspinnt, angeführt: Den Einsatz zur gemeinsamen Erörterung von Herders Text gibt Kant, der – noch im Vorfeld der Publikation – die Aushängebögen von Herders Abhandlung erhalten und diese an Hamann weitergeleitet hat. Im Brief an Hamann vom 6. April fasst Kant zusammen, was er für die Grundidee Herders hält, um so seinen Briefpartner zu einer Stellungnahme, Ergänzung oder ggf. Korrektur seiner Deutung aufzufordern. Das Spezifische von Herders Auffassung liegt, so Kant, darin, dass die ,älteste Urkunde‘ hier vor allem als ein Modell der ,Unterweisung‘, d. h. der göttlichen Anleitung des Menschen zum Wissen, fungiert: Jetzt sahe er [Herder] dieses Kapitel [d. h. die biblische Genesis] nicht wie eine Geschichte der Welterschaffung, sondern als einen Abriß der ersten Unterweisung des menschlichen Geschlechts an, mithin als eine Art von methodo tabellari, deren sich Gott bedienet hat, die Begriffe des menschlichen Geschlechts vermittelst einer solchen Einteilung aller Gegenstände der Natur zu bilden.18

In seinem Antwortbrief an Kant vom 7. April19 gibt Hamann seinerseits einen Abriss der Kernthesen von Herders Abhandlung, wobei er Kants Vorschlag 16 Vgl. Immanuel Kant: Briefwechsel. Hg. von Otto Schöndörffer und Rudolf Malter. 3. Aufl. Hamburg 1986, S. 118–134. 17 Vgl. hier vor allem umfassend Ulrich Moustakas: Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann. Berlin, New York 2003, S. 24–61. 18 Immanuel Kant: An Johann Georg Hamann, den 6. April 1774. In: Kant: Briefwechsel (wie Anm. 16), S. 119. 19 Kant: Briefwechsel (wie Anm. 16), S. 120–122.

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keineswegs widerspricht, jedoch andere Aspekte hervorhebt als jener. Er unterstreicht dabei die Idee eines Zusammenhangs und einer Kontinuität altorientalischer Kosmogonien; die Tradition der Urkunde weist historisch weit zurück bis hin zu den Anfängen mythischer und religiöser Vorstellungen, findet jedoch im mosaischen Schöpfungsbericht ihre prägnanteste Ausprägung. Während Hamann in diesem Punkt Herders Argumentation folgt und ihr zustimmt, macht er in anderer Hinsicht unter der Hand eine markante Abweichung von Herders Ansatz geltend. Er weist die von Herder nachdrücklich verteidigte poetische und emblematische Dimension der Schöpfungshieroglyphe zurück, um demgegenüber statt dessen die historische Dimension jener ,Urkunde‘ hervorzukehren: Diese Origines sind kein Gedicht noch morgenländische Allegorie, am wenigsten ägyptische Hieroglyphen: sondern eine historische Urkunde im allereigentlichsten Verstande – ein echtes Familienstück – ja zuverlässiger als das gemeinste physikalische Experiment.20

Wenn Hamann hier den Schöpfungsbericht als „historische Urkunde im allereigentlichsten Verstande“ bezeichnet, dann zielt er damit auf den rechtlichen Status des Sprechakts bzw. Schriftakts der Beurkundung ab. Bei der Urkunde haben wir es, so betrachtet, mit einer institutionellen Sprachhandlung zu tun (einem, in der Terminologie des Sprachphilosophen John Searle,21 zugleich deklarativen wie kommissiven Akt), einer schriftlichen Erklärung, die einen bestimmten Tatbestand bestätigt und beglaubigt und die neben dem attestierten Sachverhalt die Signatur oder das Siegel des Ausstellers als Unterzeichnendem enthält. Was Hamann hier in den Blick rückt, ist der Status der Urkunde als rechtliches Dokument. Als solches beansprucht die Urkunde eine spezifische Bindungskraft und Geltung. Um die Verbindlichkeit und Autorität des urkundlichen Schriftakts deutlich zu machen, grenzt Hamann die Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit, die die Urkunde gewährleistet von der Evidenz naturwissenschaftlich-empirischer Erkenntnis ab. Die Urkunde, so heißt es, sei „zuverlässiger als das gemeinste physikalische Experiment“. Hamann greift hier eine Unterscheidung zweier unterschiedlicher Modi der Wahrheitsfindung auf, die sich bereits in der Antike, bei einigen Autoren der rhetorischen Tradition,22 finden lässt: Der auf dem Verfahren der demonstratio beruhenden Naturkenntnis stellt er ein auf sprachlichen und rhetorischen Techniken der persuasio sich gründendes kulturelles Wissen gegenüber, dem er im Blick auf dessen kulturelle Bedeutsamkeit 20 Ebd., S. 121. 21 John R. Searle: ATaxonomy of Illocutionary Acts. In: ders.: Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge 1979, S. 1–29. 22 Vgl. etwa Marcus Tullius Cicero: De inventione, I, v.

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letztlich einen höheren Stellenwert beimisst. Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Experiment, das lediglich epistemische und empirische Evidenz erzeugt,23 ist die Urkunde imstande, einen Akt der institutio zu vollziehen und damit ein Rechtsverhältnis zu schaffen bzw. eine Tradition zu begründen. Bemerkenswert an der zitierten Stelle ist zudem, dass Herder die Urkunde auch als ein „echtes Familienstück“ bezeichnet. Damit ruft er nicht nur über die Assoziation des affinen Worts ,Schriftstück‘ die schriftliche, textuelle Form des Dokuments in Erinnerung. Im Begriff der Familie, die hier als Referenz, als Träger der Urkunde evoziert wird, benennt er zudem eine Sozialform, der eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen einem Gefüge naturhaft-biologischer Beziehungen24 einerseits und kultureller bzw. rechtlicher Relationen andererseits zukommt. Der Ausdruck ,Familienstück‘ charakterisiert damit genau den Ort, der Hamann zufolge die Position der mosaischen Urkunde, d. h. des biblischen Genesistexts, ausmacht: Dieser ist für Hamann präzise durch eine solche intermediäre Stellung zwischen Natur und Kultur bzw. Natur und Geschichte gekennzeichnet. Dies ist auch der Punkt, in dem sich Hamann und Kant, bei allen unterschiedlichen Nuancierungen ihrer Deutungen von Herders Abhandlung, offensichtlich einig sind. Beide sehen, wenngleich mit verschiedener Akzentuierung, den Moment des Übergangs von Natur zu Kultur bzw. geschichtlicher Tradition als das Spezifikum der Schöpfungsfigur an. Dabei verlagert sich zugleich das Interesse von der abstrakten Figur, die sich in verschiedensten Symbolen und Mythen des alten Orients ausprägt, hin zur konkreten, schriftlich fixierten Form des Textes des Buchs Genesis. Es ist daher in gewisser Hinsicht konsequent, dass Hamann, anders als Herder, den Begriff ,Urkunde‘ vor allem im Blick auf diesen Text gebraucht. Eine entsprechende terminologische Differenzierung nimmt auch Kant vor, wenngleich er, stärker als sein Briefpartner auf die epistemische, wissensvermittelnde Funktion der Schöpfungsfigur abhebt. So verwendet Kant im Brief vom 8. April für das bei den verschiedenen Völkern der alten Welt tradierte Grundschema der Kosmogonie durchgängig die Ausdrücke ,Denkmal‘, ,Denkzeichen‘ oder ,Monument‘, während er die Begriffe ,Urkunde‘ und ,Dokument‘ dem spezifischen, ihm vorliegenden Text der biblischen Genesis-Erzählung vorbehält. Warum er den Term ,Urkunde‘ so distinktiv gebraucht und ihn für den biblischen Text der Genesis-Erzählung reserviert, erläutert Kant in einem Fazit, das er aus Herders

23 Vgl. Moustakas: Urkunde und Experiment (wie Anm. 17), S. 26–27. 24 Auf eine biologische Konnotation von Herders Konzept der Urkunde verweist übrigens auch Michler, wenn er deren Charakter als „Erzeugungsmodell“, als „inneres Prinzip der Generation“ hervorhebt. Siehe Werner Michler : Klassifikation und Naturform. Zur Konstitution einer Biopoetik der Gattungen. In: Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Hg. von Michael Bies. Göttingen 2013, S. 35–50, hier S. 47–48.

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Argumentation zieht:25 „Moses allein“, so Kant, „zeigt uns das Dokument, die Ägypter hatten oder zeigeten nur das Emblem.“ Was Kant hier fokussiert, ist die Urkunde als schriftlich-textuelle Form, als Schriftstück; nur letzterem, nicht dem Symbol oder Bild, kann seiner Auffassung zufolge die Aussage- und Beweiskraft des Dokuments zukommen. In unserem Kontext von näherem Interesse ist die Aufwertung des Mediums Schrift, die sich in der oben beobachteten Wendung der Argumentation im Briefwechsel Kants und Hamanns bekundet. Dabei geht es, genauer gesagt, um Stellenwert und Bedeutung der schriftlichen Aufzeichnung als ,Schriftstück‘, d. h. als Handschrift oder Druck auf einem materiellen Träger, der geeignet ist, dem so aufgezeichneten Text Dauer zu verleihen. In dieser Vorstellung des urkundlichen Schriftstücks wird zugleich implizit vorausgesetzt, dass nur eine stabile, nicht eine flüchtige Substanz geeignet ist, als Träger der Urkunde zu fungieren. Mit dieser Wertschätzung der Schrift in ihrer materialisierten Form als Schriftstück, der hier die Fähigkeit und Beweiskraft des Beurkundens und Attestierens zugetraut wird, bewegen sich Hamann und Kant auf der Linie einer weitreichenden, in den westlichen Gesellschaften seit der frühen Neuzeit zu beobachtenden kulturgeschichtlichen Tendenz, eines mediengeschichtlichen Wandels, in dessen Vollzug die Schrift mehr und mehr als vorrangiges Medium kultureller Kommunikation hervortritt. Hamanns und Kants Beiträge erschöpfen sich indessen keineswegs in der Beobachtung und Bilanz dieses mediengeschichtlichen Umbruchs. Vor allem bei Hamann hat dieses Bekenntnis zur Schrift als Medium der Autorisierung weiterreichende Implikationen. Für Hamann besteht das Besondere des urkundlichen Schriftstücks darin, dass dieses nicht nur ein wirkungsvolles Verfahren des Beglaubigens und Bezeugens bereitstellt, sondern überdies eine Operation bezeichnet, durch die sich das individuelle Schreibprojekt des einzelnen Autors, also Hamanns, mit dem kollektiven Projekt einer kulturellen Gemeinschaft verbindet. Die damit skizzierte Auffassung von Schrift in ihrer materiellen Form formuliert Hamann unterdessen nicht nur als philologische Beobachtung und theoretische Einsicht, er bringt sie vielmehr auch in seiner eigenen Schreibpraxis zur Geltung, indem er in seinen Texten Verfahren des Beglaubigens und Bezeugens als konkrete Schreibakte vorführt. Eine solche Vorgehensweise zeigt sich in Hamanns letztem Brief an Kant zu diesem Thema,26 der die hier vorgestellte kleine Serie von Briefen zwischen Hamann und dem Königsberger Philosophen abschließt. Hamann bekräftigt dort zunächst die von Kant im vorangehenden Brief geäußerte These vom 25 Kant: An Johann Georg Hamann. 8. April 1774. In: Kant: Briefwechsel (wie Anm. 16), S. 123–126, hier S. 124. 26 Kant: Briefwechsel (wie Anm. 16), S, 126–130.

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Vorrang der Schrift vor anderen Medien, vor Bild und Klang: „So wahr ist es, daß Sprache und Schrift die unumgänglichste Organa und Bedingungen alles menschlichen Unterrichts sind, wesentlicher und absoluter wie das Licht zum Sehen und der Schall zum Hören.“27 Zwar hält sich Hamann in seinem Brief hinsichtlich einer expliziten Bewertung von Herders Thesen zunächst zurück, versteckt sich hinter einer Fülle verrätselter Anspielungen, wie man sie von seinem charakteristischen Cento-Stil kennt, und nimmt, indem er eine Stelle aus der zweiten Satire des Persius zitiert, die Haltung philosophischer Unwissenheit an: „MINIMUM est, quod scire laboro.“28 Schließlich jedoch schaut er dann doch hinter der Maske hervor, um seine Sympathie mit dem Verfasser der Ältesten Urkunde und dessen Text zu bekunden. Diese Zustimmung verrät sich nicht zuletzt darin, dass Hamann die von Kant angebotene Formel des Dokuments aufnimmt, wenn er die mosaische Genesis als das „unverdächtigste und reinste Dokument des menschlichen Geschlechts“ bezeichnet.29 Hamann bleibt indessen bei dieser aus der Distanz des Bibelphilologen und Exegeten geäußerten Feststellung nicht stehen. Vielmehr bringt er sich selbst als sprechendes bzw. schreibendes Ich ins Spiel, um sich in den postulierten Zusammenhang von Urkunde, Schrift und mythischem Stiftungsakt einzuschreiben. Durch diesen Kunstgriff gewinnt Hamanns Äußerung eine Nachdrücklichkeit, die aus der Verknüpfung von subjektiver, bekenntnishafter Selbstaussage mit dem Modus urkundlichen Bezeugens hervorgeht. Hamann führt sich mit anderen Worten selbst bzw. den von ihm vollzogenen Vorgang des Briefschreibens in den durch das Gründungsdokument der Urkunde eröffneten Kommunikationszusammenhang ein. Denn als Kommentator von Herders Text, der seinerseits eine Auslegung der Urkunde ist, kann Hamanns Brief beanspruchen eine (wenngleich vermittelte) Form der Auslegung und Fortschreibung der Urkunde bzw. der durch sie gestifteten Tradition zu sein. Hamanns Brief hat somit, folgt man dieser reflexiven Wendung, an der konstituierenden Wirkungskraft der Urkunde teil bzw. erneuert diese. Diese Wiederaufnahme des urkundlichen Akts, durch die sich Hamann zugleich der von ihm nachgezeichneten Tradition der Genesis einschreibt, erfolgt durch die Schlussformel des Briefs: „Quod scripsi, scripsi!“30 Hamann stellt durch diese Formel, die das berühmte Diktum des Pilatus zitiert (vgl. Joh 19,22), nicht nur einen Bezug zur Kreuzigung Christi und damit zum Heilsgeschehen her ; es ist nicht zufällig ein institutioneller Sprechakt, den er hier zitiert und als Figur des Beglaubigens und Bezeugens zur Geltung bringt. Hamann nutzt also eine vorge27 28 29 30

Ebd., S. 126. Ebd., S. 129. Ebd., S. 128. Ebd., S. 130.

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fasste Wendung, ein biblisches Zitat, um es zu einem Element seines eigenen Diskurses, zu einem Ausdruck des Ich-Sagens zu machen, mit dem er seinem Brief gewissermaßen eine Unterschrift, eine Siegelung verleiht. Das ,Quod scripsi, scripsi‘ ist dabei zugleich ein Signum von Hamanns individueller Autorschaft wie ein Akt, durch den er sich der von ihm evozierten kollektiven Tradition biblischer und exegetischer Rede einschreibt. Um diesen Vorgang des Sich-Einschreibens genauer zu fassen, kann man an das Konzept des Formulars anknüpfen, das Knut Martin Stünkel, in Anschluss an den Philosophen Jürgen Frese, auf der Tagung des 9. Internationalen Hamann-Kolloquiums vorgeschlagen hat.31 Der aus der Rechts-und Verwaltungssprache entlehnte Begriff des Formulars meint dabei eine formale Vorgabe, die eine spezifische Kombination aus vorgefassten Inhalten und Leerstellen umfasst und so dem Leser bzw. Subjekt ein Angebot macht, das ihn zur inhaltlichindividuellen Ausfüllung einlädt.32 Der biblische Text lässt sich als ein solches Formular auffassen: Der Leser ist aufgefordert, sich diesen Text zu eigen zu machen, indem er ihn liest, sich aneignet, daraus zitiert und damit am Fortwirken und der Entfaltung von dessen Bedeutungsgehalt partizipiert. Nähere Aufmerksamkeit verdient hier nicht zuletzt die institutionelle Dimension, die dem Ausfüllen des Formulars als einer juristischen Operation innewohnt. Die Eintragung verweist auf einen durch sie eingesetzten Pakt oder Vertrag, den der Leser mit dem Buch bzw. dessen Autor schließt.33 Das Formular der biblischen Genesis ermöglicht und bewirkt so eine Verflechtung bzw. Vermittlung von individueller und kollektiver Ebene, indem es die einzelnen Leser in einem Kollektiv vereint und so eine Gemeinschaft konstituiert. Der Begriff der ,Urkunde‘ erscheint also bei Hamann, so lässt sich festhalten, als Antwort auf die Frage, wie im Bereich der Kultur ein verbindliches Sprechen bzw. Kommunizieren erzeugt und gewährleistet werden kann. Die Figur, die dies leistet, ist der urkundliche Schriftakt, der als kommissiver Akt soziale und rechtliche Bindungen herstellt, die Geltung beanspruchen, und der so dazu disponiert ist, eine Gemeinschaft, eine Institution oder Tradition zu begründen. Der oben bemerkte Zusammenhang von urkundlichen Schreiben und Gründung beschränkt sich indessen in Hamanns Denken nicht auf den Bereich des Religiösen, sondern bezieht sich gleichermaßen auf den Bereich der Kultur und 31 Vgl. Knut Martin Stünkel: Biblisches Formular und soziologische Wirklichkeit – Elemente einer Hamannschen Soziologie. In: Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft. Hg. von Manfred Beetz und Andre Rudolph. Berlin, Boston 2012, S. 72–94. Stünkel schließt hier an die Konzeption des Formulars an, das der Philosoph Jürgen Frese entwickelt hat. Vgl. Jürgen Frese: Prozesse im Handlungsfeld. München 1985, S. 155–172. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Stünkel: Biblisches Formular (wie Anm. 31), S. 80–81.

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Kulturgeschichte. Diese weitere Bedeutung des Motivs sei abschließend anhand einer kleinen Anekdote dargelegt, die Hamann in einer seiner Kritiken anführt: Verstehen Sie gut das Spanische? frug Mylord Oxford den Dichter Rowe, der diese Frage für eine Anwartschaft zu einer guten Bedienung in auswärtigen Geschäften auslegte, und sich in wenigen Wochen der Sprache mächtig zu machen suchte. Als er nach erreichter Absicht vor seinem Mäcen wieder erschien, exclamirte dieser über des armen Dichters großes Glück, die Geschichte des Don Quixote in ihrer Urschrift lesen zu können.34

Die zitierte Anekdote, die Hamann aus Anlass des Erscheinens einer neuen deutschsprachigen Übersetzung des Don Quijote35 erzählt und die er seiner Rezension dieser Übersetzung in der Königsberger Zeitung vom 4. März 1776 voranstellt, ist mehr als nur eine unterhaltsame Geschichte einer witzigen Begebenheit. Was Hamann hier gleichsam im Plauderton vorträgt, umkreist ein für Hamanns Auffassung des historischen und kulturellen Überlieferungsprozesses wichtiges Konzept – das der ,Urschrift‘. Der Protagonist der Anekdote, der die Einladung, das Spanische zu lernen, als Angebot einer einträglichen Stelle im diplomatischen Dienst missversteht, wird ja mit der Aussicht getröstet, nun das Meisterwerk des Don Quijote im Original lesen zu können. Die Pointe der Erzählung beleuchtet dabei nicht nur die Diskrepanz zwischen dem pragmatischen Denken des armen Dichters und der idealistischen Haltung seines prospektiven Mäzens. Sie exponiert vielmehr im Begriff der ,Urschrift‘ ein Konzept, das die Frage nach der origo, nach dem Anfang und Ursprung einer Tradition aufwirft. Denn auch wenn er die CervantesVerehrung des Lords nicht ohne ironisches Augenzwinkern präsentiert, teilt Hamann doch das Interesse an der ,Urschrift‘ und ein Stück weit auch deren Faszination. Im weiteren Verlauf seiner Besprechung gesteht er, selbst einmal eine Wallfahrt in die Heimat des Autors des Don Quijote geplant und zugleich den guten Vorsatz gefasst zu haben, Spanisch zu lernen, um dieses Werk im Original lesen zu können. Die Lektüre der neuen Übersetzung habe, bei ihm diesen Wunsch erneuert und in ihm die Lust geweckt,

34 Johann Georg Hamann: Rezension zu Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von der Mancha. In: Hamanns Schriften. Bd. 2, Vierter Theil. Hg. von Friedrich von Roth. Berlin 1823, S. 467–468. Zu dieser Rezension vgl. auch Wolfgang-Dieter Baur : Johann Georg Hamann als Publizist. Zum Verhältnis von Verkündigung und Öffentlichkeit. Berlin, New York 1991, S. 98–99. 35 Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von der Mancha. Neue Ausgabe aus der Urschrift des Cervantes. In sechs Bänden, von Friedrich Justus Bertuch, 1775. Zu dieser Übersetzung vgl. Achim Hölter : Zum spanisch-deutschen Diskurs des Gewebes und der Übersetzbarkeit im ,Don Quijote‘. In: Miguel de Cervantes’ ,Don Quijote‘. Explizite und implizite Diskurse im ,Don Quijote‘. Hg. von Christoph Strosetzki. Berlin 2005, S. 347–363, hier S. 350–351.

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„sich auch den Genuß jener idealischen Glückseligkeit zu verschaffen.“36 Hamann misst somit der ,Urschrift‘ einen besonderen Status, eine spezifische Autorität bei. Diese Einschätzung hat offenbar damit zu tun, dass es sich hier um einen Text handelt, der dazu disponiert ist, einen Anfang zu machen, d. h. einen Diskurs zu begründen, eine kulturelle Tradition zu stiften. Diese Fähigkeit, so das Argument, kommt dem Don Quijote in seiner ursprünglichen spanischen Fassung zu. In diesem Kontext ist aufschlussreich, dass Hamann das Wort ,Urschrift‘ verwendet statt des im ausgehenden 18. Jahrhundert bereits geläufigen Lehnworts ,Original‘. Auf diese Weise stellt Hamann eine Verbindung zu den verwandten Ausdrücken ,Ursprung‘ und ,Urkunde‘ her und legt es nahe, die „Urschrift“ in einen Zusammenhang mit diesen beiden anderen Begriffen zu stellen. Der Don Quijote teilt die traditionsbildende Fähigkeit der Urkunde insofern, als er den Einsatz und Anstoß gibt zu einer weitverzweigten literarischen Rezeptions- und Übersetzungsgeschichte, die bis in die Gegenwart Hamanns anhält. Das Kompositum ,Urschrift‘ enthält zudem als einen Bestandteil das Wort ,Schrift‘ und ruft so einen Bezug zum Akt des Schreibens ab. Hamann steht somit eine bestimmte materielle Form des Textes in seiner originalen Form vor Augen. Dabei ist das Bild der Urschrift des Don Quijote, das ihm vorschwebt, wohl weniger der überlieferte Erstdruck des Romans aus dem Jahr 1605. Vielmehr möchte uns Hamann gewissermaßen das von Cervantes selbst eigenhändig verfasste Manuskript vor Augen stellen (das, wie wir wissen, ja gar nicht überliefert ist).37 In der ,Erfindung des Manuskripts‘, die sich hier abzeichnet, artikuliert sich eine Sehnsucht nach der Handschrift, nach dem verlorenen Autographen, die sich paradoxerweise unter den Bedingungen einer mediengeschichtlichen Konstellation bekundet, in der sich längst die Typographie bzw. der Buchdruck als vorherrschendes Medium der Gesellschaft etabliert hat.38 Das Konzept der Urschrift, dass Hamann geltend macht, verweist auf die Handschrift des Autors und damit zugleich auf dessen Signatur. Mit der Unterschrift verbindet sich seit je die Vorstellung des Individuellen, Singulären und Authentischen. Dem handschriftlichen, eigenhändigen Schriftzug wird die Fähigkeit zugetraut, die Gültigkeit oder Wahrheit einer Aussage zu bezeugen.39 Diesen engen Konnex von schreibendem Subjekt und Manuskript hat Hamann im Blick, 36 Vgl. Hamann: Rezension zu Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote (wie Anm. 34), S. 468. 37 Zur Textgeschichte des Romans vgl. das Vorwort von Francisco Rico in: Miguel de Cervantes: Don Quijote de la Mancha. Hg. von dems. Barcelona 2001, S. CXCII–CCXLII. 38 Vgl. Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Zu Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Frankfurt a. M. 2015, Kap. 3. 39 Vgl. Thomas Macho: Handschrift – Schriftbild. Anmerkungen zu einer Geschichte der Unterschrift. In: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. Hg. von Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer. München 2005, S. 413–422.

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wenn er von der ,Urschrift‘ des Don Quijote spricht. Es ist der vom Autor selbst geschriebene und von ihm unterzeichnete Text, der Hamann vorschwebt und dem er einen besonderen Stellenwert, eine spezifische Autorität beimisst. Von hier aus lässt sich die Verbindung zum Konzept der ,Urkunde‘ präzisieren: Die Urschrift als das vom Autor selbst unterschriebene Schriftstück stellt zugleich eine Urkunde dar.40 Ihr eignet der Status eines Dokuments, eines Schriftstücks, das imstande ist, die Echtheit und Gültigkeit eines Ereignisses oder eines Aktes zu bezeugen. Man könnte nun fragen, was hier eigentlich attestiert werden soll: Beim Don Quijote haben wir es bekanntlich nicht mit dem Bericht einer realhistorischen Begebenheit zu tun, sondern mit einer literarischen Fiktion. Was die Urschrift bezeugt, ist also zunächst einmal der Akt des Schreibens selbst, der als fundierende Operation eines durch ihn zu stiftenden Überlieferungsgeschehens hervortritt. Überdies wird dem Don Quijote durch das Zertifikat der Urschrift eine besondere Aussage- und Wirkungskraft und, damit verbunden, ein spezifisches Sinnpotenzial, eine kulturelle Bedeutsamkeit zugeschrieben. Dem Roman wird zugetraut, eine Vorlage bereit zu stellen und so auch künftigen Lesern als Muster der Selbstbeschreibung und Selbstdeutung zu dienen. Die Urschrift des Don Quijote ermöglicht also eine Vermittlung von individueller und kollektiver Ebene, indem es die einzelnen Leser – SpanischSchüler, Kritiker, Übersetzer und mitunter auch Don Quijotomanen – vereint und so eine Gemeinschaft konstituiert. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich die Urschrift für Hamann mit einem Imperativ der Treue verknüpft, die in diesem Fall die Gestalt einer Treue zum Wort annimmt. Hamann macht diese Forderung geltend, wenn er es als Schwäche oder Fehler der von ihm rezensierten Übersetzung notiert, den Grundsatz der Treue zum Original vernachlässigt zu haben.41 Die hier von Hamann geltend gemachte Maxime verdankt sich dabei nicht primär oder nicht ausschließlich einem philologischen Ethos des Autors. Die Treue, die Hamann vom Übersetzer fordert, hat vielmehr mit der juristischen Dimension, dem Status des Gründungsakts42 zu tun, um den es Hamann geht und der in der Operation des Übersetzens seine Wiederaufnahme und Fortschreibung finden soll. Im Zuge der Rezeption des Cervantischen Romans setzt sich mithin ein Vertrag, ein kollektiver Pakt ins Werk, den 40 Vgl. Andrea Jördens, Thomas Balke, Irene Berti und Natalie Maag: Beurkundungen. In: Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Hg. von Michael R. Ott, Rebecca Sauer und Thomas Meier. (=Materiale Textkulturen 1). Berlin, Boston, München 2015, S. 455–468. 41 Vgl. Hamann: Rezension zu Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote (wie Anm. 34), S. 470. 42 Zum Konzept des Gründungsakts vgl. grundlegend Friedrich Balke: Gründungserzählungen. In: Einführung in die Kulturwissenschaft. Hg. von Harun Maye und Leander Scholz. München 2011, S. 23–48.

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die Leser und Übersetzer des Don Quijote untereinander wie mit diesem Text eingehen, indem sie sich zur Treue gegenüber der Form und Bedeutung des Originals verpflichten und so eine Tradition, einen aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft fortwirkenden Kommunikationszusammenhang, hervorbringen. Der Don Quijote in seiner ursprünglichen Fassung bezeichnet also für Hamann ein Gründungsereignis, das dieser in der vorgestellten Szene des schreibenden Autors Cervantes anschaulich vor Augen führt.43 Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass gerade dem Ritter von der traurigen Gestalt, den man doch als verspäteten Nachfahren eines vergangenen Zeitalters, als in die Gegenwart des Cervantes verirrten vormodernen Menschen vorstellen mag, die Rolle zugedacht wird, als Protagonist eines solchen Gründungsereignisses zu fungieren. Wenn somit der Themenkomplex der Gründung und Beurkundung in Hamanns Lektüre des Don Quijote und seiner Rezeption ein Stück weit parodistische Züge annimmt, so steht dies gleichwohl nicht im Widerspruch zur Bedeutung und Relevanz, den jener Gegenstand in Hamanns Ausführungen beansprucht. Denn sofern man hier von Parodie sprechen will, haben wir es zweifellos mit einer parodia seria, d. h. einer ernsthaften Parodie ohne herabsetzende Intention, zu tun.44 Fassen wir die oben dargelegten Beobachtungen rückblickend zusammen: Die Begriffe der ,Urkunde‘ und ,Urschrift‘ verweisen, so lässt sich festhalten, in Hamanns Texten auf einen bestimmten Problemzusammenhang der Gründung und Traditionsbildung. Die genannten Begriffe stehen in diesem Kontext für die Idee eines urkundlichen Schreibens bzw. Schriftakts, der – nicht zuletzt aufgrund einer spezifischen medialen Disposition – geeignet erscheint, eine Basis verbindlichen Sprechens und Schreibens zu schaffen und so den anvisierten Gründungsvorgang ins Werk zu setzen.

43 Man kann hier, in Anschluss an Rüdiger Campe von einer (imaginierten) Schreibszene sprechen. Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1991, S. 759–772. 44 Vgl. Jörg Robert: Nachschrift und Gegengesang. Parodie und ,parodia‘ in der Poetik der frühen Neuzeit. In: Parodia: Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Reinhold F. Glei und Robert Seidel. Tübingen 2006, S. 47–66, hier S. 47–49.

Natalie Chamat (Berlin)

Hamanns islamisch-arabischer Orient – Eine Skizze Sevilla Alcazar. Eine Architektur, die dem ersten Zuge der Phantasie folgt. Sie ist durch praktische Bedenken ungebrochen. Nur Träume und Feste, deren Erfüllung, sind in den hohen Gemächern vorgesehen. Darinnen werden Tanz und Schweigen Leitmotiv, weil alle menschliche Bewegung vom stillen Getümmel des Ornamentes eingesogen wird. Walter Benjamin, Einbahnstraße

Diese Untersuchung hat sich aus der Frage entwickelt, ob und inwiefern sich – neben der aufblühenden Orientalistik – eine unterschwellige Wirkung der Orientrezeption von Johann Georg Hamann über Johann Gottfried Herder bis zu Johann Wolfgang von Goethes West-Östlichem Divan aufspüren lässt, welche Haltung sich hinter den polemisch-humoristischen Verwirrspielen Hamanns verbirgt, die Herder im Briefwechsel mit seinem Lehrer zu einer so rätselhaften Aussage motivieren konnte: „[W]enn ich ein Türkischer Kamelstreiber seyn kann, der vor seinem heil. Paßgänger, der den Koran trägt, heilige Äpfel auflieset.“1 Was Herder und Hamann verbindet, ist das Interesse an einer lebendigen Sprache im Umgang mit historischen Texten, mit der Bibel als hermeneutischem und pädagogischem Medium zur Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Hamanns Studien der arabischen Sprache und Geschichte sowie seine Koranlektüre sind eng verflochten mit den Kreuzzügen des Philologen, zeitgleich mit seinem Lektüreprogramm griechischer Literatur und Philosophie und vermutlich angeregt durch die von Johann David Michaelis initiierte Orient-Expedition. Neben der vorchristlichen griechischen und der hebräisch-jüdischen Seite des Orients zeichnet sich der nachchristliche arabisch-koranische Orient als ein Anspruch des Fremden ab, der dem lutherbegeisterten Hamann in besonderem Maße eine schöpferische Leistung des Antwortens abverlangt.

1 ZH II, 315.

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1.

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Arabesken: Menschen und Bücher

Auf der Reise nach Riga 1752 hat Hamann die Gelegenheit, einen leibhaftigen Orientalen kennenzulernen. Zu seinen Reisegefährten zählt ein „ehrliche[r] Armenianer aus Persien, der den guten Willen hat uns vieles aus seinem Lande zu erzählen, wenn er deutsch könnte.“2 Im Juni 1775 erwähnt er Herder gegenüber beiläufig, dass eben dieser Armenier einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei.3 George Bassa, ein Kaufmann türkischer (?) Herkunft, mit dem auch ein verlorener Briefwechsel stattgefunden haben muss,4 ist über viele Jahre vor allem in Briefen an Johann Gotthelf Lindner präsent, demgegenüber Hamann 1755 bekennt: „Sie können sich nicht vorstellen wie sehr ich meinen ehrl. Baßa vermiße. Ich würde sonst schon eingepackt haben v noch einmal so vergnügt und ruhig jetzt leben. Die Zeit wird mir unerhört v. unerlaubt lang. Ich weiß sie mir mit keinem andern als mit ihm zu vertreiben.“5 Solche Freundschaftsbekundungen wechseln mit ernsthaften Verstimmungen (die Hamann u. a. auf die durchaus originelle Idee einer Selbstdisziplinierung durch Harndrang beim Schreiben bringen)6 ab – wo nachvollziehbar, im Kontext finanzieller Verpflichtungen. Erwähnung findet er mehrfach in den Gedanken über meinen Lebenslauf wie auch später in einem ausführlichen Bericht an Herder, der den Kaufmann jedoch selbst nicht kennt.7 Man kann nur vermuten, dass das orientalische Manuskript, das Hamann im August 1754 seinem Vater mit der Bitte übersendet, eine Kopie und deren Übersetzung zu veranlassen, weil es „ein[em] gute[n] Freund, dem seine Geburt ein Geheimnis ist v kein Mittel hat das Rätsel seines Standes aufzulösen,“8 seiner Eltern Namen enthüllen soll, aus George Bassas oder des ,Armenianers‘ Händen stammt oder dass hier eine weitere orientalische Bekanntschaft ihre Spuren hinterlassen hat. Die Erwähnungen des Original-Manuskripts, auf das Hamann immer wieder besorgt und drängend zurückkommt, verlieren sich Anfang 1755. Am 28. April 1753 schreibt Hamann an seinen Bruder : „Ich bin jetzt eben in der Hälfte des Lebens Mahomets, das der Graf von Boulainvilliers geschrieben hat. Dieser Prophet, der Alexander M. in seinem Alkoran auch dazu gemacht hat, verdient, daß man ihn genauer kennen lernt.“ Er referiert ausführlich, dass der Prophet des Islam in diesem Buch als Reformator vorgestellt werde, dessen Religion eine Antwort auf den Niedergang der christlichen Kirche und Ge2 3 4 5 6 7 8

ZH I, 13; Vgl. auch N II: Gedanken über meinen Lebenslauf, 22. ZH III, 188. Vgl. u. a. ZH II, 31, 46, 48, 51, 86. ZH I, 115. ZH II, 48. Esel und Kamele sind Passgänger. Vgl. ZH II, 56, 332ff. ZH I, 78, 81, 82, 84, 93.

Hamanns islamisch-arabischer Orient – Eine Skizze

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wohnheiten darstellte und dem Temperament seines Volkes zu seiner Zeit entsprach. Hamanns Interesse ist hinreichend geweckt, um weitere Lektüren zu planen: „das Leben des Mahomet […], das Jean Gagnier ein Lehrer der morgenländischen Sprachen in Oxford geschrieben hat […] v. dem ersteren entgegengesetzt zu seyn scheint […]“ sowie der „Alcoran des Mahomet von du Ryer übersetzt […].“9 Im ersten Königsberger Notizbuch, das auf die Hofmeisterzeit vor der Reise nach London datiert wird, findet sich die Übersetzung des polemischen Essays von Albert Radicati Graf von Passerau von 1734 Vergleichung der mahomedanischen Religion mit der heidnischen von Indostan, durch Ali-Ebn-Omar, Moslem in einem Briefe an Cinkniu Braminen zu Visapour. Aus dem Arabischen übersetzt.10 In den zugehörigen Anmerkungen werden Hamanns Londoner ,Erweckung‘ ebenso wie seine späteren Bibel- und Koranstudien auf diese eine Schrift zurückgeführt.11 Der frühe Brief an den Bruder weist jedoch darauf hin, dass er sich umfassender mit der Figur des Propheten Mohammed und der Geschichte des islamisch-arabischen Orients auseinandergesetzt hat. Im Oktober 1760 nimmt Hamann das Studium der arabischen Sprache und Grammatik auf, er arbeitet mit Leihbüchern12 und bittet Lindner darum, für ihn die Augen nach dem arabischen Alkoran und sonstigen arabischen Büchern offenzuhalten.13 Zwischenzeitlich reserviert er in seinem Wochenplan vier Vormittage für das Arabische, während zwei weitere dem Griechischen gewidmet sind und das Buch Hiob sowie das Neue Testament jeweils am Nachmittag den Arbeitstag beschließen.14 Am 29. April 1761 meldet Hamann Lindner, dass er „[m]it dem arabischen […] soweit fertig [sei], daß der Alkoran in der Grundsprache und Golii arabisch Wörterbuch zum Gebrauch auf mich warten.“15 In seinem nächsten Brief empfiehlt (und übersendet?) er Lindner, der seine Studien mit steigendem Interesse zu verfolgen scheint, Theodor Arnolds deutsche Übertragung (1746) der englischen Koranübersetzung von George Sale (1734), während Hamann selbst mit der im deutschsprachigen Raum ersten arabischen Druckausgabe Abraham Hinckelmanns von 1694 arbeitet:16 „Hinckel9 10 11 12 13 14 15 16

ZH I, 44f. N IV, 193–207. N IV, 481f. „Meine Bibliothek wächst, ich weiß selbst nicht wie – Noch ein arabisch Lexicon und ein Alcoran fehlen mir zwar, ich brauche sie aber noch nicht, weil ich sie habe.“ Brief an Lindner vom 19. 12. 1761, ZH II, 124. ZH II, 46, 49, 50. ZH II, 59; weitere Versionen seines Wochenplanes 49, 81, 89. ZH II, 81. Zu den Koranstudien existieren Notizblätter, auf denen Hamann arabische Textauszüge und ihre lateinischen Entsprechungen zu den ersten drei Suren festgehalten hat, die leider nicht in der Werkausgabe abgedruckt sind (Vgl. N V, 282, 387). Möglicherweise ist er anschließend

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manns Vorrede zum arabischen Alkorann hat mich ganz begeistert, und ich habe fast Lust bekommen als Untercopist mit einem Abgesandten nach den Türken zu gehen, ehe ich vierzig Jahre alt würde. Komt Zeit, komt Rath.“ Diese explizite Beschreibung seines Leseeindrucks sticht hervor, auch wenn sie inhaltlich unbestimmt bleibt, da Hamann sich ansonsten bei diesem Thema eher zurückhält; im gleichen Brief erwähnt er jedoch anlässlich seiner Erkundigungen über den ersten „Lehrmeister des Arabischen in Europa […,] [d]aß sehr viele Liebhaber dieser Sprache irrende Ritter geworden ihr zu Gefallen.“17 Am 25. August 1761 kann Hamann vermelden, dass er sowohl die Koran-, wie auch seine parallel betriebene Aristoteles-Lektüre beendet hat. Bis 1763 finden sich noch briefliche Erwähnungen zu Arabisch-Studien, immer häufiger jedoch vor allem dahingehend, dass sie nicht stattfinden, was sich dadurch erklären lässt, dass Hamann „mehr am Alkoran als dem arabischen gelegen“ war, dessen Lektüre er bereits absolviert hat.18 Lakonisch notiert er am 10. Juli 1762, nachdem er eineinhalb Jahre auf diese Bücher gewartet hatte: „Golii Lexicon und Hinckelmanni Alcoran habe recht nach Wunsch von Leipzig erhalten. Arbeitsgeräthe und wenig Lust dazu.“19 Dass Hamann Anfang 1763 mit nachlassendem Enthusiasmus noch um die Wette studiert, um rechtzeitig vor der Rückkehr der Forscher der von Johann David Michaelis initiierten Orient-Expedition „für das bessere Verständnis der biblischen Schriften und ganz allgemein für die Kenntnis der arabischen Welt“20 ausreichende Sprachkenntnisse zur Verfolgung und sicher auch aktiven Teilnahme an den zu erwartenden Debatten vorweisen zu können, ist vor allem ein rückwirkender Hinweis auf den Auslöser seiner Arabisch- und Koranstudien. Zunächst muss man festhalten, dass auch das arabische Studienprogramm eng mit der Produktionsphase der Kreuzzüge des Philologen verflochten ist. Während das Lateinische Exercitium und die jugendlichen Gelegenheitsgedichte

17 18 19 20

zu einer eher kursorischen Parallellektüre von arabischem Original und lateinischer Übersetzung übergegangen. ZH II, 83. ZH II, 103, 161. Eine ähnliche Aussage findet sich im Kleeblatt Hellenistischer Briefe: „Da ich bloß dem Geist der Alten nachspüre, und mir mehr an dem Genie als der Grammatick der griechischen Sprache gelegen […].“; N II, 174. ZH II, 154. Eric Achermann: Reisen zwischen Philologie und Empathie. Michaelis und die NiebuhrExpedition. In: Wissenschaftliches Reisen – reisende Wissenschaftler. Zur Professionalisierung der Reiseformen zwischen 1650 und 1800. Hg. von Christian von Zimmermann. Cardanus 3 (2002), S. 51–78, hier S. 54. Zum Verhältnis Kant, Hamann, Goethe, Michaelis siehe auch: Ulrich Hübner : Johann David Michaelis und die Arabien-Expedition 1761–1767. In: Carsten Niebuhr (1733–1815) und seine Zeit. Hg. von Josef Wiesehöfer und Stephan Conermann. Stuttgart 2002. S. 363–402, hier S. 371ff. Zur Expedition siehe auch: Wolfgang Griep: In das Land der Garamanten oder Die Macht der Texte. In: Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge. Hg. von Philipp Bracher, Florian Hertweck und Stefan Schröder. Berlin 2006. S. 25–64, hier S. 26–37.

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vermutlich vor jeder Auseinandersetzung mit diesem Themenkreis liegen, ist das Denkmal bereits nach ersten Lektüren zur Biografie Mohammeds verfasst. Der Versuch über eine akademische Sprache liegt noch vor Beginn der systematischen arabischen Sprachstudien, alle weiteren Texte entstehen jedoch, während Hamann zunächst die arabische Sprache studiert und schließlich den Koran auf Arabisch und Lateinisch liest. Insbesondere für Vorwort und Register, für die Näschereyen und die beiden Texte, die in dieser Sammlung zum ersten Mal publiziert werden, Kleeblatt Hellenistischer Briefe und Aesthaetica in nuce, aber auch hinsichtlich der Textauswahl und -anordnung muss also von einem vertieften Kenntnisstand hinsichtlich der Verwendung orientalisierender Anspielungen und Metaphern ausgegangen werden.

2.

Im Schatten Luthers: Herders Kritik

Johann Gottfried Herder schreibt im März 1769 in Befürchtung einer Verstimmung anlässlich seines Torsos21 an Hamann: „Ihre Kreuzzüge hatten, dünkt mich, die abentheuerliche Absicht, zu kreuzziehen u. die Orientalische Sprache Romantisch zu brauchen, wo Sie damit Ihre Zwecke ausrichten konnten.“22 Hamann beschwichtigt in seiner Antwort vom 9. April, betont jedoch auch, sich missverstanden zu fühlen: „Die Stelle im Torso hat mich gar nicht angefochten und ich habe meine völlige Rache schon in der Recension davon genommen, die Sie gelesen haben. Ich kann nicht leugnen daß einige mehr Unrecht darinn gefunden als ich selbst; und daß ich von einer gewißen Seite mich blos wunderte so unrecht von Ihnen verstanden und ausgelegt worden zu seyn.“23 Worum geht es? Herders Lesart steht im Kontext seiner Überlegungen zum Gebrauch von Metaphern – Sprachbildern – in theoretischen Schriften und spezifischer der Angemessenheit der Nutzung der Bibel als Bilderquelle in nicht primär religiösen oder theologischen Kontexten: „[W]arum soll ich es mir verbieten, daß wenn ich nicht bloß für den reinen Verstand, sondern mit Bildern reden will, und muß, daß ich zu der Quelle eile, in die meine Einbildungskraft in zarter Kindheit getaucht wurde, aus der in das Gedächtnis meiner Leser Ströme geleitet wurden: die mir am nächsten zur Hand, meinen Lesern die sicherste, und für meine Materie vielleicht die ergiebigste, die nahrhafteste, die wohlschmeckendste

21 Johann Gottfried Herder : Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, an seinem Grab errichtet. In: Werke. Bd. 2. Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1993, S. 565–608. 22 ZH II, 438. 23 ZH II, 443.

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ist?“24 Die Kreuzzüge des Philologen figurieren hier als Negativbeispiel, oder „freiwillige Ausnahme“, wie Herder im oben zitierten Brief an Hamann abwiegelnd formuliert, da sie „nicht Bilder unsrer Religion, sondern bloß der Orientalischen Seite unsrer Religion geben: nicht sie geben, um in einer edlen, bekannten und nachdrücklichen Sprache, sondern um seltsam, fremde, oder gar possierlich zu reden: so mag dies Mißbrauch sein; nur hebe er nicht den Gebrauch auf, sonst verschließt man uns ein Bilderkabinett, das ehrwürdig, reizend, reich ist, jedem offen steht, und zum Glück uns von Jugend auf offen stand.“25 Hamann hatte in seinen anonymen Selbstrezensionen bzw. Antworten auf die Rezensionen der Kreuzzüge 1762 die Herdersche Fragestellung in humoristisch schwebender Form bereits vorbereitet: „Der Leichtsinnige Mißbrauch der biblischen Ausdrücke, hat einige Leser, die dies Buch vor uns zu Gesichte bekommen haben, glaubend gemacht, es sey gegen die Religion gerichtet: das ist es aber wohl nicht […]“, und die Fußnote fragt erratisch: „Sollte ein leichtsinniger Mißbrauch biblischer Ausdrücke kein Verbrechen gegen die Religion seyn?“26 Hamann antwortet hier auf die Kritik an seinem Stil, seiner „,Mischmasch‘Schreibweise, die profane und biblische Zitate bzw. Anspielungen unvermittelt kombiniert“,27 seiner stilistischen Übersetzung der „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum“,28 wie er es als Ritter von Rosenkreuz auf den Punkt bringt. Geht es nun bei der sieben Jahre später formulierten Kritik Herders um das gleiche Problem, eine Stilkritik, die die Würde des biblischen Textes vor einer grotesken Vermischung bewahren will? Geht es an dieser Stelle um die Wahrung einer wie auch immer bestimmten Würde der religiösen Sprache? Einer Würde der lebendigen Sprache des zeitgenössischen Denkens? Die Meinungsverschiedenheit zur Anthropomorphismusfrage in Bezug auf die Gottesvorstellung anlässlich Herders Sprachursprungsschrift verweist darauf, dass hier durchaus Differenzen grundsätzlicher Art zwischen Herder und Hamann vorliegen;29 an dieser Stelle problematisiert Herder jedoch die ornamentale orientalische Verkleidung der Textgestalt zu ganz bestimmten Zwecken (wobei er hier nicht im Sinne eines rollenzuweisenden Maskenspiels, sondern die dahinter verborgene Haltung rezipiert), was er mit den Ausdrücken ,zu kreuzziehen‘ und ,romantisch Herder: Über Thomas Abbts Schriften (wie Anm. 21), S. 600. Ebd. N II, S. 253. Volker Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik. Stuttgart, Berlin 1972. S. 169. 28 N III, S. 27. 29 Henri Veldhuis: Ein versiegeltes Buch. Der Naturbegriff in der Theologie J. G. Hamanns (1730–1788). Berlin, New York 1994, S. 200.

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zu brauchen‘ umschreibt, und obwohl Hamann sich hinter den Vorwurf eines Missverständnisses zurückzieht, rechtfertigt er sich doch wortreich mit dem Einfluss seiner Luther-Lektüre, von der, wie er zugibt, sein „gantzer Nervensaft tingirt war.“30 Wie passt das zusammen, wenn es Herder weder um eine Kritik biblischer Anspielungen und Bilder im Allgemeinen noch um Wahrung einer Würde der (religiösen) Sprache, sondern um Kritik an Verwendung von Bildern der orientalischen – hebräisch-griechisch-arabischen – Seite der Religion zur Verfremdung der Sprache geht? Eine naheliegende Antwort auf diese Frage könnte darin liegen, eine Analogie zwischen der Islamrezeption Luthers und Hamanns herzustellen. Hartmut Bobzin hat hervorgehoben, dass im Kontext der Türkenkriege Luthers „Beschäftigung mit dem Islam […] nicht einem polemischen oder gar missionarischen Interesse – jedenfalls nicht primär – [entspringt], sondern seelsorgerischen Überlegungen: Er sieht den Islam nämlich nicht, bzw. nicht allein, als außerkirchliches Phänomen, als ,fremde Religion‘, sondern als akute Gefahr, die mitten in die Kirche seiner Zeit hineinreicht und in innerem Zusammenhang mit der Glaubensspaltung in Mitteleuropa steht.“31 Daraus erklärt sich seine Ablehnung der Kreuzzüge als falsches Mittel vor dem Hintergrund der Zwei-Welten-Lehre, indem nämlich eine geistige Bedrohung am falschen Ort lokalisiert und bekämpft werde, so dass geistliche und weltliche Macht sich unzulässig vermischen. Dahinter steht die Auffassung, dass ein Krieg „niemals Glaubenskrieg sein, sondern nur Verteidigungskrieg unter Führung der dazu berufenen Obrigkeit“32 sein kann. Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Missionierung von Muslimen und „Buße, Gebet und Leiden“33 als einzig möglicher Ausweg kennzeichnen die lutherische Haltung gegenüber der konkreten weltlichen Bedrohung durch die Türkenkriege und die Hinwendung zu den immanenten Kontroversen des Christentums. Das Studium der fremden Lehre dient demnach zum einen der Entlarvung und Abwehr der Verführung durch eine falsche Religion des „Schwertes und menschlicher Vernunft“,34 auf der richtigen, nämlich der geistlichen Ebene, und darauf aufbauend einer Steigerung der Durchschlagskraft der christlichen Selbstkritik in Erwartung der – aufgrund dieser Interpretation der zeitgenössischen Konflikte unmittelbar bevorstehenden – Wiederkunft Christi. Vor diesem Hintergrund vollzieht Luther eine Metaphorisierung, die allerdings auch umgekehrt auf ihn zurückfällt („Luther mit Tür30 ZH II, 443. 31 Hartmut Bobzin: Martin Luthers Beitrag zur Kenntnis und Kritik des Islam. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 27 (1985), S. 262–289, hier S. 266. 32 Ebd., S. 268. 33 Ebd., S. 269. 34 Ebd., S. 285.

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kenhut“35): Die Begrifflichkeiten aus dem islamisch-orientalischen Feld werden als Bildspender für die Bestimmung der innerchristlichen Kontrahenten – Katholizismus und Calvinismus – verwendet und dienen dabei zur Präzisierung der Kritik, wo es um die Vermischung geistlicher und weltlicher Macht geht, um Werkglauben, Prädestination und Vernunft. „,Türke‘ wurde schlechthin zur Metapher für den innerkirchlichen Glaubensgegner.“36 Die Wirkung der Bedrohung durch den Islam und den Katholizismus wird dabei durch ihre ,Aufteilung‘ auf weltliche und geistliche Ebene und gleichzeitige rhetorische Engführung in keiner Weise relativiert, sondern gewissermaßen als apokalyptischer Höhepunkt teuflischer Versuchung auf allen Ebenen intensiviert. Wie bereits deutlich wurde, vollzieht sich Hamanns früheste Auseinandersetzung mit der Gestalt des Propheten Mohammed auf der Basis eines vergleichsweise wohlwollenden Textes und in einer Haltung, die man durchaus als unvoreingenommene Neugierde charakterisieren kann und die man bei Luther nicht zu suchen braucht; inwiefern dabei Zweifel an Glaubensvorstellungen genährt oder komplexe Spiegelungseffekte37 ausgelöst wurden, die dann später zu einem umso leidenschaftlicheren Bekenntnis zu Jesus Christus als Erlöser und der Luther-Bibel führten, muss Spekulation bleiben. Auf der Ebene der Glaubensgewissheiten gibt es hier nicht viel zu deuteln; Hamann selbst hat in einem Brief vom 17. März 1763 an Friedrich Trescho bündig formuliert: Wir vergeßen, daß wir Lutheraner sind und daher verbunden immer mehr und mehr auszugehen, und Luthers Werke nachzuahmen, in denen allein die Kraft seines Namens und Nachruhms zu setzen ist. […] Bleibe im Lande und nähre dich redlich – als ein Zöllner. Dies ist meine gegenwärtige Entschließung, auf die ich studiere, daß ich griechisch und arabisch darüber vergeße.38

Das Fremde bleibt das äußerliche Fremde. Folgt man jedoch Herders Hinweis auf die Spracharbeit – und Hamann hat vom Buchstaben ,P‘ explizit den Philologen und nicht etwa den Propheten für seinen Titel gewählt –, lassen sich in den Kreuzzügen eines Philologen subtilere Denkbewegungen finden, die zusammengenommen durchaus als Ansätze einer responsiven Autorhandlung39 von Interesse sind. 35 Ebd., S. 287. 36 Ebd., S. 286. 37 Zum Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Spiegelung/Narziss-Mythos vgl. Sven-Aage Jørgensen und Joachim Ringleben: Der ,Eckelname‘ des Narziß. Interpretation einer rätselhaften Stelle in Hamanns ,Aesthetica in nuce‘. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Tübingen 1997, S. 28–63; sowie FranÅois PonÅet: Narziss und kein Ende. Hamann zwischen Freud und Lacan. In: Acta 2002, 97–107. 38 N II, 201. 39 Bernhard Waldenfels: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden. 2. erw. Ausg. Frankfurt a. M. 2008, S. 82–94.

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3.

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Responsivität als schöpferische Spracharbeit

Sowohl an der Gesamtstruktur der Kreuzzüge des Philologen wie – exemplarisch – an den drei Einzelaspekten ,Kreuzzug‘, ,Reim‘ und ,Weise aus dem Morgenland‘ lässt sich Hamanns Auseinandersetzung mit dem Koran und der arabischen Sprache ablesen. Die Art und Weise, in der er sich auf Handlung beruft, dabei eine schöpferische Gestaltungskraft freisetzt und eine Weitung des Denkens provoziert, trägt seinen Entwurf sowohl über die Positionen, an denen er sich in erster Linie abarbeitet, wie auch über den lutherischen Grund hinaus. Bernhard Waldenfels entwickelt eine Konzeption des antwortenden Handelns, das weder reine Produktion noch reine Reproduktion ist und sich der Selbstbezüglichkeit von Normativität und Funktionalität durch seinen innovativen und nachträglichen, vom fremden Anspruch ausgehenden Charakter entzieht: Wir erfinden, was wir antworten, wir erfinden aber nicht, worauf wir antworten. Das, worauf wir antworten, bleibt uns bis zu einem gewissen Grade fremd. Es bekundet sich als eine bestimmte Unruhe, die das Handeln umtreibt, als ein Anspruch, der nur im Antworten selbst laut wird. Das Handeln rührt hier an ein Moment des Ungetanen, des Nichttubaren, das nicht in unserer Hand liegt wie all das, was wir tun können. Der Angelpunkt, um den die Ordnungen des Handelns sich drehen, findet innerhalb dieser Ordnungen keinen Platz. Auch der Konsens, der sich im Horizont einer gemeinsamen Ordnung bewegt, versagt hier. Responsives Handeln läßt sich daher niemals in ein kommunikatives Handeln integrieren.40

Die Unvereinbarkeit von Hamanns Christologie mit den Lehren des Koran und die Verbundenheit von Sprache und Glauben – abgesehen davon, dass ein Dialogpartner nicht existiert –, verstellen jeden Zugang zu einer dialogisch strukturierten Ebene, wie sie in der Ansprache konkreter Leser zumindest implizit gegeben ist.41 In der Sammlung sind die einzelnen Texte zu einem Gesamtgebilde angeordnet, das sich am ehesten als symbolische Geste eines Antwortens auf die Fremdheit des islamischen Glaubens bestimmen lässt, bei der die konkreten Schreibanlässe – und damit auch die Aneignung orientalischer Figuren und Begriffe zum Zweck der Kritik oder der humoristischen Polemik42 – in den Hintergrund treten. So lässt sich bei Hamann unter Auslassung expliziter Ver40 Ebd., S. 94. 41 Zur Dialogizität bei Hamann vgl. Christina Reuter : ,…aus Jungfern werden Bräute und aus Lesern entstehen Schriftsteller.‘ Der Leseakt bei Johann Georg Hamann. In: Genese und Grenzen der Lesbarkeit. Hg. von Philipp Stoellger. Würzburg 2007, S. 123–140. 42 Vgl. Sven-Aage Jørgensen: Hamann als humoristischer Schriftsteller. In: Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Werner Frick und Susanne Komfort-Hein. Tübingen 2003, S. 27–36, insbesondere zur Unvergleichbarkeit von Augustinus und Mohammed, S. 30.

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teufelungstiraden eine Rückbesinnung auf das Eigene erkennen, die hier nicht wie in seinen Auseinandersetzungen mit Zeitgenossen in der Nachfolge Luthers die Selbstkritik des Christentums befördern soll, sondern in erster Linie eine Darstellung43 seiner christlich geprägten Lebenswelt (Familie) als lebendige Gestalt der Glaubensinhalte zur Folge hat; die Verflechtungen der einzelnen Texte können hier nur ansatzweise am Leitfaden der Rolle der Sprachen aufgezeigt werden.

4.

Die Struktur der Textsammlung: Familie und Sprachen

Während die erste Hälfte des Bandes die Auseinandersetzungen mit Zeitgenossen und sprachphilosophische Überlegungen umfasst, geben die letzten drei Texte chronologisch (nicht hinsichtlich der Publikationsdaten, sondern durch Hamanns Charakterisierung im Vorwort) rückwärtsschreitend vom verlorenen Sohn im Lateinischen über die Jugend in gereimter Poesie zum „kindlichen Denkmal“44 in der Muttersprache, das (Über-)Leben, Tod und Nachleben ineinander verschränkt, einerseits aus dem Leben gegriffene Beispiele zum Sprachphilosophischen und zeichnen andererseits das „Familienmährchen“45, verlorener Sohn in fremder, Vater- und Mutterlob in gereimter (Geburtstagsfeier des Lebenden) und ungereimter poetischer Sprache (Erinnerung an das Sterben). Dazwischen stehen als Originaltexte und mit arabisch-koranischen Kenntnissen verfasst das Kleeblatt Hellenistischer Briefe sowie die Aesthaetica in nuce, die sich mit der Frage nach der lebendigen Sprache befassen, und von ihnen gerahmt die Näschereyen, die um den Begriff des Gleichgewichts in der Natur (Gut und Böse) kreisen. Dem familiären Teil sind die gemischten Gefühle zugeordnet, wie sie im Vorwort am Beispiel Isaaks46 (Lachen und Furcht) und im letzten Text am Beispiel des schwimmenden schiffbrüchigen Sohnes47 (dankbare Wehmut; Begeisterung – Schrecken, Zärtlichkeit, Mitleiden und Freude) aufgeführt werden, sowie die Frage „durch welches Geheimnis verwandelt sich der Christ in einen Lehrer der Weisheit, in einen Boten des Friedens?“48 Im mittleren Teil findet sich dagegen die Figur Ismaels, des Spötters, die Ismaeliten als „Kinder unserer Kirche nach dem Fleisch“.49 Die Texte des ersten Teils, philo43 44 45 46 47 48 49

„Rede, daß ich Dich sehe!“, N II, 198. N II, 117. N II, 228. N II, 117. N II, 235. N II, 263. N II, 170. Die klare Trennung von Fleisch und Geist, nach der man lesen muss „nur nach dem Fleisch“, lässt sich vor Hamanns Aufwertung der sinnlichen Komponente des Daseins und

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sophische Auseinandersetzungen, kann man von hier aus als unter dem Zeichen von spöttischem Gelächter stehend betrachten, während die Texte des dritten Teils poetische Zeugnisse liefern. Den Mitteltexten bleibt dann die Aufgabe lebendige Geschichte zu schreiben, folgt man der Aufteilung50 im Kleeblatt Hellenistischer Briefe. Wie stehen der philosophische und der poetische Teil miteinander in Beziehung? Ein Beispiel: Im Versuch über eine akademische Sprache findet sich die Gegenüberstellung von schöpferischem Zugang zur Muttersprache (Hausrecht des Ehemanns), Einfluss der fremden Sprache auf das eigene Denken (Bequemung des Liebhabers) und gänzlich unschöpferischem Auftragsschreiben („Miethsdichter“ und vorgegebene Endreime);51 in den Vermischten Anmerkungen die Lehre von den Inversionen, die im Lateinischen die größte Freiheit genießen und den poetischen Charakter der deutschen Sprache ausmachen. Der dritte Teil liefert hierzu das Lateinische Exercitium, Beispiel für den Einfluss der fremden Sprache auf das eigene Denken, die Gelegenheitsgedichte, in denen der Endreim in poetischer Sprache zugleich gebunden und aufgehoben ist; das Denkmal der Mutter, von der nur die Sprache geblieben ist, wobei, wie oben bereits erwähnt, in der Anordnung eine Inversion der Lebensalter vollzogen wird, so dass Mutter (Geburt) und Sterben zusammentreten. Schlägt man nun im Kleinen Register nach, findet man die beiden Stichworte „Philolog – versteht weder arabisch noch hebräisch / – erbaut sich für die lange Weile aus einem arabischen Wörterbuche“,52 und so wird deutlich, dass die Beschäftigung mit griechischer, hebräischer und arabischer Sprache, die Reflexionen über tote und lebendige Sprache und Schreibarten im Kleeblatt Hellenistischer Briefe vor dem Hintergrund der Erfahrung mit der lateinischen Sprache und ihrer Wirkung auf die Poetizität der deutschen (Mutter)Sprache ablaufen. Es muss angenommen werden, dass vor diesem ,eigenen‘ Hintergrund eine Differenzierung des ,fremden‘ Griechischen, Arabischen und Hebräischen vorgenommen wird.53 Gleichzeitig wird aufgezeigt, wie die spezifische Struktur einer toten Sprache (Freiheit der Wortfolge im Lateinischen) zur Quelle der Belebung der lebendigen Muttersprache werden kann, die Fragestellung „Wie

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dem Zusammenhang von Geist – Genie – Leben – Jesus Christus nicht aufrechterhalten. Zu kontrastieren wäre beispielsweise die polemische Wendung in der Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn (N III, 407) mit der Iris-Anspielung im Kleeblatt Hellenistischer Briefe (N II, 177). N II, 176. N II, 126. N II, 240. Vgl. zur herausragenden Rolle der Griechisch-Studien: Johann Georg Hamann: Kleeblatt Hellenistischer Briefe. Text mit Wiedergabe des Erstdruckes. Hg. und komm. von Karlheinz Löhrer. Frankfurt a. M. 1994, S. 17.

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belebt man eine tote Sprache?“ wird von Hamann in der Zusammenstellung seiner Schriften also gewissermaßen rückwärts beantwortet.

5.

Der Kreuzzug, der Reim und die Kinder

Wenn Hamann seine Textsammlung Kreuzzüge und nicht Beängstigungen54 nennt, dann ruft er zum einen das gesamte Repertoire der christlichen Kreuzessymbolik ab. Zum anderen nimmt er, wie aus seinem Hinweis auf den Provinzialscherz55 deutlich wird, die lutherische Figur der Umkehrung auf, statt eines Kreuzzuges gegen eine äußere Bedrohung zu führen, die inneren Missstände56 zu bekämpfen, die geistigen Energien für Selbsterkenntnis und -kritik zu bündeln. Indem Hamann die Handlung des Kreuzziehens tatsächlich in eine sprachschöpferische Leistung umsetzt, folgt er einerseits Luther, geht unter den veränderten historischen Bedingungen jedoch über ihn hinaus. Man kann dies mit Paul Ricoeur57 als eine gründliche Entmilitarisierung des symbolischen Gehalts durch die Spracharbeit von Mythos und Metapher beschreiben. Der nach außen gerichtete Kreuzzug ist hier die Forschungsreise in den Orient, die Hamann nicht an sich, sondern hinsichtlich ihrer Beweggründe und möglichen Folgen ablehnt. Als wissenschaftliches Projekt zur ,Entzauberung‘ der biblischen Sprache unterscheidet sie sich von der symbolisch zu bewertenden Reise der Magi,58 deren Ursache unvernünftig (Prophezeiung und eine Himmelserscheinung) und deren Folgen moralisch verheerend (Tod der Kinder und Verfolgung Jesu Christi) nur aus der Perspektive der Vernunft erscheinen können.59 An die Stelle des wissenschaftlichen Kreuzzuges von Michaelis und des Kreuzzuges auf dem Tummelplatz der Meinungen im eigenen Land60 tritt nun in der Aesthaetica

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N II, 116. N II, 195; N II, 267. N II, 255. „Everything indicates that symbolic experience calls for a work of meaning from metaphor, a work which it partially provides through its organizational network and its hierarchical levels. Everything indicates that symbol systems constitute a reservoir of meaning whose metaphoric potential is yet to be spoken.“ Paul Ricœur : Metaphor and Symbol. In: Interpretation Theory. Discourse and the Surplus of Meaning. Texas 1976, S. 45–70, hier S. 65. Vgl. auch: „Der metaphorische Symbolsinn gilt dabei als Aspekt des Zur-Sprache-Kommens des Symbols auf dessen wörtlicher Ebene und erweitert dadurch das Spektrum der Ausdrucksfähigkeit der Symbole.“; Ursula I. Meyer : Das Symbol gibt zu denken. Eine Untersuchung zur Symbolinterpretation bei Paul Ricœur. Aachen 1990, S. 21. 58 Wilhelm Koepp: Der Magier unter Masken. Versuch eines neuen Hamannbildes. Göttingen 1965, S. 88–92. 59 N II, 139ff. 60 Koepp: Der Magier unter Masken (wie Anm. 58), S. 74.

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in nuce eine grundsätzlichere Umkehrung:61 „Wodurch sollen wir aber die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder auferwecken?“ Eben nicht durch Kreuzzüge nach den Morgenländern, sondern: „Laß neue Irrlichter im Morgenland aufgehen! – Laß den Vorwitz ihrer Weisen durch neue Sterne erweckt werden, uns ihre Schätze selbst ins Land zu führen – Myrrhen! Weyrauch! und ihr Gold [die lebendige Sprache62]! – woran uns mehr gelegen als an ihrer Magie!“63 Dies ist eine Einladung in Gebetsform, die an die Stelle des Vorgehens tritt, ein fremdes Volk und seine Sprache zum Forschungsobjekt im Dienste der Selbsterkenntnis zu machen. „Rahel aber lass nicht vergeblich weinen!“64 Diese Anspielung führt zurück zur Familie und dem Reim. In den Vermischten Anmerkungen erwähnt Hamann: „Man hat das Herkommen des Artickels den Saracenen zuschreiben wollen; mit wieviel Grunde, weiß ich nicht. Sollten sie nicht auch das Glockenspiel oder Geläute des Reims in die Dichtkunst eingeführt haben.“ Die Fußnote kommentiert: „Dieser Einfall ist schon von vielen Gelehrten für eine historische Wahrheit angenommen worden.“65 In der Aesthaetica in nuce korrigiert Hamann diese ,Modewahrheit‘ gleich doppelt: Hinter einem Literaturverweis verbirgt sich die Möglichkeit, der Reim käme aus dem Lateinischen, und „das Herkommen desselben [muss] mit der Natur der Sprachen und unserer sinnlichen Vorstellungen beynahe gleich alt seyn.“66 In Auseinandersetzung mit Klopstocks Poesie und dem zeitgenössischen Geschmack nimmt Hamann den Reim in Schutz: Man erlaube mir, daß ich den Reim und das Metrum mit unschuldigen Kindern vergleichen darf, die über unsere neueste Dichtkunst einer drohenden Lebensgefahr ausgesetzt zu seyn scheinen. […] Wem das Joch des Reims zu schwer fällt, ist dadurch noch nicht berechtigt, das Talent desselben zu verfolgen.67

Der Reim wird hier an das Netz der Familienmetaphorik angeschlossen und es geht dabei nicht um seine Abstammung aus einer bestimmten Sprache, sondern um sein Leben – „Unser Leben heißt es, ist verborgen mit Christo in GOtt. Wenn aber Christus – unser Leben – sich offenbaren wird, denn werden wir auch offenbar werden mit Ihm in der Herrlichkeit.“68 Die Kontrastierung der Abstammungsfrage mit dem Gedanken, dass der Reim ein Bestandteil sowohl der 61 Zur Umkehrung/Spiegelung als Strukturmerkmal vgl. auch die Beurtheilung der Kreuzzüge des Philologen, N II, 257–274, wo diese Bewegung in die alphabetisch rückwärts bezeichneten Anmerkungen aufgenommen wird. 62 ZH II, 223. 63 N II, 211. 64 Ebd. 65 N II, 132. 66 N II, 214. 67 N II, 214f. 68 N II, 140.

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Kindheit der Sprache wie auch der Kindheits-/Jugendsprache darstellt und darüber hinaus eine bildende und Erinnerungsfunktion erfüllt, macht deutlich, dass er ein Träger der poetischen Qualität von Sprache ist, ähnlich wie die Inversion. Gemeinsam ist diesen Elementen der kreative Freiraum, den sie eröffnen, und jede Spekulation über ihre Herkunft führt immer nur auf das Problem der Ursprache zu, welche bei Hamann bekanntlich Poesie – poiesis – Schöpfung – ist. Nachdem Hamann den Koran gelesen hat, kann er mit einer auf sokratischer Unwissenheit basierenden Treffsicherheit dem einen arabischen Wort, das tatsächlich auf der Grenze zwischen responsiver und kommunikativer Geste angesiedelt ist, einen Platz in seinen Reflexionen einräumen. Die Migrationen der lebenden Sprachen geben uns Licht genug über die Eigenschaften, welche die todten mit ihnen theilen, und über das wandelbare Schema aller Sprachen überhaupt. Ich habe lange das Wort Salamalec in den jüngern Werken des Witzes gefunden, so in Frankreich auskommen, ohne zu verstehen, bis ich unvermuthet in des Arvieux Reisebeschreibung antraf, daß Salamalec einen morgenländischen Bückling oder Fußfall bedeute – –.69

6.

Ausblick: Wasserleichen und Kleeblätter Kann man aber das Vergangene kennen, wenn man das Gegenwärtige nicht einmal versteht? – – Und wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und Gebrauch der Mittel – – Wir sind gleichwohl hier schon an ein usteqom pqoteqom in unserer Denkungsart gewohnt, daß wir alle Augenblicke durch unsere Handlungen, wie die Bilder im Auge, umkehren ohne selbst etwas davon zu merken. – –.70

Hans Blumenberg, der seine Metaphorologie eben jener Verborgenheit der Metapher widmet,71 umkreist in seinen nachgelassenen Notizen Probleme der Wassermetaphern, streift dabei die Verbindung von Narziss und Luther72 und konzentriert sich in den unter dem Titel Ströme zusammengestellten Textfragmenten auf die ,schwimmende‘ Wirkungsgeschichte der absoluten Metapher Heraklits, „man könne nicht zweimal in denselben Fluß steigen.“73 In diesem 69 70 71 72

N II, 172. N II, 175. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1999, S. 10. Hans Blumenberg: Quellen, Ströme, Eisberge. Über Metaphern. Aus dem Nachlaß des berühmten Philosophen. Hg. von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche. Berlin 2012, S. 83. Weil der Mensch im Sündenfall das Spiegelungsverhältnis zerstört hat, muss er zur Selbsterkenntnis über sich hinaus in seine Quelle – Gott – blicken. 73 Ebd., S. 103.

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Zusammenhang stellt Blumenberg u. a. auch die Frage nach der Möglichkeit der Selbstbespiegelung als perspektivisches Problem, das diese Metapher gewissermaßen überfordert: „Das Bild des Schwimmers, der seinen Blick auf den Fluß richtet, in welchem er schwimmt, ist freilich, obwohl nicht widerspruchsvoll, doch von einer gewissen Künstlichkeit und Fraglichkeit […].“74 Das Problem der Perspektive, welches in der Metapher durch die körperliche Immersion ins Medium, aus dem nur der Kopf ragt, und das Fehlen eines Grundes gegeben ist, hat Hamann auf eine Weise gelöst, die bei Blumenberg keine Berücksichtigung gefunden hat: „Leser[n], welche schwimmen könnten“,75 hat Hamann in den Sokratischen Denkwürdigkeiten mit Sokrates gefordert, und sich selbst in der Aesthaetica in nuce, wo es um die Hinwendung zu „Meer“ und „Wasserbrunnen“ geht,76 als den ersten Leser seiner selbst eingesetzt.77 Im Denkmal wird der schiffbrüchige Sohn nun gewahr, dass es die Leiche des Vaters ist, die ihn trägt. Die Spiegelung umfasst sowohl das spiegelverkehrte Bild einer Wasserleiche, Anlass zur Selbstprüfung, wie auch das „zweyte Leben“ im Glauben.78 Die Selbsterkenntnis als Spiegelungsverfahren in der Tradition der Wassermetaphorik, Heraklit und Narziss, wird in der Geschichtsbetrachtung zur Spiegelungskaskade: Der Blick in die Vergangenheit trifft nur dann auf Lebendiges, wenn die Erinnerung davon ausgeht, in der Gegenwart das Zukünftige des Vergangenen vor Augen zu haben, welches wiederum von der Latenz des Zukünftigen in der Gegenwart bestimmt ist. Nur auf diese Weise wirkt das Studium der Quellen schöpferisch in der Gegenwart. Das Kleeblatt Hellenistischer Briefe nimmt diese Struktur auf, denn zum einen steht die Metapher des Kleeblatts für eine Dreieinigkeit, zum anderen – in die christliche Glaubensgewissheit hineingenommen – gibt es unter der Konnotation des Glücks79 die Möglichkeit eines ungeschriebenen vierten Briefes, das

74 Ebd., S. 119. 75 N II, 61. 76 Vgl. Hamanns Interesse an Johann Sigismund Valentin Popowitsch: Untersuchungen vom Meere (1750). „Es ist mir ebensoviel an dem gelegen, was die Sprache betrift, als wofern etwas Neues und gründliches darinn vom Meer gelehrt wird.” (ZH II, 49) Dazu Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie (wie Anm. 27), S. 20. Hamann hat den Band im März 1762 erhalten. (ZH II, 144, vgl. auch 53, 93, 139, 154) Herder hat ihn von Hamann ausgeliehen (ZH II, 449). 77 N II, 217. 78 N II, 235. 79 Vgl. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 5. ,K‘. Bearbeitet von Rudolf Hildebrand. Leipzig 1873, S. 1062f. (Stichwort ,Kleeblatt‘, ad 2 und 4); sowie Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter besonderer Mitwirkung von E. Hoffmann-Kreyer. Bd. 4. ,Hiebfest – Knistern‘. Berlin, Leipzig 1931f., S. 1447–1458 (Stichwort ,Klee‘).

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offene Blatt der Zukunft. Mit Bileams Esel80 im Hintergrund kann man nun – über die Mehrfachspiegelung, die sich hinsichtlich der Bewegungsimpulse und -richtung, der Mittel (Gewalt – Gnadengabe; Mensch – Prophet – Tier ; Botschaft – Sprache) in der Engführung von morgenländischen Weisen und christlichem Kreuzzug vollzieht, – eine Verbindung herstellen zwischen der Eselskraft der lateinischen Verse81 im Dritten Brief und Herders Passgänger, von dem diese Untersuchung ihren Ausgang nahm. In diesem Metaphernfeld trottet Herders Passgänger in vorwegnehmender Umsetzung der späteren Aufforderung Hamanns vom 28. März 1767: „Spiegeln Sie sich an mir.“82

80 „Wenn aber ein höheres Wesen, oder ein Engel, wie bey Bileams Esel, durch unsre Zunge wirken will; so müssen alle solche Wirkungen, gleich den redenden Thieren in Aesops Fabeln, sich der menschlichen Natur analogisch äußern“; N III, 27. Vgl. auch N VI, 55. Zur Wirkungsgeschichte dieser Figur vgl. z. B. Harald Steffes: Erziehung zur Unwissenheit? Kierkegaards ,Über die Kunst, Kindern Geschichten zu erzählen‘ und Johann Georg Hamanns ,Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend‘. In: Kierkegaard Studies. Yearbook 6. Hg. von Niels Jørgen Cappelørn, Hermann Deuser und K. Brian Söderquist. Berlin 2006, S. 165–206, hier S. 192; sowie Gerhard Schreiber : Apriorische Gewissheit. Das Glaubensverständnis des jungen Kierkegaard und seine philosophisch-theologischen Voraussetzungen. Berlin, Boston 2014. S. 70f. 81 „Aurum de Arabia / Thus & Myrrham de Saba / Tulit in ecclesia / Virtus asinaria –“, N II, 182. 82 ZH II, 391.

III. Vernunftkritik und Glaube

Sergei Volzhin (St. Petersburg)

„Suche nach dem Faden, der in das Labyrinth geführt, um wieder herauszufinden“. Hamanns Rezeption der Koinzidenzlehre im Kontext seines Geschichtsverständnisses

Neuerlich auf das Thema coincidentia oppositorum bei Hamann einzugehen, obwohl Erwin Metzke schon in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts das Forschungsfeld ,Cusanus – Luther – Hamann‘ gründlich ausgelotet hat,1 veranlasst mich sowohl der neue Stand der Hamann-Forschung insgesamt, die in vielerlei Hinsicht ein differenzierteres und nuancierteres Hamannbild zu Tage gebracht hat,2 als auch die Ergebnisse der jüngeren Cusanus-Forschung, die einige wichtige Aspekte der philosophiegeschichtlichen Rezeption der Koinzidenzlehre in der neuzeitlichen Philosophie und Theologie beleuchtet.3 Dass die Rolle Hamanns als Vermittler der Koinzidenz-Tradition in der Philosophiegeschichte eine bedeutende war, ist bekannt. Dies bezeugen viele Autoren, bei Hegel angefangen bis in die jüngere Forschung hinein, und dies hauptsächlich bezüglich Brunos Einfluss auf Hamanns Koinzidenzdenken. Ernst Hoffmann sagte in seinem Vortrag Nikolaus von Cues und die deutsche Philosophie am 17. Februar 1940 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften: „Als erster hatte Hamann, in Opposition zur rationalistischen Aufklärung, den Widerspruch selbst als Wahrheit zu bejahen gesucht und das ,principium coincidentiae‘, das er auf Bruno zurückführte, den ,principiis contradictionis‘ und

1 Erwin Metzke: Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte. Hg. von Karlfried Gründer. Witten 1961. 2 Andre Rudolf betont, „verstärkte, auch internationale Bemühungen der letzten Jahrzehnte haben zu einem facettenreichen und differenzierten Hamannbild geführt. Eine Reihe der wichtigsten Schriften Hamanns ist durch Kommentarbände erschlossen. Die Internationalen Hamannkolloquien boten eine kontinuierliche Gesprächsbasis für die planvolle Beschäftigung mit dem Hamannschen Oeuvre, das zunehmend auch als Kreuzungspunkt zeitgenössischer Entwicklungen verstanden wird. Wie sehr dabei das Interesse an Hamann gewachsen ist, mag die Tatsache verdeutlichen, dass neben einer Vielzahl von Aufsätzen allein seit 1990 sechzehn Monographien erschienen sind, die sich entweder ganz oder in größeren Teilen mit Hamann beschäftigen“. Andre Rudolf: Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts.Tübingen 2006, S. 94. 3 Ausführlicher zum Thema jetzt: Sergei Volzhin: Johann Georg Hamann. Wiederentdeckung der coincidentia oppositorum im Zeitalter der Aufklärung. Regensburg 2018, 212 S.

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,rationis sufficientis‘ entgegengesetzt.“4 Diese Auffassung bezeugte neuerlich auch Kurt Flasch: „Aus Bruno, nicht aus Cusanus, kannte Hamann die Idee der Koinzidenz. Er fasste sie, wie es in ihrer Logik liegt, ausdrücklicher als Bruno, als Koinzidenz der Widersprüche; der Einfall, die Koinzidenz der contraria zu akzeptieren, aber die Koinzidenz der Widersprüche prinzipiell meiden zu wollen, hätte für jeden gründlichen Denker eine nominalistische Abspaltung des Denkens vom Sein bedeutet.“5 Flasch sieht in Hamann einen der gewichtigen Vermittler der Koinzidenzlehre für den deutschen Idealismus.6 Auch Harald Schwaetzer bestätigt in seiner gründlichen Studie Ein unbekannter Bekannter, dass in Schellings Bruno nicht nur die Koinzidenzlehre aufzufinden sei, „sondern auch Geist- bzw. Ich-Begriff sowie die Konjekturenlehre und der Primat der Ethik im Erkennen, also zentrale Elemente, mit denen Cusanus auf den Neuplatonismus zurückgreift und ihn zugleich produkiv weiterbildet.“7 Die Frage ist, ob Hamann Cusanus’ Philosophie kannte und ein direkter Bezug auf dessen Koinzidenzlehre vorhanden ist. Darüber gibt es weder in der älteren noch der jüngeren Hamann-Forschung positive Belege. Doch mindestens ein indirektes Cusanus-Zitat findet sich in Hamanns „Berliner Notizbuch“ (1753–1756) (N V,162). In den edierten Werken und Briefen Hamanns,vor allem aber in seinen Notizbüchern, finden sich zahlreiche indirekte Hinweise, die Hamanns Kenntnis der Koinzidenz-Lehre des Cusanus aus andern Quellen, nicht

4 Ernst Hoffmann: Nicolaus von Cues. Zwei Vorträge. Heidelberg 1947, S. 61. 5 Kurt Flasch: Nicolaus Cusanus. München 2001, S. 158. 6 Ebd., S. 159–161: „In Schellings Bruno kehren, wohl durch Hamann vermittelt, eine Reihe von Ideen wieder, die wir aus Cusanus und aus Bruno kennen. Jacobi hatte, auf der Jagd nach Pantheisten, in einer Beilage zur zweiten Auflage seiner Briefe über die Lehre des Spinoza Auszüge aus Brunos De la causa paraphrasiert. Von ihnen ging Schelling aus, in einer neuen, durch Kant bestimmten intellektuellen Situation. Aber einige Formulierungen zeigen weitgehende Entsprechung zu Bruno und zu Cusanus (auf der De beryllo-Stufe). Schellings Bruno faßt sein Ergebnis zusammen: ,Um in die tiefsten Geheimnisse der Natur einzudringen muß man nicht müde werden, den entgegengesetzten und widerstreitenden äußersten Enden der Dinge nachzuforschen: den Punkt der Vereinigung zu finden ist nicht das Größte, sondern aus demselben auch sein Entgegengesetztes zu entwickeln, dies ist das eigentliche und tiefste Geheimniß der Kunst.‘ (Schelling 1802, 221). Dies ist eine Zusammenfassung der Lehre von De beryllo. […] Hegel hat dann mit ausdrücklicher Berufung auf Hamann das Denken Brunos wieder aufgegriffen (Über Hamann’s Schriften, 252). Das bedeutete: Restitution der Philosophie der Einheit und die Durchführung der Differenzierung zwischen Vernunft und Verstand.“ 7 Harald Schwaetzer : Ein unbekannter Bekannter. Die Rezeption des Nikolaus von Kues bei Schelling. In: Nicolaus Cusanus: ein bewundernswerter historischer Brennpunkt. Hg. von Klaus Reinhardt und Harald Schwaetzer. Regensburg 2008, S. 167–188, hier S. 173f; vgl. auch Kirstin Zeyer : Neuplatonismusrezeption im Umfeld der deutschen Idealisten – eine Recherche mit Blick auf Schelling und Cusanus. In: Verbum 14: Cusanus and Schelling in the History of Russian Thought. St. Petersburg 2012, S. 61–81, hier S. 65.

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primär aus Bruno hinreichend nachweisen könnten.8 Laut Josef Nadler, findet sich in Hamanns Bibliothek kein Buch von Cusanus, wohl aber von Bruno.9 In den zahlreichen Bücherbestellungen, die Hamann in seinen Briefen an Hartknoch und andere Verleger je nach Bedarf aufgelistet hatte, fällt der Name des Cusanus ebenfalls nicht. Frühere Cusanus-Studien aus dem 18. Jahrhundert, wie etwa Caspar Hartzheims Cusanus-Biographie (1730) oder einiges über Lessings Beschäftigungen mit Cusanus10, dürfte Hamann auch gekannt haben. Aus frühen Schriften Hamanns sehen wir, dass Brunos Name erstmals in Hamanns Übersetzung einer der philosophiegeschichtlichen Schriften von Ren8 Rapin auftaucht, die „in verschiedenen Zusammenstellungen als Oeuvres diverses bis in Hamanns Frühzeit Haag 1725 und Paris 1752 erschienen.“11 In dem von Hamann wiedergegebenen Text Rapins, wird Bruno nur einmal und zwar in einer Reihe „kleiner Geister“ der Renaissancephilosophie erwähnt, was wohl kein guter Grund gewesen sein dürfte, um Hamanns Aufmerksamkeit auf Brunos Philosophie zu lenken.12 8 Ausführlicher zum Thema „Indirekte Quellen, die Hamanns Rezeption der Koinzidenzlehre des Cusanus beeinflusst haben könnten“, siehe in: Sergei Volzhin: Johann Georg Hamann. Wiederentdeckung der coincidentia oppositorum im Zeitalter der Aufklärung. S. Roderer, Regensburg, 2018, S. 109–144. Mehrfach führt Hamann das principium coincidentiae oppositorum auf Bruno zurück, so N III, 107,11–13 (Neue Apologie des Buchstaben h von ihm selbst); ZH IV, 287,6–17 (an J. G. Herder, 29. 4. 1781); ZH IV, 462,7f. (an J. G. Herder, 18. 11. 1782); „Jordani Bruni principium coincidentiae oppositorum ist in meinen Augen mehr werth als alle Kantsche Kritik.“ ZH VII, 457,34–458,2 (an J. G. Steudel, 4. 5. 1788): („Das Maximum Ihrer siebenfachen Hölle oder vielmehr Fegfeuer ist mit dem Minimo eines Eautom tilyqoulemou ziemlich homogen, nach dem principio coincidentiae extremorum oppositorum, das ich ohne Ruhm zu melden dem philosophischen Märtyrer Jordano Bruno, der auf dem Scheiterhaufen starb, gestohlen habe –“. 9 Diese Behauptung Nadlers ist nicht ganz korrekt. Ausführlicher zum Thema „Vier mathematischen Schriften des Cusanus in Hamanns Bibliothek“ siehe in: Sergei Volzhin: Johann Georg Hamann. Wiederentdeckung der coincidentia oppositorum im Zeitalter der Aufklärung. S. Roderer, Regensburg, 2018, S. 56–70. Zum Thema „Bruno’s Werke in Hamanns Bibliothek“: N IV, 466 (Apparat des Herausgebers): „Die Bücher fast aller Denker, die Rapin mehr als einmal bespricht, hat Hamann in seiner Bibliothek gehabt. Von den antiken Schriftstellern versteht sich das. Aber da sind unter anderem Agrippa Biga 105 144; Albertus Magnus Biga 125/387; Baco Biga 125/382 bis 385 und 129 449; Campanella Biga 97/22; Cardanus Biga 98 38, 106/152, 121/336; Copernicus Biga 123/351; Galilei Biga 123/350; Gassendi Biga 126/413; Helmont Biga 97/20, 21, 98/39; Hobbes Biga 124/372; Jordanus Brunus Biga 168/622; Machiavelli Biga 177/726; Raymundus Lullus Biga 118/296; Rhodiginus Biga 59,22. So spielt der Zufall nicht.“ 10 Schwaetzer: Ein unbekannter Bekannter (wie Anm. 7), S. 167–172; Zeyer : Neuplatonismusrezeption (wie Anm. 7), S. 69. 11 N IV, 465 (Apparat des Herausgebers). 12 In Rapins Betrachtungen von der Philosophie überhaupt findet sich hinsichtlich der Renaissancephilosophie und ihrer Stellung zu Aristoteles folgende Bemerkung (N IV, 53,4–9): „Eine handvoll kleiner Geister hat sich daher umsonst wieder den Ruhm dieses großen Manns unter der Anführung des Telesius, des Patricius, des Baco, des Campanella, des

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Womit aber dann und durch wen wurde Hamann auf Brunos Koinzidenzlehre aufmerksam? In Hamanns Schriften und Briefen der Londoner Zeit wie auch in seinen Schriften, Rezensionen und Briefen der 60er Jahren finden sich keine Bruno-Zitate, die auf eine nähere Bekanntschaft Hamanns mit Brunos Schriften hindeuten könnten. Dass ihn Erfahrungen des Widerspruchs im philosophischen Denken interessiert und herausgefordert haben, lässt sich immerhin den Nachgedanken eines Zweiflers vom 5. und 12. Juli 1771, einer Übersetzung von Humes Treatise of Human Nature (4. Teil, Kap. 7), entnehmen. Hier heißt es: „Sehe ich außer mich, so darf ich mir nichts als Streit, Widerspruch, Zorn und Verläumdung versprechen. Seh ich in mich, so finde ich nichts als Zweifel und Unwissenheit.“13 Auch die Beschäftigung mit Shaftesbury14 könnte Hamann auf Spuren der Koinzidenzlehre geführt haben. Ein Seitenblick auf Goethe und dessen Brunorezeption15 könnte sich hier als aufschlussreich erweisen. Bemerkenswert ist sodann auch ein Brief an Immanuel Kant vom April 1774, in dem Hamann auf einen Widerspruchscharakter der Wahrheit verweist: Ueberhaupt ist die Wahrheit von so abstracter und geistiger Natur, das[s] sie nicht anders als in abstracto, ihrem Element, gefast werden kann. In concreto aber erscheint sie entweder als Wiederspruch oder ist jener berümte Stein unsrer Weisen, wodurch urplötzlich jedes unreife Mineral und selbst Stein und Holtz in wahres Gold verwandelt wird.16

Ausdrücklich erwähnt und auf Bruno zurückgeführt wird das Principium coincidentiae oppositorum schon zuvor in der Neuen Apologie des Buchstaben h

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Jordani Bruni und einiger anderer erhoben, seine Lehre in diesen letzten Jahrhunderte verdächtig zu machen; die sich durch den Tadel des Aristoteles für klüger gehalten haben als alle Jahrhunderte und alle Völker, die ihn hochgeschäzt.“ N IV, 364,33–35. Nadler schreibt dazu (N IV, 474, Apparat zu S. 131): „Die Übersetzung von Shaftesburys Essays fällt also in die Zeit um 1755, wie alle andern Arbeiten in diesen Notizbüchern. Shaftesbury steht im Notizbuch vor Rapin.“ In seinem Brief an Herder vom 12. August 1766 (ZH II, 377,14–16) schreibt Hamann: „Schicken sie mir doch den Sh.[aftesbury] nebst allen Übersetzungen die Sie davon auftreiben können. 1) Soliloquium 2) die Moralisten 3) der Versuch der Moral sind gewißheraus, weil ich alle 3 selbst gelesen habe.“ Vgl. Dorothea Waley Singer : Giordano Bruno. His Life and Thought (with Annotated Translation of His Work On the Infinite Universe and Worlds) New York 1950, S. 192–200: „It has been said that the philosophical third Earl of Shaftesbury (1671–1713) was much influenced by Bruno’s conviction of the interrelationship of all things throughout the universe, and that Bruno’s writings led him to his view of the living whole as a harmonious organism. Johann Georg Hamann of Königsberg (1730–1788), in reaction against Kant’s Critique of Pure Reason, adopted from Bruno the conception of the coincidence of contraries. Daniel Morhof of Weimar (1639–1691), historian and scholar, wrote a charming appreciation of Bruno (in the Polyhistor [4th ed., Lübeck, 1747]). Goethe (1749–1832) read this in his youth and read also Gottfried Arnold’s account of Bruno (in: Dichtung und Wahrheit, VI and VIII [Sämtliche Werke, Stuttgart, 1851], XIII, 216 and 315–16).“ ZH III, 88,35–89,2.

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von ihm selbst (1773).17 In einem Brief an Herder vom 29. April 1781 schreibt Hamann, dieses Prinzip liege ihm schon „Jahre lang im Sinn“: Ungeachtet aller meiner Nachfrage ist es mir nicht mögl. gewesen des Iordani Bruni Schrift de Vno (Nach Heumanns Actis Philosophorum ist diese Schrift ital. ausgekommen: Della causa, principio ed uno, Venetia 584 in 12˚ .) aufzutreiben, worinn er sein principium coincidentiae erklärt das mir Jahre lang im Sinn liegt, ohne es weder vergeßen noch verstehen zu können. Wären Sie im stande das Buch dort aufzutreiben, so nähmen Sie sich vielleicht die Mühe mir zu Gefallen es durchzulesen, u mir einige Nachricht von seinem Innhalt u Begriffen mitzutheilen. Diese Coincidenz scheint mir immer der einzige zureichende Grund aller Widersprüche – und der wahre Proceß ihrer Auflösung und Schlichtung, allem Fehd der gesunden Vernunft und reinen Unvernunft eine Ende zu machen.18

Aus diesem Brief an Herder 1781 geht deutlich genug hervor, dass Brunos Koinzidenzlehre Hamann zwar bekannt gewesen ist – laut Nadler besaß Hamann zu dieser Zeit schon Brunos De triplici minimo et mensura (1591), worin die späten Ausformungen der Koinzidenzlehre und der Seelenwanderungstheorie vorkommen,19 aber er wollte offensichtlich tiefer und gründlicher forschen. Am 10. März 1788, wird Bruno erneut erwähnt in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi: „Den Jordanum Bruno will ich eventualiter in Weimar bestellen aus der Bibliothek zu Göttingen oder Jena.“20 Die Erwähnung von Bruno fällt in die Mitte des Pantheismusstreites und unmittelbar vor die zweite Auflage von Jacobis Briefen über die Lehre des Spinoza (1789). Ab 1786 ist Hamanns Einfluss auf F. H. Jacobi bezüglich Bruno und die Koinzidenzlehre nachweisbar. In den zahlreichen philosophiegeschichtlichen Studien ist diese Tatsache nie bestritten und weder von der älteren noch der jüngeren Forschung in Frage gestellt worden. Auch Harald Schwaetzer betont neuerdings, dass es Hamann war, der Jacobi ursprünglich auf Bruno aufmerksam machte.21. Schwaetzer stimmt auch Kirstin Zeyer bei ihrer Analyse von Jacobis Vermittlungs-Rolle für die Cusanus-Rezeption der deutschen Idealisten.22 Ihr zufolge war Jacobis Buch Über die Lehre des Spinoza mit der in der zweiten Auflage von 1789 angehängten Übersetzung des Auszuges aus Brunos De la causa, principio, et uno für die deutschen Idealisten ein zwar indirekter, aber sehr wichtiger Bezugspunkt auf Cusanus. Laut Paul Ziche und Harald Schwaet17 N III, 107,11–13. 18 ZH IV, 287,6–17; siehe auch die oben Anm. 8 genannten Briefstellen. 19 Josef Nadler : Johann Georg Hamann. Der Zeuge des Corpus Mysticum. Salzburg 1949, S. 408f. 20 ZH VII, 425,19f. 21 Schwaetzer: Ein unbekannter Bekannter (wie Anm. 7), S. 173 Anm. 25. 22 Kirstin Zeyer : Neuplatonismusrezeption im Umfeld der deutschen Idealisten (wie Anm. 7), S. 64f.

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zer, ließ Jacobi darin aber „den im Original des wiedergegebenen Bruno-Textes enthaltenen Verweis auf Cusanus aus.“23 Wenn Hamann die Koinzidenzidee von Bruno aufnahm, dann gilt es vorab die Frage zu beantworten: Wie verhält sich Brunos Koinzidenzlehre zu der des Cusanus? Einige Cusanusforscher gehen davon aus, dass sich in den Hauptpunkten des Koinzidenzdenkens der beiden Denker eine tiefgreifende Übereinstimmung findet. Kurt Flasch hebt die folgenden Punkte hervor: 1) Wie bei Cusanus, so ist auch Brunos Gott „das von allen Gegensätzen losgelöste Eine“ (unum absolutum super omnia, separatum ab omnibus) und „das einzige Gute“;24 2) „weder Bruno noch Cusanus haben die Differenz von Grund und Begründetem, Urbild und Abbild bestritten. […] Beide kannten die Differenz von Gott und Welt, aber auch bei Cusanus unterscheidet Gott sich durch Ununterscheidbarkeit von allen Weltdingen, die unterscheidbar sind. […] Im Lichte des Koinzidenzdenkens koinzidieren auch Unterschied und Nicht-Unterschied; der maximale Unterschied ist zugleich der minimale“.25 3) Beide haben „Gott als die Identität von Potenz und Akt erkannt“.26 4) Wie Cusanus sah auch Bruno bei Aristoteles ein „Versagen bezüglich des Dritten Prinzips, des nexus.“27 Es gibt jedoch auch zwei für die aufgegriffene Thematik wichtige Punkte zu nennen, in denen die beiden Denker – der Nolaner und Cusanus – voneinander abweichen: Erstens ist, laut Flasch, Bruno im Unterschied zu Cusanus weniger an der Trinitätstheologie interessiert.28 Zweitens hat Bruno die Koinzidenz der Widersprüche „eher im dunklen gelassen“, abgesehen davon, dass die coincidentia oppositorum „später aus seinen Werken rekonstruiert werden“ konnte (ebda, S. 157).29 Aber gerade die Trinitätstheologie ist für Hamann einer der Schwerpunkte seines Analogiedenkens um und nach 1773–1775. Sie ist bei ihm mit der Idee des Zusammenfalls der Gegensätze im Sinne des cusanischen Koinzidenzdenkens eng verbunden. Man betrachte vor allem in den Mysterienschriften Hamanns Verständnis der Trinität des dreifaltig-einigen Gottes und sein Verständnis der Schöpfung als trinitarisches Reden in der Natur und Geschichte sowie sein Verständnis der Schrift bzw. der menschlichen Sprache, die sich in Bildern, 23 Ebd., S. 64, Fußnote 15. Zeyer zitiert auch Schwaetzer : „Leider hatte Jacobi in seiner Paraphrase die Namensnennung des Cusanus bei Bruno ausgelassen, so daß dieser Gedanke auf Heraklit zurückgeführt wird […]“. 24 Flasch: Nicolaus Cusanus (wie Anm. 5), S. 155. 25 Ebd., S. 155 und 157. 26 Ebd., S. 155. 27 Ebd., S. 155. 28 Ebd., S. 155: „Die Kritik am Dualismus des Aristoteles war argumentativ selbständig; sie war keine bloße Funktion der Trinitätstheologie und löste sich bei Bruno auch de facto von ihr ab.“ 29 Ebd., S. 157f.

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Zeichen, Worten äußert. Es gibt auch hier einige bemerkenswerte Parallelen zu Cusanus: Das wahre Wesen, das Sein des Seienden, das unteilbar und namenlos ist, weil weder Bilder noch Begriffe es genau bezeichnen können, sehen wir in De Beryllo in excessu (Übersteigen), und im Sehen wird die Einheit des Gottes „berührt“ (attingere), als Ursprung, der zu uns spricht. Als Sein des Seienden und als Intellekt ist es seine intentio (Gedankenbestimmung, Sinngehalt – K. Flasch) sich zu zeigen. Cusanus erläutert dies an einer Analogie menschlicher Sprache. Das menschliche Wort ist immer ein Teil der sinnlichen Welt; nur wenn wir das Wesensbild (quiditas) einer Rede erfassen, erfassen wir die intentio des Sprechenden: Dementsprechend kann auch die ganze Schöpfung als Rede an uns vorgestellt werden: Was wir sinnlich vorfinden und aufnehmen, ist das Wort des Weltgründers; in ihm ist seine Gedankenbestimmung enthalten. Wenn wir diese wissen, wissen wir das Wesen der Sache (quiditatem) und kommen zur Ruhe. Der Grund der Aussageabsicht ist das Sichzeigen des ersten Grundes. […] Das wahre Sein, das seinsgebende Prinzip, ist im Intellekt als Gedankenbestimmung, so wie im vollendeten Haus die Gedankenbestimmung des Erbauers, die zunächst in seiner Vernunft war, sichtbar (De ber. n. 54).30

Die Apophatik, die Cusanus zu einem excessu führt, begründet wiederum seine Kataphatik: Die absolute Einheit des Ursprungs kann nicht begrifflich erfasst, sondern nur geistig berührt und gesehen werden; doch das, was berührt und gesehen wird kann nur in Zeichen symbolisiert werden. Und die Zeichen sind zeitgebunden, sie sind geschichtlich und wandelbar. Flasch: „Cusanus hat die Negation nicht auf die theologia negativa eingeengt, sondern ausdrücklich auf das Verhältnis jeder Vokabel zu ihrer Sache bezogen; unser Wort, unsere Begriffe und unsere Zeichen dachte er als ein zur Wesenheit nicht-adäquates Mischprodukt aus Erdenstoff, Konvention und gebrochenem, aber nicht aufgegebenem Wesensbezug.“31 Von diesem Verständnis der Sprache lässt sich eine Brücke auch zu Hamanns Verständnis der Schöpfung schlagen. Schöpfung ist für Hamann nichts anderes als eine „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“32. Man muss also die ,Naturrede‘ Gottes auch hören und übersetzen können. Sokrates’ Ausruf „Rede, daß ich dich sehe!“ verbindet das schöpferische Sprechen mit dem Sehen und Lesen: Rede Gottes wird zum Text.33 Der Terminus Textus bedeutet bekanntlich Zusam30 31 32 33

Flasch: Nicolaus Cusanus (wie Anm. 5), S. 121. Ebd., S. 94. N II, 198,29 (Aesthetica in nuce). Vgl. dazu Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt a.M. 1988, S. „Der Mensch ist, wie bei Paracelsus, wesentlich unsichtbar, d. h. Leib und Sprache sind physiognomische und ikonographische Zeichen des ,verborgenen Menschen‘ – analog wie Natur die Zeichenschrift des verborgenen Gottes ist. […] Sprache ist übersetzter Leib wie der Leib inkorporierte Natur ist. ,Übersetzung‘ ist der Prozeß, aus welchem Hamann die Zeichen durch Metaphorisierung

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mengewebtes, Struktur, Zusammenhang, Stoff, zusammenhängender Text.34 Elementum ist der Buchstabe des Stoffs (textus) der Welt, aber auch stoiwe_om (stocheion) eines Poems (poigla) des Schöpfers (Poigt^r).35 „Die Natur ist herrlich“, so Hamann, „wer kann sie übersehen, wer versteht ihre Sprache, sie ist stumm, sie ist leblos für den natürl. Menschen.“36 Die Natur ist für einen kreatürlich-natürlichen Leser stumm, geradezu tot. Wir haben an ihr lediglich „Turbatverse und disiecti membra poetae“, einen zum Teil verworrenen, zum Teil verlorengegangenen Text. Sie wird zu einer zusammenhängenden Rede und zum Poem nur, we sie ein gläubiger, d. h. ein wiedergeborener Leser liest. Auch für Cusanus ist der Gedanke der Lesbarkeit der Welt wichtig. Das göttliche Eine, das auch das Prädikat intellectus übersteigt, muss nicht nur das „Weltbuch“ schaffen, sondern auch einen Leser dieses Buches, der den Ausdruck des Einen in der Natur zu entziffern imstande ist. Bei Cusanus erfolgt das Sichzeigenwollen des weltbegründeten reinen Intellekts in einer Stufenabfolge: Seele – Natur – Körper. Dieses Modell beschreibt Kurt Flasch wie folgt: Die Hierarchie, die Cusanus hier voraussetzt, mit ihrem Abstieg von der unmittelbaren Universalität bis zur individuellen Kontraktion, weist einige Merkwürdigkeiten auf. Sie schiebt zum Beispiel zwischen Seele und Leib die Natur ein. […] Intellekt – Seele – Natur [sind] allgemeine Prinzipien […], nicht primär die Bestandteile des Menschen. Es handelt sich um eine allgemeine metaphysische Hierarchie, wie sie Plotin und Proklos kannten. Dennoch […] wenn wir im Menschen diese Stufen wiederfinden, […] dann finden wir in ihm eine strenge Monarchie: Der Intellekt vereint in sich alle Bestandteile; er ist ihre Wirk-, Formal- und Finalursache. […] Dies gilt für den Mikrokosmos, und es gilt für den Makrokosmos. […] Die sichtbare Welt ist der anschaulich gewordene Begriff; der menschliche Leib ist sichtbar gewordener Intellekt.37

Hierin liegt auch eine unübersehbare, aber nur scheinbar harte Diskrepanz zwischen Cusanus und Hamann: Nur wenn von Gott als reinem Intellekt gesprochen wird, können wir die Hierarchie mit dem Begriff enden. Aber das Eine als Intellekt ist eine Bestimmung, die nach Cusanus auch negativ gedacht werden

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hervorgehen läßt: von der Signatur der Dinge über die Physiognomie des Leibes zur Bedeutung der Wörter. Jede dieser ,Übersetzungen‘ ist ein ikonographischer Übertragungsvorgang, der den Zusammenhang zwischen Natur, Leib und Sprache nicht unterbricht […].“ Maximus Confessor (580–662) sieht im Stoff (textus) der Welt eine „äußere Bekleidung“ des Logos. Unter dieser „Bekleidung“ gibt es noch ein von oben „gewebtes Chyton – d. h. die Welt der körperlosen und intelligiblen Wesenheiten“; v gl. Maximus Confessor : Werke. Buch 2, Teil 1. Moskau 1993, S. 33f. Gregorios Palamas (1296–1359) sieht die Welt als „Schrift des selbsthypostasierenden Wortes“ (Gregorios Palamas: Gespräche (Omilii). Bd. 3. Moskau 1994, S. 130). Poigt^r – gr.: Poet, Schöpfer, von poi]y – machen, ausfertigen, von indoeuropaeischen k(u)ei – Schichten auftragen, aufbauen, aufeinanderstapeln in einer bestimmten Ordnung. Londoner Schriften, 152,16–18. Flasch: Nicolaus Cusanus (wie Anm. 5), S. 60f.

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muss, also ganz im Sinne der Koinzidenzlehre, als das, was jeden Begriff übersteigt, somit muss es auch als das Nicht-Begriffliche begriffen werden. Hamanns Autorschaft und Dialogizität waren von der Londoner Lebenswende her von der Erkenntnis der Kondeszendenz Gottes stark beeinflusst. Kondeszendenz als kenosis (zurückgehend auf Paulus, Phil. 2,5–11) wurde als freiwillige Selbstentäußerung, Selbsterniedrigung zur Knechtgestalt und „Gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,8) verstanden, besonders stark in der griechischen Patristik des Athanasius und Cyrill von Alexandria sowie auch in der lateinischen Patristik bei Hilarius von Poitiers.38 Auch Luthers KondeszendenzBegriff ist vom Kenosis-Gedanken stark bestimmt. Im 18. Jahrhundert setzte sich der Königsberger Professor für Logik und Metaphysik Martin Knutzen gegen deistische und neologische Auslegungen der Offenbarung ein, indem er die Überzeugung vertrat, dass „Gott bei der Offenbarung beziehungsweise bei der Herunterlassung aus pädagogischen Gründen nicht nur den Inhalt, sondern auch die Schreibart den begrenzten, menschlichen Erkenntnismöglichkeiten angepasst [hatte]. Bei dieser Offenbarung kommen Hoheit und Niedrigkeit, Einfalt und Weisheit zur gleichen Zeit zu Wort.“39 Von diesem Verständnis der Kondeszendenz ist auch Hamann beeinflusst. Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, – historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch seyn können. Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgend eine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein.40

Wenn die Natur für Hamann ein Sich-zeigen-wollen und eine Mitteilung Gottes in einer Sprache ist, die nachgeahmt und übersetzt werden muss, teilt sich die Geschichte (und auch die Funktion der Historiographie) in drei Stufen: die erste poetische Stufe beruht auf einer innigen Verwandtschaft ikonologischer signa und res; die zweite historische Stufe beruht auf symbolischer Signifikation; die dritte philosophische Stufe beruht auf dem konventionellen Zeichensystem.41 38 Christina Reuter : Autorschaft als Kondeszendenz. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität. Berlin/New York 2005, S. 15, Anm. 31: „In diesem Zusammenhang gilt es auch zu bedenken, dass die Erniedrigung des in Gottes Gestalt weilenden Gottgleichen immer schon auf die Erhöhung zum Herrn – zum Kyrios – bei seiner Parusie weist. Eine ähnliche Dynamik findet sich übrigens bei den mystischen bzw. neuplatonischen Bewegungen der Extase und Enstase bzw. Emanation und Remanation, wobei diese allerdings gegenüber der Paulusstelle in Phil. 2,5–11 abstrakter sind und dessen Zentrum – Gottes freiwilligen Tod am Kreuz – nicht zum Ausdruck bringen (Dazu auch: Haas, Alois M. Mystik als Aussage, Frankfurt a.M. 1996. S. 62–83 v. a. 75).“ 39 Ebd., S. 20. 40 N II, 199,4–9 (Aesthetica in nuce). 41 Yoshikatsu Kawanago, Geschichte und Apokalyptik bei Immanuel Kant und Johann Georg Hamann. In: http://www004.upp.so-net.ne.jp/kawanago/ GSCHAP.HTM: „Hamann greift

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Das Schema von drei Stufen der Signifikation legt Hamann einer Typologie der Heilsgeschichte zugrunde, die Anfang, Mitte und Ende der Zeiten umspannt, wo das Vergangene aus dem Kommenden, aus der Zukunft im Jetzt (ein Heute vor Gott) verstanden wird: Der Christ allein ist der Herr seiner Tage, weil er ein Erbe der Zukunft ist. So hängt unsere Zeit mit der Ewigkeit zusammen, daß man selbige nicht trennen kann ohne beyden das Licht ihres Lebens auszublasen. Ihre Verbindung ist die Seele des Mschl. Lebens, so ungleich sie auch ihrer Natur nach sind, wie die Verbindung der Seele mit dem Leib das zeitl. Leben ausmacht.“42 „[…] die Schrift lehrt uns Christen, die Zeit, die ganze Dauer derselben, nach Gottes Rechnung betrachten. […] Was unser Leben ist; das ist die Dauer der ganzen Welt; nichts mehr als ein Heute vor Gott und vor jedes Geschöpf. […] Ist es wir, die wir sterben? nein, die Welt, die uns stirbt, die für uns vergeht […]. Der Tod jedes Menschen ist also die Zeit, wo diese Offenbarung zum Theil an jeder Seele des Menschen erfüllt wird. In dem Verstande ist es buchstäblich wahr, daß die Zeit der Erfüllung nah ist […].43

Die Mitte der Zeiten ist die Menschwerdung Christi. In den Biblischen Betrachtungen bringt Hamann zwei Extreme, die Versuchung unseres Heilands mit der Geschichte von Adams Fall in einen Vergleich, um sowohl den Ursprung der Schwäche und Hinfälligkeit menschlicher Natur als auch die Möglichkeit ihrer Stärke und ihrer Würde bezüglich ihrer Apotheose zu verstehen: Unser Stammvater war im Garten, den Gott gepflanzt hatte, unter einem Überfluß von den schönsten Früchten; wir sehen unsern Erlöser in der Wüsten. […] Man setze also den Hunger des Erlösers hier in Vergleichung mit dem Übermuth, den Adam trieb, von dem verbotenen Baum zu essen. Nicht Hunger, nicht Mangel, sondern die Verachtung des göttlichen Befehls, des göttlichen Worts […]. […] was wäre menschlicher gewesen, als die Gelegenheit, die Satan gab, ihn [sc. Jesus] zu überführen, daß der Erlöser Gottes Sohn wäre, zur Unterstützung der Menschlichen Kräfte anzuwenden? Nein! Hier war der Augenblick, in dem ein Mensch sich der Göttlichkeit antäußern mußte, die kein Raub in ihm war, um das Verbrechen Adams zu büßen […]. Nein! Gott […] hält den Fürsten der Hölle nicht werth, seine Allmacht sehen zu lassen, die er […] nur fühlen sollte.44 hier auf die Genealogie des Schriftzeichens zurück, die seit Clemens von Alexandria gängig geworden ist. […] Biblische Offenbarung und existenzielle Empfindung – daraus stammte also die Hamannsche Stilmischung von genus sublime und genus humile, womit er der Rede der Propheten nachfolgte. Seine Autorschaft wurde dabei durch ein ,typologisches‘ Geschichtsverständnis tief geprägt. Wie die Propheten mit ihrer Bildersprache den Dialog mit dem geschichtlichen ,Vor-bild (Typus)‘ gedeutet hatten, so betonte Hamann den Sprach- und Erzählcharakter der Geschichte. Die Geschichte sollte als Rede Gottes, als sinnlicher Typus ,gehört‘ werden. Dabei heißt ,Hören‘ Gleichzeitig-Werden mit einem Ereignis der Vergangenheit.“ 42 Londoner Schriften, 131,32–37. 43 Londoner Schriften, 308,26–38. 44 Londoner Schriften, 260,2–39.

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Der verächtliche Hohn Adams, der zugleich ein Urbild jedes weiteren Modus des „Turmbaus der Vernunft“ in sich hat, trägt in sich die Schwäche, die in einer absteigenden Linie die menschliche Natur verleitet. Die vermeintliche Schwäche des Heilands dem Satan gegenüber offenbart hingegen die Stärke und Macht der majestätischen Eigenschaften Gottes, die zu sehen Satan nicht würdig war. Beide Extreme enthalten in sich die Gegensätze: im Hohn Adams ist das Minimum an wahrem Sein des Menschen als imago dei, in der Erniedrigung und Entäußerung Christi hingegen ist sein Maximum zu sehen. Ein präzises Beispiel der Koinzidenzmetaphorik Hamanns liefert uns eine Stelle aus den Brocken: „Ist das kleinste Gräschen ein Beweiß Gottes; wie sollten die kleinsten Handlungen der Menschen weniger zu bedeuten haben? Hat die Schrift nicht das verächtlichste Volk ausgesucht, eines der kleinsten, die schlechtesten Handlungen, ja die sündlichsten derselben, um Gottes Vorsehung v Weisheit darin einzukleiden v ihn zu offenbaren in solcher Erniedrigung der Bilder. Natur und Geschichte sind daher die 2 Commentarii des göttl. Wortes; und dies hingegen der einzige Schlüssel uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen.“45 „Nachdem GOTT durch Natur und Schrift, durch Geschöpfe und Seher, durch Gründe und Figuren, durch Poeten und Propheten sich erschöpft, und aus dem Othem geredt hatte: so hat er am Abend der Tage zu uns geredt durch Seinen Sohn, – gestern und heute! – bis die Verheißung seiner Zukunft – nicht mehr in Knechtsgestalt – auch erfüllt seyn wird –“46

Der allmächtige Gott hat sich „erschöpft“! Hamann weist hier auf einen Knotenpunkt der Geschichte hin, indem er das Reden Gottes in der Natur und im Alten Testament als eine schon geschehene Offenbarung bezeichnet, als ein Zuvor derjenigen Offenbarung, der ein Jetzt folgt, das wiederum auf das kom45 Londoner Schriften, 411,25–33. – Von zwei Büchern – dem der Schrift und dem der Natur – schrieb einer der früchristlichen Väter, Ephraem Syrus, wie folgt: „Moses beschrieb in seinem Buch die Genese der Natur, damit die Natur wie auch die Schrift von einem Schöpfer berichten: die Natur, indem wir sie nutzen, die Schrift, indem wir sie lesen. Diese beiden Zeugen gehen um jedes Land herum, bleiben uns zur jeder Zeit, sie sind immer vor unseren Augen da und beschuldigen die Übertreter, die den Schöpfer leugnen.“ (Über das Paradies. In: Ephrem Syrin: Schriften. Teil 5, 4. Aufl. Svjato-Troizkaja Sergieva Lavra 1900, S. 270) Auch Bacon spricht von einer Offenbarung in zwei Büchern: „Damit wir nicht in Irrtum geraten, gab Er [Gott] uns zwei Bücher : die Schrift, in der uns der Wille Gottes geoffenbart wurde, und dann das Buch der Natur, das uns über Seine Macht unterrichtet. Das zweite Buch ist sozusagen ein Schlüssel zu dem ersten, es soll nicht nur unsere Vernunft zur Aufnahme des wahren Sinns der Schrift aufgrund der allgemeinen Gesetze des Denkens und der Sprache vorbereiten, sondern hauptsächlich unseren Glauben weiterentwickelnd uns zu den tieferen Überlegungen über die Allmacht Gottes, dessen Zeichen in den Stein seiner Schöpfung geprägt sind, hinlenken“ (Francis Bacon: Werke in 2 Bd. Moskau 1971. Bd. 1, S. 128 – eigene Übersetzung aus dem Russischen). 46 N II, 213,6–11 (Aesthetica in nuce).

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Sergei Volzhin

mende Danach abzielt, in dem das Woher mit dem Wozu vereint werden. Gott erschöpfte sich, und doch sprach er – gestern und heute! – zu uns durch seinen Sohn, der sich freiwillig erniedrigte und Knechtsgestalt annahm, verband in sich einen Abstieg bis in die extremste Entäußerung herab mit einem Aufstieg zu einer majestätische Höhe und Fülle hinauf: In einem Mininum an Allmacht Gottes lässt sich ihr Maximum erblicken. In seiner Rede und als Rede verbindet Gott in sich Anfang und Ende, Ausgang und Rückkehr des Seienden, Genesis und Parusie. Den schlechthinnigen Höhepunkt aber erreicht die Kondeszendenz auf Golgatha: „Das Zusammentreffen von Golgatha, dem Ort der äussersten Erniedrigung Gottes, mit dem Rätselwort Scheblimini, dem Ort der äussersten Erhöhung Gottes, kommt sowohl einem Maximum an Kondeszendenz als auch einem Konzentrat einer coincidentia oppositorum gleich.“47 Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist zugleich die Mitte aller zeitlichen, historischen Peripherie: […] kein einziger Plan, als der durch Christum, das Haupt und durch den Leib seiner Gemeinde offenbart worden, erklärt die Geheimniße der höchsten, einzigsten, verborgensten und zur Mittheilung Ihrer selbst aufdringlichsten Majestät, dem ganzen System der Natur und menschlicher Geselligkeit analogischer, den willkührlichsten Gesetzen gesunder Vernunft und den nothwendigsten Schlußfolgen lebendiger Erfahrung gemäßer. Das im Herzen und Munde aller Religionen verborgene Senfkorn der Anthropomorphose und Apotheose erscheint hier in der Größe eines Baums der Erkenntnis und des Lebens mitten im Garten – aller philosophische Widerspruch und das ganze historische Rätzel unserer Existenz, die undurchdringliche Nacht ihres Termini a quo und Termini ad quem sind durch die Urkunde des Fleisch gewordnen Worts aufgelöset.48

In allem Menschlichen wirkt das Göttliche. Das Erschaffene und das Endliche ist nicht völlig abgetrennt von dem Unendlichen und Unbedingten, sondern beide Extreme fallen in das Eine zusammen; doch dieses Zusammenfallen ist keine abstrakte, keine über allen Gegensätzen ruhende Indifferenz, sondern ein dynamischer nexus, ein Prozess und eine communicatio, eine in sich bewegte und zugleich ruhende Dynamik: Wenn man Gott zum Ursprung aller Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden, voraussetzt; so ist jedes gezählte Haar auf unserm Haupte eben so göttlich, wie der Behemoth, jener Anfang der Wege Gottes. […] Folglich ist alles göttlich […]. Alles Göttliche ist aber auch menschlich; weil der Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der Analogie seiner Natur, sie sey eine so einfache oder zusammengesetzte Maschiene, als sie will. Diese communicatio göttlicher und

47 Reuter : Autorschaft als Kondeszendenz (wie Anm. 59), S. 35. 48 N III, 192,12–26 (Zweifel und Einfälle).

„Suche nach dem Faden, der in das Labyrinth geführt, um wieder herauszufinden“

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menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unserer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung.49

Hamanns Gott ist, cusanisch gesprochen, ein Maximum im Minimum: Er ist Alles-in-Allem und ein Nichts zugleich; er ist eine unendliche Kraft und Ruhe zugleich, seine Präsenz ist seiner Abwesenheit im Seienden gleich. In der Aesthetica sagt Hamann: „Ein Wunder von solcher unendlichen Ruhe, die GOTT dem Nichts gleich macht, daß man sein Daseyn aus Gewissen leugnen oder ein Vieh sein muß; aber zugleich von solcher unendlichen Kraft, die Alles in Allen erfüllt, daß man sich vor seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß!“50 Hier legt sich ein Vergleich mit dem Gottesbegriff des Cusanus nahe. „Der Cusanische Gott ist alles mögliche Sein; er ist das unendliche Groß-Sein, das alles Große und Kleine einschließt. […] und es ist […] ebenso wahr, von ,Gott‘ zu sagen, er sei ,lebendig‘, wie zu sagen, er sei ,tot‘. Wir denken ihn als Einheit, Einsicht und Mitteilungslust nur dann Cusanisch, wenn wir ihn zugleich als Nicht-Einheit, als Nicht-Einsicht und als Nicht-Mitteilungslust gedacht haben.“51 Auch an das cusanische Verständnis von Glauben und Wahrheit ist zu erinnern: Cusanus „sah in Jesus die Wahrheit, aber er war überzeugt, Jesus und Proklos lehrten dasselbe; daher konnte er voraussetzen, die ,Wahrheit‘ ließe sich auch aus Proklos ermitteln. Vor allem aber dachte Cusanus auch seinen Begriff von ,Glauben‘ im Licht der Koinzidenzlehre und behauptete, der maximale Glaube sei ein Minimum an Glauben und ein Maximum an zweifelsfreier Gewißheit, also an Einsicht […].“52 Jedoch lässt sich Hamanns lutherisch geprägter Kondeszendenzbegriff kaum mit dem Intellektualismus und Finalismus des Cusanus vereinbaren. Als sperrig erweist sich nicht zuletzt der Glaubensbegriff Hamanns, wie er in seinem Brief an Johann Gottlieb Steudel vom 4. May 1788 zum Ausdruck kommtt: Der Glaube ist nicht Jedermanns Ding. […] Ohne eine individuelle Vorsehung kann Gott weder Regent des Weltalls noch Richter der Menschen und Geister seyn. Ich bin von dieser Wahrheit a priori durch das gegebene Wort der Offenbarung und a posteriori durch meine und die tägl. Erfahrung überzeugt. Das höchste Wesen ist im eigentlichsten Verstand ein Individuum das nach keinem andern Maasstab als den er selbst giebt und nicht nach willkührl. Voraussetzungen unsers Vorwitzes und naseweisen Unwißenheit gedacht oder eingebildet werden kann.53

49 50 51 52 53

N III, 27,2–14 (Ritter von Rosencreuz). N II, 204,10–14 (Aesthetica in nuce). Flasch: Nicolaus Cusanus (wie Anm. 5), S. 141f. Ebd., S. 140. ZH VII, 459,34–460,6.

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Dass Hamann nicht nur die sinnliche Erkenntnis hevorhob, sondern zu einem ganzheitlichen Denken (nicht aber im Sinne einer Einheitsphilosophie!) strebte, bezeugt folgende Stelle aus dem Brief an Herder vom 3. August 1786: Wenn ich Eins im Kopf habe, vergeht mir die Lust zu Allem. Das mein Em jai pam. Nichts ist reif. Äußere Umstände müßen noch meine innere Ahndungen beßer entwickeln. Ich traue eben so wenig deutlichen als dunkeln Begriffen; man kann sich durch beyde hinters Licht führen laßen; denn Finsternis ist wie das Licht, wie der Psalmist sagt. Ich suche nach dem Faden, der mich in das Labyrinth geführt, um wieder herauszufinden.54

54 ZH VI, 512,31–37.

Lauri Snellman (Helsinki)

Johann Georg Hamann on Faith and Reason, Idealism and Realism

Johann Georg Hamann (1730–1788) developed an interesting view of faith and reason, realism and idealism. Hamann grounds his views of nature and history as a divine Word, and human reason as a sensuous, linguistic and traditionmediated response to reality. Hamann’s views have had a huge subterranean impact on 20th century philosophy, and they offer rich starting-points in contemporary debates. Faith, reason, idealism and realism are among the most important philosophical terms. Realism can be broadly understood to be the position that objects of our knowledge and their properties are independent of our knowledge of them. Idealism holds that knowledge of the world and even the known objects are structured by the knowing subject in some way. Faith is usually understood as the assent of mind to a belief or claim, especially in religious practices. Reason is the capability to form and evaluate beliefs on the ground of good arguments.1 Hamann gives his own interpretation of these concepts. In this paper, I chart Hamann’s concepts of reason and faith, and then connect them through his concept of human cognition as a linguistic, sensuous and practical response to nature and history. I also explore Hamann’s connections to Martin Luther, David Hume, Ludwig Wittgenstein and the contemporary debate on theological critical realism.2 I interpret Hamann on the basis of the work of Oswald Bayer, Gwen Griffith-Dickson and John Betz.3 1 These definitions are overviews of how philosophers use these terms. They are based on the dictionary articles of Nicholas Rescher: Idealism. In: A Companion to Epistemology. Ed. by Jonathan Dancy and Ernest Sosa. Oxford 1992, p. 187–191; Philip Pettit: Realism. In: ibid., p. 420–424; Alvin Plantinga: Religious belief, epistemology of. In: ibid., p. 436–441; and Alastair Hannay : Faith and reason. In The Oxford Companion to Philosophy. Ed. Ted Honderich. Oxford 2005, p. 288. 2 Alister McGrath presents theological critical realism in: A Science of God. London 2004. The critical realist philosophy is based on Roy Bhaskar : A Realist Theory of Science. Leeds 1975. 3 Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart 2002; Oswald Bayer: A Contemporary in Dissent. Johann Georg Hamann as a Radical Enlightener. Grand Rapids, MI 2012; Gwen Griffith Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism.

358

1.

Lauri Snellman

Basic overview

Hamann sums up his basic approach to the problem of realism and idealism as Faith Realism 4 follows: Reason ¼ . He also associates the distinction into realism and ideIdealism alism with the distinction of reason and the senses by stating: “Every philosophy consists of […] idealism and realism = sensibility and rational conclusions.”5 Knowledge is based on faith, because our understanding is dependent on the senses to get its material: “Knowledge being based on faith is at the bottom identical with: ‘Nihil in intellectu’.”6 Moreover, existence is the object of faith: “Is being or being in itself a real object? No, as it is the most general relationship, whose existence and properties must be taken on faith.”7 Reason is based on conceptual relationships given through language-use: “Reason is language, Kocor.”8 We can then sort Hamann’s concepts into two clusters of mutually related concepts. Faith, the senses, realism and existence are related to each other. Experience connects us with reality and existing objects, when we believe our sensations. Reason is based on language, as its concepts are formed through language-use. It is idealistic or constructivistic, because relationships of language-use are a human construction.

2.

Faith and reason

Dickson and Betz argue that Luther and Hume are the key influences behind Hamann’s view of faith.9 Hamann connects Hume’s theory of faith to Luther’s theology of Divine Presence through faith and the Word. According to Hamann, our knowledge is sola fide or “by faith alone”.10 Hamann argues like Hume that entering relationships with objects presupposes that we trust our senses and have a belief-system to interpret experience. He then uses Luther’s view of faith as a personal relationship with God to construct a new version of the classical

4

5 6 7 8 9 10

Berlin 1995; John Betz: Enlightenment Revisited. Hamann as the First and Best Critic of Kant’s Philosophy. In: Modern Theology 20/2 (2004), p. 291–301; John Betz: After Enlightenment. Oxford 2009. ZH VII, 176. I have translated the Hamann quotations myself using the translations of Haynes, Dickson and the translation of A Contemporary in Dissent as a background, unless I directly quote them from another source. The Bible quotes and allusions are from the New Revised Standard Edition (NRSV). ZH VII, 165. ZH VII, 166. ZH VII, 169. ZH V, 177; Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 1–4. Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 48–53, 61–74; Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 82–84. John Milbank’s expression, cf. Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 82–84.

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concept of knowledge. According to the classical concept of knowledge, the senses take in the form of the known object. The intellect of the knower then conforms to the object, or is adequate to it.11 Hamann argues that objects, the divine ideas and causal structures they embody are part of sensuously mediated relationships forming the belief system and practices of the believer. The believer then internalizes them through his beliefs and practices. David Hume develops a theory of belief in his Enquiry concerning Human Understanding.12 Since Enlightenment reason is an autonomous system of sensedata and the relationships of reason, it could be detached from the world and one cannot go outside it to compare it with the world. Similarly, causation is not a logical relationship between atomistic sense-data and states of affairs. It therefore cannot be established through reason. Establishing it through the senses involves presupposing that events are similarly connected in the future, which is just another way to say that causation stays the same. Therefore human knowledge is based on a tendency to form beliefs of the external world and to connect objects with each other. When one has a sensation of a computer in the front of me, one believes that there is a computer in the front of me. Similarly, if one repeatedly eats bread and associates the sensation of eating bread with the sensation of being nourished, one connects the ideas of eating bread and feeling nourished into an experience of a causal chain. Hume calls “belief” the tendency of forming such strong beliefs on the grounds of associating experiences. Belief is also psychologically more convincing than fancy, so it is the basis of distinguishing truth from falsehood. Bayer argues that Luther’s reformatory breakthrough was the doctrine that God is present through the Word. The words “I absolve you of your sins!” are not referential. They themselves form the activity of God and God is present through them.13 The Finnish Luther scholar Tuomo Mannermaa interprets Luther’s views of the happy exchange by emphasizing that Luther holds Christ to be really present through faith. When man believes in Jesus Christ, God transfers man’s sin to Christ and man participates in Christ. The believer gains the holiness of Christ, and Christ forms his practices, internal attitudes and mental models. According to Luther, “Faith takes hold of Christ and that He is the form that adorns and informs faith like color does the wall. […] Christ is the object of faith, or rather not the object but […] the One who is present in the faith itself.”14

11 See Tumo Mannermaa’s essay Why Is Luther So Fascinating? (in: Union with Christ. Ed. by Carl E. Braaten and Robert Jenson. Grand Rapids, MI 1998, p. 1–20, here p. 5–6). 12 David Hume: An Enquiry concerning Human Understanding. La Salle 1949. 13 Oswald Bayer: Schöpfung als Anrede. Tübingen 1991, p. 36–39. 14 Martin Luther : Works. Ed. By Jaroslav Pelikan and Helmut T. Lehmann. Vol. 26. Philadelphia, PA 1963, p. 129.

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This also leads to a classical concept of knowledge: faith is true, because its models, attitudes and practices have been adequately formed by Christ.15 Hamann takes these themes up in his theory of “epistemic justification by faith alone”. For him, faith is the foundation of knowledge and it precedes arguments: “Our existence and the existence of the external world must be taken on faith and cannot be established any other way.”16 Gwen Griffith-Dickson also argues that Hamann holds faith to be a personal relationship with the objects and facts of knowledge and thus like religious belief: “What is more certain than that all men must die, and which truth is known on the basis of stronger and more general evidence? However, nobody is as clever to believe it as the one who according to Moses was taught by God that he must die.”17 Here the relationship between Moses and God allows Moses to believe that he is mortal, so a personal relationship of faith makes it possible for Moses to draw the right conclusions from the evidence and accept the truth. Hamann also links faith with the Humean term “Empfindung”. It means a holistic experience linking sensations, like the sensation of eating bread and being nourished, into meaningful experiential wholes. Moreover, knowledge and belief are rooted in practices: “There are proofs that can be false just as little as the use of the truths they prove, and one indeed can believe the proof of a proposition without giving assent to the proposition itself.”18 Beliefs are then anchored in various uses, and the use guarantees the truth of the belief and justifies it. Moreover, sensuous beliefs make objects and the divine ideas in their connections present to the mind. In his creation myth, Hamann presents a scenario: Every natural phenomenon was a Word – a sign, sensuous picture and object of a new […] union, communication and community of divine energies and ideas. In the beginning, everything that man heard with his ears, saw with his eyes and touched with his hands, was a living Word, and God was the Word. With this Word in the mouth and in the mind the genesis of language was as natural […] as child’s play.19

In Hamann’s creation myth, natural objects and states of affairs form a relationship with God by making causal processes and divine ideas present. Man then forms a relationship with the objects and ideas through sensuous practices. He thus internalizes these ideas into his practices, experiences and mental

15 Tuomo Mannermaa: Christ Present in Faith. Minneapolis, MN 2005; Union with Christ (see note 11), p. 1–51. 16 N II, 73. 17 N II, 73. 18 N II, 73. 19 N III, 32. The original words are “Mit diesem Worte im Munde und Herzen […].” “Heart” means thought in the Bible, so I translate “im Herzen” to mean “in the mind”.

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models. Knowledge is then true and adequate to its objects, as it is formed through a relationship with them.20 Hamann is widely known for showing that reason is based on language.21 Hamann takes up this theme in his metacritique of Immanuel Kant. According to Hamann, reason is not autonomous, because the logical forms underlying logical representations are themselves the products of language-use: “There is no need for a deduction to establish the genealogical priority of language over the seven holy functions of logical sentences and arguments. Not only does the entire ability to think rest on language, but language is the centre of misunderstanding of reason with itself […].”22 Since the confusion of reason is the confusion of language, philosophy explores conceptual links and problems by developing a grammar of our concepts and language-use: Do you dear Pollux understand my principle that reason is linguistic and that I follow Luther in turning entire vvy into a grammar and a basic text of our knowledge, to an algebra and constructions through equations and abstract signs, which mean nothing by itself and everything possible and real by analogy?23

Betz argues that Hamann’s critique of Kant marks the first linguistic turn in Western philosophy. This also points forward to the 20th century linguistic critiques of philosophy by Wittgenstein and Martin Heidegger.24 Wittgenstein also discussed Hamann’s writings with Maurice O’Connor Drury in 1930, when he was forming his views on meaning, use and the harmony of language and reality : I have been reading in a German author, a contemporary of Kant’s, Hamann, where he says, commenting on the story of the Fall in Genesis: ‘How like God to wait until the cool of the evening before confronting Adam with his transgression.’ Now I would not for the life of me dare to say, ‘how like God.’ I wouldn’t claim to know how God should act. Do you understand Hamann’s remark? Tell me what you think – I would really like to know.25

Helmut Hein similarly argues that Hamann and Wittgenstein have a common strategy of criticizing the Enlightenment. They emphasize the union of reason 20 Man then appropriates divine ideas. See Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 187–188, 239–242; Ulrich Moustakas: Urkunde und Experiment. Berlin 2003, p. 79–89; and Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 162–163. 21 ZH V, 177. Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 1–4. 22 N III, 286. Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 251; Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 284; Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 264–279. 23 ZH VII, 169. Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 313–328. 24 Betz: Enlightenment Revisited (see note 3), p. 291–292; Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 230–232. 25 Wittgenstein in a conversation with Maurice O’Connor Drury in 1930, published in Maurice O’C. Drury : Conversations with Wittgenstein. In: Ludwig Wittgenstein. Personal Recollections. Ed. by Rush Rhees. Oxford 1981, p. 112–189, here p. 122.

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and senses, the mind and the world (or realism and idealism, to put the matter differently) in language-use. Hamann’s view on the linguistic origin of concepts and the harmony of language and reality is best understood by connecting it with Luther’s view of sacraments and Wittgenstein’s rule-following argument.26 Bayer interprets Hamann’s critique of Kant in the light of Luther’s doctrine of sacraments.27 Luther takes a sacrament to consist of an element, like bread and wine, and the Words of Institution, like “This is my body.” Together they mediate the relationship of the New Covenant and make Christ present through the material elements. Hamann explains his argument: “What transcendental philosophy is vainly fishing for with its long writings, I have pointed to the sacrament of language for the sake of the weak reader, the letters as its elements and the spirit of its institution.”28 Language then consists of elements and an institution. Together they make a spiritual reality present through relationships. The elements are word-signs, like “Let’s play a game of chess!” The institutions of language are practices of language-use that connect the word-signs with sensuous practices that involve the objects themselves. For example, the practices of using language in chess-games connect the words “Let’s play a game of chess!” with the practices of making moves, chess-kings and the rules of chess: Words […] only become definite objects for the understanding through their institution of meaning in use. It is well known that this meaning and its determination consists of the combination of an a priori arbitrary but a posteriori necessary word-sign with the intuition of an object. The concept of an object is then given to, stamped upon and made concrete for the understanding through this repeated band mediated both by the word-sign and the intuition of the object.29

The concepts of reason are then mediated and made present for the understanding through language-use. This forms the harmony of language and reality : 26 Helmut Hein: Hamann und Wittgenstein. Aufklärungskritik als Reflexion über die Sprache. In: Acta 1980, 21–57; Hans-Johann Glock: AWittgenstein Dictionary. Oxford 1996, p. 20–24; William H. Poteat: Polanyian Meditations. In Search of a Post-Critical Logic. Durham, NC 1985; Regine Munz: Ludwig Wittgenstein. Vom Vortrag über Ethik zu Vorlesungen über religiösen Glauben. In: Globales Ethos. Wittgensteins Sprachspiele interkultureller Moral und Religion. Ed. By Wilhelm Lütterfelds and Thomas Mohrs. Würzburg 2000, p. 125–145; Jonathan Gray : Hamann, Nietzsche and Wittgenstein on the Language of the Philosophers. In: Hamann and the Tradition. Ed. by Lisa Anderson. Evanston, IL 2012, p. 104–121; Martin Kusch: Disagreements and Pictures in Wittgenstein’s ‘Lectures on Religious Beliefs’. In Image and Imaging in Philosophy, Science and the Arts. Ed. by Richard Heinrich, Elisabeth Nemeth, Wolfram Pichler and David Wagner. Vol. 1. Frankfurt a. M. 2011, p. 35–58; Tim Labron: Wittgenstein and Theology. London 2009; and Charles Taylor (Philosophical Papers. Vol. 1. Cambridge, UK 1985) offer similar interpretations of Wittgenstein and of his connections to Hamann. 27 Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3). 28 N III, 289. 29 N III, 288.

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language-use connects the meaning of the words “Let’s play a game of chess!” with the words themselves and the words with the practices of playing chess. Therefore it connects meaning of the words “Let’s play a game of chess!” with the rules of chess, chess-pieces and practices of playing chess. The triadic relationship of the sign, object and meaning takes place in lived relationships, or forms of life: “The ‘combination’ and the ‘band’ of this triad is a living one only inside specific forms of language and life.”30 Hamann also argues that since the concepts of reason are constituted in language-use and language-use is arbitrary, there are many conceptual schemes. These different conceptual schemes lead to different interpretations and experiences of the same objects: “Different philosophies and different religions presuppose different languages, different representations and different names for the same objects. They describe the objects according to the conceptual necessity and freedom of their view-points.”31 They also lead to different rationalities: one conceptual system can call something “reason” and give good arguments for this claim according to its own criteria. Others may similarly call it “delusion” with grounds that are equally good according to their own criteria. Resolving these conflicts of different conceptual schemes involves comparing them. This involves enriching one’s own conceptual scheme with the concepts of the other schemes and trying to resolve the conflict of interpretations by constructing a new, more adequate language through communicative action.32

3.

The interrelatedness of faith and reason in Hamann

Hamann thus connects faith with forming a relationship with reality by believing in the senses, and reason with concepts based in language-use. He emphasizes that faith and reason are intertwined: “Faith needs reason just as much reason needs faith. […] Nevertheless, scholastic reason is divided into idealism and realism. Real reason does not know this fictional separation, which is not based on the nature of things and contradicts their unity […].”33 Hamann is not an

30 Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 387, 29–35, 374–396, 413–422; Ludwig Wittgenstein: Philosophical Investigations. Transl. by G. E. M. Anscombe. Oxford 1953, p. 431– 432; Gordon P. Baker and Peter M. S. Hacker : Wittgenstein. Rules, Grammar and Necessity. Oxford 1985, p. 81–91, 130–131. 31 ZH VII, 175. 32 Oswald Bayer: Autorität und Kritik. Tübingen 1991, p. 39–41; Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 5–9. Alasdair MacIntyre (Whose Justice? Which Rationality? London 1988) has a similar view of comparing rationalities. 33 ZH VII, 165.

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irrationalist, as both faith and reason are necessary to produce knowledge.34 Hamann illustrates the interdependence of faith and reason by discussing the relationship between reason and the senses. He uses the metaphor of the stomach and blood vessels. Reason directs the senses and senses supply reason with material to build its concepts. Our knowledge is theory-laden, as reason and arguments control the interpretations of the senses: “In human nature, sensation cannot be separated from reason any more than reason from sensation. […] Sensation must be limited with rational arguments.”35 The senses and reason are thus aspects of a unity underlying our knowledge: the senses hand us information about the world and we believe them, and we then interpret the information rationally through our concepts: “Sensation and rational knowledge are both dependent both on the relationship of things and their properties to our sense-organs, and on the relationships between our representations.”36 Hamann argues that the abstract concepts of reason and the particular and concrete sensations are united in linguistic practices. “A great philosopher has claimed that ‘all general ideas are nothing but particular ones, annexed to a certain term, which gives them a more extensive signification, and makes them recall upon occasion other individuals that are similar to them.”37 Bayer shows that Hamann means that general concepts are connected to particular objects in language-use. Hamann takes particular ideas or intuitions to be sensuously mediated practices. The forms of intuition are the rhythm of music and painted shapes, so intuitions are sensuous practices like playing and listening to music, concentrating on a shade of blue, tracing the outline of a form and drawing paintings. These intuitions are then organized through language: language-use attaches a word-sign to these practices and their sensuous representations, so the concepts of language-use classify experience, bring its dynamic patterns into focus and make it intelligible.38 Hamann uses the Christological doctrine of communicatio idiomatum as a model for the intertwining of reason and the senses in language. According to the doctrine of communicatio idiomatum, humanity and divinity are intertwined in the person of Christ, so everything that 34 Haynes, Dickson and Betz all refute the Unger-Berlin theory of Hamann as an irrationalist. They show that it is based on a tendentious 19th century Hegelian reading and the Enlightenment theory of reason. Kenneth Haynes: ‘There is an Idol in the Temple of Learning.’ Hamann and the History of Philosophy. In Hamann and the Tradition (see note 26), p. 33–51; John Betz: Reading Sibylline leaves. In: Hamann and the Tradition (see note 26), p. 5–32, here 7–9; Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 13–15. 35 ZH VII, 166. 36 ZH VII, 154. See Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 198–199, 233–234, 312–313, 344–346. 37 N III, 283. 38 N III, 286. Wittgenstein: Philosophical Investigations (see note 30), S. 33–35. Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 223–225, 329–336.

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holds of the divine nature also holds of the human nature and vice versa. The rational characteristics of language are similarly intertwined with the sensuous ones, and thereby reason becomes sensuous and the senses rational: ordinary language gives us a most beautiful parable of the hypostatic union of the sensible and rational natures, the mutual communicatio idiomatum of their powers, the synthetic secrets of both of the corresponding and opposed forms a priori and a posteriori, and the transubstantiation of subjective conditions and subsumptions into objective predicates through the copula of a command or a curse.39

Concrete sensuous objects are then subsumed under abstract rational concepts, so concrete objects and sensations become rationally intelligible and conceptually interpreted. The concepts are also used to interpret sensations of particular cases. A rational concept is expressed through an empirical word-sign, so the sensation of the word-sign becomes rational and the concept becomes sensuous. A priori conceptual necessities are also based on a posteriori and contingent language-use. Therefore contingent a posteriori language-use becomes a priori necessary and conceptual necessities become a posteriori and contingent on language-use.40

4.

Realism, idealism and the encounter with the Word in nature and history

Hamann locates language and the intertwining of reason and the senses, realism and idealism, in an encounter with reality. Hamann’s views on nature, history and their ontology therefore form the background of his views on idealism and realism. He takes nature, history and all reality to be a Word in the sense of the Gospel of John: “What you call being in your language, I’d rather call the Word.”41 He understands existence in the light of Luther’s Word of God theology. A thing and its existence are an element, its role in relationships is its institution and use, and it mediates divine ideas like causal structures, social relationships and divine action.42 A chemical reaction of sodium in a glass of hydrochloric acid is a good example. A piece of sodium is an element, and it forms relationships by being

39 40 41 42

N III, 288. Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 170–175, 351–361, 384–387. ZH VII, 175. Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 18–20, 389–393. Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 89–95, 296–297.

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Lauri Snellman

placed in hydrochloric acid. The piece of sodium and acid together manifest causal processes by reacting chemically.43 According to Hamann, the existence of a thing is its ability to have properties in relationships: “Is being or being in itself a real object? No, as it is the most general relationship, whose existence and properties must be taken on faith.”44 “Being is not a property ?! – isn’t the power to instantiate properties itself a property?”45 He argues that texts are interpreted and their properties are brought out by reading the text alongside other texts, just like scientific experiments bring out the properties of physical systems through constructed experiments. The properties are powers of acting in relationships.46 For example, the piece of sodium is metallic, as it forms a salt when put in acid. The existence of a thing is its matter, and its properties and role in relationships is its form: “God created to make. Matter and form. Existence and its determinations, or calls into existence the things that do not exist and makes these things into what He wants.”47 The different relationships in nature and history divide into physical, social and theological relationships. Physical relationships consist of physical objects. They receive a role in physical interaction, and thereby make causal mechanisms present. For example, a piece of sodium reacts in acid and manifests a causal mechanism. Social relationships consist of human actions, which then have a role in social activities, the acts of a person and historical processes. They then make human actions, ideas, institutions and historical actions present. For example, an actor utters his lines and does certain acts, and he portrays a character in a play. Theological relationships have the events and structures of nature and history as their elements, which then receive a use in God’s plan. They then make God present. For example, the pillar of fire in the Exodus story makes God present by playing a role in God’s plan and guiding the Hebrews.48 Hamann then argues that linguistic interpretation is a response to the Word present in nature and history. Since objects and states of affairs are already a Word, they are linguistic. Humans then encounter reality through the senses, and translate its objects and ideas into language:

43 The distinction of existence, relationships and causal powers is motivated by Bhaskar : A Realist Theory of Science (see note 2). 44 ZH VII, 169. 45 ZH VII, 168. 46 N II, 71. Dickson (Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism [see note 3], p. 47, 64) argues that the meanings and properties of texts are determined by their relationships to other texts. 47 N I, 14. Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 79; Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 173. 48 The distinction of natural or physical, social or historical and theological aspects of reality in Hamann is based on N I, 9; N II, 204.

Johann Georg Hamann on Faith and Reason, Idealism and Realism

367

Speak, so I can see You! This wish has been fulfilled through creation that is an address to the creature through the creature, as day to day pours out speech, and night to night declares knowledge. Its slogans run through all climates and through all the earth, and their voice is heard in all speech and all words. […] Speaking is translation – from the tongue of angels to the tongue of men, that is, divine ideas into words – things into names – pictures into signs […] This kind of translation (that is, speech) resembles most the inverse side of a wallpaper; ‘And shews the stuff, but not the workman’s skill.’49

Humans internalize the objects, states and affairs and the divine ideas embodied in them through sensuous practices. They then translate objects and the Word present in them by forming a language and dynamic internal models through interpretative action: “What Demosthenes said of action, I say of language […] as the real art of thinking, acting, or expressing oneself, and understanding and interpreting others.” Hamann thus locates both the senses and realism, and reason and idealism in an encounter with reality. He holds that they are intertwined aspects of interpretative practices. Faith is the realistic aspect, as humans form a relationship with the objects and ideas by believing in experience. The objects and ideas are present in relationships mediated by the senses. Reason is the idealistic aspect, as its concepts are grounded in language-use. Human language is a free response to reality and there are many languages, so the conceptual links of language are a human construction. Linguistic ideas and objects are present in these relationships, so there is no opposition between language and the world. According to Hamann, idealism and realism are then not opposite, but different aspects of knowing.50

5.

The theological interpretation of nature and history

Hamann’s view of nature and history as a divine Word leads him to give them a theological interpretation. Hamann argues that the interpretation of nature and history requires the work of scientists, philosophers and theologians. The verses of the books of nature and history are broken, and “the task of scholars is to collect them; the task of philosophers is to interpret them; the task of imitating them or – even bolder – putting them together is given to poets.”51 Hamann calls Christian theology poetry : “Christian or poet. Do not be surprised that these are synonyms.”52 Theology presupposes science and history : “Natural sciences and 49 N II, 197–199. 50 ZH V, 25. Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 89–95, 312–313, 344–346, Bayer : Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 9–18, Moustakas: Urkunde und Experiment (see note 20). 51 N II, 197–198. 52 ZH I, 367, quoted in Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 112.

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history are the two parts, upon which true religion rests. Unbelief and superstition are based on bad physics and bad history.”53 This makes Hamann to take theology and science to be “partially overlapping magisteria”: the subjects and methods of science and theology are intertwined.54 Theology and science are grammatical disciplines: science offers us a grammar of the phenomena of nature of history, and theology is a grammar of the Bible.55 Hamann is strongly critical of evidentialist theologies of nature. He instead proposes that we read nature and history against the background of the life, crucifixion and resurrection of Jesus.56 Johannes von Lüpke argues that Hamann’s background is Luther’s theology of the Cross: God is understood in the terms of the cross of Jesus. A similar view is also taken by the biblical scholar N. T. Wright, who develops a Biblical theology of “speech to the creature through the creature” by examining how Jesus’ vocation, death and resurrection embody the picture of Yahweh in the Hebrew Bible. Hamann has a similar view of the Cross as the paradigm of divine action and the ground for understanding divine properties: “It is impossible to know God without believing in Jesus Christ, […]. His wisdom, omnipotence and all other properties seem so to speak to be instruments of his love of man.”57 This leads to a paradigm of natural theology. The Bible is interpreted by analogies to the Gospel. Nature and history are then interpreted by analogies to the Biblical stories, as an expression of the Word made flesh. Evil is not an anomaly for this paradigm, because God is present the same way as in the crucifixion of Christ.58 Nature and history are then A proof of the most glorious majesty and the fullest emptying of Himself! A miracle of such endless stillness that makes God into nothing, so that one can only be a beast or

53 N I, 9. 54 Alister McGrath: The Dawkins Delusion? London 2007, p. 18–19. 55 Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 126; Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 92, Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 322–324. 56 Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 126; Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), p. 92; Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 322–324. McGrath proposes a natural theology that is based on interpreting nature in the light of Christian theology and distinguishes it from evidentialist proofs. See McGrath: A Science of God (see note 2). 57 N II, 43. 58 Martin Luther : Works. Ed. by Jaroslav Pelikan and Helmut T. Lehmann. Vol. 31. Philadelphia 1957, p. 52–54. N. Thomas Wright: Jesus and the Identity of God. In: Ex Auditu 14 (1998), p. 42–56; Johannes von Lüpke: Metaphysics and Metacritique. In: Hamann and the Tradition (see note 26), p. 176–181; Betz: After Enlightenment (see note 3), p. 133–136; Bayer: A Contemporary in Dissent (see note 3), p. 78–81; Moustakas: Urkunde und Experiment (see note 20), p. 104–110, 116, 284; Bayer: Vernunft ist Sprache (see note 3), p. 322– 323.

Johann Georg Hamann on Faith and Reason, Idealism and Realism

369

deny His existence on moral grounds! At the same time it is a miracle of such unlimited power that fills everything, so one cannot save oneself from His activity in all things! – 59

6.

Conclusion

Hamann uses Hume’s theory of belief and Luther’s theologies of faith and the Word of God to develop his views on the relationships between faith, reason, idealism and realism. He locates faith and reason, and idealism and realism in the context of encountering and interpreting nature and history. Human beings encounter reality and respond to it by believing their experience and forming sensuously mediated practices, experiences and mental models. They then interpret reality by constructing rational concepts through linguistic practices. The connections of Hamann’s views with the problems of world-views, theodicy, realism, the philosophy of Wittgenstein and the debate about the relationship of religion and science show that Hamann is our intellectual contemporary.60 Hamann’s views on the senses and reason, realism and idealism, and nature and history are rich and offer good starting-points for contemporary debates.

59 N II, 204. 60 See Betz: After Enlightenment (see note 3); Bayer: A Contemporary in Dissent (see note 3); and Moustakas: Urkunde und Experiment (see note 20), p. 283–284.

Mario Spezzapria (Cuiab#, Brasilien)

Hamann and Hume against the Rational Theologies

The presence of Hume’s thought in Hamann’s philosophy is an issue that has already been widely investigated.1 It permits, as a matter of fact, to find a leitmotiv in Hamann’s notably fragmentary and obscure thought, since Hume was for Hamann a long-lasting reference, from the publication of the Socratic Memorabilia in 1759 – when our “Magus of the North” said he was “full of Hume”2 – to the eighties, the years of enthusiasm after the reading of Hume’s Dialogues Concerning Natural Religion (1779), which he soon planned to translate into German. At the same time, shedding light on Hamann’s views on Hume is a privileged way to better understand Hamann’s own philosophical position. Generally speaking, Hamann’s interpretation of Hume’s philosophy has been seen as a sort of misunderstanding, mainly due to Hamann’s superposition of Hume’s gnoseological principle of belief with the religious principle of faith.3 I will show that Hamann’s interest on Hume was indeed very specific; it was mainly based on his disapproval of rationalistic theologies – an issue that, of course, does not cover the whole of Hume’s philosophy. In the 18th Century, both United Kingdom and Germany were crossed by the mainstream of the absolute confidence in the enlightening powers of the human reason; it is in this context, that some theologians had asserted that God’s existence could be proved even mathematically. 1 Hans Graubner : Theological Empiricism. Aspects of Johann Georg Hamann’s Reception of Hume. In: Hume Studies 15/2 (1989), pp. 377–386; Thomas Brose: Johann Georg Hamann und David Hume. Metaphysikkritik und Glaube im Spannungsfeld der Aufklärung. Frankfurt a. M. 2004. 2 “Ich war von Hume voll, wie ich die Sokratische Denkwürdigkeiten schrieb […]. Unser eigen Dasein und die Existenz außer uns muss geglaubt, und kann auf keine andere Art bewiesen werden.” Letter to Jacobi, 27 April 1787 (ZH VII, 167). 3 As for instance the out-dated Rudolf Lüthe: Misunderstanding Hume. Remarks on German Ways of Interpreting his Philosophy. In: Philosophers of the Scottish Enlightenment. Edinburgh 1984, pp. 105–115. Also Pierre Klossowski: Le m8ditations bibliques de Hamann. Paris 1948, p. 15.

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To the purpose of showing Hamann’s and Hume’s common interest in contrasting such theories, I will focus on a brief pamphlet of Hume’s neglected by the scholars, The letter of a Gentleman to his Friend in Edinburgh (1745), which Hume wrote to defend himself from the accusations of atheism and heterodoxy by Edinburgh’s Presbyterian ministers. In his Treatise on Human Nature (1739–1740), in fact, Hume had claimed that the relation cause-effect was not grounded on reality, but rather it was only the consequence of habit or custom.4 According to the Scottish clergy, this would implicitly lead on to deny the truth of the existence of God, the ‘supreme cause’ of all that exists. Hume thinks that the belief in God’s existence is not a matter of rational demonstration. The cornerstone of his arguments is a clear distinction between different kinds of evidence: intuitive, demonstrative, sensible and moral. There are many things we believe in (our own existence, for instance), without needing to have a rational proof for it. Hamann thinks that Hume’s scepticism towards the absolute powers of reason would not lead to an absolute nihilism; on the contrary, it would make room for that non-rational attitude towards the matters of religion, which is faith. Despite the undeniable differences between the two authors, it will turn out how Hamann’s interest for the Scottish philosopher was motivated by his exigency to reprove an absolutized form of conceiving reason, unable to take account not only of faith, but also of experience, tradition, language and history, an issue that based Hamann’s criticism towards the purism of the Kantian critical-transcendental reason, too. In the background of Hamann’s reflexions stays the following question: is he more dogmatic who does not submit every truth to the critical exam of reason, or he who believes only in what is rationally demonstrated? *** Hamann always considered Hume as a precious ally in his personal ‘fight’ against the excessive pretentions of the rationalistic spirit of the Enlightenment. This struggle engaged him on multiple fronts, corresponding to the fields on which the dominant rationalism extended its control: the theories of the natural foundation of language, natural religion and the rationalistic biblical exegesis, for instance. Far from judging Hume’s philosophy ‘dangerous’ for religion, Hamann clearly declared to consider his scepticism propaedeutic to religious 4 “all our reasonings concerning causes and effects are derived from nothing but custom; and […] belief is more properly an act of the sensitive, then of the cogitative part of our natures.” David Hume: A Treatise on Human Nature. Ed. by Lewis A. Selby-Bigge, 2nd edition revised by Peter H. Nidditch. Oxford 1978, p. 183.

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faith,5 because of its shattering charge against the assumed absolute certainties of reason. Nonetheless, on several occasions, our author recognised a sort of “incompleteness” and lack of consequentiality in the Humian thought: Hume remained “a demolishing spirit, who cannot build.”6 This twofold and flickering opinion on Hume will remain a constant characteristic of the way Hamann interprets his philosophy. From one side, the Scottish philosopher is said to have been a witness that “the supreme fruit of all the human wisdom is the recognition of human ignorance and weakness”7, while, on the other hand, he would have remained victim of the “sword of his own truths”, and – in spite of his sceptical criticism to the gnosiological pretentions of reason – he would only have been able to develop a “texture of sophisms”8. Be that as it may, according to Hamann’s prevailing judgement, Hume’s sceptical attitude deserved to be praised, since, rightly considered, it might lead to recognise the constitutive weakness of reason, and “consequently” to become more inclined to take into consideration the practicability of alternative ways of accessing the “truth”, not resulting exclusively from rational processes. Beside this oscillating, but on the whole positive, opinion on scepticism, the second most distinctive element in Hamann’s Hume-interpretation is the juxtaposition between Hume’s principle of belief and the religious conception of faith, made possible by the double meaning of the German word ‘Glaube’. Such juxtaposition presents an evident character of questionability, since in Hume’s philosophy – no doubt – the principle of belief has essentially a mere gnosiological role. Now, it is interesting to notice that both the possibility to make such a juxtaposition and the assumption of the value of scepticism as propaedeutic to religious faith do not belong only to Hamann’s peculiar interpretation of Hume’s philosophy. Hume himself, in fact, made similar statements in a very precise moment, i. e. soon after the publication of his Treatise on Human Nature (1739–1740). Not only had his debut work had quite a difficult appreciation and little success in sales; it had also frustrated Hume’s ambition to compete for the 5 Philip Merlan: From Hume to Hamann. In: The Personalist 32 (1951), pp. 11–18; Charles W. Swain: Hamann and the Philosophy of David Hume. In: Journal of the History of Philosophy 5 (1967), pp. 343–351; Michael Redmond: The Hamann-Hume Connection. In: Religious Studies 23 (1987), pp. 95–107, above all p. 99. 6 Letter to Lindner, 21 March 1759 (ZH I, 303). 7 “Die letzte Frucht aller Weltweisheit ist die Bemerkung der menschlichen Unwissenheit und Schwachheit.” Letter to Lindner, 3 July 1759 (ZH I, 355). My translation. Hamann’s words are a translation of Hume’s Enquiry Concerning Human Understanding: “Thus the observation of human blindness and weakness is the result of all philosophy […].” David Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding. In: id.: Philosophical Works. Vol. IV. London 1782, p. 27. 8 “sind allein genug das ganze Gewebe seiner Schlüsse in seiner wahren Schwäche zu verraten.” Letter to Lindner, 3 June 1759 (ZH I, 355).

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chair of pneumatic and moral philosophy at the University of Edinburgh, because the ideas contained in it (scepticism in particular) had immediately been considered by the local Presbyterian ministers to be leading on to “atheism” and “heterodoxy”.9 In 1740, Hume’s thought was considered by a majority of the Scottish establishment to have a negative impact on religion. The Presbyterian ministers’ estimations on the implicit consequences of Hume’s reasoning were indeed the opposite of Hamann’s declarations, years after, when he would claim that Hume’s thought “was not dangerous at all”. In an anonymous brief pamphlet called A Specimen of the Principles concerning Religion and Morality, said to be maintained in a Book lately published, intituled A Treatise of Human Nature, & c.10 Hume’s work was openly attacked; and in order to defend himself from such accusations – a clear attempt to prevent him from concurring to the professor charge at the university –, Hume replied on turn in a short essay entitled Letter from a Gentleman to his Friend in Edinburgh (1745),11 where he declared the moderate nature of his scepticism, which would cause “modesty then, and humility, with regard to the operations of our natural faculties”,12 and therefore would constitute, in his opinion, the real preliminary condition to enter into the “principles of religion”, as he called them.13 It is quite reasonable, of course, to consider such unusual arguments as an attempt of pragmatic defence from the Scottish clergy’s attacks; in any case, Hume’s defensive thesis present some surprisingly similar points of contact with Hamann’s Hume-interpretation. To begin with, Hume accentuates the double meaning, both sensible and religious, of the grade of certainty given by the principle of belief: How is such a frame of mind [Scepticism] prejudicial to Piety? And must not a man be ridiculous to assert that our author denies the principles of religion, when he looks upon them as equally certain with the objects of his senses? If I be as much assured of these principles, as that this Table at which I now write is before me; can anything further be desired by the most rigorous antagonist.14

Years after, this comparison between the confidence given by the senses and the kind of certainty of the “principles of Religion” will be recalled and emphasized 9 To know more in detail about the events that caused Hume’s charge of atheism, see the editors’ introduction to David Hume: A Letter from a Gentleman to his Friend in Edinburgh. Ed. by Ernest C. Mossner and John V. Price. Edinburgh 1967. See also: James Fieser : Early Responses to Hume. Vol. III. Early Responses to Hume’s Metaphysical and Epistemological Writings, I. Bristol 22005, pp. 92–94. 10 The Specimen is lost, but in his Letter Hume resumes in detail its “Sum of the Charge”. 11 David Hume: A Letter from a Gentleman to his Friend in Edinburgh. In: id: An Enquiry concerning Human Understanding and Other Writings. Edited by Stephen Buckle. Cambridge 2007, pp. 147–162. 12 Idem, p. 155. 13 Idem. 14 Idem. Emphasis added.

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by Hamann himself. In a letter to Kant, the “Magus of the North” asked himself why Hume would deny ‘Glaube’ “when he judges of matters that are higher than sensuous eating and drinking.”15 Confidence about existence was one of these “higher matters”: as Hamann states in the Socratic Memorabilia (1759), “our own existence and the existence of all things outside must be believed [geglaubt], and cannot be determined in any other way.”16 In Hamann’s view, the idea of existence is a clear example of something we believe in, without necessarily needing to draw upon a rational demonstration: “There are proofs of truth which are of as little value as the application which can be made of the truth themselves, indeed, one can believe the proof of a proposition without giving approval to the proposition itself.”17 *** The question of the grade of confidence we have in existence, and of the way we believe in it without the aid of demonstrative speculations (in Hamann’s words, it is something that “must be believed”) was a distinguishing topic in the Treatise. As this point was a direct target of the Specimen’s accusations of atheism, Hume took, in his Letter, great care to it, in order to clarify why, in his opinion, it was compatible with the truths of religion. In the Treatise, the reflexion about the concept of existence was strictly interrelated with the one of cause. According to the accusation, Hume’s rejection of the idea that “whatever begins to exists, must have a cause of existence”18 was equivalent to an implicit refusal of the idea of God as a “higher cause” of the creation. It is in this respect that Hume recalls the “common opinion”19 distinguishing between the various kinds of evidence (intuitive, demonstrative, sensible and moral), which becomes the cornerstone of his defencing strategy : It is common for philosophers to distinguish the kinds of evidence into intuitive, demonstrative, sensible and moral; by which they intend only to mark a difference between them, not to denote a superiority of one above another. Moral certainty may reach as high a degree of assurance as mathematical, and our senses are surely to be comprised among the clearest and most convincing of all evidences.20

15 “Wenn er den Glaube zum Essen und Trinken nötig hat: wozu verleugnet er sein eigen Principium, wenn er über höhere Dinge, als das sinnliche Essen und Trinken urteilt.” Letter to Kant, 27 July 1759 (ZH I, 379). The English translation is taken from Immanuel Kant: Correspondence. Trans. by Arnulf Zweig. Cambridge 1999, p. 47. 16 Hamann: Socratic Memorabilia. Transl. by James O’Flaherty. Baltimore 1967, p. 167. 17 Idem. 18 Hume: A Letter from a Gentleman to his Friend (same as note 11), p. 156. 19 Idem. 20 Idem.

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The same Bishop Tillotson,21 Hume argued, stated that “the being of a God is not capable of demonstration, but of moral evidence.”22 In particular, Tillotson was thinking of the mathematical demonstration;23 it is precisely this argument in support of God’s existence that Hume thinks is unsustainable. Not whatever metaphysical proof: Hume is specifically thinking on Samuel Clarke’s a priori argument.24 Instead of it, he declares to support the plausibility of the a posteriori arguments.25 Hume is persuaded that if within ordinary experience – the origin of all our knowledge – we make conjectures according to the principle of belief, likewise the same principle operates when, starting from the assessment of the order of a natural word, we come to the idea of the existence of a God who must have created (and ordered) it. In other words, both the personal conviction in God’s existence and the a posteriori theological argument take advantage of the same grade of evidence of the inductive ordinary knowledge. Hume does not consider himself irreligious, as in his opinion (at least, in the boundary of the pamphlet we 21 Hume’s reference to someone, who was above any suspicion of atheism, shows how he was actually doubtful about his accusers’ impartiality in evaluating his argumentations. John Tillotson (1630–1694) was elected Archbishop of Canterbury in 1691. 22 Hume: A Letter from a Gentleman to his Friend (same as note 11), p. 157. 23 “Mathematical things being of an abstract nature are capable of the clearest and strictest Demonstration; but Conclusions in Natural Philosophy are capable of proof by Induction of experiments; things of a moral nature by moral arguments; and matters of fact by credible testimony. And tho none of these be capable of that strict kind of demonstration, which Mathematical matters are; yet have we an undoubted assurance of them, when they are proved by the best arguments that things of that kind will bear. […] The Being of God is not mathematically demonstrable, nor can it be expected it should, because only mathematical matters admit this kind of evidence”. John Tillotson: Sermon I. The Wisdom of being Religious. In: The Works of the most Reverend Dr. John Tillotson. London 1704, pp. 20–21. See Mario Dal Pra’s commentary on this in note 16, p. 121, of: David Hume: Lettera ad un amico in Edinburgo. In: id.: Estratto del Trattato sulla Natura Umana. Ed. by Mario Dal Pra. Bari 2005. 24 The philosopher Samuel Clarke sustained the thesis that God’s existence could be proved from the remark that all that exists must have a cause. Samuel Clarke: A Demonstration of the Being and Attributes of God. London 1705. The author of the Specimen containing the accusation of atheism, against which the Letter from a Gentlemen is directed, is uncertain. The question of the authorship of the Specimen is of course of the highest importance. While traditionally it was thought to be the cardinal Wishart, recently Professor Paul Russell has put forward the supposition that the Letter from a Gentlemen was with high probability attributable to the Scottish metaphysician Andrew Baxter, a follower of Clarke’s thesis. Paul Russell: Wishart, Baxter and Hume’s Letter from a Gentleman. In: Hume Studies 23/2 (1997), pp. 245–276. 25 “It would be no difficult matter to show, that the arguments a posteriori from the order and course of nature, these arguments so sensible, so convincing, and so obvious, remain still in their full force”. Hume: A Letter from a Gentleman to his Friend (same as note 11), p. 157. Descartes’ metaphysical argument was not taken into consideration, because it was not based on the principle that “all that begins existing must have a cause of its existence”, but from the idea of an infinite perfect being (ontological argument).

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are taking into account) religion is deeply rooted in the word of impression and sensibility, and in the psychological use of custom and habit. Furthermore – the accusation blamed – Hume would have even doubted the reality of the same idea of existence: “the idea of existence is no distinct idea which we unite with that of the object, and which is capable of forming a compound idea by union.”26 According to the anonymous prosecutor such a claim would implicitly strip the statement “God exists” of its meaning. Again, Hume seeks the support of a religious authority by saying that he is only following the opinion of the “pious and learned Bishop of Cloyne” (Berkeley), when he (Hume) states that “we have no general idea of existence, distinct from every particular existence”,27 and that general ideas are the results of a linguistic operation: the connection of individual ideas (perceptions, the only actually real) to general terms. Hence, Hume’s advocacy proceeds showing the idealistic nature of the argument in unifying more singular ideas into composed ideas: “with this course of reasoning, we must deny the existence of every thing, even of ourselves […].”28 Subsequently, Hume distinguishes the negation of the general abstract idea of existence (which is a linguistic operation) with our (“real”, material) perception of the existence. The evidence of the existing world originates from impression and sensibility. Even in the case of the last accusation “viz. the author[Hume]’s destroying all the foundations of morality”,29 Hume firmly denies “the eternal difference of right and wrong is the sense in which Clarke and Wollaston maintained them, viz. that the propositions of morality were of the same nature with the truths of mathematics and the abstract sciences, the objects merely of reason, not the feelings of our internal testes and sentiments.”30 The whole Letter appears therefore marked by the predominance Hume gives to the sensible and intuitive immediacy vs. the rational discursive practice, and by his opposition not to the use of reason tout court, but to its use in a particular case; he refuses to consider religious and moral truths as mathematically demonstrable. Summing up, Hume organises his defence accordingly : a) by pointing out his criticism towards the aprioristic theological rationalism (notably sustained by Clarke), b) by criticising the excesses of the a priori reasoning (“reasoning a priori, any thing appear able to produce any thing”),31 c) by

26 27 28 29 30

Hume: A Letter from a Gentleman to his Friend (same as note 11), p. 154. Idem, p. 158. Idem, p. 158–159. Idem, p. 160. Idem. Hume’s reference to the theories of Francis Hutcheson (Professor of Moral Philosophy at the University of Glasgow) is again – like his previous reference to the Bishop Tillotson – a clear attempt to show how captious were the charges against him. 31 Idem, p. 158.

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claiming the necessity of believing in experience, which is the real origin of our knowledge (by induction). *** Let us now get back to Hume’s defence of scepticism from the accusation of leading on to atheism, and the way in which this question is related with the belief in existence. In the Letter, Hume asserts that the doubts of a moderate sceptical would not discredit the question of the grade of adherence to the certainty of the sensitive knowledge. In addiction, he considers the sceptical principals as only being the “effects of philosophical melancholy and delusion”,32 with a clear reference to the final pages of the first book of his Treatise, where the essential condition of the human experience was described as a constant oscillation between radical scepticism and the return to the natural and pragmatic belief into the “world of reality”. In this fashion, he seems to suggest that the real nature of his scepticism would consist in the “existential” experience of a sentiment of disorientation.33 Of course, we may think that – just like Hamann’s interpretation of Hume’s philosophy – also the explication provided by Hume himself about the “proper” and deeper significance of his scepticism, as well as of the consequences of his principle of belief for religion, are questionable. There is no doubt that, especially as far as the Treatise is concerned, Hume’s critical investigation had as a main purpose to depreciate the metaphysical use of reason and revaluate the role of instinct and sentiments, and not to make an apology of religious faith. In spite of it, Hume recalls explicitly the authority of an old tradition (Socrates, Cicero, the Church Fathers, the first Reformers), that, insisting on the limits of human reason, made room for faith as an adequate form of knowledge, in the evident attempt (in this consists Hume’s strategy : to show that a sceptical can be, at the same time, a man of faith) to build a bridge between two theoretical operations: 1) the struggle against metaphysical rationalism (in the field of the criticism of knowledge) 2) and the fight against the rationalistic interpretations of religion (in the sphere of theology). The Scottish philosopher, by means of his critical exam of reason, having as a main target the metaphysical rationalism, claims the implicit merit of being – in any case – useful to “piety” and to religion: 32 Idem, p. 155. 33 Hamann himself had translated just this conclusive part of the first book of the Treatise, and published apocryphally in the Königsbergische gelehrte und politische Zeitungen (July 1771), with the title of Nachtgedanken eines Zweiflers (,Night Thoughts of a Sceptic’). Königsbergsche gelehrte und politische Zeitung. 53. Stück vom 5. Juni 1771, Beilage; 55. Stück vom 12. Juni 1771, Beilage. In: N IV, 364–370. See Swain: Hamann and the Philosophy of David Hume (same as note 5), p. 351, in particular note 39.

Hamann and Hume against the Rational Theologies

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All the ancient fathers, as well as our first reformers, are copious in representing the weakness and uncertainty of mere human reason […]. In reality, whence come all the various tribes of heretics, the Arians, Socinians and Deists, but from too great a confidence in the mere human reason, which they regard as the standard of everything, and which they will not submit to the superior light of Revelation? And can one do a more essential service to Piety, then by showing them that this boasted reason of theirs, so far from accounting for the great mysteries of the Trinity and incarnation, is not able fully to satisfy itself with regard to his own operations, and must in some measure fall into a kind of implicit faith, even in the most obvious and familiar principles?34

*** With the arguments developed in his Letter from a Gentleman, Hume made clear why, according to him, his Treatise’s moderate scepticism could coexist with religion and faith. The only theological issue “utterly demolished” by his challenging the notion of causation was the metaphysical a priori argument for the proof of God’s existence, sustained by Samuel Clarke and his followers. Even if we must always bear in mind the polemical and defensive nature of this pamphlet, Hume’s clarifications certainly have the merit to disclose the presence of this theme between the Treatise’s lines. In this respect, we can trace a line of continuity – marked by the criticism of theism – with the Treatise and his late work Dialogues Concerning Natural Religion (1779).35 As far as I could verify, there is no direct proof that Hamann knew Hume’s Letter. Since he was in England on a business trip between 1756 and 1758, we may speculate he might have become aware of the debate after the publication of the Treatise. However, I do not think the question whether Hamann knew Hume’s Letter or not is decisive; what matters, instead, is that Hume’s explications help bringing to light the theoretical issue, essential to understand Hamann’s juxtaposition between belief and faith. By claiming these two principles are both grounded on a kind of evidence that does not spring up from rational deductions, it is the dogmatic nature of the absolute pretentions of certainty common to rational science and theology that is called into question. It is therefore no surprise, then, that Hume’s philosophy got a renewed relevance to Hamann’s eyes at the end of the seventies, with the publication of the

34 Hume: A Letter from a Gentleman to his Friend (same as note 11), p. 155–156. 35 Hume considered this work his best one. It was published three years after his death, but it was made in 1750–1751, and never published for the worry of the possible reactions. Hume followed the suggestion of his friends Elliot of Minto (see the letter, dated 10 March 1751. In: David Hume: Letters. Ed. by John Y. T. Greig. Vol. I. Oxford 1932, pp. 153–157), and the reverend Hugh Blair (see the letter of 1763 in. David Hume: New Letters. Ed. by Raymond Klibansky and Ernest C. Mossner. Oxford 1954, pp. 72–73).

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Dialogues Concerning Natural Religion, when he wrote: “The Dialogues is a work full of poetic beauty, and like Green, I consider it is not dangerous at all.”36

36 “Der Dialog ist voller poetischen Schönheiten, und ich halte das Buch mit H. Green, für nicht gar gefährlich.” Letter to Hartknoch, 29 July 1780 (ZH IV, 205). My translation.

Lydia Amir (Boston, USA)

The Epistemological and Theological Role of Humor and Irony in Hamann’s Thought Laughter is what we want… but we do not want to mock truth (Hamann, ZH VI, 277)

In an article on The Laughter of the Philosophers, David Hart accords without qualifications to Hamann, and Hamann alone, the title of “most amusing”1 philosopher. Suspecting that Søren Kierkegaard would agree, he mentions that the latter also regarded Hamann as “the greatest humorist in the world,”2 but pursued it no further. This seems natural, as “one need only attempt to describe the lunatic intricacies of Hamann’s prose to realize how impossible it is adequately to convey a sense of its frenzied ingenuity,” Hart writes. For, “the purity of vision and richness of mirth” were simply “natural and unforced elements of Hamann’s mind and idiom”:3 Humor consists so much in ludicrous involutions of thought and language, and in the cumulative effect of one absurdity heaped atop another, and in the almost sweetly earnest obliviousness of a voice like that of a holy fool that one must almost entirely immerse oneself in his imaginative world in order to enjoy the fruits of his comic genius.4

For Hamann, “the kenosis of God illuminates and transfigures everything, grace transfuses all of nature, culture, and cult, and so his humor has a wealth, an overwhelming hilarity, and a truly Christian mirthfulness […].”5 Hamann indeed dubbed himself the “most Christian Eulenspiegel,”6 and his humor did not escape Georg Wilhem Friedrich Hegel’s keen eye7 as well as other 1 David B. Hart: The Laughter of the Philosophers. In: First Things 149/1 (2005), p. 31–37, here p. 37. 2 Cf. ibid., p. 36. 3 Ibid., p. 36. 4 Ibid., p. 35. 5 Ibid. p. 37. 6 N II, 117,18; James C. O’Flaherty : Hamann’s Soratic Memorabilia. A Translation and Commentary. Baltimore 1967, p. 36. 7 See Lisa Marie Anderson: Hegel on Hamann. Trans. and ed. by L. M. Anderson. Evanston, IL 2008. This is not to say that Hegel appreciates Hamann’s humor. To the contrary, he attacks it as an “affected, frosty humor” (ibid., p. 32) and he denounces “the nasty elements with which Hamann’s writing style is everywhere afflicted” (ibid., p. 32). Hamann’s writings are

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commentators. Notably, Johann Wolfgang von Goethe wrote, “Il y a des bons mots impaiables, et des tournures tres serieuses qui m’ont fait rire presque a chaque page.”8 Commenting on Hamann’s New Apology for the Letter H, Friedrich Heinrich Jacobi says that he does not know “whether we have in our language something […] which would surpass this text in profoundness, wit, and humor, in richness of individual genius concerning both content and form.”9 Kierkegaard considered Hamann “the greatest humorist in Christendom”, and even “the greatest humorist in the world.”10 Nor has Hamann’s humor passed unoticed by cotemporary commentators.11 But as appreciated as humor is in Hamann’s authorship, it has also been brought as proof of the latter’s incapacity of fully developing his thought. Consider Hegel on this point: “Locked up in the particular subjectivity in which Hamann’s genius could not flourish into thinking or artistic form, it could only become humor, and what is even less fortunate, a humor besieged by much contrariety.”12 More recently, Hans Urs von Balthasar, who dedicates a whole

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“full of individualistic wit and vengeful bitterness (ibid., p. 32) and Hamann is “only capable of humorous, flashing desultory expression” (ibid., p. 6). Moreover, “The other elements with which the general content of Hamann’s work is bedizened and rather more disfigured and obscured than embelished and clarified […]. Having addressed a deep interest in the reader and thus placed himself in community with him, he strikes him immediately with a grimace, a farce, or scolding which is not made better by his use of biblical expressions, a certain derision, and self-mystification, and which destroys in a spiteful manner the sympathy which he awakens […]” (ibid., p. 40). Hamann attacks his best friends’ writings, “charged with his usual manner of passionate virulence and mischief, which are themselves not without a component which can be percieved as bitter scorn, and can be quite insulting” (ibid., p. 26).Thus, “Hamann’s humor is the contrary of this objective humor [Hippel’s], and the expansion which he thereby gives to his perpetually concentrated truth and uses to amuse himself cannot appeal to true taste, but only to accidental gustus” (ibid., p. 43). Kierkegaard also came to criticize Hamann’s humor as verging on blasphemy. See Stephen Dunning: Kierkegaard’s ‘Hegelian’ Response to Hamann. In: Thought. A Journal of Philosophy 55/3 (1980), p. 259–270. Johann Wolfgang Goethe: Letter to Charlotte von Stein, September 17, 1784. In: Goethe Briefe. Vol. 6. Weimar (=WA) 1890, p. 359f.; quoted in John R. Betz: Reading Sibylline Leaves. Hamann in the History of Ideas. In: Hamann and the Tradition. Ed. by Lisa Marie Anderson. Evanston, IL 2012, p. 5–32, here p. 30, n. 24. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Vol. 4/2. Ed. by Friedrich Roth and Friedrich Köppen. Leipzig 1819, p. 264; quoted by Hegel in: Anderson: Hegel on Hamann (see note 7), p. 43. Søren Kierkegaard: Journals and Papers. Ed. and transl. by Howard V. Hong and Edna H. Hong. Vol 2. Bloomington, London 1970, no. 1681. Cf. Robert Allen Sparling: Johann Georg Hamann and the Enlightenment Project. Toronto 2011, p. viii and Chap. 10; John R. Betz: After Enlightenment. The Post-Secular Vision of J. G. Hamann. Malden MA 2009, p. 15, 18, Chaps. 3 and 5; Oswald Bayer: A Contemporary in Dissent. Johann Georg Hamann as Radical Enlightener. Transl. by Roy A. Harrisville and Mark C. Mattes. Grand Rapids, MI 2012, p. 64, Chap. 2, among others. Anderson: Hegel on Hamann (see note 7), p. 43

The Epistemological and Theological Role of Humor and Irony

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chapter to Hamann in his book on Christian aesthetics,13 nevertheless bemoans the fact that “his thought never came to fruition.”14 Hamann regretted making himself into a riddle15 and detested his style,16 yet he also testified that his “mimic style is governed by a stricter logic and closer connections than in the concept of livelier minds.”17 Thus, although Hamann’s theology certainly exhorts toward Christian mirthfulness, as David Hart noticed above, there seems to be additional significance to Hamann’s humor. In what follows, I argue that Hamann entrusts humor with an epistemological role; and, as Hamann is an important link on the subject of humor between the British Enlightement Philosopher, the third Earl of Shaftesbury, and Søren Kierkegaard, Hamann’s sole “authentic disciple,”18 it is through Shaftesbury’s influence, I 13 Cf. Hans Urs von Balthasar : The Glory of the Lord. ATheological Aesthetics. Vol. 3. Studies in Theological Styles. San Francisco 1985. 14 Hans Urs von Balthasar : The Glory of the Lord. A Theological Aesthetics. Vol. 1. Seeing the Form. San Francisco 1982, p. 80; quoted in: Betz: After Enlightenment (see note 11), p. 18. 15 Cf. Anderson: Hamann and the Traditions (see note 8), p. 11, n. 25. 16 Cf. ZH VII, 157,34–37. 17 ZH I, 378,24f. This should be no surprise, as Hamann, following Matt. 12:36, adheres to “the evangelical law of economy in speaking and writing. Accounting for every needless, idle word – and economy of style.” He believes that “in these two mystical words lies the entire art of living and thinking” (Letter to his son Johann Michael, October 24, 1783, ZH V, 88,18f.; quoted in Oswald Bayer: God as Author. On the Theological Foundation of Hamann’s Authorial Poetics. In: Hamann an the Tradition [see note 15], p. 163–175, here p. 171). 18 Sven-Aage Jørgensen: Postscript. In: Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten und Asthetica in Nuce. Stuttgart 1968, p. 164. Kierkegaard himself (Journals and Papers. Vol. 2 [see note 10], no. 1559) viewed his own work as a development of Hamann’s. John Betz lists as Hamannian influences, “A model of pseudonymous Christian authorship in an age of unbelief – not to mention the original forms of such Kierkergaardian doctrines as the ‘paradox’, the ‘teleological suspension of the ethical’, ‘indirect communication’, and ‘the infinite difference between God and human beings’” (John R. Betz: Reading Sybelline Leaves. Hamann in the History of Ideas. In: Hamann and the Tradition [see note 8], p. 2.). Indeed, on the subject of humor, Hamann’s influence on Kierkegaard is unmistakable: Kierkegaard found in Hamann his view of humor and a model for using irony and humor as indirect communication in the service of Christianity, and his early view of Christianity as the most humorous worldview is unmistakably Hamannian. Whilst the relation of Shaftesbury to Hamann is relevant to this essay and will thus be futher expanded on, Kierkegaard’s relation to Hamann or to Shaftesbury is not. The reader is thus referred to Lydia Amir : Truth and Humor in Shaftesbury, Hamann, Kierkegaard. In: Humor und Religiosität in der Moderne. Ed. by Gerald Hartung and Markus Kleinart. Wiesbaden 2016, p. 93–109; and Lydia Amir : Humor and the Good Life in Modern Philosophy. Shaftesbury, Hamann, Kierkegaard. Albany NY 2014; and Lydia Amir : Shaftesbury – An Important Forgotten Indirect Source of Kierkegaard’s Thought. In: Kierkegaard-Studies Yearbook 2014, p. 189–216. For Kierkegaard and Hamann, see also Albert Andersen: Hamann. In: Kierkegaard’s Teachers. Ed. by Niels Thulstrup and Marie Mikulov# (=Bibliotheca Kierkegaardiana 10). Copenhagen 1982; Sergia Karen Hay : Hamann. Sharing Style and Thesis. Kierkegaard’s Appropriation of Hamann’s Work. In: Kierkegaard and His German Contemporaries. Vol. 3. Literature and Aesthetics. Ed. by Jon Stewart (=Kierkegaard’s Research. Sources, Reception and Resources. Vol. 6). Aldershort 2008, p. 97–114; Ronald Gregor Smith: Hamann and Kierkegaard. In: Zeit

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believe, that his view of the epistemological role of humor can be best understood.19 This essay emphasizes the habilitating role of humor with regard to truth that Hamann adopted from Shaftesbury, whilst rejecting the latter’s view of truth and replacing it with Christian truth. Hamann uses the habilitating role of humor in relation to truth to endow with an epistemological role the contradictions and paradoxes that characterize Martin Luther’s thought and to which he was particularly sensitive. In adapting Shaftesbury’s view to Christian truth, Hamann makes of humor a category of understanding necessary for grasping Christian truth. The epistemological role of humor that Hamann takes from Shaftesbury makes of humor a theological tool. The Shaftesburean origin of this Hamannian contribution has been neglected in the secondary litterature on Shaftesbury and Hamann in favor of the critical role that humor and irony play in Hamann’s writings.20 Commentators are understandably drawn to the latter role, as Hamann considers Shaftesbury a modern Socrates. My expose of Shaftesbury’s views is followed by a presentation of Hamann’s vision of nature and history, and a detailed explanation of the role humor and irony play in his thought.21 und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag. Ed. by E. Dinzle. Tübingen 1964, p. 671–683; Stephen Dunning: Kierkegaard’s ‘Hegelian’ Response to Hamann. In: Thought. A Journal of Philosophy 55/3 (1980), p. 259–270. 19 For the relation of Hamann to Shaftesbury and Kierkegaard, see Amir : Truth and Humor in Shaftesbury, Hamann, Kierkegaard (see note 18); Amir : Humor and the Good Life (see note 18), where one can also find in the Intermezzo a fuller version of Hamann’s views of humor and irony as epistemic categories. This essay relies on these former publications. 20 As exemplified in the excellent study of Shaftesbury’s influence on Hamann, Christoph Deupmann-Frohues: Komik und Methode. Zu Johann Georg Hamanns Shaftesbury-Rezeption. In: Acta 1996, 205–228; see also Christian Sinn: Hallucinating Europe. Hamann and His Impact on German Romantic Drama. In: Hamann and the Tradition (see note 8), p. 149–160 and Christian Sinn: Schreiben – Reden – Denken. Hamanns transtextuelles Kulturmodell im Kontext der Kabbalarezeption des 18. Jahrhunderts. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 28/1 (2004), p. 27–45. Christian Sinn uses Shaftesbury’s “test of ridicule” to enlighten Hamann’s “new philosophical style,” whose aim is to establish reason not through accepted modes of philosophical inquiry, but by “transtextuality,” that is, juxtaposing quotes from various authors without commenting on them. This should save Hamann from “irrationality” and his philosophical methods from unintelligibility (Sinn: Hallucinating Europe, p. 149). Christoph Deupmann-Frohues conducts an in depth analysis of Shaftesbury’s influence on Hamann. He concentrates on the “methodological mockery” of Shaftesbury, the test of ridicule, as a Socratic method of skeptical examination, and underlines the affinity Hamann finds between the raillery of Socartes, Shaftesbury, and his own. Apart from ridicule, joking, and raillery, and “lawful mockery,” Deupmann-Frohues does mention “good humor,” and says that this emotional disposition has cognitive significance: divine goodness cannot be grasped in ill-humor. The Shaftesburean epistemological role of humor and its correlary in Hamann, however, is not mentioned. 21 In the following, I rely on the first Chapter and the Intermezzo in Amir : Humor and the Good Life (see note 18).

The Epistemological and Theological Role of Humor and Irony

1.

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The Third Earl of Shaftesbury

Shaftesbury’s originality lies in his unprecedented and unparalleled defense of humor, wit, ridicule, and good humor as important epistemological tools that promote truth and rationality. Shaftesbury considers ridicule a test of truth, humor a tool for reason, properly educated laughter a form of critical reflection, and good humor or cheerfulness the disposition in which philosophical and religious truth are most effectively comprehended. Because he associates the comic with truth, he views humor as a necessary tool for self-education and moral advice in the philosopher’s inner dialogue, conversation, and writing. He is mainly remembered, however, for the view that ridicule is the test of truth. The phrase “ridicule, the test of truth” never appears in exactly this form in Shaftesbury’s collected works, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, etc, although Shaftesbury comes close to it in several places. There are four passages that are taken to refer to ridicule as the test of truth. The first passage associates reasoning with the test of ridicule: “How comes it to pass, then, that we appear such cowards in reasoning, and are so afraid to stand the test of ridicule?”22 The second suggests that justified raillery is a principal proof of truth: “Truth, ’tis supposed, may bear all lights; and one of those principal lights, or natural mediums by which things are to be viewed, in order to a thorough recognition, is ridicule itself, or that manner of proof by which we discern whatever is liable to just raillery in any subject.”23 The third substitutes wit and humor to ridicule: “Without wit and humour, reason can hardly have its proof or be distinguished.”24 Finally, the fourth passage suggests that humor and gravity test each other : “’Twas the saying of an ancient sage, that humour was the only test of gravity, and gravity of humour. For a subject which should not bear raillery was suspicious; and a jest which would not bear serious examination was certainly false wit.”25 A closer approximation to “ridicule, the test of truth” is found in some of the index entries Shaftesbury listed in the 1712 edition of the Characteristics: Ridicule, its Rule, Measure, Test. Test of Ridicule. Truth bears all Lights. – Ridicule a Light, Criterion to Truth.26

22 Anthony Ashley Cooper Shaftesbury : Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, etc. Ed. by John M. Robertson. Vol 1. Gloucerster MA [1900] 1963, p. 10. 23 Ibid., p. 44. 24 Ibid., p. 52. 25 Ibid. 26 Anthony Ashley Cooper Shaftesbury : Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, etc. 6th edition [1837]. Vol. 3.

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The theory that ridicule is a test of truth has been interpreted as meaning that whatever cannot withstand free and humorous examination cannot be well grounded in reason, and that ridicule’s chief value may lie in its use as a test of demeanor to unmask imposture. Both interpretations are true and compatible with a more literal interpretation of Shaftesbury’s view that relates the idea that ridicule is a test of truth to Shaftesbury’s theory of truth. According to the latter interpretation, truth and virtue are ultimately congruous and harmonious, while error and vice are incongruous and inharmonious. Because the essence of the comic for Shaftesbury is incongruity and inconsistency, he sees error and vice as inherently ridiculous. On the other hand, truth and virtue do not lend themselves properly to comic treatment, as their mark is congruence and consistency. This reading is truer to Shaftesbury’s intention, I believe, but it makes the relation between ridicule and truth dependent on a view of truth that most of us may find difficult to endorse. Shaftesbury uses ridicule to criticize enthusiasm, a popular term at the time denoting religious fanaticism. He suggests that individuals must search inward to discover the principle of mastering enthusiasm for beneficial use. Humor can be potently associated with enthusiasm because at the root of enthusiasm lies melancholy. By curing melancholy, humor helps achieve good humor. This unique combination of enthusiasm and humor is both original and effective in that it diagnoses enthusiasm as essentially melancholic; and drawing on a centuries-old belief, offers humor as melancholy’s cure. A necessary tool for self-education and moral advice, humor serves as a test of truth through the sociability of dialogue in the philosopher’s inner dialogue, conversation, and writing. Humor counters overwhelming enthusiasm, deflates emotional excess, discloses intellectual and moral obtuseness, and enables the development of a sense of proportion necessary for a philosophical character. In conversation, wit and humor more efficacious than earnest criticism for the distance they create between passion and argument promote the philosophic goal of rationality as free critical debate. The use of humor and wit in philosophic writing annuls the writer’s authority, thereby promoting the autonomy of the reader, a necessary condition for developing independent thought and moral self-education. By challenging the melancholy of solitary reason, humor exchanges life-denying solitude for life-promoting good humor, a necessary condition for understanding truth – the world’s harmony, human goodness, God’s good humor and Christianity’s cheerfulness and for appropriately creating in oneself the virtuous and good-humored character that constitutes the good life. As a liberating, life-giving, and life-forming power of the soul, humor is constitutive of the Shaftesburean good life, for without humor, the good life cannot be attained nor maintained.

The Epistemological and Theological Role of Humor and Irony

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In stating that ridicule is a test of truth, that humor and good humor have a habilitating function with regard to truth, that to be effective criticism must be humorous, and that humor is the mark of rationality, Shaftesbury assigns humor an unparalleled role within philosophy. The view that criticism must be humorous in order to be effective has antecedents in moral exoteric philosophy. The rest of Shaftesbury’s views are extremely original. After having been at the heart of a raging controversy about ridicule’s relation with truth and reason, the view that ridicule is a test of truth gains followers in the 18th century. That humor has a habilitating function with regard to truth influences Hamann, and through Hamann and maybe otherwise as well, it impacts the young Kierkegaard. Yet the view that humor is the mark of rationality is unprecedented and without followers.

2.

Johann Georg Hamann on Nature and History

Hamann translated Shaftesbury’s essays into German and referred to him often in his writings.27 He carried on Shaftesbury’s intent to write a Socratic history, by writing his Socratic Memorabilia, Compiled for the Boredom of the Public by a Lover of Boredom, With a Double Dedication to Nobody and to Two. His interpretation of Socrates, who “preferred to employ the test of mockery and good humor rather than an earnest examination”28 is Shaftesburean. More than the memoirs, Hamann’s search for a new understanding of what it means to be human in Aesthetics in a Nutshell bears the mark of Shaftesbury’s influence.29 Hamann is deeply religious; God, for him, is certainly not the abstract unity and harmony that serves Shaftesbury and other deists, but is rather creative and passionate – above all He is to be loved and worshipped. More importantly, while for Shaftesbury Christ plays no role in religion, for Hamann religion is inconceivable without Him. Hamann opposes Shaftesbury’s dismissal of the supernatural foundation of religion, and rejects the idea that philosophy is a rival to theology. He objects to natural religion because it is not connected to tradition, sense experience, or history. Hamann accepts, however, Shaftesbury’s positive view of enthusiasm, his criticism of abstractions in philosophy, his identification 27 Johann Georg Hamann: Biblical Reflections. In: Ronald Gregor Smith: J. G. Hamann 1730–1788. A Study in Christian Existence. With Selections from His Writings. London 1960, p. 121; Socratic Memoirs (ibid., p. 179); for more references, see N VI, 353. 28 ZH II, 75f. 29 For Shaftesbury’s influence on Aesthetics in a Nutshell, see Terence J. German: Hamann on Language and Religion. Oxford 1981, p. 21, and n. 126; see also Leonard P.Wessel: Hamann’s Philosophy of Aesthetics. Its Meaning for the Storm and Stress Period. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 24 (1969), p. 433–443.

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of theory with practice, and his emphasis on practical morality, self-knowledge as the goal of all knowledge, and human communication as mutual mirroring, as well as Shaftesbury’s views on creativity. He agrees with Shaftesbury on the correspondence of true humor to reality and therefore on the view that humor represents the state of mind in which truth is best apprehended. However, truth, for Hamann, is the reality of Christ that can only be apprehended by faith. Participation in humor is analogous to repentance, which in itself is closely connected with faith. Humor and irony are omnipresent in Hamann’s style because they represent for him categories of understanding. The person who cannot see the humor or the irony literally “cannot see the point.” Hamann’s originality lies in transposing Shaftesbury’s thesis about the epistemological role of humor into the truth of the Incarnation. In order to understand the role humor and irony play in Hamann’s thought, we need to explain his philosophy especially in relation to nature and history. Hamann holds that there exists a pre-rational reality, and the way we arrange it is ultimately arbitrary.30 He denies that there is an objective order, a rerum natura, whether factual or normative, from which all knowledge and all values stem and by which all action can be tested. Reason is given to the heathen, he insists, and the Law to the Jews, so that they can see their ignorance and their sins. The worship of reason that characterizes prominent figures of the Enlightenment, such as Frederick the Great and Voltaire, is not only mistaken, but tyrannical, leading to the suppression of individuality, as well as of the individual’s irrational and unconscious forces. Systems and epistemologies are philosophy’s idols, and few, such as Socrates and Hume in their ignorance of the truth, are able to see through them. God works in ironic ways to advance his purpose. Faith, not knowledge is the answer to ignorance. Hamann sees himself as the Socrates of Christianity, with his wooden arm showing the way, the role that Kierkegaard later adopts for himself. Hamann converts in his twenties to Lutheran Protestantism, the religion of his youth. His religious conversion is to a doctrine known to those familiar with the writings of the German Protestant pietists and their followers in Scandinavia and England. They view the sacred history of the Jews as not merely an account of that nation’s guidance from darkness to light by God’s almighty hand, but a timeless allegory of the inner history of the soul of each person. The sins of individuals are like the sins of nations, and the story of the wanderings of the Israelites, Hamann declares, is the story of his life. This is the inner sense of the biblical words, and he who understands them understands himself since all understanding is self-understanding. The spirit alone can be understood, and to find it the human being needs only, and must only, look within himself. God’s word is the ladder between 30 Cf. N III, 191,21ff.

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heaven and earth sent to aid weak and foolish children – it alone will vouchsafe them a glimpse of what they are and why they are as they are, and what their place is, and what they must do, and what they must avoid. The Bible is a great universal allegory, a similitude of that which occurs everywhere and at every moment. So indeed is human history and nature properly understood with the eyes not of analytical reason but of faith, trust in God, and self-examination, for all these are one. To be human is to understand oneself, which can only be accomplished through that kind of exchange in which persons mirror one another, as humans are social by nature. Hamann does not glorify the emotions nor does he prize the power of volition. Rather, the gospel engages an existent being, a unity ; faith points to a certain mode of existence of the whole being. Hamann’s individual is the historical, authentic being, as opposed to the abstract “pure” mind inhabiting a body. He is flesh and blood, rational yet emotional, intellectual but also sexual.31 In his autobiography, Goethe expresses Hamann’s central principle thus: “Whatever a man wants to accomplish – by deed or word – must have as its source his united powers in their totality, since all that is divided is worthless.”32 Goethe sees Hamann as a great awakener, the first champion of the unity of the human being involving all faculties – mental, emotional, physical, and creative – as well as the response to the misunderstanding, misrepresentation, and harm created by lifeless French criticism’s dissection of his activity. Self-knowledge is a descent into hell, yet the human being is described not only in terms of depths, but also of heights.33 It is the inherent human contradiction that provides the most striking content of self-knowledge. Hamann’s concern is the significance of the “infinite incongruity between man and God” and the “similar incongruity between man and man.”34 It is this infinite incongruity that makes all imperatives, no matter how categorical, witnesses to human damnation. Moreover, the greater the approximation to this imperative, the stronger the threat; the more sensitive an individual becomes to this “incongruity,” the less he wishes to ground his personal being in his sense of accomplishment. Authority must be one and not many. Residing not in reason, but in paradox and absurdity, it is “foolishness to the Greeks.”35 Hamann’s principal emphasis is 31 On this subject, see Johannes von Lüpke: Anthropologische Einfälle. Zum Verständnis der ‘ganzen Existenz’ bei Johann Georg Hamann. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 30 (1988), p. 225–268. 32 Johann Wolfgang von Goethe: The Autobiogrphy of Goethe. Transl. by John Oxenford. Vol. 1. London 1848, p. 446f. 33 N III, 199,15–23. 34 Ibid. 312,36 and 313,15. 35 Ibid. 410,5f.; cf. N IV, 462; see I Cor 1:23.

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on the humility of God and the corresponding humility of the human being. God is humble in condescending to be the Father in creation, the Son in incarnation, and the Holy Spirit that communicates the message of life through human history, human language, and a human book. The corresponding humility of the human being is the sine qua non condition for understanding the Bible. If the condescension of God is God’s humility, the response of the individual’s life that “answers to” this humility is faith or humility. Faith is the mode of existence of the whole human being – head, heart and bowels – which corresponds to God’s condescension, receives God’s gifts under the conditions in which they are given, and therefore sees the exalted in the lowly, the majestic in the humble, the Lord of glory in the Crucified, the Christ in the bread and wine, the Presence of God in all His creation, and the Spirit in human language. This humility is similar to the concern, the single-mindedness, the tenderness, the warmth, and the sensitivity to the Other found in friends and particularly in lovers.36 For Hamann, faith is not irrational or even “super-rational.” It is not a leap across an abyss, but a stooping down. It is not discontinuous with our experience as creatures of God, but only discontinuous with the ways we conduct ourselves. Although “crisis” and “decision” are part of the whole cloth of human existence, these phenomena are carefully guarded from overemphasis. Hamann expresses his own “conversion” as a meditation over a considerable period of time.37 Yet faith is a miracle, the miracle par excellence: it is a gift of the Spirit. “Miracle” points to the fact that one cannot engineer this event of faith in another person, as faith is “not communicable as a type of goods.”38 Miracle does not mean the irrational and the “supernatural” because if all is of God, then all is natural. For Hamann, miracle is not an erratic disturbance in the external order of things. Miracle is an event in the inner being of the individual; it is the mover from pride to humility, from independence to dependence: “All the miracles of the holy scriptures happen in our souls.”39 The opposite of faith as humility is the human predicament of the separation from God, which is maintained by pride and an unwillingness to relinquish the human drive for autonomy and passion for self-dependence. This is sin. In its intellectual form this predicament is illustrated by the philosophy of Hamann’s day. The criteria for faith as humility are derived from the Object of faith, the Truth itself: genuine God in condescension and genuine man in humility, i. e., Jesus Christ. The criteria for faith are given by the appearance of truth, and the truth is marked off by these criteria. 36 37 38 39

Cf. N II, 171,14–16. Cf. The Diary of a Christian, N I, 39,31–48,40. Letter to Friedrich Heinrich Jacobi, April 30, 1787; ZH VII, 176,6f. N I, 78,19f.

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This view of condescension in Hamann has several correlates. First, the revelation of God comes in concealed form, as the lowly and the offensive. God’s means of reaching the individual or God’s revelation are concrete, even foolish. The Holy Spirit has become a history writer of foolish, indeed sinful human actions.40 The only appropriate mode for the incredible condescension of God in telling us about the creation is the simple, the lowly and the foolish. In fact, Hamann’s life and authorship are a commentary on the first four chapters of First Corinthians from which his grave inscription was taken: “The one becomes all; the Word becomes flesh; the Spirit becomes letter ; to the Jews an offense, to the Greeks foolishness.” Hamann declares that “the foolishness of Christianity” is entirely to his taste and the desire of his heart, suitable to his “sound reason and human feelings […].”41 A second correlate of Hamann’s view of condescension is that truth is tied to the sensual and the physical. His concern is a concept of truth that implicates faith. If truth is flesh (John I: 14), then Christianity is incompatible with, or at least cannot allow itself to be dominated by, certain concepts of truth. Under the conditions of existence pure truth, abstracted from the sensual and material, is inaccessible. A third correlate is that the natural and the concrete take primacy over the artificial and the abstract. A fourth and final correlate is that God takes seriously the human situation of existence in the flesh as well as human history. That which has occurred in the Incarnation is not an isolated truth, but has pregnant suggestions for understanding Hamann’s view of his task as a thinker and his existence as a Christian. This is the significance of his program of metaschematism – taking up his opponent’s position as if it were his own in order to expose its weaknesses and contradictions. It is also the significance of his style and method, exemplified in his use of humor and irony. To conclude this section, Hamann has a vivid sense of the kenotic presence, the utterly humble form, of the divine in creation and history. The Absolute is present in the relative, the transcendent in the immanent, God in a flower. This makes nature and history significant: “Nature and history are […] the two great commentaries on the divine word, and this word is the only key to unlock a knowledge of both.”42 Nature for our eyes and history for our hears – the relational way in which God communicates with us is parralelled by these two. Yet in our fallen state, God’s is both terribly near and awfully distant, nature and history are mute or ambiguous, “alarmingly silent or alarmingly eloquent; they are both at the same time.”43 40 Cf. First Hellenistic Letter, N II, 171,4–21. 41 Letters to Friedrich Heinrich Jacobi, December 5, 1784, ZH V, 275,13–18; and March 1, 1786, ZH VI, 295,22f. 42 N I, 303,35f.; cf. Fragments. In: Smith: J. G. Hamann 1730–1788 (see note 27), p. 166. 43 Oswald Bayer: A Contemporary in Dissent (see note 11), p. 81.

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Creation is speech to the creature by the creature, yet our senses must be opened or redeemed to hear the message. This is why self-knowledge precedes aesthetics. Knowledge cannot be gained through rationality alone, divorced from the senses. Divine kenosis establishes that history and nature have something to say, and we have to interpret this riddle, as the books of nature and history are nothing but ciphers, hidden signs. All we can see are fragments of an original poem, thus, we have to plow with another calf than our reason. This calls for a new aesthetics that would interpret this secret. Understood as perception of the world in the most comprehensive sense, including the moral, the physical, and what we today understand in a limited sense as the aesthetic, one would turn toward the world in “obedience to the cross in aesthetic discipleship.”44 The Christian, infused with the spirit of Christ in his servant-form, is a poet who renders visible the hidden glory of the Word in the words of creation. Majesty is found in humility and it is God’s humility that makes Him inaccessible to human reason. Hamann considers Christ’s servant-form as paradigmatic of the form of the glory of creation and scripture. That means that creation can appear mundane, and that only in this mundanity the glory of the Lord appears. A philosophy of the cross is attentive to folly in wisdom, truth in mystery, and majesty in humility. Human history is salvation history and one’s own story can be read with the eyes of faith in the Old Testament: “All philosophical paradoxes and Divine glory as manifested in creation and the economy of salvation is a glory that is hidden, a glory […] in disguise, […] hidden beneath a contrary, seemingly paradoxical form.”45 Humility of the heart is a pre-requisite for interpreting the Bible. Then the lowliest images unlock their meaning. The style of the kingdom of heaven is meekest and humblest. One must be wary, then, of any revelation that does not come in this way, that does not accommodate human inclinations, prejudices and weaknesses, as well as other-wordliness instead of a radical Chrsitian worldliness. The wisdom of the Old Testament is hidden behind an apparently incongruous form, thus necessarily in an indirect form of communication, which leaves it to the humble to find. In the same manner, the whole of nature is to be understood by this means, through the mystery of the coincidence of

44 N III, 234,22f. Oswlad Bayer adds that “not least in this respect Hamann is a Lutheran” (Bayer: A Contemporary in Dissent [see note 11], p. 65). On nature and history, see ibid., Chap. 4. 45 John R. Betz: Glory(Ing) in the Humility of the Lord. The Kenotic form of Revelation in J. G. Hamann. In: Letter & Spirit 6 (2010), p. 141–179, here p. 153f.

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opposites. And, Hamann’s role is to point the way without interpreting for his reader neither history nor nature.46

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Hamann’s style is his soul, a deliberate mimicry of the Incarnation to which it is a witness. Referring to the Memorabilia, James O’Flaherty notes that “all the elements which characterize the outward form of the work are designed so as to transcend themselves, to point beyond themselves to a greater reality.”47 Years later Hamann emphasizes this principle as characteristic of his writings in general: “The inner or invisible part of my few writings may indeed even remain the most excellent part.”48 Such a practice was for him symbolic of God’s dealing with the human being, hence more veridical than classical art with its rationalistic implication of being an adequate and exhaustive surrogate for that which it represents. In an attempt to understand Hamann’s view of his own method, we can do no better than to consider the lines he wrote in 1773 to Friedrich Carl von Moser : Your Excellency has had the grace to sympathize most cordially with the invisible aspect of my writings […]. Socrates’ vocation of transplanting morality from Olympus to the earth and of rendering it visible in a practical way coincides with my own in that I have sought to profane a higher sanctuary and, to the proper umbrage of our lying, sham, and boastful prophets, to make it commonplace in an analogous way. In short, all my opuscula taken together comprise an Alcibiadean shell. Everyone has found fault with the form of the satyr or Pan, and no one has taken notice of the old relic of the smaller Luther catechism […].49

In Plato’s Symposium, Alcibiades compares Socrates to Silenus, ugly outside and beautiful inside. In his writings, Hamann seeks to emulate the Alcibiadean shell, hiding the Christian message the same way Socrates has hidden Pagan ethics.

46 For the fate of kenosis in Modernity, see Graham Ward: Kenosis. Death, Discourse and Resurrection. In: Balthasar at the End of Modernity. Ed. by Lucy Gardner, David Moss, Ben Quash and Graham Ward. Edinburgh 1999, p. 15–68. John Betz mentions Hamann’s attentiveness to the kenotic form of divine revelation and the required humility to see the glory of the works of the Trinity in the humble presence of God’s in creation, in the servant-form of Christ, and in the “rags” of Scripture (cf. Betz: Glory(ing) the Humility of the Lord [see note 45]). Urs von Balthasar emphasizes that the striking coincidence of opposites is proper to all of the persons of the Trinity, “that their shared glory consists precisely in their shared humility : in their reciprocal kenosis”, as explained by Betz (ibid., p. 153). 47 O’Flaherty : Hamanns Socratic Memorabilia (see note 6), p. 84. 48 Letter to Johann Gottfried Herder, March 20, 1773; ZH III, 40,4f. 49 ZH III, 66,35–67,12.

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One form of Hamann’s style, which is used as a variant form of concealment, is his humor. Hamann applies the same categories of understanding that are central to his theological epistemology. Contrary to the usual philosophical categories, they are the only appropriate modes of thought for grasping the truth, that is, the “Word that has become flesh.” Because he considers humor and irony categories of understanding he uses them abundantly in his writings. Participation in humor, he claims, is analogous to repentance, which in itself is closely connected with faith, and the person who cannot understand the humor cannot see the truth. Faith is the existence of the whole person in the mode of humility. It has the further correlates of, first, offence at God’s condescension, second, the concealment of God’s revelation, third, a characterizing sign of contradiction, and fourth, metaschematism. Hamann uses humor to express the first three ideas and irony for the fourth. A. To express God’s condescension, Hamann uses the device of Stilbruch or contrasts. Hamann’s style of writing attempts to conform deliberately to the truth in Christ, that is, to the condescension of God in Incarnation and in the Spirit. Truth is always embodied for Hamann. The more elevated the concept, the more he seems delighted in juxtaposing it to what is lowly, eccentric, or even trivial.50 The contrasts involved in Stilbruch stem from his notion of the brokenness and incompleteness of human nature and the world, and thus form the profoundest depths of his religious faith. The effect of mixing the farcical with the sublime is always to raise a question in the reader’s mind as to the author’s real intention, a question which can only be resolved by further reflection beyond the self-contradictory appearance. B. Conformity to the Incarnation means conformity to the “truth which lies in concealment.”51 This is the theological theory of Knechtsgestalt Christi, which emphasizes the contradiction of Christ himself appearing in the “form of a servant,” as the Apostle Paul says in his letter to the Philippians (2:7), and the idea that divinity most often appears in lowly form and is thus often unrecognized. Hamann insists on a variant of this theory as the inescapable precondition for a valid aesthetic, ethical, and religious knowledge. For Hamann, the genuinely moral person is always better than he appears to be – the “hypocrite renverse.”52 Authentic knowledge is not a product of overweening reason, he claims, but of ordinary language, which is lower in the hierarchy of things than

50 For examples of Stilbruch, see O’Flaherty : Hamanns Socratic Memorabilia (see note 6), p. 78f. 51 N II, 77,6f. 52 N III, 410,20; N IV, 462,17.

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the ratio.53 In theological matters he ascertains that divinity appears most redemptive in lowly, despised, or foolish form, that is, in forma servi. C. Most important for understanding Hamann’s view of humor is Giordano Bruno’s metaphysical “celebrated principle of the coincidence of opposites,” which Hamann opposes to “the principles of contradiction and sufficient reason.” He declares: “I have not been able to endure the latter from my academic youth on, and without Manichaeism have found contradictions elsewhere in the elements of the material and intellectual world.”54 Everywhere Hamann sees “one note of immeasurable height and depth.” Nonetheless, it is in the Incarnation – where God and man are one – that differences, opposites, and contradictions are most clearly confirmed and made visible. Our very salvation, therefore, is based on this incarnated “coincidence of opposites”: the forgiveness and judgment of God – two opposing concepts which seem to destroy one another. For this reason he relates spiritual beauty to the unlovely, the eccentric, or the grotesque. This is how we arrive at a paradoxical view of reality and Christ as the embodiment of this reality. O’Flaherty explains the significance of this view in Hamann: [N]o thinker understood the vital importance of the paradox in religion more clearly than did the Magus. Although Hamann’s conviction that religious truth must be expressed in paradoxical form derived principally from the New Testament, he was also convinced that the early Greek religion had anticipated this insight and that the ‘rationalist’ Sophists had emasculated it. He also calls attention to the contradictions in Socrates.55

The contradictions O’Flaherty mentions are Socrates’ homosexuality, which Hamann sees as a moral flaw, and Socrates’ ignorance defined by the god as wisdom.56 Hamann thought his manner of writing more profoundly corresponded to the ambiguity and the raggedness of reality than the writing styles reflecting the prevailing spirit of the age. “Beautiful nature,” “sound nature,” and “good taste,” all Shaftesburean concepts, are lumped together by Hamann, who describes them as “chimeras” and as three of the most pernicious prejudices of the “century of good taste.”57 His faith compelled him to speak the one veridical language, namely, the language of paradox and obscure allusion in order to be the wooden arm signpost that points the way.58 53 Cf. James O’Flaherty : Unity and Language. A Study in the Philosophy of Johann Georg Hamann. New York 1966. 54 Letter to Friedrich Heinrich Jacobi, January 16, 1785; ZH III, 107,16f. 55 O’Flaherty : Hamanns Socratic Memorabilia (see note 6), p. 79. 56 Cf. ibid, n.42. 57 Cf. N II, 356,26f. 58 Cf. Ibid., p. 76. Paradox’s main source is biblical revelation, but Hamann is also conscious to carrying on the tradition of Luther in this regard (N II, 247, 249; see James O’Flaherty : The

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Stilbruch, or contrasts, is associated with the theological doctrine of Knechtsgestalt Christi and the metaphysical doctrine of coincidentia oppositorum. Hamann’s theology determines his aesthetics, which is characterized by mixing the high and the low, concealing, and using contradiction – aims that are well-served by humor. What is original with Hamann is the application of the Biblical doctrine of Knechtsgestalt Christi to Aesthetics, making of humor the best expression of Christian theological doctrines.59 D. Hamann’s principle of “Metaschematismus” partially explains his use of irony. In order to understand what Hamann meant by this term, it is necessary to turn to the passage of the New Testament in which Paul exhorts the members of the Church at Corinth to lay aside their dissensions and their tendency to form cliques. Instead of referring directly to the various disputants at Corinth, he writes about his own relationship to Apollos and about the relationships of those who would follow him and those who would follow Apollos. He does this in order to lead them by an indirect method to an understanding of their own general predicament: “And these things, brethren, I have in a figure transferred to myself and to Apollos for your sakes that ye might learn in us not to think of men above that which is written, that none of you should be puffed up for one against the other” (I Cor. 4:6). Employing Paul’s Greek word, meaning to “transfer in a figure”, Hamann calls the process “metaschmatisieren” and extends its meaning.60

Quarrel of Reason with Itself. Essays on Hamann, Michaelis, Lessing, Nietzsche. Columbia SC 1988, p. 94). O’ Flaherty explains that “Hamann’s insight into the paradoxical nature of ultimate reality was reinforced by his keen awareness of the contradictions within his own nature (N I, 224)” as well as others’. “Hamann’s dialectical view of reality derives then not from a theoretical proposition, as for instance in the case of Hegel, but from experience, both subjetive and objective” (ibid., p. 95). Already Hegel notes Hamann’s remark that Giordano Bruno’s principium coincidentiae has been on his mind for years, without him having been able to forget it or understand it (Hamann did not know that the principle Bruno explained in De Uno, was Nicholas de Cusa’s); Hegel further maintains that “the idea, the coinciding which constitutes the content of philosophy, and which has already been discussed above in relation to his theology as well as his character, and which he would make his own by way of metaphor with language, stands before Hamann’s spirit in quite a constant manner” (Anderson: Hegel on Hamann [see note 7], p. 39). 59 For a valuable investigation of the role of humor in Hamann’s thought, see William M. Alexander : Johann Georg Hamann. Philosophy and Faith. The Hague 1966, chaps. 7–8. I find John Betz’s analysis of Hamannian Christological aesthetics close to mine (see Betz: After Enlighenment [see note 11] and Glory(ing) the Humility of God [see note 45]). However, Betz does not make the direct connection between this kind of aesthetics and humor. 60 Cf. Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. Vol. 1. Jena 1991, p. 501ff. Hamann refers indirectly to his own sense of metaschematism following the model of the Apostle Paul (N II, 150,15). See also the passage where he accuses the Enlighteners of engaging in metaschematism in their own way (N III, 144,15f.).

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For Hamann, to metaschematize means to substitute a set of objective relationships for an analogous set of personal or existential relationships, or the reverse, in order to determine through the insight born of faith their common meaning.61 In Hamann it refers to the taking up of his opponent’s position – the assumption of another cause as if it were his own in order to expose its weaknesses and contradictions. On January 28, 1776, he wrote to Herder : “You know that this unknown figure is one of my cherished advantages in writing, especially in regard to that which I call the economy of the plan and which is called in poetry the fable.”62 Thus, Hamann’s literary method requires direct personal involvement and indirect communication. The fables of an Aesop or a La Fontaine, for example, are a method of indirect communication; but they are not metaschematic, for they do not relate in any way to objective facts, and they do not bespeak the personal involvement of their authors. They share, however, one important feature with Hamann’s method: their real meaning is to be sought beneath the surface appearance. What Hamann does is to recognize that the base elements of life may, if transformed, serve as more effective symbols of the spirit than those elements that are by nature noble. This conception does not originate with Hamann, but is derived from the Biblical revelation and Christian theology. The Greek myths before the ancient rationalists succeeded in emasculating them are an anticipation of the Christian point of view. It is the principle of metaschematism that determines the inner form of Hamann’s writings, “the unitary principle of organization which lends inner form to what seems at first glance to be the chaotic tangle of ideas in his writings.”63 O’Flaherty explains that “Genuine insight into any spiritual reality does not, according to the Magus, spring directly from either the objective or the subjective facts of a given situation alone, but from the interpretation made possible by transferred or metaschematized relationships illuminated by faith.”64 The Magus writes in the Socratic Year to Johann Gotthelf Lindner : “I have had to write a great deal and about difficult things; therefore I have exerted myself to be brief and I have not been able to make my thoughts clearer otherwise than by expressing their main features as strongly as possible and by transferring them to foreign objects.”65 Hamann uses the very language of his opponent, or employs sarcasm or irony, often without warning, or any indication of its presence. He expresses himself “in many tongues” and speaks the language of the “Cretan, Arabian, white man, 61 For a helpful treatment of the subject of metaschematism, see Martin Seils: Theologische Aspekte zur gegenwärtigen Hamman-Deutung. Berlin 1957, p. 73f. 62 ZH III, 215,15f. 63 Unger : Hamann und die Aufklärung. Vol. 1 (see note 60), p. 502. 64 O’ Flaherty : Hamanns Socratic Memorabilia (see note 6), p. 90. 65 ZH I, 324,22–26.

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Moor, and Creole.”66 The prophets are models of ironic style, in contrast to the “children of unbelief,”67 who show a weak aptitude for irony. Hamann’s identification with Socrates for the purpose of wrestling with two intellectuals of the Enlightenment, Kant and Berens, for whom Socrates meant so much, is an example of his “metaschematism”. When he writes that there is “no better sword than Goliath’s,”68 Hamann may have been thinking of the Incarnation, whereby God identifies Himself with the human being and in effect seizes the weapons of those who have become his enemies, and in this form of irony, “catches the conscience” of humankind, turning His enemies into His own people. Hamann wishes to emulate this method despite the dangers of falling into sophistry, on the one hand, or into an autonomous, secularist enterprise on the other, two dangers he did not succeed in avoiding at times.69 In addition to using irony to expose the weaknesses and contradictions of his opponent’s position, Hamann also uses irony, albeit negatively, to point to human finitude. Irony, for Hamann, is lower than humor, which has also a positive function: humor opens the individual to paradoxical truth, thereby preparing the way to the truth of the Incarnation. Irony is necessity’s iron law of negation, canceling all human striving and aspirations, so that they amount to nothing. Whereas irony is the grim fate that inevitably triumphs over human finitude, ensuring that all human projects end in death, humor to Hamann is divine freedom, disjunctive with irony’s grim necessity. Humor, in this view, is positive in that it affirms that God is wholly other. Thus, if truth ever penetrates the sphere of human endeavor, it will surely appear very different from our finite understanding of what it ought to look like. In other words, divine reason is fundamentally disjunctive with human reason and consequently bound to appear absurd to humans. For Hamann, humor is the appropriate human attitude toward Divine folly because only in the absurd does the possibility of seeing God arise. The significance of humor, then, is not only to expose the impoverished state of finite reason, but also to laugh at all human attempts to scale the heavens with unassisted understanding. Humor’s positive function is higher than irony’s negative function: It opens a person to the acceptance of the reality of paradoxical truth, and ultimately to the acceptance of the highest paradox of all – the incarnation. Thus, humor is the road to salvation.

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ZH I, 396,30–32. ZH II, 23,12. ZH I, 339,32. For more examples of Hamann’s use of “metaschematism,” see Alexander : Johann Georg Hamann. Philosophy and Faith (see note 59), p. 154f.; Katie Terezakis: Is Theology Possible After Hamann? In: Hamann and the Tradition (see note 8), p. 182–198, here p. 196f., n. 2.

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Hamann’s originality lies in transposing Shaftesbury’s thesis about the epistemological role of humor into the truth of the Incarnation.70 Oswald Bayer has emphasized the theological foundation of Hamann’s authorial poetics.71 Bayer mentions humor, but points to poetry as the language of creation. To Kierkegaard we owe the connection between poetry and humor, which was inspired by Hamann: Humor is lyrical (it is the most profound earnestness about life – profound poetry, which cannot form itself as such and therefore crystallizes in the most baroque forms – it is hemorroidal non-fluens [non-flowing] – the molimina [exertions] of the higher life.72

Goethe, after praising Hamann’s serious humor, testifies to the special sense (of humor?) needed for understanding him, for, he explains, it is not by the understanding that one understands Hamann: “Je me trouve tres heureux d’avoir le sens qu’il faut pour entendre jusqu’a un certain point les idees de cette tete unique, car on peut bien affirmer le paradoxe qu’on ne l’entend pas par l’entendement.”73 Humor is necessarily concrete, it is worldly – tending from the ideal toward reality – it involves imagery and imagination, and addresses at once reason, emotion, and desire. In its self-referential form, it involves self-deprecation. It is 70 Hamann’s own demeanor exemplified this truth, which enabled him to have such an impact on the Princess Amalia von Gallitzin, as John Betz explains at the end of his book (cf. Betz: After Enlightenment [see note 11], p. 297–300). The Princess comments on the enlightening effect of Hamann’s self-deprecation, on his humble figure “which in every sense of the word was that of a true Knechtsgestalt – one implying, to put it briefly, a complete inversion, whereby man bears inwardly what he tends to wear outwardly, and turns to the outside what he tends to hide inwardly. O, he alone is wholly a Christian, who can do this completely” (Carl H. Gildemeister : Johann Georg Hamann’s des Magus im Norden. Leben und Schriften. Vol. 6. Hamann-Studien. Gotha 1873, p. 14). One one occasion, she witnessed in his behavior “an exalted picture of Christian greatness in the forms of rags and tatters, a picture of strength in weakness” (ibid.). She relates a conversation in which Hamann spoke “inimitably” of divine folly according to I Cor. 1, “with a fullness of feeling that could only be expressed by one who felt it personally” (ibid., p. 23). She missed his “child-like sublime simplicity”, which appeared contemptible to many, and which resonates with other views of Hamann as exhibiting a coincidence of “idiocy and profundity” (Oswald Bayer and Christian Knudsen: Kreuz und Kritik. Johann Georg Hamanns letztes Blatt. Tübingen 1983, p. 149). This corresponds to what Hamann wrote to Jacobi in 1787: “All is good – all is vanity! What joy is mine, that I am able to feel with equal intensity both the imbecillitatem hominis and the securitatem DEI” (ZH VII, 339,7–9; quoted in Betz: After Enlightenment [see note 11], p. 307). See also Hamann’s “final page” (ZH VII, 482) in which he systematically characterizes himself in paradoxical terms, an inverted hypocrite, disguising his good nature sub contrario, which is the whole content of his aesthetic disciplineship to the Cross. 71 Bayer: God as Author (see note 16). 72 Kierkegaard: Journals and Papers. Vol. 2 (see note 10), no. 1690. 73 Goethe: Letter to Charlotte von Stein (see note 8), p. 359f.; quoted in Betz: Reading Sibylline Leaves (see note 8), p. 30, n. 24.

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predicated on incongruity, and enables to live with paradox without solving it, because it enables us to sustain paradox through our enjoyment of humor. A pure joy, as Baruch Spinoza deemed it, humor’s ambiguity makes it the ideal communicator of life’s complexity as well as life’s mystery, for, to this day, humor’s nature and purpose in human lives remains a mystery.74 These attributes make of humor the perfect tool for conveying all that Hamann wishes to express in an unassuming way and through an economy of style.75 Hamann refers to Desiderius Erasmus’ comment on Luther in a letter to Huldrich Zwingli: “I am under the impression that I have maintained almost all that Luther maintains, only without his violence and abstaining from some riddles and paradoxes.”76 Hamann adds that he himself is especially drawn toward Luther’s riddles and paradoxes.77 Sensitive to contradictions,78 Hamann 74 Cf. Amir: Humor and the Good Life (see note 18), Chapter 3. 75 O’Flaherty lists as attributes of intuitive reason, the term that Kant applied to Hamann’s mode of thought, the following: Image, metaphor, paradox (and oxymoron), multivalence, parataxis or coordination, affective language, immediacy (O’Flaherty : The Quarrel of Reason [see note 58], Chap. 5). All these are given in humor, I argue, as the “monosyllabic lighting” that Hamann searches for (N II, 208,24). 76 Letter to Huldrich Zwingli, August 31, 1523. In: Erasmus Roterodamus: Opus epistolarum. Ed. by. P. S. Allen. Vol. 4. Ep. 1384. Oxford 1924, p. 326–330; see Huldrich Zwingli: Opera. Vol 7. Ed. by Melchior Schuler and Johannes Schulthess. Zurich 1830, p. 310f. Quoted in Johann Georg Hamann: Werke. Ed. by Friedrich Roth. Vol. 3. Berlin 1822, p. 145. Quoted in Kierkegaard’s journal (NB 18:25) – cf. Søren Kierkegaard: Skrifter [Writings]. Ed. by Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Jette Knudsen, Johnny Kondrup and Alastair McKinnon. Vol. 23. Journalerne NB 15–NB 20. Copenhagen 2007, p. 265f.; and quoted by Finn Gredal Jensen: Erasmus of Rotterdam. Kierkegaard’s Hints at a Christian Humanist. In: Kierkegaard and the Renaissance and Modern Traditions. Vol. 3. Theology. Ed. by Jon B. Stewart and Katalin Nun (=Kierkegaard Research. Source, Reception and Resources. Vol. 5). Aldershot/Farnham 2009, p. 111–127, here p. 122. 77 For Hamann and Luther, see, inter alia, Johannes von Lüpke: Metaphysics and Metacritique. Hamann’s Understanding of the Word of God in the Tradition of Lutheran Theology. In: Hamann and the Tradition (see note 8), p. 176–181; Frederick C. Beiser : The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge, MA 1987. Frederick Beiser stresses Hamann’s role in the revival of Luther, and his mission as defender of his spirit against the Aufklärung. “Hamann never made any disguise of his great debt to Luther and he explicitely affirms his wish to see a restoration of his master’s doctrines” (ibid., p. 17). See there the Lutheran themes that appear in Hamann. Von Lüpke develops the criticsm of reason that follows from a theology of the cross, common to both Hamann and Luther, which is a stumbling block to the Jews and a foolishness to the Greeks. When reason idolizes itself, “it missed the true God, who in fact moves in the opposite direction and descends with the incarnation of Jesus Christ to the lowliness of his creation” (von Lüpke: Metaphysics and Metacritique, p. 178f). Without hearing the “word of God” within an earthly temporal medium, there can be no perception of God. And, the message of God’s incarnation clashes with the wisdom of the world (another incongruity). 78 “Without Manichaeism”, he writes to Jacobi, “[I] have found contradictions everywhere in the elements of the material and intellectual world” (Letter to Friedrich Heinrich Jacobi, January 16, 1785, ZH III, 327,16f.). Everywhere Hamann sees “one note of immeasurable

The Epistemological and Theological Role of Humor and Irony

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uses Shaftesbury’s idea of the habilitating role of humor with regard to truth in order to enlighten the significance of the reformer’s paradoxes and riddles. This, in turn, may shed light on Luther’s well attested, but ill-explained, as well as sometimes ill-received, sense of humor.79

height and depth”, which serves him to emphasize the “infinite incongruity between man and God” and the “similar incongruity between man and man” (N III, 312f.). 79 In his listing of Pietists’ objections to Luther, Craig Hinksoen mentions Luther’s earthy enjoyment of life, his coarseness and tendency to make dubious jokes (Craig Hinksoen: Will the Real Martin Luther Please Stand Up! Kierkegaard’s View of Luther versus the Evolving Perceptions of the Tradition. In: International Kierkegaard Commentary. For Self-examination and Judge for Yourself! Ed. by Robert L. Perkins. Macon, GA 2004, p. 37–76, here p. 55f.). Hinksoen further explains that Luther’s biographer and frequent table guest, Joannes Mathesius, had observed that “in his presence, young people were merry and gay in proper and moderate levity”, leading the Pietist Gottfried Arnold to remark that such frivolity was difficult to reconcile with the crucifixion of the flesh (ibid. p. 56). For Luther’s humor, see Eric Gritsch: The Wit of Martin Luther. Minneapolis, MN 2006.

Christian Sinn (St. Gallen)

Surge amica mea. Zum Verhältnis von Religion und Humor am Beispiel der Konjunktion von Natur und Geschichte bei Johann Georg Hamann und Jean Paul Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt von jedem Ort und von jedem Objekt weiss: Das ist es nicht Michel de Certeau, Mystische Fabel

1.

Methodische Reflexion: Rehabilitation der Enthymeme als philosophischer Humor

(Sinn, Amir, Certeau) Als Erfinder ihrer eigenen Wege durch den undurchdringlich gewordenen Dschungel von Rationalisierungsbemühungen am Ende der Frühen Neuzeit versuchen Hamann und Jean Paul aus „dem schwächsten von zwei Argumenten das stärkste“1 zu machen, denn lebendiger und interessanter als das offizielle philosophische Geklapper mit Begriffen sind ihnen Situationen, die zweifelhaft sind und der Interpretation bedürfen. Die Position des Schwächsten aber ist in dieser Zeit nicht allein das Selbstverständnis der Individuen als soziale wie moralische Akteure,2 sondern eben der von Aristoteles, aber auch schon von Platon3 kritisierte sophistische Status scheinbarer Enthymeme als solcher. Beide aber sind aufs Engste miteinander verflochten: Enthymeme verkörpern das Prinzip intellektueller Kreativität, das Individuen benötigen, wenn ihnen rein äusserliche Normen und tradierte Begriffe zur Handlungsorientierung nicht mehr genügen. Hamann und Jean Paul versuchen in je unterschiedlicher Weise die Position des Schwächsten, nämlich der Enthymeme, so stark wie möglich zu machen. Nur von diesem theoretischen Impuls aus sind ihre Bemerkungen zu Konjunktion von Natur und Geschichte verständlich. Denn diese Konjunktion ist bereits 1 Aristoteles: Rhetorik, II, Kap. 24, 1402a. 2 Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert. Hg. von Simon Bunke, Katerina Mihaylova und Daniela Ringkamp. Tübingen 2015. 3 Platon: Phaidros, 273b–c.

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Christian Sinn

enthymematisch verfasst: Ein gemeinsamer Grund zweier Begriffe muss gesucht werden, die sich konträr oder sogar kontradiktorisch zueinander verhalten. Im Verlauf der Arbeit hat das ursprüngliche Vorhaben, durch eine argumentanalytische Klärung des Status von Enthymemen die Konjunktion von Natur und Geschichte bei Hamann und Jean Paul präziser als zuvor zu erfassen, jedoch eine leichte Veränderung erfahren. Unvorhersehbar war für mich die Einsicht, dass Natur und Geschichte bei Hamann und Jean Paul mit einem anderen enthymematischen Zusammenhang, dem von Religion und Humor, in einer zum Teil unlesbaren Querverbindung stehen. Auch wenn die Konjunktion von Natur und Geschichte aus dem Wortschatz offizieller Theologie und Philosophie gebildet wird und dem akademischen Diskurs unterworfen bleibt, so verweist sie doch auf andere Interessen und Wünsche, die sich der Verbindung von Religion und Humor verdanken. Über diesen Bezug ist so gut wie nichts bekannt, da sich der akademische Diskurs darauf beschränkt, jene Teilbegriffe zu klären, zu differenzieren und zu historisieren, aus denen die Konjunktion von Natur und Geschichte zwar zusammengesetzt ist, auf die sich aber nicht reduzieren lässt. Dieser Diskurs erfasst das historische Material, aber nicht seine humoristische Form, er bezieht sich auf die begriffsgeschichtlich verwendeten Elemente und nicht auf den Hamann und Jean Paul gemeinsamen humoristischen ,Geist‘, der sich aus der Bastelei mit Enthymemen und topoi ergibt, einer Kombinatorik, die sich zwar rekonstruieren lässt, darum aber noch nicht ihren eigentümlichen Sinn erfasst. Indem die historische und philosophische Forschung die herumvagabundierenden, scheinbar irrationalistischen Zeichenspielereien dieser Autoren in ihre selbstgegebenen Begriffe zerlegt, entmythologisiert sie zwar Tradition, findet aber dafür auch nur das wieder, was sie bereits wusste. Wissenschaft ist ein selbstreproduzierendes System, dass Divergenz und Ambiguität eliminiert. In ihrer analytischen Kompetenz entgeht ihr das, was sie zu bestimmen glaubt. Ich bin mir daher im Klaren, dass ich mich mit dem vorliegenden Versuch in ein szientifisches Abseits stelle. Nicht nur gerät der folgende Beitrag aufgrund seiner Darstellungskomplexität in den performativen Widerspruch, das Ziel zu verfehlen, das er primär anvisiert, nämlich eine bessere Rezeptionssituation für Hamann und Jean Paul im kulturellen Bewusstsein herzustellen. Er mutet Unberechenbarkeit und Wissenschaftskritik zu. Aus der hier skizzierten Verlegenheit, ein grundsätzliches Thema nicht nur darzustellen, sondern allererst darstellbar zu machen, helfen jedoch mindestens folgende drei Hebel der Theorie: Erstens kann man unabhängig von den Kontexten von Natur und Geschichte wie Religion die von Hamann und Jean Paul

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Surge amica mea

gebrauchte enthymematische Form formallogisch rehabilitieren, indem man Enthymeme durch folgende drei besonders einfache Axiome rekonstruiert4 : A1: Zwischen zwei verschiedenen topoi tl t3 gibt es genau einen topos t2, der beide verknüpft. A2: Es gibt drei verschiedene topoi, die nicht miteinander verknüpft sind. A3: Zu einer Verknüpfung v und einem nichtverknüpften topos t gibt es genau eine Verknüpfung v’ mit t, die keinen topos mit v gemeinsam hat

Die Worte „topoi“ und „Verknüpfung“ sind zwar der Bildungssprache entnommen. Sie werden aber in rein formale Relationen überführt. Wesentlich in diesem Modell ist, dass nicht unendlich viele topoi verlangt werden. Es handelt sich um ein flexibles Argumentationsmodell in seiner Minimalform mit nur einem Enthymem als mittlerem topos, so dass es einerseits der Mehrwertigkeit faktischer und literarischer Argumentationen gerecht werden kann, andererseits nicht in Undarstellbarkeit versinkt. Diese Axiomatisierung hat folgenden Vorteil: Das Enthymem verschwindet nicht mehr, wie z. B. bei Peirce und Eco, aber auch dekonstruktivistischen Varianten in Modellen unendlicher semiosis. Vielmehr erscheint hier die Unabhängigkeit eines Enthymems als Basis dieser semiosis, deren überfordernder Wirbel unterbrochen wird, um sich in einer möglichst einfachen Form anzunähern. Ein Enthymem wird danach durch die einfachste Kombination lauten: A1 und A2 seien erfüllt, nicht jedoch A3. Die Topologie besteht dann aus drei nicht miteinander verbundenen topoi t1, t2 und t3. (t1,t2) und (t2,t3) sind dann miteinander durch das Enthymem t2 verknüpft:

t1

t1,t2 t2

t2,t3

t3

Die Leserin soll nicht mit Logeleien gequält werden. Wichtig ist lediglich, dass diese dreiaxiomatige Topologie argumentative Zusammenhänge überschaubar und überprüfbar macht und daher eine materiale Logik der Erfahrung modellieren kann: Man fragt lediglich nach Implikationsverhältnissen von topoi, die auf ein topologisches, quantifizierbares Modell abgebildet werden, um so Ar4 Zum weiteren Theoriekontext: Christian Sinn: Dichten und Denken. Entwurf einer Grundlegung der Entdeckungslogik in den exakten und ,schönen‘ Wissenschaften. Aachen 2001, S. 24–47. Ich habe die oben skizzierte Topologie auf die Beispiele von Sebastian Brants Narrenschiff und Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit angewendet und textanalytisch nachgewiesen, wie sich ihre Form von Argumentation als Konvergenz grundsätzlich von Argumentation als Kohärenz (Platon, Aristoteles) unterscheidet.

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gumentationen überprüfen zu können. Bei komplexen Argumentationen hat dies den Vorteil, dass auf visuelle Weise überprüft werden kann, ob sie gültig sind oder qua visueller Homologie auf eine bereits bekannte, fehlerhafte Argumentation zurückgeführt werden können. Es sprengte den Rahmen dieser Darstellung zu zeigen, wie Theologien wie z. B. Lulls Kombinatorik sich selbst widersprechen, wenn in ihnen Gott als gut, gross, mächtig und weise bezeichnet wird, weil man sie isomorph auf absurde Argumentationen abbilden kann. Hier interessiert allein das Faktum, dass die offizielle Philosophie (Platon, Aristoteles) selbst sophistisch verfährt, wenn sie Enthymeme lediglich als sophistische Stärkung der schwächsten Position kennzeichnet. Entscheidend ist für den vorliegenden Zusammenhang erstens, dass nicht die Enthymeme, sondern die durch sie erzeugten Implikationsverhältnisse zur Diskussion stehen und zweitens, dass Hamann und Jean Paul in ihren Texten durch solche Implikationsverdichtungen eine materiale Logik der Erfahrung inszenieren. Darin besteht jenseits vergeblicher philosophiehistorischer Verortungsversuche ihre Gemeinsamkeit wie ihr Humor und daher ist das hier vorgeschlagene Modell methodisch signifikant. Zum anderen liegt inhaltlich gesehen hinsichtlich der Konjunktion von Natur und Geschichte im Zusammenhang von Religion und Humor bereits ein Beitrag von Lydia B. Amir vor. In ihrer bedeutenden Studie Humor and the good life in modern philosophy,5 verweist sie auf Shaftesbury als Ausgangspunkt von Hamann und Jean Paul.6 Angesichts der deutschen Rezeptionssituation, die die zentrale Bedeutung Shaftesburys für Hamann, Wieland, Jean Paul, Friedrich Schlegel u. a. und nicht zuletzt als Grenzscheide zu der von Lessing und Goethe dominierten Inlandgermanistik schlicht nicht wahrnimmt, ist der Beitrag von Amir ausgesprochen wichtig und hilfreich. Amir zeigt, wie Shaftesbury, Hamann und Kierkegaard als überzeugte Christen für ihre Kritik am religiösen Establishment Humor, Ironie und Witz einzusetzen verstehen. Es ist jene Schnelligkeit rhetorischer Bewegungen, die auch bei Jean Paul die Organisation des durch Philosophie und Theologie etablierten Raumes von Natur und Geschichte verändert. Sie aber wird als intellektueller coup nur dann möglich, wenn sie auf die Option von Humor und Religion verweist, mit anderen Worten, die Konjunktion von Natur und Geschichte wird erst durch diese Option möglich. Indem Amir die epistemologischen, ethischen und religiösen Funktionen dieses ursprünglich christlichen Humors untersucht, deutet sie jene ,säkulare‘ Variante eines philosophischen Humors an, der auf den Widerstand setzt, den kontin-

5 Lydia Amir : Humor and the Good Life in Modern Philosophy. Shaftesbury, Hamann, Kierkegaard. New York 2014, S. 89–99. 6 Ebd., S. 3, 8, 86, 209, 214–217, 219, 279, 299, 320, 327.

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genzerfahrene Ironie durch solidarisches Handeln dem Verschleiss philosophischer Systembildung entgegenhält:7 The outcome of this study is the insight that humour, when used to further the philosophic ideals of self-knowledge, truth, rationality, freedom, virtue, happiness, and wisdom, can be one oft he most useful tools available to a philosopher.8

Ist jedoch der theoretische Bezugspunkt Kierkegaards nicht nur auf Hamann, sondern ebenso auf Jean Paul fokussiert,9 dann ist nicht nur eine bisher verborgen gebliebene Gemeinsamkeit zwischen Hamann und Jean Paul erkennbar, sondern auch dass diese Gemeinsamkeit in der Auffassung von Humor als Inkongruenzerfahrung zwischen endlichem Subjekt und Gott besteht, mithin religiös fundiert ist. Wichtig ist, dass dieser religiöse Humor die Spannung nicht etwa in Gelächter auflöst, sondern perpetuiert und deshalb zugleich in Differenz zu Erlösungslehren der Religion wie quietistisch orientierten Philosophien steht. Diese Auflösungen gehen zu Lasten entweder der Subjekte oder Gottes oder der Vernunft.10 Die Konjunktion von Religion und Humor bei Hamann, Jean Paul und dann Kierkegaard ist keine Identität, sondern eine in sich gespannte Differenz, die einen Vertrag mit der Vernunft erfordert und den Irrationalismus der ,Schwärmerei‘ verhindert: Shaftesburean humour is the sign of the awareness of finitude. Humour is the acceptance of an inward measure, of an equilibrium that welcomes the inward truth of every situation, even if and maybe because, understanding does not always comprehend the why and how. Humour, for Shaftesbury, is thus the positive expression of the awareness of our limits, both as intelligent and sensible beings.11

So ist es nur konsequent, wenn sich diese Akzeptanz von Endlichkeit durch die Vernunft zu einer Akzeptanz ihrer eigenen Kontingenz erweitern muss, – das ist die gemeinsame Pointe Hamanns und Jean Pauls und ihre gleichsam rationale Rechtfertigung von Religion im Zeichen des Humors als Kontingenzakzeptanz: Weil unsere Vernunft blos aus den äusseren Verhältnissen sichtbarer, sinnlicher, unstätiger Dinge den Stoff ihrer Begriffe schöpft, um selbige nach der Form ihrer innern Natur selbst zu bilden, und zu ihrem Genuß oder Gebrauch anzuwenden: so liegt der Grund der Religion in unserer ganzen Existenz und außer der Sphäre unserer Erkenntniskräfte, welche alle zusammengenommen, den zufälligsten und abstractesten modum unserer Existenz ausmachen.12 7 8 9 10 11 12

Richard Rorty : Contingency, irony, and solidarity. Cambridge 1989. Amir : Humor and the Good Life (wie Anm. 5), S. 3. Ebd., S. 320. Ebd., S. 9. Ebd., S. 86. N III, 191.

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Die Kontingenz unserer Vernunft sowie das „unendliche[n] Missverhältniss[e] des Menschen zu Gott“,13 aber auch das ähnliche „Misverhältnis des Menschen zum Menschen“14 begründen den religiösen Humor und reorganisieren den philosophischen Vernunftraum als Selbstkritik. Ein weiterer von Amir genannter Bezugspunkt von Hamann und Jean Paul, Giordano Bruno,15 präzisiert die zweite Zielrichtung dieser Untersuchung, die Konjunktion von Natur und Geschichte, die im zweiten Teil vertieft werden wird. Die metaphysische Doktrin der coincidentia oppositorum bei Bruno wird bei Hamann, aber auch Jean Paul weniger zur Denk- denn zur Stilfigur der Katachrese, die mit der theologischen Doktrin der Knechtsgestalt Christi assoziiert ist. Die humoristische Katachrese erfüllt im Unterschied zu ironischen Stilfiguren, die über das Ende aller menschlichen Projekte angesichts des Todes triumphieren, eine positive Funktion: sie befreit Menschen qua der absurden Relation zwischen göttlicher und menschlicher Vernunft aus enger Endlichkeit und führt sie zur Akzeptanz paradoxer Wahrheiten, deren ,paradoxeste‘ in der Inkarnation besteht. Ein solcher Humor kann als Weg zur Erlösung angesehen werden.16 Diesen Aspekt, auf den der Titel des Beitrags anspielt, spitzt der dritte Teil im Hinblick auf moderne und szientifische Kontexte zu. Verschiedene theoretische, aber auch philologische Kreuz-Züge werden es drittens ermöglichen, die unterschiedlichen rhetorischen Taktiken von Hamann und Jean Paul im Feld von Natur und Geschichte als gemeinsame Strategie gegen theologische und philosophische Humorlosigkeit besser zu charakterisieren. Das gilt besonders für jene Figuren und Wendungen, die der in spannungsvoller Distanz zu seinem Orden stehende Jesuit Michel de Certeau in seiner Kunst des Handelns weniger analysiert als theoretische Performanz elegant inszeniert.17 Certeau führt Taktiken, Strategien, Poetiken und Rhetoriken, Tricks, Finten und Listen von modernen Konsumenten, jedoch im Kontext uralter historischer Traditionen, geradewegs auf die metis der Natur zurück.18 Streifen Certeaus Taktiken den Zusammenhang von Humor und Religion in wiederum humoristischer Weise19, so ist die Homologie zu Natur und Geschichte nicht verwun13 14 15 16

N III, 312. N III, 313. Amir : Humor and the Good Life (wie Anm.5), S. 96. Dass dieser Weg nun ausgerechnet für eine Theorie taugt, belegen im Kontext von Religion und Jean Paul Moritz Lazarus: Der Humor als psychologisches Phänomen. In: Ders.: Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze. Bd. I. 3. Ausg., Berlin 1917, S. 29–320; Max Eastman: The Sense of Humour. New York 1922, bes. S. 132, 164–177 und 215. 17 Michel de Certeau: Kunst des Handelns (1980). Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voulli8, Berlin 1988. 18 Ebd., S. 12 und 94. 19 Ebd., bes. S. 40, 90, 131, 151, 158, 162, 168, 315–317 und 325.

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derlich, die in Mystische Fabel explizit als Übertragung rhetorischer Tropen auf einen theologischen Gebrauch analysiert wird.20 Der Zusammenhang von Natur und Geschichte muss in der mystischen Tradition schon allein deshalb in den von Humor und Religion überführt werden, weil das Johanneische Wort des Lebens nicht allein als historisch aufgefasst wird. Es ist ein leibhaftig gesehenes und berührtes Faktum in der Natur, das als neue Natur erfahren wird. Hierin liegt erst die Begründung dafür, dass sich an diese neue Natur glauben lässt, weil auch von ihr gesagt und geschrieben wurde. ,Humoristisch‘ kann man diese Verschiebung geschichtlicher Dokumente, die das Wort als lebendige Natur, als incarnatum bezeugen, auf die jeweilige Gegenwart von Religion deshalb nennen, weil es zu einem beständigen Verlangen als Warten auf God[ot] und nicht zuletzt zur Produktion von Texten über dieses Warten führt.21 Gerade angesichts der merkwürdigen Tatsache, dass ausgerechnet ein so kluger Geist wie Cusanus den Zeitpunkt der Auferstehung in seiner Coniectura de ultimis diebus (1446) falsch berechnete: In diesem Warten auf God oder Godot sind sich, sei es als gläubige Gewissheit, sei es als Nihilismus, Christen und säkulare Geister gleich. In diesem Warten durchbrechen Religion und Humor den Kreislauf des Gewöhnlichen, und vielleicht besteht darin ihre einzige Gemeinsamkeit. Doch ist diese nicht nur hinreichend, einen neuen Blick auf die andere, zumeist bestrittene Gemeinsamkeit zwischen Hamann und Jean Paul zu werfen; wichtiger ist gegenwärtig die Einsicht, dass Religion und Humor sich nicht grundsätzlich ausschliessen müssen. Im Rückblick auf beide Autoren kann sich solche Einsicht entwickeln, für die für unsere Kultur vielleicht Kierkegaard der letzte glaubwürdige Zeuge ist.22 Allerdings verfügt, wer für beide Gemeinsamkeiten zu argumentieren versucht, für die zwischen Hamann und Jean Paul und noch mehr für die zwischen Religion und Humor, allenfalls über die Stimme eines Predigers in der Wüste. Das ist zwar nun seit den Zeiten Jesajas immer schon die Aufgabe von Religion gewesen: Die Unmöglichkeit, Heil in eine heillose Welt zu bringen, gleichwohl zu wagen. Dazu braucht es Mut und ohne Humor ist solches Wagnis schwerlich möglich. Angemessener scheint freilich die humoristischen Absage an Heilserwartungen jeglicher Couleur : „So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle,

20 Michel de Certeau: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert (1982). Aus dem Französischen von Michael Lauble. Mit einem Nachwort von Daniel Bogner. Berlin 2010, bes. S. 143, 299, 474, 488, 509f., 520, 528. 21 Martha Nussbaum: Narrative Gefühle. Becketts Genealogie der Liebe. In: Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Hg. von Andrea Kern und Ruth Sonderegger. Frankfurt a. M. 2002, S. 286–329. 22 Amir : Humor and the Good Life (wie Anm.5), S. 101–208.

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die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.“23 Erst von diesem freudianischen Punkt aus, über den Verlust, Trost zu spenden, lachen zu können, gesteigert noch zum Lachen über den eigenen Humorverlust, wird man mit Hamann und Jean Paul ins Gespräch und zu jenem Lachen kommen, „worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.“24 Doch warum überhaupt mit diesen Toten sprechen? Deutlicher als Stephen Greenblatt25 begründet Michel de Certeau die Notwendigkeit der Philologie als Totengespräch, die sie zugleich vom Vorwurf der Nekromantik oder gar der Nekrophilie freispricht: Einerseits hat das Schreiben [der Geschichte durch die Geschichtswissenschaft] die Funktion eines Bestattungsritus im ethnologischen und quasireligiösen Sinne des Wortes; es treibt den Tod aus, indem es ihn in den Diskurs einbindet. Andererseits besitzt es symbolische Funktion; es ermöglicht einer Gesellschaft, sich zu verorten, indem sie sich durch Sprache eine Vergangenheit gibt, und auf diese Weise öffnet es der Gegenwart einen eigenen Raum: eine Vergangenheit zu kennzeichnen bedeutet, den Toten einen Platz einzuräumen, aber auch den Raum der Möglichkeiten neuzuverteilen, negativ zu bestimmen, was getan werden muß, und folglich die Narrativität, die den Toten begräbt, als Mittel zu benutzen, den Lebenden einen Platz zu sichern. Das Unterbringen der Abwesenden ist die Kehrseite einer Normativität, die auf den lebenden Leser zielt und eine didaktische Beziehung zwischen Sender und Empfänger herstellt.26

Soll den Lebenden qua narrativer Bestattung ein Platz gesichert werden, so sind angesichts der übermächtigen Notwendigkeit des Todes Trostworte im Allgemeinen vergeblich. Der Tod lässt sich durch Worte nicht täuschen und die List eines salto natale bleibt daher oft das letzte Mittel, ihm zu begegnen, zu dem denn auch Certeau selbst greift. Er erweitert seine Betrachtungen zur Geschichtsschreibung als Bestattungsritus durch begriffliche Drehungen, die nicht umsonst den Begriff des tropus in den Mittelpunkt seiner Kunst des Handelns stellt. Dies geschieht nicht konstativ, sondern als Theorieperformanz, die witzig genug, von Freud geradewegs zu Clausewitz überspringt.27 Denn es sind Ta23 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). Frankfurt a. M. 1974, S. 74. 24 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von Norbert Miller hg. von Wolfhart Henckmann. Hamburg 1990, S. 129. 25 Stephen Greenblatt: Shakespearian Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley 1988, bes. S. 1. Vgl. Jürgen Pieters: Moments of Negotiation. The New Historicism of Stephen Greenblatt. Amsterdam 2001, bes. S. 124–139. 26 Certeau: Mystische Fabel (wie Anm. 20), S. 130f. 27 Dass Certeau (Kunst des Handelns [wie Anm. 17], S. 90) selbst zu einer List, nämlich einem korrumpierten Zitat greift, zeigt sich, wenn man auf die Quelle Clausewitz zurückgeht. Clausewitz schreibt der List nicht den Wert zu, den Certeau durch Clausewitz reklamiert. Clausewitz fährt nämlich nach der von Certeau zitierten Stelle so fort: „Aber so sehr man gewissermaßen das Bedürfnis fühlt, die Handelnden im Krieg an verschlagener Tätigkeit, Gewandtheit und List sich einander überbieten zu sehen, so muss man doch gestehen, dass diese Eigenschaften sich in der Geschichte weig zeigen und selten aus der Masse der Ver-

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schenspielereien mit Ideen und Vorstellungen wie mit Handlungen, die Möglichkeiten von Veränderungen bedingen und damit Zukunft sichern: Mit Hilfe der Vorgänge, die Freud am Beispiel des Witzes darstellt, werden dabei [bei Clausewitz] frech Elemente miteinander in Verbindung gebracht, die etwas anderes in der Sprache eines Ortes aufblitzen lassen und den Adressaten verblüffen sollen. Streiflichter, Knalleffekte, Risse und Volltreffer in den Netzen eines Systems.28

2.

Philosophiehistorische Verortung und philologische ,Stellen‘

(Descartes vs Bacon; Johann Georg Hamann und Jean Paul) Um solche „Volltreffer in den Netzen eines Systems“ geht es im Folgenden. Hamann und Jean Paul werden nicht literaturgeschichtlich eingesargt, ihre „Knalleffekte“ sollten die noch Lebenden aus dem Dämmerschlaf der Vernunft wecken: In der Kulturgeschichte gibt es Ereignisse, die noch gar nicht zur Kenntnis genommen wurden, obwohl sie uns selbst bestimmen. Um die Einsicht in den eigenen kulturellen Quellcode zu bekommen ist eine rhetorikgeschichtliche Modifikation des von Certeau gegebenen Hinweises auf Clausewitz’ Relation von Trope und Krieg hilfreich,29 die zugleich eine wesentliche Vorbedingung für Hamann wie Jean Paul aufspürt, die sich gerade dort zeigt, wo die Rhetorik scheinbar schon verschwunden ist, nämlich im Cartesischen Programm. Descartes, dessen Philosophie auch als Auseinandersetzung mit dem Dreissigjährigen Krieg zu verstehen lohnt, leitete in den Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft (1628) und Die Leidenschaften der Seele (1649) das menschliche Redevermögen nicht nur allein aus natürlichen Gegebenheiten ab, sondern führte es auf physikalische Gründe zurück. Er schied also die Rhetorik nicht nur als Erkenntnisgenerator aus, sondern rehabilitierte sie implizit als Theorie sprachgebundenen Denkens. Die Erkenntnis dieser Komplexität drang jedoch in Deutschland erst Mitte des 18. Jahrhunderts durch, während die katholischen Intellektuellen Frankreichs in der Logik von Port Royal, etwa in Antoine Arnaulds Die Logik oder die Kunst des Denkens (1662) schon sehr früh die cartehältnisse und Umstände sich haben hervorarbeiten können.“ Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Vollständige Ausgabe. Hamburg 2014, S. 209. 28 Certeau: Kunst des Handelns (wie Anm. 17), S. 90. 29 Deutlicher als die von Certeau zitierte Stelle scheint folgende Bemerkung von Clausewitz zu sein: „[…] der Bedrängte wird, kaum Hilfe mehr erwartend von Dingen, die ihm keine versprechen, sein ganzes und letztes Vertrauen in die moralische Überlegenheit setzen, welche die Verzweiflung jedem Mutigen gibt, er wird die höchste Kühnheit als die höchste Weisheit betrachten, allenfalls noch kecker List die Hand reichen und, wenn kein Erfolg ihm werden soll, in einem ehrenvollen Untergang das Recht zu künftiger Auferstehung [!] finden.“ Clausewitz: Vom Kriege (wie Anm. 27), S. 310.

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sische Erkenntniskritik zum Zwecke der Verteidigung der Erbsündenlehre radikalisierten. In diesem Kontext versuchte Bernard Lamy den philosophischen Aktivitäten in Descartes’ Untersuchung der Leidenschaften bis in ihre feinsten rhetorischen Verästelungen zu folgen, kam aber mit denselben analytischen Prozeduren zu ganz anderen Ergebnissen als Descartes und Arnauld. Seine Kunst zu reden analysierte zwar die menschliche Seele ebenfalls unter dem Aspekt der physis. Die Figuren der Rhetorik sind demnach schlicht durch die Leidenschaften des Menschen erklärbar, die wie die logischen Kräfte auch zu seiner Natur gehören. Die Rede folgt also mithilfe der rhetorischen Figuren lediglich seelischen Bewegungen. Wenn etwa die Seele von einer gewaltsamen Bewegung beunruhigt wurde, so laufen die cartesianischen Lebensgeister durch alle Teile des Leibes, lassen die Muskeln kontrahieren und so auch die Stimme erhöhen und nachdrücklich werden. Alle Figuren können so natürlich erklärt werden. So wie jeder Fechter in seiner Todesnot ohne jede Kunst gerade zu den Finten und Stellungen greift, die ihn retten,30 so stellt uns auch die Natur die Figuren als Finten zur Verfügung. Dieses allzu dichotomische Schema von cartesischer Rhetorikkritik und Lamys Konzept einer natürlich begründeten Rhetorik überzeugte zwar gerade in Deutschland einen grossen Kreis von Aufklärern (Wolff, Gottsched). Aber das Problem, dass sich Lamy zwar vom engmaschigen Systembegriff des cartesischen Ego löst, ohne ihm jedoch entkommen zu können, wurde hier nicht weiter reflektiert, sondern unter dem Namen einer ,vernünftigen Rhetorik‘ nur bestätigt. Trotz seiner Fintenmetaphorik gelang es Lamy nicht, die cartesische Logik selbst in Frage zu stellen, sondern nur die Rhetorik im Namen der Leidenschaft anthropologisch zu rechtfertigen. Dass aber der Status des Individuums im Maße der logizistischen Expansion schwand, liess sich dadurch nicht mehr bremsen. Die Überlistung des Systemdenkens wurde erst durch Hamanns philologische Experimente im Rückgang auf Francis Bacon möglich: „Denn wie die experimentierenden Naturforscher einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen“31 so soll es laut Hamann jegliche Philologie mit ihren Texten machen.

30 Bernard Lamy : De l’art de parler. Kunst zu reden. Hg. von Ernstpeter Ruhe. München 1980, S. 122–126. 31 „Ein sorgfältiger Ausleger muß die Naturforscher nachahmen. Wie diese einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen; so macht es jener mit seinem Texte. Ich habe des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Überschrift zusammen gehalten; jetzt will ich einige andere Versuche thun, die Energie desselben sinnlicher zu machen.“ N II, 71,25–31.

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Die philologischen Experimente sollen bei Hamann diktatorische Geltungsansprüche sei’s der Vernunft, sei’s der Offenbarungstheologie aufbrechen. Der Philologe soll „in kleinen Heften mit Zweifeln und Einfällen gegen die Dictatoren der reinen Lehre und Vernunft […] laboriern.“32 Hamanns scharfsinniges philologisches Laborieren als Spiel mit den Ordnungen der reinen Lehre und Vernunft erweist sich gerade im Kontext von Natur und Geschichte als Adaption Francis Bacons im Kontrast zur cartesischen Philosophie. Bacon beschränkte Experimente nicht nur auf die Natur. Seine Temporis partus masculus (1603) verwendet Zitate und Bilder, um wie Platon in seiner Politeia den Lesenden gerade auf seine Gefangenschaft in Zitaten und Bildern aufmerksam zu machen. Wesentlich für Hamann wie Jean Paul ist, dass Bacon mit den Lesenden ein Experiment unternimmt. Er lässt in seinen Texten verschiedene Bildbegriffe als Bilder von Bildern wie in einem Film vor ihnen ablaufen. Sein Text dynamisiert damit den Bildbegriff selbst: Zunächst sind die Idole statische Bilder, dann aber jene dynamischen Visionsexperimente, wie sie die Alchimisten seiner Zeit unternahmen, wenn sie heterogene Bildfelder miteinander kombinierten, um zu neuen Erkenntnissen vorzustossen. Schliesslich aber geht Bacon über die Metaphorik des Bildes als Schatten zum Unbildlichen, ja Unbegrifflichen über. Sein ikonoklastischer Text verweigert sich wie die spätere moderne Literatur hermeneutischer Entschlüsselung: Denn eben sie ist durch jene Bilder bestimmt, die uns lenken, und die es gerade hinter sich zu lassen gilt. Die Philosophie kann zwar den Geist von den Idolen befreien, indem sie diese argumentativ zerstört. Im Unterschied zu Descartes ist sich Bacon aber darüber im Klaren, dass die angestrebte Produktion neuen, sicheren Wissens nicht durch die Angabe isolierter Daten gelingt, sondern nur dort, wo Wissen in einem in sich begründeten Zusammenhang steht, der auf die Selbstvermehrung des Wissens zielt. Für diesen Zusammenhang verwendet Bacon in Valerius Terminus (1603) das Bild von den Wissenschaften als eines Kreises, ,Enzyklopädie‘, den es zu durchlaufen gilt. Invariante dieses Durchlaufs sind ,Aphorismen‘, jene transdisziplinären Axiome, die von mehreren wissenschaftlichen Disziplinen gemeinsam geteilt werden, scheinbar blosse Leerformeln, die mit den empirischen Beobachtungen der Einzelwissenschaften jeweils zu füllen sind. Der gesuchte Zusammenhang des Wissens lässt sich darum nicht mit den wissenschaftlichen Mitteln selbst erzeugen. Diese sind nur Elemente einer Komposition, einer Wissenschaftsästhetik, die durch das Prinzip des Aphorismus organisiert ist.33 32 N IV, 460. 33 Christian Sinn: ,[…] diese Wissenschaft ist noch nicht vorhanden.‘ Der wissenschaftsästhetische Entwurf einer Allgemeinen Methodenlehre an der Wende zum 19. Jahrhundert als Grundlage romantischer Textproduktion. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-vonArnim-Gesellschaft 16 (2004), S. 27–56.

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Der Aphorismus dient bei Bacon als Mittel zur Erreichung staatspragmatischer Räson: er will dem heuristischen Prinzip aller Wissenschaften auf die Spur kommen, so dass durch methodisch kontrollierte wissenschaftliche Interdependenz neue, für den Menschen nützliche Entdeckungen und Erfindungen möglich werden. Hierzu aber bedarf es der Phantasie: Sie abduziert die Aphorismen. In De augmentis (1623) fordert Bacon deshalb nicht nur Phantasie, er aktiviert sie selbst in anderen Texten, die mit ihrer Rhetorik gezielter Unbestimmtheit uns heute noch vor den Kopf stossen und geradezu ,dekonstruktivistisch‘ anmuten. Sie entstammen jedoch einer alten Technik der philosophischen Rhetorik, die ein Training im Denken durch Prolepsen, d. h. durch Vorausnahmen und Vorausdeutungen, herzustellen versuchte. Durch diese rhetorische Figur werden allgemein Zeichen in ihnen fremde Kontexte gestellt, so dass neue Entdeckungsmöglichkeiten hergestellt werden. Bei Bacon geschieht dies, wie dann bei seinen späteren Bewunderern Johann Georg Hamann und Jean Paul, durch die Verwendung korrupter Zitate, die den Lesenden auffordern, die Bedingungen seiner Rezeption zu problematisieren. Denn Bacons Annahme, dass unser Bewusstsein von Natur aus falsch und fälschend sei, hat zur Folge, dass eine Therapie nicht durch die Natur, sondern allenfalls durch literarische Konstruktionen gelingt. Aber auch wenn nicht Natur, sondern Tradition als Ursache angenommen wird, kann Literatur durch die bewusste Korruption von Zitaten solche Tradition vernichten. Literatur wird unter diesem therapeutischen Aspekt mit Aufklärung synonym: Denn einerseits genügt es nicht, in den Spiegel des eigenen Bewusstseins zu schauen, um die Realität zu erkennen, da dieser Spiegel, sei es durch die Natur selbst, sei es durch die Tradition, verzerrt ist. Weil Realität jedoch nur durch diesen Spiegel wahrnehmbar ist, bleibt allenfalls der literarische Umgang mit den Bedingungen der Möglichkeit von Konstruktionen übrig, um sich über sich selbst aufzuklären: Darin besteht die Aufklärungsleistung der Literatur, die Hamann und Jean Paul gleichermassen interessiert. Sie stellen, wie dies Walter Benjamin in expliziten Anschluss an Hamanns auch tut,34 die Vernunft in den Zwischenraum der durch den Sündenfall bereits gebrochenen paradiesischen Sprache, die aber noch nicht durch Babel hindurch gegangen ist. Denn Vernunft, exemplarisch fassbar im cartesischen Programm, insinuiert zwar nicht paradiesische, aber vorbabylonische, d. h. historisch gesehen un34 Walter Benjamin: Über das Programm der kommenden Philosophie (1917). In: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II. Frankfurt a. M. 1977, S. 168: „Die grosse Umbildung und Korrektur die an dem einseitig mathematisch-mechanischen orientierten Erkenntnisbegriff vorzunehmen ist, kann nur durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamann versucht hat gewonnen werden.“

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haltbare Ansprüche, die das nachbabylonische Faktum der Zerstreuung nicht zu akzeptieren bereit ist, so dann auch die spätere Argumentation Derridas im Anschluss an Benjamin. Wenn es aber nach Babel weder einen Urtext noch eine Ursprache mehr gibt, so folgt daraus, dass sich die Sprachen nicht so ineinander übersetzen lassen, dass sich daraus Machtansprüche der Vernunft und seien es die einer gewaltfreien Kommunikationsgemeinschaft a la Habermas ableiten lassen. Denn Gott selbst verhindert radikaltheologisch gesprochen durch die Dekonstruktion seiner selbst die Machtergreifung der menschlichen Vernunft. Die Dekonstruktion Gottes durch Gott selbst ist der Grund für eine bewusst hergestellte petitio principii bei Hamann und in anderer Weise aber auch bei Jean Paul: Natur und Geschichte sollen den Zugang zum göttlichen Wort erst ermöglichen, dieses Wort ist jedoch bereits die Voraussetzung dafür, Natur und Geschichte zu verstehen. Was für den analytischen Philosophen nach definitionslogischem Unfug klingen muss, wird von beiden Autoren jedoch dazu verwendet, das Denken durch eine Aporie auf den Grund und die Grenze seiner selbst aufmerksam zu machen, die sich durch den Ausdruck ,Gott‘ nur als unbeholfenes Kürzel eines reflektierten Agnostizismus benennen lässt. Dieses von Hamann und Jean Paul gemeinsam geteilte Problem, ob das Denken selbst die durch es erzeugten Differenzen vermitteln kann, lässt sich zum einen an der von beiden Autoren geteilte These belegen, dass es ein commercium mentis et corporis gebe, das das spekulative Erkenntnisvermögen der Vernunft überfordere: Wie können denn Logik und Leidenschaft in ein und demselben Individuum existieren? Diese Frage hatte Descartes offen gelassen und einseitig logizistisch beantwortet; Lamy hatte lediglich die Leidenschaften und mit ihnen die Rhetorik rehabilitiert. Hamann und Jean Paul argumentieren umgekehrt: Das commercium existiert ja bereits in unserer Verbindung von Leib und Seele, kann aber durch Vernunft und Logik nicht aufgelöst werden.35 Diese Überforderung der Vernunft ist eine Art negativer Gottesbeweis dafür, dass die Menschen bereits selbst ein Kommentar zum Wort Gottes sind wie dies auch die Konjunktion von Natur und Geschichte ist. Obwohl Hamann und Jean Paul die Metapher von den beiden Büchern der Natur und der Geschichte häufig verwenden, treten zwischen ihnen deutliche Unterschiede auf. Zunächst Hamann: „Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Geschichte, Rätsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chiffern, verborgene Zeichen, 35 Vgl. Jean Pauls sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Preussischen Akademie der Wissenschaften begr. von Eduard Berend. Weimar 1927–. Im Folgenden zitiert als ,HKA‘. Hier : HKA, Abt. II, Bd. 1, S. 283: „Die Vereinigung unseres Körpers mit unserer Seele bleibt das ewige Rätsel jedes Philosophen; wir wissen nicht, sol er [!] unsre Weisheit oder Torheit, unser Glük oder Unglük befördern; uns ist unbekannt, was wir ihm zu danken haben, wenig, viel oder alles.“

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die eben den Schlüssel haben, der die heilige Schrift auslegt.“36 Mit diesem Schlüssel meint Hamann den Glauben des vom Heiligen Geist erfüllten Menschen. Er allein erfasst den Sinn der Bibel, er allein erfasst den Sinn der Natur und der Geschichte: „Natur und Geschichte […] sind die zwei grossen Commentarii des göttlichen Wortes, und dieses hingegen der einzige Schlüssel, uns eine Erkenntnis der beiden zu eröffnen.“37 Die Zirkularität, dass Natur und Geschichte das Wort Gottes veranschaulichen und erklären und der Schlüssel zu diesem Wort sind, obwohl erst dieses Wort die Chiffernschrift von Natur und Geschichte zu lesen vermag, löst Hamann zwar durch einen Sprung in den Glauben auf. Das ist in wissenschaftlicher Hinsicht zunächst wenig ergiebig. Der Glaube ist für Hamann das Aufnahmeorgan für die göttliche Offenbarung, Offenbarung ist ihm aber identisch mit Erfahrung.38 Glaube bedeutet bei Hamann das Aufnehmen sinnlicher und übersinnlicher Objekte in einer bestimmten Perspektive, die dem Kult der Vernunft eine im menschlichen Geist selbst verankerte Religion entgegensetzt. Diese natürliche Religion approximiert Hamann durch das interkulturell nachweisbare poetische Vermögen des Menschen. Poetisierung der Religion ist daher bei ihm keine nachträgliche rhetorische Einkleidung von Glaubenssätzen, sondern Begründung von Religion.39 Die christliche Religion 36 N I, 308,32–36. 37 N I, 35–37. 38 N I, 70,37–40: „Alles ist Weisheit in Deiner Ordnung der Natur, wenn der Geist Deines Wortes den unsrigen aufschliesst. Alles ist Labyrinth, alles Unordnung, wenn wir selbst sehen wollen.“; N I, 76,2–6: „Wollen wir etwas wissen, so lasset uns den Geist fragen, der über der Tiefe schwebt, der diese ungestalte, leere, geheimnisvolle Welt in die Schönheit, die Klarheit, die Herrlichkeit versetzen kann, gegen welche die übrige Schöpfung ihren Glanz zu verlieren scheint.“; N I, 128,7–14: „Wer den Geist Gottes in sich fühlt, der wird ihn gewiss auch in der Schrift fühlen […] So wahr ist es, dass seine Absicht gewesen, keinen andern als den Gläubigen zu gefallen. Der Ungläubige geht ihn nichs an […] Der Gläubige ist allein sein Vertrauter […]“; N I, 246,26–27: „Ohne Glauben können wir selbst die Schöpfung und die Natur nicht verstehen“; N III, 191,27–34: „Weil unsere Vernunft blos aus den äußeren Verhältnissen sichtbarer, sinnlicher, unstätiger Dinge den Stoff ihrer Begriffe schöpft, um selbige nach der Form ihrer innern Natur selbst zu bilden, und zu ihrem Genuß und Gebrauch anzuwenden: so liegt der Grund der Religion in unserer ganzen Existenz und außer der Sphäre unserer Erkenntniskräfte, welche alle zusammengenommen, den zufälligsten uns abstractesten modum unserer Existenz ausmachen.“; N III, 190,16–23: „Da der Glaube zu den natürlichen Bedingungen unserer Erkenntniskräfte und zu den Grundtrieben unserer Seele gehört; jeder allgemeine Satz auf guten Glauben beruht, und alle Abstractionen willkührlich sind und seyn müssen: so berauben sich die berühmtesten Speculanten unserer Zeit über die Religion ihrer Vordersätze und Mittelbegriffe, die zur Erzeugung vernünftiger Schlußfolgen unentbehrlich sind […].“; 22. 4. 1787 an Jacobi, ZH VII, 156,20–24: „Ich will aber den berlinischen Idealismus des Christentums und Luthertums widerlegen durch einen historischen u physischen Realismum. Erfahrung der reinen Vernunft entgegensetzen. Diese Verwickelungen ins Reine zu bringen, ist eben die herkulische Arbeit, die mir im Sinne liegt […].“ 39 N III, 191,34–192,4: „Daher jene mythische und poetische Ader aller Religionen und ihre Torheit und ärgerliche Gestalt in den Augen einer heterogenen, inkompetenten, eiskalten,

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steht mit ihrem Ärgernis des Kreuzes nur stellvertretend für das Ärgernis, das alle Religionen für die Vernunft erzeugen.40 Der Rationalismus ist nur eine andere Form des Despotismus, gegenüber dem das Werk der Reformation noch gar nicht in Gang gesetzt wurde.41 Vor allem aber verkennt die Aufklärungsreligion das eigentümliche Wesen von Religion, wenn sie Gott zu beweisen versucht.42 Von dieser Auffassung aus ist einerseits verständlich, dass sich Hamann manchmal dem Immanenzgedanken des Pantheismus annähern kann,43 ihn hiervon jedoch die geschichtliche Begründung des christlichen Erlösungsglaubens trennt.44 Bei Jean Paul liegen die Dinge auf den ersten Blick ganz anders als bei Hamann. Mystische Auslegungen des Bibeltextes lehnt Jean Paul bewusst und entschieden ab, er lässt nur eine gelten, die historisch-kritische im Anschluss an Johann Salomon Semmler in Halle. Jean Paul steht zwar im engsten Kontakt mit Hamann, Herder und Jacobi. Als aber um die Jahrhundertwende und mit den Befreiungskriegen als Rückschlag gegen den Rationalismus die romantischmystische Richtung des Christentums immer mehr Boden gewann und auch ihm nahestehende Personen wie Jung-Stilling, Krüdener, Kanne, vor allem aber sein eigener Sohn Max sich dieser Bewegung anschlossen, schwieg Jean Paul nicht länger, sondern bekannte offen seinen Standpunkt. Wesentlich ist hier die Streitschrift „Ueberchristentum. Wider Kanne“. Zunächst stellt Jean Paul hier den Grundsatz auf, dass älter und wichtiger als die Bibel ein bestimmter Begriff von Christentum sei. Die Bibel ist nur die, wenn nicht sogar nur eine Urkunde dieses Christentums.45 Aus diesem Grund, der sich einfacher als praktische

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hundemagren Philosophie, die ihrer Erziehungskunst die höhere Bestimmung unserer Herrschaft über die Erde unverschämt andichtet.“ N III, 225,3–6: „Was ist die hochgelobte Vernunft mit ihrer Allgemeinheit, Unfehlbarkeit, Überschwenglichkeit, Gewissheit und Evidenz? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreyender Aberglaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet“ An Jacobi 22. 7. 1785, ZH VI, 22,31–34: „Anstatt des römischen [Despotismus] ist ein metaphysisch-moralischer in der Mache, der seinen Sitz an eben dem Orte hat, wo man soviel Zetergeschrei über das seel. Pabst[th]um erhebt.“ An Jacobi 18. 2. 1786, ZH VI, 277,24–26: „[W]enn die Narren sind, die in ihrem Herzen das Daseyn Gottes leugnen; so kommen mir die noch unsinniger vor, die selbiges erst beweisen wollen“. N III, 319,27–29: „Das Daseyn Gottes leugnen und beweisen wollen, ist im Grunde, wie der seelige Voltaire [!] sagt: Sottise de deux parts!“ N III, 165,15–19: „ob nicht die Perle des Christentums ein verborgenes Leben in Gott, eine Wahrheit in Christo, dem Mittler und eine Kraft sein müsse, die weder in Worten und Gebräuchen noch in Dogmen und sichtbaren Werken besteht, folglich auch nicht nach dialectischen und ethischen Augenmaaße geschätzt werden kann“. An Jacobi 5. 12. 1784, ZH V, 274,22f.: „Läst sich wol mit dem panischen System im Kopf ein christlich Vaterunser beten?“ Jean Paul: HKA (wie Anm. 35), Abt. II, Bd. 4, S. 62 (340): „Befestigt doch nicht die Bibel, deren Leben an der historischen Zeit anhangt, sondern lieber ihre Grundsätze, d. h. die Grundsätze, auf denen ihr Heiliges allein ruht und die vorangehen und die sie voraussetzten

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Nächstenliebe übersetzen liesse, hält Jean Paul nicht sehr viel von den Inhalten des Alten Testamentes.46 Während für Hamann die menschliche Sprache notwendig metaphorisch ist, weil sie dem von Gott geschriebenen Buch der Natur entstammt, neigt Jean Paul zur umgekehrten Argumentation. Da bei ihm die menschliche Sprache durch Metaphern den Konnex zwischen Quantitäten und Qualitäten stiftet, kann sie als Indiz für einen göttlich begründeten Zusammenhang verstanden werden, in der die Welt selbst zum Zeichen wird. Schematisch gesprochen verschiebt sich im Übergang von Hamann zu Jean Paul der Akzent vom Finden, auch sich Findenlassen des Menschen durch Gott zu einem Erfinden, in dem das Buch der Natur zum Palimpsest des Witzes wird. Jean Paul bezeichnet den erfinderischen Witz als Anagramm der Natur und als „Geister- und Götterleugner“.47 In diesem Kontext Jean Pauls dient nun nicht wie bei Hamann Rhetorik dazu, Theologie zu ermöglichen, vielmehr werden Theologumena zu Elementen des Witzes48, so dass die Welt zu einem völligen Chaos wird, über welchem ein „heiliger Geist“ schwebt; sie muss ihren „Jüngsten Tag“ erleben, damit der Geist des poetischen Ich ganz frei und autonom sein soll. Nur die durch den Witz hergestellte „allgemeine Gleichheit und Freiheit“ eröffnet den „Weg zur dichterischen und zur philosophischen Erfindung“.49 Beachtete man nicht die weiteren Kontexte der Vorschule der Ästhetik, aus der diese Paraphrase stammt, so könnte man nach der soeben skizzierten positivistischen Gegenüberstellung von Zitatcollagen einen Gegensatz zwischen Hamann und Jean Paul vermuten. Aber

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muss. Tut nicht als ob ohne die Bibel das Höchste verloren sei, sondern erkennt das Höchste für sich und dann könnt ihr etwa wieder Bibeln darauf gründen“ Ebd., S. 48 (61): „Ich möchte wissen, was ein Unbefangener, dem kein neues Testament eine höhere Beziehung vom alten beigebracht hätte, von diesem dächte, von dessen sämtlichen unsittlichen Helden, von den Mordgrundsätzen. In allen Evangelien und Worten Christi finde ich nichts, was der Vernunft widersteht; erst später hinter den Aposteln kam es zu Erweiterungen und Widersprechungen.“; ebd., S. 43 (36): „Ich leugne nichts, was in der Bibel steht, aber das Meiste, was die Leute hineintragen. Die Bibel, d. h. das neue Testament [!], verträgt sich mit jeder Philosophie, die an Gott glaubt.“ Jean Paul: HKA (wie Anm. 35), Abt. I, Bd. 5, S. 201: „Der Witz – das Anagramm der Natur – ist von Natur ein Geister- und Götter-Leugner, er nimmt an keinem Wesen Anteil, sondern nur an dessen Verhältnissen; er achtet und verachtet nichts; alles ist ihm gleich, sobald es gleich und ähnlich wird; […] er ist atomistisch, ohne wahre Verbindung.“ Ebd., S. 202: „Nun gibt es einen lyrisch-witzigen Zustand, welcher nur aushungert und verödet, wenn er bleibt und herrscht, aber wie das viertägige Fieber die herrlichste Gesundheit nachlässet, wenn er geht. Wenn nämlich der Geist sich ganz frei gemacht hat […], wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt, […] wenn dieser Dithyrambus des Witzes […] den Menschen mehr mit Licht als mit Gestalten füllt: dann ist ihm durch die allgemeine Gleichheit und Freiheit der Weg zur dichterischen und zur philosophischen Freiheit und Erfindung aufgetan, und seine Findkunst (Heuristik) wird jetzo nur durch ein schöneres Ziel bestimmt.“ Ebd.

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auch wenn diese philologischen ,Belege‘ zuvor eher als Travestie der Philologie missbraucht wurden, so bringen sie trotzdem schon das zum Vorschein, was die Zitate über sich „zur philosophischen Erfindung“ im Geiste Bacons hinaustreibt. Doch mag, um der wissenschaftlichen Praxis Genüge zu tun, die philologische Spurensuche noch ein wenig weiter verfolgt werden. Während Hamann das Buch der Natur als Chiffernschrift des biblischen Gottes versteht, bleibt Jean Paul in der Bestimmung der Autorschaft dieses Buches unklar. Einerseits sieht er in der Erscheinungswelt der Natur ein eher allgemein göttliches Wesen, andererseits aber ist es das Genie, dem zugesprochen wird, die Natur als Buch wortwörtlich zu buchstabieren. Gegenüber Hamann scheint dies zunächst eine eher Kantianische Position zu sein, in der der Mensch die Lesart dieses Buches bestimmt, ja es allererst schreibt. Jedoch unterscheidet Jean Paul von Kant der Blick auf jenes Buch, das ihm wichtiger als das der Natur ist, nämlich das Buch der Geschichte, das ihn geradewegs zu Hamann zurückführt. Zwar gilt auch hier für Jean Paul, allerdings mehr von Vico als von Kant ausgehend, dass die Menschen das Buch der Geschichte selbst gemacht haben. Aber, und das ist das zentrale, mit Hamann geteilte Argument, die Geschichte und vor allem die Geschichtlichkeit der Sprachen ist konstitutiv für die menschliche Vernunft. Dies ist bereits für den jungen Jean Paul entscheidend. In einer Denkübung von 178050 geht es ihm um die Bestimmung aller Geschöpfe zur fortschreitenden Vervollkommnung. Jede Gattung strebt hier einem Idealzustand entgegen und jedes Tier entwickelt sich im Lauf seines Lebens so weit, dass es die Grenzen der in seiner Gattung selbst angelegten Möglichkeiten erreicht, es repräsentiert also diese Gattung erschöpfend. Anders der Mensch: nur als geschichtliches Ganzes nähert sich sein Geschlecht dem Endpunkt möglicher Vervollkommnung, der Einzelne aber ist blosses Glied einer Kette. Während sich die Tierindividuen nicht beliebig miteinander verständigen können, gelingt dies den Menschen qua ihrer geschichtlich gewordenen Sprache. So entwickelt sich die Menschheit über jeden tierischen Vervollkommnungsgrad hinaus bis zur „Stufe des Engels“.51 Sprachgeschichte wird für den jungen Jean Paul zwar noch nicht als Vernunft und Kritik der Vernunft formuliert, jedoch das Buch der Geschichte als gattungskonstitutiv anerkannt. Trotz ihrer erheblichen Differenzen teilen daher Hamann und Jean Paul das Problem, dass Natur und vor allem Geschichte als Kommentare des göttlichen Wortes nötig wären, um das göttliche Wort überhaupt verstehen zu können, das 50 Jean Paul: HKA (wie Anm. 35), Abt. II, Bd. 1, S. 42 (32): „Alles ist Sele – aber eine Sel’ ist nur besser als die andre. Vom Menschen bis zum unförmlichen Kiesel herrscht Vervollkommnung Seiner Selbst. […]“ 51 Ebd. S. 49.

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Verständnis dieses Wortes aber die Voraussetzung ist, Natur und Geschichte als Kommentare zu verstehen. Der Schlüssel des göttlichen Wortes machte die Allegorien der Natur und der Geschichte erst lesbar. Wer wagte es aber, solche Schlüsselgewalt für sich zu beanspruchen? Allenfalls wären Konjekturen möglich, wie sie Jean Paul dem Genie zuspricht – ethisch vielversprechender scheint jedoch jener allgemeine Verzicht auf Auslegungshoheit zu sein, den Hamanns philologische Experimente intendieren. Zwar legt Hamann in einer gut lutherischen subtilitas applicandi eine partiale Auflösung des definitorischen Problems durch Anwendung auf die eigene Lebenssituation nahe.52 Aber auch solche Lebenszeugnisse sind wie die zwei grossen ,Commentarii‘ durch die Medien korrumpierter Schrift und Rezeption gegangen und wurden oftmals durch rhetorische Mittel allererst hergestellt und ,optimiert‘. Hamann und Jean Paul wissen das als Rhetoriker natürlich, während die theologischen, philosophischen, soziologischen Lesarten von Hamann und Jean Paul diesen letztlich philologischen Sachverhalt geflissentlich übersehen. Das Problem der zirkulären Definition des Kommentars des göttlichen Wortes durch Natur und Geschichte bleibt indes ebenso wenig auf sich beschränkt wie die dunklen Beziehungen zwischen körperlicher und seelischer Natur, zwischen individueller und sozialer Stilistik und zwischen sprachlichen und vorsprachlichen Bedingungen des Denkens. Diese vier gemeinsamen Elemente im Denken von Hamann und Jean Paul sind nur ein Ausdruck für das allgemeine principium coincidentiae oppositorum, nach dem beide Autoren suchen.53 Hamann und Jean Paul versuchen in je unterschiedlicher Weise die durch das Denken hergestellten Differenzen durch eine sprachgeschichtliche Selbstreflexion aufzulösen. Entscheidend hierfür ist, dass das im Übergang von Cusanus zu Bruno formulierte principium coincidentiae oppositorum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Kontext einer transzendental-hermeneutischen Sprachreflexion durch Hamann und Herder neu gedacht wird. Alle bisher genannten Oppositionen, z. B. die von Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft, 52 N I, 297,25–30: „Ich bin überzeugt, daß jede Seele eine Schaubühne so grosser Wunder ist, als die Geschichte der Schöpfung und der ganzen heiligen Schrift in sich schlüst. Der Lebenslauf jedes Christen ist im Tagewerke Gottes, in Bündnisse desselben, mit dem Menschen, in Uebertretung, Warnung, Offenbarung, wunderthätigen Erhaltung pp. begriffen“. 53 An Herder 29. 4. 1781, ZH IV, 287: „Nichts scheint leichter als der Sprung von einem Extrem zum andern und nichts ist so schwer, als ihre Vereinigung zu einem Mittel. Ungeachtet aller meiner Nachfrage ist es mir nicht möglich gewesen, des Jordanus Brunus Buch de Uno aufzutreiben, worin er sein principium coincidentiae erklärt, das mir Jahre lang im Sinne liegt, ohne dass ich es weder vergessen noch verstehen kann […] Diese Coincidenz scheint mir der einzig zureichende Grund aller Widersprüche und der wahre Process ihrer Auflösung und Schlichtung, aller Fehde der gesunden Vernunft und reinen Unvernunft ein Ende zu machen.“; vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (wie Anm. 24), § 43.

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Sprache und Nichtsprache, und eben auch von Natur und Geschichte gründen in der Tiefenopposition von Zeichen und Bezeichnetem. Zeichen werden nicht mehr wie zuvor einem Bewusstseinsinhalt nachträglich zugeordnet, vielmehr wird, bereits einer dreistelligen Semiotik nach dem Muster von Peirce präludierend, die unendliche semiosis und die konstitutive Bedeutung des Sprechens für das Denken differenziert anerkannt. Interessant ist jedoch, dass das Sprechen und die Sprache nicht einseitig als transzendentaler Grund des Denkens formuliert werden, vielmehr rückt damit, deutlicher bei Hamann und dann Jean Paul als bei Herder die Verführung des Denkens durch die Sprache erst recht in den Blick.

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Surge amica mea: Der Vogel Merops

(Pascal, Luther, Hamann, Jean Paul) Soll nach dem Vorschlag Hamanns der Theologe mit der Geschichte als einem Kommentar des Wortes Gottes wie ein Naturwissenschaftler nach dem Vorbild Bacons vorgehen, dann ist damit auch zugleich die mögliche Kongruenz von Natur und Geschichte gegeben. Von Bacon ausgehend lässt sich eine poetologische Linie zu Hamann und Jean Paul ziehen (wie ich in meiner Dissertation belegt habe).54 Innerhalb dieser Linie sind Zitate bei Hamann und Jean Paul dann eben nicht ,Belegstellen‘ für Theologoumena und Philosopheme, die sich durch Theologie und Philosophie verwalten liessen, sondern Poetisierungen des Wortes Gottes durch eine sich selbst negierende Intertextualität. Ihre konstative Differenz, die in der Forschung zur Differenzbildung zwischen Hamann und Jean Paul führte, mündet in einer gemeinsam geteilten Performanz des sich selbst negierenden Humors. Indem diese Zitate nicht mehr ,belegen‘, sondern sich selbst dekonstruieren, verfahren sie analog zur Selbstdekonstruktion Gottes am Kreuz, und lassen die Idole, die falschen Meinungen über die Natur, hinter sich, um die Natur selbst als den einen Kommentar des Wortes Gottes allererst sprechen zu lassen. Eine solche Konstruktion tätigt Hamann zu Beginn von Kleeblatt Hellenistischer Briefe, wenn er als Hohepriester des Witzes ausgerechnet den Römerbrief (XV, 15) mit einem Zitat aus Lukrez kopuliert, das ihm diametral widerspricht. Im Kleeblatt Hellenistischer Briefe verzerrt Hamann Blaise Pascal in einer Zitation so, dass dadurch die eigentümliche Intention Pascals gerade zur Geltung kommt: „ich habe im Pascal einen Einfall über die Sprachen gefunden, von dem 54 Vgl. Christian Sinn: Jean Paul. Hinführung zu seiner Semiologie der Wissenschaft. Stuttgart 1995.

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ich mich wundere, dass er noch nicht belangt worden. Er hält alle Sprachen möglich zu entziffern (so viel mir mein Gedächtnis sagt); weil sie sich nämlich wie eine verborgene Schrift zur andern verhalten. Dass ein in der Mathematick geübter Kopf einen so offenbaren Trugschluss begehen können, ist leicht zu begreifen, wenn man nicht die Schwäche der menschlichen Erkenntnis zu einem blossen loci communi oder Schlupfwinkel seiner Sophistereyen macht. Aus seinem Satz, falls ich ihn recht behalten oder verstanden habe, folgt gerade das Gegenteil.“55 Diese Stelle gibt einige Fragen auf. Entweder hat sich Hamann schlicht geirrt, denn sein Argument ist logisch gesehen falsch. Oder es handelt sich um eine Fehlschreibung, ein ,nicht‘ wurde von Hamann vergessen. Das ist zwar rein spekulativ, aber möglich, zumal es sich um einen Text handelt, der ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht war. Drittens aber, und das ist meine hier vorgeschlagene Lesart, könnte es sich auch um ein subtiles Argument handeln, das sich aus dem Kontext begründen lässt. Der erste Brief entwickelt nämlich das Argument, das wir Sprache nicht als reinen Algorithmus verstehen können, da sich das ,Schema‘ der Sprachen historisch wandelt und kontextuell definiert ist. Hamann macht das an folgendem Beispiel klar : Das arabische Wort ,Salamalec‘ bedeute ,Friede sei mit Dir!‘, während im Französischen ,faire un grand Salamalec‘ hingegen ,einen tiefen Bückling machen‘ bedeute. Selbst wenn sich die Araber bei ihrem Gruss mit einem tiefen Bückling verbeugten, so ist es doch unmöglich, aus dem arabischen Wort und Gruss den französischen Bückling (einer bestimmten Hofkultur) oder aus dem französischen Bückling den arabischen Gruss (einer bestimmten orientalischen Kultur) zu verstehen. Man braucht den jeweiligen pragmatisch-historischen Kontext einer Sprache und darin unterscheidet sich Sprache von mathematischen Zeichenbildungen. Stellten wir uns eine philosophische Idealsprache nach dem Programm des Descartes vor, so gäbe es wortwörtlich nichts mehr zu sagen, denn alles wäre in ihr klar und deutlich geworden. Das ist der performative Widerspruch bei Descartes, den Hamann irrtümlich (?) Pascal unterstellt. Jedoch setzt bei Descartes und nicht bei Pascal der Mensch das, was er kann oder könnte, an die Stelle Gottes. Das wird am Begriff der Maschine deutlich. Dieser Begriff ist bei Descartes Ausdruck der höchsten menschlichen Konstruktionsleistung: Die Maschine lässt jene teleologischen Deutungen zu, die Descartes der Natur gerade abspricht. Damit kann bei diesem Philosophen Natur von vornherein nicht zum direkten Kommentar des Wortes Gottes werden wie bei Hamann, aber auch bei Jean Paul. Impliziert die Buch-Metapher den Menschen als Partner eines Autors, so gliedert die Maschinen-Metapher den Menschen als Element in ihren Funktionszusammenhang ein. Der Philosoph bestimmt sich in der französischen 55 N II, 183,5–14.

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Aufklärung gerade dadurch, dass er wie alle anderen Menschen nur eine Maschine ist, die sich ab und zu selbst aufzuziehen weiß. Diese Selbstdefinition der Philosophie durch die Metaphysik der Maschine entbehrt allerdings nicht der Komik und regte dementsprechend die frühen Satiren Jean Pauls als Grundlage seiner späteren Werke an.56 Pascal aber beschreibt jene menschliche Misere, mit deren langanhaltenden und nicht einfach aufzulösenden Folgen wir immer noch nicht gelernt haben, gut umzugehen. „Der Mensch weiss nicht, welchen Rang er sich zuerkennen soll. Sichtbar ist er verwirrt von dem wahren Ort gefallen, ohne dass er ihn wiederfinden könnte. Unaufhörlich sucht er ihn in den undurchdringlichsten Finsternissen voller Unruhe und ohne Erfolg“.57 Pascal diagnostiziert selbstkritisch, wie sich der Mensch durch Zerstreuungen selbst ausbeutet, bis er zusammenbricht, um nur nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen, die ihm durch Gott doch als ewige Zukunft bereits gegeben ist „Sollte die königliche Würde nicht an sich bedeutend genug sein, um den, der sie hat […] glücklich zu machen?“58 Hamann spricht genau in diesem Sinne in seiner Auslegung des biblischen Herrschaftsauftrages über die Mitschöpfung von „der richterlichen und obrigkeitlichen Würde“ des Menschen als eines „politischen Thiers“,59 das durch seine Sprache in die fremde Natur und die eigene Geschichte eingreift, eingesetzt durch die Anrede Gottes als „Lehnträger und Erben der durch das Wort seines Mundes fertigen Welt“.60 Von dieser Anrede Gottes aus bestimmt sich die lutherische Sozialethik als der umgreifende Kontext Hamanns: In einer Welt, in der ihr Schöpfer schon gesprochen hat, bedarf es nicht der geradezu perfiden Leistungslogik der Moderne, in der Menschen sich ständig selbst überholen müssen und mit dem Erreichten einfach nicht zufrieden sein dürfen. Zwar ist dieser Kontext lutherischer Sozialethik die Begründung für Hamanns Kritik der sprachhistorischen Vernunft und auch noch für ihre Rezeption durch Jean Paul.61 Wie bereits die Hamann-Rezeption Herders belegt, gerät die Sprache 56 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg, München 1975. 57 Blaise Pascal: Über die Religion und andere Gegenstände. Übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth. Heidelberg 1963, Nr. 427. 58 Ebd., Nr. 142. 59 N III, 37,24–27: „In Ansehung der Geselligkeit hält der weise Stagyrit den Menschen für neutral. Ich vermuthe daher, daß der wahre Charakter unsrer Natur in der richterlichen und obrigkeitlichen Würde eines politischen Thiers bestehe […]“. 60 N III, 32,9–10. 61 Zur Hamann-Rezeption Jean Pauls vgl. folgende kleine Auswahl: Beilage zun Denkwürdigkeiten (1773): HKA (wie Anm. 35), Abt. IV, Bd. 3/2, S. 224,10–17†; Biblische Betrachtungen (1748): Abt. III, Bd. 4, S. 45,11†; Bolingbroke-Übersetzung (1774): Abt. III, Bd. 4, S. 81,12†; Briefe: Abt. III, Bd. 3, S. 544 (89); Abt. III, Bd. 6, S. 286,18; Abt. IV, Bd. 4, S. 180,12–20;

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als eigenständige Macht dann aber in Konkurrenz zu Geltungsansprüchen lutherischer Offenbarungstheologie, auch jenen, die Hamann selbst vertritt, musste der Mensch sich doch nach Herder die Sprache selbst erschaffen, um überleben zu können. Wenn der Ursprung der Sprache mithin menschlich und nicht göttlich ist, dann steht auch alle theologische Rede mit ihrem Anspruch, sich nicht selbst gemacht zu haben, unter dem Verdacht, nur Menschenwerk und Rhetorik zu sein. Gewiss betreiben solche Form von rhetorischer Nicht- und Antirhetorik auch die Philosophie und die Wissenschaften, aber diese behaupten auch nie, Rede von Gott her zu sein. Das vorläufige Fazit meines Zugangs auf Hamanns Kritik der sprachhistorischen Vernunft und ihrer Rezeption durch Jean Paul bleibt deshalb ambivalent und ist doch aussichtsreich. Weit über den typologischen Auslegungsaspekt von Natur und Geschichte hinaus sind Hamann und Jean Paul in ihrer Fortführung des sermo humilis und der in 1 Korinther 14 erhobenen Forderung nach Glossolalie gerade in ihrer Religionskritik zutiefst ,christliche‘ Autoren. Aber die Kritik der Philosophie durch die metaphorischen Mittel religiöser Sprache lässt auch die Theologie nicht unberührt: auch sie wird unweigerlich und unvermeidlich von jenem ,test by ridicule‘ erfasst, den Shaftesbury als Kriterium der Rationalität empfohlen hatte und der für beide Autoren zentral ist. In einer lebensweltlichen Perspektive scheint sich diese Kritik der sprachhistorischen Vernunft zwar nur Probleme zu schaffen, um sie auf unverständliche Weise zu lösen. Doch ihr geht es ja gerade um die Anerkennung, dass der Mensch sich selbst nicht nur häufig das Unverständliche ist, sondern auch sein sollte. Meine philologischen ,Kreuz-Züge‘ münden daher in folgender verknappter, doch hoffentlich verständlicher These: Erst der Verzicht auf die absoluten Ansprüche von Religion, Staat, Philosophie und Wissenschaft stellt die Voraussetzung für jenen Begriff von Literatur als Medium der sprachhistorischen Kritik der Vernunft dar, den Hamann und Jean Paul ursprünglich für die Zwecke menschlicher Selbstverständigung entwickelten. Vielleicht und hoffentlich sind von ihren philologischen Experimenten aus nicht nur ein neues Gespräch zwischen Theologen und Literaturwissenschaftlern möglich, sondern qua philosophischem Humor auch theoretische Umbrüche für die sogenannten exakten Dangueil-Übersetzung (1757): Abt. III, Bd. 3, S. 268,10†; Golgatha und Scheblimini (1784): Abt. III, Bd. 4, S. 95, 21; Abt. III, Bd. 7, S. 107,13†; Abt. IV, Bd. 3/1, S. 164,31–32†; Hierophantische Briefe: Exzerpt IIc-42–1811–1812–0237; Kreuzzüge des Philologen (1762): Abt. III, Bd. 4, S. 95,19; Abt. III, Bd. 8, S. 319,10; Neue Apologie des Buchstaben h (1773): Abt. III, Bd. 3, S. 131,14†; Hamanns Schriften: Abt. IV, Bd. 3/2, S. 224,10–17†; Abt. IV, Bd. 6, S. 294,32; Sibyllinische Blätter (1819): Abt. III, Bd. 7, S. 476 (181); Abt. IV, Bd. 7, S. 306,7–8; Sokratische Denkwürdigkeiten (1759): Abt. III, Bd. 3, S. 544 (89); Abt. III, Bd. 6, S. 286,18; Abt. IV, Bd. 3/1, S. 163,20† und S. 164,29–30†; Wolken. Ein Nachspiel … (1761): Abt. III, Bd. 3, S. 544 (89); Abt. III, Bd. 6, S. 286,18; Abt. IV, Bd. 4, S. 179,11.

Surge amica mea

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Wissenschaften denkbar und wünschenswert, dem Vogel Merops gleich, „welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt.“62 In diesem Vogelbild wird der Humor als Umkehrung und Fortführung der alten Theologie verstanden: Diese schaut aus einer überirdischen, zeitlosen Welt auf die irdische, geschichtliche Welt hinunter und begreift sie als nichtig. Das aber ist Hybris. Der Humor jedoch misst mit der als nichtig verstandenen Welt die unendliche aus und versucht mit der vorläufigen Geschichte der Menschheit zu ihrem endgültigen Ende zu kommen, was ihm freilich nie gelingen kann. Der Humor muss sich deshalb selbst negieren, und lacht dann vor allem über sich selbst mit jenem Lachen „worin noch ein Schmerz und eine Größe ist“.63 Humor ist, wenn man trotzdem schreibt.

62 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (wie Anm. 24), S. 129. 63 Ebd.

Øystein Skar (Oslo)

Die gottlose Neugierde. Hamann zwischen Wissen(schaft) und Frömmigkeit Außer der „Begierlichkeit des Fleisches“, die (…), wohnt in der Seele des Leibes noch eine andere Art von Begier. Durch die gleichen Sinne will sie zwar nicht im Fleische ihre Lust haben, aber durch das Mittel des Fleisches Erfahrung machen: sie bemäntelt ihren hohlen Fürwitz [vana et curiosa cupiditas] mit dem Namen Erkenntnis und Wissenschaft [nomine cognitionis et scientiae].1 Augustin

In seinen Biblischen Betrachtungen kommt Hamann auf die sogenannte Areopag-Rede des Apostels Paulus zu sprechen.2 Er benutzt diese Rede als Anlass für Überlegungen, die weit über eine normale Exegese hinausgehen, nämlich zum Thema von Erkenntnis, Wahrheit und Weisheit. Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet, auffallend genug, die Neugierde. Durch die Art und Weise, wie er sich mit ihr auseinandersetzt, stellt er sich – ohne sich darauf ausdrücklich zu beziehen – in eine weit zurückreichende, christlich geprägte Tradition,3 welche die Neugierde tendenziell unter negativem Vorzeichen betrachtet:4 Die (theoretische) ,curiositas‘ wird als Laster, als unerlaubte Grenzüberschreitung

1 Confessiones, X, 35,54. Hier nach der Übersetzung Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Übers. von Joseph Bernhart. 3. Aufl. München 1966. 2 N I, 222–223. Es geht um Hamanns Kommentare zu Apostelgeschichte 17,21–23. Ich gehe nicht auf die Historizität dieses Auftrittes in Athen ein; Hamann nimmt sie ohnehin als ein historisches Faktum an. 3 Zu ,curiositas‘ vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1966. Eine überarbeitete Fassung von dessen drittem Teil erschien im selben Verlag 1973 unter dem Titel: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. 4 Hans Graubner hat auf eine auch positive Funktion der ,curiositas‘ bei Hamann aufmerksam gemacht: eine neugierige Unruhe der Vernunft, von der Ebenbildlichkeit Gottes her stammend, um den Menschen – in dem Bestreben, das Böse mit dem Glauben an Gott zu vereinbaren – zu seinem Ursprung (Gott) zurück zu führen. (Hans Graubner : Der TheodizeeEntwurf des jungen Hamann. In: Acta 2006, 282f.). Inwiefern man hier zwischen dem Hamann vor dem Londoner Bekehrungserlebnis und nach diesem persönlichen Erdbeben unterscheiden muss, ist eine fruchtbare Frage. In meinem Beitrag werde ich mich einseitig auf die negative Bewertung der ,curiositas‘ konzentrieren, die mir ohnehin als die wichtigere Seite erscheint. Ich möchte nicht bestreiten, dass eine positive Funktion der Neugierde auch nach London in Hamanns Denken weiter wirkt. Auf jeden Fall ist aber zu bedenken, dass auch der „Vor-Londoner Hamann“ (ebd., 275) die positive Funktion nicht zuletzt in den Dienst der Frömmigkeit stellt.

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der Erkenntnis eingestuft. Gleichzeitig stellt sich Hamann damit entschieden gegen den gegenwärtigen und, aus seiner Sicht, überbewerteten Status der Wissenschaft, wobei er in erster Linie auf Descartes zielt. Ich verfolge damit nicht die Absicht, den Magus schablonenhaft in die Schamecke eines Anti-Aufklärers zu verweisen; andererseits möchte ich aber auch nicht darauf verzichten, seine Überlegungen zu hinterfragen. Manchmal erfahren seine Ansichten durch das erschütternde Bekehrungserlebnis in London (1758) eine Zuspitzung. Wir sollten – aufgrund seiner Biografie und deren Zäsur – gewisse innere Spannungen seines Denkens im Auge behalten. *** In der Apostelgeschichte berichtet Lukas über den Aufenthalt von Paulus in Athen während dessen zweiten Missionsreise. Er, Paulus, kommt ins Gespräch mit Juden, dann mit epikureischen und stoischen Philosophen; und er wird zum Areopag mitgenommen, mit der Aufforderung, die neue Lehre von Jesus und seiner Auferstehung näher zu erklären. Hamann kommentiert die Verse 21–23 näher ; sie lauten: 21. Alle Athener nämlich, auch die Fremden, die bei ihnen wohnten, hatten nichts anderes im Sinn, als etwas Neues zu sagen oder zu hören. 22. Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. 23. Ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt.5

Hamann sieht mit Recht diese Szene als vorbildlich an: eine strategische Begegnung der christlichen Verkündigung mit der griechischen Philosophie. Etwas überraschend, und nicht ohne weiteres einsichtig, deutet er aber diese Philosophie (und wohl die Philosophie generell?) als von der Neugierde geprägt, wobei er überdeutlich einen seiner größten Helden ausnimmt: Sokrates mit seiner docta ignorantia.6 Dieser Favorit ist von der Neugierde nicht heimgesucht. 5 Zitiert nach: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. Stuttgart 1999. 6 Die (sogenannte) gelehrte Unwissenheit des Sokrates ist ja ein Lieblingsthema Hamanns in dessen ganzem Werk; die Hamann-Rezeption hat es – überwiegend wohlwollend oder zumindest höflich – nur zur Kenntnis genommen. Sokrates wird von der Erbsünde der ,curiositas‘ befreit; dabei ist m. E. das Bekenntnis des „ich weiß-dass-ich-nichts-weiß“ allenfalls eine paradoxe Rede. Hamann betreibt in Gestalt Sokrates’ eher Koketterie, weil er, Hamann, die docta ignorantia in erster Linie polemisch oder instrumentell benutzt, und zwar in der an und für sich höchst legitimen Auseinandersetzung mit der Neigung zur Selbstüberschätzung menschlicher Erkenntniskräfte. Vergessen sollte man auch nicht das Elementare in Platons Dialogen: Das nichts-Wissen soll, positiv gedeutet, die Gesprächspartner von Sokrates eigentlich dazu bewegen, ihre Vorurteile und vermeintes Wissen abzulegen, um schließlich neue

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In seiner Debütschrift (gemeint: für die Öffentlichkeit), den Sokratischen Denkwürdigkeiten, bescheinigt Hamann den Athenern Neugierde: „[E]in Unwissender [Sokrates] ist der beste Arzt für diese Lustseuche“ (sic!).7 Dieser Arzt lockt nämlich die Mitbürger aus den Labyrinthen gelehrter Sophisten zu einer verborgenen Wahrheit, zum Dienst eines unbekannten Gottes. Hier taucht, nicht zufällig, der Ausdruck aus der Areopag-Rede wieder auf. Hamann will Sokrates unter die Propheten rechnen: Ist Gott nicht auch ein Gott der Heiden?8 Die Paulusrede ist eine Wiederholung der Rettungsaktion des Sokrates, sogar in derselben Stadt. Von vornherein ist die Lustseuche der Neugierde bei Hamann also logischerweise äußerst negativ bewertet – mit einer einzigen bestimmten Einschränkung: die Botschaft von Jesus – , generell ist sie, die ,curiositas‘, „eine Art des Aberglaubens und Abgötterey“. Als Gegenstück zu den Weltweisen hebt er, neben Sokrates, den (König) Salomo hervor mit dessen, nach Hamann, noch betrübteren Aussagen als jene des sokratischen Nicht-Wissens. Hamann spielt damit auf zwei Verse (9, 18) aus dem ersten Kapitel beim Prediger Salomo an: „[…], und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.“; „Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen, und wer viel lernt, der muss viel leiden.“ – „ein Haschen nach Wind“ (17). Vom biblischen Kontext macht Hamann dann einen weiten Sprung, sowohl historisch als gedanklich, nämlich zum „Vater der neueren Philosophie“, zu Descartes. Hamann nimmt den systematischen Zweifel unter die Lupe – wir kennen diesen Zweifel vor allem aus den Meditationen –, die Suche des Franzosen nach Wahrheit. Was kommt aus diesem systematischen Zweifel heraus? Nun, Hamann zufolge, wenig Positives: Die Wahrheit, auf der Descartes’ neuer Ansatz landet, sei „nichts als ein Gebäude neu aufgeputzter und für neu angenommener Irrthümer“. Und hier bringt Hamann die Neugierde und die Wissenschaft zusammen: Vorausgesetzt, sagt er, die Neugierde sei eine Mutter oder

Einsichten zu gewinnen. Der Rahmen dieser Streitgespräche ist Platons Feldzug gegen die Sophisten; er hat für deren zum Teil unverdienten „schlimmen Ruf“ (Hegel) gesorgt. Hamann tritt als Sokrates redivivus auf und bekämpft die zeitgenössischen Sophistereien. – Ganz neu übrigens ist Hamanns Rettungsaktion bekanntlich nicht; schon in der frühchristlichen Theologie gab es ja Bemühungen, im Nachhinein den Frommen aus Athen zu christianisieren. Hamann selber, in den Sokratischen Denkwürdigkeiten, rückt ihn hautnah zu Paulus: „Ich weiß für des Sokrates Zeugnis von seiner Unwissenheit kein ehrwürdiger Siegel und zugleich keinen besseren Schlüssel als den Orakelspruch des großen Lehrers der Heyden“ (N II, 74). Hamann zitiert den Orakelspruch im ersten Brief an die Gemeinde in Korinth (8,2–3); es geht um die heikle Frage vom Essen des Götzenopferfleisches: „Wenn jemand meint, er habe etwas erkannt, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt.“ 7 N II, 76. 8 N II, 77 (Römerbrief 3,29).

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die Amme der Wissenschaft, so lasse sich einfach auf die Früchte der letzteren schließen. Die Neugierde hat demnach einen verhängnisvollen Einfluss auf die Wissenschaft. In einer Notiz aus noch jüngeren Jahren,9 wo der Franzose zum „Großvater“ avanciert, kommentiert Hamann dessen Discours de la M8thode. Er lobt die Gründlichkeit, die Wahrheitsliebe, die Ehrlichkeit, die Bescheidenheit und die Belesenheit des Franzosen – was aber die Sache selbst in der Abhandlung betrifft, gibt er nur harmlose Kommentare ab. Bemerkenswerter noch aber ist die fehlende Aggressivität, die in deutlichem Gegensatz steht zu dem kurzen Prozess gegen den gescheiterten Wahrheitssucher im Bibelkommentar. Die Verschärfung seiner Einstellung lässt sich vielleicht am besten durch die entschiedenere christliche Position nach dem Londoner seelischen Erdbeben erklären: Als Prediger in der Wüste ist er von jetzt ab bereit, mit der Waffenrüstung Gottes10 gegen allerlei Gottlosigkeit zu Felde zu ziehen. Übrigens: Seine ,Umdrehung‘ – Hamann redet von einer „Inversion“ in einem Brief an Jacobi11 – des kartesischen cogito, ergo sum ins sum, ergo cogito bzw. ins („noch Hebräischer“) est, ergo cogito, mutet eher rhetorisch an, als das sie sachlich interessant wäre. Sie suggeriert einen vermeintlichen Gegensatz zwischen Denken und Sein, ähnlich demjenigen zwischen Leben und Erkenntnis. Die Gegenüberstellung von cogito und sum bzw. est ist eine unglückliche Vereinfachung; an diesem Punkt hätte Hamann, einige Jahre schon vor dem Briefwechsel mit Jacobi, etwas von einem teuren Freund und lieben Gegner12 lernen können und müssen. Zurück zu den Betrachtungen: Wieso sind die Früchte der Wissenschaft, die nach Hamanns Behauptung unumgänglich der Neugierde folgen, sauer? Um das besser zu verstehen, muss man all die ersten drei Kapitel von Genesis synoptisch im Auge behalten: sehen, wie er die Geschichte von der Schöpfung, vom Sündenfall, von der Erkenntnis des Guten und des Bösen, von der Erlösung und der Heilsgeschichte auslegt, wie er all diese Momente als vom Herrn der Geschichte 9 N IV, 221–223; vor der Londoner Wende geschrieben. 10 Epheserbrief 6,13. 11 Brief vom 1./2. Juni 1785; ZH V, 448. Oswald Bayer erörtert die Stelle in seinem Beitrag: Wahrheit oder Methode? In: Acta 1988, 161–188. Vgl. auch Stefan Majetschak: Der Stil als Grenze der Methode. Über Hamanns Descartes-,Lektüre‘. In: ebd. S. 227–237. 12 In der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet Kant den kartesischen Schluss als tautologisch (A 355): Das cogito (sum cogitans) sagt die Wirklichkeit unmittelbar aus. Siehe auch 417 b (Ausgabe B, Fußnote): „Das ich denke, ist, wie schon gesagt, ein empirischer Satz, und enthält den Satz, Ich existiere, in sich. Ich kann aber nicht sagen: alles was denkt, existiert; denn dann würde die Eigenschaft des Denkens alle Wesen, die sie besitzen, zu notwendigen Wesen machen. Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satze: Ich denke, als gefolgert angesehen werden, wie Cartesius dafür hielt (weil sonst der Obersatz: alles, was denkt, existiert, vorausgehen müsste), sondern ist mit ihm identisch.“ Zu fragen bleibt, sowohl an Hamann wie an Kant gerichtet, ob Descartes mit seiner berühmten Aussage einen (logischen) Schluss demonstrieren will.

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gelenkt voraussetzt. Die Übertretung am Baum der Erkenntnis (2,17; 3,4–6), statt nur auf den Baum des Lebens zu setzen, lässt die Neugierde los – im Zeichen des Ungehorsams. In seinem Kommentar zu den Sprüchen Salomo und dessen Ermahnung über die Furcht des Herrn als Anfang der Erkenntnis13 definiert Hamann die wahre Religion als Genesung der Vernunft. Letztere ist durch den Sündenfall erstickt und verwildert, wird aber dank dem Geist Gottes wieder geheiligt. Hamann spielt den frommen Gehorsam gegen die unfromme Wissenschaft aus, den Baum des Lebens gegen den Baum der Erkenntnis. Eine autonome Wissenschaft ist für ihn insofern gefährlich, weil sie die Schöpfung verstehen will, ohne den biblischen Gott vorauszusetzen. 1774, in seiner (brieflichen) Diskussion mit Kant über Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, bringt Hamann gleich zu Beginn das für ihn heikle Spannungsverhältnis zwischen dem biblischen Naturverständnis und der Naturwissenschaft auf den Punkt.14 Es scheint mir nicht allzu gewagt, Hamann hierbei eine wissenschaftsfremde oder gar -feindliche Einstellung zur Physik15 anzukreiden. Diese Einstellung war schon seit langem bei ihm gefestigt. Fünfzehn Jahre zuvor, in seinen Briefen an Kant den gemeinsamen Plan betreffend, eine Physikbuch für Kinder zu schreiben, pochte er darauf, der Magister Kant solle sich nicht schämen „auf dem hölzernen Pferde der mosaischen Geschichte zu reiten“.16 Vermutlich war dies Pochen Hamanns ein solider Beitrag zum Scheitern dieses Planes. Hamann argumentiert zwar pädagogisch, aus dem Standpunkt des Kindes. Die Verfasser eines solchen Physikbuches müssen sich herunterlassen, „zu den Begriffen, die jedes Christenkind von dem Anfange der Natur hat, – – –“, genau wie sich der Herr in der Schöpfung heruntergelassen hat.17 Aber letztlich steckt wohl auch die Überzeugung dahinter, das ein von der mosaischen Schöpfungsgeschichte losgelöstes Physikbuch für die Kinder schädlich sei – offensichtlich besteht die Gefahr, dass sie den Schöpfer darüber vergessen und den Blick für den einzig wahren Sinn der Naturgeschichte verlieren. Hamanns Sorge erinnert etwas an heutige Bemühungen von einigen christlich sehr motivierten Eltern, die Entwicklungstheorien von Darwin durch 13 Sprüche Salomos 1,7. Hamanns Betrachtung: N I, 152. 14 N III, 125: „Diese ORIGENES sind kein Gedicht; […], sondern eine historische Urkunde, […] – zuverlässiger als irgend ein Phänomenon der Natur oder das gemeinste physicalische Experiment – –“. 15 So wie Sven-Aage Jørgensen – allerdings in einem anderen Kontext – in seinem Aufsatz: Arbeit am Mythos? In: Querdenker der Aufklärung. Studien zu Johann Georg Hamann. Göttingen 2013, S. 97–102. Erstmals veröffentlicht in: Hamann. Insel Almanach auf das Jahr 1988. Hg. von Oswald Beyer, Bernhard Gajek und Josef Simon. Frankfurt a. M. 1987, S. 83–90. 16 ZH I, 447,17–447,33. 17 Reiner Wild: Natur und Offenbarung. Hamanns und Kants gemeinsamer Plan zu einer Physik für Kinder. FS für Arthur Henkel. Heidelberg 1977, S. 452–468. Siehe auch ders.: Überlegungen zu Hamanns Kritik der Naturwissenschaften. In: Acta 1988, 147–160.

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die biblische Schöpfungsgeschichte zu ergänzen, wenn nicht sogar zu korrigieren oder zu ersetzen – alles Bemühungen, um ihre Kinder vor einem gottlosen Einfluss zu bewahren. Wie grundsätzlich ist Hamanns Kritik an der Wissenschaft? Ist er einzig und vor allem auf ihre „Selbstbesinnung“ (Erwin Metzke18) aus, oder leidet er unter einem regelrechten Hass gegen sie? Zum Beleg letzterer Position führt Isaiah Berlin19 die bekannte Bemerkung Kants über die Astronomie an. Falls man Hamanns Referat im Brief an Herder vertrauen kann, so soll Kant gesagt haben: Man kann keine neuen, wichtigen Entdeckungen in der Astronomie erwarten – „wegen ihrer Vollkommenheit“. Hamanns Wut nun bezieht sich auf die angebliche Störung seiner, Hamanns, Andacht. Einige Strophen von Paul Gerhardts Abendlied („eines meiner liebsten“) Nun ruhen alle Wälder vermögen ihn über die Bemerkung Kants hinwegzutrösten, die an dem Abend nach der Zusammenkunft bei dem Engländer Joseph Green fiel. Diese Wut bezieht sich nicht zuletzt auf den Verdacht, die Gegenstände der Astronomie könnten – aufgrund ihrer Ferne und Entlegenheit – zur Vernachlässigung der nahen, häuslichen Aufgaben führen.20 Noch allgemeiner darf gefragt werden, warum (wahres) Wissen als Selbstzweck von Hamann in Frage gestellt wird – ja, auf Ablehnung stößt. Von einem „hyperbolischen“ Wahrheitsinteresse habe er „weder Begriff noch Gefühl“.21 Zugleich kommt die Frage nach der Instrumentalisierung des Wissens bzw.

18 In seiner – immer noch! – sehr lesenswerten Preisschrift aus dem Jahre 1930 (J. G. Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. Halle 1934, S. 186) relativiert Metzke: „Hamanns Kritik an Wissen und Wissenschaft will nur verstanden werden als ein dringender Ruf zur prinzipiellen Selbstbesinnung der Wissenschaft auf ihre Gefahren angesichts bestimmter übertriebener Ansprüche und bestimmter Versäumnisse der Wissenschaft seiner Zeit.“ Um welche Gefahren, Ansprüche und Versäumnisse es hier geht, wird nicht ganz klar. 19 Isaiah Berlin: The Magus of the North. London 1994. – Dieser Brief an Herder (ZH II, 416/ 29–417/3) reicht meines Erachtens nicht aus, um eine bestimmte Position festzustellen. Berlin vermutet, dass hinter Hamanns Wut eine Klage gegen Kant steckt, der Gott und dessen Schöpfung einschränke. Diese Hypothese finde ich nicht fruchtbar. Fruchtbarer ist Berlins Vermutung, der Hass Hamanns sei vielleicht „in part due to the danger to his piety“ (S. 42). Nebenbei sei eine Bemerkung erlaubt: Die Aussage Kants, sollte sie tatsächlich so gefallen sein, ist ebenso überraschend und verfehlt wie seine Aussage über die Wissenschaft der Logik in der B-Ausgabe von KrV. In der dortigen Vorrede (B VIII) behauptet Kant, auf Aristoteles verweisend, dass die Logik „allem Anschein nach geschlossen und vollendet zu sein scheint“. 20 Metzke: J. G. Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 18), S. 186. 21 Ebd., S. 184. Er verweist auf den fünften Band der Ausgabe. Roth (S. 5) bringt einen Auszug des Briefes „an einen Ungenannten“ und vermutet, dass Johann A. Eberhardt dahintersteckt. Das wird in der Ausg. Ziesemer/Henkel bestätigt, die den vollen Wortlaut bietet, vgl. ZH III, 6–7. Leider ist der vorausgehende Brief Eberhardts verschollen. Ich danke Herrn Professor emeritus Bernhard Gajek, Regensburg, für seine Hilfe in diesem Punkt.

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neuer Einsichten im Dienste der Frömmigkeit auf. Metzke22 erinnert daran, dass Hamanns Polemik sich gegen Logik und Mathematik, also gegen die formalsten und reinsten Wissenschaften, zuspitzt. Aber wieso diese grundlegende Skepsis allem Wissen gegenüber? Sie erklärt sich aus der korrumpierten menschlichen Natur nach der Übertretung im Garten Eden. Hamann hätte wohl Thomas a Kempis zugestimmt: Die Wahrheitssuche muss unter das Interesse des Heils gestellt werden. In einer Skizze zu der Frage „Was denkt ihr von dem Christus?“ (Matt. 22,42) notiert Hamann, dass der Fall den Menschen um sein Gehirn, sein geistliches Gehirn gebracht habe. Jesus habe allem Vorwitz und unnützen Neugierde den Mund gestopft.23 Sowohl Thomas als auch Hamann setzen also voraus, dass die Neugierde unersättlich und eine unausweichliche Folge des Ungehorsams ist. Nur eine göttliche Korrektur kann die befreienden Grenzen klarmachen. In den Betrachtungen zu Paulus’ Rede in Athen schränkt Hamann den eigentlichen Inhalt der Neugierde stark ein. Der gekreuzigte Jesus sei „der einzige Gegenstand, für den uns der Trieb der Neugierde von Gott eingepflanzt ist“, nur dieser Gegenstand könne unsere Neugierde in Weisheit verwandeln. Hamann treibt es auf die Spitze, indem er die Beziehung zwischen Neugierde und Wissen(schaft) näher ausführt: „Alle natürliche Erkenntnis ist offenbaret.“ Die Natur bleibt unverändert (da von Gott so gewollt), deshalb kann es – streng genommen – keine neue Entdeckungen geben; unser Sprachgebrauch verleitet uns aber zu Missverständnissen. Als Beispiel wählt Hamann denjenigen Teil der Erde, der die neue Welt genannt wurde; es dürfte Kolumbus’ Seereise gemeint sein. Hamann zufolge müsste man genauer von der Wiederentdeckung Amerikas durch den Italiener reden. Nur Gott allein kann etwas Neues hervorbringen. Reizvoll wäre es, Hamann zu fragen, ob denn die Entdeckung von Amerika etwa mit der Entdeckung von Naturgesetzen gleichzusetzen wäre? Im Falle von Amerika geht es ja um einen Kontinent, der schon lange Zeit vor Kolumbus bewohnt war ; im Falle von Naturgesetzen kann es hingegen darum zu tun sein, dass etwas eingesehen wird, was noch kein Mensch vorher eingesehen hat. Denkt Hamann hier platonisch: Sämtliche Wahrheiten sind Gottes Eigentum (Platons ewiges Reich der Ideen); sie brauchen nur ent-deckt oder wieder-entdeckt werden? Falls man ein ewiges Reich von Wahrheiten voraussetzt, fragt sich 22 Metzke: J. G. Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 18), S. 184–185. Er macht auf die von mir eingangs erwähnte Tradition aufmerksam, in welcher man „aus religiösen Motiven“ gegen Neugierde und Wissen kämpft; Metzke erwähnt hier Thomas a Kempis. Dazu ergänzend Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde (wie Anm. 3), S. 352–353: Thomas, der in De imitatione Christi wegen unserer Korruptheit („totum hoc de vetustate corruptionis est ortum“) vor der Selbstüberschätzung der ,curiositas‘ warnt. Zum Wissen als Selbstzweck bei Aristoteles vgl. ebd., S. 226–229. 23 N IV, 249–250 (Die Hauptfrage des Evangelischen Catechismus).

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weiter, was damit gewonnen wäre. Vermindert das die Bedeutung oder den Status der Wissenschaften im Allgemeinen? Endlich an Vers 23 angelangt macht Hamann zunächst auf die Widersprüche der menschlichen Natur aufmerksam – Widersprüche, die wir nicht im Stande sind, aus eigener Kraft zu überwinden. Auf die Rede des Paulus bezogen: „Die Vernunft ist geneigt, einem unbekannten Gott zu dienen, aber unendlich entfernt, ihn zu kennen.“ Und was noch schlimmer ist: Falls, so fügt Hamann hinzu, die Vernunft nun einmal Gott richtig erkennen würde, so diente sie ihm nicht mehr. Nur Gott kann diesen Widerspruch auflösen, und Hamann gibt uns die himmlisch-pädagogische Lösung: Aus Rücksicht auf den menschlichen Widerspruch – der himmlische Pädagoge weiß, dass seine Kenntnis ein Anstoß, ein Ärgernis ist, und eine Torheit wenn er sich offenbart (vgl. 1. Kor. 1, 22–23) – geht Gott langsam vor, bevor er sich endlich entdeckt – allerdings vorerst mit keiner großen Resonanz; die Juden huben ja die Steine auf, da Jesus sich – die entscheidende Wahrheit! – als Sohn Gottes vorstellte. Hamann schließt den Kommentar zu diesem Vers mit einer lapidaren Feststellung, im Vorgriff auf die Verse 32–34: Die Athener hätten nur Spott für die Botschaft vom jetzt nicht mehr unbekannten Gott und von der Auferstehung der Toten übrig gehabt. Ihre Neugierde, die Begierde nach Neuigkeiten („was will dieser Schwätzer sagen?“, Vers 18) war auch ohne die Bereitschaft befriedigt, sich auf die christliche Botschaft wirklich einzulassen. Hamann schert dabei alle Zuhörer über einen Kamm, während Lukas notorisch die Spötter von denjenigen Zuhörern unterscheidet, die den Apostel ein weiteres Mal hören wollen. Offensichtlich hat die Rede ein zumindest teilweise positives Ergebnis bewirkt, insofern als einige sich Paulus anschlossen und zum Glauben kamen. *** In dem erwähnten Brief an Eberhardt, in welchem Hamann sein „aufrichtiges Bekenntnis“ das Wahrheitsinteresse betreffend ablegt, kommt er auf den Diogenes in der Tonne zu sprechen. Eberhardt hatte ihn erwähnt und dabei anscheinend eine Übereinstimmung mit Hamann festgestellt – dieser fühlt sich dadurch offensichtlich geehrt: Diogenes, das ist „ziemlich mein Mann“.24 Eine 24 ZH III, 7. Vollständige lautet die Stelle: „Der Diogenes in seiner Tonne, mit dem Sie mir viel Ehre antun, wäre wol ziemlich mein Mann – aber kein anderes Interesse als das Interesse der Wahrheit zu kennen (Erschrecken Sie nicht für mein aufrichtiges Bekenntnis) von diesem hyperbolischen Interesse hab ich weder Begriff noch Gefühl.“ Auf welche Weise Eberhardt den Tonnenbewohner mit dem Thema Wahrheitsinteresse verbunden hatte, lässt sich nicht genau sagen. Der Vorbehalt, durch das „aber“ in der Antwort von Hamann, macht auf jeden Fall seine Distanz an diesem bestimmten Punkt deutlich. Für ihn liegt wohl der positive Bezug zu Diogenes in den einfachen Lebensbedingungen; Hamann macht einen Vergleich

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Tonne als Wohnung ist ja perfekt für einen, der auf seine Individualität pocht. Fragt sich nur, ob darin die Perspektive auf Dauer nicht etwas zu eng wird.

mit Heraklit und dessen Aussage zu seinen Gästen als sie in die Küche eintreten: Auch hier sind die Götter.

Wladimir Gilmanov (Kaliningrad)

Eine Spur Hamanns in der russischen Esoterik

1. „Armer Hamann!“ – schreibt Kierkegaard über den Magus in Norden – „du bist von Michelet auf einen Paragraphen reduziert worden. Ob dein Grab jemals besonders bezeichnet gewesen ist, weiß ich nicht, … aber dass weiß ich, dass du mit teuflischer Macht und Gewalt in die Paragraphenuniform gesteckt und in Reih und Glied eingeordnet worden bist“.1 Im Anschluss an dieses Zitat fügt Oswald Bayer hinzu: „von den Historikern, die durch ihre Klassifikation für Ordnung sorgen“.2 Am gefährlichsten sind wohl diejenigen Historiker, die bewusst oder unbewusst in ihrer Sorge um Ordnung einen bewussten oder unbewussten Beitrag zu der so genannten „neuen geheimen Weltordnung“ leisten, die von den gläubigen Christen immer wieder befürchtet wird. Im 18. Jahrhundert war es z. B. Professor Robinson aus Edinburgh, der im Jahr 1797 ein Buch publizieren ließ Proofs of a Conspiracy against all the Religions and Governments of Europe,3 „Beweise für eine Verschwörung gegen alle Religionen und Regierungen Europas, die vor sich geht in den geheimen Zusammenkünften der Freimauer, Illuminaten und Lesegesellschaften“. Robinson war der prominenteste Aussteiger aus der von Adam Weishaupt 1776 in München begründeten Geheimgesellschaft der Illuminaten. Hamann warnt nicht einmal vor dem lumen naturale der Freimauer, ohne jemals in einer der Logen gewesen zu sein. Im Gegensatz zu Herder, der in Riga 1766 einer Loge beitrat und im Gegensatz zu Herders analogia naturale für den Ursprung der Sprache deutet Hamann das punctum saliens = „den springenden Punkt“ für diese „geheime Ordnung“ an, die beim „thierischen Unterricht“ liege.4 So Hamann in der Beylage zu den Zwo Recensionen, in der er eine kritische 1 Zitiert nach: Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988, S. 43. 2 Ebd., S. 43. 3 Siehe: John Robinson: Proofs of a Conspiracy against all the Religions and Governments of Europe, carried on in the secret meetings of Free Masons, Illuminati, and Reading Societies. London 1797. 4 N III, 22,6.

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Wladimir Gilmanov

Besprechung der bekannten Preisschrift Herders bis zu dem heftigen beschuldigenden Hinweis auf die Prolepsis der freimaurischen Ordnung führt: Was sind die Meisterstücke unsrer stolzen Vernunft als Nachahmungen und Entwickelungen ihres blinden Instinkts [der Tiere]? Das geborgte Feuer aller schönen, freyen und geadelten Künste, als ein prometheisches Plagium des ursprünglich thierischen Naturlichts? Haben wir nicht den Keim aller Erkenntniß des Guten und Bösen ja selbst den philosophischen Baum der Encyclopädie dem Scepticismus eines listigen Thieres […]zu danken…?5

Noch vor dem Erscheinen seiner sogenannten „Mysterienschriften“, die vor allem gegen J.A. Starcks apologetische Ideen „des Ordens der Frey Maurer“ gerichtet wurden, definiert Hamann ganz deutlich den entscheidenden Unterschied zwischen den einander gegenüberstehenden hermeneutischen Zirkeln, die letztendlich das Weltgeschehen bestimmen: Das sind der theozentrisch heteronome, dessen Prolepsis die christozentrische Vernunft ist, gegenüber dem thiere-zentrisch homogenen Zirkel, dessen punctum saliens die luziferische Vernunft ist, die sich immer durch allerlei Logiken der „Analogie der Natur“ zu verheimlichen sucht, denn listig ist das Tier. Die beiden Zirkel basieren auf einem „Grundgesetz“ und dem „Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntnis und der ganzen sichtbaren Haushaltung“:6 Das ist die „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum“,7 die Hamann in Konxompax im Sinne „einer gemeinschaftlichen Ader“ präzisiert. Diese „Ader des Theismus“ bedingt nach Hamann „den ewigen mystischen, magischen und logischen Circul menschlicher Vergötterung und göttlicher Incarnation“.8 Die immerwährende und entscheidende Frage ist aber die: Welche Kraft verursacht die Bewegung dieses Zirkels? – die des liebenden Gottes oder die „eines listigen Thieres“, das sich durch die autonome Vernunft zu vergöttlichen sucht? Die List in ihrer Wirkung erkennt Hamann schon in Herders Abhandlung Über den Ursprung der Sprache und zieht in den Kampf gegen das Tier in der ambivalenten Ausrüstung „des Ritters von Rosencreuz“, dessen „letzte Willensmeinung“ auch mit der Freimaurerei zu tun hat, denn an einer Stelle seiner Schrift zitiert Hamann eine kleine Freimaurerschrift, in der die Rituale zum Grad des „Ritters von Rosenkreuz“ beschrieben werden. 2. Auf bemerkenswerte Weise hat eine der wenigen Spuren Hamanns in der russischen Geistesgeschichte gerade mit den Rosenkreuzern zu tun und zwar mit der leitenden Person der Moskauer Rosenkreuzer in den 20er Jahren des vorigen 5 6 7 8

N III, 22,13–20. N III, 27, 12–14 (Ritter von Rosencreuz). N III, 27,11–12. N III, 224, 3–7.

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Jahrhunderts: Vladimir Schmakov. Sein Leben und Werk ist voller Rätsel. Sein Vater Aleksey Semjonovitsch Schmakov war ein bekannter Jurist und Publizist. Er gehörte zur Leitung der rechtsnationalistischen Russischen Monarchiepartei. 1913 war er Ankläger im Gerichtsverfahren gegen Menachem Mendel Beylis, der einer Mittat an dem Ritualmord des 12-jährigen Andrei Juzhinskij in Kiev angeklagt wurde. Es war das berühmteste Verfahren in der Vorrevolutionszeit in Russland, das auch ein großes internationales Echo hatte. Beylis wurde freigesprochen. Vladimir Schmakov bekam eine technische Ausbildung und wurde zum Eisenbahningenieur. Schwer zu sagen, wie er sich zum nationaletatistisch und antisemitisch gesinnten Vater verhielt. Nachweisbar ist aber, dass vor seiner intensiven Beschäftigung mit der Esoterik er in einer tiefen Krise lebte. Ein Zeugnis dafür ist sein Dankeswort an den Freund Nikolai Musatov im Vorwort zu dem ersten esoterischen Standardwerk Schmakovs, erschienen 1916 im Todesjahr seines Vaters. Schmakov dankt dem Freund dafür, dass er ihn „kraft seines flammenden Geistes dem Abgrund entrissen hat“.9 Wie Schmakov die Russische Revolution aufnahm, ist unbekannt. Im August 1924 war er aber unter Gefahr der Verhaftung gezwungen, das bolschewistische Russland zu verlassen. Zuerst emigrierte er mit der Familie nach Deutschland, dann nach Prag, wo er eingebürgert wurde. Ende 1924 zieht er aber nach Argentinien, wo er im Oktober 1929 gestorben ist. Bis Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts blieb er verschollen. Nach der Wende wurden aber im Kiewer Verlag Sophia nacheinander die drei dicken Werke Schmakovs herausgegeben – Die heilige Schrift von Thot. Große TarotArkanen. Die absoluten Prinzipien der synthetischen Philosophie der Esoterik (1993), Die Grundlagen der Pneumatologie. Theoretische Mechanik des geistigen Werdens (1994) und Das Synarchie-Gesetz und die Lehre über duale Hierarchie der Monaden und Vielheiten (1994). In den drei umfangreichen Bänden (insgesamt etwas weniger als 2000 Seiten) unternimmt Schmakov einen gewagten synthetischen Versuch, seine eigene esoterische Lehre zu entwickeln, die er mit dem Begriff „Pneumatologie“ bezeichnet. Das Hauptanliegen ist eine synthetisch philosophische Darstellung eines Synarchie-Gesetzes als des Grundgesetzes des Seins. Dieses Gesetz basiere auf einer dualen Hierarchie, die eine Korrespondenz zwischen noumenalen Monaden und phänomenalen Vielheiten beinhaltet. Der synarchische Grundsatz

9 Vladimir Schmakov : Svjascennaja kniga Tota. Velikiji arkany Taro. Absolutnyje prinzipy sinteticeskoj filosofii esoterisma. Kiev [Die heilige Schrift von Thot. Große Tarot-Arkanen. Die absoluten Prinzipien der synthetischen Philosophie der Esoterik]. Kiev 1993, S. 22. Nachdruck der ersten Ausgabe. Moskva MCMXVI.

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offenbare sich im menschlichen Bewusstsein durch Dreieinigkeit der pneumatologischen Kategorien: Mystik, Vernunft, Wille. Schon dieser kurze Überblick zeigt das für Hamann entscheidende Problem: Was oder wer ist die Arche in der Synarchie von Schmakov? Was ist das Eine in dem Vielen? Christus oder „das heilige Feuer einer natürlichen seeligmachenden Religion“,10 so Hamann im Konxompax? Was wären „die ersten Gründe (Initia) und letzten Resultate (teketai) aller theoretischen und practischen Erkenntnis“:11 Christus oder etwas, womit nach Hamann alle esoterischen Mysterienlehren enden, und zwar – „ein reines Nichts oder ein zweydeutiges Etwas“?12 Schmakov ist eindeutig zu identifizieren als ein „gelehrter Weiser“, der in die von Hamann angegriffene Reihe von Starck, Meiners und anderen gehört. Im umfassenden Vorwort zu dem ersten Band seines Systems der esoterischen Philosophie, das von Namen wimmelt – von dem altägyptischen Thot bis Einstein, auch die Begründer der modernen Freimaurerbewegungen – Adam Weishaupt und Albert Pike eingeschlossen, wird Christus nur einmal in einer Fußnote erwähnt. Dabei vertrittt Schmakov seine Überzeugung von dem einen wahren Gott in allen Religionen und Denksystemen argumentativ ähnlich wie Hamanns „hierophantischer“ Gegner J.A. Starck in seinen Schriften Hephästion und Apologie des Ordens der Frey Maurer. Schmakov schreibt von einem Kern aller Religionen und vom Unterschied zwischen Volksglauben und Mysterienreligion. Dabei gebraucht er sogar dieselben Redewendungen, mit denen auch Starck diesen Unterschied bezeichnet und zwar als den Unterschied zwischen ,äußerer‘ und ,innerer‘ Religion.13 Was insgesamt die synthetische Konzeption Schmakovs anbetrifft, so ist es ein ziemlich eklektisch wirkendes Projekt einer geistigen Modernisierung des symbolischen Strukturalismus des seit je bekannten Tarot-Systems der sogenannten großen Arkanen im dialektischen Spannungsbogen von den ältesten indischen Quellen bis zu Ergebnissen der modernsten Physik. 3. Hamann erscheint in dieser mehrdimensionalen Anhäufung von Namen, Zitaten, Tabellen, symbolischen Schemata, Kommentaren nur zweimal und zwar im Band Die heilige Schrift von Thot. Große Tarot-Arkanen. Zum ersten Mal steht der Name Hamann unter einem Mehrzeilenzitat und zwar : Die Quelle und das Motiv aller menschlichen Entwicklung ist die lebendige Individualität, der menschliche, das All in sich fassende Mikrokosmus. In dieser ihrer Universalität und Tiefe ist die menschliche Natur die lebendige Wahrheit. Die Er10 11 12 13

N III, 217,2f. (Konxompax). N III, 218,10–12 (Konxompax). N III, 218,7 (Konxompax). Schmakov : Die heilige Schrift von Thot (wie Anm. 9), S. 12.

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kenntnis der Wahrheit ist nur aus der Tiefe der Individualität zu schöpfen sie ist die vollkommen individuelle und darum dunkle Selbsterkenntnis : das völlige Gegentheil der sogenannten klaren, systematischen, auf ihre logischen Gegensätze und Beweise gestützten Verstandeserkenntnis. Diese ist ebenso flach und beschränkt, als jene tief und universell ist.

Nach dem Zitat steht der Name Hamann. Es ist hoffnungslos nach der Schriftquelle des Zitats in Hamanns Texten zu suchen, denn die gibt es nicht. Wieso denn „Hamann“? Eine Erlösung von der Ratlosigkeit bietet eine kleine Fußnote mit der Bemerkung: „Siehe Kuno Fischer. Geschichte der neuern Philosophie. Band III. Leibnitz, sein Leben, Werk und Lehre. Übersetzt von N.I. Polilov. Sankt-Petersburg, 1905.“ Schmakov zitiert also aus Kuno Fischers Band Leibnitz und seine Schule, nämlich aus dem Kapitel „Glaubens- und Geniephilosophie. Hamann und Lavater“, aus Teil I „Die Wahrheit und das dunkle Ich. Hamann“, aus dem Paragraphen 1 „Standpunkt und Geistesart“. Das Zitat steht ganz am Anfang des Paragraphen.14 Hiermit also überlässt sich Schmakov voll und ganz dem Verständnis Fischers über Hamann. Im Anschluss an die obige Stelle ist im Originaltext Fischers zu finden, warum Schmakov den Namen Hamann in seinem Zitieren Fischers gleich nach dem Zitat aufweist. Fischer schreibt: Hier erreicht der Gegensatz zur Verstandsaufklärung seine Höhe: diesen Standpunkt der dunklen, das All durchdringenden Erkenntnis, die sich bewusst ist die lebendige Wahrheit zu sein, finden wir personifiziert in Johann Georg Hamann. Er ist in der Richtung der Originalitätsphilosophie entschieden der tiefsinnigste und bedeutendste Kopf, der ausdruckvollste Typus seines Standpunktes, wie Reimarus der ausdrucksvollste und reinste Typus der Verstandsaufklärung gewesen war ; er ist der dunkelste, rätselhafteste, mit einem Wort originellste unter den Originalitätsphilosophen, die das Jahrhundert unserer Aufklärung beschließen.15

Im weiteren wird Hamann noch einmal von Schmakov erwähnt. Diesmal im Wort- und Zitatenstrom des Paragraphen über Genialität. Inmitten der sich anhäufenden Zitate aus Otto Weiningers Geschlecht und Charakter, Lavaters Physiognomik, Max Müller u. a., schreibt Schmakov : Natürliche Genialität ist eine potentielle, denn im Menschen verborgen und nur für ihn existierend […]. Ein Vorbild solcher Genialität ist Hamann, dessen Geistesart ganz treffend in den nachfolgenden Worten dargestellt ist: [Hier zitiert Schmakov wiederum Kuno Fischers Urteil über Hamann] Dieser Geistesart entspricht ganz und gar seine Schreibart, die nie beweisend [!] und gemeinverständlich, sondern immer eigenartig

14 Siehe: Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. Zweiter Band. Heidelberg 1887, S. 829. 15 Ebd., S. 830.

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und wie ein Orakel redete, und der die Form einer objektiven Darstellung vollkommen wider die [seine] Natur war.16

Alles zeugt von einem totalen Missverständnis sowohl seitens Kuno Fischer als auch bei Schmakov. Zweifellos hat Schmakov selber nie Hamanns Schriften gelesen; er hat sich Fischers Beurteilung ohne kritische Nachprüfung anvertraut. Er stützt sich dabei auf die russische Übersetzung des Werks Fischers, die in acht Bänden in der Zeitspanne von 1901 bis 1909 in Sankt-Petersburg herausgegeben wurde. Kuno Fischer lobt Hamann, ohne ihn verstanden zu haben, denn als Hegelianer hat er Hamann nicht verstehen können. Merkwürdig ist aber, dass trotz des paradigmatischen Einflusses von Hegel Kuno Fischer Hegels Kritik an Hamann übersieht oder übersehen will. Höchst wahrscheinlich ist es aber, dass Kuno Fischer Hegels Kritik kannte, jedoch beschloss, vor allem Hegels Bewunderung an Hamann in den Vordergrund zu stellen. In seiner Hamannrezension bewundert Hegel „das Koinzidieren“17 in Hamanns Denken und Fühlen, Wissen und Glauben, das gegen jede Art „Trennungen der Reflexion“18 gerichtet ist. Hegel lehnt aber „das Tiefste der religiösen Wahrheit“19 Hamanns ab, und zwar seine Anthropologie der „Brocken“, die sich deutlich in Hamanns Stil zeigt und jede Art Einordnung ins Allgemeine ausschließt. Hegels heftige Kritik an Hamann ist der hermeneutische Schlüssel zu Kuno Fischers Vereinnahmung Hamanns durch eine gefährliche Halbierung, wobei Hegels Anerkennung pointiert entwickelt und Hegels Kritik an „keiner Art von Expansion“20 der Tiefe Hamanns zu einer unberechtigten Expansion der Ideen Fischers ausgenutzt wird. Ihm folgt in Russland Schmakov. In seiner Vorstellung von einer immanenten Logik der Geschichtsentwicklung sucht Fischer nach einer Synthese zwischen Leibniz und Hegel und hat ganz willkürlich Hamann in diese Synthese eingeflochten. Die Willkür zeigt sich ganz deutlich in Fischers Urteil über Hamanns Verhalten zum Problem der coincidentia oppositorum. Fischer schreibt über Hamann: Nur in der Einheit der Gegensätze besteht ihm das Leben, in dem Vollgefühle dieser Einheit das wahrhafte, lebendige Wissen: diese „coincidentia oppositorum“, wie sie Giordano Bruno genannt hatte, erscheint ihm als der größte Gedanke der Philosophie.21

Schmakov zählt Bruno und die anderen Pantheisten, ganz pointiert Spinoza, zu den besten Denkern der Weltgeschichte. 16 Ebd. 17 G.W.F. Hegel: (Rezension von) Hamanns Schriften, hrsg. von F. Roth, VII Teile, 1821–25. In: ders.: Suhrkamp-Werkausgabe. Bd. 11. Frankfurt a.M. 1970, S. 275–352, hier S. 330. 18 Ebd., S. 324. 19 Ebd., S. 321. 20 Ebd., S. 318. 21 Fischer : Geschichte der neuern Philosophie (wie Anm. 14), S. 831.

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Es ist aber unmöglich, alle Arten eines deistischen, physikotheologischen, magischen usw. Pantheismus und Hamann zu harmonisieren. Hamann verweigert sich der Einordnung in jede Art System, jede Art „novum ordo seculorum“: denn nach dem anthropologischen und ontologischen Sturz des Seins durch die Sünde erscheint ihm jede Art strukturell organisierten reinen esoterischen Denkens verdächtig. Unter dem „Fluch und Widerspruch der Contingenz“22 sind uns nur „die Furcht der Herrn“ und „seine evangelische Liebe“ geblieben, so Hamann in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi.23 Die Ansprüche auf eine diesseitige Harmonisierung der Extreme bzw. der opposita (Fischer) und der Dualitäten (Schmakov) durch endliche Vernunft sind nach Hamann aussichtslos. Das Problem der coincidentia oppositorum lässt sich nur an einem Punkt lösen. Und das ist der Schlüsselpunkt für Hamann, der in der Verschränkung des Geschehens der Kreuzigung (Golgatha) und Auferstehung (Scheblimini) liegt, in der „irrdischen Dornen- und himmlischen Sternenkrone und dem kreutzweis ausgemittelten Verhältnis der tiefsten Erniedrigung und erhabensten Erhöhung beyder entgegengesetzten Naturen“,24 so Hamann in seinem Fliegenden Brief. Hier ist der Unterschied zwischen dem ,Dornenkreuzer‘ Hamann und dem Rosenkreuzer Schmakov offenkundig. 4. In einem Brief an Herder zieht Hamann Bilanz über Starcks Disputation in der Königsberger Universität: „Sie verdient blos als ein national product einige Aufmerksamkeit, im Grunde ist es eine Wasserblase.“25 Ist auch Schmakovs esoterische Synarchie-Lehre ein national product? Trotz der Tatsache, dass Schmakov auch einige russische Denker zitiert, z. B. Vladmir Solojov, ist sie wohl ein internationales product, obwohl es derzeit kaum möglich ist, auf die Spur dieser internationalen Netze zu kommen. Ist ein Defizit an Informationsquellen durch „strenge Observanz“ der Freimaurer zu erklären? Auch diesowie ein merkwürdiges Ausreise Schmakovs von Europa nach Argentinien bleibt merkwürdig. Ist die Wahrheit über Schmakov überhaupt noch zu finden? Festzuhalten aber ist, dass er in seinem Werk, in dem eine Vielzahl von inkompatiblen Denksystemen rezipiert, die Wahrheiten der verschiedenen Denker halbiert und dadurch die Gefahren der Irreführung vermehrt. Das gilt z. B. für solche namhaften christlichen Philosophen Russlands wie Solovjov, Florenskij und viele andere, aber auch für den deutschen Hamann. Wie Hamann redet Schmakov immer wieder von Gott, ausgehend davon, dass der synarchische hermeneutische Zirkel durch den höchsten Gott angesetzt wurde. Schmakovs 22 23 24 25

N III, 219,14f. (Konxompax). ZH V, 333,16–27. N III, 405,29/407,1–3. ZH III, 78,22f. (an Herder, 3. 4. 1774).

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Gottheit ist aber namenlos und entspricht der Kernvorstellung der Freimaurer, die schon Starck in seinem Hephästion deutlich zum Ausdruck bringt, indem er behauptet, dass der höchste Gott der doctrina arcana „in einem unzulänglichen verborgenen Lichte wohne“ (vgl. 1Tim 6,16). Diesem verborgenen Gott dient Schmakov und „seine heilige Bruderschaft der Ritter“, wie er sie im ersten Band seiner esoterischen Philosophie nennt: „Ihm, dessen Name keine Zunge auszusprechen wagt, leisten sie, die Ritter der heiligen Bruderschaft, keinem kundbar, seinen wundertätigen Dienst.“26 Und in demselben Paragraphen schreibt er mit großen Buchstaben über die sog. Wahre Höhere Hierarchie: „Sie ist ein wahres Zentrum, Macht habend, das Leben eines jeden Menschen und der gesamten Menschheit regierend.“27 Das erklingt nicht nur in vollem Gegensatz zu Hamanns Christologie, sondern lässt vermuten, welche weltregierende „Wahre Hierarchie“ die Pneumatologie Schmakovs angehaucht hat. Erinnert sei an die „Mächte und Gewalten“, vor denen im Epheserbrief (6,12) gewarnt wird: „Wir haben ja nicht zu kämpfen gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Mächte und gegen die Gewalten, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die bösen Geister im Überirdischen.“ Schmakovs Pneumatologie der Dreieinigkeit von Mystik, Vernunft, Wille, auf der die weltbeherrschende Hierarchie basiert, steht im krassen Gegensatz zu Hamanns Pneumatologie der christlichen Dreieinigkeit, die er bereits in den Biblischen Betrachtungen andeutet: „Das gröste Geheimnis wird beschlossen, das Gott sein gebildetes Werk anhaucht. Dieser Hauch ist das Ende der ganzen Schöpfung, so wie unser verklärte Heyland die Früchte seiner großen Erlösung in eben dem Bilde eines geheimnisvollen Anhauchens seinen Jüngern mittheilte. Joh: XX, 22.“28 5. Zum Schluss sei es erwähnt, dass die beiden Hinwendungen Schmakovs zu Hamann im Arkanum 12 Der Gehängte enthalten sind. In diesem Arkanum ist eine gute Prise der Physikotheologie enthalten, die die Hoffnung hegt, dass trotz der sich zuspitzenden Dualität der coincidentia oppositorum der Mensch im Spannungsfeld zwischen Himmel und Erde den „silbernen Strick“ (Prediger 12, 6) noch nicht endgültig zerrissen hat. Im Gegensatz dazu versteht sich Hamann eher im Sinne der Geschichte Jeremias, der in einer tiefen Schlammgrube liegt, jedoch durch „alte verworfene Tücher, verrottete Lumpen“ „aus dem schleimigten Gefängnis ausgezogen wurde“.29 Dabei glaubte und hoffte er mit Sancho Pansa, „Gott versteht mich!“30 26 27 28 29

Schmakov : Die heilige Schrift von Thot (wie Anm. 9), S. 414. Ebd. Londoner Schriften, 73,21–26. Londoner Schriften, 237,10–12; vgl. Jer 38,11 und dazu Londoner Schriften 59,27–30 sowie weitere Hinweise 449.

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Vielsagend ist die Tatsache, dass Schmakov in seinem esoterischen Werk in der überwältigenden Menge der Namen und Zitate kein einziges Mal Dostojevski erwähnt. Das dürfte kein Zufall sein. Denn Die Dämonen Dostojevskis lassen sich kaum in die Freimaurer-Synarchie Schmakovs integrieren. Ich weiß nicht, wie Schmakov starb. Ich hoffe aber, dass er am Ende das tat, was Vater Verchovenskij im Roman Dostojevskis Die Dämonen getan hat: Idealist, Ästhet, Liebhaber der deutschen Philosophie, der er war, ließ er sich vor seinem endgültigen Hinscheiden aus dem Lukas-Evangelium vorlesen und zwar die Geschichte von der Austreibung der Teufel … „Armer Hamann, das weiß ich, dass du mit teuflischer Macht und Gewalt in die Paragraphenuniform gesteckt und in Reih und Glied eingeordnet worden bist“,31 so noch einmal Kierkegaard.

30 ZH VII, 135,18f. (an Friedrich Heinrich Jacobi, 8. April 1787). 31 Siehe Anm. 1.

Teruaki Takahashi (Tokyo)

Johann Georg Hamanns monotheistischer Multikulturalismus im Blick auf die monistische Wissenschaftskonzeption betrachtet

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, so könnte man rückblickend konstatieren, das Zeitalter der Multikulturalität angebrochen, die sich dann seit den 1990er Jahren zusammen mit dem wirtschaftlichen Globalisierungszug weltweit rasch verbreitet hat. Der bis dahin behauptete und auch weitgehend als selbstverständlich geglaubte Vorrang und Universalitätsanspruch der Vernunftund Wissenschaftskultur der europäischen Moderne gegenüber vielen anderen nicht westlichen Kulturen auf dem Globus wurde in Frage gestellt und kann heute nicht mehr als berechtigt gelten. Stattdessen werden allen Kulturen jeweils ihre eigenen Werte und Rechte zugesprochen, indem keiner von ihnen die universale, d. h. alleinige Geltung zuerkannt wird. In den Jahrzehnten vor und nach 2000 scheint ein neues Zeitalter der Weltgeschichte begonnen zu haben. In diesem Sinne ließe sich von einer ,Millenniumswende‘ sprechen. Heute kann man vor allem aus nichtmonotheistischen Perspektiven eine dem christlichen Monotheismus und der hierin verwurzelten Wissenschaftskonzeption der westlichen Moderne gegenüber kritische Ansicht vertreten, die folgendermaßen lauten würde: Der im Westen mit Unrecht erhobene Anspruch auf die universale Geltung des eigenen Denkens und der eigenen Wahrheit lässt sich auf den christlichen Monotheismus zurückführen und zeichnet auch die westlich-moderne Wissenschaftskonzeption aus, die historisch nicht zuletzt vom christlichen Monotheismus herrührt. Denn die westlich-moderne Wissenschaft ist insofern monotheistisch geprägt, als sie nur denjenigen Erkenntnissen, die den Anforderungen ihrer eigenen Wahrheitskriterien genügen, Wahrheit zuspricht, während sie alle anderen Wissenskriterien und -möglichkeiten abweist. Hierzu ist zum einen anzumerken, dass die westlich-moderne Wissenschaftskonzeption ihren monotheistischen Charakter nicht nur dem Christentum bzw. dem Judentum verdankt, sondern zumindest auch dem altgriechischen Denken, das nicht wenig auf ihre Entstehung eingewirkt hat. So meint bereits im 18. Jahrhundert der britische Politiker und Philosoph Henry St. John, Lord Viscount Bolingbroke, dass der Monotheismus „als natürliche Form von Got-

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tesglauben […] schon bei Thales und in den Religionsformen des alten Ägypten“ zu finden sei.1 Zum anderen sollte man nicht vergessen, dass die Zurückführung des Ausschließlichkeitsanspruchs der westlich-modernen Wissenschaftskonzeption auf den Monotheismus keine Erfindung der nichtwestlichen Welt ist. John Stuart Mill beispielsweise übernimmt die von Auguste Conte erbrachte „Erklärung des M[onotheismus] aus der Verwissenschaftlichung der Welt“ und weist darauf hin, dass die „Wissenschaft […] eine Ursachenkette“ konstruiert, an „deren Ende ein Gott steht.“2 Diese monotheistische Wissenschaftskonzeption wurde im 20. Jahrhundert völlig säkularisiert und zur vom Wiener Kreis, u. a. von Rudolf Carnap vertretenen Idee der Einheitswissenschaft zugespitzt, mit der Konsequenz, „daß die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften in einer einheitlichen Sprache ausgesprochen werden“3 sollten. Carnap vertrat 1932/1933 in seiner Abhandlung Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft die These, „daß die Wissenschaft eine Einheit bildet“, eine These, die er folgendermaßen umschrieb: „[…] alle Sätze sind in 8iner Sprache ausdrückbar, alle Sachverhalte sind von 8iner Art, nach 8iner Methode erkennbar.“4 Hier könnte man tatsächlich eine radikale Säkularisierung des christlichen Monotheismus zu einem wissenschaftlichen Monismus konstatieren. Damit wird allerdings nicht gesagt, dass ein jeder Monotheismus notwendigerweise zum wissenschaftlichen Monismus westlich-moderner Art führen würde. Dieser ist vielmehr als ein spezifisch westliches Kulturphänomen zu betrachten. Im Gegensatz zur universalistisch-monistischen Tendenz der neuzeitlichen Wissenschaftskonzeption macht bereits im 18. Jahrhundert gerade Hamann auf die Unhaltbarkeit des Universalitätsanspruchs der modern-wissenschaftlichen Welt- und insbesondere Naturauffassung aufmerksam, indem er seine These in dem lakonischen Satz formuliert: „Vernunft ist Sprache K|cor.“5 Denn mit dem Wort „Sprache“ ist in seiner bekannten These keine „einheitliche Sprache“ gemeint, wie sie der Wiener Kreis vor Augen hatte. Hamann hält es in seinen 1758 entstandenen Biblischen Betrachtungen für „ungewöhnl[ich]“ und „befrem1 Vgl. Reinhold Hülsewiesche: Art. ,Monotheismus‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. VI. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel 1984, Sp. 142–146, hier Sp. 142f. Verwiesen wird hier auf: H. St. John, Lord Viscount Bolingbroke, Works 4, London 1754 (ND, hg. von D. Mallet, 1968), S. 69f. u. S. 80. 2 Hülsewiesche: Art. ,Monotheismus‘ (wie Anm. 1), Sp. 146; er beruft sich auf: John Stuart Mill: Auguste Comte and positivism. In: ders.: Collected Works. Hg. von F. E. L. Priestley. Bd. X. Toronto,London 1969, S. 432. 3 Victor Kraft: Art. ,Einheit der Wissenschaft‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. II. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel 1972, Sp. 400. 4 Rudolf Carnap: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis 2 (1931/1932), S. 432–465, hier S. 432 (Akut im Original). 5 ZH V, 177,18 (an Johann Gottfried Herder am 8. 8. 1784).

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dend“, dass die „ganze Erde“ vor der „Verwirrung der Sprachen“ beim Turmbau zu Babel „einerley Lippe v[nd] einerley Worte“ hatte.6 Ungewöhnl[ich]“ und „befremdend“ ist „dieses“ für Hamann angesichts „der natürl[ichen] Veränderlichkeit“, der „alle Mschl. Dinge unterworfen“ seien, und„desto mehr befremdend, da die Sprache so sehr von der Denkungsart v[nd] Sitt[en] abhängt, und diese beyde Dinge in ihr[em] Lauf so verwildert v[nd] entgeg[en] gesetzt war[en]“.7 Hamann stellt zudem fest, dass „diese ungewöhnl[iche] Einigkeit unter den Mensch[en] […] in Thorheit v[nd] in d[en] bösen Gedank[en] ihres Herzens ihre Stärke erhielt.“8 Der „Einigkeit“ der „Sprache“ liegen mithin die „Thorheit“ und die „böse[n] Gedank[en]“ des menschlichen „Herzens“ zugrunde. Diese zeigen sich beispielsweise in dem Unternehmen, einen „Turm“ zu bauen, dessen Spitze bis in den Himmel geht“, damit die Menschen sich „ein[en] Name[n] […] machen“ und die „Fahne“ des Turms der „irrende[n] Menge zum Wahrzeichen dienen“ könnten.9 Deshalb, weil „diese Einigkeit im M[en]schl[ichen] Geschlecht“10 zur „bösen“11 Dummheit führt, ist „Gott“, so Hamanns Interpretation der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel, der Ansicht, dass die „Einigkeit“ der „Sprache“ für die Menschen „nachtheilig“12 ist. Indem sie alle eine einzige Sprache sprechen, verbreiten sich unter ihnen die „Thorheit“ und die „bösen Gedank[en] ihres Herzens“, die Hamann als „Aussatz der Menschl[ichen] Natur“13 bezeichnet und für „ansteckend“14 hält. In der Tat lässt sich diese Infektionskrankheit der „Thorheit“ und der „bösen Gedank[en]“, so könnte man meinen, auch in der monotheistischen Wissenschaftskonzeption der westlichen Moderne wiedererkennen. Sie ist so „ansteckend“, dass sie sich einerseits räumlich zumindest seit dem 19. Jahrhundert fast weltweit verbreitete und andererseits zeitlich, wie es der exemplarische Fall von Carnap zeigt, bis ins 20. Jahrhundert wirksam blieb und auch heute noch weitgehend bleibt. Um die Menschen vor der Infektion der „Thorheit“ und der „bösen Gedank[en] ihres Herzens“ zu schützen, ist es nicht „rathsam“, „sie alle in einer

6 Londoner Schriften, 88,1.4.8. Die durch den Zitierenden ausgelassenen bzw. ergänzten und bezüglich grammatikalischer Flexionen modifizierten Stellen sind hier und im Folgenden samt den eckigen Klammern kursiv gesetzt, um sie und die von den Texteditoren emendierten Stellen zu unterscheiden. 7 Londoner Schriften, 88,4–6. 8 Londoner Schriften, 88,8–10. 9 Londoner Schriften, 88,12–14 u. 89,5–8. 10 Londoner Schriften, 88,22. 11 Londoner Schriften, 88,9. 12 Londoner Schriften, 88,22. 13 Londoner Schriften, 88,23. 14 Ebd.

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Ringmauer v[nd] unter ein[em] Dach einzuschlüßen“.15 Stattdessen teilte Gott die Menschen in viele Gruppen, indem er ihre Sprache verwirrte. Wenn die von Gott initiierte „Verwirrung der Sprachen“ für „d[as] einzige Mittel“16 gegen die Infektion der „Thorheit“ und der „bösen Gedank[en] ihres Herzens“ zu halten ist, sollte sie ebenso, wie einst die „Sündfluth“, „nicht einmal als eine Strafe anzuseh[en]“ sein, „sondern als eine Wohlthat“17, welche durch die „Herunterlassung Gottes auf diese Erde“18 erwiesen wurde. Dadurch sind „wir“ als christliche Menschen, wie es der christlich gesinnte Hamann feststellt, „dem Himmel näher gekommen“, aber durch keinen „Thurm der Vernunft[,] des[sen] Spitze bis an den Himmel reicht, v[nd] durch dessen Ziegeln v[nd] Schleim wir uns ein[en] Nam[en] zu mach[en] gedenken, v[nd] dessen Fahnen d[er] irrende[n] Menge zum Wahrzeichen dienen soll“.19 Diesem zum Scheitern verurteilten Unterfangen, den „Thurm der Vernunft“ bzw., um hierauf jene Hamannsche These „Vernunft ist Sprache K|cor“ zu beziehen, „Sprache“ zu bauen, käme auch das Vorhaben des Wiener Kreises gleich, eine Einheitswissenschaft mittels einer einheitlichen Sprache zu Stande zu bringen. Das Gleiche gilt auch für das Projekt der westlich-modernen Wissenschaft, die den Anspruch auf die universale Geltung ihrer Erkenntnisse erhebt und alle anderen Einsichten abweist, die nicht ihren durch die westliche Wissenschaftskultur geprägten Wahrheitskriterien standhalten. Dagegen wendet sich erst seit kurzem derjenige Multikulturalismus, welcher die westlich-moderne Wissenschaftskonzeption als ein Kulturphänomen spezifisch westlicher Herkunft betrachtet und anstatt ihrer Universalität ihren monotheistischen Charakter und somit ihre kulturelle Partikularität hervorhebt. Er erblickt in ihrem monistischen Charakter eine monotheistische Tendenz, die alleinige und somit universale Geltung von ihren Erkenntnissen anzustreben. Etwas zugespitzt gesagt, ließe sich diese monotheistische Sucht der westlich-modernen Wissenschaftskonzeption als eine Infektionskrankheit diagnostizieren. Unter Berufung auf Hamann könnten die Vertreter des Multikultikulturalismus das Projekt der durch die „Einigkeit“ der „Sprache“ bzw. der „Vernunft“ voranzutreibenden Verbreitung der westlich-modernen Wissenschaft auf die „Thorheit“ und die „bösen Gedank[en]“ des menschlichen „Herzens“ zurückführen und mit dem „Aussatz“, einer einst nur schwer zu bekämpfenden Infektionskrankheit, vergleichen. So betrachtet, ließen sich in Hamanns kritischer Einstellung gegenüber der „Einigkeit“ der „Sprache“ bzw. „Vernunft“ Ansätze zum heutigen Multikulturalsimus herausfinden. 15 16 17 18 19

Londoner Schriften, 88,24–25 Londoner Schriften, 88,27f. Londoner Schriften, 88,33f. Londoner Schriften, 89,4f. Londoner Schriften, 89,3–8.

Johann Georg Hamanns monotheistischer Multikulturalismus

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Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Pluralität von „Sprache“ und „Vernunft“ nicht nur an der Differenz zwischen Christen und Andersglaubenden zu erkennen, sondern auch unter Angehörigen einer Religion und einer Kultur zu beobachten ist. Auch darauf kommt Hamann zu sprechen, indem er schreibt: „Jeder hat seine Sprache verstand[en] v[nd] keiner des andern; Cartes hat se[ine] Vernunft, Leibniz se[ine]; Newton se[ine] ‹,› eigene verstanden, verstehen sie sich daher besser unter einander selbst.“20 Damit wird nicht gesagt, dass deshalb jeder isoliert für sich bleiben soll. Hamann weist vielmehr auf die Notwendigkeit zur Bemühung um das Verstehen Anderer hin: „Wir müssen“, so Hamann, „ihre Sprache lernen, um ihre Begriffe zu unterscheiden, wir müssen ihre Materialien prüfen, wir müssen die Absichten ihrer Lehrgebäude, den Grund[,] den sie haben, das Ende, worauf sie geh[en][,] und den Ausgang[,] in dem sie aufhör[en][,] untersuch[en], dies nicht nach ihr[en] Versprechung[en] v[nd] Vorurtheil[en], die sie uns als Grundsätze, Erfahrung[en] v[nd] Schlüsse aufbürd[en].“21 Es wäre jedoch eine auch Hamann gegenüber ungerechte Überforderung seines Multikulturalismus, wenn man hier einen Abschied vom christlichen Monotheismus und eine religiöse Konversion sehen wollte. Denn er hält die „Einigkeit“ der „Sprache“ bzw. der „Vernunft“ oder jene „ungewöhnl[iche] Einigkeit unter den Mensch[en]“ nicht für entbehrlich, sondern hält eine Hoffnung darauf aufrecht, wenn er von „Gott“ schreibt: „[…] so hat er sich auch vermuthlich eine Vereinigung der Mensch[en] vorbehalt[en], zu einer einzig[en] Sprache, zu der einzigen wahren Erkenntnis.“22 Denn „vorbehalten“ heißt nicht „verwerfen“, sondern, wie der Duden unter dem Stichwort „vorbehalten“ erläutert, „die Möglichkeit für bestimmte Schritte offenlassen“ und so „für einen zukünftigen Bedarf reservieren“. Bis zu dem Augenblick, in dem „die Zerstreuung des Menschl[ichen] Geschlechts […] ein Ende nehmen wird“23, wird die Hoffnung der Christen aufrechterhalten durch die „Ausbreitung des Evangelii“24, d. h. nicht unbedingt durch dessen weitere Ausbreitung in der Art einer erneuten Missionierung unter den nicht christlichen Menschen, welche Andersglaubenden gegenüber eine unzumutbare Zudringlichkeit wäre. Die christliche Hoffnung auf eine Wiederherstellung der „Einigkeit“ der „Sprache“ und somit der „Vernunft“ stützt sich vielmehr darauf, dass das „Evangeli[um]“ gegenwärtig ausgebreitet ist, indem die „Prophet[en] des Alt[en] v[nd] Neuen Bundes […] uns“ als christliche Menschen „auf die Zerstöhrung Babels“ tatsächlich „vertrösten“ und indem prophezeit wird, 20 21 22 23 24

Londoner Schriften, 89,8–11. Londoner Schriften, 89,11–16. Londoner Schriften, 89,17–19. Londoner Schriften, 89, 22–23. Londoner Schriften, 89,20.

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Teruaki Takahashi

„dass die Zerstreuung des Menschl[ichen] Geschlechts […] ein Ende nehmen wird“, wenn „d[as] Geheimniß Gottes zu Ende seyn wird.“25 Diese eschatologische Hoffnung wird insofern, als sie von Hamanns religiösem Glauben herrührt, nur unter den christlichen, aber nicht unter den heidnischen Menschen gelten, die den christlichen Glauben nicht teilen. Deshalb sollte das auch in Hamanns Interpretation der Geschichte vom Turm zu Babel verwendete Personalpronomen „wir“ nicht auf alle Menschen, sondern nur auf die Christen zu beziehen sein. So verstanden, geht Hamanns Gedankenhorizont über die Grenzen der christlichen Welt hinaus und entspricht seinem Multikulturalimus, der allerdings nur auf der irdischen Welt zur Geltung kommt. Denn es bleibt ja die Hoffnung bzw. das Vertrauen auf die „Einigkeit“ der „Sprache“ und der „Vernunft“ sowie schließlich die „Einigkeit im Menschl[ichen] Geschlecht“26 bestehen, die im Jenseits wieder zu erreichen sind, wenn „d[as] Geheimniß Gottes zu Ende seyn wird“. So wie Hamann das Geschichtshandeln Gottes versteht, sind auf Erden die Pluralität von Sprache und Vernunft und somit der darauf basierte Multikulturalismus erforderlich und wünschenswert. Bzüglich der irdischen Welt ist insofern von einer multikulturalistischen Gesinnung zu sprechen. Dagegen ist, was den Himmel bzw. das Reich Gottes nach dem Jüngsten Gericht betrifft, Hamann ein monotheistischer Christ, sofern er die eschatologische Hoffnung auf die „Einigkeit“ der „Sprache“ und der „Vernunft“ sowie auf die „Einigkeit im Mernschl[ichen] Geschlecht“ hat und in der „Erhaltung v[nd] Regierung der Welt“27 auf der multikulturalistischen Basis „ein fortdauerndes Wunder“28 als „Geheimniß Gottes“ am Werk sieht. So hat Hamann durch seine Interpretation der biblischen Geschichte vom Turm zu Babel einen monotheistischen Multikulturalismus entwickelt, um unter der Bewahrung des christlichen Monotheismus einen irdischen Multikulturalismus zur Geltung zu bringen. Nicht zuletzt in dieser Verbindung von Monotheismus einerseits und Multikulturalismus andererseits liegt eine interkulturelle Aktualität Hamanns für das 21. Jahrhundert als globalisiertes Zeitalter der Multikulturalität.29 25 26 27 28 29

Londoner Schriften, 89,21–26 (Fettdruck im Original). Londoner Schriften, 88,22. Londoner Schriften, 89,24. Londoner Schriften, 89,25 Zur Aktualität Hamanns für die gegenwärtige Kritik der neuzeitlichen Wissenschaftskonzeption insbesondere bezüglich der Naturlehre (a) und für die interkulturelle Kommunikation (b) vgl. jeweils die folgenden Beiträge: Teruaki Takahashi: ,Bau‘ und ,Gerüst‘ als Metaphern bei Lessing, Kant und Hamann. Zur Problematik der Wahrheitsfindung in der Aufklärung. In: Acta 1988, 461–489; ders.: ,Mitleid‘, ,Herunterlassung‘ und ,Friede‘ als Strukturmomente der interkulturellen Kommunikation: Lessing, Hamann und Shotokutaishi. In: ders.: Japanische Germanistik auf dem Weg zu einer kontrastiven Kulturkomparatistik. Geschichte, Theorie und Fallstudien. München 2006, S. 225–245.

IV. Editionen und Übersetzungen

Janina Reibold (Heidelberg)

Kurze Geschichte der langen Hamann-Edition. Ein Zwischenbericht

Es ist ein Gemeinplatz, dass die Überlieferung und Edition von Hamanns Werken und Briefen mindestens so merkwürdig, kompliziert sowie von zeitlichen, räumlichen und persönlichen Zufällen bestimmt ist, wie Hamanns Leben und Schriften selbst.1 Gleichwohl möchte ich auf den nächsten Seiten zu diesem Gemeinplatz einige neue Funde und nicht minder merkwürdige Details und Zusammenhänge beisteuern. Zunächst überspringe ich das gesamte 19. Jahrhundert, dessen HamannEditionsgeschichte unter Beteiligung von Herder, Jacobi, Nicolovius, Goethe, Roth, Wiener und Gildemeister wohlbekannt und ,en detail‘ in Josef Nadlers Prolegomena von 1930 nachzulesen ist.2 Die im Folgenden genannten Informationen und Dokumente sind zum Großteil die Frucht meiner Recherchen in den Nachlässen Josef Nadlers in Wien, Julius Petersens in Marbach, Arthur Henkels in Heidelberg, dem Verlagsarchiv des Insel-Verlags in Weimar sowie dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.3 Zur 1 Vgl. zu diesem Bild Erich Trunz: Wunder um den Magus. In: Wirkendes Wort 3 (1952/53), S. 311f., hier : S. 311: „Die Geschichte der Hamann-Ausgabe von damals bis heute ist die Odyssee eines Nachlasses, sie ist von all den Merkwürdigkeiten, die den Magus umgeben, fast die merkwürdigste.“ 2 Josef Nadler : Die Hamannausgabe. Vermächtnis – Bemühungen – Vollzug. Halle an der Saale 1930 (= HA), hier v. a. S. 75–144. 3 Es werden folgende Siglen für die großteils unpublizierten Quellen verwendet: ABBAW = Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; DLA = Deutsches Literaturarchiv Marbach; GSA = Goethe- und Schiller-Archiv Weimar ; ÖNB = Österreichische Nationalbibliothek Wien. Die Briefe zwischen Anton Kippenberg und Julius Petersen aus dem DLA und GSA wurden in Auswahl bereits von Thomas Neumann ediert: Anton Kippenberg. Der Briefwechsel mit Julius Petersen 1907 bis 1941. Hg. von Th. Neumann. Norderstedt 2000. Im Folgenden, falls vorhanden, zitiert als Neumann, Briefnummer. – Die Briefe Arthur Wardas an Rudolf Unger aus der UB Göttingen wurden bereits von Renate Knoll ediert in: Johann Georg Hamann 1730–1788. Quellen und Forschungen. Hg. von R. Knoll. Bonn 1988, S. 209–218. Im Folgenden zitiert als Knoll, Briefnummer [Seitennummer].

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Janina Reibold

Rekonstruktion der vollständigen Editionsgeschichte fehlen mir bislang leider noch die Dokumente aus dem Nadler-Nachlass in Houston, Texas4 sowie aus der Nachkriegszeit.5

Arthur Warda, Rudolf Unger und die Preußische Akademie der Wissenschaften (1899–1927) Die Hamann-Editionsgeschichte des 20. Jahrhunderts beginnt 1899. In diesem Jahr erwachte bei Arthur Warda, Amtsrichter in Königsberg, – vermittelt über seine Mitarbeit an den ersten Briefbänden der Kant-Ausgabe – ein großes Interesse für Hamann.6 In den folgenden 30 Jahren versuchte er alles in Bezug auf Hamann Erreichbare in Königsberg zu versammeln und eine Gesamtausgabe der Werke und Briefe auf den Weg zu bringen. 1901 begann er die insgesamt fast 1.200 Briefe von und an Hamann abzuschreiben. Bei seinem Tod 1929 hatte er von Dreivierteln aller Briefe handschriftliche Abschriften in der Qualität von Satzvorlagen für den Druck angefertigt. Durch seine umfangreichen privaten Recherchen schaffte er es, in den Jahren 1905/06 den Erwerb der drei wichtigsten Hamann-Nachlässe aus dem Vorbesitz Roths, Wieners und Gildemeisters durch die Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek zu vermitteln.7 Als Jurist und gewissermaßen fachfremder Philologe glaubte sich Warda bei der Herausgabe maßgeblich auf institutionelle Unterstützung angewiesen. 1904 wandte er sich daher an die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin (= PAW), stieß recht schnell auf Zuspruch8 und übersandte einen vorläufigen Plan der Ausgabe im Herbst 1909.9 Nach jahrelangen Verhandlungen begann die

4 Woodson Research Center, Rice University, Houston, Texas (USA), MS 261: Josef Nadler academic papers (Übersicht unter : http://www.lib.utexas.edu/taro/ricewrc/00053/rice-00053. html [7. 1. 2016]). Vgl. hierzu Jörg-Ulrich Fechner: Nordamerikanische Bibliotheks- und Archivbestände und ihre Bedeutung für die Hamann-Forschung. In: Acta 1988, 537–576. 5 Besonders vielversprechend scheint hierbei die Auswertung des Briefnachlasses Arthur Henkels sowie des Insel-Verlag-Archivs innerhalb des Siegfried-Unseld-Archivs in Marbach, das gerade für die Nutzung erschlossen wird, zu sein. 6 Vgl hierzu und dem Folgenden ausführlich Nadler, HA 148–166. 7 Vgl. ebd., 150–154. 8 Ebd., 156f. Vgl. bspw. Erich Schmidt an Warda, 28. Februar 1906: „Nach Rücksprache mit dem Geschäftsleiter der Deutschen Kommission unserer Akademie Prof. Roethe beehre ich mich Ihnen zu melden, daß wir die Hamannausgabe eines solchen Kenners sehr gern unsern Unternehmungen einreihen und fördern werden.“ (Original verschollen; zitiert nach Nadler, HA 157). 9 Warda an Unger, 10. 6. 1910 (Knoll, Nr. 3 [211]).

Kurze Geschichte der langen Hamann-Edition. Ein Zwischenbericht

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Unternehmung 1914 konkrete Züge anzunehmen,10 doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs erstickte diese Bestrebungen sogleich wieder im Keim.11 Erst 1927, nach mehr als zwanzig Jahren,12 wurde aktenkundig, dass die Deutsche Kommission eine Gesamtausgabe der Werke und Briefe Johann Georg Hamanns veranstalten wollte, mit deren Organisation Julius Petersen betraut wurde.13 Als Bearbeiter der Brief-Bände wurde naheliegenderweise Arthur Warda, der Initiator der Unternehmung, benannt. Für die Edition der WerkBände war zunächst Rudolf Unger als Petersens Wunschkandidat benannt worden. Unger, der sich mit seinen zwei Werken Hamanns Sprachphilosophie (1905) und Hamann und die Aufklärung (1911) einen Namen als HamannKenner gemacht hatte und in ersten Sondierungsgesprächen 1914 und 1918 durchaus Interesse an der Herausgabe der Werkbände geäußert hatte,14 lehnte jedoch nun Ende 1926 in einem persönlichen Schreiben an Petersen ab, weil er sein

10 Geradezu emphatisch schreibt Warda am 27. 6. 1914 an Gustaf Roethe, den Sekretär der PAW: „Für das von Ihnen mir gütigst ausgesprochene Vertrauen der Deutschen Kommission hinsichtlich meiner Beteiligung an der Hamann-Ausgabe fühle ich mich zu lebhaftem Dank verpflichtet, um so mehr, als ich mir bewußt bin, durch keine öffentlich hervorgetretenen Arbeiten dieses Vertrauen erworben oder gerechtfertigt zu haben. Seit 15 Jahren allerdings ist es mein Bestreben gewesen, alles Erreichbare wie den litterarischen Nachlaß Hamanns für Königsberg zu sammeln und das Material zu einer neuen Ausgabe vorzubereiten. Durch den glücklichen Umstand, daß die großen Hamannbestände aus dem Nachlaß Roths und Gildemeisters sich auf der hiesigen Königlichen Bibliothek vereinigten, ist die Benutzung derselben für mich wesentlich erleichtert worden, und ich habe für den Text der Briefausgabe recht weite Vorarbeiten machen können. […] Wenn die Deutsche Kommission mich zur Herausgabe der Briefe Hamanns für geeignet und würdig erachten sollte, könnte ich in Aussicht stellen, daß der Text in verhältnismäßig kurzer Zeit gedruckt sein könnte. Es sind bis jetzt etwa 1000 Briefe von mir kopiert; der Mehrzahl nach bereits als Druckvorlage […]“ (Original verschollen; zitiert nach Nadler, HA 159f.). 11 Vgl. Nadler, HA 162. 12 Wie demotivierend die lange Wartezeit auf Warda wirkte, zeigt der Brief Wardas an Unger vom 2. 3. 1925: „Selbst habe ich, gar kein Interesse, die Ausgabe [für die PAW; JR] zu machen, mich hatte der Gegenstand derart interessiert, so daß ich bei meiner Arbeit nicht danach fragte, ob und wann eine Verwertung des von mir gesammelten Materials erfolgen würde. Das eine möge die Akademie, die, wenn auch nicht gerade kaufmännisch geleitet, auf die Kosten zu sehen pflegt […], sich gesagt sein lassen, daß sie die Briefausgabe so billig nicht so leicht hätte erlangen können.“ (Knoll, Nr. 7 [216]). 13 Vgl. Petersen an Kippenberg, 19. 2. 1927 (GSA 50/2606,2 j Neumann, Nr. 294) und Nadler, HA 163. Die Wiederaufnahme erfolgte vermutlich in Folge von Wardas Brief an die Deutsche Kommission der PAW vom 9. Oktober 1926, wo er mit Verweis auf die Korrespondenz und Pläne einer Hamann-Ausgabe von 1914 auf baldige Entscheidung durch die Akademie drängt. Dies nicht zuletzt, da sein „Gesundheitszustand vielfach schwankend“ sei (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, Nr. 19). 14 Vgl. v. a. Unger an Roethe, 9.7., 27. 7. 1914 und 9. 3. 1918 (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, Nr. 19).

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Janina Reibold

Ideal in anderem sehe als im Frohndienst [sic!] einer mir im Grunde doch heterogenen Aufgabe. Denn für alles Technische, Organisatorische etc. bin ich nun einmal wenig begabt. […] Ich möchte, so Gott will, selbst noch dies oder jenes sagen, und nicht nur mühselig herausbetteln, was ein andrer gesagt hat. Zudem ist Gemeinschaftsarbeit meine Sache nicht: dazu bin ich zu individualistisch.15

Wenig später, am 21. März 1927 wiederholte Unger seine Ablehnung „ganz offiziell, nachdrücklich und endgültig“ an Petersen: Ich werde mich an der von Ihrer Akademie geplanten Hamann-Ausgabe in keiner Weise – weder direkt noch indirekt, weder allein noch mit anderen gemeinsam, weder als Herausgeber, Mitwirkender noch Berater beteiligen. Die Gründe hierfür sind: 1. dass ich mich zu editorischen und organisatorischen Arbeiten nicht berufen fühle, dass sie mich vielmehr nur unverhältnismässig viel Zeit und Mühe kosten und mich dadurch von anderen, für mich Wesentlicheren abhalten würden, 2. dass mir Gemeinschaftsarbeit mit anderen und unter Aufsicht nicht liegt, 3. dass ich bereits fast ein Jahrzehnt meines Lebens Hamann gewidmet und nicht die mindeste Lust habe, als Hamann-Spezialist alt und grau zu werden, 4. und vor allem, dass ich an mir nur zu deutlich fühle, wie kurz das Leben und wie eng begrenzt die individuelle Kraft ist und dass ich daher, aus Gründen der Gesundheit und der Lebensökonomie, alle mir etwa noch vergönnte Zeit und Kraft auf das Energischste zusammenraffen muss, um den Aufgaben, die ich in Beruf, Studium und Forschung, noch vor mir sehe, und die mir persönlich liegen, auch nur von fern gerecht zu werden.16

Die Werkbände blieben nach Ungers Ablehnung also zunächst ohne Bearbeiter und Petersen antwortete am 9. April 1927 resigniert an Unger : Ich mache natürlich keinerlei Versuch, Sie von Ihrem Entschluss, dessen Gründe ich verstehen kann, abzubringen. Was nun aus der Ausgabe werden soll, weiss ich nicht. Die Briefe, die nach Wardas Schätzung sieben Bände umfassen, sollten, meine ich, auf jeden Fall herausgegeben werden. Die Schriften bleiben dann am Ende bei mir hängen, und mir würde es natürlich viel schwerer als Ihnen [fallen; JR], einen Plan zu machen. Wenn der Verleger nicht darauf drängt, werden wir also die Schriften fallen lassen und die Hoffnung darauf setzen, dass das Rad der Entwicklung wieder einmal eine Generation heraufbringt, die von der Notwendigkeit solcher Aufgaben überzeugt und sich ihnen zu opfern bereit ist.17

15 Unger an Petersen, 20. 11. 1926 (DLA, A: Petersen, 73.496/1). 16 Unger an Petersen, 21. 3. 1927 (DLA, A: Petersen, 73.496/2). 17 Petersen an Unger, 9. 4. 1927 (DLA, A: Petersen, 73.483/1).

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Josef Nadler und die Königsberger Gelehrte Gesellschaft (1926–1928) Zeitgleich suchte die Preußische Akademie der Wissenschaften 1926/27 über Josef Nadler, zu dieser Zeit Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Königsberg, den Kontakt zur Königsberger Gelehrten Gesellschaft, um diese für eine gemeinsame Finanzierung der Ausgabe zu gewinnen.18 Nicht zuletzt aus lokalhistorischem Interesse stimmte diese dem Gemeinschaftsprojekt zu und versprach eine finanzielle Beteiligung. Daraufhin bot sich im Mai 1927 Josef Nadler, seines Zeichens der literarhistorische Vertreter der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, als Bearbeiter der Werkbände an.19 Nicht ganz glücklich mit dieser Lösung, wie man in Briefen lesen kann,20 aber mangels Alternativen und vor allem um die finanzielle Vereinbarung mit der Königsberger Gelehrten Gesellschaft besorgt, stimmte Petersen dem Vorschlag zu, Nadler mit der Edition der Werkbände zu beauftragen.21 Im Juli 1928 übersandte Nadler bereits einen Ausgabenplan für eine Werkedition Hamanns in vier Bänden.22

18 Vgl. v. a. Nadler an Burdach, 11. 3. 1927: „Ich werde, wie ich Ihnen schon mitteilte, nach besten Kräften mich für die Hamannausgabe einsetzen. Nach meiner Meinung ist es am besten, die hiesige [Königsberger ; JR] Gelehrte Gesellschaft, deren Mitglied ich bin, in dieser Sache einzuspannen. Morgen haben wir eine Sitzung und ich werde bei dieser Gelegenheit mit unserem ständigen Sekretär sprechen. Auf diesem sozusagen offiziösen Wege dürfte sich alles leichter machen. Unser Oberpräsident ist für geistige Interessen der Provinz besonders zugänglich.“ (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, Nr. 19). 19 Vgl. Nadler an Burdach, 21. 3. 1927 (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, Nr. 19) und Nadler an Petersen, 23. 5. 1927 (DLA, A: Petersen, 73.493/1). 20 Vgl. v. a. in der Rückschau Petersens Brief an Unger vom 15. 8. 1928, in dem er erläutert, dass „Nadler, von dem ich voraussetzte, dass er durch andere literarische Verpflichtungen voll in Anspruch genommen sei, seine Mitwirkung bei der Ausgabe anbot, was nunmehr, da die Königsberger Gelehrte Gesellschaft die Mitunternehmerin der Ausgabe ist, und er den literarhistorischen Vertreter in der Klasse darstellt, nicht abgeschlagen werden durfte.“ (DLA, A: Petersen, 73.483/2). 21 Laut Nadler, HA 164 erging am 22. Mai 1928 an ihn die „formale Aufforderung der Preußischen Akademie, die Leitung der Abteilung ,Werke‘ zu übernehmen“. 22 „Umfang einer kritischen Hamann-Ausgabe. I. Schriften“, datiert auf den 11. Juli 1928: tabellarische zweiseitige Auflistung der Schriften Hamanns nach der Ausgabe Roths mit ungefährer Silbenanzahl und geschätzter notwendiger Seitenanzahl. Unter der Kalkulation auf Seite 2: „Die vorliegende Schätzung ergäbe also einen notwendigen Aufwand von rund 2000 Seiten zu 660 Silben gerechnet. / Sie könnte auf 4 Bände verteilt werden, und zwar etwa: / 1. Zur Sprache und Literatur. / 2. Zu Theologie und Philosophie. / 3. Kleine Arbeiten und Uebersetzungen. / 4. Entwürfe, Auszüge, Apparat, Register.“ (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, Nr. 19).

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Gründung des Redaktionsausschusses (1928–1929) Kurz darauf kam es zum ersten Eklat innerhalb der Ausgabe, denn Unger hatte es sich anders überlegt und wollte nun doch an der Herausgabe mitwirken. In einem persönlichen Gespräch mit Friedrich Ranke erfuhr er im August 1928 jedoch, dass mittlerweile Nadler mit dieser Aufgabe betraut worden war. Erbost schrieb er diesbezüglich am 12. August 1928 an Petersen: Und nun muß ich plötzlich erfahren, daß es zu all dem [d.i. Ungers Mitwirkung an der Hamann-Ausgabe; JR] schon zu spät ist, daß ich inzwischen längst ausgeschaltet worden bin und zusehn muß, wie ein andrer – noch dazu, Ironie des Schicksals! ein Katholik, der Hamann immer noch als ,Mystiker‘ und Zwischenglied zwischen Jakob Böhme und Zacharias Werner auffaßt! – die Früchte meiner Lebensarbeit ernten wird. Nun, ich habe schon manches erleben und ertragen müssen und bin der Letzte, der sich aufdrängt, wo man ihn einmal nicht wünscht. Mag also der andere uns ,seinen‘ Hamann geben!23

Petersen, der die Mitwirkung Ungers an der Ausgabe nicht verlieren wollte und erstaunlich großes Talent bei der Vermittlung von Konflikten gehabt zu haben scheint,24 gelang es Unger zu beruhigen, indem er folgende Konstruktion vorschlug: An die Spitze der Ausgabe soll ein Redaktionsausschuss treten, der aus drei Köpfen besteht, nämlich aus Ihnen [d.i. Unger ; JR], als dem fachlichen Berater, sowie je einem Vertreter der Preussischen Akademie und der Königsberger Gesellschaft der Wissenschaften, wobei an Ranke und mich gedacht wurde. Die Ausgabe würde in 2 Abteilungen zerfallen und die Königsberger Gelehrte Gesellschaft würde den Bearbeiter der Brief-Abteilung bestimmen (Warda), während die Berliner Akademie die Verteilung der Schriften übernähme.25

Nadler und Warda sollten nach dieser Konstruktion bloße „philologische Textarbeiter“ sein, während Unger „geistige[s] Oberhaupt und der Leiter der Ausgabe“ wäre26 und einen Schlussband zur geistesgeschichtlichen Bedeutung Hamanns angesichts der „neue[n] Lutherbewegung, [dem] neue[n] KierkegaardVerständnis, [sowie der] modernen Existentialphilosophie“ nach 1911 verfassen sollte.27 Geradezu emphatisch schrieb Petersen gegen Ende des Briefs an Unger : 23 Unger an Petersen, 12. 8. 1928 (DLA, A: Petersen, 73.496/3) und hierzu auch Ranke an Petersen, 11. 8. 1928 (DLA, A: Petersen, 73.494/2). 24 Einen Überblick hierzu gibt Petra Boden in der Einführung zu: Dies. u. Bernhard Fischer : Der Germanist Julius Petersen (1878–1941). Bibliographie, systematisches Nachlaßverzeichnis und Dokumentation. Marbach am Neckar 1994, S. 9–37. 25 Petersen an Unger, 15. 8. 1928 (DLA, A: Petersen, 73.483/2). 26 Ebd. 27 Unger an Petersen, 12. 8. 1928 (DLA, A: Petersen, 73.496/3).

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Sie wissen, wie ich in diesen Jahren fast kniefällig um Sie geworben habe und wie der jetzt sich allmählich klärende Arbeitsplan aus dem [G]edanken heraus geboren wurde, Ihre Oberleitung zu behalten, ohne Ihnen irgendwelche lästige Verpflichtungen aufzuerlegen. Es soll I h r e Hamann-Ausgabe werden, nicht die Nadler’sche, und mit der Auffassung Hamanns hat die technische Vorarbeit, die er leistet, nichts zu tun. Es wird eine vollständige Ausgabe sein, in der nichts unterdrückt und nichts hinzugefügt werden kann, und das Glaubensbekenntnis wird die objektive philologische Leistung an keiner Stelle beeinflussen können.28

Im Sitzungsbericht der Preußischen Akademie der Wissenschaften vom 24. Januar 1929 wird daraufhin offiziell angekündigt: Die seit langem geplante Hamann-Ausgabe soll nunmehr als eine gemeinsame Unternehmung der Deutschen Commission der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Königsberger Gelehrten Gesellschaft zur Ausführung kommen. Es sind zwei Abteilungen geplant, deren erste (Schriften: vier Bände) unter der Leitung von Hrn. Universitätsprofessor Dr. Josef Nadler (Königsberg) und deren zweite (Briefe: sieben Bände) unter der Leitung von Hrn. Amtsgerichtsrat Arthur Warda (Königsberg) stehen soll. Ein zwölfter Band wird eine Darstellung von Hamanns geistesgeschichtlicher Stellung durch Hrn. Universitätsprofessor Dr. Rudolf Unger (Göttingen) und ein Gesamtregister enthalten. Der Redaktionsausschuß wird sich aus den HH. Petersen, Ranke (Königsberg) und Unger zusammensetzen. Mit der Ausarbeitung der Prolegomena ist Josef Nadler beschäftigt.29

Während Warda an dieser Konstruktion offenbar keinen Anstoß nahm, dauerte es nicht lange bis sich Nadler gegen den Redaktionsausschuss auflehnte. Bereits im Frühjahr 1929 forderte Nadler, dass er entweder in den Redaktionsausschuss aufgenommen werde – oder derselbe vollkommen entmachtet werden müsse.30 Angesichts der Vorarbeit, die Nadler zu diesem Zeitpunkt bereits geleistet hatte, wirkte die Drohung, so dass er im September 1929 in den Redaktionsausschuss aufgenommen wurde.31 Knapp ein Jahr später beantragte Nadler erfolgreich die

28 Petersen an Unger, 15. 8. 1928 (DLA, A: Petersen, 73.483/2). 29 Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1929), LXXIII. 30 Vgl. Ranke an Petersen, 12.4., 26.6. und 20. 8. 1929 (DLA, A: Petersen, 73.494/4, 5, 6). Unger hatte bereits in seinem Brief vom 29. 8. 1928 Bedenken, dass Nadler mit der Konstruktion einverstanden sein würde, geäußert: „Aber Nadler, der, wie ich ihn aus seinen literarischen Äußerungen und aus Schilderungen seiner Persönlichkeit kenne, wenig geneigt und geeignet sein dürfte, sich seine volle Aktionsfreiheit irgendwie beschränken zu lassen? Sollten hier Schwierigkeiten entstehen, so wäre ich natürlich auf Ihre und eventuell Rankes Vermittlung angewiesen. Ist denn Nadler prinzipiell mit der Konstituierung jenes Redaktionsausschusses und meiner Teilnahme daran einverstanden?“ (DLA, A: Petersen, 73.496/4). 31 Vgl. Petersen an Ranke, 29. 9. 1929 (DLA, A: Petersen, 73.482/4) sowie Petersen an Nadler, 28. 12. 1929 (DLA, A: Petersen, 73.481/1).

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gänzliche Auflösung des Ausschusses, so dass fortan die volle Verantwortung für die Herausgabe der Werke nominell bei ihm lag.32

Tod Arthur Wardas (1929) Am 25. Oktober 1929 starb unerwartet und noch nicht einmal 60jährig Arthur Warda.33 Neben zahlreichen Autographen und wertvollen Drucken befand sich in seinem Nachlass reichhaltiges Material zur Hamann-Briefausgabe: Unter anderem eine Kartei über sämtliche Briefe von und an Hamann, Abschriften von 857 Briefen in der Qualität von Satzvorlagen, ein durchkorrigiertes Exemplar von Gildemeisters Edition des Briefwechsels Hamanns mit Jacobi sowie reinschriftliche Abschriften in drei Foliobänden der übrigen Briefe.34 In seinem Testament hatte Warda verfügt, dass seine Abschriften der Briefe Hamanns „der Berliner Akademie um den Preis von 9000 RM zum Kaufe anzubieten und falls dieser Kauf abgelehnt wird, zu verbrennen“ seien.35 In einem umständlichen Gutachten erklärte die Königsberger Gelehrte Gesellschaft daraufhin jedoch das Testament für weitgehend ungültig, bzw. die Wardaschen Abschriften als die nicht-gemeinten und entschädigte die Witwe mit einem vergleichsweise geringen Betrag, der aber nicht Kaufpreis, sondern Zeichen der Anteilnahme für den schweren Verlust sei.36 Bereits „nach Ostern [d.i. der 20. April, JR] 1930“ werden Walther Ziesemer, dem neu bestimmten Herausgeber der Briefe, die Wardaschen Materialien übergeben.37

Vertrag über die Hamann-Ausgabe (1930) Inzwischen wurde es auch offiziell. Wirksam zum 1. Januar 1930, wurde ein Vertrag zwischen der Preußischen Akademie der Wissenschaft sowie der Königsberger Gelehrten Gesellschaft mit dem Insel-Verlag, in persona dessen Leiter Anton Kippenberg, ausgehandelt. Der Vertrag regelte, dass die Akademie das Honorar für den Herausgeber der Werke, die Gelehrte Gesellschaft jenes für den der Briefe (§ 2) und der Verlag die Kosten für die Drucklegung (§ 3) zu tragen 32 Vgl. Heimsoeth an Petersen, 18. 11. 1930 (DLA, A: Petersen, 73.487/2). 33 Vgl. hierzu den Nachruf auf Warda in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ostund Westpreußen 4/3 (1930), S. 1–3. 34 Vgl. Nadler, HA 165f. sowie Ranke an Petersen, 23. 11. 1929 (DLA, A: Petersen, 73.494/7). 35 Vgl. Ranke an Petersen, 23. 11. 1929 (DLA, A: Petersen, 73.494/7); Nadler lässt dieses pikante Detail in HA unerwähnt. 36 Vgl. ebd. und Nadler, HA 165. 37 Nadler, HA 166.

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habe. Jedes Jahr sollten parallel je ein Band der Werke und Briefe in einer Auflage von 1.200 Stück erscheinen (§ 1).38 Kaum war der Vertrag abgeschlossen, bahnte sich bereits ein Konflikt zwischen dem Herausgeber Nadler und dem Verleger Kippenberg an. Während Nadler in den letzten Zügen seiner Vorstudie Die Hamannausgabe. Vermächtnis – Bemühungen – Vollzug saß, kaufte Kippenberg für seine Sammlung von einem befreundeten Antiquar in München einen Sammelband mit Hamann-Schriften aus dem Vorbesitz Herders, der auch handschriftliche Annotationen Hamanns enthielt.39 Da Nadler selbst diesen Sammelband ebenfalls gerne erworben hätte, warf er – weitgehend unbegründet – zum Jahreswechsel 1930/31 Kippenberg in Briefen und in einem Bericht an die Preußische Akademie vor, dass dieser mit seinem „Sammleregoismus“ der Wissenschaft schade, indem er als Verleger die Arbeit an der Hamann-Ausgabe verhindere.40 Aufgrund der Vorwürfe, die erneut ausgiebige Vermittlungsarbeit Petersens erforderten, wäre es um ein Haar zur Auflösung des Vertrags gekommen.41

38 Eine Kopie des endgültigen Vertrags findet sich sowohl als Beilage zum Brief Sthamers an Petersen, 15. 4. 1930 (DLA, A: Petersen, 73.495/2) als auch in den Unterlagen der ehemaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, Nr. 19). 39 Heute befindet sich der Band, der erst 1923 in einem Kleiderschrank wiedergefunden wurde, im Goethe Museum Düsseldorf – Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung. Zur Überlieferungsgeschichte des Bandes vgl. Ernst Schulte Strathaus: Der Sokratische Philolog. Kreuz- und Querzüge eines Hamann-Sammelbandes. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg. Neue Folge. Bd. 1. Düsseldorf 1963, S. 139–149. 40 Vgl. zum Streit um den Herder-Sammelband ausführlich v. a. folgende Briefe: Nadler an Petersen, 15. 10. 1930 (DLA, A: Petersen, 73.493/6); Petersen an Nadler, 18. 10. 1930 (DLA, A: Petersen, 73.481/2); Kippenberg an Nadler, 20. 10. 1930 (DLA, A: Petersen, 73.506); Nadler an Petersen, 27. und 30. 12. 1930 (DLA, A: Petersen, 73.493/7 und 8); Bericht Nadlers an die PAW vom 30. 12. 1930 (DLA, A: Petersen, 73.501); Petersen an Kippenberg, 2. 1. 1931 (GSA 50/ 2606,2 j Neumann, Nr. 319); Kippenberg an Petersen, 5. 1. 1931 (GSA 50/2606,2 j DLA, A: Petersen, 73.489/2 j Neumann, Nr. 320); Petersen an Nadler, 6. 1. 1931 (DLA, A: Petersen, 73.481/3); Petersen an Kippenberg, 14. 1. 1931 (GSA 50/2606,2); Heimsoeth an Kippenberg, 14. 1. 1931 (GSA 50/1459) und Kippenberg an Heimsoeth und Petersen, 16. 1. 1931 (GSA 50/ 1459 und 50/2606,2). 41 Kippenberg an Petersen, 5. 1. 1931: „Am liebsten wäre es mir, wenn der Vertrag des InselVerlages mit der Akademie und der Königsberger Gesellschaft überhaupt gelöst würde, und da die Preussische Akademie, wie ich aus Deinem Brief ersehe, den gleichen Wunsch hat, so bitte ich Dich, die Lösung des Vertrages in die Wege zu leiten. Ich habe mehr zu tun, als mich mit Querulanten herumzuschlagen. Dafür wirst Du Verständnis haben.“ (DLA, A: Petersen, 73.489/2 j GSA 50/2606,2 j Neumann, Nr. 320). Da Kippenberg Nadler auch nach der Befriedung durch Petersen in Hinsicht auf eine Leihgabe misstraute, wurde der Sammelband letztlich als Kompromiss im Frühjahr 1931 von der Deutschen Bücherei in Leipzig auf Kosten der Königsberger Gelehrten Gesellschaft für Nadler vollständig abphotographiert (vgl. hierzu den Briefwechsel in GSA 50/1459). Die Photographien befinden sich heute in der ULB Münster, N. Hamann, Bd. 119 und 120.

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Der schwierige Weg der Drucklegung (1932–1941) Dank der Vorarbeiten von Warda konnte Ziesemer bereits im April 1932 die Satzvorlagen für den Druck von Band I des Briefwechsels an den Insel-Verlag schicken.42 Mit der Drucklegung wollte der Verlag jedoch noch auf den ersten Werkband warten, damit eine einheitliche Druckgestaltung abgesprochen werden konnte.43 Obwohl jährlich angekündigt,44 konnte Nadler diese erst vier Jahre später Ende 1936 an den Verlag geben.45 Grund für die Verspätung war laut Nadler vor allem seine Berufung an die Universität Wien im Jahr 1931 sowie die schiere Materialfülle, die er sich für die Weiterarbeit an der Ausgabe photographieren hatte lassen.46 Ein Rolle spielte dabei aber auch sein Wille „im Zusammenhang mit der nationalen Erneuerung Deutschlands eine grössere Arbeit [zu] übernehmen, die sein Lebenswerk der Schule des neuen Deutschlands fruchtbar machen soll.“, wie er in einem Rechtfertigungsschreiben an die Akademie Anfang 1934 erwähnt.47 Nachdem Ende November 1936 sowohl die Satzvorlage für den Druck des ersten Bandes der Briefe, als auch jene der Werke beim Insel-Verlag vorlagen, begann die schwierige Phase der Drucklegung. Zunächst wurden vom Verlag Probeseiten für die Werkausgabe erstellt.48 Petersen hatte den Verlagsleiter Kippenberg bereits im Dezember 1929 vor Vertragsabschluss auf Anraten Nadlers explizit darauf aufmerksam gemacht, dass bei einzelnen Schriften Hamanns das Satzbild ein sehr kompliziertes ist und dass er selbst eine Buntheit von Typen im Wechsel von Sperrdruck, Fettdruck, antiqua, 42 Vgl. Ziesemer an Kippenberg, 23. 4. 1932 sowie Insel-Verlag an Ziesemer, 30. 4. 1932 (GSA 50/ 3859). 43 Im Brief vom 7. 5. 1932 lässt das Verlags-Sekretariat Ziesemer mitteilen, dass Kippenberg „mit dem Satz des Briefwechsels noch warten möchte, bis erst das Manuskript des ersten Bandes der Werke abgeliefert ist. Herr Professor Nadler hat nämlich besondere Wünsche mit Bezug auf den Druck, die auch für den Briefband massgebend werden. Darüber muss aber erst Klarheit geschaffen werden.“ (GSA 50/3859). 44 Vgl. v. a. Nadler an Petersen, 30. 12. 1931 (DLA, A: Petersen, D62.348/1), Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1933), LXVII, Nadler an Petersen, 10. 1. 1934 (DLA, A: Petersen, 73.493/12), Nadler an Petersen, 31. 12. 1934 (DLA, A: Petersen, D62.348/2) und Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1936), LXVII. 45 Vgl. Insel-Verlag an PAW, 30. 11. 1936 (GSA 50/361) und Kippenberg an Petersen, 4. 12. 1936 (DLA, A: Peteresen, 73.489/2 j Neumann, Nr. 418). 46 Vgl. hierzu v. a. Nadler an Petersen, 31. 12. 1934 (DLA, A: Petersen, D62.348/2). 47 Nadler an Petersen, 10. 1. 1934 (DLA, A: Petersen, 73.493/12). Nadler spielt hier vornehmlich auf seine Arbeit an der vierten Auflage seiner Literaturgeschichte des deutschen Volkes, die 1938–1941 im Propyläen Verlag in Berlin erschienen ist, an. Vgl. hierzu ausführlich Irene Ranzmaier : Stamm und Landschaft. Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte. Berlin, New York 2008. 48 Vgl. Insel-Verlag an Ziesemer, 23. 1. 1937 (GSA 50/3859).

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Fraktur, petit und fremden Alphabeten wie hebräisch und griechisch gewählt hat, um die man bei der Wiedergabe nicht herum kommt.49

Kippenberg hatte auf Drängen Petersens diesbezüglich 1930 sogar einen separaten Passus dem Vertrag beifügen lassen.50 Aus angeblich ,ästhetischen‘, aber wohl vornehmlich ökonomischen Gründen wollte der Verlag nun bei der Satzgestaltung auf fast sämtliche typographische Auszeichnungen wie den mehrfachen Schriftwechsel und verschiedene Schriftgrößen wie sie in Hamanns Erstdrucken vorliegen, verzichten und einzig einzelne Wörter durch Sperrung hervorheben: Wir möchten dazu raten, auf eine Auszeichnung durch grössere Typen, wie sie zunächst vorgeschlagen wurde, zu Gunsten der gezeigten Form [d.i. einfacherer Sperrdruck; JR] zu verzichten, die weitaus ruhiger, schöner und lesbarer ist; das Einsetzen der grösseren Schrift, eine sehr schwierige Handarbeit, würde zudem der hohen Kosten wegen untragbar sein. Wie wir feststellten ist man übrigens bei der uns genannten wissenschaftlichen Ausgabe der Werke Jean Pauls [die ebenfalls von der Akademie herausgegeben wurde; JR] zu der gleichen Lösung gekommen.51

Nadler fand die Entscheidung des Verlags, auf die spezifische typographische Gestaltung der Hamannschen Drucke zu verzichten, fatal und schrieb in zwei Briefen vom Mai 1937 an Petersen: Ich bin in keiner Weise mit der Druckeinrichtung einverstanden aber ich kann sie nicht hindern. […] Ich werde an den Kopf des Apparates die Bemerkung stellen, dass ich keinen Einfluss auf die Druckeinrichtung hatte und dass ich jede Verantwortung dafür ablehne. Ich verhehle nicht, dass ich von allem Anfang mit der Wahl dieses Verlags nicht einverstanden war. Leider war ich nur Objekt und nicht Subjekt des Vertrages. Es gibt in Deutschland mehr als einen Verlag, der eine honorarfreie Hamannausgabe, die von mir gezeichnet ist, druckt. Da bei zwei verschiedenen Ausgaben niemals die gleichen Aufgaben vorliegen, kann auch nicht erwartet werden, dass eine Akademie alle von ihr veranstalteten Ausgaben uniformiert. Ich hatte gehofft, dass meine Prolegomena weni[gs]tens in dieser Richtung einen gewissen Eindruck machen würden.52 49 Petersen an Kippenberg, 21. 12. 1929 (DLA, A: Petersen, 73.480/1). 50 Kippenberg an Petersen, 23. 12. 1929: „Wir bestätigen Ihnen hierdurch, dass die Druckgestaltung der Hamann-Ausgabe seinerzeit im Einvernehmen mit den herausgebenden Gesellschaften bestimmt werden wird.“ (DLA, A: Petersen, 73.489/1) sowie Petersen an Nadler, 28. 12. 1929: „Professor Kippenberg hat […] eine beruhigende Erklärung abgegeben, dass die Druckgestalt der Ausgabe in Einvernehmen mit den beiden herausgebenden Gesellschaften bestimmt wird. Diese Erklärung ist rechtsgültig und kann dem Vertrag beigefügt werden. Kippenberg ist vorher auf alle Schwierigkeiten dieser Druckform aufmerksam gemacht worden.“ (DLA, A: Petersen, 73.481/1). 51 Insel-Verlag an Ziesemer, 23. 1. 1937 (GSA 50/3859). 52 Nadler an Petersen, 19. 5. 1937 (DLA, A: Petersen, 73.493/14).

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und weiter : Der Inselverlag wird also, falls er nicht neuen Vorwand zu passiver Resistenz findet, das machen, was er seine Schönheit nennt, nämlich einen kahlen und billigen Abdruck, für den ihm viel einfacher Herr Karl Widmaier[53] hätte nach Roth ein Ms. herrichten können. Den Aufwand, den ich vertan habe, hätte ich mir sparen können. Niemand weiss [sic!], welche Barmittel und welche augenmordende Arbeit ich in dieses Unternehmen gesteckt habe und darf wohl ein Urteil über dieses Druckbild haben, das mit einem albernen und banalen Sperrsatz die minutiösen und durchdachten Druckauszeichnungen Hamanns ,wieder‘geben will und das dem Leser die von Hamann mit aller Berechnung komponierten Titelbilder unterschlägt. Diese Erkenntnis hätte Herr Kippenberg billiger haben können. Dazu hätte er sich nicht eigens den Herderschen Sammelband erwerben müssen. Doch Schluss damit. Die Ausgabe mag äusserlich aussehen wie sie will, ich werde mich zu ihr nicht bekennen und meinen Namen nur unter Apparat und Anmerkungen setzen. Eines aber möchte ich noch in aller Deutlichkeit sagen. Die feldwebelmässigen [sic!] Erlässe des Verlags an mich lösen bei mir keineswegs die Reaktion des Hackenzusammenschlagens aus. Es muss doch jemand im Verlag sein, der mir so schreibt, wie Verleger auch an ihnen unsympathische Verfasser zu schreiben pflegen.54

Trotz Nadlers Missmut über die Satzgestaltung55 begann die Drucklegung des je ersten Bands der Werke und Briefe im Juni 1937.56 Kurz darauf kollationierte Ziesemer bereits die Druckfahnen von Band I der Briefe noch einmal vollständig mit den Originalen in Königsberg,57 und im Sitzungsbericht der PAW wird das

53 Ebenfalls im Insel-Verlag auf Grundlage der Roth-Ausgabe erschienen: Schriften J. G. Hamanns. Ausgewählt und hg. von Karl Widmaier (Leipzig 1921). 54 Nadler an Petersen, 28. 5. 1937 (DLA, A: Petersen, 73.493/15). 55 Nadlers hier klar artikulierte Einsicht in die Notwendigkeit der Wiedergabe der spezifischen Druckbildlichkeit der Schriften Hamanns, steht im diametralen Gegensatz zur tatsächlichen Praxis in den von ihm letztlich 1949–57 herausgegebenen Sämtlichen Werken beim Herder Verlag in Wien (vgl. Anm. 83). Stefan Willer hat auf diese Widersprüchlichkeit (in Bezug auf andere Äußerungen Nadlers) bereits hingewiesen in ders: „Ein geschickter Gebrauch dieser masoretischen Zeichen“. Philologische Schriftbildlichkeit am Beispiel Johann Georg Hamanns. In: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. Hg. von Gernot Gruber, Werner Kogge und Sybille Krämer. München 2005, S. 357–373: „Hinweise wie dieser, die die ,Buntheit‘ und den Detailreichtum des Druckbildes betreffen, finden sich in Nadlers Kommentaren immer wieder. Umso auffälliger wird der Abstand zwischen der von Hamann veranstalteten Diversität der Erstdrucke und der Homogenität der Nadler-Ausgabe“ (363f.). Eine der wenigen Arbeiten, die sich mit der typographischen Gestaltung der Hamannschen Drucke auseinandersetzt, ist die (leider nur schwer zugängliche) Dissertation von Ilse Johanna Meyer: Provokationen im Druckbild Johann Georg Hamanns (1730–1788). Ohio State University 1978 (Mikrofilm 1979). 56 Kippenberg an Petersen und Ziesemer, 7. 6. 1937 (DLA, A: Petersen, 73.489/6 j Neumann, Nr. 422 und GSA 50/3859). 57 Ziesemer an Insel-Verlag, 22.7. und 27. 9. 1937 (GSA 50/3859).

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Erscheinen der beiden Bände für Ostern 1938 angekündigt.58 In den kommenden zweieinhalb Jahren vertröstete Nadler den Verlag und die Akademie immer wieder in Bezug auf die noch ausstehende Korrektur des Werkbandes59 und verwies dabei wiederholentlich auf seine Arbeit an der vierten Auflage seiner Literaturgeschichte, der er „alle anderen Dinge unterordnen muss“.60 Während der erste Werkband unkorrigiert im Satz stand, wurden von 1937 bis 193961 die ersten beiden Bände der Briefe von Ziesemer vollständig korrigiert, in der vereinbarten Auflage von 1.200 Exemplaren ausgedruckt und vorerst eingelagert. Denn der Erscheinungstermin der Ausgabe wurde von Jahr zu Jahr verschoben: Einen guten Eindruck von den Verzögerungen bekommt man durch die Titelblätter, derer ich drei verschiedene aus den Jahren 1938, 1939 und 1940 gefunden habe.

58 Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1938), LXVIII. 59 Vgl. Nadler an Petersen, 1. 1. 1939 (DLA, A: Petersen, 66.1069); Nadler an Petersen, 31. 5. 1939 (DLA, A: Petersen, 73.493/16); Ziesemer an Petersen, 14. 3. 1940 (DLA, A: Petersen, 66.1162); Nadler an Petersen, 30. 5. 1940 (DLA, A: Petersen, 73.493/17) sowie die inständige Mahnung und Bitte Petersens an Nadler, 3. 2. 1941: „Es handelt sich um die nicht länger tragbare Stockung der Hamann-Ausgabe. Von der Abteilung der Briefe sind drei Bände fertig, die aber der Verleger nicht herausgeben will, ohne wenigstens einen Band der Werke mitzugeben. Dieser eine Band ist seit zwei Jahren abgesetzt und in erster Korrektur von Ihnen bereits gelesen worden. Es fehlt also nur die zweite Korrektur mit dem Imprimat[u]r. Die Angelegenheit hat schon zu vielen unerfreulichen Korrespondenzen geführt, und ich bin überzeugt, daß Sie selbst froh sein würden, wenn die grosse Arbeit, die Sie geleistet haben, ans Licht treten könnte. Als wir das letzte Mal davon sprachen, erklärten Sie, gleich nach Fertigstellung des vierten Bandes Ihrer Literaturgeschichte, die im Herbst zu erwarten sei, diese überreife Last abstossen zu wollen. Ich begreife die inneren und äusseren Schwierigkeiten, die vor Kriegsende dem Abschluß des grossen Unternehmens entgegenstehen und halte es für durchaus möglich, daß die dadurch verursachte Verzögerung sich noch weiter hinschleppt. Für den einen Hamann-Band aber gelten diese Gründe nicht. Hier ist es vielmehr so, daß gerade durch die Kriegsverhältnisse der Verlag gezwungen ist, die in dem Satz steckenden Bleivorräte wieder einschmelzen zu lassen und daß es unzuläßig ist, sie bei dem Materialmangel jahrelang der weiteren Verwendung zu entziehen, sodaß die Gefahr besteht, daß der Verleger die Sache aufgibt. – Es sind, wie ich verstehe, außergewöhnliche Umstände, die eine, wie Sie wiederum zugeben müßen, ganz aussergewöhnliche Verschleppung verschuldet haben. Es wäre aber nicht[s] Aussergewöhnliches, wenn Sie bei den vielerlei Verpflichtungen, die den Fluß ihrer Arbeit behindern, nun auch einmal eine verhältnismäßig kleine Pause zur Erledigung dieser Korrektur einrichten würden.“ (DLA, A: Petersen, 73.481/5) und Ziesemer an Petersen, 6. 7. 1941, darin Zitat aus Brief Nadlers an Ziesemer vom 1. 7. 1941 (DLA, A: Petersen, 73.497/11). 60 Nadler an Petersen, 1. 1. 1939 (DLA, A: Petersen, 66.1069); vgl. entsprechend auch Nadler an Petersen, 30. 5. 1940 (DLA, A: Petersen, 73.493/17). 61 Das Druckmanuskript für Band II der Briefe wurde am 10. März 1938 von Ziesemer an den Insel-Verlag geschickt (GSA 50/3859).

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Abb. 1 und 2: Abdruck mit freundlicher Genehmigung des DLA Marbach (Sign. A: 73.489/10) sowie Anton von Heslers, Rimsting (Urheberrechtsinhaber Anton Kippenbergs).

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Abb. 3: Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Institut für Germanistik II (Sign: AF hm 1 c 5).

Wahl Nadlers zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1939–1943) Die interne Wahl Nadlers zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Frühjahr 193962 schien zunächst positiven Einfluss auf die Arbeit an der Ausgabe zu haben, denn Nadler versicherte in einem Brief an Petersen, der ihn zuvor informell über die Wahl informiert hatte, Ende Mai 1939: „Auf jeden Fall wird mir der Akt ein Antrieb sein, die Hamannausgabe mit allen Kräften so gut ich es vermag und so rasch es möglich ist, fertig zu machen.“63 Letztlich stellte sich das Wahlverfahren aber geradezu als

62 Am 16. bzw. 23. Februar 1939 stellten Petersen, Alois Brandl und Ernst Gamillscheg den Antrag auf Wahl Josef Nadlers zum auswärtigen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die Wahl erfolgte am 27. April mit absoluter Mehrheit in der Sitzung der philosophisch-historischen Klasse, am 4. Mai 1939 wurde dieses Ergebnis der GesamtAkademie vorgetragen (ABBAW II–III, 212). 63 Nadler an Petersen, 31. 5. 1939 (DLA, A: Petersen, 73.493/16).

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Katastrophe heraus, denn die Wahl wurde kurz darauf aus politischen Gründen wieder zurückgenommen.64 Noch vor der notwendigen Bestätigung der Wahl durch das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung kamen nämlich Hermann Grapow, dem kommissarischen Sekretär der historisch-philosophischen Klasse, Gerüchte zu Ohr,65 dass Josef Nadler der Katholischen Aktion angehöre und damit eine Wahl aus politischen Gründen verhindert werden müsse. Grapow holte daraufhin Gutachten zu Nadlers politischer Gesinnung und Verhalten bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem NS-Dozentenbund und der Gauleitung der NSDAP in Wien ein.66 Sowohl der Präsident der Österreichischen Akademie als auch die Gauleitung der NSDAP Wien hatten ungeachtet der katholischen Konfession Nadlers keine Zweifel an dessen deutschnationaler Gesinnung und befürworteten seine Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Akademie. Ganz anders fiel allerdings das Gutachten des Reichsdozentenführers Gustav Borger aus, der es mit Verweis auf den Gaudozentenführer in Wien als untragbar betrachtet, Prof. Dr. Josef Nadler zum korrespondierenden Mitglied der Akademie zu verwenden. Das dortige [d.i. Wiener ; JR] Gauschulungsamt ist ebenfalls aus Anlaß der Frage der Verwendung Nadlers bei volkstümlichen Universitäts-Kursen der Meinung, daß der Standpunkt der Partei gegenüber dem Genannten und seiner Verwendung für Vorträge der gleiche scharf ablehnende geblieben ist, weil der Einsatz derart eindeutig weltanschaulich katholisch bestimmter Persönlichkeiten für die Partei unmöglich ist. Dr. Nadler, o. Prof. der Literaturgeschichte (Germanistik) an der Wiener Universität, war Angehöriger der C.V. [d.i. der Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen; JR], Mitglied der katholischen Aktion und unbezweifelbar stets auf der katholischen Linie, unbeschadet der Bekundung einer gesamtdeutschen Grundeinstellung.67

64 Aufmerksam gemacht auf diesen Zusammenhang hat erstmals Holger Dainat: Die paradigmatische Rolle der Germanistik im Bereich der Philologien. Die Deutsche Kommission im disziplinären Bereich. In: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1914– 1945. Hg. von Wolfram Fischer. Berlin 2000, S. 167–196, hier S. 179, Fußnote 48. 65 Diese wurden ihm von Ludwig Bieberbach, dem Sekretär der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse übermittelt, vgl. den Bericht vom 20. 7. 1939 (ABBAW II–III, 212, fol. 15). 66 Hermann Grapow an Heinrich Ritter von Srbik (Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), 25. 5. 1939 und dessen Antwort vom 27. 5. 1939 (ABBAW II–III, 212, fol. 7–9); Grapow an Erhardt Landt (Führer des NS-Dozentenbunds und Leiter der Dozentenschaft der Universität Berlin), 5. 6. 1939 und dessen Antwort vom 12. 7. 1939 (ABBAW II–III, 212, fol. 10. 13–14); Grapow an Gauleitung der NSDAP Wien, 26. 5. 1939 und deren Antwort vom 26. 6. 1939 (ABBAW II–III, 212, fol. 11–12). 67 Gustav Borger (NSD-Dozentenbund) an Landt, 6. 7. 1939 (ABBAW II–III, 212, fol. 14; Abschrift).

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Angesichts dieser widersprüchlichen Gutachten wurde die Wahl Nadlers zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1939/40 abgebrochen. Da es sich um einen akademieinternen Vorgang gehandelt hatte und Nadler offiziell keine Kenntnis von dem aufgenommenen Wahlverfahren haben durfte, wurde Nadler nicht über den Abbruch desselben informiert. Nachdem im Herbst 1941 immer noch keine Bestätigung der Wahl bei Nadler eingetroffen war und Petersen im August verstorben war, wandte Nadler sich mit einer Beschwerde zunächst an das Unterrichtsministerium, dann im März 1942 an die Preußische Akademie der Wissenschaften.68 Als er realisierte, dass der Wahlvorgang aus politischen Gründen abgebrochen worden war, schrieb er am 7. April 1942 an die Preußische Akademie der Wissenschaften: Ich löse die Verbindung meiner Hamannausgabe mit der Akademie. Die 500,– RM, die ich seinerzeit zur Vorbereitung der Ausgabe bekommen habe – ein Bruchteil der nötigen Aufwendungen aus meinen eigenen Mitteln – stelle ich der Akademie zurück. Sollten sie bis zum 20. April darüber nicht zu ihren Gunsten verfügt haben, so übermittle ich den Betrag dem Deutschen Roten Kreuz. Es wird mein Stolz sein, die Hamannausgabe unter Verzicht auf jede Arbeitsentschädigung und aus meinen persönlichen Geldmitteln zu Ende zu führen.69

Wenige Tage später, am 16. April leitete Nadler die Überweisung des bereits gezahlten Honorars von 500 RM70 in die Wege.71 Hierauf antwortete der Vizepräsident der PAW Ernst Heymann am 13. Mai 1942: Was aber die Hamann-Ausgabe anlangt, so liegt die Sache so, dass Sie keinerlei Grund haben, einseitig aus dem Vertragsverhältnis über die Hamann-Ausgabe, das Sie mit uns und der Königsberger Gelehrtengesellschaft haben, zurücktreten zu können. Von Seiten beider Gesellschaften und insbesondere auch der Berliner Akademie haben Sie nur Freundliches erfahren. Sie haben keinen Grund, der für einen Rücktritt von dem Vertrage genügte, was Ihnen jeder Jurist bestätigen wird. Vielmehr warten wir schon jetzt 12 Jahre auf den Eingang Ihrer Arbeit und Sie haben ihn wiederholt freundlichst in Aussicht gestellt, zuletzt noch in einem Schreiben im Jahre 1941, auf welches ausdrücklich im Bericht der Deutschen Kommission im Jahrbuch 1941 Bezug genommen ist, unter Hinweis darauf, dass Sie nach der damals erreichten Fertigstellung des 4. Bandes der grossen Literaturgeschichte nun die Hand zur Arbeit frei bekommen hatten. Die Deutsche Kommission und insbesondere unser allzu früh verstorbenes Mitglied, Professor Petersen, haben sich über Ihre Nachricht damals besonders gefreut. Trotzdem war Anfang 1942 immer noch nichts in der Richtung der zugesagten Erle68 Vgl. die Korrespondenz Nadlers mit der PAW vom März/April 1942 (ABBAW II–III, 212, fol. 19–27). 69 Ebd., fol. 24. 70 Aus den Akten der Deutschen Kommission gehen gezahlte Honorraten in Höhe von insgesamt 625 RM hervor (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, Nr. 19 und II–VIII, 24). 71 Vgl. ABBAW II–III, 212, fol. 26.

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digung an uns von Ihrer Seite gelangt. Herr Petersen sprach aber damals kurz vor seinem Tode die Hoffnung aus, dass Sie nunmehr den bereits gesetzten Band in Korrektur feststellen und weiteres Manuskript liefern würden. Ich darf darauf hinweisen, dass Sie nicht nur uns gegenüber, sondern auch dem Verlag und der Königsberger Gesellschaft gegenüber und namentlich auch Herrn Ziesemer gegenüber Rechtspflichten haben, auch wenn nicht alles in förmlichen Verträgen niedergelegt ist. Es genügt hier vollkommen die mündliche und briefliche Vereinbarung. Auch darüber wird Sie jeder Jurist Ihres Vertrauens ohne weiteres unterrichten können. Die Verlagsbuchhandlung hat Ihretwegen den bereits gesetzten Band nun schon mehrere Jahre stehen lassen und drängt auf Erledigung, weil sie sonst den Satz auseinander zu nehmen genötigt sein würde. […] Es ist auch nicht so, dass Sie etwa persönlich ausser Stande wären, die begonnene Arbeit weiterzuführen, da Sie ja sogar die Absicht aussprechen, dass es Ihr Stolz sein wird, die Hamann-Ausgabe ohne uns zu Ende zu führen.72

In ähnlichem Ton setzt sich der Briefwechsel Nadlers mit der Akademie 1942 fort, bis Nadler am 3. November 1942 die Korrespondenz zu der causa einseitig beendet: Ich möchte mich meinerseits nunmehr jeder Aeusserung bezüglich der Rechtslage, was die Hamannausgabe anlangt, enthalten. Nur soviel möchte ich zur Vermeidung aller Illusionen hinzufügen: es gibt keine Macht, die mich zwingen würde, den Namen der Akademie auf das Titelblatt meiner Hamannausgabe zu setzen, die doch ganz allein meine Arbeit und mein Eigentum ist.73

Im Nachwort zu Band V seiner Werk-Ausgabe von 1953 resümiert Nadler folgendermaßen zu den Vorgängen der 1930/40er-Jahre: Die Ausgabe ist in den Jahren der schwierigsten Buchverbindungen mit Deutschland gemacht worden. Und welche Fährlichkeiten waren zu bestehen. Sie sind ihr alle zum Guten ausgeschlagen. Während des Krieges, da ein Band bereits druckreif gesetzt war, mußte ich das Unternehmen der Preußischen Akademie der Wissenschaften entziehen. Die Gründe für meine Haltung tun hier nichts zur Sache. Ich führte das Unternehmen auf eigene Faust weiter. Hätte ich anders gehandelt, so wären mir 1945 aus verlagsrechtlichen Gründen die Hände gebunden gewesen. So war ich frei und konnte vollenden, was im andern Falle ein hoffnungsloser Torso hätte bleiben müssen.74

72 Ernst Heymann an Nadler, 13. 5. 1942 (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, II–VIII, 37, fol. 4–8). 73 Nadler an Heymann, 3. 11. 1942 (ABBAW: ASt. Dt. Kommission, II–VIII, 37, fol. 28). Eine „Erklärung“ vom 11. Februar 1943, in der die Akademie erklärt, dass sie Nadler „wissenschaftlich durchaus hochschätzt“ und Nadler sich im Gegenzug für seine Vorwürfe entschuldigt sowie zusichert, „dass er die Arbeit an der Hamann-Ausgabe fortsetzen und insbesondere den bereits gesetzten und zum Teil sogar ausgedruckten Band alsbald fertigstellen wird“, wurde von Nadler nicht unterschrieben (ABBAW II–III, 212, fol. 32). 74 Josef Nadler : Nachwort. In: N V, 451.

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Druck der Brief-Bände wird fortgesetzt (1939–1942) Die Situation schien zwischen 1939–1942 so festgefahren, dass selbst Akademie und Königsberger Gelehrte Gesellschaft nicht mehr an die Korrektur der Druckfahnen durch Nadler glaubten und den Insel-Verlag, 1941/42 gerade mit der Drucklegung der Bände III und IV der Briefe beschäftigt,75 um eine Entkoppelung des Erscheinens der Briefbände von den Werkbänden baten.76 Kippenberg ging mit Verweis auf die vertraglichen Regelungen von 1930 jedoch nicht darauf ein77 und druckte die Briefbände weiterhin für das Lager. Während der Satz des ersten Werkbandes trotz der zunehmenden Materialverknappung stehen blieb und auf Korrekturen und das Imprimatur Nadlers wartete, übersandte Ziesemer 1941 und Ende 1942 die restlichen Satzvorlagen für den Druck der Bände V, VI und VII an den Verlag.78 Der Satz der letzten drei Bände wurde vom Verlag jedoch nicht mehr in Angriff genommen.

Zerstörung des Verlagsgebäudes des Insel-Verlags (1943/44) In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurde das Verlagsgebäude des Insel-Verlags beim Luftangriff der Alliierten auf das Graphische Viertel Leipzigs vollständig zerstört. Im Januar 1944 schrieb Kippenberg an Ziesemer diesbezüglich:

75 Die Satzvorlagen gingen für Band III vermutlich Ende 1939 und für Band IV 1940 an den Insel-Verlag, vgl. Ziesemer an Petersen, 20. 3. 1940 (DLA, A: Petersen, 73.497/8). 76 Ernst Forsthoff (Königsberger Gelehrte Gesellschaft) an Kippenberg, 9. 12. 1940: „Die Mitteilung, die Herr Ziesemer an mich gelangen liess, dass sich der Druck des dritten Briefbandes der Hamann-Ausgabe dem Abschluss nähere, gibt mir Veranlassung, mit einer Bitte namens der Gelehrten Gesellschaft an Sie heranzutreten. Von Herrn Ziesemer bin ich dahin berichtet, dass Sie die Herausgabe der Briefbände erst vornehmen wollen, wenn mindestens auch ein Schriftenband auslieferungsbereit ist. Die Bitte der Gelehrten Gesellschaft geht dahin, von einer zeitlichen Verknüpfung zwischen Briefedition und Schriftenedition absehen zu wollen und mindestens die drei ersten Briefbände nach ihrer Fertigstellung, also wohl zum Frühjahr 1941, erscheinen zu lassen.“ (DLA, A: Petersen, 73.504). 77 Forsthoff an Petersen, 22. 12. 1940: „Herr Kippenberg erklärt mir, wenn er dem [d.i. der Entkopplung von Brief- und Werkedition; JR] zustimme, so begebe er sich des einzigen Mittels einer moralischen Einwirkung auf Herrn Nadler, das zur Zeit noch bestehe und er sehe dann keine Aussicht mehr, dass die Textedition in absehbarer Zeit einmal ihren Fortgang nehme.“ (DLA, A: Petersen, 73.486/1). 78 Band V am 27. 6. 1941, Band VI am 1. 12. 1942 und Band VII am 4. 12. 1942, vgl. Ziesemer an Kippenberg, 21. 1. 1944. Entsprechende Briefe und Eingangsvermerke im Insel-Verlag fehlen, da die gesamten sich im Verlagsgebäude befindlichen Akten, v. a. die Korrespondenz zwischen Frühjahr 1939 und Ende 1943, bei der Zerstörung des Verlagsgebäudes in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wohl verlorengegangen sind.

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Janina Reibold

Unser Verlagshaus ist in der Leipziger Schreckensnacht völlig vernichtet worden und damit auch die meisten Vorräte unserer Verlagswerke, die in Buchdruckereien und Buchbindereien lagerten. Unser Privathaus ist erhalten geblieben und ebenso auch meine Sammlung, die sich nunmehr, soweit man davon überhaupt heute sprechen kann, in Sicherheit befindet. Vom Insel-Verlag habe ich das Wesentlichste, vor allem alles Geschichtliche des Verlags rechtzeitig in Sicherheit gebracht, darunter auch die Manuskripte zu Band 5 bis 7 der Hamann-Briefe. Aber auch sonst hat über Hamann ein guter Stern gestanden insofern, als die Buchbinderei, in der die Vorräte der ersten Bände lagen, sich unter den wenigen befindet, die erhalten geblieben sind. Damit ist – freilich wie lange noch? – Ihre gesamte Hamannarbeit bewahrt geblieben. Ihnen dies mitteilen zu können ist mir eine besondere Freude. Ob der Satz des ersten Werkbandes, den Nadler bearbeitet hat, erhalten ist, konnten wir noch nicht feststellen. Da die Buchdruckerei, bei der der Satz stand, keinen Totalschaden erlitten hat, so besteht die Möglichkeit, dass auch der Satz noch steht.79

Zwar wurden die eingelagerten Vorräte der ersten beiden Briefbände bei einem weiteren Luftangriff am 20. Februar 1944 doch noch zerstört, erhalten blieben jedoch einzelne Abzüge der Druckbogen der Briefbände I bis IV sowie die Satzvorlagen für die Bände V bis VII. Diese Materialien wurden nach Ziesemers Tod 1954 in Marburg80 Arthur Henkel, dem mittlerweile dritten Herausgeber der Briefe Hamanns, übergeben.81

Nachlese (1945 folgende) Unschätzbare Bedeutung haben diese Materialien leider nun dadurch gewonnen, dass sämtliche Briefe Hamanns, die sich in Königsberg befanden, – es handelt sich um insgesamt 658 Stück – seit der Einnahme Königsbergs durch die Rote Armee Anfang 1945 ebenso wie der restliche Hamann-Nachlass als verschollen gelten. Nadlers Übersiedlung nach Wien, so negativ sie sich auch auf die Fertigstellung der Hamann-Ausgabe in den 1930/40er Jahren ausgewirkt hat, ist – hier vielleicht erneut „Ironie des Schicksals“ – gleichzeitig das Beste, was der Hamann-Forschung passieren konnte. Anhand der Photographien, die Nadler 79 Kippenberg an Ziesemer, 27. 1. 1944 (GSA 50/3859). 80 Ziesemer floh im Januar 1945 beim Einmarsch der Roten Armee aus Königsberg, vgl. hierzu seine Postkarte an Nadler vom 20. 2. 1945: „Lieber Freund, / Wie mag es Dir und den Deinen ergehen? Wir sind am 23. I als schon keine Eisenbahn mehr verkehrte, mit einem LKWdurch Zufall aus Kbg. herausgekommen u. nach 3 Wochen mühseligen Fahrens, Irrens, Wartens, Hungerns hier in Mbg. [Marburg; JR] angelangt, wo wir von M. [Walther Mitzka; JR] freundlichst aufgenommen wurden. Wir haben alles verloren, auch meine Bibliothek, aber wir haben uns noch und sind dafür dankbar. / Herzliche Grüße Euch allen! / Dein W. Ziesemer / u. Frau“ (ÖNB 411/64.10). 81 Diese Angaben decken sich auch mit Nadlers „Abschlussbericht“: Ders.: Fliegender Brief. Rückblick und Abschied. In: N VI, 423–431.

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sich anfertigen ließ, lässt sich der Königsberger Nachlass, die Werke betreffend, heute recht gut rekonstruieren.82 Da Ziesemer in Königsberg geblieben war, bestand für ihn im Gegensatz zu Nadler nicht die Notwendigkeit, sich Reproduktionen der Briefe Hamanns anfertigen zu lassen, konnte er doch jederzeit an den Originalen arbeiten. So bleiben uns von jenen 658 Briefen, die in Königsberg waren, jeweils nur zweitbeste Quellen. Für die Jahre bis 1782, also die Bände I bis IV, haben wir als einzige Quelle der Königsberger-Briefe noch die Druckbogen aus den Jahren 1937 bis 1943. Für die Briefe aus den Jahren 1783 bis 1788 die Satzvorlagen für die Bände V bis VII, die Ziesemer 1941/42 an den Verlag geschickt hatte.

Realisierung der Hamann-Ausgabe (1949–1979) Während Nadler nach dem zweiten Weltkrieg seine sechsbändige Werkausgabe Hamanns von 1949 bis 1957 wegen der Divergenzen mit dem Insel-Verlag und der Preußischen Akademie der Wissenschaften bei der Thomas-Morus-Presse im Herder-Verlag in Wien veröffentlichte,83 ließ der Insel-Verlag von 1955 bis 1957 jetzt in Wiesbaden, unter Ziesemers und Henkels gemeinsamer Herausgeberschaft die Bände I bis III der Briefausgabe seiten- und zeilenidentisch anhand der wenigen überlieferten Druckbogen neu setzen – und diesmal auch ausliefern.84 Band IVerschien als erster Band unter alleiniger Herausgeberschaft von Henkel 1959.85 Im Gegensatz zu den vorherigen drei Bänden ist Band IV kein bloßer Nachdruck der Druckbogen Ziesemers aus den Jahren 1940–43. Zwar ist ein großer Teil der Briefe ebenfalls seiten- und zeilengetreu zur Vorlage, der Text wurde von Henkel aber nochmals „kritisch […] bearbeit[et]“ und „eine genauere chronologische Ordnung der Briefe“ hergestellt, wie er in seiner Einleitung schreibt.86 Der Textbestand ist freilich identisch. Insgesamt 499 der 681 Briefe aus den Hamann-Briefbänden I bis IV gelten seit 1945 als verschollen. Für diese 499 Briefe sind die Druckfahnen aus den 1930/40Jahren die einzige erhaltene Quelle. Da Henkel in den Nachweisen aller sieben Briefbände jeweils noch die bei Ziesemer genannten, seinerzeit aber schon 82 Die ca. 6.000 Photographien befinden sich heute in der ULB Münster. Ein Findbuch zum Hamann-Nachlass in der ULB Münster ist dem Faksimiledruck von Nadler, HA durch Sabine Kinder (Bern, Frankfurt, Las Vegas 1978) beigegeben. 83 Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 6 Bde. Hg. von Josef Nadler. Wien 1949–1957 [= N]. 84 Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bde. I–III. Hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Frankfurt a. M. 1955, 1956, 1957. 85 Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bd. IV. Hg. von Arthur Henkel. Frankfurt a. M. 1959. 86 Ebd., XXIII.

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verschollenen Königsberger Quellen, anführt, ist für den Leser leider zunächst nicht ersichtlich, dass für die Erstellung der Ausgabe von Henkel bereits nicht mehr die Originalbriefe verwendet werden konnten. Entschuldigt wird diese Intransparenz der Quellen dadurch, dass Henkel nicht sicher wusste, ob die Originalbriefe tatsächlich zerstört wurden. Die wenigen überlieferten Exemplare der ursprünglichen Druckfahnen der Bände I, II und IV befinden sich heute in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, in der Präsenzbibliothek des Germanistischen Seminars der Universität Hamburg, in der Beinecke Library in Yale, im Herder-Institut in Marburg, in Privatbesitz sowie im Hamann-Nachlass Henkels in Heidelberg. Von Band III konnte ich bisher leider noch kein überliefertes Exemplar ausfindig machen, 1957 hat es ein solches jedoch definitiv noch gegeben.

Wardas Abschriften Die letzten drei Bände der Briefausgabe erschienen, herausgegeben von Arthur Henkel: 1965, 1975 und 1979.87 Henkel erstellte die Bände auf der Grundlage der Satzvorlagen der Bände V bis VII, die Ziesemer 1941/42 an den Verlag geschickt hatte und die Kippenberg kurz vor den Luftangriffen auf Leipzig noch aus dem Verlagsgebäude gerettet hatte.88 Kopien derselben befinden sich heute im Nachlass Arthur Henkels. In drei Archivboxen finden sich durchnumerierte lose Abschriften in der Qualität von Satzvorlagen: etwa ein Drittel als handschriftliche Abschriften Arthur Wardas von 1901–1929, die restlichen zwei Drittel als Typoskripte, die Ziesemer in den 1930er-Jahren angefertigt hat. Die Typoskripte sind bis auf wenige Ausnahmen Abschriften aus dem Briefwechsel Hamanns mit Jacobi, den Warda als einziges Großkonvolut vor seinem Tod nicht mehr abschreiben konnte. Glücklicherweise haben diese Briefe in der UB NürnbergErlangen den Zweiten Weltkrieg überstanden, so dass die Typoskripte Ziesemers hauptsächlich editionsgeschichtliche, keine quellenmäßige Bedeutung haben. Anders liegt die Sache bei den handschriftlichen Abschriften Wardas. Für mindestens 159 Briefe aus den Bänden V bis VII sind die handschriftlichen Abschriften Wardas die einzige Quelle. Besser wäre es natürlich, hätten wir noch die Originalbriefe. Die Qualität und Genauigkeit der Transkription der Wardaschen Abschriften ist indes nicht zu verachten. Von Haus aus war Warda Jurist, nicht Philologe und so sind auch seine Abschriften von geradezu juristischer Genauigkeit: Unterschiedliche Schreiberhände sind mit verschiedenfarbiger 87 Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bde. V–VII. Hg. von Arthur Henkel. Frankfurt a. M. 1965, 1975, 1979. 88 Vgl. Anm. 79.

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Tinte kenntlich gemacht, Streichungen und Überschreibungen werden in Umschrift transkribiert, Geminationen wiedergegeben statt stillschweigend aufgelöst, die Anordnung der Textteile ist zum Teil präziser als in der gedruckten Ausgabe und auch scheinbar Unbedeutendes wie etwa eine Rechnung, die Johann Friedrich Hartknoch nachträglich auf die Adressseite des Briefes von Hamann an ihn vom 6. Februar 1786 notiert hat, wird von ihm wiedergegeben.

Abb. 4: Ausschnitt der Abschrift Arthur Wardas, Henkels Hamann-Nachlass, Heidelberg: 929,3.

Die Rechnung steht vielleicht im Zusammenhang mit der geplanten Gesamtausgabe seiner eigenen Werke, die Hamann mit Hartknoch geplant hatte und um die es in diesem Brief Hamanns unter anderem geht. Diese Rechnungsnotiz Hartknochs hat es nicht in die Druckausgabe geschafft,89 daher auch die Durchstreichung mit Blei. Mit Hamanns gescheitertem Versuch eine eigene Edition seiner Schriften anzustellen, wären wir somit wieder am Anfang der merkwürdigen Editionsgeschichte der Werke und Briefe Hamanns.

89 Vgl. ZH VI, 265.

Chiara Colombo (Mailand)

Die Hamann-Übersetzungen in Italien

Außerhalb der deutschsprachigen Länder darf man von Italien behaupten, dass es mit Hamann schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Wahlverwandtschaft pflegt. In der Einleitung zum Essay La Metacritica dello Hamann contro la critica kantiana, erklärt Benedetto Croce 1905: „Von Johann Georg Hamann (1730–1788) ist keine Seite ins Italienische übersetzt worden; auch nicht, soweit mir bekannt ist, in irgendeine andere Sprache. Ich möchte nun die Übersetzung einer seiner wichtigsten und bedeutungsvollsten Schriften vorlegen, der Metakritik, die er gegen die Kritik der reinen Vernunft von seinem Landsmann und Freund Immanuel Kant verfasste.“ Croce ist sich der Schwierigkeiten von Hamanns Stil klar bewusst: „Ich habe versucht, dem Text getreu zu bleiben, als es mir unmöglich war, alle Stellen deutlich zu formulieren, denn Hamann ist, wie bekannt, einer der dunkelsten Autoren, die je gelebt haben.“1 Sein Schlussurteil über Hamann ist helldunkel : Obwohl reich an Gefühl und Phantasie war Hamann kein Schriftsteller im eigentlichen Sinn und obwohl voller philosophischen Geistes war er kein eigentlicher Philosoph. Es mangelte ihm an Kunstfertigkeit im klaren und deutlichen Ausdruck und es mangelte ihm an philosophischer Kraft, um seine Gedanken zu systematisieren.2

Drei Hauptanliegen zeichnen sich laut Croce ab: Die Einheit zwischen Empfindung und Verstand wie auch die Kernstellung von Geschichte und Überlieferung finden Erfüllung in der postkantianischen Idealphilosophie; die Sprachphilosophie wird als bahnbrechend anerkannt, obwohl Croce im Wi-

1 Benedetto Croce: Saggio sullo Hegel, seguito da altri scritti di storia della filosofia. Bari 1927, S. 284. Diese Dunkelheit – so Croce – sei der Nachschlag von Hamanns geistigen und emotionalen Erfahrungen. Mehrere italienische Hamann-Forscher (Assagioli, Gil Vitale, Giametta) haben diesen psychologischen Schnitt als Substrat seines Denkens und seiner Autorschaft ins Licht gestellt. 2 Ebd., S. 305.

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derspruch zu späteren Entwicklungen die Identifizierung von „Begriff und Sprache“3 nicht billigt. Einige Jahre danach bemerkt Croce 1909 mit Genugtuung, dass „der erste Versuch einer Auswahl und Übersetzung von Hamanns Schriften durch einen Italiener in italienischer Sprache geschah.“4 Dem Autor – Roberto Assagioli – widmet er kurze Anerkennungsworte. Dann aber kommt er sofort auf das eigentliche Thema: Er nimmt sich vor, die Beziehung zwischen Hamann und Italien anhand seines Verhältnisses zu Vico ins Klare zu stellen. Croce sagt von Hamann, dass er „eine seltene Gedankentiefe und eine ungeschickte, gewundene, sprunghafte, aber doch wirkungsvolle Ausdruckskraft besaß.“5 Mit Bezug auf die damals heftige Debatte über den Religionsunterricht in Italien weist er als Lösung auf Hamanns Anregung beim Briefwechsel mit Kant über die Physik für Kinder hin: „sich ohne Weiteres an die ersten Kapitel der Genesis zu halten.“6 Er stellt fest: „Hamann übt wie alle echten Denker eine unerschöpfliche Wirkung aus,“ indem er Gedanken bewahrt, die im Laufe der Geschichte ausgelöscht werden, und – wie bei Herder und Goethe – „Samen neuer Ideen“ einpflanzt, „fermenta cognitionis“.7 Goethe erkannte als erster eine Beziehung zwischen Hamann und Vico. Den 5. März 1787, anlässlich eines Besuches bei Gaetano Filangieri in Neapel, scheinen ihm nach einer flüchtigen Durchsicht der Scienza Nuova die „sybillinische(n) Vorahnungen des Guten und Rechten“ von Vico, „gegründet auf ernste Betrachtungen des Überlieferten und des Lebens“, eine gemeinsame Funktion mit Hamanns zukünftiger Sendung zu teilen, und zwar „den Deutschen […] ein ähnlicher Kodex [zu] werden.“8 Tatsächlich verneint Croce aber unmittelbare Analogien in Gehalt und Gedankengut zwischen den Beiden. 1777 nämlich verschaffte sich Hamann aus Florenz oder Mantua die Principi della Scienza Nuova, die er irrigerweise für ein wirtschaftwissenschaftliches Werk hielt.9 Es sei unwahrscheinlich, argumentiert Croce, dass Hamann das Buch gründlich las, da seine Kenntnis des Italienischen oberflächlich war.10 Auch Herder habe Vicos

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Ebd., S. 307. Ebd., S. 309. Ebd. Ebd. Ebd., S. 310. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. Bd 11. 10. Aufl. München 1999, S. 191. 9 Siehe Brief an Johann Gottfried Herder vom 21./22. Dezember 1777, ZH III, 392; Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 21. November 1777, ZH III, 381. 10 Croce (Saggio sullo Hegel [wie Anm. 1], S. 311) verweist auf den Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 4. Nov. 1786 (ZH VII, 42), wo es heißt: „Ich verstehe weder Italienisch mehr noch den Inhalt.“

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Philosophie nie richtig erfasst, da er diesen immer in unpassenden Kontexten zitiert.11 Im Grunde kann die immerhin konkrete Beziehung von Hamann zu Vico auf keinen tatsächlichen philosophischen Einfluss zurückgeführt werden, sondern vielmehr auf einen geistigen Einklang, der eher geahnt als erkundet wurde und sich auf die ganze neapolitanische Schule erstreckte.12 Croce stellt ein Verzeichnis der wesentlichen Unterschiede zwischen Vico und Hamann in ihrer Natur, in der Kultur, im Denken auf.13 Trotzdem bestehe eine ideale Verwandtschaft in „den Fragen, die beide sich stellten, den Abneigungen, die sie hegten, der geschichtlichen Rolle, die ihnen zukam, und sogar in einigen Stilelementen, die ihnen gemeinsam sind.“14 Ja, Vico und Hamann schüren beide das gewaltige Feuer der Romantik. Während der Magus einen unmittelbaren tiefen Einfluss auf die deutschen Zeitgenossen ausübte, kam Vico ein verspäteter und spärlicher Ruhm zu. Doch lässt sich sein geistiges Gepräge daran erkennen, dass die italienische Kultur mit besten Ergebnissen das philosophische, geschichtliche und philologische Erbe aufnahm und vertiefte, das in weitem Maße Hamann zu verdanken ist. In der Tat beansprucht Croce an anderem Ort für die weniger bedeutenden Philosophen unter den sogenannten Großen eine gleichwertige Stellung, und so gesellt er zu Machiavelli, Pascal, Berkeley auch Hamann, „der ein so starkes Gefühl für den Wert der Tradition und der Sprache äußert.“15 In jüngeren Zeiten verfasste ein anderer neapolitanischer Philosoph, Sossio Giametta, eine gründliche Hamann-Studie als Einleitung zu seiner Übersetzung von Hegels Rezension von Hamanns Schriften. Er kommt auf Croces Urteil zurück und begründet es „in der erzeugten und noch zu erwartenden Nachwirkung seiner Schriften, i. e. in dem auf ihn zurückzuführenden Beitrag zur Entwicklung 11 Und zwar bei der Polemik mit Wolf über den Homer sowie in der Kalligone; vgl. Croce: Saggio sullo Hegel (wie Anm. 1), S. 311f. 12 Hamanns Begeisterung für Galiani ist bekannt. Er schätzte ihn sehr und bewunderte insbesondere das Jugendwerk Della moneta, das Galiani vor der Ansteckung durch die Verdorbenheit des französischen Hofes verfasst hatte. 13 Croce: Saggio sullo Hegel (wie Anm. 1), S. 313: „Italien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war nicht Deutschland gegen Mitte desselben Jahrhunderts; Katholizismus war nicht protestantischer Pietismus; die historisch-juristische Kultur Vicos war nicht Hamanns historisch-religiöse Kultur ; Vicos theoretische Methode übertraf Hamanns mystisches und sentimentales Denken; der eine war ein fester Systematiker, der andere war ein Aphorismendichter und ein löchriger Denker ; ungeachtet der Fehler im Aufbau war der Stil des einen deutlich wie der eines Italieners; der andere war sonderbar dunkel, wie ein germanischer Weissager ; Vicos Temperament war streng, Hamanns Natur war eher gequält und geschmerzt; in der Tat kannte der eine keinen Scherz und keine Heiterkeit, während der andere ständig lachte und scherzte, obwohl mit humorvollem Kolorit.“ 14 Ebd., S. 313. Croce zitiert verschiedene Stellen aus Hamanns Werken, die ebenso gut von Vico hätten stammen können, so z. B.: „Die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der empfinden?“ (Aesthetica in nuce, N II, 206). 15 Benedetto Croce: Teoria e storia della storiografia. Bari 1917, S. 152f.

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der Philosophie.“16 Giametta untersucht dann insbesondere die Vermengung in Hamanns Autorschaft von charakterlichen und autobiographischen Elementen mit inhaltlichen und stilistischen Merkmalen. Wie Hegel erzählt, habe sich Kant bei seiner Unterredung mit Hamann im Auftrag von Berens der Gefahr ausgesetzt, „einem Menschen so nahe zu kommen, dem die Krankheit seiner Leidenschaft eine Stärke zu denken und zu empfinden gibt, die ein Gesunder nicht besitzt.“17 Giametta möchte ,Krankheit‘ durch ,Kraft‘ und ,gesund‘ durch ,gelassen‘ ersetzt sehen: So hätte man die Triebfeder von Hamanns Autorschaft erfasst. Drei sind nach Giametta die vorzüglichen Eigenarten von Hamanns Stil: Privatisierung, Verkleidung und Dunkelheit. Die erste deutet auf Hamanns Neigung, seine Schriften „nicht nur mit Zitaten, Anklängen und symbolischen Ausdrücken zu spicken, sondern auch mit Verweisen und Andeutungen auf Geschehnisse und Personen, die nur ihm und wenigen anderen bekannt waren.“18 Privatisierung erwirkt gleichzeitig eine unauflösliche Durchsetzung von Erlebnis und Gedanke, wodurch die Kraft der Leidenschaft erzeugt wird. Der Literaturhistoriker Ladislao Mittner z. B. erkennt das Haupterlebnis von Hamanns Autorschaft in seiner Abneigung gegen das friderizianische Berlin, die seinen lebenslangen Kreuzzug gegen die Aufklärung bestimmt und weit dynamischer sich auswirkt als die religiösen Kontroversen.19 Die Thematisierung des Privaten ist aber gefährlich und zu schamlos: Daher die Notwendigkeit immer neuer Masken, hinter denen sich Hamann verbirgt, um sich zu enthüllen. Er „entfernt […] die wirkliche Individualität der Charaktere, um sie mit seiner eigenen Natur zu beleben, damit sie die Worte des Propheten mitteilen und verkünden können, d. h. er nötigt die verschiedenen Gestalten zu seinem jeweiligen taktischen Vorteil.“20 Den verdichteten Ausdruck, die Dunkelheit der Anspielungen deutet Giametta als das ästhetische Stilmittel, um die unergründbare Totalität des Ichs zu offenbaren.21 Privatisierung, Verkleidung und Dunkelheit werden als Stilmittel durchaus positiv bewertet. Es ist jedoch Hamanns Leidenschaft, jenes Feuer, auf das Croce 1909 „den Historiker des europäischen Geistesleben im 18. Jahrhundert“22 hinwies, die Giametta rund 15 Jahre später wieder aufgreift, als er die Hamann16 Sossio Giametta: Hamann nel giudizio di Hegel, Goethe, Croce. Neapel 2005, S. 39. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rezension von Hamanns Schriften. In: Werke. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 11. Frankfurt a. M. 1979, S. 275–302, S. 294. 18 Giametta: Hamann nel giudizio di Hegel, Goethe, Croce (wie Anm. 16), S. 51. 19 Ladislao Mittner : Storia della letteratura tedesca: dal pietismo al romanticismo (1700–1820). Turin 1964, S. 305; zitiert bei Giametta: Hamann nel giudizio di Hegel, Goethe, Croce (wie Anm. 16), S. 52f. 20 Ebd., S. 54f. 21 Ebd., S. 55. 22 Croce: Saggio sullo Hegel (wie Anm. 1), S. 313.

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Biographie des liberalen Philosophen Isaiah Berlin rezensiert. Der Beitrag trägt den Titel War Hamann ein Reaktionär?23 und bestreitet Berlins Urteil – obwohl durch mehrfache Anerkennung temperiert –, das Hamann als einen Mann der Vergangenheit vorstellt: „[…] he was by temperament violently opposed to the whole system: […] he was basically a seventeenth-century man born into an alien world – religious, conservative, inner-directed, unable to breathe in the bright new world of reason, centralisation scientific progress. Like Samuel Johnson in England, he represented an older attitude: personal relationships, inner life, meant more to him at all times than any of the values of the external world.“24 Giametta gibt ohne Weiteres zu, dass „durch die Verneinung der Errungenschaften des Fortschrittszeitalters, des Averses der Medaille, Hamann seine groteske Einseitigkeit preisgibt.“25 Und doch war Hamann leidenschaftlich und heftig – aus Pflicht – aber kein Spinner. Die großen Neuerer kümmern sich nicht um Einzelheiten, Unterscheidungen und Nuancen. […] auch können sie sich nicht leisten, die Rechte des Gegners zu retten, wenn dieser groß und gewaltig ist. Mit ungeteiltem Hass allein kann man gegen ihn ankämpfen.26

Was Hamann sagt über Glaube und Vernunft, Verstand und Einbildungskraft; über Natur, Geschichte und Gott, über Sprache, Denken und Schaffenskraft, über Gefühle, Leidenschaften und Willen, über Geschichte und Politik baut das Vernunftsystem der Aufklärung ab; dadurch wird er zum „Revolutionär, mehr Mann des 19. als des 17. Jahrhunderts.“27 In der Tat, stellt Giametta abschließend fest, sind seine Einstellungen gut begründet: „sie sind so genial, i. e. revolutionär, dass sie Herders Beschreibung von Hamann als einem neuen Kolumbus, Entdecker neuer Länder, durchaus rechtfertigen.“28 Im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts wurde Hamann in Italien von mehreren Forschern aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Fachrichtungen, die alle aus Süditalien stammen und/oder an süditalienischen Universitäten ihr Lehramt ausübten, durch Interesse und Anerkennung ausgezeichnet. Seine Schriften waren Gegenstand verschiedener Übersetzungen: Neben der Metakritik hat sich die Aufmerksamkeit der italienischen Forscher auf die Jugendschriften, auf die Sokratischen Denkwürdigkeiten und die Schriften zur Ästhetik gerichtet. Roberto Assagioli (1888–1974), später Arzt, Psychiater und 23 Giametta: Hamann nel giudizio di Hegel, Goethe, Croce (wie Anm. 16), S. 167–186; erstmals in: Saggi nietzschiani. Neapel 1998. 24 Isaiah Berlin: The Magus of the North. J. G. Hamann and the Origins of Modern Irrationalism. Hg. von Henry. Hardy. London 1994, S. 12. 25 Giametta: Hamann nel giudizio di Hegel, Goethe, Croce (wie Anm. 16), S. 177. 26 Ebd., S. 176. 27 Ebd., S. 177. 28 Ebd., S. 178.

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Psychotherapeut sowie Gründer der Psychosynthese, gab auf Veranlassung von Croce und Prezzolini in seinen Studienjahren eine Sammlung von HamannSchriften heraus, darunter die Gedanken über meinen Lebenslauf, die Metakritik in der Übersetzung von Croce, und Fragmente aus den Biblischen Betrachtungen, der Aesthetica und den Briefen.29 Das Vorwiegen von autobiographischen introspektiven Schriften, so wie die Einleitung30 zeugen vom tragenden psychologischen Interesse des Übersetzers. Zu erwähnen ist auch der Germanist Sergio Lupi (1908–1970), der in Neapel, Messina und Turin tätig war. Er gab eine Sammlung von Hamann-Schriften heraus,31 mit einer umfangreichen Einleitung über Hamanns Leben und Werk, sowie seine philosophischen und ästhetischen Gedanken. Die übersetzten Texte fangen bei den Gedanken über meinen Lebenslauf an und umfassen die wichtigsten Schriften bis zum Jahr 1773, darunter die Sokratischen Denkwürdigkeiten, das Kleeblatt, die Akademische Frage, die Chimärischen Einfälle, Aesthetica in Nuce, den Ritter von Rosencreuz, die Neue Apologie und schließlich den Artikel über Baretti aus der ,Königsberger-Zeitung‘. Ein Kapitel mit dem Titel Fragmente einer Ästhetik bringt eine umfassende Auswahl von kurzen Exzerpten aus Werken und Briefen, die unter fünf Themen angeordnet sind: Ästhetik, Über das Genie, Über den Stil, Über die Sprache, Über die Kritik. Nicola Accolti Gil Vitale, ordentlicher Professor für Deutsche Sprache und Literatur erst an der Universität Messina (1952) als Nachfolger von Lupi, dann an der Universität Genua (1958–1972), ist Autor einer Biographie von Hamanns Jugendjahren.32 Zehn Jahre später veröffentlicht er eine Antologie unter dem Titel Sturm und Drang, die kritische Schriften von Hamann, Herder und Goethe zusammenstellt.33 Vom Magus werden erneut die Gedanken, die Denkwürdigkeiten und die Aesthetica dargeboten. Schließlich hat in jüngeren Jahren Giuseppe Raciti, assoziierter Professor für theoretische Philosophie an der Universität Catania, Hamanns Sprache und Ästhetik untersucht. Sein Versuch über Bedeutung und Auswirkungen der Prosopopöie in Johann Georg Hamann wurde 29 Roberto Assagioli: Scritti e frammenti del Mago del Nord. Neapel 1908. 30 Hamanns Stil sei Spiegel seiner „eigenartigen psychologischen Struktur“ (ebd., S. X); er ist ein „musterhafter [sic!] Beamter“ (ebd.); die Gedanken sind eine kostbare Quelle für die Analyse der „menschlichen Seele“ und des „mystischen Gewissens“ (ebd., S. XV); der „innere Sturm ist von außerordentlichem psychologischem Interesse“: Aus der Dichotomie zwischen Innenleben und äußeren Umständen erwachsen Entscheidungen, die der gesunde Menschenverstand nicht erfassen kann (ebd., S. XV); „Hamann ist in der Tat ein beispielhaftes Muster der unergründlichen Vielschichtigkeit der menschlichen Natur“ (ebd. S. XXXIII). 31 Sergio Lupi: J. G. Hamann. Scritti e frammenti di estetica. Eingel., übers. u. komm. Von dems. Florenz 1938. 32 Nicola Accolti Gil Vitale: La giovinezza di Hamann. Varese 1957. 33 Vgl. Nicola Accolti Gil Vitale: Sturm und Drang. Scritti critici di Hamann, Herder, Goethe. Genua 1967.

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anlässlich des VIII. Internationalen Hamann-Kolloquiums der akademischen Gemeinschaft vorgetragen34 und später als Anhang zu seiner Übersetzung der Aesthetica in Nuce veröffentlicht.35 Diese jüngste Ausgabe zeichnet sich aus durch einen extensiven kritischen Apparat und formal durch die Erhaltung des „typographischen Arsenal(s)“ aus dem Originaltext, und zwar nicht „aus philologischer Gründlichkeit, sondern vielmehr mit der Absicht, aus Achtung für Hamanns Anschauungen die Grenze zwischen Form und Bedeutung der Worte zu verwischen.“36 Die italienischen Hamann-Studien und -Übersetzungen zwischen 1905 und 2003 haben alle ihre mehr oder weniger unmittelbare Quelle in Croces Interesse für Hamann aufgrund seiner neoidealistischen Sicht und seiner ästhetischen sowie geschichtlichen Überlegungen. Aus diesem Grunde wurden wiederholt dieselben Schriften in Angriff genommen oder Hamanns Stellung in der Geschichte des deutschen Geistes als Vorkämpfer der Romantik erörtert, wobei seine erste Schaffensperiode und seine Kantkritik besondere Würdigung erhielten. Aus diesem langen Jahrhundert der italienischen Hamann-Forschung ragt die Figur von Angelo Pupi (1927–2011) ganz außerordentlich hervor.37 Er hatte den Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie erst in Parma (1972) und dann an der Katholischen Universität Mailand von 1974 bis 1998 inne, hielt anschließend Lehrveranstaltungen, bis er 2002 endgültig in den Ruhestand trat. 1975 bis 1980 wurde Pupi mit einem Lehrauftrag für Deutsche Literatur ,ad interim‘ betraut. Aus einem tiefen Einklang mit Hamanns Geist und Einstellung in der „Spannung zwischen Modernität und Überlieferung“38 heraus nahm er sich vor, das Leben und die Autorschaft des Magus in Norden aufs Genaueste zu rekonstruieren. Ähnlich wie bei Vico kann man auf eine philosophische und geistige Verwandtschaft zwischen Pupi und Hamann noch vor deren Begegnung durch die Lektüre anlässlich einer Studie über den Spinozismus im Jahre 1962 schließen. Vier Jahre zuvor schreibt Pupi einen Aufsatz über den Sinn der philosophischen Frage, worin er die persönliche Erfahrung und eine unmittelbare intuitive Erkenntnis als konstituierendes Moment jedes Philosophierens setzt. Erst dann folgt der theoretische Aufbau, der jedenfalls nie fehlen darf. „Das philosophische System […] ist wissenschaftlicher Traktat“, aber auch „ein Bedürfnis, das jeder Einzelne seit jeher im Geheimnis seines Inneren pflegt; es ist ein Wort, das jeder 34 Giuseppe Raciti: Ex nuce salus. Alcune ipotesi sul significato e sulle implicazioni della prosopopea in Johann Georg Hamann. In: Acta 2002, 509–519. 35 Giuseppe Raciti: Aesthetica in nuce. Neapel 2003. 36 Ebd., S. 7. 37 Zu Pupis Lebenslauf und Tätigkeit siehe Paolo Grillenzoni: Angelo Pupi (1927–2011). La filosofia non H un mestiere. In: Rivista di filosofia neoscolastica 4 (2012), S. 575–605. 38 Ebd. S. 575.

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Einzelne seit jeher zuinnerst kannte und dem er von Herzen zustimmt, sobald es zum Ausdruck kommt.“39 Philosophie ist ein Nachdenken über das (eigene) Dasein zwischen den Polen der Freiheit und der geschichtlichen Umstände, wo unzählbare Freiheiten mitspielen und unbekannte sowie bekannte Gesetze durcheinander wirken. Das Philosophieren erwächst aus einem Gewebe von logischen Gesetzen (durch den theoretischen Gedankenakt), von Freiheit (verständlich durch die bloße Spontaneität des Gefühls) und konkreter Alltäglichkeit (die allein durch eine genaue Wiederherstellung der Chronik gedeutet werden kann). […] Die Philosophie thematisiert das Menschliche in seiner ungekürzten Fülle, um seinen Kern zu ergründen.40

Der geschichtliche Rahmen erfasst darüber hinaus auch „das gesamte Kulturleben des Philosophen, das dieser zum Teil in der theoretischen Gestaltung untersucht, das aber sonst unbewusster Bestandteil seiner Weltanschauung bleibt.“41 Der Wert eines Philosophen ergibt sich auch aus dem Reichtum seines geistigen Lebens oder aus der Tiefe seines Kunstgefühls. Es ist geradezu unmöglich, eine ausgerundete Philosophie in einem unpersönlichen Diskurs oder in charakterlosen Schriften zu entdecken; Philosophie bleibt immer Wort einer Person, das nicht an sich allein, sondern vor allem mit Bezug auf mein Verständnis dieses Gesprächspartners verstanden werden kann. […] Die philosophische Theorie ist eins mit dem lebendigen Philosophen, der als Person sich mir erschließt, desto tiefer ich mich selbst als Mensch in meinem Leben und Sein kenne. Philosophie und deren Geschichte kann sich entwickeln allein als Dialog mit mir selbst und im Dialog mit einem Menschen, der mich anspricht.42

Zu Beginn der siebziger Jahre nahm das Projekt, Hamann der italienischen Kultur als lebendigen Philosophen nahezubringen, Gestalt an, und zwar zunächst durch die ungekürzte kommentierte Übersetzung der Hauptschriften mit biographisch-historischer Einleitung, wobei die bestehende Hamann-Forschung als unentbehrliche Vorlage ausgewertet wurde. In der Vorbemerkung zum ersten Band der Scritti cristiani schreibt Pupi: Eine gedruckte Schrift ist das Ergebnis der wiederholten Erarbeitung von persönlichen Gedanken, die in einem engen Freundeskreis erörtert wurden und schließlich einem anonymen Publikum vorgelegt werden. Wer diese schweifenden und losen Gedanken

39 Angelo Pupi: Accenni intorno al senso della domanda filosofica. In: Rivista di filosofia neoscolastica 4 (1958), S. 341–355, hier S. 343. 40 Ebd., S. 345. 41 Ebd., S. 345. 42 Ebd., S. 352f.

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einem Leser zugänglich machen möchte, muss das Nest wieder zusammenbasteln, in dem sie ausgebrütet wurden.43

Gleich zu Beginn eines Unternehmens, welches nach 40 Jahren Ende 2015 zum Abschluss kommt, waren die methodologischen Richtlinien deutlich vorgezeichnet. Mit der Zeit wurden sie ergänzt und erweitert durch die Verfügbarkeit von computerlinguistischen Verfahren und die Einbeziehung qualifizierter Mitarbeiter. Zwischen 1975 und 1977 werden zunächst drei Bände veröffentlicht: Scritti cristiani (2 Bde.) enthalten die Biblischen Betrachtungen, die Sokratischen Denkwürdigkeiten, die Hierophantischen Briefe, alles Schriften, die – wie oben erwähnt – schon auf Italienisch herausgekommen waren. Dazu kommen Konxkompax, Golgotha und Scheblimini, der Fliegende Brief. Der Band Scritti sul linguaggio44 bringt alle Schriften über die Sprache, vom Versuch über eine akademische Frage bis zur Apologie des Buchstaben h. Gegen 1980 ergab sich eine positive Konjunktur, die das Projekt Hamann von einem einseitigen Bemühen zu einem Teamprogramm mit vielfältigen Zielen auszubauen gestattete. Pupi hatte ,ad interim‘ den Lehrstuhl für deutsche Literatur übernommen und konnte somit auf einen Pool von Germanisten und Studenten als Mitarbeiter zugreifen. Insbesondere ist Ilsemarie Brandmair zu nennen, die den ersten und sechsten Band des Briefwechsels übersetzt und annotiert hat und nach 2011 die Leitung des Hamann-Projektes übernahm. Inzwischen hatte das italienische Forschungszentrum (CNR) das Forschungsprojekt Der Anbruch der Aufklärung in Deutschland: Vorbereitung, Entwicklung und Nachwirkung genehmigt und somit die notwendige finanzielle Unterstützung zugesichert. Eine innovative Anregung brachte die Begegnung mit Pater Roberto Busa SJ, dem Bahnbrecher der Computerlinguistik, weltbekannt für die Erarbeitung des Index Thomisticus, der elektronischen Erfassung aller thomistischen Werke. Nach dem Ableben von Pater Busa 2011 wurde sein Erbe von dem Forschungszentrum CIRCSE (Interdisziplinäres Forschungszentrum für die Computeranalyse der Ausdruckszeichen) an der Katholischen Universität Mailand übernommen, wo der Index als Grundlage der umfangreichsten und fortgeschrittensten Treebank der mittelalterlichen lateinischen Sprache unter der Leitung von Marco Passarotti45 in ,machine readable form‘ weiterverarbeitet wird. Für das Hamann-Projekt wurde beschlossen, der vorgesehenen Übersetzung von Hamanns Briefwechsel, wovon der erste Band 1989 herauskam, einen lemma-

43 Angelo Pupi: Johann Georg Hamann. Scritti cristiani. Bd. 1. Bologna 1975, S. V. 44 Angelo Pupi: Johann Georg Hamann. Scritti sul linguaggio. 1760–1773. Neapel 1977. 45 Barbara McGillivray, Marco Passarotti und Paolo Ruffolo: The Index Thomisticus Treebank Project. Annotation, Parsing and Valency Lexicon. In: TAL 50/2 (2009), S. 103–127.

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tisierten Index und ein elektronisches Abfragesystem der deutschen kritischen Ausgabe von Ziesemer-Henkel zur Seite zu stellen. Im Jahre 2000 war das lexikologische System – i. e. der Wortschatz oder das Wörterbuch – von Hamanns Briefwechsel vollendet und erschien in Druckform im Jahr danach.46 Der Band enthält zur Erläuterung der Datenverarbeitung und deren Resultate die Richtlinien für die elektronische Aufnahme des Textes und die Richtlinien für die lemmatisierten Konkordanzen sowie alle aus der elektronischen Verarbeitung gewonnenen quantitativen Daten in tabellarischer Form. So enthält Hamanns Briefwechsel 1.269.618 Worte, 78.785 Wortformen und 24.715 Lemmata. Davon sind 3.795 Eigennamen, 14.908 Gattungsnamen, 2.718 Zeitwörter, 2.475 verbal/nominal gebeugte Wörter. Schließlich ist das gesamte Lemmarium im Band abgedruckt, mit morphologischer Kategorie und Frequenz eines jeden Lemma, sowie seiner Verteilung in den verschiedenen Bänden. Die elektronische Verarbeitung des lexikologischen Systems von Hamanns Briefwechsel wurde anlässlich des V. Internationalen Hamann-Kolloquiums in Münster der Hamann-Forschung durch einen Beitrag von Maria Silva vorgestellt,47 die das Projekt unter Anweisung von Pater Busa in die Wege geleitet hatte. Auch die Software für die Abfrage des Briefwechsels wurde mit der Unterstützung des Instituts für Computerlinguistik (ILC) in Pisa fertiggestellt. Dazu wurde das schon vorhandene System DBT (Textuelle Datenbasis) verwertet, das für eine Anthologie der italienischen Klassiker auf CD-ROM vom Verleger Zanichelli48 entwickelt worden war. Das Abfragesystem erlaubt grundsätzlich 3 Hauptfunktionen: 1. Abfrage des Textes nach Lemmata oder Wortformen mit Erzeugung der Konkordanzen für je ein Element auf Schirm und gedruckt. Alle Textstellen tragen die Angabe von Band, Seite und Zeile im Originaldruck. 2. Erzeugung von Wortlisten nach Lemmata oder Wortformen durch die Wahl von einem oder mehreren Morphokoden (z. B. Erzeugung einer Liste von allen Eigennamen) und Bildung von Konkordanzen wie in Punkt 1. 3. Reading Room: Alle Briefe sind in 2 Listen verzeichnet, und zwar von Hamann und an Hamann. Sie sind unter dem jeweiligen Absender in chronologischer Reihenfolge aufgezeichnet und zum Lesen auf Schirm abrufbar.

46 Angelo Pupi und Roberto Busa: Johann Georg Hamann. Briefwechsel (1751–1788). Lexicological system and concordances on CD-ROM with thesaurus. Bd. 1. (Lessico intellettuale europeo 88). Florenz 2001. 47 Maria Silva: Der Hamann-Index der Katholischen Universität Mailand. In: Acta 1988, 521– 526. 48 Pasquale Stoppelli und Eugenio Picchi: Letteratura Italiana Zanichelli. CD-ROM dei testi della letteratura italiana. Bologna 1993.

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Zur Veröffentlichung der Abfragesoftware auf CD-ROM als zweiten Bandes zum lexikologischen System kam es leider wegen verschiedenen Missverständnissen und Schwierigkeiten nicht. Das Programm kann aber für den privaten Gebrauch durch email-Anfrage an mich kostenlos erhalten werden.49 Anweisungen über die verschiedenen Suchfunktionen befinden sich im Hilfetext. Das etwas traditionellere Unternehmen der Hamann-Übersetzung wurde vorbereitend durchgesprochen mit eminenten deutschen und italienischen Experten, darunter Arthur Henkel, Bernhard Gajek, Tullio Gregory und Valerio Verra. Die ersten Versuche, Hamanns Gedanken in ihrer vielschichtigen Komplexität italienischen Lesern zugänglich zu machen, wurden überdacht und als unzulänglich eingeschätzt. Hamann nahm das Wunder und das Geheimnis der Existenz in ihrer unvergleichlichen Einzigartigkeit wahr, worin die ihm allein eigene Erfahrung des Individuums besteht. Zu den kleinsten Begebenheiten seines Alltags, zu den Eindrücken, den Gedanken, die einer unglaublichen Fülle von Lektüren entsprangen, zu den Begegnungen mit einzelnen Personen führte er ein genaues und fortlaufendes Tagebuch in einem mehr als 30 Jahre dauernden ununterbrochenen Briefwechsel, der uns sein Innenleben bewahrt. Er war davon überzeugt, dass die abstrakte begriffliche Sprache unfähig sei, das Wesen der Existenz zu erfassen, und desgleichen war ihm jede Rede eitel, die nicht innere Teilnahme für ein gemeinsames Anliegen in seinem Gesprächspartner voraussetzte. Jede Mitteilung an ein anonymes Publikum hielt er für unmöglich,

schreibt Pupi 1999.50 Der Briefwechsel verlangt daher vom Übersetzer auch die Entschlüsselung der biographischen Verweise, der bibliographischen Bezüge und Anspielungen, der expliziten und impliziten Zitate, der biblischen Hinweise und Stellen; hinzu kommt auch die Erklärung aller weiteren Einzelheiten geschichtlicher, politischer, geographischer, kultureller Natur, die einem modernen italienischen Leser zum Verständnis nicht allein eines Textes, sondern auch einer Epoche unentbehrlich sind. Dazu gehören z. B. – mit Bezug auf meinen Zuständigkeitsbereich, den 7. Band – die Beschreibung der Regie unter Friedrich dem Großen, Hinweise zu den Stahlschen Prinzipien der Medizin, kurze Angaben zu Hamanns Medikamenten (Ipecacuanha, Dulcamara, China, Schwefel, Martialia, vinum antimoniatum Huxhami u. a.m.), die Geschichte des Kaufmannschors im Königsberger Dom und des von Hamann geliebten Nebeneingangs, des Magus Lieblingsgerichte (Sauerbraten, Biersuppe, graue Erbsen), seine bevorzugten 49 Mail-Adresse: [email protected]. Das Programm kann auch durch folgenden Link heruntergeladen werden: . 50 Angelo Pupi: L’invito goethiano alla lettura di Hamann. In: Rivista di storia della filosofia, 4 (1999), S. 645f.

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Kirchenlieder und weitere Denkwürdigkeiten, die unter die Alltagsgeschichte fallen. Briefwechsel und Konkordanzen sind unverzichtbare primäre Quellen und Werkzeuge, jedoch bilden sie nur den Zettel des Gewebes, das erst durch die Einarbeitung des Einschlags zu einem Muster gewirkt wird. Um dieses Ergebnis zu erreichen, war es nötig, die „Geschichte der gelebten Gedankenwelt des Autors“51 zu verfassen, in Form einer „analytischen Rekonstruktion von Hamanns Geistesductus, der seine alltäglichen Erfahrungen durchwebt, von denen der Briefwechsel Zeugnis gibt und die Werke die Etappen verkörpern.“52 Diese Rekonstruktion gestaltete sich in den sieben Bänden53 von Pupis Hamann-Biographie, wo alle veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften, übersetzt und erläutert, der chronologischen Darstellung eingegliedert sind, so dass Sein und Werk des Magus in dem Muster seines lebendigen Geistes zusammengewoben sind. Pupis siebenbändige Arbeit ist das wissenschaftliche Äquivalent einer einwandfrei belegten Ermittlung in Gestalt einer Erzählung. Mit der Veröffentlichung des fünften noch ausstehenden Bandes des Briefwechsels werden seine Mitarbeiter zu Ehren seines Andenkens bis Ende dieses Jahres (2020) das Hamann-Projekt der Katholischen Universität Mailand vollendet haben.

51 Angelo Pupi und Ilsemarie Brandmair Dallera: Johann Georg Hamann. Lettere. Bd. 1. Mailand 1989, S. IX. 52 Angelo Pupi: Johann Georg Hamann. Experimentum mundi. 1730–1759. Bd. 1. Mailand 1988, S. 7. 53 Angelo Pupi: Johann Georg Hamann. 7 Bde. Mailand 1988–2004.

Personenregister

Abaelard, Petrus 205, 208 Abrabanel, Isaak 266 Achenwall, Gottfried 291, 295 Achermann, Eric 182, 191, 198, 210, 220, 227, 238, 246, 248, 250, 283, 300–302, 328 Addison, Joseph 234 Adler, Emil 112 Adorno, Theodor W. 77–90, 133, 414 Aesop 340, 397 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 201, 345 Albertus Magnus 345 Albo, Joseph 266 Alembert, Jean Le Rond d’ 183f. Alexander, William M. 396, 398 Allen, Michael J. B. 94 Altmann, Alexander 267, 286, 290–294, 299 Ambrosius 218 Amir, Lydia 383f., 400, 403, 406–409 Andersen, Albert 383 Anderson, Lisa Marie 381–383 Argens, Boyer d’ 210 Aristophanes 204 Aristoteles 96, 107, 175f., 179, 182, 192, 200, 227, 239, 241, 254, 328, 345f., 348, 403, 405f., 432f. Arnauld, Antoine 412 Arnold, Gottfried 346, 401 Arnold, Theodor 327 Arvieux, Laurent d’ 338 Assagioli, Roberto 479f., 483f. Assmann, Jan 124f.

Augustinus 109, 138, 142, 217f., 306, 308f., 333, 427 Ausonius 94 Bacon, Francis 96f., 174–183, 185, 188f., 192f., 214, 242, 248, 353, 411–414, 419, 421 Bacon, Roger 201 Baker, Gordon P. 363 Balke, Friedrich 323 Balke, Thomas 323 Balthasar, Hans Urs von 382f. Baretti, Giuseppe Marcantonio 484 Bassa, George (Händler) 326 Batteux, Charles 95 Bauer, Karl Gottfried 121 Baum, Manfred 290 Baur, Wolfgang-Dieter 321 Baxter, Andrew 376 Bayer, Oswald 25, 32, 77f., 94, 102, 111, 149, 15f., 167, 175, 199f., 232, 236, 243, 283, 285, 289, 293, 300, 306, 357–359, 361–369, 382f., 391f., 399, 430, 437 Beech, Timothy 190 Beetz, Manfred 23, 129 Beierwaltes, Werner 102 Beiser, Frederick C. 400 Bellarmino, Roberto 221 Bengel, Johann Albrecht 156, 190f., 237–239, 245 Benjamin, Walter 79, 86, 133, 325, 414f. Benne, Christian 322 Bentham, Jeremy 286–288 Berens, Johann Christoph 119, 398, 482

492 Berghahn, Cord-Friedrich 290 Bergmann, Christian Gottlieb 68f., 243f. Berkeley, George 377, 481 Berlin, Isaiah 121, 364, 432, 483 Berti, Irene 323 Betz, John R. 188, 215, 303, 357f., 361, 364, 367–369, 382f., 392f., 396, 399 Beutel, Albrecht 232 Beverland, Hadriaan 100 Beylis, Menachem Mendel 439 Bhaskar, Roy 357, 368 Bieberbach, Ludwig 470 Bienert, Wolfgang A. 219 Blumenberg, Hans 133, 338f., 427, 433 Bobzin, Hartmut 331 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 273, 308 Bodin, Jean 254f., 259 Boethius 240 Böhme, Hartmut 349 Böhme, Jacob 198, 201, 460 Bolingbroke, Henry St. John, 1st Viscount 61f., 64–73, 118, 232–236, 243–245, 423, 447f. Bonaventura 102 Borger, Gustav 470 Borges, Jorge Luis 120 Bosbach, Franz 289 Bossuet, Jacques B8nigne 185 Boulainvilliers, Henri de 326 Boysen, Friedrich Eberhard 237 Brandl, Alois 469 Brandmair, Ilsemarie 487 Brant, Sebastian 405 Brockes, Barthold Heinrich 40f., 44–46 Brose, Thomas 371 Brucker, Johann Jacob 194–197, 203 Brumoy, Pierre 241 Bruno, Giordano 102, 343–348, 395f., 408, 442 Buchmann, Hans-Martin 292 Bucholtz, Franz Kaspar 32 Büchsel, Elfriede 57 Budde, Johann Franz 202, 222, 289 Buffon, George-Louis Leclerc Comte de 38, 49f., 103, 210 Bultmann, Christoph 313

Personenregister

Bultmann, Rudolf 151 Burdach, Konrad 459 Busa, Roberto 487f. Cagliostro, Allesandro 225 Calvin, Johannes 227f. Campanella, Tommaso 345 Campe, Rüdiger 324 Cardano, Gerolamo 200, 345 Carnap, Rudolf 448f. Casanova, Giacomo 225 Cassirer, Ernst 163 Certeau, Michel de 403, 408–411 Cervantes, Miguel de 240, 321f., 324 Charpentier, FranÅois 59 Cicero, Marcus Tullius 191, 215, 252, 282, 316, 378 Clarke, Samuel 376f., 379 Claudius, Matthias 23, 37, 75 Clausewitz, Carl von 410f. Clemens von Alexandria 99, 352 Colberg, Ehregott Daniel 197f. Crescas, Chasdai 266 Croce, Benedetto 479–485 Cunaeus, Petrus 224 Curtius, Ernst Robert 117f. Dainat, Holger 470 Dal Pra, Mario 376 Danneberg, Lutz 217, 247 Darjes, Georg Joachim 291 Darwin, Charles 431 Demokrit 192 Demosthenes 191, 205, 239, 367 Denzinger, Heinrich 147f. Derham, William 38–40, 43f. Derrida, Jacques 415 Descartes, Ren8 112, 201, 376, 411–413, 415, 422, 428–430 Deupmann-Frohues, Christoph 384 Dierauer, Urs 183 Diogenes 434 Dohm, Christian Wilhelm 269 Domat, Jean 201 Doryläus 202 Dostojevski, Fjodor 445

Personenregister

Dreitzel, Horst 284 Dunning, Stephen 382, 384 Eastman, Max 408 Ebeling, Gerhard 219f. Eberhardt, Johann August 149, 432, 434 Eco, Umberto 67, 120, 405 Edel, Susanne 195 Eggers, Daniel 282 Elert, Werner 147f. Eliade, Mircea 25 Engelsing, Rolf 120 Ephraem Syrus 353 Epikur 24, 183, 297, 428 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 93, 400, 405 Eschweiler, Karl 112f. Ptaples, LefHvre d’ 220 Etter, Else-Lilly 234 Fabricius, Johann Albert 38–40 Fabricius, Johann Andreas 239 Fechner, Jörg-Ulrich 456 Feder, Johann Georg Heinrich 281, 283, 294 Fehr, James Jakob 232 Ferguson, Adam 294 Ficino, Marsilio 94, 102, 106, 108, 110 Fieser, James 374 Filangieri, Gaetano 480 Fischer, Bernhard 460 Fischer, Ernst 41 Fischer, Kuno 441–443 Fischer, Rainer 24 Flacius, Matthias 218 Flasch, Kurt 102, 344, 348–350, 355 Flatt, Johann Friedrich 281 Fleischmann, Wolfgang 185 Fleury, Claude 185 Florenskij, Pawel Alexandrowitsch 443 Forbonnais, FranÅois V8ron Duverger de 201 Forster, Georg 307 Forsthoff, Ernst 473 Fox, George 227f. Frenz, Thomas 312

493 Frese, Jürgen 320 Freud, Sigmund 410f. Freudenthal, Gideon 267 Fritsch, Friedemann 20, 150, 186, 196, 288 Fritzsch, Christian Friedrich 209 Gagnier, Jean 327 Gaier, Ulrich 51, 99, 103f., 106–108, 110 Gajek, Bernhard 432, 489 Galiani, Ferdinando 481 Galilei, Galileo 345 Gallitzin, Amalie von 399 Gamillscheg, Ernst 469 Garc&a-Jaljn, Santiago 218 Gassendi, Pierre 345 Gatterer, Johann Christoph 236 Gaukroger, Stephen 188, 192 Geismann, Georg 298, 307 Gellius, Johann 210 Georgiades, Thrasybulos G. 134 Gerhards, Meik 313 Gerhardt, Paul 432 Giametta, Sossio 482f. Gichtel, Johann Georg 201 Gildemeister, Carl H. 399, 455f., 462 Gil Vitale, Nicola Accolti 479, 484 Glassius, Salomon 222–226, 229, 232, 247 Gleede, Benjamin 149 Glock, Hans-Johann 362 Goethe, Johann Wolfgang 104, 106–110, 114, 117, 127, 275, 325, 328, 346, 382, 389, 399, 406, 455, 480, 484 Goldtwurm, Caspar 218f. Golius, Jacobus 327f. Gottsched, Johann Christoph 96, 103, 412 Grapow, Hermann 470 Graubner, Hans 38, 41f., 46, 49, 54, 57f., 63f., 100, 103f., 111, 186, 232, 282, 371, 427 Grave, Christian 294 Gray, Jonathan 362 Greber, Erika 17f., 26, 31 Greenblatt, Stephen 66f., 410 Gregory, Tullio 489 Griep, Wolfgang 328

494 Griffith-Dickson, Gwen 357, 360 Grillenzoni, Paolo 485 Grimm, Jacob 339 Grimm, Wilhelm 339 Gritsch, Eric 401 Grotius, Hugo 254f., 285, 297, 299, 301 Gründer, Karlfried 57, 193, 220, 232, 280 Grunert, Frank 285, 288, 303 Gutzen, Dieter 313f. Habermas, Jürgen 133, 415 Hacker, Peter M. S. 363 Häfeli, Johann Caspar 156 Hagedorn, Friedrich von 177 Halfwassen, Jens 108 Hamann, Johann Michael (Sohn) 383 Hamann, Johann Christoph (Bruder) 22f., 48, 54, 62, 75, 120, 122, 151, 188, 225, 237f., 326, 327 Hamann, Johann Georg (der Ältere) 40 Hannay, Alastair 357 Harrison, Peter 180 Hart, David B. 381, 383 Hartknoch, Johann Friedrich 211, 227, 249, 269, 345, 380, 477 Hartung, Gerald 252f., 282, 292f., 302–304, 307, 383 Hartzheim, Caspar 345 Hay, Sergia Karen 383 Haynes, Kenneth 240, 358, 364 Heckel, Johannes 308 Hederich, Benjamin 95 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 80f., 87, 127, 141, 156, 343f., 364, 381f., 384, 396, 429, 442, 479–483 Heidegger, Martin 92, 381 Heimsoeth, Heinz 462f. Hein, Helmut 362 Helmont, Johan Baptista van 345 Hemsterhuis, Frans 211 Henkel, Arthur 455f., 474–477, 488f. Henrich, Dieter 133 Heraklit 338f., 248, 435 Herb, Karlfriedrich 286 Herbert von Cherbury, Edward 252, 266

Personenregister

Herder, Johann Gottfried 11, 19, 23, 27, 34–36, 44, 49–51, 63, 73, 98f., 103f., 106f., 109f., 112, 123–125, 175, 183, 211f., 215f., 225, 227, 249f., 287, 289, 298, 307, 311–317, 319, 325f., 329–332, 339f., 345–347, 356, 393, 397, 417, 420f., 423f., 431f., 437f., 443, 448, 455, 463, 466, 475f., 480, 483f. Herder, Caroline 211 Hermans, Theo 240 Herrera, Abraham Cohen 194, 210 Hertel, Jacob 217 Hervada, Javier 297 Hervey, James 41–44, 53–75, 232–234, 236, 243–245 Hesler, Anton von 468 Heumann, Christoph August 59, 246, 347 Heymann, Ernst 471f. Hieronymus 218 Hilarius 218 Hillel d. Ä. 266 Hinckelmann, Abraham 198, 327f. Hinksoen, Craig 402 Hirtz, R. Naphtali 194, 210 Hißmann, Michael 281, 283, 286f., 291 Hobbes, Thomas 62, 64, 132, 135, 254f., 260, 271, 273, 279f., 282, 284–286, 288–291, 293f., 296–299, 306f., 345 Hoffmann, Ernst 343f. Hoffmann, Volker 330, 339 Hofmann, Hasso 284, 290 Holden, Henri 245 Hölter, Achim 321 Holwell, John Zephaniah 267 Homer 106, 151, 481 Hommel, Ferdinand 280 Höpfner, Ludwig Julius Friedrich 281 Horaz 55, 65, 95f., 151, 215, 240 Horkheimer, Max 80, 82 Hottinger, Johann Heinrich 246 Howell, James 240 Hübner, Ulrich 328 Hübner, Wolfgang 183 Hufeland, Gottlieb 281f. Hülsewiesche, Reinhold 268, 448 Humboldt, Wilhelm von 133, 249

495

Personenregister

Hume, David 36, 43, 135, 141, 227, 269, 286–288, 346, 358–360, 369, 371–379, 388 Hunter, Thomas 62f., 65f., 70f., 73, 232–236, 243 Hutcheson, Francis 377 Imendörffer, Nora

127, 200

Jacobi, Friedrich Heinrich 9, 19f., 25, 27, 88f., 102, 111–113, 123f., 131, 152, 156, 165, 167, 177, 195, 198f., 243, 257, 265, 269, 344, 347f., 371, 382, 390f., 395, 399f., 416f., 430, 443, 445, 455, 462, 476, 480 Jakobson, Roman 18, 165 Jansen Schoonhoven, Evert 194, 228 Jaspers, Karl 133 Jean Paul 104, 120, 132, 170, 403f., 406–11, 413–415, 417–425, 465 Jensen, Finn Gredal 400 Jeremias, Jörg 288 Johnson, Samuel 210, 483 Jördens, Andrea 323 Jørgensen, Sven-Aage 26, 57, 94, 99, 126, 178, 180, 222, 240–242, 333, 383, 431 Josephus, Flavius 211 Jung-Stilling, Johann Heinrich 417 Juvenal 56 Juzhinski, Andrei 439 Kalkbrenner, Anja 282f., 285, 300, 302 Kalm#r, Georg 210 Kanne, Johann Arnold 417 Kant, Immanuel 25, 38–40, 44–46, 61, 88, 110, 131–143, 148f., 157f., 175, 188f., 192f., 231, 270, 272, 279–281, 283, 285f., 290, 296, 298, 300f., 304, 306f., 315–319, 328, 344–346, 351, 361f., 372, 375, 398, 400, 406, 414, 419, 430–432, 452, 456, 479f., 482, 485 Kanter, Johann Jakob 122 Kaufmann, Sebastian 282 Kawanago, Yoshikatsu 351 Kemper, Hans-Georg 99 Kermode, Frank 151

Kersting, Wolfgang 252, 285, 288, 290f., 294 Kierkegaard, Søren 151, 340, 381–384, 387f., 399–401, 406f., 409, 437, 445, 450 Kilcher, Andreas 199f. Kinder, Sabine 475 Kippenberg, Anton 455, 457, 462–466, 468, 473f., 476 Kleffmann, Tom 22, 187, 193f. Klettenberg, Susanne von 107 Kleuker, Johann Friedrich 267 Klippel, Diethelm 281–283, 290 Klopstock, Friedrich Gottlieb 37, 46–48, 208, 337 Klossowski, Pierre 371 Knoll, Renate 79, 455f., 457 Knorr von Rosenroth, Christian 196 Knudsen, Christian 149, 243, 399 Knutzen, Martin 39, 44, 57f., 231f., 351 Koepp, Wilhelm 336 Kölzer, Theo 312 König, Dominik von 120 Kolumbus, Christoph 433, 483 Komarnicki, Jan Paulikowicz 211 Kondylis, Panajotis 177 Kopernikus, Nikolaus 345 Kosziszky, Eva 298 Kraft, Peter 200 Kraft, Viktor 448 Kramnick, Isaac 234 Kraus, Karl 81 Kreuzer, Johann 138, 142 Krieg, Arno 295 Krolzik, Udo 37 Krüdener, Juliane von 417 Kühn, Manfred 39 Kusch, Martin 362 Küsters, Marie-Theres 102 Kuther, Ulrich 216 LaBron, Tim 362 La BruyHre, Jean de 241 La Fontaine, Jean de 397 Lamy, Bernard 412, 415 Landt, Erhardt 470 Lausberg, Heinrich 96

496 Lauson, Johann Friedrich 40 Lavater, Johann Caspar 112f., 163, 280, 441 Layer, Simon 79 Lazarus, Moritz 408 Le Bossu, Ren8 241 Le Brun, Jacques 229 Leibniz, Gottfried Wilhelm 132, 149, 265, 274f., 290, 293, 442, 451 Leland, John 243f. Lennon, John 36 Lessenich, Rolf P. 237 Lessing, Gotthold Ephraim 68, 99, 104, 199, 205, 251, 256–258, 265, 267, 269, 274, 277, 279–281, 307, 345, 406 L8vinas, Emmanuel 170 Liebrucks, Bruno 134 Lilienthal, Theodor Christoph 231 Lindner, Gottlob Immanuel 122, 480 Lindner, Johann Gotthelf 20, 26, 42, 47, 53, 62, 68, 110, 119, 123, 128, 148, 155, 198, 200, 203–205, 210, 214, 232, 238f., 241f., 244, 283, 326f., 397 Livius, Titus 66, 70–73, 233, 235 Locke, John 234, 260, 272f., 284, 288, 291, 293 Lohmann, Rüdiger 279 Lowth, Robert 313 Lubac, Henri de 216 Lucilius, Gaius 94 Ludwig XV. 105 Ludwig, Bernd 286 Lukrez 182f., 185, 241, 421 Lullus, Raimundus 200, 345, 406 Lumpp, Hans-Martin 200, 225, 238 Lupi, Sergio 484 Lüpke, Johannes von 57, 63, 104, 166f., 236, 300, 368, 389, 400 Luria, Isaak 210 Lüthe, Rudolf 371 Luther, Martin 22, 41, 58, 69, 74, 88f., 91, 111, 119, 122, 129, 147, 153, 156, 163, 174f., 187, 195, 197, 207f., 212, 215, 217–228, 236–238, 245, 248, 295, 301, 306, 308f., 325, 329, 331–334, 336, 338, 343, 351, 355, 357–362, 365, 368, 369,

Personenregister

384, 388, 392f., 395, 400f., 416, 420f., 423, 428, 460 Lux, Jonathan E. 180 Lyonnet, Pierre 40 Maag, Natalie 323 Machiavelli, Niccolk 234, 345, 481 Macho, Thomas 322 MacIntyre, Alasdair 363 Mahnke, Dietrich 195 Maier, Gerhard 128f. Maimonides 266 Majetschak, Stefan 132, 430 Mandelbrote, Scott 228 Mandeville, Bernard 62 Manegold, Ingemarie 23 Manilius, Marcus 190, 213 Mannermaa, Tuomo 359f. Marsh, William M. 207, 237 Marshall, Walter 61 Martus, Steffen 41 Mathesius, Joannes 401 Maximus Confessor 350 McGillivray, Barbara 487 McGrath, Alister 357, 368 Meiners, Christoph 440 Melanchthon, Philipp 283 Menasseh ben Israel 264 Mendelssohn, Moses 25, 61, 126, 156, 199, 204–207, 227, 251, 253, 255, 257, 259–281, 283, 285–287, 290–299, 302, 304–306, 308f., 335 Merlan, Philip 373 Mersenne, Marin 203 Metzke, Erwin 343, 432, 433 Meyer, Annette 182 Meyer, Ilse Johanna 466 Meyer, Ursula I. 336 Michaelis, Johann David 77, 238, 325, 328, 336 Michelet, Carl Ludwig 437 Michler, Werner 317 Milbank, John 88f., 111f., 358 Mill, John Stuart 448, 469 Milton, John 60, 234, 239, 241

497

Personenregister

Minto, Gilbert Elliot-Murray-Knynynmound, 1st Earl of 379 Mirri, Saverio 229 Mittelstedt, Matthias Theodor Christoph 62 Mittner, Ladislao 482 Miyatani, Naomi 154 Momigliano, Arnaldo 182 Monbron, Louis-Charles Fougeret de 208f. Montaigne, Michel de 241 Montfaucon, Nicolas Villars de 210 More, Henry 196 Moser, Friedrich Carl von 63, 65, 122f., 393 Moustakas, Ulrich 149, 158, 188, 199, 315, 317, 361, 367–369 Mühlen, Karl-Heinz zur 221 Muis, Jan 155 Mulsow, Martin 198, 202 Müller, Friedrich Theodor Adam Heinrich von 107 Müller, Johannes 293 Müller, Max 441 Müller, Sascha 229 Munz, Regine 362 Musatov, Nikolai 439 Nadler, Josef 54, 58, 123, 129, 177, 199, 201f., 345–347, 455, 456f., 459–475 Nagl, Manfred 120f. Negro, Paola 297 Neumann, Thomas 455, 457, 463f., 466 Newton, Isaac 38, 45, 49f., 62, 72, 103, 451 Nicolai, Friedrich 63, 73, 119, 150, 280 Nicolovius, Friedrich 455 Nieuwentyt, Bernard 38, 49f., 103 Nikolaus von Kues (Cusanus) 100, 102, 343–345, 347–350, 355, 409, 420 Nikolaus von Lyra 216, 219 Nowitzki, Hans-Peter 281, 300 Nussbaum, Martha 409 Nüssel, Friederike 289 O’Connor, Michael 217 O’Connor Drury, Maurice

361

O’Flaherty, James C. 375, 381, 393–397, 400 Opitz, Martin 208 Origenes 197, 208f., 218f., 221f., 224, 431 Ovid 95 Pailin, David A. 252 Palamas, Gregorios 350 Paracelsus 200, 349 Parmenides 152, 169, 171 Pascal, Blaise 112, 421–423, 481 Passarotti, Marco 487 Paulus 36, 108, 113, 129, 186, 190, 206, 219, 269, 351, 427–429, 433f. Pecina, Björn 291 Peirce, Charles Sanders 405, 421 Pelagius 108 Perkams, Mathias 304 Peter von Apono 201 Petersen, Julius 455, 457–467, 469, 471f. Pettit, Philip 357 Philipp, Wolfgang 37 Philon 213 Picchi, Eugenio 488 Picht, Georg 78 Pico della Mirandola, Giovanni 108 Pike, Albert 440 Pistorius, Johannes d. J. 200, 204 Plantinga, Alvin 357 Platner, Ernst 285 Platon 11, 60, 62, 94, 102, 108, 110, 118, 129, 178f., 198, 204, 207, 208f., 393, 403, 405f., 413, 428f., 433 Plinius 183 Plotin 99, 108–110, 350 Plutarch 240 Pitaval, FranÅois Gayot de 178f. Pöhlmann, Egert 182f. Pollok, Anne 290 Pomeau, Ren8 243 Pope, Alexander 234 Popowitsch, Johann Sigismund Valentin 339 Poteat, William H. 362 Prezzolini, Giuseppe 484 Proklos 110, 350, 355

498

Personenregister

Proß, Wolfgang 183 Pufendorf, Samuel 251–256, 260, 262, 271f., 284f., 288, 290, 292–294, 296, 298, 302–304, 306 Pupi, Angelo 485–490 Pütter, Johann Stephan 291, 295 Pyrrhon 112

Rousseau, Jean-Jacques 25, 49f., 204, 271f., 286f., 290, 298, 307 Rückleben, Hermann 41 Rudolph, Andre 23, 108, 150, 201 Ruffolo, Paolo 487 Russell, Paul 376 Ryer, Andr8 du 327

Quintilian 191

Saint Germain, Graf von 225 Sale, George 327 Salmony, Hansjörg Alfred 123 Sanderson, Robert 303f. Sauter, Gerhard 157 Scaliger, Julius Caesar 104 Scattola, Merio 282, 284 Scheffner, Johann George 24, 34, 125 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 141, 344 Scherzer, Hans Karl 308 Schlegel, Friedrich 170, 406 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 151 Schlettwein, Johann August 281 Schmakov, Aleksey Semjonovitsch 439 Schmakov, Vladimir 439–445 Schmidt, Erich 456 Schmidt, Jochen 128 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 194, 196–200, 203, 216, 257, 276, 423 Schmitz-Emans, Monika 26, 28 Schneiders, Werner 302 Scholem, Gershom 133, 414 Schöne, Albrecht 175 Schorch, Grit 279 Schottroff, Willy 314 Schreiber, Gerhard 340 Schreiner, Lothar 27, 206 Schubert, Anselm 186 Schulte Strathaus, Ernst 463 Schulze, Götz 307 Schwabe, Johann Joachim 95 Schwaetzer, Harald 344f., 347f. Sdzuj, Reimund 64, 217, 220 Searle, John R. 316 Seckendorf, Ludwig von 149 Seils, Martin 208, 238, 282, 295, 397

Raciti, Giuseppe 484f. Radicati, Albert 327 Radnjti, S#ndor 120, 122 Rambach, Johann Jacob 225f. Ranke, Friedrich 460–462 Ranzmaier, Irene 464 Rapin, Ren8 200f., 241, 345f. Rathlef, Ernst Ludwig 40 Redmond, Michael 373 Reibold, Janina 10 Reill, Peter Hanns 225 Reiser, Marius 220, 229 Rescher, Nicholas 357 Reuchlin, Johannes 200f., 203 Reuter, Christina 154, 333, 351, 354 Rhodignius, Caelius 345 Richter, Gerhard 208, 230 Rico, Francisco 322 Ricoeur, Paul 336 Ringleben, Joachim 332 Robert, Jörg 324 Robinson, John 437 Rochefoucauld, FranÅois de La 241 Röd, Wolfgang 282 Roethe, Gustaf 456f. Rohbeck, Johannes 182 Rolin, Jan 284 Rollin, Charles 39, 44–46 Rorty, Richard 408 Roscommon, Wentworth Dillon, 4th Earl of 214f., 234, 240 Rossi, Paolo 181, 192, 214 Roth, Friedrich 432, 457, 459, 466 Roth, Udo 281 Rother, Wolfgang 283

499

Personenregister

Selle, Christian Gottlieb 281, 283 Semler, Johann Salomo 222 Senellart, Michel 234 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of 51, 59, 62, 65, 104, 198, 201, 234, 294, 346, 383–388, 399, 401, 406f., 424 Shakespeare, William 117 Sheehan, Jonathan 227 Shuckford, Samuel 43, 186, 188 Silva, Maria 488 Simon, Josef 132f., 192 Simon, Richard 228, 245 Simons, Menno 228 Sinemus, Volker 239 Singer, Dorothea Waley 346 Singer, Thomas C. 180 Sinn, Christian 211, 384, 405, 413, 421 Skar, Øystein 289 Skelton, Philip 62 Slenczka, Notger 248 Smend, Rudolf 313 Smith, Ronald Gregor 383, 387, 391 Sokrates 25, 32, 59–61, 73, 93, 101, 179, 207–209, 246, 339, 349, 412, 428f. Solovjov, Vladimir Sergejevitsch 443 Sommer, Andreas Urs 65, 185, 213, 235 Soosten, Joachim von 166 Sophokles 241 Sozzini, Fausto 227 Spalding, Johann Joachim 294 Sparling, Robert Allen 382 Spinoza, Baruch de 64, 197, 198f., 201, 228, 257, 344, 347, 400, 442 Srbik, Heinrich Ritter von 470 Stahl, Georg Ernst 489 Starck, Johann August 227f., 438, 440, 443f. Statius, Publius Papinius 208 Steffens, Heinrich 151 Steffes, Harald 340 Steiger, Johann Anselm 217f., 220–223, 226, 231, 247 Stein, Charlotte von 382, 399 Steinmann, Holger 230 Steudel, Johann Gottlieb 152, 345, 355

Sthamer, Eduard 463 Stiening, Gideon 281, 285–287, 298f., 303, 305, 307f. Stolberg, Friedrich 109 Stoppelli, Pasquale 488 Strauss, Leo 227 Strohm, Christoph 283 Stünkel, Knut Martin 22, 28f., 31, 320 Su#rez, Francisco 282, 301, 303 Süßmilch, Johann Peter 300 Swain, Charles W. 373, 378 Swift, Jonathan 234 Tacitus 65f., 68–70, 73, 210, 232–235, 243 Taubes, Jacob 133 Taylor, Charles 162, 249, 362 Telesio, Bernardino 345 Terezakis, Katie 398 Thales von Milet 448 Theodor von Pharan 147 Theunissen, Michael 161 Thomas von Aquin 217, 301, 304f. Thomasius, Christian 262, 292, 302f. Thom[p]son, James 234 Tillich, Paul 79 Tilliette, Xavier 24 Tillmann, Thomas J. 218 Tillotson, John 234, 376f. Trescho, Friedrich 332 Trunz, Erich 455 Unger, Rudolf 58, 174, 178, 180 Veldhuis, Henri 58, 330 Vergil 71, 204 Verra, Valerio 489 Vico, Giambattista 419, 480f., 485 Vietta, Silvio 313 Villegas, Esteban Manuel de 240 Villeneuve, Arnault de 201 Vollhardt, Friedrich 253 Voltaire (FranÅois-Marie Arouet) 118, 243, 287, 388, 417 Wachter, Johann Georg 180–183, 197f. Waldenfels, Bernhard 332f.

500 Wannenwetsch, Bernd 88 Warburton, William 234, 267 Ward, Graham 88 Warda, Arthur 455–462, 464, 476f. Warner, Ferdinando 210, 243 Warton, Joseph 234, 241 Waschkies, Hans-Joachim 39 Weber, Immanuel 253 Weininger, Otto 441 Weishaupt, Adam 437, 440 Weissenborn, Bernd 23, 232, 236 Welzel, Hans 282, 304 Werner, Tilo 312 Werner, Zacharias 460 Wetzel, Michael 17 Wezel, Johann Karl 287, 307 Wieland, Christoph Martin 285, 287, 307, 406 Wiener, Gustav Adolph 455f. Wild, Reiner 29f., 32, 431 Wilhelm von Ockham 271 Willer, Stefan 466 Williams, Abigail 234

Personenregister

Wilson, Catherine 182, 185 Wishart, George 376 Wittgenstein, Ludwig 357, 361f., 364, 369 Wittmann, Reinhard 120 Wolf, Friedrich August 481 Wolff, Christian 283, 285, 290–293, 296, 298, 302, 305, 412 Wollaston, William 377 Wright, N. Thomas 369 Young, Edward 57f., 61, 234 Zapata, Luis 240 Zeyer, Kirstin 344f., 347f. Ziche, Paul 347 Ziehen, Conrad Siegesmund 211 Ziesemer, Walther 462, 464–467, 472–476, 488 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 61 Zoroaster 99, 314 Zorzi, Francesco 201–203 Zwingli, Huldrych 400