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German Pages [272] Year 2012
Toni Diederich
Siegelkunde
Beiträge zu ihrer Vertiefung und Weiterführung
2012
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Annemarie und Helmut Börner-Stiftung, des Erzbistums Köln, der Freunde des Kölnischen Stadtmuseums e.V. sowie des Landschaftsverbandes Rheinland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Ältestes Siegel des Stiftes St. Ursula zu Köln (Rolf Zimmermann) © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung/Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth GmbH, Erftstadt Satz: Punkt für Punkt, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20956-8
Inhalt Vorwort ............................................................................................. I.
VII
Der höchste Sinn im Siegel: Wege zur Erschließung des Siegels als Geschichtsquelle .................................................
1
II.
Siegelforschung und Patrozinienforschung ...............................
27
III.
Vom Nutzen der jüngeren Siegel-Typologien und der Behandlung einzelner Siegeltypen ............................................
53
IV.
„Willkürsiegel“ – „Fantasiesiegel“ – Ornamentsiegel .................
72
V.
Vorkommen, Eigenart und Bedeutung von Mischtypen ...........
85
VI.
Beobachtungen zur Siegelgröße, zum Bedeutungsmaßstab in Siegeln und zur „Usurpation“ von Siegeltypen .....................
99
VII. Ohne feste Regeln und Konventionen: Beobachtungen zur Frühzeit der Siegelpraxis ............................ 130 VIII. Zum Gebrauch lateinischer Verskunst in Siegelumschriften ..... 146 IX.
Siegelkunst und Grabmalkunst. Beobachtungen zu ihren partiellen Übereinstimmungen und zur Beeinträchtigung beider durch den Siegeszug der Heraldik .................................. 178
X.
Gefälschte Siegelstempel: Wie kann man sie erkennen? ............ 221
Literaturverzeichnis ........................................................................... 250 Bildnachweis ..................................................................................... 257
Vorwort Meine Beschäftigung mit Siegeln umfaßt inzwischen fast ein halbes Jahrhundert. Am Anfang stand die Analyse der Siegel des Stiftes St. Florin zu Koblenz, die mir zum siegelkundlichen Schlüsselerlebnis geworden sind. Als ich nämlich im Rahmen meines Dissertationsvorhabens1 nach vorausgegangener Auswertung der einschlägigen Literatur 1962 im damaligen Staatsarchiv (heute: Landeshauptarchiv) Koblenz mir systematisch die Urkunden des Stiftes St. Florin vornahm, stieß ich sogleich auf zwei Ausfertigungen einer Urkunde vom Jahre 959. Auf einem der beiden Pergamente war (und ist) das aufgedrückte Siegel des Trierer Erzbischofs Heinrich I. (956–964) in noch recht gutem Zustand erhalten. Es war mir nicht bewußt – es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis ich ahnte und schließlich sicher war –, daß es sich bei diesem Siegel um das älteste überkommene Bischofssiegel auf einer Urkunde nördlich der Alpen handelt.2 Die weitere Analyse des genannten Bestandes – und das war für mein anhaltendes Interesse an Siegeln entscheidend – führte bald bei einer Urkunde von 1191 zu einer ikonographischen Merkwürdigkeit: Das an dieser Urkunde befestigte älteste (spitzovale) Siegel des Stiftes St. Florin zu Koblenz (vgl. Kapitel II, Abb. 1) zeigt in der Bildmitte die thronende Muttergottes mit dem Kind auf dem Schoß, der Sphaira in der Rechten und einem Kreuzstab in der Linken. Die sie oben umrahmende Umschrift lautet: S(AN)C(T)A MARIA I(N) CONFLVENTIA. Beiderseits des Thrones finden sich, ganz an den Rand gerückt und in den Raum der Umschrift hineinragend, zwei kniende, mit Nimbus versehene kleinere Gestalten, die im unteren Teil der Umschrift (heraldisch) rechts mit S(ANCTVS) INNOC(ENTIVS) und links mit S(ANCTVS) FLORINVS bezeichnet sind. Warum in diesem Siegel die Muttergottes – zentral und absolut dominierend – dargestellt ist und was ein hl. Innozenz (welcher?) in dem Siegel des Stiftes St. Florin zu suchen hat, ist mir später aufgegangen und in meiner Dissertation erläutert worden.3 Die Erkenntnisse, die ich aus den Siegeln des Stiftes St. Florin zu Koblenz gewinnen konnte, veranlaßten mich, ihnen in meiner Dissertation ein eigenes Kapitel zu widmen, sie alle 1 2 3
Anton Diederich, Stift St. Florin zu Koblenz. Farbige Abbildung in: Toni Diederich, Bedeutung des Siegelwesens, S. 7, Abb. 3. Anton Diederich (wie Anm. 1), S. 31–36 (Abschnitt „Das Patrozinium“).
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Vorwort
abzubilden und dem „Wert der Siegel als historischer Quelle“ das Wort zu reden.4 Ich werde auf die Siegel von St. Florin in den nachfolgenden Kapiteln zurückkommen. Der teilweise Rückgriff auf diese und andere von mir schon früher behandelte Siegel mag seine Rechtfertigung darin finden, daß sie beispielhaft für das stehen, was man ebensogut auch aus anderen Siegeln ableiten könnte. Die hier vorgelegten Beiträge sind überwiegend Themen gewidmet, die bisher gar keinen oder kaum einen Eingang in die siegelkundlichen Handbücher und Überblickswerke gefunden haben, künftig aber für die Forschung von Interesse sein könnten, da diese sich seit einiger Zeit in zunehmendem Maße von der Deskription, d. h. der reinen Beschreibung und Einordnung der vorgefundenen Phänomene, gelöst hat und zur Reflexion der Inhalte übergegangen ist, welche dem Siegel auch als Kleinkunstwerk und als Bedeutungsträger gerecht wird. Bei der künstlerischen Seite des Siegels handelt es sich um einen Komplex, der von den Kunsthistorikern bis auf einige Ausnahmen lange vernachlässigt worden ist und erst in jüngster Zeit stärker ins Blickfeld gerät.5 Dabei ist allerdings festzustellen, daß die neueren kunsthistorischen Ansätze nicht hinreichend auf den Erkenntnissen basieren, die wir Rainer Kahsnitz verdanken. Dieser hat sich wie kein anderer Kunsthistoriker seit 1970 mit Siegeln beschäftigt und, zugegebenermaßen z. T. an entlegener Stelle, Grundsätzliches zum Kleinkunstwerk Siegel geäußert, was zur Kenntnis genommen und weiter reflektiert werden sollte. Welchen Wert Siegel und Siegelkunde für andere Wissenschaftszweige haben, ist in der Vergangenheit schon häufiger herausgestellt und auch von mir mehrmals aufgelistet worden. Diesbezüglich ist vor allem an Heineccius, Melly und von Berchem zu erinnern. Gegenüber allen älteren Äußerungen 4
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Ebenda, S. 223–225, Zitat S. 225. Es ist sehr zu bedauern, daß etliche Stifts- und Klostermonographien nicht auf die Siegel der betreffenden Institution eingehen. Auch meiner vor Jahren bei der „Germania Sacra“ (Dr. Irene Crusius) vorgetragenen Anregung und Bitte, die Siegel von Stiften und Klöstern nicht nur im Text zu behandeln, sondern auch abzubilden, wurde mit Hinweis auf die damit verbundenen Mehrkosten nicht entsprochen. Einen kritischen Forschungsbericht, der auch die kunsthistorische Seite stärker berücksichtigt, bietet nunmehr Markus Späth, Bildlichkeit korporativer Siegel. Perspektiven, S. 9–29. Späth führt dort S. 10, Anm. 4, Francis Wormland an, der schon 1975 die Haltung der Kunstgeschichte gegenüber dem Medium Siegel als „a certain snobbery“ bezeichnet hatte.
Vorwort
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zu diesem Thema bedeutet das einschlägige Kapitel bei Michel Pastoureau6 einen qualitativen Sprung, nicht nur wegen der umfänglichen Liste der von ihm benannten Disziplinen, sondern auch wegen der näheren Ausführungen zur Sache und der damit verbundenen Überlegungen. Mit Recht hat Pastoureau die Siegelkunde als «domaine pluridisciplinaire par excellence» bezeichnet.7 Das Siegel ist aber auch, wie ich schon vor Jahrzehnten in Anlehnung an Günter Bandmann gezeigt habe, Bedeutungsträger. Insofern ermöglicht es Rückschlüsse auf den Auftraggeber und seine mit der Siegelschöpfung verfolgten Absichten. Dieser zentrale Aspekt, der Wert des Siegels als Geschichtsquelle, liegt mir besonders am Herzen, denn es geht mir bei meinen Siegelforschungen nicht primär um die Behandlung äußerer siegelkundlicher Phänomene, sondern um historische Erkenntnis. Deshalb beschäftige ich mich in dem ersten Kapitel etwas allgemeiner und grundsätzlicher mit dem Siegel als Geschichtsquelle. Aus erkenntnistheoretischen Gründen werden dort auch schon siegeltypologische Fragen angesprochen, die ich in den folgenden Kapiteln weiter verfolge und die insofern einen Schwerpunkt des hier vorliegenden Sammelbandes bilden. Die restlichen Kapitel sind ganz unterschiedlichen Themen gewidmet. Diese habe ich z. T. schon in früheren Veröffentlichungen kurz angesprochen, aber auch ihnen ist gemeinsam, daß sie in der bisherigen siegelkundlichen Literatur kaum Beachtung gefunden haben. Es lag mir daran, meine Ausführungen, in die gelegentlich sehr persönliche Erfahrungen eingeflossen sind, stets durch konkrete Beispiele zu unterfüttern und damit anschaulich zu machen. Zu diesem Zweck habe ich in wichtigeren Fällen auch Abbildungen von Siegeln beigefügt. Die Richtigkeit siegelkundlicher Überlegungen muß sich immer am konkreten Objekt beweisen. Die von mir beigebrachten Siegel, bei denen es sich vorwiegend um anspruchsvolle Stücke von Angehörigen der siegelführenden Oberschicht und von wichtigeren Institutionen und Korporationen des Mittelalters handelt, stehen als pars pro toto. Dabei dürfte eines klar sein: Auch wenn wir die Masse des Siegelmaterials nie überblicken werden, lassen die vielen publizierten und mehr noch die riesige Zahl unpublizierter Siegel künftig noch manche Korrekturen am bisherigen Forschungsstand und eine Menge neuer Erkenntnisse erwarten. 6 7
Michel Pastoureau, Les sceaux, S. 62–76. Ebenda, S. 7.
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Vorwort
Ganz bewußt verzichte ich in dem vorliegenden Sammelband darauf, häufiger diskutierte Fragen wie die Entstehung der ältesten Städtesiegel noch einmal zu behandeln, obwohl sich auch dazu bei mir einiges an Material und neuen Überlegungen angesammelt hat. Eine solide Neudiskussion solcher Themen würde eine Rekapitulation, Synopse und Bewertung aller einschlägigen Publikationen und Argumente notwendig machen, was zwangsläufig zu größeren Abhandlungen mit umfangreichem Anmerkungsapparat führen würde. Gerade solche lagen nicht in meiner Absicht. Vielmehr hoffe ich, mit den vorliegenden Beiträgen, in die eine Reihe meiner bisher gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse eingeflossen sind, der künftigen Forschung Impulse geben zu können. Mögen meine notwendiger weise knapp gefaßten Ausführungen zu einer Vertiefung und Verbreiterung siegelkundlicher Fragestellungen beitragen! Es ist mir ein aufrichtiges Anliegen, auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank für mannigfache Hilfen zu bekunden, die mir in freundlicher und freundschaftlicher Weise zuteil geworden sind. Dieser Dank gilt insbesondere Clemens M. M. Bayer, Prof. Dr. Dr. Günther Binding, JeanLuc Chassel, Dr. Joachim Deeters, Dr. Artur Dirmeier, Prof. Dr. Rainer Kahsnitz, Dr. Matthias Kordes, Dr. Joachim Oepen, Dr. Stefan Pätzold, Prof. Dr. Andrea Stieldorf und Marc-Robert Wistuba. Toni Diederich
I. Der höchste Sinn im Siegel: Wege zur Erschließung des Siegels als Geschichtsquelle Ein Siegelring ist schwer zu zeichnen, Den höchsten Sinn im engsten Raum; Doch weißt du hier ein Echtes anzueignen, Gegraben steht das Wort, du denkst es kaum. Johann Wolfgang von Goethe
Unserem Dichterfürsten verdanken wir viele vortreffliche Beobachtungen. In seinem „West-östlichen Divan“, und zwar im Gedicht „Segenspfänder“, kennzeichnet Goethe nach Talisman in Karneol, Amuletten, Inschrift und Abraxas am Ende, gleichsam als Schluß- und Höhepunkt, den Siegelring mit dem obigen Vierzeiler. Mit den beiden Superlativen – „den höchsten Sinn im engsten Raum“ – hat Goethe etwas Entscheidendes nicht nur bezüglich des Siegelrings, sondern des Siegels überhaupt ausgedrückt: das Bestreben des Siegelführers, in dem kleinen, ihm aber so wichtigen Objekt Siegel den „höchsten Sinn“ zu offenbaren. Modern gesprochen, könnte man sagen: Der Siegelführer stellt im Siegel das dar, was ihm am wichtigsten ist. So wird das Siegel zu einer Quelle von authentischem Charakter („ein Echtes“), die man zur Gewinnung von Erkenntnis nutzen kann („weißt du ... anzueignen“). Goethe wird orientalische Siegel vor Augen gehabt haben, die als reine Schriftsiegel gestaltet waren1 und sich deshalb in ihrer Aussage auf „das Wort“ beschränkten. Der Typ des Schriftsiegels, der auch in fernöstlichen Kulturen verbreitet war, kommt im Okzident schon seit Ludwig dem Frommen vor: bei ihm mit dem bedeutungsvollen Herrschaftsprogramm der RENOVATIO REGNI FRANC(ORVM), wie ich unten zeigen werde. Aber auch für die übrigen Siegeltypen des abendländischen Mittelalters, die sich anderer Bildthemen bedienen, gilt das Wort Goethes vom „höchsten Sinn im engsten Raum“. Um die Aussage eines Siegels, die in einer konkreten 1
Vgl. Klaus Brisch, Artikel „Siegel“, XV. Islam.-Osman. Bereich, in: Lexikon des Mittelalters VII (1995), Sp. 1860 ff.
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Der höchste Sinn im Siegel:
historischen Situation – bei der Herstellung des Siegelstempels – angestrebt wird und in den von ihm genommenen Abdrücken, auch wenn sie aus einer viel späteren Zeit stammen, ablesbar ist, soll es im folgenden gehen.
Wie kann man die Intentionen des Siegelführers und seine „Botschaft“ im Siegel erkennen? Wenn wir von der nicht weiter zu hinterfragenden Prämisse ausgehen, daß der Siegelring oder Siegelstempel nicht nur ein notwendiges Utensil zur Erzielung von Siegelabdrücken bei der Verschließung von Briefschaften, der Beglaubigung von Urkunden und der Authentifizierung von Personen und Sachen war, sondern dem Siegelführer auch zur Darstellung seiner selbst und zur Übermittlung einer Botschaft diente, dann ergibt sich für den Historiker die Möglichkeit, etwas über den Siegelführer und seine Intentionen zu erfahren. Um zu tragfähigen Ergebnissen zu gelangen, bedarf es freilich einiger siegelkundlicher Vorkenntnisse und eines methodischen Vorgehens. Bei der Methode sind die Grundsätze zu beachten, nach welchen der Historiker generell verfahren muß, wenn er geschichtliche Personen, Sachverhalte und Ereignisse verstehen will: die Würdigung des Individuellen, d. h. des Einmaligen, und die Untersuchung der jeweiligen historischen Voraussetzungen.2 Da ein jeder Siegelstempel mitsamt den davon genommenen Abdrücken einmalig ist – das ergibt sich schon aus der Rechtsnatur des Siegels, das einzigartig und zudem kompliziert sein soll, um Fälschungen zu erschweren (ganz im Unterschied zum Wappen, das, auch wenn es von einer Einzelperson geführt wird, meist für ein Geschlecht, eine Gruppe oder gar ein Territorium steht) –, muß der Historiker das Einmalige und Besondere des Siegels herausarbeiten und bei der Gesamtwürdigung berücksichtigen. Das gilt insbesondere dann, wenn sich das Siegel durch künstlerische Qualität auszeichnet, welche bei der Interpretation eigens gewürdigt zu werden verdient. Das Einmalige und Besondere kann aber nur erkannt werden, wenn man das relevante Umfeld kennt, neben anderen künstlerischen Äußerungen also alle oder möglichst viele Siegel, die einen 2
Faustino Menéndez Pidal de Navascués, Il messaggio dei sigilli, Città del Vaticano 2002, S. 15, hat die letztgenannte Tatsache auf den Punkt gebracht: „Comprendere il sigillo è dunque conoscerne la storia.“
Das Siegel als Geschichtsquelle
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Vergleich und damit die Anwendung der vergleichenden Methode ermöglichen. Im Einzelfall, wenn trotz intensiver Suche keine oder nur sehr wenige Vergleichsstücke zur Verfügung stehen, ergeben sich spezifische Probleme und gegebenenfalls große Unsicherheiten in der Interpretation. Ein anderer Fall liegt dann vor, wenn aufgrund mangelnder Siegelpublikationen – umfassende Tafelwerke für ganze Landschaften oder größere Siegelführergruppen sind ohnehin selten – Vergleichsstücke in ausreichender Zahl nicht zu greifen sind. Dann ist es unerläßlich, sich durch gezielte Ermittlungen, u. U. durch eine zeitraubende systematische Sichtung einschlägiger Urkundenfonds, eine solide Quellenbasis zu verschaffen. Das bedeutet im weiteren: Schon aus heuristischen Gründen sind hier auch sphragistische Kenntnisse notwendig. Im übrigen gilt selbstverständlich: Wer sich erstmalig mit einem Siegel oder mehreren Siegeln beschäftigt, muß sich durch das Studium der siegelkundlichen Handbücher und Spezialliteratur das nötige Rüstzeug zur adäquaten Behandlung seines Themas verschaffen. Um ein Siegel und seine Aussage in ihrer Individualität würdigen zu können, ist es, wie oben im Hinblick auf Vergleichsmöglichkeiten schon gesagt wurde, notwendig, das historische Umfeld zu kennen. Dazu gehören die Siegel von Personen und Korporationen in einem vergleichbaren gesellschaftlichen Wirkungskreis (= sozialer Kontext), und zwar in der engeren oder weiteren räumlichen Umgebung (= geographischer Kontext), nicht zuletzt auch vergleichbare Selbstäußerungen in den diesbezüglich aussagekräftigen Urkundenteilen wie Intitulatio, Narratio und Corroboratio und in anderen Zeugnissen (= quellenmäßiger Kontext). Vor allem aber ist zum Verständnis und zur Gesamtwürdigung eines Siegels wichtig, die Entwicklung zu kennen, welche einer Siegelschöpfung vorausgeht. Da mit der Herstellung eines Typars höchst selten ein neuer Siegeltyp kreiert wird – i. a. folgt man einem schon länger existierenden Siegeltyp, was auch für die Verwendung von Mischtypen gilt –, ist es hilfreich, Bedeutung und Entwicklung der einzelnen Siegeltypen zu kennen.
Herausarbeitung von Siegeltypen Zwecks Ordnung und Unterteilung des riesigen überlieferten Siegelmaterials hat man in der Vergangenheit Typologien entwickelt, die sich an äußeren
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Der höchste Sinn im Siegel:
Kriterien wie Material, Form, Funktion oder dargestellten Motiven orientieren. Alle haben ihre Berechtigung und ihren Nutzen. Das gilt insbesondere für die Unterscheidung von 23 Siegeltypen in dem vom Siegelausschuß des Internationalen Archivrats vorgelegten „Vocabulaire international de la sigillographie“, weil die dort nach dem Inhalt des Siegelfeldes benannten Typen, etwa „type (ou sceau) naval“ (= Schiffssiegel), als Kurzbezeichnungen – man denke an die Verzeichnung großer Siegelbestände – sehr praktisch sind und sofort eine grobe Vorstellung von dem Aussehen des Siegels vermitteln.3 Ich habe vor Jahren eine weitere, im Ansatz ganz neue Siegel-Typologie vorgeschlagen, die sich nicht äußerlich an dem dargestellten Gegenstand des Siegelfeldes, sondern an der von dem Auftraggeber intendierten Aussage orientiert und dem Verständnis des einzelnen Siegels dienen soll. Das Grundanliegen dieser Siegel-Typologie hat hier seinen Platz, weil es zu dem von Goethe beschriebenen „höchsten Sinn im engsten Raum“ zurückführt.
Die Anteile von Auftraggeber und Künstler an der Siegelgestaltung Bei unserem Bemühen, die in das Siegel gegrabene Botschaft richtig zu verstehen und damit das Siegel als Geschichtsquelle eigener Art zu nutzen, ergibt sich ein Problem, das einer differenzierten Betrachtung bedarf. Es ist die Frage, wie hoch die Anteile des Siegelführers (Auftraggebers) und des ausführenden Siegelstechers (Künstlers) bei der Gestaltung des Typars zu veranschlagen sind. Damit verbindet sich die Frage, die Günter Bandmann einst zum Ausgangspunkt seines grundlegenden Werkes über „Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger“ gemacht hat und die m. E. in der gleichen Weise für die Siegelkunst gestellt werden kann: warum „Orden, Städte oder andere einzeln oder kollektiv auftretende Auftraggeber bestimmte Formen aus dem überlieferten Typenvorrat wählen, fördern oder ablehnen“. Das sich wandelnde »Kunstwollen«, so Bandmann, „kann nicht ausreichend zur Erklärung der Schöpfung, der Rezeption oder Ablehnung von Typen sein; es ist nur bei der Wandlung innerhalb der Typen als erster Antrieb befriedigend“.4 Was Günter Bandmann zur geschichtlichen und symboli3 4
Vocabulaire international, S. 151–163. Günter Bandmann, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951, S. 7.
Das Siegel als Geschichtsquelle
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schen Bedeutung der Formen in der mittelalterlichen Architektur und zum mittelalterlichen Kunstwerk überhaupt entwickelt hat, läßt sich großenteils auch auf das mittelalterliche Siegel übertragen. Es ist erstaunlich, daß die Überlegungen und Erkenntnisse Bandmanns lange Zeit von der Siegelforschung nicht zur Kenntnis genommen worden sind, obwohl dieser doch auch die Siegel im Blick hatte und bei ihm Erhellendes über ihre Bedeutung zu lesen ist. Ich habe erstmals 1977 auf Bandmann hingewiesen5 und dann 1983 seine Erkenntnisse zur Begründung meines Ansatzes für eine neue Siegel-Typologie genutzt.6 All das braucht hier nicht wiederholt zu werden, doch wollen wir die Feststellung Bandmanns bezüglich der mittelalterlichen Baukunst, „daß nicht so sehr der Künstler, sondern der Auftraggeber wichtig ist“7, dahingehend überprüfen, ob dies auch bezüglich der mittelalterlichen Siegelkunst gelten kann. Da es keinerlei Quellen gibt, die Aufschluß darüber geben, wie Auftraggeber und Künstler im Einzelfall zur Festlegung der endgültigen Siegelgestalt kamen, sind wir auf reine Vermutungen angewiesen. (Es kommt noch als bedauerliches Faktum hinzu, daß wir nur sehr wenige Siegelstecher mit Namen kennen und von ihnen nichts Näheres wissen.) Immerhin aber lassen sich gewisse Rahmenbedingungen für die Herstellung eines Siegelstempels aufzeigen, die nach Ort, Zeit und gesellschaftlicher Stellung des Auftraggebers jeweils verschieden gewesen sind. Daß man zeitlich differenzieren muß, ließe sich an dem großen Komplex der Herrschersiegel und -bullen von der Merowingerzeit bis zum ausgehenden Mittelalter leicht zeigen, weil die Forschung sich dieser Siegel in besonderem Maße angenommen und überzeugende Ergebnisse vorgelegt hat. Es sei nur auf Percy Ernst Schramm, Wilhelm Erben, Josef Deér, Rainer Kahsnitz und Hagen Keller hingewiesen. Inzwischen wissen wir, daß Inhalt und Aussage der Herrschersiegel in ottonisch-salischer Zeit, in welche die Entwicklung vom Brustbildsiegel über das Standbildsiegel zu dem dann dominierenden Thronsiegel fällt, stärker von der geistlich-geistigen Elite am Hof, den Angehörigen der Hofkapelle, geprägt wurden, der persönliche Anteil der Könige und Kaiser an der Gestaltung ihrer Siegelstempel also begrenzt war. 5
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Toni Diederich, Zum Quellenwert und Bedeutungsgehalt mittelalterlicher Städtesiegel, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 23 (1977), S. 269–285. Toni Diederich, Prolegomena, S. 242–284, zu Bandmann S. 255–257. Günter Bandmann (wie Anm. 4), S. 9.
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Der höchste Sinn im Siegel:
Daß mit deren Herstellung entsprechend ausgewiesene Goldschmiede betraut wurden, ergibt sich aus dem hohen Rang des jeweiligen Auftrags und der im Einzelfalle abzulesenden Qualität, mit der das am Hof entwickelte und vom Herrscher gebilligte Programm mitsamt vorgegebenen Einzelheiten für Siegelfeld und -umschrift künstlerisch umgesetzt wurde.
Goldbullen und Siegel von Kaisern und Königen Wie unterschiedlich die Anteile an der Gestaltung von Siegelstempeln gewesen sind, sei an zwei bedeutenden Kaiserbullen, demonstriert. Während die Rückseite der ab 1033 belegten zweiten Bulle Konrads II. mit der als AVREA ROMA bezeichneten Stadtabbreviatur und der Umschrift + ROMA CAPVT MVNDI REGIT ORBIS FRENA ROTVNDI in erster Linie dem engsten Umfeld des Kaisers zuzuschreiben ist – dem Kaiser selbst wie auch dem ausführenden Siegelstecher wird man das Schmieden eines leoninischen Hexameters nicht zutrauen –, verrät die Rückseite der nach der Kaiserkrönung vom 17. Januar 1328 entstandenen exzellenten Bulle Ludwigs des Bayern (Abb. 1) die souveräne Handschrift des Künstlers. Die gleichlautende Legende, die nach 1033 auf den Bullen mit dem Rombild beibehalten wurde, ist im Gesamtduktus ausgesprochen harmonisch und in der akkuraten Gestaltung der Details der gotischen Majuskel mit ihren zeittypischen Rundungen geradezu perfekt. Der Künstler, wohl ein Italiener, hat im Siegelfeld ein komplexes Bild der Stadt geliefert. Es besteht aus einer Vielzahl eindeutig bestimmbarer Bauwerke, die an einer Stelle (mit der St. PetersBasilika) in den Raum der Umschrift hineinragen und diese unterbrechen – das allein schon ein Beweis für die außergewöhnliche Gestaltungskraft des Künstlers. Aber auch hier gilt: Die Bulle, einschließlich der Darstellung des Kaisers auf der Vorderseite, muß den Intentionen Ludwigs des Bayern entsprochen haben und darf insoweit als Äußerung seiner selbst interpretiert werden. Bei der Würdigung dieser Bulle fällt besonders die Andersartigkeit der Romdarstellung gegenüber der gesamten vorherigen Bullentradition (an die Karl IV. unter – politisch gewollter – Umgehung Ludwigs des Bayern wieder anknüpfte) ins Gewicht. Der Rückgriff auf länger zurückliegende Vorbilder, das Festhalten an einem überkommenen Siegeltyp, die ikonographische Weiterentwicklung, Veränderung, Anreicherung oder Reduzierung eines von den Vorgängern verwendeten „Musters“ wie auch die Wahl eines
Das Siegel als Geschichtsquelle
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Abb. 1 Goldbulle Ludwigs d. Bayern, Rückseite
ganz anderen Typs müssen jeweils als bewußte Entscheidung gesehen werden, mit welcher der Herrscher sich und seine Herrschaft darstellt. In Anbetracht der von der bisherigen Forschung erbrachten Ergebnisse kann an der hohen Aussagekraft der Herrschersiegel nicht gezweifelt werden. Damit die erwähnten Kaiserbullen, die im übrigen in dem edelsten Material, Gold, hergestellt waren, nicht den Blick verengen, sei darauf hingewiesen, daß sich unsere allgemeinen Feststellungen nicht nur auf die mittelalterlichen Bullen und Wachssiegel der deutschen Könige und Kaiser, sondern auch auf die der Könige im gesamten Okzident beziehen. Betrachtet man die Verbreitung des Thronsiegels, das schon in zeitgenössischen Urkunden als sigillum maiestatis angekündigt wurde und daher in der siegelkundlichen Literatur auch als „Majestätssiegel“ erscheint, so wird klar, daß es sich hier wahrlich um einen Siegel t y p handelt. Dieser kommt, auch wenn die Könige (und vereinzelt auch Angehörige des hohen Adels) ihn nicht ausschließlich verwenden, praktisch in allen Reichen des Mittelalters vor – von Schweden und Dänemark bis Spanien, von England bis Ungarn und Sizilien.
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Der höchste Sinn im Siegel:
Nichtkönigliche Siegel: Auftraggeber – Künstler – spezifische Aussage Auch bei den nichtköniglichen Siegelführern, gleichgültig ob sie nun geistlichen oder weltlichen Standes sind, ob es sich dabei um Einzelpersonen oder kollektiv auftretende Siegler handelt, erweisen sich Siegel als Geschichtsquellen eigener Art, weil sie Rückschlüsse auf die jeweiligen Auftraggeber ermöglichen. Als solche treten zunächst die Bischöfe, seit dem Hochmittelalter auch geistliche Institutionen (Stifte und Klöster), deren obersten Repräsentanten (Pröpste, Äbte und Äbtissinnen) und auf weltlicher Seite sukzessive die Herzöge, Grafen und Städte in Erscheinung, bis dann im Spätmittelalter aufgrund des Siegeszuges der Siegelurkunde praktisch alle Institutionen, Korporationen und Einzelpersonen bis hin zum niederen Kleriker, Bürger und Bauern sich ein Siegel zulegen (können). Auch bei diesen Siegelführern besteht eine enge Beziehung zum eigenen Siegel, und mutatis mutandis wird auch von ihnen unter Verwendung eines bestimmten Siegeltyps eine Aussage angestrebt. Mit und in seinem Siegel teilt sich der Siegelführer, ob Einzelperson oder Korporation, gegenüber der für ihn relevanten Umgebung, und zwar über den Kreis der tatsächlichen Urkundenempfänger hinaus, mit: nicht unbedingt wie er ist, sondern wie er gesehen werden will. Auch bei den nichtköniglichen Siegeln des Hoch- und Spätmittelalters8 stellt sich die Frage nach den Anteilen von Auftraggeber und ausführendem Goldschmied bei der Siegelgestaltung. Aus dem oben Gesagten ergibt sich, daß diese Frage immer nur am einzelnen Siegel in Würdigung der jeweiligen historischen Voraussetzungen untersucht werden kann. Trotzdem will ich nachfolgend einige allgemeine Überlegungen anstellen, die aus der Beschäftigung mit vielen Einzelsiegeln erwachsen sind und als Ausgangspunkt für die Interpretation eines jeden Siegels von Nutzen sein können. Zu den notwendigen Differenzierungen, auch wenn man sich im Allgemeinen bewegt, gehört die Bewertung der sozialen Stellung des Auftraggebers und des Ranges des Siegels im Spektrum eines entwickelten Siegelwesens, wie wir es in der Blüte des Spätmittelalters antreffen. Das heißt konkret: Wir haben zu unterscheiden, ob es sich etwa um ein anspruchsvolles großes Reitersiegel 8
Die Neuzeit klammern wir hier bewußt aus, weil durch den Niedergang des Siegelwesens die Funktion des Siegels als Bedeutungsträger nicht mehr in gleichem Maße wie im Mittelalter gegeben ist.
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(Hauptsiegel) eines Grafen oder um ein Nebensiegel (etwa Gegensiegel, Sekretsiegel oder Ad causas-Siegel) einer Stadt handelt, die im Extremfall nach dem Verständnis der modernen Forschung nicht einmal die Kriterien einer Stadt erfüllt.9 Die Unterschiede sind schon äußerlich an der Siegelgröße ablesbar, wenn man z. B. das große, ca. 7,7 cm im Durchmesser messende Rundsiegel des Grafen Adolf VI. von Berg (1308–1348) (Abb. 2)10 mit dem ca. 4,7 cm großen runden Sekretsiegel seiner Stadt Radevormwald
Abb. 2 Reitersiegel des Grafen Adolf VI. von Berg
9 Ein Beispiel dafür: Blankenberg an der Sieg, das nach der Stadterhebung von 1245 durch den schon in der Silvesternacht 1246/47 erfolgten Tod des Grafen Heinrich III. von Sayn und die nachfolgende Aufteilung des Saynschen Erbes sich nicht zur wirklichen Stadt entwickelte, sondern bis zur förmlichen Aufhebung der Stadtrechte im Jahre 1775 nicht mehr als eine „Kümmerstadt“ gewesen ist. 10 Abbildungen bei Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel VI, Tafel 10, Nr. 2, und Toni Diederich, Zum Alter der Stadtrechte von Radevormwald, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 38 (1974), S. 248–272, hier Abb. 3.
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Der höchste Sinn im Siegel:
(Abb. 3) vergleicht. Ikonographisch sind die Sekretsiegel oft (wie die von Blankenberg und Radevormwald) ein Spiegel des großen Stadtsiegels (Abb. 4), also nur im Zusammenhang mit diesem zu verstehen.11 Bei der Schaffung der Typare zu den Haupt- und Nebensiegeln von Blankenberg und Radevormwald ist ein Einfluß des jeweiligen Stadtherrn auf die Gestaltung des Siegelfeldes als sicher anzunehmen. Dies gilt i. d. R. auch für die städtischen Nebensiegel, welche das Wappen des Stadtherrn zeigen.12
Abb. 3 Sekretsiegel der Stadt Radevormwald
Bei Städten, die sich dem Einfluß des Stadtherrn entziehen konnten, liegt der Fall i. a. anders. Hier bestimmt wohl eine Gruppe von führenden Leuten darüber, wie sich die Stadt in ihrem Siegel darstellen will. Ähnliches gilt auch für alle anderen Korporationen. Man darf vermuten, daß bei diesen immer einzelne, in der Sache besonders engagierte und durch Bildungs- bzw. Wissensvor11 Vgl. Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel III, Tafel 68, Nr. 1–4; Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 186–189 (Blankenberg) und S. 311 f. (Radevormwald). 12 Ein sehr instruktives Beispiel sind die Gegensiegel der Stadt Zülpich aus dem 13. Jahrhundert. Sie sind als reine Wappensiegel gestaltet. Das erste zeigt den Jülicher Löwen, das zweite – nach dem Machtwechsel aufgrund des Pingsheimer Friedens von 1279 – das kurkölnische Kreuz; vgl. Toni Diederich, Grundzüge des Siegelwesens im ausgehenden 13. Jahrhundert, in: Der Name der Freiheit 1288–1988. Aspekte Kölner Geschichte von Worringen bis heute (Handbuch zur Ausstellung), Köln 1988, S. 90 f. mit Abb. 8 und 9. Zur Einflußnahme des Landesherrn auf die Siegel seiner Städte vgl. Toni Diederich, Städtische Siegelführung im Mittelalter, in: Grundherrschaft und Stadtentstehung am Niederrhein (Klever Archiv 9), Kleve 1989, S. 79–98.
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sprung ausgezeichnete Mitglieder die geistige und faktische Führerschaft in der Siegelfrage übernommen haben. Sie werden das Programm des Siegels entwikkelt und dem ausführenden Toreuten entsprechende Vorgaben gemacht haben.
Abb. 4 Großes Siegel der Stadt Radevormwald
Bei hochrangigen persönlichen Siegelführern darf man generell mutmaßen, daß sie erst den Rat eines Vertrauten oder eines „Experten“ einholten und daraufhin festlegten, wie das Siegel auszusehen habe. In der entscheidenden letzten Phase mögen dann, je nach Erfahrung, Kompetenz und Meisterschaft des mit der Herstellung des Typars beauftragten Siegelstechers, i. d. R. eines Goldschmiedes, dessen Vorschläge zu Größe, Form, Gesamtkomposition und Details, u. U. nach Präsentation eines Wachsmodells, zum Tragen gekommen sein. Das zuvor erwähnte Reitersiegel Adolfs VI. von Berg (Abb. 2) ist ein weiteres schönes Beispiel für die Gestaltungskraft eines Siegelstechers. Im genannten Siegel hat er den nach (heraldisch) links sprengenden Reiter in einen Vielpaß gestellt, der ebenso wie die kräftige, gleichmäßig ausgeführte Umschrift an vier Stellen von den Vorder- und Hinterhufen des Rosses, von der Spitze des vom Reiter geschwungenen Schwertes und von den mit Pfauenfedern besetzten Schirmbrettern des Reiters und des Pferdekopfes unterbrochen wird. Der Künstler hat also den gesamten Raum für die Darstellung des dahinstürmenden Reiters genutzt. Die vorn unter dem Leib und hinten
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Der höchste Sinn im Siegel:
über dem Schwanz des Rosses in breitem Schwall auffliegende Decke wie auch die weit ausgreifenden Vorder- und Hinterbeine des Pferdes machen die Schnelligkeit der Bewegung deutlich. Ein weiteres Zierelement neben dem erwähnten Vielpaß ist die Feldmusterung: ein Rautengitter, das in jeder Raute eine Kugel enthält. Der hohe Anteil des Siegelschneiders an der Gestaltung des vorliegenden Siegels erschließt sich erst richtig, wenn man es mit den Siegeln der Vorgänger und Nachfolger des Grafen vergleicht. Deren Siegel sprechen bei gleichem Bildmotiv künstlerisch jeweils eine andere Sprache. Es bedarf keiner Frage, daß Adolf VI. von Berg sich mit seinem Siegel identifizierte, nicht nur vordergründig durch die Umschrift SIGIL – LVM : AD – OLFI : COMITIS – DE : MONTE, den Wappenschild mit dem bergischen Löwen und die Löwen auf der Pferdedecke, sondern auch innerlich mit der Darstellung seiner selbst. Zudem dürfte er an dem meisterlich gearbeiteten Typar, das wohl aus Bronze oder Messing bestand, seine Freude gehabt haben. Daß auch das hier verwendete Material13 – gar nicht zu reden von dem für Typare seltener benutzten Silber – zur besonderen Wertschätzung eines Siegelstempels beitrug, wird jedem klar sein, der einmal einen Originalstempel in der Hand gehalten hat. Zu dem äußeren Reiz eines mittelalterlichen Siegelstempels mit seiner negativ gravierten Prägeseite und seiner sauber ausgeführten, im Spätmittelalter häufiger auch kunstvoll gestalteten Handhabe auf der Rückseite kommt die Tatsache, daß nach allen uns bekannten Angaben in Rechnungsbüchern und anderen Quellen die Herstellung eines Typars i. d. R. ihren Preis hatte. Aus den genannten Gründen war ein Siegelstempel eine Kostbarkeit; ihn mußte der Siegelführer auch deshalb sorgsam hüten, weil ihm daran gelegen sein mußte, eine mißbräuchliche Verwendung auszuschließen.
Medialer und künstlerischer Charakter des Siegels Was abgeleitet von den Grabmälern bezüglich der Kunstwerke insgesamt zugespitzt formuliert worden ist, kann generell auch für die Siegel der weltlichen und geistlichen Oberschicht des Mittelalters gesagt werden: Sie „sind Medien, die einem bestimmten Publikum durch Bilder und Texte eine Bot13 Vgl. hierzu Norberto Gramaccini, Zur Ikonologie der Bronze im Mittelalter, in: Städel-Jahrbuch NF 11 (1987), S. 147–170.
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schaft vermitteln sollen, eine Botschaft, auf deren Abfassung die Absender viel Zeit, Mühe und Geld verwandt haben“.14 Mit gewissen Einschränkungen gilt diese Feststellung auch für die nicht zur gesellschaftlichen Elite gehörenden persönlichen und korporativen Auftraggeber. Auch deren Siegelstempel, die schon durch eine geringere Größe und ihr massenhaftes Vorkommen, besonders im ausgehenden Mittelalter, auffallen, sind in aller Regel Goldschmiedearbeiten. Diese zählt man gemeinhin zum Kunstgewerbe. Dazu hat Günter Irmscher – mit deutlicher Kritik an der überkommenen Universitätslehre – festgestellt, „daß die moderne, sich selbst als streng »wissenschaftlich« einschätzende Universitäts-Kunsthistoriographie mit ihrem Wertschätzungsordo Malerei, Plastik, Architektur, »Kunstgewerbe« die historischen Realitäten hinsichtlich der Präferenzen von Materialien und der diese bearbeitenden Handwerke immer noch völlig verkennt“.15 Dem läßt sich hinzufügen, daß in den kunsthistorischen Publikationen das Wort „Siegelkunst“, mit dem ich schon 1978 meinen Beitrag im Handbuch der Kölner Parler-Ausstellung überschrieben habe16, gemeinhin nicht vorkommt.17 Material, Rechtscharakter und künstlerische Seite des Siegels, so wichtig sie für den Siegelführer selbst und im weiteren für die Forschung sein mögen, sollen hier zurücktreten gegenüber dem schon mehrfach angesprochenen Aspekt, daß der Auftraggeber das Siegel als Mittel der Selbstdarstellung benutzt. Dies gilt natürlich in viel weitergehendem Maße für persönliche Siegelführer mit hohem Selbstverständnis und Anspruch (Kaiser, Könige und Angehörige des hohen Adels und der hohen Geistlichkeit) als für die ihnen in der mittelalterlichen Gesellschaft nachgeordneten Siegelführer. Vergleichbare Abstufungen konstatieren wir bei den institutionellen bzw. korporativen Auftraggebern. Bei allen ist das Bestreben, sich selbst durch das 14 Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid, Grabdenkmäler der Erzbischöfe, S. 28. 15 Günter Irmscher, Kölner Goldschmiedehandwerk, Zitat im Textband, S. 11. 16 Toni Diederich, Siegelkunst. 17 Vgl. auch: Eckart Henning, Gabriele Jochums (Bearb.), Bibliographie zur Sphragistik, wo im Gesamtregister das Stichwort „Siegelkunst“ nicht erscheint, offenbar weil es in den 2613 Titeln der Bibliographie nur zweimal vorkommt. Dies ist deshalb erstaunlich, weil einzelne Autoren schon seit langem das Siegel als Kleinkunstwerk herausgestellt und darauf hingewiesen haben, daß es sich dabei oftmals um Werke von hohem künstlerischem Rang handelt; vgl. dazu auch den Forschungsbericht von Markus Späth, Bildlichkeit korporativer Siegel, Perspektiven.
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Medium Siegel mitzuteilen und darzustellen, unverkennbar. Das trifft in gewisser Weise auch noch für den städtischen Bürger zu, der ein kleines Wappensiegel schneiden läßt: Allein schon durch die Wappenführung und die Demonstration seines Wappens bekundet er seinen Rang in der Stadtgesellschaft. Vollends sichtbar wird eine solche Intention, wenn der Bürger auch noch ein kleines Typar mit demselben Wappen anfertigen läßt oder gar eine antike Gemme benutzt, um sein Siegel mit einem Rücksiegel zu versehen; eine Notwendigkeit aus rechtlichen oder anderen Gründen zur Verwendung eines Rücksiegels bestand für den Bürger ja nicht. So wird auch bei etlichen Siegeln von Angehörigen des niederen Adels und des Bürgertums erkennbar, welchen Aufwand sie für ihre Verhältnisse mit dem Erwerb ihrer Siegelstempel trieben. Auch für sie war das Siegel etwas Wichtiges, ein Teil ihrer selbst und ein willkommenes Medium, um sich allen, die es anging, mitzuteilen.
Eine wichtige Entscheidung des Auftraggebers: Wahl des Siegeltyps Der Hinweis auf die haptische und ästhetische Seite des Typars – der Siegler wird es i. d. R. mit Freude, Genugtuung und Stolz in die Hand genommen haben – hat sicherlich generell seine Berechtigung. Die sich wie ein Leitmotiv durch unsere Überlegungen ziehende Feststellung, daß der Auftraggeber eines Siegelstempels mit jedem später davon hergestellten Siegelabdruck eine Botschaft aussenden will, leitet über zu der Frage, warum er sich bei der Auftragsvergabe für einen bestimmten Siegeltyp oder eine Kombination von bestimmten Siegeltypen entschied und damit zugleich andere Typen ablehnte. Wir kommen also wieder zu den Siegeltypen zurück und damit zu der Frage, welche Bedeutung ihnen historisch zugrunde liegt und welche Bedeutung sie jeweils für den Auftraggeber besitzen. Es versteht sich, daß hier nicht alle Siegeltypen aufgezählt und nicht einmal einige von ihnen in ihren wichtigeren Aspekten, etwa bezüglich ihrer Entstehung, Entwicklung, Variierung, Verbreitung und vor allem ihrer symbolischen und geschichtlichen Bedeutung, abgehandelt werden können. Wir beschränken uns daher auf einige grundsätzliche Überlegungen und eine Reihe von Beobachtungen zu einzelnen Siegeltypen. Sie sind im übrigen Gegenstand von nachfolgenden Kapiteln.
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Bildnissiegel Ausgangspunkt ist das Bildnissiegel, weil die ältesten bekannten Siegel des Mittelalters, nämlich die verschiedener Merowingerkönige, als Bildnissiegel gestaltet wurden, was zunächst einmal angesichts der Bedeutung der Darstellung des Menschen seit den ältesten Hochkulturen nicht verwundern kann. Den germanischen Völkern waren ursprünglich allerdings Siegel, Schrift und Bildnis fremd.18 Daher kann man die ersten Siegel – sie zeigen alle einen frontalen Kopf bzw. eine frontale Büste des Königs mit dem ihn kennzeichnenden langen, von einem Mittelscheitel herabfallenden Haupthaar19 – nur aus den Erfahrungen und Impulsen erklären, die sich aus der Begegnung der jungen, in die Geschichte eintretenden Völker mit der spätantiken Kultur ergaben. Welche Faktoren und Vorbilder auf die Gestaltung der merowingischen Königssiegel eingewirkt haben, wäre noch genauer zu untersuchen. Bei der Rezeption des Bildnisses und seiner Einfügung in den neuen kulturellen Kontext des merowingischen Königssiegels dürften die geschichtliche Bedeutung des sakralen Herrschertums und in formaler Hinsicht die strenge Frontalität der spätantiken Herrscherbilder zum Tragen gekommen sein. Ausnahmen von der frontalen Darstellung der Kaiser gibt es bei Gemmen und Münzen. Letztere zeigen Profilköpfe allerdings nur bis in die ersten Jahrzehnte Konstantins des Großen. Die danach geprägten spätantiken Kaisermünzen mit dem frontalen Bildnis des Herrschers waren ohne Zweifel Vorbild für die merowingischen Nachprägungen und dürften auch die Gestaltung der merowingischen Siegel bestimmt haben.20 Harald Keller, der bei seinem Überblick über das Nachleben des antiken Bildnisses leider nicht auf die Siegel der Merowinger und Karolinger eingegangen ist, hat die Auseinandersetzung der in Italien eingewanderten Germanen mit der Bildwelt der Antike am Beispiel des in Treibarbeit ausgeführten Stirnbandes eines 18 Siegel lernten sie erst bei den Römern kennen, wie auch das von dem lateinischen sigillum abgeleitete Lehnwort für Siegel in den heutigen Sprachen nördlich der Alpen zeigt. Zu Schrift und Bildnis als Kennzeichen des Geschichtlichwerdens vgl. Günter Bandmann (wie Anm. 4), S. 126–130. 19 Abbildungen in Originalgröße und in starker Vergrößerung bei Martine Dalas, Corpus des sceaux français, S. 77 ff. 20 Andrea Stieldorf, Gestalt und Funktion der Siegel auf den merowingischen Königsurkunden, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 47/48 (2001/2002), 133–166, hier S. 147.
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Helms (heute im Bargello zu Florenz) untersucht. Dort erscheint im Mittelpunkt einer Majestas-Darstellung der (durch eine Inschrift gesicherte) Langobardenkönig Agilulf (591–615), der ebenfalls mit langem, die Ohren bedeckendem Haupthaar dargestellt ist. Keller sieht in der Treibarbeit keine eigenständige germanische Kunst der Völkerwanderungszeit, sondern ein Werk, das auf dem Boden der römischen Provinzialkunst erwachsen ist.21 In Kenntnis der späteren Bildnissiegel des Hoch- und Spätmittelalters, aber auch im Vergleich mit den spätantiken Münzen, soweit sie Herrscherporträts zeigten, wird man die durchaus eigenständige, primitive Gestaltung22 der Merowingersiegel nicht übersehen können. Stellen sie in ihrer historischen Bedeutung, wenn man die Tradition bezüglich des sakralen Charakters von Herrscherbildnissen nicht überbetonen will, also einen Neuanfang dar23, so blieb ihnen in der Folge ein direkter Einfluß auf die Siegel der karolingischen Herrscher versagt. Diese benutzten für ihre Siegel nämlich antike Gemmen, am häufigsten solche mit Profilköpfen der spätrömischen Kaiser. Entsprechend dem Gedanken von der renovatio des Römischen Reiches knüpften die Karolinger bewußt an römische Traditionen an, was auch daraus ersichtlich ist, daß sie sich in antiken Sarkophagen, Karl der Große etwa in einem Proserpina-Sarkophag, bestatten ließen. So wurde, wie Harald Kel-
21 Harald Keller, Das Nachleben des antiken Bildnisses von der Karolingerzeit bis zur Gegenwart, Freiburg 1977, S. 51. 22 Vergleichbar ist der Grabstein aus Niederdollendorf vom Ende des 7. Jahrhunderts im Rheinischen Landesmuseum Bonn; vgl. die Abbildungen und die Erläuterungen bei Ernst Dassmann, Die Anfänge der Kirche in Deutschland (Urban-Taschenbücher 444), Stuttgart 1993, S. 201 f. Mein akademischer Lehrer Paul Egon Hübinger, der mit den Jahren zunehmend von kulturpessimistischen Gedanken geplagt wurde, fand, wie er mir gegenüber einmal gestand, Trost in dem besagten Grabstein: niedriger könne eine Kultur nicht sinken – da sei es doch tröstlich zu wissen, was danach gekommen ist. Zur geringen Bedeutung der germanischen Herrscherbilder außerhalb der Münzen, die ihrerseits Nachprägungen nach dem Vorbild der römischen Kaiser waren, vgl. Percy Ernst Schramm, Die deutschen Kaiser und Könige, S. 31. 23 Nach Andrea Stieldorf (wie Anm. 20), S. 143, darf man in der Untersiegelung der merowingischen Königsurkunden zwar die Fortsetzung des spätantiken Urkundenwesens sehen, doch „gilt dies keineswegs für die Gestaltung der Siegelbilder, denn hier scheiden sowohl die Kaisersiegel als auch die Beamtensiegel als traditionsstiftend aus“.
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ler festgestellt hat, das gesamte staatliche Leben nunmehr von antiken Formen durchsetzt.24 Wie das Bildnis schon immer zu den großen Themen kunstgeschichtlicher Forschung gehörte, so waren in der Vergangenheit auch Sinn und Funktion des Bildnisses im Siegel wie auch speziell die symbolische Bedeutung der Herrschersiegel Gegenstand gelehrter Untersuchungen. Deren Ergebnisse können hier nicht im Detail wiedergegeben werden, doch sei nachfolgend die Entwicklung des Bildnissiegeltyps im Umfeld der wichtigsten daneben aufkommenden Siegeltypen bis weit ins Hochmittelalter hinein – jeweils mit kurzen Hinweisen auf die spezifische Aussage der Siegeltypen – vorgestellt. Auch wenn die Merowingerkönige in ihren Urkunden das Siegel nicht ankündigten und den Besiegelungsvorgang ihren Referendaren überließen25, kann es keinen Zweifel geben, daß das Siegel als Zeichen königlicher Autorität diente, das den Herrscher in magischer Weise vergegenwärtigte. Die Gestaltung des Siegels ist zwar sehr einfach, doch müssen die wenigen charakteristischen Elemente, die langen Haare und das z. T. zusätzlich ins Siegelfeld gesetzte Kreuz, so verstanden werden, daß der König sich selbst darstellen und als solcher erkannt werden will. Das Kreuz steht symbolisch für seine christliche Herrschaftsauffassung, welche an die Konstantins des Großen und der nachkonstantinischen Zeit anknüpft. Wir können als sicher unterstellen, daß der König die Wirkung auf seine Getreuen, die Urkundenempfänger und ihren Umkreis, im Blick hatte. Für diese war der in der Siegelumschrift namentlich bezeichnete König, wenn man die Urkunde zur Hand nahm, in effigie präsent (was im übrigen dem Bedürfnis der Germanen nach Anschaulichkeit entgegenkam). Zusammen mit der eigenhändigen Unterschrift des Königs verstärkte das Siegel das in der Urkunde enthaltene Königsgebot. Da Siegel, Schrift und Bildnis, wie oben erwähnt, den germanischen Völkern ursprünglich nicht vertraut waren, muß die Wirkung der ersten Urkunden, welche das Siegel mit dem Bildnis des Königs trugen, enorm gewesen sein. Das hohe Ansehen dieser Urkunden war sicherlich ausschlaggebend dafür, daß hier eine neue Tradition begründet
24 Harald Keller (wie Anm. 21), S. 55 f. 25 Vgl. hierzu und im folgenden die Untersuchung von Andrea Stieldorf (wie Anm. 20), wo auch die Erkenntnisse der älteren Forschung, insbesondere die von Peter Classen, eingeflossen sind.
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wurde, die in ihren Ausläufern bis zum hoheitlichen Siegelgebrauch unserer Zeit reicht.
Andere Siegeltypen – Sonderstellung der Gemmensiegel Die Karolinger bedienten sich, was nicht verwundern kann, ebenfalls der Siegelurkunde und der damit verbundenen Vorteile im Rechtsleben, übernahmen aber nicht den überkommenen Typ des Bildnissiegels. Vielmehr verwendete Pippin III. (751–768) zunächst ein Heiligensiegel (einziges Exemplar schlecht erhalten, Haupt Christi mit Kreuznimbus gut erkennbar), wechselte dann aber zu zwei Siegeln mit antiken Gemmen (erst Profilbüste eines bartlosen Mannes, dann bärtiger Bacchuskopf ). Karlmann (768– 771) wählte eine antike Gemme mit einer lorbeerbekrönten Profilbüste, einer Bacchantin. Mit Karl dem Großen (768–814) beginnt dann die lange Reihe der Siegel, für die antike Gemmen mit Profilköpfen, vor allem römischer Kaiser, benutzt wurden. Auch wenn es sich in allen Fällen um Bildnisse in Form von Kopf- oder Bruststücken handelt, sind sie der Aussage nach und damit nach unserer Typologie keine Bildnissiegel, sondern Heiligensiegel (Christus) bzw. Gemmensiegel. Letztere nehmen in mehrerlei Hinsicht eine Sonderstellung ein.26 Der Siegelführer, der eine antike Gemme erwarb, hatte keinen Einfluß auf die Gestaltung der Gemme. Er konnte beim Erwerb bestenfalls aus einem mehr oder weniger großen Vorrat auswählen. Die Gemmen mit ihren unterschiedlichen Motiven, mag es sich um Götter-, Menschen-, Tier-, Pflanzen-, mythische oder andere szenische Darstellungen gehandelt haben, waren vorgegeben, doch wird man nicht an einen ausgeprägten Galanteriewarenhandel mit großer Auswahl denken dürfen. Dafür waren Gemmen und Kameen, die während des Mittelalters in hohem Ansehen standen, zu selten. Das erklärt auch, warum die ersten oben genannten Karolinger noch keine Gemmen mit dem Porträt eines römischen Kaisers benutzten und erst, nachdem Karl der Große eine solche Gemme für sein Siegel erworben hatte, seine Nachfolger in Zugzwang gerieten und nunmehr ebenfalls mit antiken Kaisergemmen oder mit diesen nachgebildeten zeitgenössischen Gemmen siegelten. Schon bei den ersten 26 Näheres hierzu bei Toni Diederich, Prolegomena, S. 270 und unten Kapitel III, Anm. 3.
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karolingischen Gemmensiegeln darf man mit Rainer Kahsnitz vermuten, daß sich die Herrscher mit dem jeweiligen Bildnis der Gemme identifizierten27, bestand doch diesbezüglich, wie beigefügte Inschriften beweisen, auch „noch in den späteren Jahrhunderten des Mittelalters größte Freimütigkeit, wenn etwa ein halbnackter Jupiter mit Adler als Evangelist Johannes oder eine nackte Venus als Maria bezeichnet werden“.28
Unterschiedliche Siegeltypen bei Herrschern – unterschiedliche Herrschaftsprogramme Der tiefere Grund für die Verwendung von Siegeln mit antiken Gemmen ist klar: Die Könige und Kaiser aus dem Hause der Karolinger stellten sich und ihre Herrschaft in die römische Tradition, was oben schon angesprochen wurde und hier keiner weiteren Ausführungen bedarf. In unserem Zusammenhang ist zum einen bemerkenswert, daß die Bleibulle Kaiser Karls des Großen auf der Vorderseite eine frontale Büste des Frankenherrschers – also keine antike Gemme – aufweist. Zum anderen zeigt sie auf der Rückseite ein von einem Kreuz bekröntes und zwei Türmen flankiertes Stadttor. Darunter befindet sich die Aufschrift ROMA. Hier treffen wir also auf eine Stadtabbreviatur, die „im engsten Sinne Rom vertritt, aber im weiteren das römische Imperium meint, welches nach dem Heilsplan bestimmt ist, die Civitas Dei zu verwirklichen“.29 Das Kreuz als eindeutiges christliches Symbol, die mit der Stadtabbreviatur intendierte Botschaft und die programmatische Umschrift RENOVATIO ROMAN(I) IMP(ERII) sprechen für diese Interpretation Bandmanns. Die Siegellegende ist der Schlüssel zum Verständnis nicht nur des hier erstmals auftretenden Mischtyps (Stadtabbreviatursiegel – in der besonderen Form des Rombildsiegels – und Symbolsiegel), sondern auch der karolingischen Herrschersiegel mit Profilbüsten römischer Kaiser. Allerdings gibt es schon unter dem gebildeten Sohn und Nachfolger Karls des Großen, Ludwig dem Frommen (814–840), ein neues Herr27 Rainer Kahsnitz, „Bildnis“, Sp. 171; vgl. auch Percy Ernst Schramm, Die deutschen Kaiser und Könige, S. 35. 28 Rainer Kahsnitz, Kameen, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur (Katalog zur Ausstellung), Stuttgart 1977, Bd. 1, S. 674. 29 Günter Bandmann (wie Anm. 4), S. 93; Abb. Tafel IV, Nr. 1.
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schaftsprogramm. Es bezog sich, vereinfacht gesagt, auf die Reform von Kirche und fränkischem Reich. Ludwigs Goldbulle zeigt auf der Vorderseite eine Büste des Herrschers mit Schild und Speer, also ein „Kriegerbild“, das nachfolgend im ostfränkischen Reich in kleinen Variationen, d. h. durch Abbildung des Königs im Profil oder Halbprofil und durch Verwendung entsprechender Attribute (Schild, Fahnenlanze, Kranz und Krone) zum triumphalen Siegerbild fortentwickelt wurde.30 Handelt es sich in allen diesen Fällen um Bildnissiegel – nunmehr mit veränderten Bedeutungsgehalt –, so ist die Rückseite der besagten Goldbulle Ludwigs des Frommen ein reines Schriftsiegel, enthält es doch nur die auf vier Zeilen verteilte Inschrift RENO – VATIO – REGNI – FRANC(ORVM). Der Schriftsiegeltyp, der hier erstmals auftaucht, schon unter Lothar I. (840–855) durch ein Siegel mit der Inschrift + GLOR(IA) REGNI + variiert wird und später auch bei nichtköniglichen Siegelführern31, wenn auch nur vereinzelt, zu finden ist, braucht hinsichtlich seiner Aussage nicht näher behandelt zu werden, weil die mit dem Schriftsiegel verbal transportierte Botschaft leicht zu lesen ist. Das Problem für den Historiker besteht eher darin, den u. U. komplexen Sinngehalt, der sich in einem notwendigerweise sehr kurz gefaßten Text verbirgt, voll zu erfassen. Von besonderer historischer und symbolischer Bedeutung ist auch das Monogrammsiegel, das man als Variante des Schriftsiegels betrachten kann. In Form von Christusmonogrammen, die auf Grabsteinen ausgesprochen oft vorkommen, hat das Monogramm schon eine lange Vorgeschichte, ehe es in das Herrscherdiplom eindringt. Das bekannte Monogramm Karls des Großen erscheint erstmals vor dem Jahr 800 in einem Siegel, und zwar auf der Rückseite einer Bleibulle, wenn man diese mit Percy Ernst Schramm für die Königszeit Karls des Großen in Anspruch nimmt, sonst in jedem Falle 30 Vgl. Hagen Keller, Ottonische Herrschersiegel, S. 4. Zum Verständnis des ganzen Themenkomplexes ist auch sehr hilfreich Hagen Keller, Zu den Siegeln der Karolinger und der Ottonen, wo in vorbildlicher Weise der Zusammenhang der Siegel mit den Urkunden selbst, der Kanzlei und dem übrigen historischen Kontext hergestellt ist. Die Siegel und Bullen Ottos III. sind noch einmal gesondert abgehandelt bei Hagen Keller, Oddo Imperator Romanorum. L’idea imperiale di Ottone III alla luce dei suoi sigilli e delle sue bolle, in: Italia et Germania. Liber Amicorum Arnold Esch, Tübingen 2001, S. 163–189. 31 Ein frühes Beispiel dafür ist die Rückseite der Bleibulle Erzbischof Hattos II. von Mainz (968–970).
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auf der Rückseite einer Bulle Karls des Kahlen (840–877). Die Bedeutung des dort verwendeten Karlsmonogramms erschließt sich, wenn man den Überlegungen von Peter Rück folgt32, der sich besonders mit der diplomatischen Semiotik beschäftigt hat, und im weiteren auch die Umschriften der Bulle einbezieht. Die als Hexameter formulierte Legende der Vorderseite, die eine Profilbüste des Kaisers mit Diadem zeigt, lautet: + IH(ES)V NATE DEI CARLVM DEFENDE POTENTER, die der Rückseite, ebenfalls ein Hexameter: + GLORIA SIT XRO (= Christo) REGI ET VICTORIA CARLO33. Wir wollen auf diese Bleibullen, die eine eigene Untersuchung verdient hätten, nicht näher eingehen, hier aber den allgemeinen, methodisch wichtigen Hinweis anbringen, daß stets auch die Siegellende Teil der angestrebten Aussage des Siegelführers ist, was auch alle oben wiedergegebenen Umschriften und insbesondere die seit Karl dem Großen in den Umschriften formulierten Segenswünsche deutlich machen. Mit Ludwig dem Kind (900–911), dem letzten Karolinger im ostfränkischen Reich, beginnt eine Reihe von Bildnissiegeln, welche den Herrscher in Halb- oder Dreiviertelfigur mit seinen Insignien (Kronreif, Lanze und Schild) zeigen und i. w. den oben schon erwähnten spätkarolingischen Typ des Krieger- bzw. Siegerbildes weiterführen, „wobei die scharfe Profilwendung des Kopfes als Erbe der antiken Gemmenbilder beibehalten wurde“.34 Konrad I. (911–918), Heinrich I. (919–936) und zunächst auch Otto I. (936–973) folgten diesem Vorbild. Nach der Kaiserkrönung von 962 ließ Otto der Große aber ein neues Siegel stechen, das ihn in Halbfigur mit Krone, Zepter und kreuzbesteckter Sphaira zeigt. Hagen Keller hat den „eminent historischen Quellenwert“35 dieses Herrscherbildes und auch die 32 Peter Rück, Die Urkunde als Kunstwerk, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends, Köln 1991, Band 2, S. 328: „Das Zeichen verstärkt die Mächtigkeit des Bezeichneten und die Monogrammierung des Namens erhöht zweifellos den magischen Buchstabenzauber. Die Mittelstellung des Monogramms zwischen Bild (Siegelbild, so in der Rota) und Schrift verstärkt seine unterschriftliche Wirkung.“ 33 Mit Rücksicht auf das Versmaß wird hier in Abweichung von der früheren Literatur die Transkription CARLVM und CARLO (ohne Annahme von Abkürzungen) gewählt; vgl. auch Kapitel VIII. 34 Rainer Kahsnitz, Siegel König Heinrichs I., in: Otto der Große, Magdeburg und Europa, Mainz 2001, Bd. 2 (Katalog), S. 107. 35 Hagen Keller, Ottonische Herrschersiegel, S. 7.
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jeweilige Botschaft der Siegel und Bullen bis zu Heinrich II. (1002–1024) in vortrefflicher Weise erschlossen. Das alles braucht hier nicht resümiert zu werden, doch sei festgehalten, daß Otto III. (983–1002) nach zwischenzeitlicher Verwendung eines Standbildsiegels sich erstmals thronend darstellen ließ und damit einen Traditionsstrang begründete, der ganz Europa erfaßte und dessen Ausläufer bis weit in die Neuzeit reichen. Der bisherige Überblick hat ergeben, daß schon in der Karolingerzeit neben dem Bildnissiegel neue Siegeltypen aufgekommen sind. Eine nur durch zwei Zeichnungen bekannte Goldbulle Karls des Kahlen zeigt auf der Vorderseite die frontale Büste des Herrschers mit Krone, Schild und Lanze, auf der hier besonders interessierenden Rückseite aber abweichend von allen älteren Bullen ein Kreuz mit je einer kleinen Kugel in den vier Winkeln. Die Umschrift + RENOVATIO REGNI F(RA)NCO(RVM) + legt nahe, dem Kreuz die Bedeutung beizumessen, die ihm schon seit Jahrhunderten vorher zukommt.36 Wiewohl die Gestaltung der Bullenrückseite sich an die gleichartigen Münzbilder älterer karolingischer Denare anlehnt, ist doch die mit dem Text der Legende verbal vorgetragene und mit dem Kreuz symbolisch bezeichnete Aussage des Siegels klar: Es geht um die Erneuerung des Frankenreiches, die im Zeichen Jesu Christi erfolgen soll. Vielleicht schwingt hier das konstantinische „In hoc signo vinces“ mit. Nach meiner SiegelTypologie handelt es sich hier um ein Symbolsiegel. Diesem ersten Beispiel folgt als nächstes die Rückseite der zweiten Bleibulle des Kölner Erzbischofs Pilgrim (1021–1036). Dort erläutern die drei theologischen Tugenden Fides, Spes und Caritas, die durch drei weibliche Figuren verkörpert werden, das in 36 Das Kreuz am Anfang von Siegellegenden wurde im vorliegenden Falle wohl aus Symmetriegründen am Ende wiederholt, was auch später häufiger vorkommt, wenn der Text der Umschrift nicht oben hinter dem Kreuz beginnt oder das Siegelbild (etwa ein Baldachin) oben in den Raum der Umschrift hineinragt. Das einleitende Kreuz ist als symbolische Invokation zu verstehen, weshalb es bei der Wiedergabe von Umschriften in siegelkundlichen Publikationen auch nicht unterschlagen werden sollte; vgl. Toni Diederich, Zur Bedeutung des Kreuzes am Anfang von Siegelumschriften, in: Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zur diplomatischen Semiotik (Historische Hilfswissenschaften, hrsg. von Peter Rück, Bd. 3), Sigmaringen 1996, S. 157–166. Es ist auffällig, daß Hagen Keller, Zu den Siegeln der Karolinger und der Ottonen, die Fürbitteformeln in den Umschriften der karolingischen Siegel zwar eingehend würdigt, das Kreuz an deren Anfang aber bei der Wiedergabe der Umschriften wegläßt und auch sonst ignoriert.
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der Umschrift formulierte Programm der Sancta Coloniensis Religio.37 Eine ebenfalls nicht im Original erhaltene, sondern nur durch eine Zeichnung bekannte Bleibulle Heinrichs II. (1002–1024) zeigt auf der Rückseite innerhalb eines mit der Aufschrift ROMA bezeichneten zinnen- und turmbewehrten Mauerrundes die Halbfigur des hl. Petrus mit Nimbus, segnender Rechten und zwei Schlüsseln in der Linken. Anstelle der Bärte finden sich dort die Buchstaben P und R, die zusammen mit dem V der beiden Schlüsselschäfte und einem quergelegten S auf dem äußeren Schlüsselschaft den Namen P(ET)RVS ergeben. In dem Siegel werden also Stadtabbreviatur38, Heiligenbild und Monogramm kombiniert, so daß wir es hier mit einem komplexen Mischtyp39 zu tun haben.
Beliebtheit des Heiligensiegels – Aufkommen weiterer Siegeltypen Nach der Jahrtausendwende erfreute sich das Heiligensiegel, das im nichtköniglichen Bereich erstmals bei den Domkapiteln von Paderborn (Abbildung der hl. Maria), und Münster (hl. Paulus) sowie Erzbischof Pilgrim von Köln (hl. Petrus) auftaucht, zunehmender Beliebtheit. Dies gilt zunächst für die geistlichen Siegelführer, vor allem Korporationen, schließlich aber auch für weltliche Institutionen, Korporationen und Gremien wie Städte, Zünfte und Schöffenkollegien, weil diese in vielen Fällen „den höchsten Sinn“ darin sahen, ihren Stadt-, Zunft- oder Ortspatron im Siegel abzubilden. Auch die frühe Stadtabbreviatur auf der Rückseite der Bulle Karls des Großen fand Nachahmung, und zwar in den Goldbullen der deutschen Kaiser, wie die schon erwähnte Rückseite der Goldbulle Konrads II. von 1033 zeigt. Da das verkürzte Rombild und der mit ihm propagierte Herrschaftsanspruch auch von den nachfolgenden Kaisern beibehalten wurden, kann man die Rombildsiegel als eigenen Siegeltyp ansehen. Bei den Städten entwickelte sich das Stadtabbreviatursiegel zu einem sehr beliebten Siegeltyp. Die ältesten Stadtsiegel von Köln, Mainz und Trier mit der Kombination von Stadtabbreviatur 37 Vgl. Toni Diederich, SANCTA COLONIA, S. 1–49. 38 Zur Stadtmauer als Symbol für die Stadt vgl. Günter Bandmann (wie Anm. 4), S. 96 f.; Abb. der Bulle ebenda Tafel V Nr. 1. 39 Zum Vorkommen von Mischtypen, die seit dem späten Mittelalter ausgesprochen zahlreich sind, vgl. Toni Diederich, Prolegomena, S. 261 f., sowie unten Kapitel V.
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und Heiligen sind streng genommen Mischtypen, doch ist es gerechtfertigt, die häufig vorkommenden Stadtabbreviatur- und Heiligensiegel mit ihrer komplexen Aussage als eigenen Siegeltyp zu behandeln. Eine geringere Verbreitung fand das Stadtporträtsiegel, das wir wegen des Bestrebens, die Stadt bzw. ihre wichtigsten Gebäude naturgetreu einzufangen und damit die Stadt in ihrer Individualität abzubilden, ebenfalls als eigenen Siegeltyp betrachten. In diesem Zusammenhang soll in Erinnerung gerufen werden, daß das Stadtporträt zuerst im Siegel entwickelt worden ist.40 Daß viele Küstenstädte sich des Schiffssiegeltyps bedienten, kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, welche Bedeutung das Schiff materiell und ideell für die Küstenbewohner besaß. Bei dem Adel – Herzögen und Grafen – wurde das Reitersiegel zum beherrschenden Siegeltyp, entsprach diese Darstellung doch in hervorragender Weise dem ritterlichen Selbstverständnis. Bildnissiegel in Form von Standbildsiegeln kamen in den Hauptsiegeln des Adels anfänglich zwar noch häufiger vor, traten dann aber deutlich zurück, während die Reiterdarstellungen in den kleineren Nebensiegeln zunehmend Wappendarstellungen wichen. Für die Jungherren und adligen Damen erhielt das Falkenjagdsiegel, das vor allem im 13. Jahrhundert verbreitet war, eine ähnliche Bedeutung. Zum absolut dominierenden Siegeltyp wurde seit dem späten Mittelalter, nicht zuletzt auch in den folgenden Jahrhunderten, das Wappensiegel. Auf diese Tatsache ist in anderem Zusammenhang zurückzukommen. Die Verbreitung der hier genannten Siegeltypen – wie auch die der anderen Typen – erklärt sich daraus, daß jeder Auftraggeber, der eine ihm wichtige Aussage in sein Siegel hineinbringen wollte, sich eines passenden Siegeltyps bediente, weil dieser Typ in einer historischen Tradition stand und sein Inhalt, so verkürzt er auch dargestellt war, vom Betrachter des Siegels i. a. richtig verstanden wurde. Man kann also davon ausgehen, daß bei den jeweiligen Auftraggebern, auch wenn sie aufgrund der räumlichen Entfernung in keinem direkten Kontakt standen, so daß insoweit auch keine Abhängigkeit konstruiert werden kann, dieselben Motive maßgebend waren, wenn sie sich für einen bestimmten Siegeltyp entschieden. Dies sei am 40 Vgl. Günter Bandmann (wie Anm. 4), S. 102. Einen eigenen Mischtyp stellen die in England schon früh einsetzenden und häufiger vorkommenden Siegel von englischen Kathedralklöstern und anderen Klöstern dar, weil dort die Kirchendarstellung („Mikroarchitektur“) mit einer Heiligendarstellung kombiniert ist; vgl. dazu Markus Späth, Siegelbild und Kathedralgotik.
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Beispiel der komplexen Stadtabbreviatur- und Heiligensiegel demonstriert. Das älteste Kölner Stadtsiegel, das innerhalb eines zinnen- und turmreichen Mauerrunds den hl. Petrus als eigentlichen Herrn und Schutzpatron der Stadt zeigte und durch die Art der Stadtdarstellung auch den Gedanken vom Himmlischen Jerusalem für das in der Umschrift auch so bezeichnete Heilige Köln (Sancta Colonia) evozierte, hat bekanntlich eine reiche direkte Nachfolge gefunden. Aber auch außerhalb dieser Filiationsreihen41 gibt es viele Städte, die sich für diesen Siegeltyp entschieden. Dazu gehören, um nur einige aus verschiedenen Regionen zu nennen, Maastricht (mit dem hl. Servatius), Montabaur (hl. Petrus), Straßburg (Muttergottes), Wissembourg/Weißenburg (hl. Petrus), Würzburg (hl. Kilian), Amberg (hl. Georg), Helmstedt (hl. Ludger), Prag (hl. Wenzel) und Thorn in Polen (Muttergottes). Es handelt sich hierbei um Städte unterschiedlicher Größe und Bedeutung. In ihren Siegeln, so unterschiedlich sie gestaltet sind, wollen sie alle dieselbe Botschaft kundtun: daß es sich bei ihrem Gemeinwesen um eine Stadt im Rechtssinne handelt, die sich in ihrem Status von Ortschaften auf dem platten Land unterscheidet und – für den Auftraggeber wichtig – unter dem Schutz des Stadtheiligen steht.
Der einzigartige Wert des Siegels als Geschichtsquelle Die unterschiedlichen Aussagen und Botschaften, die wir oben am Beispiel des Bildnissiegels verfolgt haben, zeigen, wie wichtig die Kenntnis eines Siegeltyps in seiner historischen Entwicklung ist. Vor diesem Hintergrund wird das Einzelsiegel zu einer hervorragenden Geschichtsquelle. Jedes Siegel muß dann allerdings, das sei hier noch einmal betont, als individuelle Äußerung des Siegelführers in einer konkreten historischen Situation gelesen werden. Um das Siegel richtig zu verstehen, ist es nicht nur mit den oben erwähnten Methoden des Historikers, sondern auch mit den speziellen Methoden des Kunsthistorikers, der morphologischen und der strukturanalytischen, zu 41 Die nächsten Filiationen sind behandelt bei Toni Diederich, Siegel der Stadt Köln, S. 35–44; darüber hinausreichend (mit Einbeziehung der Münzbilder und der Weiterverfolgung bis zur „Ur-Ur-Enkelin“ Prenzlau: Gerhard Kegel, Die ältesten Siegel der Stadt Prenzlau. Eine sphragistische Causerie – oder: Ein ergötzlich siegelkundlicher Spatzir-Gang, in: Uckermärkische Hefte 2 (1995), S. 43–85.
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Der höchste Sinn im Siegel:
untersuchen. Hinzukommen sollte am Ende eine Würdigung des Einzelsiegels in seiner ästhetischen Bedeutung. Nehmen wir das Siegel als Äußerung, die „den höchsten Sinn im engsten Raum“ enthält und deshalb zum Auftraggeber selbst, vielleicht auch zu einem Personenkreis in seiner Umgebung und womöglich zu einem näher faßbaren Künstler hinführt, so offenbart es seinen einzigartigen Quellenwert: Es vermag uns Erkenntnisse zu liefern, die auf andere Weise nicht zu gewinnen sind.
II. Siegelforschung und Patrozinienforschung Für den gläubigen Menschen des Mittelalters waren die Heiligen von ganz außergewöhnlicher Bedeutung. Den Kern Ihrer Verehrung machte aus, daß sie „der Seele nach im Himmel waren und dort als Fürsprecher bei Gott wirkten, dem Leibe nach aber samt ihrer Wunderkraft auf Erden blieben, daß weiter zwischen Seele und Leib wegen der christlich gebotenen Einheit von beiden eine Verbindung blieb“.1 In Anlehnung an das römische Patronatsrecht entwickelte der Kirchenvater Ambrosius den Gedanken, daß die Heiligen als Patrone den Menschen am Grabort Beistand gewähren, „zunächst mehr geistlich auf dem Weg zum Heil und gegen die Sünde, am Ende als Fürsprecher im Jüngsten Gericht“.2
Im Schutz der Heiligen Für das Mittelalter sind kennzeichnend die Loslösung von den engeren Vorstellungen des antiken Klientelrechts und eine weitergehende Inanspruchnahme der Heiligen als Patrone durch Gruppen und Korporationen jeder Art. Der von ihnen erflehte und erwartete Schutz bezog sich jetzt auch auf alle Unbilden und Fährnisse des Lebens. Entsprechend ausgeprägt war der Heiligenkult in seinen vielfältigen, für das Mittelalter typischen Facetten, zu denen insbesondere auch die Reliquienverehrung gehörte. Eine jede Kirche besaß ein Patrozinium, stand also unter dem Schutz und dem „Titel“ eines Heiligen bzw. einer Heiligen oder mehrerer Heiliger. Doppel-, Dreier- und Mehrfachpatrozinien3 kommen vor allem bei Stiftsund Klosterkirchen oft vor, werden in den Quellen aber nicht immer 1 2 3
Arnold Angenendt, Artikel „Patron“, in: Lexikon des Mittelalters VI (1993), Sp. 1806. Ebenda, Sp. 1807. Eine Sonderform der Doppel- und Dreifachpatrozinien sind die Zwillings- und Drillingspatrozinien, d. h. Patrozinien von Heiligen, die meist zusammen erscheinen, z. B. Cosmas und Damian, Gervasius und Protasius oder Fides, Spes und Caritas.
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vollständig bzw. in derselben Reihenfolge genannt. Bei jeder Altarweihe wurden vom Konsekrator Reliquienpartikel in das Sepulcrum (Altargrab) gelegt und dieses dauerhaft verschlossen. Erst danach konnte an dem Altar die hl. Messe gefeiert werden. Für größere Kirchen, insbesondere Kathedral-, Stifts- und Klosterkirchen, aber auch für viele Pfarrkirchen, ist charakteristisch, daß es neben dem Hauptaltar auch Nebenaltäre in unterschiedlicher Zahl gab, für deren Konsekration dieselben Bestimmungen galten. Die Heiligen waren also durch ihre Reliquien und die regelmäßige Feier ihrer Feste im Kirchenjahr gleichsam omnipräsent, ihr Patrozinium für jeden einzelnen und jede Gruppe von Belang.
Gegenstand und Bedeutung der Patrozinienforschung Diese Feststellungen mögen genügen um zu erklären, warum die Patrozinienforschung seit langem ihren festen Platz auch unter den historischen (Teil-)Wissenschaften hat. Sie befindet sich in einer auffälligen, vom jeweiligen Forschungsgegenstand bestimmten Gemengelage, d. h. die Patrozinienkunde steht nicht allein und isoliert da. Allenfalls in ihren eher statistisch ausgerichteten Kernanliegen kann man sie als eigenständig betrachten. In der Mehrzahl der wissenschaftlichen Fragestellungen ist sie aber mit anderen historischen Zweigdisziplinen, vor allem solchen der Mediävistik, verwoben. Das Interesse an Patrozinien und die Beschäftigung mit Patrozinienkunde können unterschiedliche Ausgangspunkte haben: Im Einzelfall wird man sich ihr z. B. von der Institutionen- oder Ortsgeschichte her nähern; im Falle übergreifender Fragestellungen, etwa solchen der Landes-, Kirchen-, Frömmigkeits- und Mentalitätsgeschichte, sind die Methoden und Ergebnisse der Patrozinienforschung oft von großem Nutzen. Eng verzahnt ist die Patrozinienkunde mit der Kunstgeschichte, wie das große „Lexikon der christlichen Ikonographie“4 und andere Standardwerke zu den Heiligen und ihren Attributen zeigen. Patrozinienforschung ist geradezu auf Interdisziplinarität angelegt. Sie kann mit ihren originären Beiträgen helfen, historische Tatsachen, Ereignisse und Prozesse zu verstehen.
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8 Bände, Freiburg 1968–1976; spätere Sonderausgabe: 8 Bände (1994).
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Ein klassisches Anliegen der Patrozinienforschung war die Frage: Welche Heilige werden in einem bestimmten Raum verehrt? Es hat sich herausgestellt, daß sich eher ein aussagekräftiges Bild ergibt, wenn man statt von „Naturräumen“ von den kirchlichen Strukturen und Zusammenhängen, etwa den Diözesen, ausgeht. In jedem Falle, auch wenn man größere Landschaften untersucht, drängt sich eine zeitliche Differenzierung, also die Herausarbeitung zeitlicher Schichten der Verbreitung von Heiligen5 auf, wobei dann für bestimmte Zeiten auch „Modeheilige“ hervortreten. Insbesondere für das Früh- und Hochmittelalter liefern die Patrozinien Anhaltspunkte, um etwa alte Siedlungsbewegungen, Besitzverhältnisse und kirchliche Abhängigkeiten zu erkennen. Ein anderes wichtiges Anliegen der Patrozinienforschung besteht darin, die Verehrung eines einzelnen Heiligen ohne Rücksicht auf den Raum zu untersuchen. Es geht dann um das „Kultbild“ oder die „Kultgeographie“ dieses Heiligen.6
Siegel als Quellen der Patrozinienforschung Bei der Vielzahl ergiebiger Quellentypen, die von der Patrozinienforschung herangezogen werden, handelt es sich auffälligerweise meistens um schriftliche Quellen. Das gilt insbesondere für die raumbezogenen Forschungen.7 Daß auch Bildquellen, die für die Kunstgeschichte von besonderem Interesse sind, in der Patrozinienforschung eine Rolle spielen, wurde schon angedeutet. Im Spektrum der Kunstgattungen genießt die Großplastik höchstes 5
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Vgl. etwa, schon im Titel bezeichnend, Matthias Zender, Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde. Die Heiligen des mittleren Maaslandes und der Rheinlande in Kultgeschichte und Kultverbreitung (Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn), Düsseldorf 1959; 2. erw. Aufl. Köln 1973. Ein Beispiel von vielen: Matthias Zender, Die Verehrung des heiligen Severin von Köln (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande XI/2), Köln 1985. Vgl. etwa Peter Ilisch, Christoph Kösters (Bearb.), Die Patrozinien Westfalens von den Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches (Westfalia Sacra 11), Münster 1992, und Hans-Joachim Kracht, Jakob Torsy, Reliquiarium Coloniense (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 34), Siegburg 2003, wo praktisch alle Heiligen, die sich durch Reliquien bzw. in Kirchen-, Altar- oder Glockenpatrozinien des „Heiligen Köln“ nachweisen lassen, in lexikalischer Form erfaßt sind.
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Ansehen. Sie wurde allerdings, soweit es sich um Skulpturen von Heiligen handelt, m. E. von der Patrozinienforschung oft zu wenig beachtet und ausgewertet. Siegel als Werke der Kleinplastik sind von der Kunstgeschichtsforschung bis auf rühmliche Ausnahmen kontinuierlich vernachlässigt worden. Die Patrozinienforschung hat die Siegel in der Vergangenheit ebenfalls zu wenig als Erkenntnisquelle genutzt. Einzigartig ist bis heute die systematische Heranziehung von Siegeln für ein größeres Untersuchungsgebiet durch Otto Renkhoff.8 Ihm dienten die erhaltenen Siegel als aussagekräftige Belege für die Existenz von Orts- und Pfarrpatrozinien. Bezüglich der Datierung ergibt sich allerdings ein Problem, das die Siegelforschung stets im Blick haben sollte und auch von allen anderen Disziplinen, die Siegel als Quellen nutzen, ebenfalls zu beachten ist: die Tatsache, daß der früheste überlieferte Abdruck eines Siegels mehr oder weniger zufällig ist und das betreffende Typar u. U. viel früher entstanden sein kann.9 Gehen wir von dem besonderen Wert des Siegels als Geschichtsquelle und der weiten Verbreitung des Heiligensiegels im Mittelalter aus10, so kann im Einzelfalle die historische Interpretation eines Siegels patrozinienkundliche Erkenntnisse eigener Art liefern, denn offenbar sah man „den höchsten Sinn im engsten Raum“ häufig darin, den eigenen Patron im Siegel darzustellen. Anders als bei den Schriftquellen wird der Patron im Siegel nicht einfach genannt (obwohl auch dies oft in der Umschrift geschieht), sondern er wird plastisch ins Bild gesetzt. Der Patron erhält also, unabhängig von dem künstlerischen Wert des Siegels, eine besondere Qualität. Die Bedeutung des Patrons, etwa für eine geistliche Institution oder Korporation, ergibt sich 8 Otto Renkhoff, Mittelalterliche Patrozinien in Nassau, in: Nassauische Annalen 67 (1956), S. 95–118. Renkhoff war ein hervorragender Kenner der Heraldik. Er hat zusammen mit seinem Archivarskollegen Karl Ernst Demandt das seinerzeit neue Maßstäbe setzende „Hessische Ortswappenbuch“ (Glücksburg 1956) herausgegeben. Für die Ermittlung der mittelalterlichen Patrozinien in Nassau hat Renkhoff systematisch die alten Orts- und Gemeindesiegel, dann auch die Ortswappen und Pfarrsiegel darauf durchgemustert, inwieweit sie verläßliche Kenntnis bezüglich der Kirchenpatrozinien ermöglichen. Er kam auf 149 Siegel, die 44 von insgesamt 100 ermittelten Patrozinien für das Mittelalter belegen. Die Arbeit von Renkhoff ist also dem oben von mir so bezeichneten „statistisch ausgerichteten Kernanliegen“ der Patrozinienforschung zuzurechnen. 9 Vgl. Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 46. 10 Vgl. oben Kapitel I.
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daraus, daß er, modern gesprochen, für sie „juristische Person“ und damit Eigentümer und oberster Repräsentant ist, zugleich aber auch heiliger Schutzherr und Identifikationsfigur für alle ihre Mitglieder. Die Bildlichkeit und die spezielle Medialität des Siegels, die jüngst stärker in den Blick genommen worden sind11, zwingen dazu, die Interpretation interdisziplinär unter Einbeziehung der Bildwissenschaften anzugehen. Eine solche Betrachtungsweise war der Patrozinienforschung bisher fremd. Es muß allerdings betont werden, daß eine eingehende Untersuchung von Siegeln nicht für alle Fragestellungen der Patrozinienforschung nötig, möglich oder ergiebig ist. Das gilt insbesondere für die eben erwähnte Erfassung der Heiligen eines Raumes und die Analyse des Gesamtbefundes.
Nachweis früher Patrozinien in den Siegeln des Stiftes St. Florin zu Koblenz Wenn wir uns nachfolgend mit einigen Siegeln beschäftigen, um ihren Wert für die Patrozinienkunde darzulegen, so tun wir dies in Anlehnung und Fortführung eines grundlegenden Aufsatzes von Peter Moraw, der „das Interesse auf die Einzelkirche und deren Patrozinium als Forschungsgegenstand für sich“ lenken wollte und sich hierbei – unter Weglassung der Altarpatrozinien – auf Kloster- und Stiftspatrozinien konzentrierte.12 Wie bei Moraw sollen auch hier nur einige ausgewählte Beispiele behandelt werden. Ich beginne mit dem Stift St. Florin zu Koblenz, das mir, wie im Vorwort schon erwähnt, zum siegelkundlichen Schlüsselerlebnis geworden ist. Bereits vor dem Erscheinen des Morawschen Aufsatzes war meine Dissertation inhaltlich abgeschlossen. Was ich dort in dem Kapitel über das Patrozinium13 festgestellt habe, deckt sich weitgehend mit den Beobachtungen von Moraw (der St. Florin nicht berücksichtigt hat). Geht man nach den ältesten 16 Urkunden von ca. 940 bis 1203, so besaß das Koblenzer Stift ein Doppelpatrozinium. Um 940 und um 970 wird Maria jeweils allein genannt, während ab ca. 1000 Florin mit alleinigen Nennungen dominiert, ohne daß 11 Markus Späth (Hrsg.), Bildlichkeit korporativer Siegel. 12 Peter Moraw, Ein Gedanke zur Patrozinienforschung, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 17 (1965), S. 9–26, Zitat S. 9. 13 Anton Diederich, Stift St. Florin zu Koblenz, S. 31–36.
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Maria, die in Urkunden von 1092, 1110 und 1203 neben Florin erscheint, gänzlich verschwindet. Auch wenn sich nachfolgend der hl. Florin namengebend durchgesetzt hat, kann doch (wie in den von Moraw behandelten Fällen) von einem Patrozinienwechsel keine Rede sein. Würde man allein nach den Hauptquellen, den Urkunden, gehen, ergäbe sich ein völlig falsches Bild. Aus anderen Quellen (Reliquienverzeichnissen, Kapitelsprotokollen und vor allem liturgischen Büchern) ist zu ersehen, daß auch die hll. Innozenz und Minias – bei dem Letztgenannten handelt es sich um einen hl. Märtyrer der Decius-Zeit (249–251) aus Florenz, dessen Reliquien Bischof Theoderich von Metz im 10. Jahrhundert an sich nahm – sowie die hll. Cosmas und Damian Patrone des Koblenzer Stiftes waren. Von allen vier Heiligen besaß man 1332 nachweislich Reliquien. Innozenz und Minias wurden noch 1752 ausdrücklich als Mitpatrone (compatroni) bezeichnet. Lag hier eine Patrozinienerweiterung im Sinne von Moraw vor, die am Stift St. Florin erstmals zum Jahre 1332 greifbar wäre? Die Siegel zwingen uns, die Sache anders zu sehen. Das älteste, 1191 erstmals belegte Stiftssiegel (Abb. 1) zeigt nämlich die Trias Maria, Innozenz und Florin.14 Die fast das ganze Siegelfeld einnehmende Muttergottes mit Kind ist die eindeutig dominierende Patronin, womit also die Hierarchie „korrekt“ eingehalten wird. Zu ihrer Rechten, also am vornehmeren Ort, befindet sich der hl. Innozenz – auch dies hierarchisch „korrekt“, weil es sich bei ihm um einen Märtyrer aus der Thebäischen Legion handelt, dem der hl. Florin als Bekenner aus späterer Zeit nachgeordnet ist. Das ab 1269 vorkommende zweite Stiftssiegel, das sich als Nachschnitt nach dem ersten erweist, aber deutlich größer ist, zeigt dieselben drei Stiftspatrone mit der die beiden männlichen Heiligen an Größe überragenden Muttergottes in der Mitte. Die seitlichen Heiligen werden nicht mehr eigens in der Umschrift oder durch eine Aufschrift bezeichnet, müssen aber wegen der Abhängigkeit des Siegels von der älteren Vorlage als Innozenz und Florin verstanden werden. Die Umschrift, die zeittypisch das Stift als Siegelführer benennt, lautet: + S(IGILLVM) · ECC(LESI)E · B(EAT)E · MARIE · S(AN)C(T)IQ(VE) · FLORINI : IN : (CON)FLVUENCIA. Auch das kleinere Geschäftssiegel, in dem allein der hl. Florin abgebildet ist, besitzt eine ganz ähnliche Umschrift mit der Nennung von Maria und Florin. Das jüngere, ab 1543 14 Eine Beschreibung des Siegels mit Wiedergabe der Umschrift habe ich bereits oben im Vorwort gegeben.
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belegte Geschäftssiegel und die drei Kapitelssiegel des 18. Jahrhunderts zeigen ebenfalls allein den hl. Florin mit seinen Attributen; in allen vier Siegelumschriften wird aber nur noch der hl. Florin genannt.15 Den Siegeln des Stiftes St. Florin läßt sich folgendes entnehmen: Anders als die Kurzbezeichnungen in den Urkunden nahelegen, war der hl. Florin im Spätmittelalter keineswegs der einzige Stiftspatron. Vielmehr erscheint
Abb. 1 Ältestes Siegel des Stiftes St. Florin zu Koblenz
auch die Muttergottes weiterhin als Patronin, welche dem hl. Florin rangmäßig übergeordnet ist. Vor allem gibt die Darstellung des hl. Innozenz in den beiden ältesten Stiftssiegeln Anlaß zu der Vermutung, daß auch dieses Patrozinium, das in den Urkunden niemals auftaucht, ein hohes Alter besitzt. Im Bewußtsein der Stiftsangehörigen war es, wie spätere Schrift- und Bildquellen zeigen, fest verankert. Daß die Auftraggeber des Typars zum ältesten Stiftssiegel den hl. Innozenz zur Rechten der Muttergottes abbilden ließen, mag auch daran gelegen haben, daß andere angesehene Stifte des Rheinlandes Märtyrer der Römerzeit, vor allem solche aus der Thebäischen Märtyrerschar, als Patrone vorweisen konnten: St. Gereon in Köln, 15 Alle Nachweise zu den Siegeln bei Anton Diederich (wie Anm. 13), S. 223–225; Abbildungen ebenda im Anhang.
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St. Cassius und Florentius in Bonn, St. Viktor in Xanten und St. Quirin in Neuss. Ob sich das Stift St. Florin über den hl. Innozenz einen vergleichbaren Rang zulegen wollte, sei dahingestellt. Auch wenn wir nichts Näheres über die Motive der Auftraggeber des ersten Stiftssiegels wissen, ist doch eines sicher: Der hl. Innozenz war ihnen wichtig. Nehmen wir die Mitpatrone Cosmas und Damian hinzu, so weist alles auf alte, bis in die Gründungsphase zurückreichende Beziehungen unseres Stiftes zum ottonischen Königshaus und zum Damenstift Essen hin. Näheres dazu ist meiner Dissertation zu entnehmen und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Ergänzend sei nur noch darauf hingewiesen, daß Cosmas und Damian auch Stadtpatrone von Essen waren und in dem ältesten Siegel der Stadt Essen zu seiten der Muttergottes dargestellt sind.16 Die über das ottonische Königshaus hergestellte enge Beziehung zwischen dem Stift Essen und dem Stift St. Florin ist nicht nur durch deren alte Güter- und Rentengemeinschaft in Oberbreisig, sondern auch durch das Vorhandensein von Reliquien des hl. Florin in Essen belegt.17 Wenn beide Stifte sich der besonderen Förderung und Fürsorge der Ottonen erfreuten, liegt der Schluß nahe, daß der Besitz von Reliquien des hl. Innozenz Otto dem Großen zu verdanken ist, war er es doch, der im September 937 den Leib des hl. Innozenz aus der Schar der Märtyrer von Agaunum, den er von König Rudolf II. von Hochburgund († 937) erhalten hatte, der Kirche des hl. Mauritius in Magdeburg schenkte.18 Sollte also das um 940 gegründete Stift St. Florin von Otto I. Partikel von dem Leib des hl. Innozenz erhalten haben, was sehr wahrscheinlich ist, dann gehörten diese zusammen mit dem nach Koblenz transferierten Leib des hl. Florin, was die Reliquien angeht, zur Grundausstattung des Koblenzer Stiftes. Es kann dann nicht verwundern, 16 Vgl. Rainer Kahsnitz, Das große Essener Stadtsiegel im Germanischen NationalMuseum zu Nürnberg, in: Das Münster am Hellweg 23 (1970), S. 25–42; Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 229–233. Die großen Siegel des Damenstiftes Essen zeigen die Muttergottes, zwei mittelalterliche Nebensiegel dagegen die hll. Cosmas und Damian. 17 Alfred Pothmann, Der heilige Florinus. Aus der Geschichte der Heiligenverehrung im Stift Essen, in: Das Münster am Hellweg 37 (1984), S. 14–21; Hedwig Röckelein, Der Kult des heiligen Florinus im Stift Essen, in: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter, hrsg. von Jan Garchow und Thomas Schilp, Essen 2003, S. 59–86. 18 MGH D O I 14.
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daß das Wissen darum im 12. Jahrhundert noch lebendig war und dazu führte, daß beide Heilige neben der Muttergottes in die ältesten Siegel aufgenommen wurden. Für eine Abbildung der übrigen Patrone, d. h. der hll. Minias, Cosmas und Damian, bot das Siegelfeld natürlich keinen Platz. Sie hätten ja auch nach mittelalterlicher Gepflogenheit mit einer Inschrift bezeichnet werden müssen, was ganz unmöglich gewesen wäre. Es bleibt als bemerkenswertes Faktum, daß man, auch wenn Innozenz und Florin nur sehr klein dargestellt und ganz an den Rand gerückt sind, doch die Trias der Patrone, die damals als die wichtigsten angesehen wurden, in das verhältnismäßig kleine Siegel des 12. Jahrhunderts aufgenommen hat. Insofern trifft eine Feststellung von Peter Moraw erst für die späteren Siegel des Stiftes St. Florin zu, wonach „ein großer Teil der Siegel – wohl schon aus künstlerischen und technischen Gründen – nur den ‚prägnanten‘ Patron zeigt“19. Während wir über die Herkunft der Reliquien des hl. Minias, die das Stift spätestens seit 1332 besaß, nichts wissen – immerhin ist er neben der Muttergottes, Innozenz, Cosmas, Damian und Florin auf den beiden Miniaturen des 1516 neu angelegten Memorienbuches dargestellt –, gibt es zum namengebenden Patron des Stiftes St. Florin einen Aufsatz, welcher den Anspruch eines „Kultbildes“ einigermaßen erfüllt.20 Die Siegel des Stiftes St. Florin sind dort kurz angeführt, der Mitpatron Innozenz aber nicht erwähnt.
Siegel als Zeugnisse für Patrozinium und Selbstverständnis des Stiftes St. Cassius zu Bonn Interessante Aussagen zum Patrozinium und zum Selbstverständnis einer stiftischen Gemeinschaft, das sich über die Jahrhunderte hinweg gewandelt
19 Peter Moraw (wie Anm. 12), S. 22. 20 Ferdinand Ebert, Der hl. Florin, Schutzpatron der Klosterkirche in Schönau, in: Schönauer Elisabeth-Jubiläum 1965, Festschrift anläßlich des achthundertjährigen Todestages der heiligen Elisabeth von Schönau, Schönau 1965, S. 84–100. Für die frühen Zusammenhänge, insbesondere die Reliquientranslationen, ist die oben (Anm. 17) genannte gründliche und in jeder Beziehung überzeugende Arbeit von Röckelein heranzuziehen.
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hat, ermöglichen die Siegel des Stiftes St. Cassius und Florentius in Bonn.21 Das älteste Stiftssiegel ist rund, klein und mutet in seiner einfachen Gestaltung geradezu archaisch an, entspricht insoweit aber dem Stil der ältesten Schicht von Korporationssiegeln. Das Siegel kommt an einer Urkunde von 1139 vor und zeigt die nebeneinander stehenden Stiftspatrone: (heraldisch) rechts Cassius, links Florentius. Die rudimentäre Umschrift besteht nur aus der Nennung ihrer Namen: (rechts, und zwar unten beginnend) [S(ANCTVS)] CASSIVS – (links) S(ANCTVS) FLOR[ENTIVS]. Bemerkenswert ist, daß der hl. Cassius denselben Platz einnimmt wie Paulus auf den Papstbullen, er also gleichsam zur Rechten des hl. Florentius dargestellt ist. Florentius könnte also als der wichtigere der beiden thebäischen Märtyrer erscheinen. Das zweite, schon 1142 belegte Stiftssiegel ist nur fragmentarisch überliefert, läßt aber erkennen, daß in dem großen spitzovalen Siegel ebenfalls die beiden Stiftspatrone abgebildet waren, und zwar in langen römischen Gewändern. Die mit Nimbus versehenen Heiligen halten die Märtyrerpalme in der Hand, sind also nicht als römische Soldaten, sondern als Heilige der Römerzeit dargestellt. Ein kleiner Rest der Umschrift zeigt, daß hier der hl. Florentius an der (heraldisch) rechten Seite steht. Da das Siegel schon bald von einem ganz ähnlich gestalteten dritten Siegel abgelöst wurde, sich dieses also als Nachschnitt des zweiten Siegels erweist, ist der Seitenwechsel der Heiligen leicht zu erklären. Die jetzt fortlaufende Legende des dritten Siegels, die oben links beginnt, lautet: + S(AN)C(TV)S CASSIVS S(AN)C(TV)S FLORENTIVS. Wir müssen in Analogie zu ähnlich gestalteten Aufschriften, die sich kompositorisch im Siegelfeld an die Heiligen anlehnen, davon ausgehen, daß Schrift und Bild einander zugeordnet waren. Da Cassius als der offenbar wichtigere Patron22 in der Umschrift an erster Stelle genannt ist, ergibt sich zwangsläufig, daß er den weniger vornehmen (heraldisch) linken Platz im Siegelfeld einnimmt.
21 Alle Siegel sind abgebildet bei Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel IV, Tafel 2 Nr. 2–9. Texterläuterungen dazu bei Edith Meyer-Wurmbach, 1. Halbband, S. 5–7. Drei Siegelabbildungen finden sich auch bei Dietrich Höroldt, Das Stift St. Cassius in Bonn (Bonner Geschichtsblätter 11, 1957), Abb. 17, 19 und 20. 22 Man sprach später (und spricht z. T. heute noch) oft vereinfachend vom Bonner „Cassiusstift“.
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Eine Bestätigung für die Vorrangstellung des hl. Cassius hält das in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene erste Stadtsiegel von Bonn bereit.23 Dieses zeigt in naturgetreuer Darstellung die Bonner Münsterkirche, in deren Langhaus der Künstler einen Dreipaßbogen mit dem darunter stehenden hl. Cassius eingefügt hat. Dieser ist als römischer Soldat im Waffenrock mit der Lanze in der Rechten dargestellt. Die Linke stützt er auf einen Adlerschild, wobei der Adler den Sieg des Christentums über das durch den Drachen zu Füßen des Heiligen verkörperte Heidentum symbolisiert. Der hl. Cassius, der hier als Stadtpatron in Anspruch genommen wird, ist seitlich mit der Aufschrift PIVS – CASSIVS gekennzeichnet. Natürlich liegt hier keine „(scheinbare) Patrozinienverkürzung“24 im Sinne von Peter Moraw vor, sondern eben die vom geringen Platz im Siegelfeld erzwungene Beschränkung auf „den ‚prägnanten‘ Patron“25. Die Siegelwirklichkeit in ihrer unermeßlichen Vielfalt hält immer wieder Überraschungen bereit, die sich nicht dem in der Fachliteratur angesammelten und in den siegelkundlichen Handbüchern zusammengefaßten Wissen einfügen wollen und uns veranlassen dazuzulernen. Eine solche Überraschung bieten die beiden Geschäftssiegel des Bonner Stiftes, deren erstes wohl um 1250 entstanden ist, während das zweite, 1337 belegte Siegel wohl in die Zeit um 1300 gehört. Wie ich in einer Untersuchung über die im Rheinland um 1250 aufkommenden Geschäftssiegel gezeigt habe, wurden diese als kleinere Nebensiegel neben dem großen Hauptsiegel dazu benutzt, um die Masse der weniger wichtigen Urkunden zu beglaubigen. Wegen ihrer im Vergleich zum jeweiligen Hauptsiegel deutlich geringeren Größe erweisen sich die Geschäftssiegel, wenn sie nicht eine völlig neue Darstellung, etwa ein Wappen, bieten, in aller Regel ikonographisch als Reduktion des großen Siegels. Im Falle des Stiftes St. Cassius und Florentius in Bonn besteht die Überraschung darin, daß sie nicht etwa den nachgeordneten hl. Florentius weglassen und sich wie das Bonner Stadtsiegel auf den hl. Cassius beschränken, sondern mit drei Patronen aufwarten, nämlich der Trias 23 Weitere Hinweise zum Vorrang des hl. Cassius und zu der Tatsache, daß dessen ungeachtet auch der hl. Florentius als Bonner Stadtpatron galt und gilt, bei Toni Diederich, Stadtpatrone an Rhein und Mosel, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 58 (1994), S. 54–59. 24 Peter Moraw (wie Anm. 12), S. 25. 25 Ebenda, S. 22.
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Cassius, Florentius und Mallusius. Wir haben hier also den von Peter Moraw gar nicht ins Kalkül genommenen Fall einer siegelmäßig belegten Patrozinienerweiterung. Eine Reduktion hat der Siegelstecher aber insofern doch vorgenommen, als er die Heiligen nicht mehr als stehende Ganzfiguren abgebildet, sondern nur noch ihre mit Heiligenschein versehenen Häupter ins Siegel gesetzt hat. Das erste, stark beschädigte Geschäftssiegel läßt die Einzelheiten nur teilweise erkennen, doch ist das auch künstlerisch bemerkenswerte zweite Siegel gut erhalten und demnach für Interpretationszwecke sehr geeignet. Der Künstler bedient sich eines großen Dreipasses, der außerhalb mit gotischem Maßwerk verziert ist und in den innen die zur Bildmitte blickenden drei Häupter so angeordnet sind, daß die Heiligenscheine derselben konzentrisch zu den Rundungen des Dreipasses verlaufen. Die Umschrift lautet: S(IGILLVM) · ECCL(ESI)E – BVNNEN(SIS) – AD CAVSAS –. Die Namen der Heiligen werden also nicht genannt. Trotzdem kann kein Zweifel bestehen, daß es sich hier um die Köpfe von Cassius, Florentius und Mallusius handelt, von denen der letztgenannte erstmals 1166 als dritter Patron des Stiftes belegt ist.26 Er trat später aber deutlich gegenüber Cassius und Florentius zurück. Um 1400 ließ das Stift ein neues, kleines Rundsiegel schneiden, das vielleicht als weiteres Nebensiegel zu dem großen Siegel gedacht war. Auch das neue Siegel ist aus siegelkundlicher und patrozinienkundlicher Sicht gleichermaßen überraschend. Es nennt in der Umschrift den hl. Cassius, lautet diese doch mit aufgelösten Abkürzungen: Sigillum ecclesie sancti Cassii Bunnensis. Im Siegelfeld ist aber nicht der hl. Cassius, sondern die hl. Helena in Dreiviertelfigur mit dem Kreuz in der Rechten und einem Kirchenmodell in der Linken abgebildet. Dieses Siegel wurde um 1500 durch ein etwas größeres Rundsiegel mit gleicher Umschrift und gleichem Siegelbild ersetzt. Als die Stadt Bonn im Verlauf des Pfälzischen Erbfolgekrieges 1689 bombardiert und zu großen Teilen eingeäschert wurde, gingen nicht nur die Siegelstempel des Stiftes, sondern auch die der Stadt und der Schöffen verloren. So war man allerseits gezwungen, neue Siegel stechen zu lassen, von denen die zwei stiftischen und das städtische mit der Jahreszahl 1690 versehen sind, während das neue Schöffensiegel mit der Inschrift „Post urbem exustam“ den Grund für den Neuschnitt angibt. Von den hier interessierenden zwei 26 Vgl. hierzu wie zum Patrozinium überhaupt: Dietrich Höroldt (wie Anm. 21), S. 200–202.
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Siegeln des Stiftes hat das größere, runde Siegel die Umschrift: SIGILLUM · CAPITULI · BONNENSIS · AB · ANNO · M·DC·XC ·. Das Siegel zeigt die gekrönte hl. Helena in Dreiviertelfigur. Sie hält in der Rechten ein mächtiges Balkenkreuz, mit der Linken ein Modell der Bonner Münsterkirche, die naturgetreu wiedergegeben ist. Das zweite, ovale Siegel ist deutlich kleiner und weist eine ähnlich lautende Umschrift auf. Die Darstellung der hl. Helena mit Kreuz und Kirchenmodell ist sehr viel gröber und anspruchsloser. Vergleicht man die letztgenannten vier Siegel, so fällt auf, daß die beiden mittelalterlichen in der Umschrift noch den hl. Cassius als Stiftspatron nennen, während sich in den Legenden der Siegel von 1690 das Stiftskapitel als Siegelführer ohne jede Patrozinienangabe präsentiert. Vielleicht hat man sie angesichts des geringen zur Verfügung stehenden Platzes nur deshalb weggelassen, weil in diesem Falle die Datumsangabe wichtiger erschien. Da in den ab ca. 1400 benutzten Siegeln des Bonner Stiftes regelmäßig die hl. Helena erscheint, könnte man auf den ersten Blick an eine Patrozinienerweiterung oder einen Patrozinienwechsel denken. Dies trifft jedoch nicht zu. Das neue Siegelmotiv erklärt sich vielmehr daraus, daß man schon im Hochmittelalter die Gründung der Bonner Münsterkirche auf die hl. Helena zurückgeführt hat und sich damit auf eine Stufe mit anderen bedeutenden Kirchen stellte. Dazu gehörten neben der Münsterkirche zu Bonn der Dom zu Trier, die Kirche St. Gereon in Köln und die Kirche St. Viktor in Xanten27, für die es eine Auszeichnung darstellte, nicht nur auf ein sehr hohes Alter zurückblicken zu können, sondern mit der hl. Helena, der Mutter Kaiser Konstantins des Großen, auch eine hochangesehene Gründerin zu besitzen, war ihr doch die Auffindung des Kreuzes Christi zu verdanken. Die Darstellung der hl. Helena in den Bonner Stiftssiegeln ab ca. 1400 ist vor dem Hintergrund des bekannten Rangstreites im Erzbistum Köln zwischen den Stiften St. Cassius und Florentius in Bonn, St. Gereon in Köln und St. Viktor in Xanten zu sehen, die allesamt sehr bedeutend waren, für sich aber jeweils den ersten Rang nach dem Kölner Domstift beanspruchten. Die Bonner Helena-Siegel sind also kirchenpolitisch zu verstehen. Ich habe sie, obwohl sie 27 Vgl. die Urkunde über die Verbrüderung des Kapitels von St. Gereon in Köln mit den Kapiteln in Bonn und Xanten von 1236, wonach alle drei Kirchen dieselbe Gründerin, nämlich die glorreiche Kaiserin Helena, besitzen. Außerdem bildeten die Patrone ihrer Kirchen eine einzige und wahre Gesellschaft; vgl. Peter Joerres, Urkunden-Buch des Stiftes St. Gereon zu Köln, Bonn 1893, Nr. 106, S. 108.
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die hl. Helena zeigen, nicht zu dem Heiligensiegeltyp gerechnet, sondern als Beispiel für einen speziellen, häufiger vorkommenden Typ, nämlich den des Kirchengründersiegels, angesehen, weil diese Siegel eine spezifische Aussage haben, auf die es dem Auftraggeber des Siegelstempels ankam.28 Als Beleg für ein Patrozinium können Kirchengründersiegel nur in Anspruch genommen werden, wenn Kirchenpatron und Kirchengründer identisch sind. Es sei in diesem Zusammenhang betont, daß es gar nicht darauf ankommt, ob der vermeintliche Kirchengründer die Kirche auch tatsächlich gegründet hat. Im Falle Bonns ist eine Kirchengründung durch die hl. Helena absurd, und selbst bei St. Gereon in Köln – da ist sich die Forschung einig – reichen die spätrömischen Wurzeln nicht bis zur Mutter Konstantins zurück.
Siegel als Zeugnisse für das kontinuierliche Patrozinium des Stiftes St. Severin zu Köln Anders als beim Bonner Cassiusstift können beim Stift St. Severin in Köln auch alle Siegel, die dort seit dem späten Mittelalter den namengebenden „prägnanten“ Heiligen mit Kirchenmodell zeigen, als Beleg für das kontinuierliche Patrozinium des hl. Severin in Anspruch genommen werden. Daß der Kölner Bischof Severin (um 400) die erste Kirche im Süden Kölns selbst gegründet hat, ist nicht anzunehmen. Er wurde dort aber bestattet und spätestens seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts verehrt. Die Kirche stand wohl spätestens seit der Karolingerzeit unter dem Patronat der hll. Cornelius und Cyprianus, doch trat mit dem Kult des hl. Severin dieser als Patron hinzu. Da sein Leib in der Kirche ruhte und sich Severin wie andere Kölner Bischöfe zunehmender Verehrung erfreute, kann es nicht verwundern, daß er sich als Patron der Severinskirche namengebend durchsetzte. Das erste Siegel des Stiftes aus der Mitte des 12. Jahrhunderts zeigt den hl. Severin in Halbfigur ohne Mitra mit dem Bischofsstab in der Rechten und dem Buch in der Linken. Die Umschrift ist in der damals üblichen Weise formuliert: + S(AN)C(TV)S · SEVERINVS · COLONIENSIS · ARCHIEPISCOPVS. Das erste, kurz vor 1250 entstandene Geschäftssiegel bildet den hl. Severin als Bischof in Dreiviertelfigur ab. Das zweite Geschäfts28 Toni Diederich, Prolegomena, S. 272 f.; Toni Diederich, Réflexions sur la typologie des sceaux, S. 55 f.
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siegel, das auf die Jahre um 1400 zu datieren sein dürfte, zeigt den stehenden hl. Severin in einer gotischen Nische. Seine Rechte trägt ein Kirchenmodell, die Linke umfaßt den Bischofsstab. Den Auftraggebern kam es also darauf an, ihren Kirchenpatron mit „seiner“ Kirche abzubilden. Wie wichtig ihnen diese Darstellung war, ergibt sich daraus, daß der hl. Severin den Bischofsstab in ungewöhnlicher Weise mit seiner linken Hand hält. Alle nachfolgenden Siegel des Stiftes, d. h. das zweite Geschäftssiegel, zwei Missivensiegel und ein Kapitelssiegel, die allesamt noch dem Mittelalter angehören, halten an dieser Darstellung des Kirchenpatrons fest, der auch jeweils in der Umschrift genannt wird.29 Die Siegel zeigen, daß Severin, obwohl das Patrozinium von Cornelius und Cyprianus nicht unterging, im allgemeinen Bewußtsein dominierte und er spätestens seit dem Spätmittelalter als der Gründer der Severinskirche in Köln angesehen wurde. Auch in diesem Falle kommt es auf den historischen Wahrheitsgehalt nicht an. Die Siegel sind vielmehr Zeugnis für die Mentalität der Auftraggeber und ihr Bestreben, den hl. Severin als Gründer ihrer Kirche im Siegel darzustellen. Für die Stiftsangehörigen war Severin, der in Köln heiligmäßig als Bischof gewirkt und ihre Kirche gegründet hatte, leiblich im Schrein präsent. Er war nicht nur Schutzpatron der Kirche und der Stiftsgemeinschaft, sondern auch Zentrum seiner weit ausgreifenden Verehrung30, die im Interesse der Stiftsangehörigen lag und ihnen selbst zur Ehre gereichte.
Die Siegel des Stiftes St. Ursula zu Köln als Zeugnisse für Patrozinium und Ikonographie der hl. Ursula Von besonderem Wert für die hier behandelten Fragen der Patrozinienforschung sind auch die Siegel des Kölner Damenstiftes St. Ursula. Dessen ältestes, noch vor 1198 gestochenes großes Siegel (Abb. 2) zeichnet sich durch
29 Alle Siegel sind abgebildet und behandelt bei Wilhelm Schmidt-Bleibtreu, Das Stift St. Severin in Köln (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 16), Siegburg 1982, S. 221 f. Zur Frühgeschichte und zur Verehrung vgl. Joachim Oepen, Bernd Päffgen, Sabine Schrenk, Ursula Tegtmeier (Hrsg.), Der hl. Severin von Köln. Verehrung und Legende. Befunde und Forschungen zur Schreinsöffnung von 1999 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 40), Siegburg 2011. 30 Vgl. Matthias Zender (wie Anm. 6).
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seine außergewöhnliche künstlerische Qualität aus, ist aber auch durch die Umschrift und die Gestaltung des Siegelfeldes eine wichtige Quelle zur Geschichte des Stiftes und seines Selbstverständnisses am Ende des 12. Jahrhunderts. Die Umschrift lautet: + SIGILL(VM) · ECCLESIE · SAN – C – TARV(M) · – VIRGINV(M) · I(N) COLONIA . Sie entspricht damit den auch in den Urkunden vorkommenden Bezeichnungen des Stiftes, das sich selbst nach den heiligen Jungfrauen bzw. 11.000 heiligen Jungfrauen nannte. Der Name „Stift St. Ursula“, d. h. die Benennung der Kirche nach der Anführerin der heiligen Jungfrauen, taucht erstmals im Jahre 1509 auf31, setzte sich dann aber in der Neuzeit durch. Aufschlußreich ist die älteste, in die Jahre 923–926 zu datierende Originalurkunde des Stiftes, die eine Schenkung ad monasterium sancti Ypoliti et sanctarum XI milia virginum zum Inhalt hat.32 Die Erwähnung des hl. Hippolyt erklärt sich aus der Tatsache,
Abb. 2 Ältestes Siegel des Stiftes St. Ursula zu Köln
31 Vgl. Toni Diederich, St. Revilien. Vom Umgang des Kölners mit der lateinischen Sprache, in: Geschichte in Köln 53 (2006), S. 157. 32 Erich Wisplinghoff (Bearb.), Rheinisches Urkundenbuch, Band 2 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 57), Düsseldorf 1994, Nr. 318, S. 348.
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daß 922 die Kanonissen von dem durch die Ungarn zerstörten Gerresheim nach Köln geflüchtet waren und dabei die Reliquien des hl. Hippolyt mitgeführt hatten. Dieser besaß, weil der Erzbischof den Kanonissen die Kirche der heiligen Jungfrauen in Köln zugewiesen hatte, ab 922 auch dort den Rang eines Patrons. In dem schönen spitzovalen Siegel (Abb. 2) ist der hl. Hippolyt (heraldisch) links dargestellt. Er stützt sich mit dem linken Arm auf ein Schwert, während seine rechte Hand in einem Redegestus erhoben ist. Zu seiner Rechten, also am vornehmeren Ort, steht die hl. Ursula. Sie trägt auf dem Haupt einen Kronreif, Zeichen ihrer königlichen Abstammung, und hält in der rechten Hand einen Pfeil, Zeichen ihres Martyriums. Beide Heiligen, die in antiken Gewändern dargestellt sind, wenden sich einander zu. Von der Bildmitte oben ragt die Hand Gottes zu ihren Häuptern herab. Das Siegel ist von Rainer Kahsnitz als Kleinkunstwerk gewürdigt worden.33 Für die Patrozinienforschung ist das Siegel nicht nur als Beleg für das Patrozinium des hl. Hippolyt in Köln, sondern auch als bedeutsame Bildquelle für dessen „Kultbild“ von Bedeutung. Es bleibt zu erwähnen, daß die beiden Heiligen durch die Aufschriften S(ANCTA) VRSVLA und S(ANCTVS) IPOLITVS bezeichnet sind. Obwohl das große Siegel bis ins 15. Jahrhundert hinein benutzt wurde und auf seine Weise an den hl. Hippolyt und die Transferierung der Gerresheimer Kanonissen nach Köln erinnerte, hat sich doch schon bald die Verehrung der hl. Ursula als Anführerin der hl. Jungfrauenschar, die in Köln den Martyrertod fand, verstärkt. Dazu trugen die auf dem ager Ursulanus gefundenen zahlreichen Reliquien, der damit verbundene Handel und die Ausschmückung der Ursulalegende bei. Die Literatur zu dem ganzen Komplex ist sehr umfangreich und kann hier nicht referiert werden.34 Für unsere Fragestellung ist wichtig, daß das spätestens in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstandene Geschäftssiegel, ein kleines Rundsiegel von nur ca. 3,5 cm im Durchmesser, eine Ursulabüste zeigt. Die hl. Ursula ist
33 Rainer Kahsnitz, Siegel und Goldbullen, Nr. 113, S. 76. Zur Bedeutung des Siegels allgemein vgl. Toni Diederich, Das große Siegel des Kanonissenstiftes St. Ursula zu Köln, in: Miscellanea Andrée Scufflaire, Brüssel 1987, S. 91–110. 34 Grundlegend: Gertrud Wegener, Geschichte des Stiftes St. Ursula in Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 31), Köln 1971; zur Ursulaverehrung: Frank Günter Zehnder, St. Ursula. Legende, Verehrung, Bilderwelt, Köln 1985.
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mit Krone und an den Seiten herabfallendem welligem Haar dargestellt. Seitlich der rechten Schulter ragt ein Pfeil schräg nach oben. Hier wird einschließlich des nur teilweise sichtbaren Heiligenscheins alles Wesentliche ausgesagt. Die Reduktion der Ursuladarstellung auf eine Büste entspricht der Verbreitung und Beliebtheit der Ursulabüsten bzw. der Büsten ihrer Gefährtinnen, die noch in ansehnlicher Zahl erhalten sind. Im Hinblick auf das Patrozinium sei auch in diesem Falle die (z. T. beschädigte) Umschrift, die in gewohnter Weise noch von der Kirche der heiligen Jungfrauen spricht, mitgeteilt: [+ S(IGILLVM)] ECC(LESI)E S(AN)C(T)AR(VM) VIRG(INVM) [IN] COL(ONIA) AD CAVS[AS]. In einigen spitzovalen Äbtissinnensiegeln des 14. und 15. Jahrhunderts ist die hl. Ursula als sog. Schutzmantelursula dargestellt. Die Heilige steht jeweils auf einem Podest, hält den Pfeil in der Rechten und hat ihren Mantel weit ausgebreitet. In dem ersten, 1310 vorkommenden Siegel finden unter ihm fünf mit Heiligenschein versehene Jungfrauen Platz. Sie stehen als pars pro toto für die Schar der Märtyrerinnen im Gefolge der hl. Ursula. In dem zweiten, 1313 und 1317 überlieferten Siegel sind unter dem Mantel sieben Jungfrauen in der vorderen Reihe angeordnet; darüber sieht man in mehreren Reihen hintereinander eine Menge von weiteren Köpfen, wodurch sich die Ursulanische Schar beträchtlich erhöht. Im dritten Siegel von 1372 sind beiderseits der hl. Ursula in drei Reihen jeweils sechs (von unten nach oben 3:2:1) Jungfrauen abgebildet. In den Umschriften werden die Siegelführerinnen jeweils als Äbtissin der Kirche der heiligen Jungfrauen bezeichnet. Auch ein Äbtissinnensiegel von 1447 zeigt die Schutzmantelursula, beseitet von den Wappenschilden der Eltern der Siegelführerin.35 Die genannten Siegel bestätigen den Vorrang der hl. Ursula als Patronin der Stiftskirche, bereichern aber unsere Kenntnis bezüglich der Ikonographie und damit des „Kultbildes“ der hl. Ursula.36 Daraus ist zu ersehen, daß die 35 Abbildungen bei Wilhelm Ewald (wie Anm. 21), Tafel 89, Nr. 6–8, Texterläuterungen bei Edith Meyer-Wurmbach, 2. Halbband, S. 91 f., und Gertrud Wegener (wie Anm. 34), Abb. 4 a, b und 5 b, c. 36 Vgl. Jutta Seibert, Artikel „ Schutzmantelschaft“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Band 4 (1972), Sp. 128–133, und Genoveva Nitz, Artikel „Ursula“, ebenda, Band 8 (1976), Sp. 521–527. Einen vorzüglichen Überblick über das bis in die Antike zurückreichende Schutzmantelmotiv bietet Andreas Gormans, „Unter den Mantel geschaut“. Die Schutzmantelmadonna, Caesarius von Heisterbach und die Zisterzienser, Heisterbach 2007. Dort sind auf S. 15 auch die Siegel von drei
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Patrozinienforschung sich nicht allein auf die korporativen Siegel stützen, sondern gegebenenfalls auch die persönlichen Siegel von Stifts- und Klosterangehörigen bzw. von Pfarrern heranziehen sollte. Frank Günter Zehnder hat sich zwar auch mit dem Motiv der Schutzmantel-Ursula beschäftigt und schöne Beispiele abgebildet, die Äbtissinnensiegel hat er aber nicht berücksichtigt.
St. Ursula im Siegel der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln Von einer späten, abgewandelten Verwendung des Motivs der Schutzmantelursula und gleichsam auch Inanspruchnahme des Ursulapatroziniums sei an dieser Stelle berichtet. Im Jahre 1984 wandte sich der Dekan der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln, Prof. Dr. Günter Peuser, an mich, weil seine Fakultät als einzige kein Siegel besaß und sich nun ein solches zulegen wollte. Im Hinblick auf das Proprium der Heilpädagogischen Fakultät und den Bezug zu Köln kam mir bei dem Gespräch im Historischen Archiv des Erzbistums Köln sehr schnell die Idee, die hl. Ursula ins Spiel zu bringen. Diese sei, so argumentierte ich, u. a. Patronin der Jugend und der Lehrerinnen und seit 1662 offizielle Patronin der Stadt Köln.37 Im Jahre 1986 folgte die Fakultät dem Vorschlag und beauftragte den Kunstpädagogen und freischaffenden Künstler Tong Hon Sang (Köln) mit der künstlerischen Umsetzung (Abb. 3).
Exkurs: Verehrung von Stadtpatronen heute Das vorgenannte Beispiel gibt Anlaß zu der Anregung, die Patrozinienforschung möge auch jüngere Entwicklungen in den Blick nehmen. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Erweiterung des Patroziniums der Stadt Bonn, wo im Jahre 2008 den Stadtpatronen Cassius und Florentius die hl. Adelheid – offiziell und mit römischer Genehmigung – als dritte Stadtpatronin beigeÄbtissinnen des Stiftes St. Ursula und auf S. 16 das 1444 belegte spitzovale Siegel des Zisterzienserklosters Ste-Marie de la Byloke in Gent mit einer Schutzmantelmadonna abgebildet. 37 Vgl. Toni Diederich (wie Anm. 23), S. 72 f.
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sellt wurde. In Bonn wie auch in Düsseldorf und Wuppertal ist die Feier des Stadtpatroziniums in den letzten Jahrzehnten eher ausgeweitet als zurückgedrängt worden. Die historische Forschung hat seit einigen Jahrzehnten auch in Deutschland die Stadtpatrone stärker in den Blick genommen.38 Stadtsiegel sind für solche Untersuchungen oft ergiebig und z. T. auch sehr wichtig, weil sie wie etwa die von Köln und Trier Stadtpatrone sehr früh, d. h. seit dem 12. Jahrhundert, bezeugen und im Stadtsiegel abbilden. Oft war der Stadtpatron zugleich auch der Patron und Titelheilige der Hauptkirche, also in Bischofsstädten (wie Köln und Trier) der Kathedralkirche, sonst der örtlichen Stiftskirche(n)39 oder der (Haupt-)Pfarrkirche. Das Phänomen, daß in solchen Fällen Siegel sowohl der Stadt als auch der betreffenden geistlichen
Abb. 3 Siegel der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln
38 Bald nach dem vorgenannten Aufsatz auch Wilfried Ehbrecht, Die Stadt und ihre Heiligen. Aspekte und Probleme nach Beispielen west- und norddeutscher Städte, in: Vestigia Monasteriensia. Westfalen – Rheinland – Niederlande (Studien zur Regionalgeschichte 5), Bielefeld 1995, S. 197–261. Für Italien, wo die Stadtpatrone allgemein von großer Bedeutung waren, liegen seit längerem einschlägige Studien vor; grundlegend hierbei: Hans Conrad Peyer, Stadt und Stadtpatron im mittelalterlichen Italien, phil. Habil.-Schrift, Zürich 1955. 39 So wurden in Koblenz die namengebenden Patrone der beiden Stifte St. Kastor und St. Florin im Jahre 1383 durch den Trierer Erzbischof Kuno von Falkenstein zu Stadtpatronen erhoben.
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Institution denselben Patron im Siegel abbilden, ist jüngst vorwiegend unter historischen und siegelkundlichen Gesichtspunkten thematisiert worden.40 Auch wenn dort keine patrozinienkundlichen Fragen im engeren Sinne verfolgt werden, sind die jeweils angeführten Beispiele für die Patrozinienforschung von einigem Interesse. Von einer Synopse der verschiedenen Gesichtspunkte könnten alle beteiligten Disziplinen nur profitieren. Wir wollen es mit diesen kurzen Hinweisen zum Komplex Stadtpatron – Stadtsiegel bewenden lassen und wieder zu den geistlichen Institutionen zurückkehren.
Siegel als Zeugnisse für das ursprüngliche Patrozinium des Klosters Seligenthal bei Siegburg Zu den ältesten Niederlassungen der Minoriten in Deutschland gehört das Kloster Seligenthal bei Siegburg, das nach einer späteren, aber dichten Überlieferung des Franziskanerordens im Jahre 1231 von dem Grafen Heinrich III. von Sayn und seiner Gemahlin Mechtild als Einsiedelei gegründet worden ist. Nach einer Urkunde von 1393 hat man das aus der Einsiedelei hervorgegangene Kloster zur Ehre Gottes, der hl. Jungfrau und des hl. Franziskus erbaut. 1426 erscheint der hl. Franziskus als alleiniger Patron der Seligenthaler Kirche. Später werden noch zusätzlich der hl. Antonius von Padua und der hl. Rochus als Patrone genannt. Heute steht die Kirche allein unter dem Titel und Patrozinium des hl. Antonius von Padua. In einer 1735 angelegten und bis 1739 weitergeführten „Deductio historica“ der Kölner Franziskanerordensprovinz, also verhältnismäßig spät, findet sich der Hinweis, der Hauptaltar der Kirche zu Seligenthal sei dem enthaupteten hl. Johannes dem Täufer geweiht. Der Verfasser bemerkt außerdem, bis zu seiner Zeit würden das Fest der Enthauptung des hl. Johannes als Patronatsfest und die Geburt desselben als jährliche Kirchweihe gefeiert. Die Patrone der Nebenaltäre waren nach derselben Quelle der hl. Franziskus, der hl. Antonius, der hl. Rochus und die schmerzhafte Muttergottes. Wie die patrozinienkundlichen Untersuchungen, die Peter Moraw bezüglich einzelner Stifts- und 40 Wolfgang Krauth, Stadtsiegel in Soest und Coesfeld; Antje Diener-Staeckling, Zwischen Stadt und Rat. Das Siegel als Zeichen von städtischer Repräsentation seit dem 14. Jahrhundert, in: Markus Späth (Hrsg.), Bildlichkeit korporativer Siegel, S. 223–238; Thomas Michael Krüger, Siegel des Augsburger Domkapitels.
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Klosterkirchen durchgeführt hat, zeigen, ergeben die Quellen i. a. kein einheitliches, u. U. sogar ein verwirrendes Bild. Dies gilt nach den angeführten Belegen auch für Seligenthal. In einer Studie über das erhaltene Typar eines um die Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenen Guardianssiegels von Seligenthal, wo St. Johann Baptist mit seinem Attribut, dem Lamm, dargestellt ist, habe ich nachweisen können, daß dieser Heilige der ursprüngliche Patron der Kirche zu Seligenthal gewesen ist. Wichtigstes Beweisstück hierfür ist das älteste Siegel des Klosters Seligenthal aus dem 13. Jahrhundert. Dort ist der stehende Johannes der Täufer abgebildet. Er hält in der Linken eine Scheibe mit dem Lamm Gottes, in der Rechten ein Spruchband mit dem Text ECCE · AGN(V)S · DEI. Daß Johann Baptist von Anfang an erster Patron des Klosters Seligenthal war, ist evident. Daß er auch im 18. Jahrhundert noch als solcher angesehen wurde, beweisen die angeführten Bemerkungen der „Deductio historica“ und ein jüngeres Guardianssiegel aus der Zeit um 1740, in dem ebenfalls Johannes der Täufer mit dem Lamm dargestellt ist. Nur nebenher sei erwähnt, daß beide neuzeitlichen Guardianssiegel im Feld die Jahreszahl 12–31 aufweisen, also auf das ordensintern überlieferte Gründungsjahr des Klosters anspielen.41 Einmal mehr zeigt das Beispiel Seligenthal, daß Siegel auch für die Patrozinienforschung einen hohen Quellenwert besitzen, weil man in ihnen das darstellt, was einem am wichtigsten ist, und das war in diesem Falle der erste Patron, der hl. Johannes der Täufer. Gern schließe ich an diese Feststellung eine allgemeine Schlußfolgerung an, zu der Andrea Stieldorf bei der Beschäftigung mit Konventssiegeln gelangte: „Die Prävalenz des ‚Patronatssiegels‘ – um den Bildnistyp für diesen Funktionszusammenhang einmal so zu bezeichnen – ist ein weiteres Indiz für die identitätsstiftende Funktion der Schutzpatrone für die klösterlichen und stiftischen Gemeinschaften, und zwar nach innen und nach außen“.42
41 Alle Einzelheiten bei: Toni Diederich, Die Gründung des Klosters Seligenthal im Lichte eines neuzeitlichen Guardianssiegels, in: Seligenthal 1231–1281. Beiträge zum 750jährigen Jubiläum, hrsg. von Gabriel Busch O.S.B., Siegburg 1981, S. 404– 413, und Jakob Torsy, Heiligenverehrung in Seligenthal, ebenda, S. 414–425. 42 Andrea Stieldorf, Recht und Repräsentation. Siegel und Siegelführung in mittelalterlichen Frauenkommunitäten, in: Markus Späth (Hrsg.), Bildlichkeit korporativer Siegel, S. 174 f.
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Interdependenz von Heiligenverehrung, Reliquienkult und Siegelgestaltung am Beispiel des Stiftes Ramelsloh bei Hamburg Die außerordentliche Aussagekraft von Siegeln für die Patrozinienkunde, insbesondere die Interdependenzen zwischen Kirchenpatronen, Reliquien und Siegeln, lassen sich an einem geradezu faszinierenden Beispiel demonstrieren, das an entlegener Stelle publiziert wurde und hiermit der Gefahr des Vergessens entrissen werden soll. Der langjährige Vorsitzende des Geschichts- und Museumsvereins Buchholz in der Nordheide und Umgebung e. V., Gerhard Kegel (1934–2008), dessen herausragenden Qualitäten auf verschiedenen Gebieten43 gerühmt zu werden verdienen und auch gewürdigt wurden44, hat 1987 einen umfangreichen Aufsatz über den Verkauf der Steinbecker Höfe durch das Stift Ramelsloh an die von Weyhe in Bötersheim im Jahre 1476 vorgelegt und ihm aus besonderem Anlaß den Obertitel „Vom skelettierten Arm des heiligen Ansgar“ gegeben.45 Das unweit von Buchholz i. d. Nordheide und nicht weit von Hamburg gelegene Kollegiatstift Ramelsloh, über dessen Frühzeit wir, da nur spärliche Quellen erhalten sind, wenig wissen, wurde wohl vom hl. Ansgar gegründet, nachdem die Wikinger ihn 845 als Erzbischof von Hamburg vertrieben hatten. Patrone des Stiftes Ramelsloh waren der hl. Sixtus und der hl. Sinnitius. Als solche werden diese z. B. in Urkunden von 1263, 1276, 1475 und 1492 genannt. 1369 erscheint erstmals auch der hl. Ansgar neben dem hl. Sixtus als Patron der Stiftskirche, während in den Chorfenstern der Ramelsloher Kirche von 1488 Sixtus, Ansgar und Sinnitius nebeneinander dargestellt 43 Als Historiker gelangte Kegel – mit Spürsinn bei der Ermittlung von Quellen, mit Scharfsinn bei ihrer Interpretation und mit historischem Verständnis für größere Zusammenhänge – zu überzeugenden Ergebnissen. Indem Kegel sich auch mit Siegeln beschäftigte und ihren besonderen Quellenwert erkannte, geriet er in den Bann der Sphragistik, die er durch einige treffliche Arbeiten bereichert hat. Als Maler und Zeichner hatte Kegel wohl einen geschulten Blick für die Feinheiten und die Aussagekraft der Siegel. Seine literarischen Fähigkeiten, die sich in Gedichten und einem Roman niederschlugen, erlaubten es ihm, seinen Arbeiten eine ungewöhnliche sprachliche Form zu geben, wodurch sie auch dem nicht gelernten Historiker zu einem Lesevergnügen werden. 44 Nicht ohne Grund erhielt Kegel das Niedersächsische Verdienstkreuz am Bande und den Kulturpreis der Stadt Bucholz i. d. Nordheide. 45 Buchholzer Jahrbuch Nr. 4 (1987), S. 49–99.
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sind. Das Stift hat, möglicherweise im 14. Jahrhundert, zwei Beinknochen des hl. Ansgar erworben, die Jahrhunderte später nach Hildesheim gelangt sind und dort in Armreliquiaren aufbewahrt wurden. An der Echtheit kann nach den 1982 vorgenommenen Untersuchungen des Gerichtsmedizinischen Instituts Göttingen und des Instituts für physikalische Chemie der Universität Frankfurt, das eine Datierung nach der C-14-Methode vornahm, und den vorhandenen schriftlichen Nachrichten kein Zweifel sein. Demnach verstarb der hl. Ansgar um das Jahr 860 im Alter von 64 Jahren. Seine Körpergröße wurde auf 1,63 m berechnet. Diese geringe Größe könnte dafür verantwortlich sein, daß man die beiden Beinknochen in Ramelsloh und zuletzt auch in Hildesheim für Armknochen hielt. Für Ramelsloh war die Erwerbung dieser Reliquien hochbedeutsam, führte man dort doch die eigene Gründung auf den hl. Ansgar zurück. Nunmehr besaß man also Reliquien des heiligen Gründers, woraus sich leicht erklären läßt, daß dieser fortan auch als Patron, und zwar vorrangig gegenüber den hll. Sixtus und Sinnitius, verehrt wurde. In dem großen Siegel des Stiftes Ramelsloh sind unter der thronenden Muttergottes mit dem Jesuskind die hll. Sixtus, Ansgar und Sinnitius abgebildet. Wir finden hier also – entgegen der oben angeführten herrschenden Lehre (Moraw) – eine sehr komplexe Darstellung aller Kirchenpatrone, wie sie uns ähnlich im ältesten Stiftssiegel von St. Florin in Koblenz begegnet ist. Das kleinere, im 14. Jahrhundert entstandene Geschäftssiegel des Stiftes Ramelsloh entspricht insofern der herrschenden Lehre, als hier eine „Reduktion“ des Bildmotivs vorgenommen wurde. Im Siegelfeld ist nämlich nur der stehende, nach (heraldisch) links gewandte hl. Ansgar als Bischof abgebildet, der mit ausgestreckten Armen den Kopf des hl. Sixtus trägt. Wir haben den gesamten Sachverhalt nach dem viel ausführlicheren Aufsatz von Gerhard Kegel zusammengefaßt. Es ist sein bleibendes Verdienst, daß er genau hingesehen und dann festgestellt hat: „Der Arm des heiligen
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Abb. 4 Geschäftssiegel des Stiftskapitels zu Ramelsloh
Abb. 5 Ausschnitt aus dem Geschäftssiegel des Stiftskapitels zu Ramelsloh in unterschiedlicher Ausleuchtung
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Ansgar auf dem Siegelabdruck der Urkunde [d. i. die Steinbeck-Urkunde von 1476, T. D.] ist »nackt«, ja geradezu »skelettiert« dargestellt.“46 Dieses merkwürdige Detail veranlaßte Kegel, sich eingehend mit den Patronen des Stiftes Ramelsloh und insbesondere mit dem hl. Ansgar zu beschäftigen. Von den Abbildungen, mit denen Kegel seinen Aufsatz illustriert hat, wählen wir hier die zwei wichtigsten aus, das Siegel an der Steinbeck-Urkunde von 1476 (Abb. 4) und die beiden Ausschnitte mit dem skelettierten Arm des hl. Ansgar in unterschiedlicher Ausleuchtung (Abb. 5).47 Germain Demay hat im Rahmen seiner Ausführungen zur Siegelpaläographie auf das für 1307 belegte Siegel des Kapitels der Kathedrale Saint-Mammès in Langres hingewiesen.48 Im Feld des besagten Siegels wird der Arm des Kathedralpatrons von einer vertikalen Inschrift begleitet, die auf der (heraldisch) rechten Seite unten beginnt und auf der linken Seite oben beginnend nach unten fortgeführt wird: B(EAT)I MAM(M)ETIS – BRACHIV(M). Beide Siegel dokumentieren in eindrucksvoller Weise, wie wichtig den geistlichen Institutionen ihre Patrone waren und was es ihnen bedeutete, diese leibhaftig bei sich zu wissen. Wie so oft, gilt auch hier: Im Siegel verdichtet sich das Denken der Zeit.
46 Ebenda, S. 83. 47 Auf meine Bitte hin hat mir Gerhard Kegel die von Ulrich Funk angefertigten Siegelfotos für eine spätere Veröffentlichung großzügig überlassen. Aus unserem ersten Kontakt haben sich eine langjährige Korrespondenz und einmal eine persönliche Begegnung in Köln ergeben. Daran erinnere ich mich meinerseits mit aufrichtigem Dank. 48 G[ermain] Demay, Inventaire des sceaux de la Normandie ... avec une introduction sur la paléographie des sceaux, Paris 1881, S. XIX.
III. Vom Nutzen der jüngeren Siegel-Typologien und der Behandlung einzelner Siegeltypen Wenn man sich häufiger mit Siegeln beschäftigt, gerät man, ob man sich dessen bewußt ist oder nicht, in das Dickicht siegeltypologischer Probleme. Einzelne Siegeltypen haben schon in dem einleitenden und aus meiner Sicht grundlegenden Kapitel über das Siegel als Geschichtsquelle eine Rolle gespielt. Das gilt insbesondere für das Bildnissiegel, das es verdient hätte, künftig in einer umfassenden Weise untersucht zu werden. In den dann nachfolgenden Ausführungen über Siegelforschung und Patrozinienforschung stand der Typ des Heiligensiegels im Mittelpunkt, das ebenfalls zu den weit verbreiteten und für die Interpretation besonders ergiebigen Siegeltypen gerechnet werden muß.
Entwicklung einer „neuen“ Siegel-Typologie Als ich vor Jahren die Siegel-Typologie zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht und einen neuen Ansatz zur Diskussion gestellt habe, geschah dies unter dem Vorbehalt, daß es sich hierbei nur um „Prolegomena“, also Vorüberlegungen, handeln könne.1 Mir war bewußt, daß, wie sich die Vielfalt des Lebens nicht in logischen Kategorien einfangen läßt, auch die unermeßliche Zahl individuell gestalteter Siegel nicht ohne weiteres in einem perfekten System von Siegeltypen untergebracht werden kann. Dies gilt in noch höherem Maße, wenn man nicht von dem äußeren Erscheinungsbild der Siegel ausgeht, sondern entsprechend meinem neuen Ansatz die vom Siegelführer intendierte Aussage eines Siegels zugrunde legt. Ich habe daher die von mir ermittelten und mit einprägsamen Kurznamen bezeichneten Siegeltypen seinerzeit auch bewußt in alphabetischer Reihenfolge abgehandelt. Erst später, als ich auf Drängen der Kollegen des Internationalen Siegelausschusses meine Überlegungen noch einmal in knapper Form einer breiteren internatio1
Toni Diederich, Prolegomena; zur Problematik einer umfassenden Siegel-Typologie hatte sich schon Wilhelm Ewald, Siegelkunde, S. 183, geäußert.
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nalen Leserschaft vorgestellt habe2, erschien es mir sinnvoll, die Gemmensiegel wegen ihrer Sonderstellung3 auszuklammern, ansonsten 28 Siegeltypen zu benennen und diese nach sachlichen Kriterien zu gruppieren. Ich zähle sie hier mit ihren deutschen Bezeichnungen noch einmal auf: A. Siegel mit dem Bildnis des Siegelführers I. Siegel mit dem Bildnis des Siegelführers ohne Hervorhebung von Besonderheiten 1. Einfaches Bildnissiegel II. Siegel mit dem Bildnis des Siegelführers, wobei dessen Eigenschaft, Rang oder wesentliche Funktion hervorgehoben wird 2. Majestätssiegel 3. Souveränitätssiegel 4. Siegel des Reiters in Rüstung 5. Jagdsiegel 6. Siegel des Reiters in prunkvoller Herrscherdarstellung 7. Bildnissiegel eines geistlichen Würdenträgers 8. Richtersiegel 2
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Toni Diederich, Réflexions sur la typologie des sceaux, S. 48–68. Näheres zum Internationalen Siegelausschuß („Comité de Sigillographie“ des Internationalen Archivrats) und zu der von ihm erarbeiteten Siegel-Typologie, publiziert im „Vocabulaire international“, findet sich in dem nachfolgenden Kapitel IV. Vgl. oben Kapitel I sowie Gerta Hiebaum, Gemmensiegel und andere in Steinschnitt hergestellte Siegel des Mittelalters (Veröffentlichungen des Historischen Seminars der Universität Graz IX), Graz–Wien–Leipzig 1931. Schöne Beispiele für den mittelalterlichen Gebrauch von Gemmensiegeln wurden zuletzt, allerdings ohne Verfolgung siegeltypologischer Fragen, abgehandelt von Lorenz Friedrich Beck, Antike Gemmen als spätmittelalterliche Siegel. Zum Siegelwesen der askanischen Kurfürsten von Sachsen und der wettinischen Markgrafen von Meißen im 14. Jahrhundert, in: Landesgeschichte und Archivwesen, Festschrift Reiner Groß, Dresden 2002, S. 73–92. Die schon im Mittelalter empfundene Sonderstellung der Gemmensiegel, insbesondere derjenigen ohne Umschrift, hat zuletzt Jean-Luc Chassel unter Anführung des Jean Favre, eines französischen Legisten des 14. Jahrhunderts, deutlich gemacht: „... pour lui ne sauraient faire foi, notamment, ces intailles antiques – qu’il appelle «pierres des Israélites» ... comportant des images apparemment sans rapport avec les sigillants et sans légende pour les identifier“; Jean-Luc Chassel, Formes et fonctions des inscriptions sigillaires, S. 204 f.
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III. Siegel mit dem Bildnis mehrerer Personen 9. Gruppenbildnissiegel B. Siegel mit der Wiedergabe persönlicher Zeichen des Siegelführers 10. Initialensiegel 11. Monogrammsiegel 12. Namenssiegel 13. Gemerkesiegel 14. Hausmarkensiegel 15. Wappensiegel C. Siegel, die durch ihre Darstellung auf den Namen oder die Tätigkeit des Siegelführers anspielen 16. Redendes Siegel D. Siegel, die Personen, Ereignisse, Handlungen oder Gegenstände darstellen, welche für den Siegelführer wichtig sind 17. Stadtgründer- oder Stadtherrensiegel 18. Kirchengründersiegel 19. Heiligensiegel 20. Fischerringsiegel 21. Erzählsiegel 22. Handlungssiegel 23. Siegel mit idealisierter Architekturdarstellung 24. Siegel mit realistischer Architekturdarstellung 25. Schiffssiegel E. Siegel mit schriftlicher oder symbolischer Aussage 26. Schriftsiegel 27. Symbolsiegel F. Siegel ohne erkennbare Aussage des Siegelführers 28. Ornamentsiegel Gegenüber der Aufzählung von ebenfalls 28 Siegeltypen in meinen „Prolegomena“, die ich damals noch sehr pragmatisch und bewußt ohne Gewichtung in alphabetischer Reihenfolge vorgenommen hatte, fallen einige Verän-
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derungen ins Auge. Sie ergaben sich aus der Absicht, die Typen zu gruppieren bzw. in ein logisches Gefälle zu bringen. Aus logischen Gründen mußte das in den „Prolegomena“ angeführte Stadtabbreviatur- und Heiligensiegel, so groß seine Bedeutung als Archetyp bei den Städtesiegeln ist, als reiner Siegeltyp eliminiert werden, weil es sich eigentlich um einen Mischtyp handelt. Auch erschien es mir sinnvoll, die in den „Prolegomena“ genannten Siegeltypen mit Architekturdarstellungen (Burgsiegel4, Kirchenbildsiegel, Rombildsiegel, Stadtabbreviatursiegel und Stadtporträtsiegel) sozusagen in einem höheren Abstraktionsgrad zusammenzufassen und nur noch danach zu unterscheiden, ob es sich um eine Architektur mit idealistischer oder realistischer Darstellung handelt, weil der letztgenannten eine andere Qualität5 zukommt. Es steht dann jedem frei, die beiden Siegeltypen mit Architekturdarstellungen weiter zu untergliedern, sie sozusagen als Varianten bzw. als eigene Typen zu behandeln. Geht man nach dem Hauptkriterium meiner Siegeltypologie, der angestrebten Aussage und den dazu verwendeten Mitteln, so kann ein Gebäude (etwa eine Burg, eine Kirche oder ein Rathaus) ebenso wie ein Gebäudekomplex (etwa eine Stadtdarstellung mit Mauer, Toren, Türmen und Häusern) für die unterschiedlichsten Siegelführer von Bedeutung sein. Das läßt sich schön am Burgsiegel ablesen, das nicht nur bei Burgmannen, sondern u. a. auch bei adeligen Frauen und Kanonikern vorkommt. Es ist doch sehr aufschlußreich, daß im Einzelfall ein Kanoniker keinen der bei seinesgleichen verbreiteten Siegeltypen, allen voran den Heiligensiegeltyp, wählt, sondern sich für die Darstellung einer Burg entscheidet, die ihm offenbar wichtig ist. Daß es weiterhin seine Berechtigung hat, das von Päpsten und Kaisern geführte Rombildsiegel, auch wenn es der Hauptunterscheidung nach den Architektursiegeln zuzuordnen ist, als eigenen Siegeltyp anzusehen, habe ich an anderer Stelle6 deutlich gemacht. Bei dem Rombildsiegel dominieren idealisierte, abbreviaturhafte Darstellungen, deren Verständnis durch die Aufschrift AVREA ROMA gesichert wird. Es gibt aber zumindest auch ein Beispiel für eine realistische Romdarstellung, 4
5 6
Verwiesen sei hier auf eine kleine Untersuchung von John Cherry, Imago Castelli: the depiction of castles on medieval seals, in: Château Gaillard 15 (1992), S. 83–90. Dies habe ich in den Prolegomena, S. 278, unter „Stadtporträtsiegel“ näher dargelegt. Vgl. Kapitel I.
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die Rückseite der Goldbulle Ludwigs des Bayern, die auch ohne erläuternde Aufschrift auskommt. Die Liste der in den „Réflexions“ angeführten 28 Siegeltypen läßt unschwer erkennen, daß ich mich bei ihrer Benennung um Kürze und Präzision bemüht habe. Die Tatsache, daß etliche Siegeltypen wie etwa Wappensiegel, Schiffssiegel oder Schriftsiegel bereits in den älteren Typologien vorkommen und auch die meisten anderen Typen in ähnlichen Kurzbezeichnungen erscheinen, die aus der sphragistischen Literatur bekannt sind, hat sich in der Vergangenheit nicht unbedingt als hilfreich erwiesen. Die „griffigen“ Termini, die ich seinerzeit als „Verabredungsbegriffe“ betrachtet habe, enthalten nämlich keinen Hinweis auf das, was das Wesentliche meiner „neuen“ Siegel-Typologie ausmacht: Die Termini sollen in Kurzform benennen oder andeuten, mit welcher Aussage der Siegelführer, besser der Auftraggeber des Typars, sich im Siegel darstellt bzw. welches Mittel er wählt, um sich im Umfeld seiner Zeitgenossen zu präsentieren. Es ist aus meiner Sicht erfreulich, daß man sich in etlichen Veröffentlichungen mit meiner Siegel-Typologie auseinandergesetzt hat. Auch wurden die von mir vorgeschlagenen Termini in nicht wenigen Fällen rezipiert, z. T. auch untergliedert, modifiziert und ergänzt, worauf noch zurückzukommen ist. Nicht zu übersehen ist allerdings, daß die Kurzbezeichnungen mitunter von meinem oben kurz wiedergegebenen neuen Ansatz abgekoppelt und verabsolutiert wurden. Die von mir aufgezählten Siegeltypen dienten dann wieder dazu, um das große Siegelmaterial äußerlich zu klassifizieren, was im Grunde darauf hinausläuft, die älteren Typologien wie die des Fürsten zu Hohenlohe-Waldenburg durch meine ausführlichere Typologie (genauer: die dort verwendeten Typenbezeichnungen) zu ersetzen. In diesen Fällen fühle ich mich mißverstanden, was mit ein Grund dafür ist, noch einmal generell auf die jüngeren Siegel-Typologien einzugehen.
Das „Vocabulaire international“ mit einer neuen, ausführlichen Typologie nach den Bildthemen der Siegel An den Anfang stelle ich die im großen „Vocabulaire international“7 enthaltene Typologie mit ihren 23 Siegeltypen, die sich am äußeren Erscheinungs7
Vgl. Anm. 2.
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bild der Siegel, d. h. dem dargestellten Gegenstand, orientieren. Der Nutzen dieser Siegel-Typologie für die Klassifizierung größerer Siegelbestände, insbesondere auch für die archivische oder museale Praxis bei der Verzeichnung von Siegelbeständen bzw. Siegelsammlungen, liegt auf der Hand. In diesen Fällen genügt die Benennung des Siegeltyps, um eine grobe Vorstellung vom Aussehen des einzelnen Siegels zu geben. Kurzum: Diese Siegel-Typologie, die, wie ich im folgenden Kapitel zeige, ganz in der französischen Tradition steht, hat ihren praktischen Nutzen und soll insoweit nicht in Frage gestellt werden. Die 23 Siegeltypen stellen wie das „Vocabulaire international“ überhaupt, das m. E. in Deutschland bisher zu wenig genutzt wird8, eine auch für die internationale Verständigung wichtige siegelkundliche Grundlage dar, die wahrscheinlich so schnell nicht durch ein vergleichbares Werk ersetzt werden wird.
Reaktionen: noch ausführlichere Typologien In einem 1996 publizierten Aufsatz setzte sich Wolfhard Vahl mit den im „Vocabulaire“ und in meinen beiden Aufsätzen („Prolegomena“ von 1983 und „Réflexions“ von 1993) enthaltenen Typologien kritisch auseinander, wobei er u. a. mit Recht auf die Unterschiede zwischen meinen beiden Aufsätzen hinwies.9 Die „Réflexions“ stellen in der Tat, wie ich oben dargelegt habe, eine reflektierte Weiterentwicklung dar, weshalb ich in diesem Band auch den Mischtypen eine eigene Miszelle (Kapitel V) widme. Vahl schlug einige neue Siegeltypen bzw. Siegeltyp-Bezeichnungen vor und kam, indem er mehrere Typen stärker differenzierte und einige hinzufügte, auf insgesamt 40 Siegeltypen. Ohne auf alle Einzelheiten eingehen zu wollen, seien doch die Grundtendenz und ein paar Details hier einer kritischen Revision unterzogen. Wiewohl Vahl den Ansatz meiner „neuen“ Siegel-Typologie richtig referierte und i. w. auch akzeptierte, orientieren sich seine Siegeltypen im Prinzip doch mehr an dem konkreten äußeren Erscheinungsbild als an der Intention bzw. den Mitteln, mit denen sich der Auftraggeber selbst darstellt. 8
9
Ein Beispiel: In dem Gesamtliteraturverzeichnis zu dem Sammelband von Gabriela Signori (Hrsg.), Das Siegel. Gebrauch und Bedeutung, Darmstadt 2007, wird das „Vocabulaire international“ nicht genannt, weil es offenbar von keinem der 17 Autoren herangezogen wurde. Wolfhard Vahl, Beschreibung und Auswertung mittelalterlicher Siegel.
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Das zeigt sich etwa an den von Vahl unterschiedenen „Heraldischen Siegeln“, bei denen er sieben Typen aufzählt: 16. Wappensiegel, 17. Allianzwappensiegel, 18. Vollwappensiegel, 19. Pavillonsiegel, 20. Wappenbildsiegel, 21. Helmsiegel, 22. Helmziersiegel. Diese Unterscheidung, abgelesen an der großen Masse überlieferter Wappensiegel, hat sicherlich ihre Berechtigung. Geht man aber nach der „Botschaft“, die ein Siegel aus der Sicht und der Intention des Auftraggebers vermittelt, so ist es doch letztlich das Wappen als solches, das ein wesentliches Identifikationsmerkmal für jeden Wappenführer darstellt. Vom ältesten Vorfahren, der das eigene Wappen führte, bis zur eigenen Generation (und im weiteren für die nachfolgenden Generationen) ist das Wappen Bedeutungsträger mit historischer und symbolischer Bedeutung. Das Wappen, im engeren Sinne der individuelle Inhalt des Wappens, gemeinhin „Wappensymbol“ bezeichnet, das oft in der Helmzier wiederholt wird und gegebenenfalls auch im Reitersiegel die Pferdedecke schmückt, steht für das eigene Geschlecht – nicht nur als äußeres und praktisches Erkennungszeichen, sondern auch für Geschichte und Selbstbewußtsein des Geschlechtes. Im Sinne meiner Typologie macht es im Prinzip keinen Unterschied, ob jemand in seinem Siegel nur einen Wappenschild oder ein Vollwappen darstellt, ja sogar in Anwendung des wirkungsvollen Pars-prototo-Grundsatzes sich auf die Wiedergabe seines Helmes oder seiner Helmzier beschränkt. (An einer solchen „Verkürzung“, auch wenn der Helm das eigene Wappensymbol nicht erkennen läßt, kann man ja durchaus ein besonderes Gefallen finden.) Auch Pavillonsiegel beim höheren Adel oder Allianzwappensiegel enthalten aus meiner Sicht keine grundsätzlich verschiedene Aussage, womit allerdings die feinen, selbstverständlich interpretationswürdigen Unterschiede – ein Pavillonsiegel signalisiert von vornherein den hohen adligen Rang des Siegelführers – nicht bestritten werden sollen. Im Sinne meiner engeren, an der spezifischen Aussage orientierten Typologie bleibt es beim Wappensiegel. Wenn man das jeweilige Siegel näher interpretieren und verstehen will, ist natürlich von Interesse, welchen heraldischen Weg Auftraggeber und Toreut gewählt haben. Zu dem von Vahl unter Nr. 20 genannten Wappenbildsiegel ist allerdings zu bemerken, daß es ein Wappen ohne Schild nicht gibt und geben kann.10 Richtig ist, daß Siegel, die nur ein (bekanntes) Wappensymbol ohne umrahmenden Schild zeigen, nicht selten vorkommen. Diese Siegel würden in der obigen Aufzählung besser als „Wappensymbolsiegel“ 10 Hierzu hat Erich Kittel, Siegel, S. 191, das Nötige gesagt.
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bezeichnet. Sie sind nach meiner Unterscheidung den Symbolsiegeln zuzurechnen, wobei wir in solchen Fällen glücklicherweise kein Problem haben, das Symbol zu verstehen. Ähnliche Argumente wie bei der Differenzierung der Wappensiegel (Vahl: „Heraldische Siegel“) sprechen aus meiner Sicht auch gegen die von Vahl vertretene Unterscheidung zwischen den Siegeltypen 9 und 10 seiner Zählung, nämlich Ratskollegsiegel und Schöffenkollegsiegel, die ich seinerzeit auch in meinen „Prolegomena“ als selbständige Typen benannt hatte. Entscheidend ist nach meinem in den „Réflexions“ weiterentwickelten Ansatz, daß sich hier im Gegensatz zur Einzelperson („Einfaches Bildsiegel“) eine Gruppe von Personen gemeinsam im Bild darstellen läßt und damit ein kollektives Selbstbewußtsein zum Ausdruck bringt. Die Intention, Aussage oder „Botschaft“ ist bei Gruppen allemal dieselbe, ob es sich um ein Ratsoder ein Schöffenkolleg handelt. Vergleichbares läge vor, wenn das Siegel eines Stiftskapitels oder Klosterkonventes die Angehörigen eines solchen in einem Siegel abbilden würde. Man würde, wenn man Vahl folgt, von einem Kanoniker-/Kanonissenkollegsiegel bzw. einem Mönchs-/Nonnenkollegsiegel sprechen. Bisher sind mir „reine“ Siegel dieser Art nicht begegnet. Das zum Jahre 1289 überlieferte 4,8 cm große Rundsiegel des Klosterkonventes von San Victorian (Huesca, Spanien) zeigt sechs kniende Mönche mit betend erhobenen Händen, darüber eine vom oberen Bildrand herausragende Taube, von der Strahlen zu allen Mönchen ausgehen.11 Die Darstellung der sechs Mönche als pars pro toto für den gesamten Konvent wird hier entscheidend durch das Symbol des Hl. Geistes, der sich den Mönchen mitteilt bzw. mitteilen soll, ergänzt. Das 1524 belegte Siegel des Kapitels von St. Maria auf der Insel Krk (Kroatien) zeigt, offenbar ebenfalls pars pro toto, sieben Kapitelsangehörige, über denen eine vom linken oberen Bildrand herausragende Hand im Segensgestus zu sehen ist12, zweifellos mit der beabsichtigten Aussage, daß man sich unter dem Segen Gottes wähnt bzw. diesen erbittet. In beiden Siegeln wird eine komplexere Botschaft erzielt durch die Kombination von Gruppenbildnis und Symbol, so daß wir es hier mit Mischtypen zu tun 11 Araceli Guglieri Navarro, Catálogo de sellos, S. 517, Nr. 1408 mit Farbabb. im Anhang. 12 Il sigillo nella storia della civiltà attraverso i documenti dell’Archivio Segreto Vaticano, Ausstellungskatalog, [Vatikanstadt] 1985, S. 100 f., Nr. 155 (mit Abb.).
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haben. Hier wie auch bei der ganz ähnlich gestalteten Bullenrückseite des Konzils von Basel, wo oben Christus in Halbfigur und darunter die Konzilsteilnehmer dargestellt sind13, wird man von einem Mischtyp sprechen wollen, bei dem ein Gruppenbildnis mit einem Symbol (Hl. Geist, Hand Gottes) bzw. einem Heiligen (Christus) kombiniert ist. Die von Vahl als Typ 31 und Typ 32 benannten Adorantensiegel und Devotionssiegel, die bisher, wie er selbst einräumt, gemeinhin als Termini für ein und denselben Siegeltyp benutzt werden, sind den Mischtypen zuzurechnen, weil hier der Typ des Heiligensiegels mit dem des Bildnissiegels bzw. Wappensiegels kombiniert ist. Die angeführten Beispiele genügen, um deutlich zu machen, daß die Typologie Vahls primär eine Erweiterung gegenüber dem „Vocabulaire“ darstellt. Die hierbei eingebrachten Beobachtungen und Differenzierungen, auch wenn man den neu vorgeschlagenen Begriffen Vahls nicht immer folgen will, haben sicherlich ihren Nutzen. Klammert man das oben angesprochene Problem der Mischtypen aus, so sind die Termini auch im Sinne meiner Typologie verwendbar, wenn man stets den Grundgedanken meines „neuen“ Ansatzes im Hinterkopf hat. Ein Jahr nach dem Aufsatz von Wolfhard Vahl, aber völlig unbeeinflußt von diesem, publizierten zwei Jesuiten an der Gregoriana in Rom, Josef Grisar und Fernando de Lasala, im Rahmen ihrer kleinen Siegelkunde eine weitere neue Typologie.14 Ausgehend von der Feststellung, daß es eine überaus große Zahl von Siegeltypen gibt und ein und dasselbe Siegel verschiedene typologische Merkmale aufweisen kann15, unterscheiden sie sechs Hauptgruppen mit insgesamt 41 Siegeltypen. Die große Zahl der nach dem dargestellten Gegenstand benannten Typen ergibt sich einerseits daraus, daß die Autoren weitgehend dem „Vocabulaire“ folgen. Dies gilt etwa, um ein sehr spezielles Beispiel zu nennen, für ihren Typ III. 2.1.3 („Feminile stante“), der dem „Type (ou sceau) féminin debout“ des „Vocabulaire“ entspricht. Andererseits unterscheiden Grisar und de Lasala die unter der 13 Abbildung bei Erich Kittel (wie Anm. 10), S. 169, Abb. 107. 14 Josef Grisar, S. I., Fernando de Lasala, S. I., Aspetti della Sigillografia. Tipologia, storia, materia e valore giuridico dei sigilli, Rom 1997. Die „Tipologia dei sigilli“ findet sich auf den Seiten 13–16. 15 Ebenda, S. 13, Anm. 7: „Purtroppo, i tipi dei sigilli sono numerosissimi; d’altrando, in uno stesso sigillo possono convergere diverse caratteristiche tipologiche.“
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Hauptgruppe III („Tipo ad effigie dello stesso sigillatore“) angeführten zwölf Siegeltypen je nachdem, ob sie ohne Wappen erscheinen oder aber mit einem Wappen des Siegelführers versehen sind, woraus sich dann letztlich 24 Siegeltypen ergeben. Die Gesamtzahl von 41 kommt also auch dadurch zustande, daß hier zwölf Typen erscheinen, die eigentlich zu den Mischtypen gehören. Läßt man diese Eigenheit außer Betracht, so zeigt die SiegelTypologie der beiden Jesuiten, daß sie die älteren, bis zum Erscheinen des „Vocabulaire“ entwickelten Typologien der französischen und deutschen Sphragistik hinter sich gelassen haben.
Rückkehr zur „reflektierten“ Typologie (nach der Intention des Auftraggebers) In ihrer 2004 erschienenen „Siegelkunde“ will Andrea Stieldorf, wie der Untertitel besagt, „Basiswissen“ vermitteln. Da ist es schon bemerkenswert, daß sie im ersten Teil recht ausführlich auf siegeltypologische Fragen eingeht16, „um den Zugang zu Teil II [= Thematischer Teil] zu erleichtern“.17 Zu den bisherigen Siegel-Typologien bezieht Stieldorf klar Stellung: „Orientierte man sich früher oft nur am Siegelbild, so gilt heute als communis opinio, daß auch zu berücksichtigen ist, von wem und zu welchem Zweck das Siegelbild gestaltet wurde. ... Für das Mittelalter darf man davon ausgehen, daß der Bezug von Siegelbild und -umschrift auf den Siegler sehr eng war und das Siegel damit in besonderer Weise geeignet, den Willen des Siegelinhabers zum Ausdruck zu bringen.“ Die Bezeichnungen der einzelnen Siegeltypen lehnen sich weitgehend an meine Typologie an.18 Bei den Charakterisierungen hat Stieldorf z. T. auch die jeweiligen Auftraggeber und ihre Intentionen im Auge, was letztlich dem Verständnis der Siegeltypen dient. Daß die Kenntnis der Entwicklung und der Bedeutung eines Siegeltyps wiederum wichtig ist zum Verständnis eines einzelnen Siegels, wird uns hier noch weiter beschäftigen.
16 Andrea Stieldorf, Siegelkunde, S. 23–29. 17 Ebenda, S. 23. 18 Dies gilt nicht für die angeblichen „Phantasiesiegel“ (ebenda, S. 27 f.), unter denen Stieldorf „Siegel mit Drolerien, fantastischen Darstellungen o. ä.“ versteht. Vgl. hierzu meine kritischen Ausführungen in Kapitel IV.
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Pragmatische Bearbeitung eines großen Siegelbestandes: Typenbenennung nach verschiedenen Aspekten Siegeltypologische Fragen hat auch Beatrice Marnetté-Kühl eingehend erörtert.19 Ihr mit ausführlichen Angaben versehener Katalog, der 696 Siegel umfaßt, ist generell nach Siegelführern geordnet; die Siegel selbst sind „nach ihren Bildern mit wenigen, festen Begriffen erschlossen“.20 Bei der Klassifikation wandte Marnetté-Kühl meine „in sich schlüssige und pragmatische Typologie“21 an. Diese Einschätzung ehrt mich natürlich. Allerdings hatte ich nie daran gedacht, daß man meine Typologie einmal zur Klassifizierung größerer Siegelbestände einsetzen könnte. Vielmehr geht es mir, wie ich immer wieder betont habe und betone, um das tiefere Verständnis des Einzelsiegels. Die Benutzung der Termini meiner Siegel-Typologie für die Bearbeitung eines umfangreichen Bestandes führt, wie Marnetté-Kühl darlegt, „zu Spannungen und Diskrepanzen in der Anwendung; sie liegen schlicht in der Fülle und Vielgestaltigkeit des Gegenstands.“22 Die Bearbeiterin hat daher nicht nur Untergliederungen in ähnlicher Weise wie Vahl und Grisar/ de Lasala vorgenommen, sondern auch die „Mischformen“ nach ihren jeweiligen Bestandteilen (z. B. „Heiligensiegel mit Wappen“) benannt. Im übrigen wurden weitere Angaben bezüglich Verwendungsart (z. B. „Sekretsiegel“), Siegelführer (z. B. „Papstbulle“ oder „Elektensiegel“) oder gemeinschaftlicher Siegelführung (z. B. „Gemeinschaftssiegel“) hinzugefügt. Diese zusätzlichen Kurzinformationen sind dem Benutzer eines Siegelcorpus allemal willkommen, ergibt sich dadurch doch, insbesondere für Fälle, in denen die Siegel wegen ihres schlechten Erhaltungszustandes nicht abgebildet sind, sofort eine Vorstellung von Aussehen und Funktion eines Siegels. Hat Marnetté-Kühl, was ihren Katalog angeht, sich mit der Verwendung der Termini meiner Siegel-Typologie von der Grundidee, die diese bestimmt, entfernt, so ist andererseits die gründliche Auseinandersetzung mit dieser unverkennbar. Das zeigt sich auch in der Einleitung, wo die Typen des Heiligensiegels, Por-
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Beatrice Marnetté-Kühl, Mittelalterliche Siegel. Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 52.
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trätsiegels23 und Wappensiegels auf der Grundlage des reichen in dem Corpusband enthaltenen Materials abgehandelt sind.
Erstes Fazit und Bemühungen um eine Weiterführung des neuen, reflektierenden Ansatzes zum Verständnis des Einzelsiegels Im Fazit zeigen alle hier angeführten jüngeren Siegel-Typologien vom „Vocabulaire“ bis zu Marnetté-Kühl, daß sie unter Verwendung weitgehend – auch international – standardisierter Termini primär die Masse der überlieferten Siegel im Auge haben. Dabei geht es in erster Linie um die „Siegelbeschreibung“24 und nur z. T. wie bei Stieldorf um die Erklärung der Siegeltypen als solchen aus der Sicht der Auftraggeber. Meine Siegel-Typologie leidet, wie oben schon bemerkt, darunter, daß sie weitgehend dieselben Termini verwendet, ihnen aber einen anderen Sinn unterlegt. So handelt es sich, um den Unterschied zu zeigen, bei den Stadtsiegeln von Büderich und Haldern am Niederrhein, die einen zur Jagd ausreitenden bzw. einen mit Fahnenlanze dahinsprengenden Reiter zeigen, nach meiner Typologie nicht um Reitersiegel, sondern um ein Stadtgründerund Stadtherrensiegel bzw. einen Mischtyp (Heiligen-/Symbolsiegel). In dem Halderner Siegel sind der hl. Georg, Patron der örtlichen Pfarrkirche, mit seinem Phantasiewappen (im Schild ein Balkenkreuz) und zusätzlich hinter seinem Rücken ein großer, aufrecht stehender Schlüssel dargestellt, der wohl als örtliches Symbol zu verstehen ist und den Auftraggebern des Typars wichtig war.25
23 Gegenüber dem Terminus „Porträtsiegel“ bevorzuge ich entschieden den Terminus „Bildnissiegel“; vgl. meine Besprechung des Werkes von Markus Späth (Hrsg.), Bildlichkeit korporativer Siegel. Perspektiven, erschienen in: Herold-Jahrbuch N. F. 16 (2011), S. 262–268. 24 Wolfhard Vahl (wie Anm. 9), S. 492. 25 Zu Büderich: Toni Diederich, Siegelforschung im Dienste der Stadtgeschichte. Überlegungen zum Alter des ersten Stadtsiegels und zur Stadtwerdung von Büderich bei Wesel, in: Archiv und Geschichte, Festschrift Rudolf Brandts, Köln 1978, S. 23–43, sowie Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 203–206; zu Haldern: Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel III, Tafel 89 Nr. 6; ein jüngeres Siegel gleichen Typs (Nachschnitt) in: Rien van den Brand, Stefan Frankewitz (Hrsg.), Das Find-
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Um es hier noch einmal deutlich zu sagen: Meine „neue“ Siegel-Typologie zielt auf das Verständnis des einzelnen Siegels als Geschichtsquelle und dient damit der Geschichtswissenschaft im weitesten Sinne. Von Interesse sind hierbei der hinter dem Siegel stehende Auftraggeber und das, was er mit und in seinem Siegel zum Ausdruck bringen wollte. Wir sehen nämlich in dem Siegel – ähnlich wie Günter Bandmann in der mittelalterlichen Architektur – einen Bedeutungsträger, in dem, freilich in unterschiedlichen Verteilungen und Abstufungen, historische und symbolische Elemente vereinigt sind. Da nichts in der Geschichte voraussetzungslos ist, lassen sich die geschichtliche und die symbolische Bedeutung eines Siegels nur erfassen, wenn man die historische Entwicklung des betreffenden Siegeltyps und die Gedankenwelt des Auftraggebers, der sich für einen bestimmten Siegeltyp entscheidet, kennt. Ihnen nähern wir uns, wenn wir einen Siegeltyp systematisch untersuchen. Ausgehend von dem (vermeintlich) ersten Auftreten eines neuen Siegeltyps, das natürlich auch nicht voraussetzungslos ist, gilt es, durch die Analyse einer Reihe von einschlägigen Siegeln ein Verständnis für diesen Siegeltyp und seine nachfolgende Entwicklung zu gewinnen. Die Kenntnis dieses Siegeltyps bildet dann gleichsam die Folie für die Einordnung und Interpretation eines einzelnen Siegels, das uns in einem bestimmten historischen Zusammenhang interessiert. Siegeltypologische Untersuchungen sind daher grundlegend für die Siegelforschung, nach meinem „neuen“ Ansatz aber kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck, der letztlich darin besteht, zum Verständnis eines einzelnen Siegels zu gelangen. Auch in diesem Falle wird die Siegelkunde zu einer Hilfswissenschaft der Geschichte.
Untersuchungen zu einzelnen Siegeltypen In der Vergangenheit sind schon viele Einzelbeobachtungen und Erkenntnisse zu einigen wichtigen Siegeltypen, insbesondere zum Bildnissiegel, Heiligensiegel und Reitersiegel, publiziert worden. Umfassende Abhandlungen zu ihnen fehlen aber noch. Das gilt auch für die bei Städten vorkommenden Siegeltypen, wenngleich ich in meinen „Rheinischen Städtesiegeln“ auf der buch zum Archiv Schloss Haag. Einführung – Regesten – Siegel – Register (Geldrisches Archiv 10), Geldern 2008, S. 348, Abb. 2.
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Basis des von mir ausgewerteten Materials schon einige grundsätzliche Dinge im Sinne meines neuen Ansatzes zusammengetragen habe.26 Es macht das Wesen einer Typologie aus, daß sie von allgemeiner Bedeutung ist und insoweit auch allgemeine Geltung beanspruchen kann. So ist es nicht erstaunlich, daß Artur Dirmeier meine für die rheinischen Städtesiegel entwickelte Typologie auch für die Städtesiegel einer anderen Landschaft anwenden konnte.27
Redendes Siegel Bezüglich des häufiger vorkommenden Typs des Redenden Siegels verfügen wir nunmehr über zwei grundlegende Studien von Winfried Schich, die zwar nicht auf umfassender, aber doch so breiter Materialgrundlage beruhen, daß sie uns den Weg zum Verständnis dieses Siegeltyps eröffnen.28 Der von Schich entfaltete geistesgeschichtliche Hintergrund29 und die von ihm zusammengestellten „Beobachtungen und Thesen“ werden von großem Nutzen sein, genügt es bei der Interpretation eines redenden Siegels künftig doch, diese Erkenntnisse in die Interpretation einfließen zu lassen und gegebenenfalls das Besondere, etwa bezüglich der Größe, Gestalt oder künstlerischen Qualität, zu würdigen.
Entdeckung neuer Siegeltypen Das Redende Siegel gehört, wie erwähnt, zu den weit verbreiteten Siegeltypen des Mittelalters. Es gibt aber auch seltener vorkommende Siegel, die 26 Vgl. Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 92–120 (= Kapitel I. 6: „Typologie der rheinischen Städtesiegel“). 27 Artur Dirmeier, Mit Brief und Siegel: Beglaubigungsmittel an Donau und Rhein, in: Jörg Oberste (Hrsg.), Repräsentationen der mittelalterlichen Stadt (Forum Mittelalter, Studien 4), Regensburg 2008, S. 193–212. 28 Winfried Schich, Redende mittelalterliche Städtesiegel vor allem brandenburgischer Städte, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 55 (2004), S. 9–30, sowie Winfried Schich, Redende Siegel brandenburgischer und anderer deutscher Städte im 13. und 14. Jahrhundert, in: Markus Späth (Hrsg.), Bildlichkeit korporativer Siegel, S. 113–129. 29 Dieser gilt allgemein und keineswegs allein für die Gruppe der Städtesiegel.
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nach gleichen Vorstellungen – Gegenständen bzw. Bildthemen im Sinne des „Vocabulaire“, „Aussagen“ im Sinne meiner „neuen“ Siegel-Typologie – gestaltet sind. Lassen sie sich nicht nur in wenigen Einzelstücken, sondern in einer nennenswerten Anzahl, vielleicht auch noch in ganz verschiedenen Regionen, nachweisen, so wird man mit einigem Recht von einem eigenen Siegeltyp sprechen können. Mit der Möglichkeit, daß die Liste der von mir seinerzeit aufgezählten 28 Siegeltypen unvollständig ist, habe ich von vornherein gerechnet, wie meine „Prolegomena“ bezeugen. Tatsächlich hat Ruth Wolff zwischenzeitlich auf eine stattliche Reihe von Siegeln in Italien aufmerksam gemacht, in denen ein Gelehrter, meist ein Notar oder Rechtsgelehrter, lesend oder schreibend vor einem Pult dargestellt ist.30 Solche Siegel kommen auch nördlich der Alpen, etwa bei Scholastern, vor. Da der Siegler sich bei einer für ihn typischen Tätigkeit im Siegel präsentiert, ihm diese also offenbar wichtig ist, könnte man diese Siegel nach meiner Typologie zu den Handlungssiegeln rechnen. Andererseits dominiert in diesen Siegeln aber das Bildnis des Auftraggebers, so daß man in ihnen einen eigenen Siegeltyp sehen kann, der sich der oben unter II, 2–8 aufgezählten Gruppe besonderer Bildnissiegel anschließen läßt, vergleichbar dem unter Nr. 8 angeführten Richtersiegel. Die Ausführungen von Ruth Wolff, die uns auch den Bedeutungsgehalt und die spezielle Aussage dieser Siegel erschließen31, legen es nahe, diesen Siegeltyp als „Doctor-in-cathedra-Siegel“ zu bezeichnen, so sperrig dieser Terminus auf den ersten Blick erscheinen mag. Es erscheint mir lohnend, diesen Siegeltyp und die möglichen ikonographischen Vorbilder – man denke an vergleichbare Evangelistendarstellungen in älteren Handschriften – in größerem Zusammenhang zu untersuchen. Vergleichbare Darstellungen des hl. Johannes Ev. gibt es auch in mittelalterlichen Sie-
30 Ruth Wolff, Autorität und Authentizität: Zum Verhältnis von Text und Siegel-Bild am Beispiel des Rechtsgutachtens Giovanni d’Andreas vom 9.5.1329, in: Rechtsgeschichte 13 (2008), S. 60–79, sowie Ruth Wolff, „Siegel-Bilder“, S. 149–166. 31 Wolff weist u. a. auf die Ähnlichkeit des genannten Bildformulars mit der aus der Kunstgeschichte geläufigen Magister- bzw. Doctor-in-cathedra-Szene hin; vgl. Ruth Wolff, „Siegel-Bilder“ (wie Anm. 30), S. 164. Die Doctor-in-cathedra-Siegel sind Ausdruck der hohen Selbsteinschätzung der Siegelführer als personae magnae opinionis und ihres ungewöhnlich hohen Sozialprestiges; vgl. Ruth Wolff, Autorität und Authentizität (wie Anm. 30), S. 77.
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geln.32 In diesen Fällen handelt es sich aber, wenn man meiner „neuen“ Siegel-Typologie folgt, eindeutig um Heiligensiegel. Hieraus wird deutlich, wie sehr sich mein neuer Ansatz von allen anderen Siegel-Typologien unterscheidet, die allein nach dem Phänotypus, dem dargestellten Gegenstand, gehen. So wie das Fischerring-Siegel einen eigenen Siegeltyp bildet, der m. W. nur bei Päpsten vorkommt, so könnte man auch die Vorderseite der Bleiund Silberbullen der Dogen von Venedig als eigenen Siegeltyp betrachten und als Dogen-Investitur-Siegel bezeichnen, weil dieser Typ Jahrhunderte lang (wie der Typ des päpstlichen Fischerrings) benutzt wurde. Der hohe Bedeutungsgehalt der auf dem Avers der Dogenbullen dargestellten Szene – der hl. Markus als Patron und eigentlicher Herrscher von Venedig übergibt das Vexillum an den neugewählten Dogen – hat dazu geführt, daß diese, nachdem das beschriebene Bild vom Dogen als „Amtswalter des Evangelisten“ in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entwickelt worden war, auf den Bullen der Dogen im Prinzip bis zum Jahre 1797 beibehalten wurde.33 Wir haben es also auch hier mit einem echten, wenngleich nur in Venedig vorkommenden Siegeltyp zu tun. Er ist der Gruppe D meiner eingangs wiedergegebenen Typologie einzuordnen.
Siegel von Offizialen und Offizialaten: ein eigener Siegeltyp? Einen weiteren Siegeltyp, der bisher nie beachtet worden ist, sehe ich, nachdem mir entsprechende Stücke in entfernten Regionen aufgefallen sind, in den Offizialatssiegeln, welche sinnträchtig das Haupt oder Brustbild eines Bischofs mit Mitra zeigen. Ich bin auf ein Beispiel dieses Siegeltyps und seine Aussage aus besonderem Anlaß schon einmal kurz eingegangen.34 Zu der als Symbol zu verstehenden Bildwahl sei hier nur soviel gesagt: Der Offizial übt im Auftrag seines Bischofs die geistliche Gerichtsbarkeit aus. Hinter dem, was der Offizial bzw. seine Kurie tut, steht also der Bischof selbst. Der Offizial ist sozusagen das „alter ego“ des Bischofs in Angelegenheiten der 32 Vgl. etwa Beatrice Marnetté-Kühl (wie Anm. 19), S. 214 mit S/W-Abb., Farbabb. Nr. 10: Siegel des Johannes, Plebans von Westerbadeleben, vom Ende des 13. Jahrhunderts. 33 Näheres hierzu bei Andrea Lermer, Besiegelung des Rathauses, S. 131. 34 Toni Diederich, Frische Brise für die Siegelforschung, S. 14 u. 19 f.
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geistlichen Gerichtsbarkeit. Er besitzt damit eine Stellung, die heute i. a. dem Generalvikar im Hinblick auf die gesamte bischöfliche Verwaltung zukommt. Der mittelalterliche Offizial kann sich nun aber nicht des Thronsiegels oder Standbildsiegels eines Bischofs bedienen, weil diese Varianten des Bildnissiegels dem Bischof selbst vorbehalten sind. Deshalb wählt er nach dem Pars-pro-toto-Prinzip das Haupt oder das Brustbild des Bischofs. Es kommen aber auch, sozusagen als Alternativen, die Darstellung der Krümme des Bischofsstabes35 und die Darstellung einer Mitra36 vor. Es geht dem Offizial bzw. dem Offizialat also offenbar darum, nach außen mit bischöflicher Autorität aufzutreten. Einstweilen kann ich auf folgende Offizialatssiegel mit Kopf oder Brustbild eines Bischofs verweisen: Paris (1253), Utrecht (fünf Siegel nacheinander von 1267 bis 1289), Halberstadt (um 1291 bis Anfang 14. Jh.), Roskilde (15. Jh. ?). Mit Ausnahme des späten Siegels von Roskilde zeigen alle anderen den Kopf des Bischofs im Profil, jeweils mit Mitra und herabhängenden Infuln. Während der Bischof auf allen Utrechter Siegeln nach (heraldisch) rechts blickt, sind die auch ikonographisch frappierend ähnlichen Bischofsköpfe von Paris und Halberstadt im Profil nach links dargestellt. Die große Ähnlichkeit in Inhalt und Gestaltung aller Siegel (außer Roskilde) kann kein Zufall sein. Die geographische Streuung führt zu der Vermutung, daß die jüngeren Siegel von älteren Vorlagen beeinflußt sein müssen und es Traditionsstränge gegeben hat, die uns einstweilen noch verborgen sind. Da nur verhältnismäßig wenige Offizialatssiegel publiziert sind, bedarf es noch genauer Studien, um Anfänge, Entwicklung37 und Verbreitung dieses Siegeltyps aufzuhellen. Um den Bedeutungsgehalt voll zu erfassen, müssen auch die Offizials- und Offizialatssiegel 35 Ein Beispiel (Rücksiegel, um 1291) bei Beatrice Marnetté-Kühl (wie Anm. 19), S. 218 mit S/W-Abb., Farbabb. Nr. 13; ganz ähnlich ein spitzovales Siegel von 5,5 : 3,1 cm des Offizialates von Tarrragona aus dem Jahre 1280, wo neben dem mit einem Schweißtuch (velum, sudarium) versehenen oberen Teil des Bischofsstabes beiderseits ein großes T (wohl in der Funktion eines Gemerkes für Tarragona) angebracht ist (Araceli Guglieri Navarro, wie Anm. 11, S. 539, Nr. 1431 mit Farbabb. im Anhang). 36 Ein Beispiel ist das Siegel des Offizials von Roskilde (Dänemark), Farbabb. bei Toni Diederich (wie Anm. 34), S. 19. 37 Haupt- und Rücksiegel des Kölner Offizialates vom Jahre 1301 zeigen jeweils einen Bischof in Halbfigur mit Stab und Buch, stellen also ikonographisch eine Weiterentwicklung dar.
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in den Blick genommen werden, die sich wie die oben angeführten Siegel mit Bischofsstabkrümme oder Mitra anderer Bildthemen bedienen.
Kenntnis der Siegeltypen als Voraussetzung zum Verständnis des Einzelsiegels Das Beispiel zeigt in aller Deutlichkeit, wie wichtig es ist, Entstehung, Entwicklung, Verbreitung und Sinn-/Symbolgehalt eines Siegeltyps aufzuarbeiten, damit man ausgehend von diesen Kenntnissen zu der richtigen Bewertung und Interpretation eines Einzelsiegels gelangen kann. So hat Wilfried Schöntag unter Einbeziehung siegeltypologischer Fragen zu einem besseren Verständnis etlicher südwestdeutscher Städtesiegel beigetragen.38 Denn um das Verständnis eines jeden einzelnen Siegels und seine Aussage als individuelle und einmalige Geschichtsquelle geht es mir. Die Kenntnis des jeweiligen Siegeltyps ist dazu eine Hilfe, nicht mehr und nicht weniger. Wenn ich hier den Nutzen der Siegeltypologien thematisiert und mehrfach herausgestellt habe, wie wichtig die Kenntnis der einzelnen Siegeltypen ist, so muß doch auch darauf hingewiesen werden, daß es bei den Siegelführern wie auch bei den verwendeten Siegeltypen Unterschiede und Abstufungen gibt. Ein anspruchsvolles Siegel eines Herrschers, eines Adligen oder hohen Prälaten ist nicht zu vergleichen mit dem kleinen und oftmals auf eine einfache Aussage reduzierten Siegel eines Bürgers oder Plebans. Die massenhaft überlieferten Siegel bieten hier ein breites Spektrum. Es kann sein, daß wir gewisse Symbole überhaupt nicht begreifen, während die Darstellung und die Aussage in einem Initialensiegel oder in den anderen Siegeln, die nur ein persönlichen Zeichen eines Siegelführers aufweisen, wenig Interpretationsprobleme bieten. Die letztgenannten Typen geben daher, wenn man den Typ des Wappensiegels ausnimmt, auch kaum Anlaß zu groß angelegten siegeltypologischen Untersuchungen. Aber auch hier wären Klärungen mit dem Ziel, einen besseren allgemeinen Kenntnisstand in der Siegelforschung und einen gewissen Konsens und Standard im Wortgebrauch zu erreichen, sehr erwünscht. Als Beispiel hierfür nenne ich nur das Gemerkesiegel. Noch mehr gilt das für das Ornamentsiegel, dessen Sonderstellung in dem nachfolgenden Kapitel betrachtet werden soll. 38 Wilfried Schöntag, Kommunale Siegel.
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Es sei am Schluß aber noch ein Faktum in Erinnerung gerufen und festgehalten: Alle Typologien sind nur Hilfskonstruktionen, um eine gewisse Ordnung in das unermeßliche Siegelmaterial zu bringen bzw. dieses unserem Verständnis zu erschließen. Es ist aber zu betonen, daß es auch einzelne Siegel gibt, die sich gar nicht oder zumindest nicht sofort oder eindeutig einem bestimmten Siegeltyp zuordnen lassen. Sie stehen wie erratische Blöcke in der Siegellandschaft, solange wir nicht von anderer Seite Hinweise auf einen eventuellen Symbolgehalt des Bildthemas erhalten oder wir durch Entdeckung gleichartiger Siegel einen weiteren Siegeltyp wie oben im Falle der Offizialatssiegel benennen können. Solange noch große Mengen von Siegeln nicht publiziert sind, wird die Erörterung siegeltypologischer Probleme nicht abreißen.
IV. „Willkürsiegel“ – „Fantasiesiegel“ – Ornamentsiegel Gegenstand des vorliegenden Kapitels sind Probleme französischer Siegeltypbezeichnungen und die Sonderstellung des Ornamentsiegels, das in der deutschen siegelkundlichen Literatur bis zu meiner neuen Siegel-Typologie unbeachtet geblieben ist. In der französischen Sphragistik wurde es zuletzt unter dem Typ des „Fantasiesiegels“ subsumiert, das seinerseits – Douët d’Arcq bezeichnete es als „type arbitraire ou de fantaisie“ – ein auffälliges Eigenleben führt. Bevor ich darauf näher eingehe, soll, damit man die Ausformung der französischen Siegel-Typologie(n) besser versteht, ein Seitenblick auf das deutsche Pendant geworfen werden.1
Die „klassische“ deutsche Siegel-Typologie und ihre Schwächen Friedrich Karl Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg hat erstmals 1857, dann 1866 und schließlich 1882 in seinen berühmten „Sphragistischen Aphorismen“, die ich hier zur Grundlage nehme, eine „Classification aller Siegel“ vorgelegt, wobei er die folgenden, jeweils weiter untergliederten vier Typen aufzählte: Schriftsiegel, Bildsiegel, Porträtsiegel und Wappensiegel.2 Hermann Grotefend nannte Hohenlohes Vorschlag, der „einseitig die typische Seite des Siegels“ ins Auge fasse, in materieller Hinsicht „vortrefflich“, war aber mit der „formellen Handhabung zur Bezeichnung der Siegel“ nicht einverstanden.3 Was den „Typus“ angeht, folgte er aber bis auf eine kleine Ergänzung in der Unterteilung der Wappensiegel gänzlich der Typologie des Fürsten zu Hohenlohe-Waldenburg. Diese erlangte in der deutschen Siegel1 2
3
Vgl. dazu Toni Diederich, Prolegomena, S. 246 und 253–255, dort auch die näheren Angaben zur Literatur. Sicherlich in bewußter Abgrenzung zu Douët d’Arcq fügte Hohenlohe eine französische Übersetzung (mit Kurzangaben in Latein) hinzu. Er unterschied demnach in: Sceaux à lettres (Sig. literata), Sceaux à sujets (Sig. imaginalia), Sceaux à portraits (Sig. effigialia) und Sceaux héraldiques (Sig. heraldica). Hermann Grotefend, Über Sphragistik. Beiträge zum Aufbau der Urkundenwissenschaft, Breslau 1875, S. 12 f.
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forschung einen kanonischen Status und wurde trotz zunehmender Kritik seit Harry Breßlau und Theodor Ilgen in allen siegelkundlichen Handbüchern bis zu Erich Kittel (1970) abgedruckt. Läßt man die klaren Bezeichnungen Schriftsiegel und Wappensiegel gelten und ersetzt man den irreführenden Terminus Porträtsiegel durch den besseren Terminus Bildnissiegel, so ist die Bezeichnung Bildsiegel für den gesamten Rest der Siegel – und das ist eine riesige Zahl – zu nichts nütze. Ich habe die Typologie Hohenlohes u. a. deshalb als „oberflächlich und geradezu erkenntnishemmend“ eingestuft. Ungeachtet dessen begegnet man dem nichtssagenden „Bildsiegel“ bis in die jüngste Zeit.4
Die „klassische“ französische Siegel-Typologie und ihre Fortentwicklung Demgegenüber war die 1863 publizierte Typologie von Louis Douët d’Arcq von vornherein differenzierter. Er unterschied folgende acht Siegeltypen: type de majesté, type équestre, type armorial, type personnel aux femmes, type ecclésiastique, type légendaire, type topographique und type arbitraire ou de fantaisie. Hier taucht also, nicht von ungefähr an letzter Stelle, ein Willkür- oder Fantasietyp auf. Die Typologie von Douët d’Arcq wurde in Frankreich ein halbes Jahrhundert lang allgemein anerkannt.5 Erst Joseph Roman übte deutliche Kritik an dieser Typologie und trennte zunächst einmal zwischen weltlichen und geistlichen Siegelführern, für die er acht bzw. fünf verschiedene Typen aufzählte. Auch diese Typologie besitzt, wie ich seinerzeit dargelegt habe, logische und sachliche Schwächen, doch braucht sie uns hier nicht näher zu beschäftigen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß auch Roman sowohl für Laien als auch für Geistliche an dem „type arbitraire ou de fantaisie“ festhielt. Dieser Siegeltyp mußte, wie schon 4
5
Beispiele bei Wilfried Schöntag, Das Reitersiegel als Rechtssymbol und Darstellung ritterlichen Selbstverständnisses, in: Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie, Festschrift Hansmartin Schwarzmaier, Sigmaringen 1997, S. 83, 88 und 103; Karl-Heinz Steinbruch, Bauernsiegel in Mecklenburg (1763–1836), in: Gabriela Signori (Hrsg.), Das Siegel. Gebrauch und Bedeutung, Darmstadt 2007, S. 140, 144 f. und 147. Auch Clemente Lupi, Manuale di paleografia delle carte, Florenz 1875, S. 238 f., lehnte sich bei der Typologie an Douët d’Arcq an.
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Jean-Luc Chassel 1978 und wenig später Michel Pastoureau bemerkt haben6, dafür herhalten, um unter ihm alles zu vereinen, was sich den anderen Siegeltypen nicht zuweisen ließ; so sei dieser Begriff letztlich ein Eingeständnis des Unvermögens („un aveu d’impuissance“). Allerdings hatte Douët d’Arcq seinerzeit schon zugegeben, er erfasse unter dem Namen des „type arbitraire“ alle Fantasiesiegel, die nicht zu den vorhergehenden Typen gezählt werden können.7 Ich werde auf Douët d’Arcq später noch einmal zurückkommen.
Der Eiertanz um das „Fantasiesiegel“ in der französischen Sphragistik Dank der hohen Autorität von Douët d’Arcq und Roman in der französischen Sphragistik blieb der „type arbitraire ou de fantaisie“ unumstritten, bis 1934 Auguste Coulon bei der Abhandlung der kirchlichen Siegel zu bemerkenswerten Abweichungen von Roman gelangte. Coulon unterschied nämlich einleitend folgende fünf Siegeltypen: type effigié ou à effigie, type hagiographique, type monumental, type armorial und type emblématique ou de fantaisie.8 Auch hier interessiert wieder nur der letztgenannte Typ, das „Emblem- oder Fantasiesiegel“, wobei sich bei dem Emblem, wenn man es weniger als Kennzeichen denn als Sinnbild versteht, eine gewisse Nähe zum Symbol ergibt. Werden bei Coulon aber schon unzulässigerweise zwei sehr unterschiedliche Termini (Emblem und Fantasie) miteinander kombiniert und die „Willkür“ der älteren französischen Terminologie durch das „Emblem“ ersetzt, so vermehren sich die Ungereimtheiten noch dadurch, daß Coulon bei der Abhandlung der einzelnen Typen in seinem Kapitel V den oben genannten „type emblématique ou de fantaisie“ jetzt unter die Überschrift „Type emblématique et types divers“ stellt. Von „Fantasie“ ist hier also nicht die Rede. Vielmehr gesteht Coulon sofort ein, er verstehe
6 7
8
Michel Pastoureau, Les sceaux, S. 60, mit Verweis auf Chassel. [Louis] Douët d’Arcq, Inventaires et documents publiés par ordre de l’Empereur sous la direction de M. le comte de Laborde. Collection de sceaux, 1. Teil, Band I, Paris 1863, S. LXXXVIII. Auguste Coulon, Éléments de sigillographie ecclésiastique française, in: Victor Carrière, Introduction aux études d’histoire ecclésiastique locale, Band 2, Paris 1934, S. 121.
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unter dem zweifachen Titel diejenigen Siegel, die zu keiner der vorangehenden Kategorien gehören; er fasse sie hier zusammen, weil, wenn es unter den erhaltenen Bildgegenständen („figures“), die von einer unermeßlichen Mannigfaltigkeit sind, solche mit klaren Emblemen (besser: Symbolen, T. D.) gibt, auch andere vorkommen, deren Bedeutung wir heute nicht fassen können.9 Lassen wir den unbestimmten und letztlich ungeeigneten Terminus „types divers“ beiseite, so verwundert es doch, daß Coulon seine nachfolgende systematische Abhandlung mit Anführung konkreter Beispiele unter folgender Überschrift beginnt: „Symboles de Jesus-Christ, des évangélistes et des saints“. Im weiteren finden sich dann vier Abschnitte unter den Überschriften „Attributs divers“, „Figures et armes parlantes“, „Lettres et initiales“ und „Personnages isolés ou groupés“, bevor er im nächsten Kapitel VI auf die Gegensiegel eingeht. Von dem oben angeführten Begriff „Fantasie“ ist Coulon also gänzlich abgekommen, und am Ende ist auch das „Emblem“ dem hier neu eingeführten „Symbol“ gewichen. Das sieht, philologisch betrachtet, nach einer gewissen Unsicherheit bzw. Konfusion aus, mit der wir uns nicht näher zu beschäftigen brauchten, stünden dahinter nicht sachliche Probleme. Wenn man in Siegeln auf die von Coulon angeführten Symbole für Christus (das sind Lamm, Kreuz, Monogramm und Pelikan, mit seinem Blut seine Jungen fütternd10) oder die bekannten Evangelistensymbole trifft, so handelt es sich wahrlich um Symbole, weil sie auf eine übersinnliche Wirklichkeit hinweisen. Mit „Emblem“ wäre ein solches Symbol nicht treffend bezeichnet; mit „Fantasie“ hat es nichts zu tun, und wenn man gar die von Douët d’Arcq und Roman benutzte Typenbezeichnung „type arbitraire ou de fantaisie“ hinzunimmt, ist es evident, daß das Symbol alles andere als etwas Willkürliches ist. Operiert man bei der Benennung von Siegeltypen mit dem Begriff „Willkür“, weil 9 Ebenda, S. 172: „Nous comprenons sous ce double titre les sceaux qui ne rentrent dans aucune des catégories précédentes; et nous les réunissons ici, parce que, s’il est parmi les figures d’une infinie variété qu’ils nous ont conservées des emblèmes fort clairs, il en est d’autres dont la signification nous échappe aujourd’hui.“ 10 Solche Darstellungen des Pelikans kommen in Siegeln geistlicher Institutionen, insbesondere aber bei Pfarrern, häufiger vor, als man das anzunehmen geneigt ist. In einem einzigen von mir bearbeiteten Regestenwerk mittelalterlicher Urkunden begegneten mir neun solcher Siegel; vgl. Toni Diederich, Regesten St. Columba, Nr. 90, 204, 318, 447, 582, 615, 707, 814 und 898.
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man dem Auftraggeber des Typars eine freie, uns nicht einsichtige und daher uns willkürlich erscheinende Siegelmotivwahl unterstellt, dann könnte dies genauso gut auch für die Wahl eines Bildnissiegels oder eines Wappensiegels gelten. Der in der älteren französischen Sphragistik eingebürgerte Begriff des „type arbitraire“ ist also unsinnig und decouvriert sich als unreflektierte Verlegenheitslösung. Er läßt sich, wenngleich auch dies nicht mit logischer Stringenz, nur negativ definieren: als Sammelbegriff für alle Siegel, deren Darstellung im Siegelfeld keine Zuweisung zu einem der anderen Siegeltypen ermöglicht.
Fortleben des „Fantasiesiegels“ im Vocabulaire international Während schon Coulon den „type arbitraire“ aufgegeben hatte, lebte der „type de fantaisie“ in der französischen Welt nicht nur weiter fort, sondern wurde zuletzt auch durch die Aufnahme in das große „Vocabulaire international de la sigillographie“ von 1990 geadelt.11 Er steht allerdings an letzter Stelle der insgesamt 23 dort angeführten Siegeltypen, kann also auch hier seine traditionelle Randständigkeit nicht verleugnen. Da es sich bei dem „Vocabulaire“ offiziell um eine Publikation handelt, die von dem Internationalen Siegelausschuß (Comité international de sigillographie) des Internationalen Archivrats erarbeitet wurde, könnte sich die Frage stellen, ob man dieses Werk einseitig der französischen Sigillographie zuordnen kann. Da ich selbst 1979 und 1983 als Gast und dann von 1984 bis 1992 als deutscher Vertreter an den Sitzungen des genannten Ausschusses teilgenommen und von 1988 bis 1992 auch als dessen Sekretär fungiert habe, kann ich aus eigenem Erleben sagen, daß das „Vocabulaire“ eindeutig die Handschrift von Robert-Henri Bautier (1922–2010) trägt, der zwar nicht als französischer Vertreter, aber doch über viele Jahre hinweg als „Expert associé“ an den Tagungen des Internationalen Siegelausschusses teilgenommen hat. Der Ausschuß, der sich selbst als das „Comité le plus ancien et plus noble“ betrachtete, hatte als einziges Comité des Internationalen Archivrats dauerhaft Französisch als Verhandlungssprache. So wird zumindest verständlich, daß in dem „Vocabulaire“ auch das Französische dominiert: Alle Begriffe werden zunächst in französischer Sprache benannt und erläutert. Darunter finden sich dann 11 Vocabulaire international, S. 163.
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Übersetzungen – nur der Begriffe, nicht der Erläuterungen bzw. Definitionen – in zwölf europäischen Sprachen. Wie sehr Bautier selbst das „Vocabulaire“ als sein eigenes Werk betrachtete, geht daraus hervor, daß er es 1984 im Alleingang mit einem von ihm gezeichneten Vorwort unter dem Titel „Travaux préliminaires pour l’établissement du Vocabulaire international menés sous l’égide du Comité international de Sigillographie“ publizierte.12 Das Vorwort zu dem 1990 erschienenen endgültigen „Vocabulaire“ stammt ebenfalls von Robert-Henri Bautier. Er hat dort seine eigenen frühzeitigen Bemühungen zur Normalisierung der archivischen, diplomatischen und siegelkundlichen Fachbegriffe, die Querverbindungen des Internationalen Siegelausschusses zur „Commission internationale de diplomatique“, deren Präsident er damals war, und die langjährige Arbeit des Siegelausschusses am „Vocabulaire“ geschildert.13 Daß dieses ganz in der Tradition der französischen Sphragistik steht, ist evident und bedarf eigentlich keines weiteren Beweises.14 Die Definition des Fantasiesiegels im „Vocabulaire“ enthält problematische Elemente, die bis zu Douët d’Arcq zurückreichen, insofern also auch ihre Herkunft nicht verleugnen. Die Definition offenbart aber auch noch zusätzliche Probleme, auf die wir hier nach einem genaueren Blick auf Douët d’Arcq näher eingehen wollen. Im „Vocabulaire“ heißt es: „Le type (ou sceau) de fantaisie offre une figuration proprement ornementale, sans rapport avec le nom ou l’activité du sigillant (étoile, figure géométrique, rinceaux, arbre ou plante, animal ...).“ [Der Fantasietyp oder das Fantasiesiegel weist streng genommen eine ornamentale Darstellung auf, ohne Bezug zum Namen oder zur Aktivität des Sieglers (Stern, geometrische Figur, Rankenwerk, Baum oder Pflanze, Tier ...)].
12 In: Folia Caesaraugustana 1, Zaragoza 1984, S. 169–214. Dort finden sich nur die Definitionen der Fachbegriffe, nicht die korrespondierenden Begriffe der anderen Sprachen. 13 Vocabulaire international, S. 9–16. 14 So hat auch Wolfhard Vahl, Beschreibung und Auswertung mittelalterlicher Siegel, S. 491, festgestellt: „Grundlage des Vocabulaire ist die Fachsprache und die Systematik der französischen Sphragistik.“
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Exkurs: „Willkürsiegel“ oder „Fantasiesiegel“ bei Douët d’Arcq Douët d’Arcq, der in seiner einleitenden Übersicht über die Siegeltypen, wie erwähnt, an letzter Stelle den „Type arbitraire ou de fantaisie“ angeführt hatte15, überschrieb sein diesem Typ gewidmetes späteres Kapitel mit „Type arbitraire“ und kündigte an, er werde, um eine gewisse Ordnung hereinzubringen, diejenigen Siegel durchmustern, die Personen in Ganzfigur, Köpfe, Waffen, Werkzeuge, Tiere und Pflanzen aufweisen; diesen sollten dann gesondert, als „catégorie tout à fait à part“, die gravierten Steine („les pierres gravées“) folgen.16 Auf die sich hier offenbarenden Schwächen und Verletzungen der Logik – gravierend etwa, daß Douët d’Arcq Majestätssiegel, Reitersiegel und persönliche Frauensiegel als eigene Siegeltypen betrachtet, Siegel mit Ganzfiguren oder Köpfen (Büsten) aber zum „type arbitraire“ zählt – wollen wir hier nicht näher eingehen. Im Hinblick auf die oben zitierte Definition des Fantasiesiegels im „Vocabulaire“ ist bemerkenswert, daß auch dort die von Douët d’Arcq angeführten Tiere und Pflanzen auftauchen. Trotz der Unvollkommenheit seiner Typologie muß man Douët d’Arcq eine gewisse (oben schon erwähnte) Ehrlichkeit – Verwendung des Sammelbegriffs „Type arbitraire ou de fantaisie“ für den undeklinierbaren Rest – und eine gewisse Konsequenz bei der Wahrung seines Standpunktes bescheinigen: Er sucht nicht nach dem Sinngehalt, sondern geht schlichtweg von dem Äußeren des Siegels aus. Insofern sind die häufig vorkommenden Thron-/ Majestätssiegel, Reitersiegel, Wappensiegel usw. für ihn auch leicht zu benennende Siegeltypen. Was sich diesen nicht zuordnen läßt, ist für Douët d’Arcq willkürlich, abhängig von der nicht ersichtlichen Entscheidung und Fantasie des Auftraggebers des Siegelstempels. Douët d’Arcq versucht also gar nicht erst, die Perspektive zu verändern, den Siegelführer zu erkennen, sich dessen Standpunkt zu eigen zu machen und diesem zu unterstellen, daß er in seinem Siegel nichts Willkürliches und Fantastisches hat darstellen lassen, sondern sein Siegel mit Bedacht gestaltet hat. So führt Douët d’Arcq unter seinen Beispielen auch an: „On trouve souvent des sceaux de ce genre avec oiseaux perchés sur des fleurs“.17 Tatsächlich kommen Lilien, andere 15 Douët d’Arcq (wie Anm. 7), S. XXXVIII. 16 Ebenda, S. LXXXVIII. 17 Ebenda, S. XCII.
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„Blumen“ und „Sträucher“, auf denen Vögel sitzen, häufig vor, und zwar vornehmlich bei Klerikern. Daß in diesen Fällen keine Willkür oder „Fantasie“ vorliegt und die „Blumen“ in Wirklichkeit als Abbreviatur für einen Baum verstanden werden müssen, der in Verbindung mit den Vögeln nichts anderes als eine Darstellung des Lebensbaumes mit tiefer symbolischer Bedeutung ist, kann keinem Zweifel unterliegen. Auch ist der Bär im Stadtsiegel von Bern, das Douët d’Arcq bei den Tiermotiven anführt18, nicht willkürlich oder ein Produkt der Fantasie, sondern wie in anderen Fällen, etwa Bernkastel an der Mosel19, ein sehr bewußt gewähltes Motiv, nämlich Ausfluß einer volksetymologischen Deutung des Stadtnamens.20 Aber um es noch einmal klar auszusprechen: Douët d’Arcq war nur konsequent, wenn er sich gar nicht erst um das Verständnis der Inhalte kümmerte, sondern seine Siegel-Typologie rein äußerlich an den dargestellten Personen und Gegenständen ausrichtete.
Widersprüchliche Definition des „Fantasiesiegels“ im Vocabulaire international Auch wenn die angeführte Definition des Fantasiesiegels im „Vocabulaire“ letztlich auf Douët d’Arcq zurückgeht, unterscheiden sich beide erheblich. Wir wollen, was bisher nie geschehen ist, die Angaben des „Vocabulaire“ einer kritischen Analyse unterziehen, hierbei von dem Begriff „Fantasie“ ausgehen und mit Bezug auf den griechischen Ursprung des Wortes „Phantasie“ und deren Bedeutung in der Philosophie festhalten, daß man damit nicht nur einfach „Erscheinung“, „Aussehen“, „Gepränge“ und „Prunk“, sondern auch „Vorstellung und „Einbildung“ versteht. Geht man nach der heute vorherrschenden Bedeutung des Wortes Fantasie21 (Phantasie), so müßte das Fantasiesiegel eine Vorstellung und ein Vorstellungsvermögen ausdrücken, „das reproduktiv aus der Erinnerung, als freie Ausgestaltung der Erinnerungsinhalte oder als Neuproduktion anschaulicher Bilder wirksam ist“22. 18 19 20 21 22
Ebenda, S. XCI. Vgl. Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 179 f. mit Abb. 15. Zur Bewertung der Volksetymologie ebenda, S. 180, Anm. 2. Die spezielle Bedeutung der „Fantasie“ in der Musik lasse ich hier unbeachtet. Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl., Band 17, Mannheim 1992, S. 76.
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Was das „Vocabulaire“ im weiteren zum Fantasiesiegel aussagt, hat aber mit einem so verstandenen Begriff Fantasie (Phantasie) nichts zu tun. Das Hauptkriterium des im „Vocabulaire“ beschriebenen Siegeltyps ist die „ornamentale Darstellung“. Unter „Ornament“ versteht man aber, folgen wir einem Standardwerk zu den Bildwörtern der Architektur, „das einzelne Motiv einer Verzierung. Die Funktion des Ornamentes ist es, einen Gegenstand zu schmücken und zu gliedern sowie Teile optisch gegeneinander abzusetzen.“23 Setzen wir diese Charakterisierung des Ornamentes, wenn es schon nicht nach dem gängigen Sprachgebrauch als Fantasie bezeichnet werden kann, in einen Bezug zu einer der griechischen Grundbedeutungen von Phantasie, nämlich „Gepränge“/„Prunk“, so wird man in der Siegelkunst viele Beispiele für ornamentale Schmuckformen in der beschriebenen Funktion finden. Der Zierrat ist in solchen Siegeln aber stets auf einen anderen Gegenstand bezogen, als Hintergrund, Umrahmung und dergleichen. Nach diesem Gegenstand richtet sich dann auch der Siegeltyp, gleichgültig welcher Typologie man folgt. Man wird im abendländischen Kulturkreis hingegen wohl kaum Siegel finden, die sich auf ein reiches, prunkvolles Ornament beschränken. Die Beispiele für eine „ornamentale Darstellung“, welche das „Vocabulaire“ in Klammern aufführt – Stern, geometrische Figur, Rankenwerk, Baum, Pflanze, Tier (mit den sehr aufschlußreichen folgenden drei Punkten) –, sind, in der Einzahl24 genommen, alles andere als Ornamente. Allenfalls verschränkte geometrische Figuren, wie wir sie beim Maßwerk (gleichermaßen in der Architektur wie in der Siegelkunst) antreffen und die Ranken („rinceaux“), die als Hintergrund eines Siegelfeldes wie auch als sog. Damaszierung in Wappen häufig vorkommen, dürfen als Ornamentform 23 Hans Koepf, Bildwörterbuch der Architektur, 3. Aufl., überarb. von Günther Binding, Stuttgart 1999, S. 340. Wir halten uns an die angeführte Definition des Ornamentes, weil sie ohne Probleme auch für andere Kunstgattungen Geltung beanspruchen kann. 24 Ein ganz anderer Fall liegt vor, wenn eine Vielzahl von kleinen Kreuzchen, Blüten, Pflanzen oder Tieren den Zierrat ausmachen oder Bestandteil desselben sind. Beispiele dafür sind etwa die Kleeblättchen im ältesten Siegel der Stadt Xanten oder die innerhalb eines Rautengitters angebrachten Kreuzchen des zweiten Gemeindesiegels von Traben-Trarbach an der Mosel, die in dem einen Falle den Hintergrund für zwei Schlüssel, im anderen Falle den Hintergrund für einen Wappenschild bilden; vgl. Toni Diederich (wie Anm. 19), Abb. 99, 100 und 88.
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gewertet werden. Für sie gilt aber auch, daß sie im Siegel nie allein stehen, sondern auf den im Siegel dargestellten Hauptgegenstand bezogen sind. Einfache geometrische Figuren und andere zur Ornamentierung verwandte Formen ohne Bezug auf einen Gegenstand, den sie schmücken sollen, finden sich – Ergebnis einer Durchmusterung einer großen Zahl von Tafelwerken usw. – nur in kleinen anspruchslosen Siegeln. Diese Siegel, die ich in meiner 1993 publizierten Typologie unter Nr. 28 mit dem als Verabredungsbegriff zu wertenden Terminus „Ornamentsiegel“ versehen habe, enthalten im Gegensatz zu allen anderen Siegeltypen keine für uns erkennbare Aussage. Hierauf werde ich am Schluß noch einmal zurückkommen. Problematisch ist in unseren Augen auch die einschränkende Festlegung des „Vocabulaire“, wonach die ornamentale Darstellung des Fantasiesiegels in keiner Beziehung zum Namen oder zur Aktivität des Sieglers stehe. Ob ein solcher Bezug vorliegt oder nicht, läßt sich bei der Betrachtung eines Siegels, dessen Auftraggeber25 zunächst unbekannt ist, gar nicht sagen. Erst durch eine nähere Beschäftigung mit dem Siegel und dem Auftraggeber des Typars wird man mitunter, aber keinesfalls immer, erklären und verstehen können, daß im gegebenen Fall der dargestellte Gegenstand, etwa ein Stern, eine Sonne, ein Mond, eine Linde, eine Eiche, eine Lilie, eine Rosenblüte26, ein Adler, eine Amsel, ein Löwe oder ein Pfau, dem Siegelführer etwas bedeutete und deshalb ins Siegel aufgenommen wurde. In vielen Fällen wird man nach eingehender Untersuchung sehen, daß es sich bei dem dargestellten Gegenstand um eine Wappenfigur handelt. Das gilt vielleicht auch nicht nur für die gemeinen Figuren der Heraldik, sondern auch für die Heroldsbil25 „Auftraggeber“ wäre präziser als „Siegler“, weil bei korporativen Siegeln, die u. U. Jahrhunderte lang benutzt werden, später eine veränderte Einstellung der Siegelnden zum Siegel vorliegen kann. 26 Ich wähle das Beispiel mit Bedacht: Das älteste, bereits 1281 belegte Siegel der Schöffen zu Koblenz zeigt eine aufgeblühte Rose mit stark betontem Fruchtboden. In dem zweiten, schon 1286 belegten Schöffensiegel findet sich an der Stelle des Fruchtbodens ein bärtiger Kopf mit vorgestreckter Zunge, ein sog. Grinkopf, der vielleicht im heutigen sog. Augenroller am ehemaligen Alten Kaufhaus neben dem Schöffenhaus zu Koblenz, beide heute Bestandteile des Mittelrhein-Museums, fortlebt. Das dritte Schöffensiegel aus dem 14. Jahrhundert hat den Kopf durch ein Balkenkreuz ersetzt, das hier ebenso wie im vierten, auf 1643 datierten Schöffensiegel als Kreuz des Kurfürstentums Trier interpretiert wird; vgl. Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel III, S. 93 f., mit Abb. Tafel 39 Nr. 3–6.
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der, die dann keineswegs als „geometrische Figuren“ anzusprechen sind. Ein Beispiel hierfür wäre das Schachmuster, das auch in Wappen vorkommt. Ein schönes 2,2 cm messendes Rundsiegel mit einem kräftigen Schachmuster ist aus dem Jahre 1336 von Barancino Gualtieri aus Lucca überliefert.27 Es wäre zu prüfen, ob Barancino Gualtieri ein geschachtes Wappen geführt hat. Nur wenn dies ausgeschlossen werden kann, darf man das Siegel als Ornamentsiegel bezeichnen. Darüber hinaus gilt: Falls man auch nach intensiver Beschäftigung mit einem solchen Siegel und dem Auftraggeber keine Erklärung für die Wahl des betreffenden Motivs finden kann, was oft genug vorkommen dürfte, heißt das doch keineswegs, daß der Auftraggeber keine besondere Beziehung zu dem dargestellten Gegenstand gehabt hat. Es gibt jedenfalls keinen Grund, ihm a priori bei der Wahl des Siegelmotivs Willkür oder Fantasie zu unterstellen.
Untauglichkeit der Begriffe „Willkürsiegel“ und „Fantasiesiegel“ Der Begriff „Fantasie“ ist, wie die vorstehenden kritischen Erwägungen gezeigt haben, zur Bezeichnung eines Siegeltyps untauglich. Daß er sich durch das „Vocabulaire“ nunmehr weiterhin auf internationaler Ebene behauptet, ist historisch zu erklären: aus dem Eigenleben, das der „type arbitraire ou de fantaisie“ seit Douët d’Arcq in der französischen Sphragistik geführt hat. Da die Typologie des „Vocabulaire“, wie schon eingangs dargelegt, ihren Nutzen hat, meine schon deutlich früher vorgestellte Typologie aber von einem ganz anderen Ansatz ausgeht, sah ich keinen Grund, mich gegen die Siegel-Typologie, welche der Internationale Siegelausschuß unter französischer Ägide in Fortführung der französischen Tradition erarbeitet hat, zu wehren. Die Mitglieder des genannten Ausschusses einschließlich der langjährigen drei assoziierten Experten28 habe ich zumindest mit meiner Typologie bekannt gemacht. Es war François-Jacques Himly, der nach dem Erschei27 Abbildung bei Roger H. Ellis, Personal seals, Tafel 16 Nr. P 1479. 28 Außer Robert-Henri Bautier waren dies der renommierte frühere Départementalarchivar zu Straßburg, François-Jacques Himly (1915–2004), und der international bekannte, insbesondere auch als Heraldiker geschätzte spanische Sphragistiker Faustino Menéndez Pidal (* 1924).
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nen des „Vocabulaire“ im Jahre 1990 den Internationalen Siegelausschuß aufgefordert hat, sich mit meiner Typologie zu beschäftigen. Ergebnis dessen war schließlich die an mich gerichtete Bitte zur Veröffentlichung meiner „Réflexions“.29 Ich empfand es als eine große Genugtuung, daß am Ende die französische Vertreterin im Internationalen Siegelausschuß, Martine DalasGarrigues, mir gegenüber bekannte, sie sei nun endgültig überzeugt davon, daß es Willkür- oder Fantasiesiegel nicht gebe.
Das Ornamentsiegel: Problematik und Sonderstellung Die kritischen Bemerkungen zum französischen „type arbitraire“ oder „type de fantaisie“ haben nebenbei aber auch die Problematik und die Sonderstellung des Ornamentsiegels deutlich werden lassen. Es gibt, wenngleich bisher nur in geringer Zahl zu ermitteln, sehr kleine, unscheinbare Siegel, die sich auf ein Zierelement im oben beschriebenen Sinne beschränken. Wenn man in diesen Darstellungen, etwa bei einem kleinen Kreis oder einer kleinen Kugel, beim besten Willen nicht erkennen kann, ob diese für den Auftraggeber des Typars eine besondere Bedeutung besaßen, wird man eine solche nicht a priori ausschließen wollen. Man wird aber vielleicht zu dem Schluß kommen, daß eine solche einfache Form, die sonst in der strukturierten Wiederholung oder Vervielfältigung als Zierform dienen kann, von dem Siegelführer zumindest als ausgewogen oder gar schön empfunden wurde. In Verbindung mit der ihn als Siegelführer ausweisenden Umschrift könnte auch ein solches kleines Typar vom Siegler durchaus als etwas Persönliches, ihm Wertvolles angesehen worden sein. Für diese Siegel benutze ich als Verabredungsbegriff den Terminus „Ornamentsiegel“, wohl wissend, daß es keine für uns faßbare Aussage enthält und keine Erkenntnisse ermöglicht, die mehr als eine soziale Einschätzung des Siegelführers beinhalten. Fehlt es also den anspruchslosen Ornamentsiegeln an einem erkennbaren historischen und symbolischen Bedeutungsgehalt, so bilden sie auch bezüglich ihres Wertes als Geschichtsquelle das Ende der Skala und der Abstufungen, 29 Toni Diederich, Réflexions sur la typologie des sceaux. – Meinem inzwischen verstorbenen Freunde François Himly bleibe ich für die sorgfältige, einfühlsame und sich sprachlich auf hohem Niveau bewegende französische Übersetzung meines Manuskriptes in Dankbarkeit verbunden.
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die wir oben in Kapitel I beschrieben haben. Die bescheidenen Ornamentsiegel stehen damit im größten Gegensatz zu den dort behandelten anspruchsvollen Herrschersiegeln, die sich vornehmlich des Typs des Bildnissiegels bedienen. Letztlich nehmen die Ornamentsiegel eine Sonderstellung ein. Im Sinne meines typologischen Ansatzes sind sie mit den Gemmensiegeln30 vergleichbar, die wir aus unserer oben abgedruckten Typologie ganz herausgelassen haben, weil es sich dabei in aller Regel um antike oder jüngere Gemmen handelt, die vom Auftraggeber eines Siegelstempels vorgefunden und dann erworben wurden, also nicht nach seinem Willen gestaltet waren und ihm nicht in unmittelbarer Weise zur Mitteilung einer persönlichen Botschaft dienten.31 Es versteht sich, daß diese Gemmensiegel i. d. R. eine besondere Qualität besitzen und sich auch insoweit erheblich von den Ornamentsiegeln unterscheiden. Die künftige Forschung ist aufgerufen, dem Ornamentsiegel trotz seiner geschilderten Eigenart und vermeintlich geringen Bedeutung Aufmerksamkeit zu schenken. Da von den Massen kleiner, meist bürgerlicher Siegel bisher verhältnismäßig wenig publiziert ist und diese in der Vergangenheit noch nie Gegenstand systematischer typologischer Untersuchungen gewesen sind, wären sie hinsichtlich ihres Vorkommens zu erfassen und siegeltypologisch auszuwerten. Es gilt, auch die unterste siegelführende Schicht in den Blick zu nehmen und abzuklären, welches Bildthema ins Siegel aufgenommen wurde, wenn dem Auftraggeber beispielsweise ein Wappen oder eine Hausmarke nicht zur Verfügung stand.
30 Vgl. Kapitel I. 31 Sollte sich, etwa durch schriftliche Quellen, im Einzelfalle erweisen lassen, daß der Schnitt einer Gemme vom Siegelführer eigens in Auftrag gegeben wurde, um die Gemme zum Siegeln zu verwenden, so ist diese, wenn möglich, nach ihrer Aussage einem der von mir genannten Siegeltypen zuzurechnen. Gerade hier, einem Werk der Glyptik, das in einer anderen Tradition stehen könnte, aber auch bei anderen Siegeln, tauchen vielleicht in den verschiedensten Regionen noch Stücke auf, die zur Benennung weiterer Siegeltypen oder Varianten führen.
V. Vorkommen, Eigenart und Bedeutung von Mischtypen In dem Bestreben, die riesige Masse bekannter Siegel nach Typen einzuteilen, hat sich die ältere Forschung immer nur mit „reinen“ Siegeltypen befaßt, obwohl allen Kennern klar sein mußte, daß zahlreiche Siegel wegen ihrer komplexen Bildthemen nicht einfach einem „reinen“ Siegeltyp zugewiesen werden können.
Späte Beachtung und Würdigung der Mischtypen in der Forschung Insbesondere bei den Siegeln des späten Mittelalters finden sich zahlreiche Stücke, die aufgrund der verschiedenen Bildelemente und der damit bezweckten Aussage mehreren Siegeltypen angehören – gleichgültig, welcher Typologie man folgt. Ich habe – m. W. zum ersten Mal überhaupt – diese Siegel als „Mischtypen“ bezeichnet und darauf hingewiesen, daß sie ausgesprochen häufig anzutreffen sind.1 Demgemäß sah ich mich veranlaßt, bei der Abhandlung der in den rheinischen Städten vorkommenden Siegeltypen auch den „Mischtypen“ einen eigenen Abschnitt zu widmen.2 Das „Vocabulaire international“ von 1990 beschränkt sich auf die kurze Bemerkung: „Un même sceau peut ressortir à deux ou plusieurs types différents.“3 Wolfhard Vahl hat dann 1996 noch einmal betont, daß „die Mischtypen neben den Grundtypen gleichberechtigte Siegelarten darstellen ..., weil sie durch die Kombination von Merkmalen zweier oder mehrerer Grundtypen neue und eigene Bildaussagen formen“.4 Bei der Aufzählung seiner 40 Siegeltypen 1 2
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Toni Diederich, Prolegomena, S. 216 f.; Toni Diederich, Réflexions sur la typologie des sceaux, S. 52. Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 118–120. Ausführlich ist zuletzt auch Wilfried Schöntag, Kommunale Siegel, auf die bei südwestdeutschen Städten häufig vorkommenden Mischtypen eingegangen. Vocabulaire international, S. 151. Ähnlich bemerkten später Josef Grisar, S. I., Fernando de Lasala, S. I., Aspetti della Sigillografia, S. 13, Anm. 7: „... in un stesso sigillo possono convergere diverse caratteristiche tipologiche.“ Wolfhard Vahl, Beschreibung und Auswertung mittelalterlicher Siegel, S. 492.
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nennt er unter Nr. 31 das „Adorantensiegel“, unter Nr. 32 das „Devotionssiegel“ und unter Nr. 33 das „Stadtabbreviatur- und Heiligensiegel“, die m. E. eigentlich Mischtypen sind.5 Auf diese geht Vahl aber nicht näher ein. Ähnliches gilt auch für Andrea Stieldorf, in deren „Siegelkunde“ nur die „reinen“ Siegeltypen behandelt sind.6 Dagegen hat sich zuletzt Beatrice Marnetté-Kühl intensiver mit typologischen Fragen beschäftigt und bei der „Klassifikation“ der in ihrem Katalog enthaltenen Siegel elf „Mischformen“ benannt, und zwar „Portraitsiegel mit Heiligen“, „Standbildsiegel mit Heiligen“ und weitere neun Siegeltypen „mit Wappen“.7 Zweifellos kommen die Kombinationen Wappensiegel/anderer Siegeltyp sehr häufig vor. Die Kombinationsmöglichkeiten sind damit aber bei weitem nicht erschöpft. Schon Karl der Große führte eine Bleibulle, deren Rückseite zwei Typen verbindet, den Typ der idealisierten Architekturdarstellung mit dem Typ des Symbolsiegels. Ein von zwei Türmen flankiertes Tor ist, wie die darunter stehende Aufschrift ROMA zeigt, als verkürztes Bild der Stadt Rom anzusehen, eine Darstellung, die auf päpstlichen und kaiserlichen Siegeln häufiger anzutreffen ist, so daß man hier auch von einem eigenen Siegeltyp, dem Rombildsiegel, sprechen kann. Das über dem Tor aufragende Kreuz ist ohne Zweifel ein auf Christus verweisendes Symbol, das im Hinblick auf das Programm der Umschrift, die Renovatio Romani Imperii, leicht zu inter-
Abb. 1 Erste Kaiserbulle Heinrichs II., Rückseite
5 6 7
Ebenda, S. 494. Andrea Stieldorf, Siegelkunde, S. 23–29; vgl. auch oben Kapitel III. Beatrice Marnetté-Kühl, Mittelalterliche Siegel, S. 53.
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pretieren ist.8 Die Rückseite der nur in einer Zeichnung überlieferten Bulle Heinrichs II. (Abb. 1) verbindet die Stadtabbreviatur Rom (Rombild) mit der aus dem Mauerrund herausragenden Gestalt des hl. Petrus (Heiligensiegel), dessen Schlüsselschäfte als Petrus-Monogramm gestaltet sind (Monogrammsiegel)9.
Die Kombination mehrerer Elemente zwecks Erzielung einer komplexen Aussage im Siegel Beispiel Stadt Wesel am Niederrhein In der Urkunde vom September 1241, mit der Dietrich, erstgeborener Sohn des Grafen Dietrich VI. von Kleve, seinem zuvor stadtähnlichen Ort Wesel Stadtrechte verlieh, heißt es, dies sei mit Erlaubnis der königlichen Majestät geschehen. Da es sich bei Wesel um die älteste Stadt des klevischen Territoriums handelt, muß dem Stadtgründer der Hinweis auf die königliche Zustimmung wichtig gewesen sein. Zu diesem Schluß kommt man auch, wenn man die drei mittelalterlichen Hauptsiegel, die nacheinander von der Stadt Wesel geführt wurden, heranzieht. Das älteste Siegel zeigt unter einer auf zwei Säulen aufruhenden Doppelarkade heraldisch links den thronenden König und rechts den vor ihm knienden Grafen. Beide sind auf „ihrer“ Arkade mit der Aufschrift ROMANORVM · REX bzw. COMES · CLIVENSIS bezeichnet. Die in der Mitte zusammenlaufenden Bögen ruhen auf einer Konsole, über der sich ein mächtiger Turm erhebt. An ihn schließen sich seitlich über den Arkaden jeweils drei Zinnen an. Kein Zweifel, daß hier ein verkürztes Bild der Stadt Wesel geliefert werden soll. Da der Graf seine Hände zum König hin ausgestreckt hat und sich die Konsole mit dem Turm exakt über den geöffneten Händen befindet, ist die ganze Darstellung als das zu verstehen, was die Narratio der Urkunde berichtet. Insofern handelt es sich um ein Erzählsiegel und ein Siegel mit idealisierter Architekturdarstellung. Zu Füßen des Königs und des Grafen spannt sich ein Segment8 9
Vgl. hierzu wie auch zu der nachfolgenden Bulle Heinrichs II. den in Kapitel I beschriebenen größeren Zusammenhang. „Reine“ Monogrammsiegel gibt es seit Karl dem Großen bzw. Karl dem Kahlen; vgl. dazu Kapitel I.
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bogen. Darunter befindet sich vor einer Lilie ein nach links laufendes Wiesel. Auch dieses ist auf dem zugehörigen Bogen mit einer Aufschrift bezeichnet: + MVSTELA. Da es sich hierbei um das lateinische Wort für Wiesel handelt, ist das Siegel zugleich auch ein Redendes Siegel.
Abb. 2 Drittes Siegel der Stadt Wesel
Auf dieses wohl bald nach der Stadterhebung gestochene erste Siegel folgte im 14. Jahrhundert ein Nachschnitt mit demselben Bildprogramm, allerdings in sehr viel kleineren Dimensionen. Das wohl zwischen 1423 und 1448 entstandene dritte Siegel der Stadt Wesel (Abb. 2), mit 7 cm im Durchmesser wieder deutlich größer als das zweite Siegel, erweist sich ebenfalls als ein Nachschnitt mit denselben Bildelementen. An die Stelle der Zinnen sind aber verschiedenartige Gebäude zur Darstellung der Stadt getreten. Ganz neu ist der zwischen dem König und dem Grafen eingefügte runde Wappenschild mit dem Adler, der hier eindeutig als Reichsadler zu verstehen ist. Derselbe Adlerschild füllt das kleine Nebensiegel des 15. Jahrhunderts aus. In beiden Fällen war er für den Betrachter ein vertrautes Symbol, im dritten großen Stadtsiegel mit der Funktion, den schon mit der Königsdarstellung vorhandenen Reichsbezug zu verstärken. Durch die Versammlung
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der verschiedenen Elemente liegt im dritten Stadtsiegel von Wesel ein Mischtyp par excellence vor, der durch die Komplexität seiner Aussage beeindruckt.10
Abb. 3 Siegel der Stadt St. Veit
Beispiel Stadt St. Veit in Kärnten Anders als die Stadtsiegel von Wesel bietet das Siegel der Stadt St. Veit in Kärnten (Abb. 3), das den hl. Vitus, hier als namengebenden Heiligen und Ortspatron, abbildet, gewisse Interpretationsprobleme. Daß das Siegel vordergründig als ein Redendes Siegel zu verstehen ist, liegt auf der Hand. Es ist aber auch ein Heiligensiegel, wobei der Heilige oberhalb seines Nimbus eindeutig mit S(ANCTVS) VITVS bezeichnet ist. Die Buchstaben V und P beiderseits der Schulter sind mit Melly wohl als „Vitus Patronus“ aufzulösen.11 Die symmetrisch angelegte Architektur ist idealisiert: Zwei seitliche, fensterlose Türme, die ein Faltdach mit einem bekrönenden Knauf besitzen, tragen einen Rundbogen, über dem sich ein ebenfalls mit einem Knauf abschließender Giebel erhebt. Ob das die Umschrift einleitende Kreuz noch zu dem Knauf gehört und die gesamte Architektur demnach als Kirche zu interpretieren ist, muß offen bleiben, denn das Kreuz am Anfang einer Sie10 Näheres und Abbildungen bei Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel III, Tafel 85 Nr. 1–5 und S. 185 f.; Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 345–347. 11 Eduard Melly, Beiträge zur Siegelkunde, S. 108 f.
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gelumschrift ist allgemein verbreitet und sozusagen regelmäßiger Bestandteil einer Umschrift. Es ist also unsicher, ob es sich bei der Architektur um eine Kirche oder eine profane Stadtabbreviatur handelt. Weiterhin wäre zu fragen: Haben die beiden Sterne, die zu beiden Seiten des Giebels angebracht sind, eine symbolische Bedeutung oder dienen sie nur dazu, die Höhe über den Türmen oder das Sternenzelt zu bezeichnen? Unverkennbar ist in jedem Falle das Bestreben der Auftraggeber, in einem Redenden Siegel die eigene Stadt darzustellen und den hl. Vitus als ihren Patron hervorzukehren.
Zahlreiche Beispiele für die Kombination von Stadt-/ Kirchenarchitektur und örtlichem Patron Die Kombination von Stadtpatron und symbolischem Stadtbild, also Heiligensiegel und Siegel mit idealisierter Architekturdarstellung, begegnet uns schon in den ältesten Stadtsiegeln (Köln, Mainz, Trier) und kommt danach relativ oft vor, z. T. sogar als Mischtyp von Heiligensiegel und Siegel mit realistischer Architekturdarstellung (z. B. bei den Städten Speyer, Boppard und Bonn). Das zweite Stadtsiegel von Boppard (Abb. 4) zeigt innerhalb eines Mauerrunds ziemlich naturgetreu die örtliche Kirche und im großen Stadttor vorn den hl. Severus, Patron derselben. Aber auch hier liefert ein weiteres Element eine zusätzliche „Botschaft“. Die Stadt Boppard, die sich in der Umschrift als „freie und besondere Stadt des Römischen Reiches“ bezeichnet, unterstreicht diesen Rang durch einen übergroß12 dargestellten Adler auf dem Dachfirst, denn es kann keinen Zweifel geben, daß der Adler hier als Reichsadler zu verstehen ist. In dem Bopparder Siegel sind letztlich vier Elemente versammelt, die bei alleiniger Verwendung einen „reinen“ Siegeltyp ausmachen würden: regelmäßig angelegte Stadtmauer (Siegel mit idealisierter Architekturdarstellung), weitgehend naturgetreu wiedergegebene Kirche (Siegel mit realistischer Architekturdarstellung), hl. Severus (Heiligensiegel) und Adler (Symbolsiegel).
12 Die Größe entspricht der hohen Bedeutung, welche dem Adler zukommt; vgl. Kapitel VI, insbesondere die Bemerkungen zum Bedeutungsmaßstab.
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Abb. 4 Zweites Siegel der Stadt Boppard
Komplexe Mischtypen aus einer Werkstatt: die Siegel der Städte Rapperswil (Schweiz) und Vöcklabruck (Österreich) Ein ähnlich komplexes Siegel ist das der Stadt Rapperswil in der Schweiz (Abb. 5), das Erich Kittel als „Siegelporträt einer Stadt bezeichnet hat.13 Tatsächlich ist das Bestreben, im Siegel ein „Stadtporträt“ zu liefern, unverkennbar. Dies geschieht mittels einer zu einem Stadttor hinführenden Brücke. Hinter dem Stadttor, im (heraldisch) linken Teil des Siegels, befinden sich einige durch eine Zinnenmauer geschützte Gebäude. Aus einem Turm der Stadtmauer ragt eine Fahnenstange empor; das Fahnentuch zeigt 3 (2:1) Rosen, Wappensymbol der Grafen von Rapperswil. Am rechten Rand ist, 13 Erich Kittel, Siegel, S. 196, Abb. 120.
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Bedeutung von Mischtypen
Abb. 5 Siegel der Stadt Rapperswil
sozusagen in heraldischer Manier, aus einem sechseckigen Turm „wachsend“ Herzog Rudolf IV. von Österreich mit dem Schwert in der Rechten und dem Zepter in der Linken dargestellt. Er wird mit einem Schriftband, das sich über seinem mit einem Kreuz besteckten Fürstenhut zur Bildmitte hin erstreckt, als NAT(VS) · DE · HABSP(VR)G bezeichnet. Zwischen dem Herzog und der Stadtdarstellung befindet sich das Wappen Rudolfs, ausgeführt als Vollwappen mit österreichischem Bindenschild, Helm und Helmzier. Von besonderem Interesse ist die das komplexe Siegelbild ergänzende Umschrift: + S(IGILLVM) : CIVITATIS : IN : RAPRESWIL : QUAM : REFORMAUIT : RUDOLFVS : DVX : AUSTRIE. Als Mischtyp enthält dieses Siegel, das sich künstlerisch an die äußerst qualitätvollen Siegel Rudolfs IV. anschließen läßt, eine sehr komplexe Aussage. Das Rapperswiler Stadtsiegel ist, wohl auf Betreiben Rudolfs, in derselben Werkstatt entstanden wie sein erstes Münzsiegel, dessen Avers als Reitersiegel gestaltet ist, während der Revers den Herzog als stehenden Souverän mit Zepter und Schwert zeigt (Abb. 6).14 Derselben Werkstatt zuzuweisen ist auch das Siegel 14 Abb. des Reitersiegels bei Paul Kletler, Die Kunst im österreichischen Siegel, Wien 1927, Tafel I, Abb. 1; Farbabb. bei Erich Kittel (wie Anm. 12), Tafel VII (nach S. 256); Abb. des Standbildsiegels bei Kletler, Tafel XXVII, Nr. 74, und bei Toni Diederich, Siegelkunst, S. 158. Beide Siegel sind auch bei Wilhelm Ewald, Siegel-
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Abb. 6 Erstes großes Siegel des Herzogs Rudolf IV. von Österreich, Rückseite
kunde, Tafel 28, Nr. 5 und 6, allerdings unangemessen klein, abgebildet. Gute Abbildungen der Siegel und umfangreiches Vergleichsmaterial zu Ikonographie und Stil finden sich bei Antje Kosegarten, Parlerische Bildwerke am Wiener Stephansdom aus der Zeit Rudolfs des Stifters, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 20 (1966), S. 47–78, und Gerhard Schmidt, Die Wiener „Herzogswerkstatt“ und die Kunst Nordwesteuropas, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 30/31 (1977/1978), S. 179–206, Wiederabdruck in: Gerhard Schmidt, Gotische Bildwerke und ihre Meister, Wien–Köln–Weimar 1992, S. 142–174.
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Abb. 7 Siegel der Stadt Vöcklabruck
der Stadt Vöcklabruck in Oberösterreich (Abb. 7), das im Gesamtaufbau und vor allem in der Darstellung der dortigen Brücke, die ebenfalls zum Tor der bewehrten Stadt hinführt, frappierende Ähnlichkeiten mit dem Siegel der Stadt Rapperswil aufweist. Anders als dort zeigt die rechte Seite des Vöcklabrucker Siegels die zwei auf der Brücke zur Stadt hin reitenden Herzöge Albrecht II. und Rudolf IV. von Österreich. Diese sind durch die Aufschriften ALB(ER)TUS PAT – ER und RVDOLFVS FILIVS bezeichnet.15 Hier spiegelt sich die Tatsache, daß beide Herzöge große Förderer der Stadt Vöcklabruck gewesen sind. Bleibt noch festzuhalten, daß alle vier Typare, also die zu der Vorder- und Rückseite des genannten Münzsiegels Rudolfs IV. sowie zu den beiden Stadtsiegeln, die wir alle einer Werkstatt zuweisen, um das Jahr 1360 entstanden sind. Die beiden mit der österreichischen Fahne und dem österreichischen Bindenschild dargestellten Herzöge würde man nicht ohne weiteres in einem Stadtsiegel erwarten. Es liegt daher auf der Hand, daß sie für die Auftraggeber des Vöcklabrucker Stadtsiegels von großer Bedeutung waren. Mit der typologischen Einordnung dieses Siegels als „Mischtyp“ ist 15 Abb. bei Paul Kletler (wie Anm. 14), Tafel XXIX, Nr. 80; eine nicht ganz geglückte Zeichnung hat Eduard Melly (wie Anm. 10), Tafel X, veröffentlicht. Seine Ausführungen zu dem Siegel (ebenda, S. 77) sind heute z. T. überholt.
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letztlich wenig gesagt. Erst durch den historischen Zusammenhang und die Interpretation der einzelnen Bildelemente (wie auch der Umschrift, die immer einzubeziehen ist) läßt sich der Sinngehalt dieses kleinen Kunstwerkes erschließen. Eine eingehende Untersuchung der hier erstmals in einen Gesamtzusammenhang gebrachten Siegel wäre sehr erwünscht, nachdem Antje Kosegarten und Gerhard Schmidt die Bedeutung der Siegel Rudolfs des Stifters gewürdigt und den Zusammenhang mit der Großplastik der Wiener „Herzogswerkstatt“ hergestellt haben.16 Auch andere als Mischtypen gestaltete Städtesiegel sind wegen der komplexen Selbstdarstellung der betreffenden Städte von besonderem Interesse, worauf hier ausdrücklich hingewiesen sei.
Komplexes Siegel mit erzählendem Charakter: Stift St. Peter in Vilich bei Bonn Mischtypen kommen auch bei anderen Siegelführergruppen in unterschiedlichen Kombinationen vor. Bei den geistlichen Institutionen ist, wie ich schon früher ausgeführt habe, der Heiligensiegeltyp sehr verbreitet. Eine eindrucksvolle Kombination von Heiligensiegel/Kirchengründersiegel findet sich in dem um 1220–1230 entstandenen Siegel des Kanonissenstifts St. Peter in Vilich (heute Stadt Bonn, Abb. 8), das ursprünglich ein Benediktinerinnenkloster gewesen ist. In der Mittelachse sind oben der hl. Petrus, Patron der Kirche, mit Kreuzstab und Schlüssel, unten die hl. Adelheid mit dem Evangelienbuch in der Linken und der im Redegestus erhobenen Rechten dargestellt. Zwischen beiden Heiligen, im Zentrum des Siegels, befindet sich das Modell der Kirche, das von dem seitlich abgebildeten Grafen Megingoz und seiner Ehefrau Gerbirgis gehalten wird. Unter den Augen des hl. Petrus scheint geradezu ein Stück Gründungs- und Frühgeschichte erzählt zu werden, denn das genannte Grafenehepaar hat die dem hl. Petrus geweihte Kirche mit dem ehemaligen Kloster gestiftet, an dem ihre Tochter als erste Äbtissin heiligmäßig wirkte, weshalb sie seither auch als Heilige verehrt wird.17
16 Vgl. Anm. 14. 17 Vgl. zu dem Siegel Rainer Kahsnitz, Siegel und Goldbullen, S. 84, Nr. 125.
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Abb. 8 Siegel des Stiftes St. Peter zu Vilich
Zahlreiche Mischtypen bei Siegeln von Kardinälen Man könnte die Beispiele für Mischtypen mit aus mehreren Elementen gespeister Aussage beliebig fortsetzen. Wir begnügen uns hier mit dem Hinweis auf die spätmittelalterlichen Kardinalssiegel, die uns in großer Zahl, vor allem auch an Ablaßbriefen, überliefert sind.18 Daß sie an solchen meist groß18 Merkwürdigerweise wurden sie in der Vergangenheit – auch von Ewald und Kittel – stark vernachlässigt. Über die Frühzeit handeln Julian Gardner, Some Cardinals’ Seals of the Thirteenth Century, in: Journal of the Warburg And Courtauld Institu-
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formatigen und prächtigen Urkunden oftmals reihenweise, allerdings nicht immer in bestem Zustand, vorkommen, ist der Würdigung des Einzelsiegels nicht zuträglich. Die spätmittelalterlichen Kardinalssiegel besitzen bis zum Eindringen der Neuerungen der Renaissance i. d. R. eine tabernakelartige gotische Architektur, in die zwei oder drei Bildebenen (Register) eingestellt sind. Sie bieten Raum für ein differenziertes Programm: Darstellung von Heiligen, biblischen Szenen, Wappen und Selbstbildnis in betender Haltung. Das Siegel des Adimarus Alamannus, Kardinalpresbyters von S. Eusebio, päpstlichen Legaten in Spanien, das ich hier nach einem Abdruck von 1418 abbilde (Abb. 9), zeigt eine spätgotische Architektur mit zwei seitlichen Nischen, in denen jeweils ein Engel steht. Unter einem Kleeblattbogen ist in der Mitte der hl. Eusebius im Bischofsornat dargestellt. Darunter, unter einem Rundbogen, befindet sich das Bildnis des Kardinals als Adorant. Außerhalb des Rundbogens ist zu beiden Seiten ein runder Wappenschild, darin jeweils ein Schildhaupt, angebracht. Das Wappen, das für die Herkunft und das Geschlecht des Kardinals steht, war dem Siegelführer als Teil seines Selbstverständnisses wichtig. (Die Doppelung erfolgte wohl nur aus Symmetriegründen.) Über der irdischen Ebene unten, zu welcher der Kardinal in devoter Haltung19 und seine beiden Wappenschilde gehören, erhebt sich die himmlische Ebene mit zwei Engeln und sakraler Architektur, welche den Patron der Kardinalskirche, den hl. Eusebius, umrahmen. Die tes 38 (1975), S. 72–96, und nunmehr Werner Maleczek, Die Siegel der Kardinäle. Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 112 (2004), S. 177–203. Einen auch die ikonographischen und stilistischen Aspekte berücksichtigenden instruktiven Überblick von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert hatte zuvor schon Werner Goez, Über Kardinalssiegel, in: Musis et Litteris, Festschrift Bernhard Rupprecht, München 1993, S. 93–114, geboten. Ruth Wolff, „Siegel-Bilder“, S. 149–166, hat zuletzt einiges Neue zum Aufbau und zu den Bildformularen der Kardinalssiegel zusammengetragen, bedauert aber, daß der Typ des Devotions- bzw. Adorantensiegels (dem viele Kardinalssiegel zuzurechnen sind) noch keine eigenständige Untersuchung erfahren hat (ebenda, S. 156). 19 Es versteht sich, daß die devote Haltung des Kardinals, auch wenn es sich hier um einen Topos handeln sollte, von dem Auftraggeber des Typars bewußt gewählt wurde. Das Bildprogramm erforderte natürlich auch, daß die Gestalt des Kardinals sehr viel kleiner als die des Heiligen über ihm ausfallen mußte. Der Bedeutungsmaßstab, der in dem folgenden Kapitel ausführlicher behandelt wird, ist also auch in diesem Siegel eingehalten.
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Bedeutung von Mischtypen
Abb. 9 Siegel des Kardinals Adimarus Alamannus
Grundelemente des Siegels mit idealisierter Architekturdarstellung, des Heiligensiegels, des Bildnissiegels und des Wappensiegels sind hier zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt. Daß es sich nach der Siegel-Typologie um einen Mischtyp handelt, ist nur insoweit von Belang, als das Wissen um Geschichte und Bedeutung der Einzelelemente, welche den „reinen“ Siegeltyp ausmachen, den Weg eröffnet, um das Siegel richtig zu lesen und die mit ihm verfolgten Absichten des Auftraggebers zu erschließen.
VI. Beobachtungen zur Siegelgröße, zum Bedeutungsmaßstab in Siegeln und zur „Usurpation“ von Siegeltypen Die drei verschiedenen Themen, die im vorstehenden Titel aneinandergereiht sind, mögen auf den ersten Blick als sehr heterogen erscheinen. Und doch ist ihnen gemeinsam, daß sie zwei Phänomene berühren, die bei Siegeln eine Rolle spielen, in der Forschung aber kaum zusammenhängend erörtert worden sind: die Bedeutung der Größe und die Macht der Konvention.
Siegel älterer Kulturen – Möglichkeiten eines Vergleichs Nimmt man die vielen Kulturen der Menschheitsgeschichte in den Blick, für die eine Verwendung von Siegeln bekannt ist – das gilt keineswegs für alle Kulturen –, so lassen sich jeweils gewisse Übereinstimmungen bezüglich Größe, Gestaltung und Benutzung von Siegeln feststellen. In jeder Kultur gab es also gewachsene Konventionen, die zu analysieren man bisher kaum einen Anlaß gesehen hat, weil sich deren Gründe nicht wirklich klären lassen. Allenfalls Einflüsse von älteren Vorbildern (vorausgegangenen Kulturen) sind für uns erkennbar. Die angesprochenen Übereinstimmungen schließen nicht aus, daß mehrere Siegelarten über längere Zeiträume nebeneinander vorkommen; man denke an die goldenen und silbernen Siegelringe neben den Knopfsiegeln und Skarabäen in Ägypten oder die ebenfalls goldenen Siegelringe neben den in Stein/Halbedelstein oder auch Elfenbein ausgeführten Siegelstempeln der minoisch-mykenischen Kultur. Nimmt man jede Siegelart dieser Kulturen für sich, so ergibt sich trotz aller Varietät und bestehender Sonderphänomene ein relativ homogenes Bild. Wir gelangen daher zwangsläufig zu dem Schluß, daß man bei der Siegelwahl, Siegelgestaltung und Siegelpraxis innerhalb einer bestimmten Kultur gewissen vorgegebenen Regeln und Konventionen folgte. Geht man noch einen Schritt weiter und unterstellt, daß die Gründe und Motive fürs Siegeln – Beglaubigung, Bekräftigung der eigenen Willensbekundung, Rechtssicherung usw. – für die Menschen aller Kulturen ähnlich waren und insofern vergleichbar sind,
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Siegelgröße, Bedeutungsmaßstab und „Usurpation“
dann berechtigt uns das, die für uns faßbaren Relikte der Siegelpraxis der verschiedenen Kulturen zu vergleichen. Ein solches Unternehmen, welches die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede gleichermaßen herausstellen könnte, ist m. W. bisher noch nicht in Angriff genommen worden.
Kategorie der Siegelgröße Ein Kriterium neben anderen (wie Material, Gestaltung, Verwendungszweck usw.), die vergleichend zu behandeln wären, ist die Größe der Siegel. Auch wenn es nicht statthaft erscheint, dieses äußerliche Kriterium isoliert zu betrachten, zeigt sich doch, daß uns in der abendländischen bzw. europäischen Kultur des Mittelalters und der Neuzeit zahlreiche Siegel von exorbitanter Größe begegnen, die diejenigen aller anderen Kulturen übertreffen. Vom reinen Siegelzweck her gesehen war ein Siegelring mit einer individuell gestalteten runden oder ovalen Prägeplatte von selten mehr als 2,5 cm, wie er in verschiedenen Kulturen vorkommt, völlig ausreichend. Insofern erscheint es mir bemerkenswert, daß die ab 1676 überlieferten tibetischen Siegel – allesamt reine Schriftsiegel in Form von Farbabdrücken – generell zwar auch nur Kantenlängen bzw. Durchmesser von wenigen Zentimetern besitzen, im Einzelfall aber eine Kantenlänge von 12 : 12 cm erreichen (wobei der breite Rahmen des Farbstempels mitgemessen ist; die Maße des eigentlichen Schriftraums betragen aber auch noch ansehnliche 8,4 : 8,3 cm).1 Die Siegel der hethitischen Kultur überragen mit 4–7 cm Durchmesser viele Bullen und Siegel des abendländischen Mittelalters an Größe. Vor allem aber hinterlassen die in den Kulturen des Zweistromlandes 1
Vgl. Dieter Schuh, Grundlagen tibetischer Siegelkunde. Eine Untersuchung über tibetische Siegelaufschriften in `Phags-pa-Schrift (Monumenta Tibetica Historica, Abt. 3, Bd. 5), Sankt Augustin 1981. Demgegenüber bewegen sich die überwiegend runden oder ovalen Siegel aus dem mittelalterlichen Nepal, die zur Bekräftigung von Landbesitzurkunden in grauem Ton abgedrückt wurden, in Größen zwischen 0,6 cm und 2,9 cm, entsprechen insoweit also auch den Größen, die wir von den zuvor angeführten Siegelringen kennen. Als Schriftsiegel besitzen die Siegel des mittelalterlichen Nepal, die in der nachfolgenden Publikation abgebildet sind, eine Nähe zu den tibetischen Siegeln; vgl. Bernhard Kölver und Hemrāj Śākya, Documents from the Rudravarņa-Mahāvihāra, Pāţan. 1. Sales and Mortgages. Introduction – Edition – Translation (Nepalica 1), Sankt Augustin 1985.
Siegelgröße, Bedeutungsmaßstab und „Usurpation“
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benutzten zylindrischen Siegel, wenn man sie in Ton abrollt, Abdrücke, welche die Masse der mittelalterlichen und neuzeitlichen Rundsiegel flächenmäßig deutlich übertreffen. Die in unermeßlicher Zahl überkommenen Rollsiegel boten auch Platz für z. T. komplexe szenische Darstellungen.2 Allein diese Tatsache, gar nicht zu reden von der künstlerischen Qualität des Steinschnitts und der rechtlichen Bedeutung der Siegel, zeigt, daß es sich hier um Hochkulturen im wahrsten Sinne des Wortes handelt.
Entwicklung der Siegelgrößen im abendländischen Mittelalter Die ersten Siegelabdrücke des abendländischen Mittelalters, die der Merowingerkönige und später auch der Bischöfe, unterschieden sich, soweit zu ihrer Herstellung Siegelringe verwandt wurden, größenmäßig nicht von den Siegeln der griechisch-römischen Antike, auch wenig, soweit man von regelrechten Typaren ausgehen kann, von den Bleibullen des oströmischen/ byzantinischen Reiches, dessen Siegelwesen ohne Zweifel neben dem weströmischen als Vorbild gedient hat. (Bezüglich der Ikonographie verfehlten auch die exzellenten Kaiserporträts auf spätantiken Münzen nicht ihre Wirkung.) Das Siegelwesen der griechisch-römischen Welt zeigt, daß man zum Siegeln im Prinzip mit Miniaturformaten bis zu etwa 3,5 cm im Durchmesser auskommen konnte. Erst als die Karolinger antike Gemmen für ihre Siegel benutzten, wurde deren Größe in Einzelfällen merklich gesteigert. Hierbei ist zu beachten, daß man Ringe mit geschnittenen Steinen schon seit der hellenistischen Zeit in großer Zahl benutzt hatte3, in der Folge aber auch Kameen und Gemmen für andere Zwecke hergestellt wurden. Größere Gemmen mit den Porträts römischer Kaiser hat man seit Karl dem Großen gern zum Siegeln benutzt, wobei die hinzugefügte Umschrift den Siegelführer benannte. Der damit verbundene Übergang vom Siegelring zum Siegelstempel (Typar) führte in der Karolingerzeit zu einem Wachstum der Siegelgröße. Bedingt durch die Verwendung größerer geschnittener Steine und die 2
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Ausnehmend schöne Beispiele verschiedener Kulturen finden sich in: Länder der Bibel. Archäologische Funde aus dem Vorderen Orient (Ausstellungskatalog), Mainz 1981. Vgl. etwa Ettore M. de Juliis u. andere, Gli ori di Taranto in età ellenistica (Ausstellungskatalog), Mailand 1984, S. 249–308 (Nr. 174–270).
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sie umrahmende Legende entstanden etliche Typare mit einer Höhe von 4,5 cm, vereinzelt auch noch deutlich größere. Der einmal eröffnete Weg wurde danach weiter beschritten: Die Größe der Typare wuchs in der Ottonenzeit kontinuierlich4; lediglich die Größe der Blei- und Goldbullen blieb lange Zeit i. w. unverändert. Wenn die Größe der hier zunächst betrachteten Herrschersiegel in der Salier- und Stauferzeit weiter anschwoll5, so ist dies aus der jeweiligen Herrschaftsauffassung und dem Bedürfnis nach Selbstdarstellung zu erklären, wobei oft genug der Wunsch, die Vorgänger zu übertreffen, eine Rolle gespielt haben dürfte. Wir brauchen auf diesen Fragenkomplex nicht näher einzugehen, weil wir die Entwicklung der Herrschersiegel in Anlehnung an die einschlägigen Siegelforschungen schon an anderer Stelle skizziert haben.6 Es sei an dieser Stelle aber darauf hingewiesen, daß i. a. die Bedeutung der Siegelgröße bei der Interpretation der Herrschersiegel bislang nicht hinreichend einbezogen worden ist. Im Hinblick auf den oben eröffneten Kulturenvergleich ist noch die weitere Entwicklung bis zu den maximalen Siegelgrößen zu erwähnen: Das Majestätssiegel Kaiser Friedrichs III. (1440–1493), das im übrigen als Münzsiegel mit anspruchsvoller Vorder- und Rückseite gestaltet wurde, besaß einen Durchmesser von 14 cm, eine Größe, die in der Neuzeit auch das Siegel König Wilhelms I. von Preußen (1861–1888) erreichte, aber mit dem Siegel der Königin Victoria von England (1837–1901), das einen Durchmesser von 15 cm besitzt, noch übertroffen wurde (Abb. 1). Die wenigen Angaben zur Größenentwicklung der deutschen Herrschersiegel sollen hier genügen, weil man sich anhand der Tafeln des Siegelcorpus von Otto Posse leicht ein genaueres Bild machen
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Die Majestätssiegel (Thronsiegel) König Heinrichs II. (1002–1024) besitzen einen Durchmesser von 7 cm, sein entsprechendes Siegel als Kaiser einen Durchmesser von ca. 7,5 cm. Die größten Thronsiegel der Stauferzeit mit einem Durchmesser von jeweils 8,5 cm besaßen Friedrich I. Barbarossa (1152–1191), Heinrich VI. (1191–1197), Heinrich (VII.) (1220–1235) und die Gegenkönige Otto IV. und Heinrich Raspe. Nachfolgend legten sich Wilhelm von Holland und Richard von Cornwall Majestätssiegel von nochmals größeren Dimensionen (9 bzw. 9,5 cm im Dm.) zu. Einen Überblick über die Siegel der Stauferzeit bietet Rainer Kahsnitz, Siegel und Goldbullen, wo dankenswerterweise auch konsequent die Siegelgrößen angegeben sind. Siehe oben Kapitel I.
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kann.7 Ebenso wollen wir die ähnlich verlaufene Entwicklung der Siegelgrößen von Regenten anderer Länder vernachlässigen; es kommt hier auf Einzelheiten nicht an.
Abb. 1 Siegel der Königin Victoria von England, Vorderseite
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Otto Posse, Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige von 751 bis 1913, 5 Bände, Dresden 1909–1913.
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Eine unübersehbare Tatsache: Je höher die Stellung des Siegelführers in der Gesellschaft, um so größer sein Siegel Interessanter ist die Frage, in welchem Größenverhältnis die Siegel der übrigen persönlichen Siegelführer, d. h. der Herzöge, Grafen, adeligen Herren und Bürger, aber auch die der geistlichen Personen, von den Spitzen der geistlichen Hierarchie, den Erzbischöfen, bis herab zu den Pfarrern und Vikaren sich bewegten. Jeder Kenner der Materie weiß, daß es hier Abstufungen gab. Diese beruhten offenbar auf ungeschriebenen Gesetzen. Man wird cum grano salis sagen können: Die Größe der Siegel persönlicher Siegelführer spiegelt deren Rang in der mittelalterlichen Gesellschaft. Demnach war – immer bezogen auf dieselbe Zeitebene – das Majestätssiegel eines Kaisers oder Königs größer als das große Reitersiegel eines Herzogs8, dieses größer als das Reitersiegel eines Grafen, letzteres größer als das Wappensiegel eines Ritters und dieses wiederum größer als das Wappen- oder Hausmarkensiegel eines städtischen Bürgers.9
Abweichungen vom „Kanon“ der Siegelgrößen Auch wenn diese pauschale Beschreibung im ganzen gesehen zutreffend ist, bedarf es der Differenzierung und der genauen Beobachtung. Es gibt nämlich immer wieder auch Siegel, die sich dem beschriebenen Rahmen nicht einfügen, sei es, daß sie von der Größenhierarchie abweichen, sei es, daß es sich um einen Siegeltyp handelt, welcher dem Siegelführer nach der Konvention eigentlich nicht zustand. Solche Abweichungen, die vom Siegelführer sicherlich gewollt waren, verdienen in jedem Falle die besondere Aufmerksamkeit des Historikers und eine Erklärung, die über eine „normale“ Siegelinterpretation hinausgeht. Es wäre aber oberflächlich und unangemessen, wenn man beim Vergleich von Siegeln unterschiedlicher Siegelführergruppen nur nach der Größe gehen wollte. Ein Majestätssiegel, also Thron8 9
Neben dem großen Reitersiegel kommen nicht selten – als Rück- oder Sekretsiegel – auch kleine Reitersiegel vor. Dies gilt natürlich in erster Linie für das Spätmittelalter, weil die Siegelführung zuvor noch weitestgehend auf Angehörige des Adels und des Klerus beschränkt war.
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siegel eines Herrschers, hatte eo ipso ein größeres Gewicht als ein Standbild- oder Reitersiegel eines Adeligen. Gerade das Reitersiegel, das ikonographisch darauf angelegt war, den dahingaloppierenden Reiter – den Herzog i. a. mit der Fahnenlanze, den Grafen i. a. mit erhobenem Schwert – abzubilden, mußte jeden begabten Siegelstecher reizen, tradierte Dimensionen zu sprengen. Die weit ausgreifenden Hufe, welche die stürmische Bewegung des Rosses anschaulich machen, ragen oft genug in den Raum der Umschrift hinein. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Steigerungen nicht nur/immer vom Auftraggeber veranlaßt, sondern (auch) vom Künstler angeregt waren. So gehören die großen Reitersiegel denn auch zum Schönsten, was die abendländische Siegelkunst hervorgebracht hat.
Zwei Beispiele für die Größenhierarchie: Siegel der Grafen und späteren Herzöge von Geldern und Jülich Für die abgestuften Größenverhältnisse innerhalb der großen Gruppe der Reitersiegel führe ich zwei Beispiele der Grafen/Herzöge von Geldern und der Grafen/Herzöge von Jülich an, deren Siegel durch van Schilfgaarde10 und Ewald11 umfassend publiziert sind. Reinald II. von Geldern besaß als Jungherr ein Falkenjagdsiegel mit einem Durchmesser von 4 cm, das von 1316 bis 1323 belegt ist. Als Graf führte er von 1323 bis 1326 ein Reitersiegel mit dem schwertschwingenden Grafen, das einen Durchmesser von 8 cm hat, dann aber 1327 durch ein bis 1338 vorkommendes zweites Siegel gleichen Typs mit einem Durchmesser von 8,8 cm abgelöst wurde. Als Herzog, ab 1339, führte Reinald II. schließlich ein Reitersiegel von 9,7 cm im Durchmesser. Es entspricht ikonographisch dem verbreiteten Herzogssiegeltyp, zeigt also den Reiter mit der Fahnenlanze.12 Ähnliche Verhältnisse finden wir bei Wilhelm V. von Jülich, der als Jungherr ein Falkenjagdsiegel von 4,7 cm im Durchmesser besaß. Dieses 1317 belegte Siegel wurde später durch ein größeres Jungherrnsiegel von 6,6 cm im Durchmesser abgelöst. Es ist für das Jahr 1326 nachgewiesen und zeigt den Junggrafen als schwert10 A. P. van Schilfgaarde, Zegels Gelre. 11 Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel VI. 12 A. P. van Schilfgaarde (wie Anm. 10), Nr. 50, 52, 58 und 65. Die zahlreichen kleinen Nebensiegel lassen wir hier außer Betracht.
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schwingenden Reiter. Als Graf führte Wilhelm V. ein Rundsiegel von 8,1 cm, ein Reitersiegel gleichen Typs, das von 1328 bis 1336 vorkommt. Die 1336 erfolgte Ernennung zum Markgrafen war für Wilhelm V. Anlaß, ein wiederum deutlich größeres Siegel mit einem Durchmesser von 9,5 cm stechen zu lassen. Dieses von 1341 bis 1349 belegte Siegel zeigt den Siegelführer als Reiter mit der Fahnenlanze. Es wurde durch ein zweites, spätestens 1354 gestochenes Siegel gleichen Typs ersetzt, das nunmehr (wie das letzte Siegel Reinalds II. von Geldern) einen Durchmesser von 9,7 cm aufweist. Wilhelm V. benutzte es auch nach seiner Ernennung zum Herzog (1356) weiter, offenbar weil es bezüglich des Typs und der Größe dem üblichen Herzogssiegel entsprach und die Würde des Herzogs gegenüber der des Markgrafen in seinen Augen vielleicht keine wesentliche Steigerung darstellte. Für die Jahre 1359 und 1360 ist lediglich ein kleines, das Wappen des Herzogs zeigendes Nebensiegel belegt, in dessen Umschrift Wilhelm V. sich unter Verwendung der Dei-Gratia-Formel als Herzog von Jülich bezeichnet. Die Gottesgnadenformel hatte Wilhelm V. aber schon in den meisten Siegeln benutzt, die er sich als Markgraf anfertigen ließ.13 Wie sehr die Größe eines Siegels und die Wahl des Siegeltyps vom jeweiligen Rang eines adeligen Siegelführers abhängig waren, haben die beiden Beispiele deutlich gemacht. Die hier bestehenden Konventionen waren aber keineswegs starr, sondern ließen auch Spielräume, wie etwa die beiden angeführten Falkenjagdsiegel der Jungherren von Geldern (Siegel von 4 cm im Dm.) und Jülich (Siegel von 4,7 cm im Dm.) zeigen. Mit Schwankungen in der Siegelgröße ist wohl auch beim niederen Adel – immer bezogen auf eine bestimmte Landschaft und eine einheitliche Zeitschicht – zu rechnen. Es fehlt bisher an systematischen Untersuchungen, um diese These zu erhärten, doch zeigt das von Wolfhard Vahl ausgebreitete Material, daß die runden Rittersiegel in Franken um die Mitte des 13. Jahrhunderts im Durchschnitt eine Größe von ca. 5,2 cm besaßen, der bis 1310 rasch auf ca. 3,7 cm fiel und danach bis 1400 auf ca. 2,6 cm absank. Im Zuge dieser Entwicklung wurde nach Vahl die Bandbreite der Abweichungen vom Mittelwert immer enger. Bei den Rundsiegeln Regensburger Bürger hat Vahl für das 14. Jahrhundert, also der Zeit deutlich zunehmender 13 Wilhelm Ewald (wie Anm. 11), Tafel 3 Nr. 5, 6 und 9 sowie Tafel 4 Nr. 2, 6 und 9. Auch hier lassen wir die zahlreichen kleinen Nebensiegel bis auf die genannte Ausnahme unberücksichtigt.
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Siegelführung beim Bürgertum, durchschnittliche Größen von 2,8–2,4 cm festgestellt.14 Aus meiner bisherigen Kenntnis der von Kölner Bürgern geführten Siegel läßt sich sagen, daß diese im 14. und 15. Jahrhundert meistenteils Durchmessergrößen von 2–3 cm besaßen15. Dabei zeigt sich, daß die Siegel von Angehörigen der sog. Geschlechter, etwa der Gir, vom Hirz, Jude, vom Kusin, Lyskirchen, Overstolz, Quatermart, Scherfgin und vom Spiegel, sich größenmäßig eher an der Obergrenze von 2,7–3 cm bewegten, während die Siegel anderer Kölner Bürger eher in Richtung 2– 2,2 cm tendierten.16 Es gab also auch hier feine Unterschiede, die es als gerechtfertigt erscheinen lassen, bei der Interpretation eines Einzelsiegels, zumindest bei Abweichungen von der „Norm“, die Siegelgröße einzubeziehen.
Siegelgrößen beim Klerus Ungeschriebene Gesetze bezüglich der Siegelgrößen gab es auch bei geistlichen Personen. Das läßt sich immer dann schön verfolgen, wenn jemandem eine steile Karriere gelang und er sich in jeder neuen Stellung ein neues Siegel zulegte. Besonders eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht Otto I. von Wohldenberg, von dem nacheinander acht verschiedene Siegel überliefert sind.
14 Wolfhard Vahl, Fränkische Rittersiegel. Eine sphragistisch-prosopographische Studie über den fränkischen Niederadel zwischen Regnitz, Pegnitz und Obermain im 13. und 14. Jahrhundert, 2 Teilbände (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX, 44), Neustadt a. d. Aisch 1997, S. 42 f.; Wolfhard Vahl, Fränkische Rittersiegel und Regensburger Bürgersiegel im 13. und 14. Jahrhundert – ein Vergleich, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 44 (1998), S. 381. 15 Es handelt sich in der Regel um Wappensiegel, doch führten verschiedene Bürger auch kleine Rücksiegel, für die nicht immer, aber auch nicht ganz selten Gemmen ohne eine Umschrift verwandt wurden. 16 Durch den Einsturz des Kölner Stadtarchivs vom 3. März 2009 sind die zahlreichen Bürgersiegel, die sich in der Allgemeinen Siegelsammlung befanden, nicht mehr greifbar und wegen der Fragilität des Materials wohl auch unwiederbringlich verloren. In den gedruckten und ungedruckten Findmitteln zu den Kölner Urkundenbeständen sind die Siegel stark vernachlässigt und Größen generell nicht angegeben.
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Isabelle Guerreau hat deren sieben – vom ersten Kanonikersiegel bis zum Bischofssiegel – publiziert, leider ohne Größenangaben, die in unserem Zusammenhang von erheblichem Interesse gewesen wären.17 Immerhin läßt sich aber erahnen, daß die Typenwahl und vielleicht auch die Größe der verschiedenen Siegel von der jeweiligen Stellung Ottos in der kirchlichen Hierarchie und den Usancen des jeweiligen Umfeldes beeinflußt wurden. Lassen wir die Päpste, die wegen ihrer Jahrhunderte langen Verwendung von ikonographisch festgelegten Bleibullen aus dem hier skizzierten Gesamtbild herausfallen, beiseite, so ergibt sich für die anfangs fast immer, dann häufig runden und schließlich überwiegend spitzovalen Siegel geistlicher Personen eine Größenhierarchie, welche der kirchlichen Hierarchie von Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen, Stiftsdignitären (Pröpsten, Dechanten), Äbten/Äbtissinnen, Prioren/Priorinnen, Kanonikern/Kanonissen und Angehörigen des niederen Klerus entspricht. Sieht man von den Kardinälen ab, deren Siegel im 13. Jahrhundert noch recht klein waren, dann aber kontinuierlich wuchsen, wobei sie zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine Höhe von über 8 cm und zu Beginn des 17. Jahrhunderts gar eine Höhe von über 12 cm erreichten, so hat Wilhelm Ewald in seinem Corpus der „Rheinischen Siegel“ für alle anderen Vertreter der kirchlichen Hierarchie umfangreiches Material publiziert, für die Erzbischöfe von Köln und Trier nahezu lückenlos, für den mittelalterlichen Stifts- und Regularklerus wie auch den niederen Klerus immerhin in so reichem, die ganze ehemalige Rheinprovinz abdeckendem Maße, daß sich für die geistlichen Personen ein eindrucksvolles Gesamtbild abgestufter Siegelgrößen ergibt. Auch bei diesen persönlichen Siegeln der Geistlichkeit finden sich natürlich Abweichungen und Ausnahmen von der Regel, was hier wie auch sonst leicht zu erklären ist: In der Vielfalt des Lebens zeigt sich nämlich, daß man sich oft genug nicht an kodifizierte Rechtsnormen hielt – warum hätte man dann in jedem Falle ungeschriebene Gesetze und Konventionen befolgen sollen? Diese Bemerkung soll nicht die Tatsache relativieren, daß es ungeschriebene Gesetze und Regeln für die Wahl der Siegelgrößen und Siegeltypen gab. Jedem Auftraggeber eines Typars wird bewußt gewesen sein, in welchem Rahmen er sich diesbezüglich zu bewegen hatte. Abweichungen 17 Isabelle Guerreau, Otto I. von Wohldenberg. Form und Funktion der Selbstdarstellung eines norddeutschen Weltgeistlichen im Spiegel seiner Siegel, in: Gabriela Signori (Hrsg.), Das Siegel. Gebrauch und Bedeutung, Darmstadt 2007, S. 45–52.
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von der Norm – das gilt für die merkliche Überschreitung der Siegelgröße ebenso wie für die Wahl eines ihm nicht zustehenden Siegeltyps – sind offenbar gewollt und lassen insofern auf besondere Absichten des Auftraggebers schließen. Solche kann man sicherlich dem Trierer Erzbischof Richard von Greiffenklau (1511–1531) unterstellen, dessen spitzovales Siegel von ca. 12,2 : 6,8 cm zum Zeitpunkt seiner Entstehung (um 1511) die Siegel der anderen Erzbischöfe in seiner Umgebung an Größe weit übertraf.18 Auf die „Usurpation“ von Siegeltypen werde ich später noch eingehen.
Ein Äbtissinnensiegel von herausragender Größe An dieser Stelle will ich nur noch ein Beispiel einer hochgestellten geistlichen Frau anführen, auf das ich schon in anderem Zusammenhang hingewiesen habe19: Ab etwa 1271 führte Bertradis, Äbtissin des Stiftes St. Servatius zu Quedlinburg, ein rundes Siegel, in welchem sie auf einem Faldistorium thronend mit einem Lilienzepter in der Rechten und einem geöffneten Buch in der Linken dargestellt ist. Das Siegel hat einen Durchmesser von 8 cm, liegt größenmäßig also nur wenig unter den oben erwähnten Siegeln der Stauferkaiser, ist aber genauso groß wie das vor 1292 entstandene Siegel Ottos I., Fürsten von Anhalt und Grafen von Aschersleben, und sogar 1 mm größer als das um 1283 geschaffene Siegel des Erzbischofs Erich von Magdeburg. Unter den von Ewald abgebildeten Siegeln rheinischer Äbte und Äbtissinnen gibt es kein Stück von auch nur annähernder Größe. Das Thronsiegel der Äbtissin Bertradis zeugt also von ihrem ganz außergewöhnlichen Selbstbewußtsein und ihrem hohen Anspruch im Umfeld der Prälaten und weltlichen Fürsten. Ihre vornehme Kleidung mit einem pelzbesetzten Schulterumhang und die Verwendung der Devotionsformel (Dei gratia) in der Siegelumschrift verstärken diesen Eindruck.
18 Siegelgrößen zum Vergleich: Uriel von Gemmingen, Erzbischof von Mainz (1508– 1514); 10,5 : 6,4 cm; Hermann von Wied, Erzbischof von Köln (1515–1547): 9,8 : 6,2 cm; etwas später: Alfonso de Fonseca, Erzbischof von Toledo und Primas von Spanien (1523–1534): 10 : 6 cm. 19 Toni Diederich, Frische Brise für die Siegelforschung, S. 19. Dort ist irrtümlich, was hier korrigiert sei, von „Halberstadt“ die Rede. Dieses ist durch „Quedlinburg“ zu ersetzen.
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Abgestufte Siegelgrößen bei den geistlichen Institutionen Ein weniger homogenes Bild bieten die Siegel der geistlichen und weltlichen Korporationen. Insofern drängen sich bei der Sichtung der Befunde und bei Vergleichen innerhalb einzelner Siegelführergruppen oder über verschiedene Siegelführergruppen hinweg auch mehr Fragen als bei den persönlichen Siegelführern auf. Nur einige davon: Gab es bei den geistlichen Institutionen (Stiften, Klöstern, Klausen, Pfarreien, Hospitälern) eine Rangordnung? Wie kann es dann sein, daß einzelne Siegel von Hospitälern (etwa die Siegel des Leprosenhauses Melaten und des Heiliggeisthospitals in Köln) beträchtlich größer waren als die Siegel vieler (Kölner) Klöster derselben Zeit? Bestand eine abgestufte Rangordnung bei den Orden, etwa nach ihrer Anciennität? Hatte sich innerhalb der bestehenden Konventionen ein Frauenkloster bescheidener zu geben als ein Männerkloster desselben Ordens? Erforderte das Proprium eines Minoriten-, Dominikaner-, Karmeliter- oder Kartäuserklosters zwangsläufig einen Verzicht auf größeren Aufwand und Anspruch bei der Siegelgröße und Siegelgestaltung? Aufs Ganze gesehen gab es auch bei den geistlichen Korporationssiegeln Abstufungen, wie wir sie bei den persönlichen Siegelführern festgestellt haben, d. h. je älter und/oder bedeutender eine Institution war, um so größer sind i. d. R. auch ihre Siegel. Die Trierer Verhältnisse sprechen da eine ziemlich deutliche Sprache. Hier nur eine Auswahl für das ausgehende Hochmittelalter und das Spätmittelalter: Domstift, 3. Siegel (zwischen 1255 und 1262 entstanden): ca. 8,8 cm im Dm., 4. Siegel (um 1450): ca. 9,5 cm im Dm.; Benediktinerabtei St. Maximin (1. Hälfte d. 14. Jh.): 8,8 cm im Dm.; Benediktinerabtei St. Matthias (um 1220): ca. 7 cm im Dm.; Benediktinerabtei St. Martin (Anfang 13. Jh.): ca. 8 : ca. 5,5 cm; Stift St. Paulin, 2. Siegel (nach 1306): ca. 6,2 cm im Dm.; Stift St. Simeon (um 1200): 5,6 cm im Dm.; Augustinerinnenkloster St. Agnes (um 1320): 7 : 4 cm; Klarissenkloster St. Klara (nach 1453): ca. 5,9 : ca. 3,8 cm; Dominikanerkloster St. Johannes (zwischen 1223 und 1235): 5,7 : 3,7 cm; Kartäuserkloster St. Alban (1335): ca. 5,2 : 3,2 cm; Dominikanerinnenkloster St. Katharina (um 1300): ca. 4,2 im Dm.; Dominikanerinnenkloster St. Barbara (Ende 13. Jh.): ca. 4,2 : 2,9 cm.; Hospital St. Elisabeth (14. Jh.): ca. 5 : 3,5 cm (!). Auch hier beobachten wir, daß ein Trierer Hospitalssiegel größer ist als einige etwas frühere Klostersiegel in derselben Stadt, wobei der zeitliche Abstand der Entstehungszeiten kein nennenswerter Hinderungs-
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grund für einen Vergleich sein kann, da wir uns jenseits der Frühzeit klösterlicher Siegelpraxis bewegen, bei der auch bezüglich der Größe andere Maßstäbe gelten.
Ein auffallend großes Siegel des Klosters St. Klara in Köln Für das Ausbrechen aus der konventionellen Größenhierarchie bei Klostersiegeln will ich noch ein besonders auffälliges Beispiel anführen, nämlich das ab 1399 belegte zweite spitzovale Siegel des Konventes des Klarissenklosters St. Klara in Köln, das ich an anderer Stelle behandelt habe.20 Dieses Siegel hat eine Größe von 7,1 : 4,6 cm und übertrifft damit nicht nur die im 14./15. Jahrhundert entstandenen Klostersiegel in Köln und Umgebung, sondern auch die spitzovalen Siegel der Franziskaner- bzw. Klarissenklöster von Düren, Duisburg und Trier, die nur 5,7 bis 5,9 cm hoch sind. Die Entscheidung der Kölner Klarissen, ihr erstes Konventssiegel von 5,4 : 3,9 cm durch ein beträchtlich größeres zu ersetzen, läßt sich aus dem gestiegenen Selbstbewußtsein erklären, zu dem die teilweise Besetzung des Klosters mit Angehörigen des Adels hinreichenden Anlaß gab; es manifestiert sich auch in der Erwerbung des berühmten Klarenaltars, der sich heute im Kölner Dom befindet.21
Abgestufte Siegelgrößen bei weltlichen Institutionen Da ich hier das Thema der Siegelgröße nur grundsätzlich in die Diskussion einbringen will, wozu ich nur ausgewählte Beispiele – bei diesen wiederum bewußt nur die jeweiligen Hauptsiegel, also nicht die kleineren Nebensiegel 20 Toni Diederich, Die Siegel des Kölner Clarissenklosters St. Clara am Römerturm, in: Am Römerturm. Zwei Jahrtausende eines Kölner Stadtviertels, hrsg. von Werner Schäfke, Köln 2006, S. 123–126. 21 Vgl. Christoph Bellot, Kunst für St. Clara. Altäre – Andachtsbilder – Handschriften, in: Am Römerturm (wie Anm. 20), S. 61–116. Bei der Frage der Ausstattung, die ein „Reflex von Besitz, Anspruch und Ansehen“ war, betont Bellot (ebenda, S. 61) als Voraussetzung die Wohlhabenheit des 1304 gegründeten Klosters St. Clara und den sozialen Status nicht weniger Nonnen mindestens während des späten Mittelalters.
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– heranziehe, verzichte ich im weiteren auf reicheres Belegmaterial für die verschiedenen Arten weltlicher Korporationen, etwa die Universitäten, Fakultäten oder Zünfte. Da man sich bekanntlich bei der Gestaltung jüngerer Universitätssiegel an Vorbildern älterer Universitäten orientierte, wäre bei den wünschenswerten Vergleichen auch die Kategorie der Siegelgröße zu beachten. Für die Fakultätssiegel könnten Vergleiche schon auf der örtlichen Ebene beginnen; es ließen sich so vielleicht Konvergenzen und Divergenzen herausarbeiten und Besonderheiten historisch erklären. Für die erweiterte Gruppe der Zunftsiegel bietet Köln eine sehr gute Basis, weil die am Verbundbrief von 1396 angehängten 22 Gaffelsiegel praktisch alle einer Zeitschicht angehören und die für die neue Verfassung so wichtigen Gaffeln im Urkundentext in fester Reihenfolge erscheinen, in der sie dann auch siegeln. Für die Einordnung in die Gaffelhierarchie waren offensichtlich Rang, Bedeutung und Ansehen der jeweiligen Gaffel entscheidend. Demgemäß zeigen sich auch bei den Gaffel- bzw. Zunftsiegeln feine Abstufungen in der Siegelgröße, darüber hinaus auch bei dem für die Typare verwendeten Material. Eine Reihe von Typaren ist nämlich erhalten, darunter zwei aus Silber, von denen das der angesehenen Kaufleutegaffel Eisenmarkt auch beim Größenvergleich herausragt. Das zweite silberne Typar, das der Buntwörter (Kürschner) ist deutlich kleiner, was sich vielleicht daraus erklärt, daß es schon um 1360 hergestellt wurde. Es sei auch erwähnt, daß das exzellente silberne Typar der Gaffel Eisenmarkt zu den Spitzen der kölnischen Siegelkunst um 1400 gehört.22 Das Siegel zeichnet sich also gleichermaßen durch Größe (5,6 cm im Dm.), Material des Stempels (Silber) und künstlerische Qualität aus. Letztlich lassen sich auch bei weltlichen korporativen Siegelführergruppen gewisse Abstufungen in der Siegelgröße erkennen. Daß ihnen überkommene Konventionen zugrunde liegen, die ihre Wurzel in den hierarchischen Gegebenheiten und im hierarchischen Denken des Mittelalters haben, kann als sicher gelten. Es ist ja auch eine bekannte Tatsache, daß in aller Regel bei Urkunden, die von mehreren Sieglern beglaubigt wurden, eine feste Reihenfolge eingehalten wurde, wobei der vornehmste Siegler sein Siegel als erster unten links anhängte und die anderen nach Rang, Stellung und Ansehen (im Zweifelsfalle nach Anciennität) bis zum „niedrigsten“ Siegler unten rechts folgten. Das eben genannte Beispiel des Kölner Verbundbriefes mit der festen Rangordnung der Gaffeln ist dafür ein signifikantes Beispiel. 22 Ausführlicher zu diesem Siegel: Toni Diederich, Siegelkunst, S. 163.
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Sonderfall Städtesiegel: zahlreiche Abweichungen von der Größenhierarchie Eine Menge von Auffälligkeiten bietet die große Gruppe der Städtesiegel. Demgemäß ergeben sich auch viele Fragen, die zunächst einmal ganz individuell auf der Grundlage der jeweiligen Stadtgeschichte im Vergleich mit anderen Siegeln derselben Landschaft und derselben Zeitschicht erörtert werden sollten. Ich habe dies für den Bereich der mittelalterlichen Städtesiegel des Rheinlandes getan und m. E. plausible Erklärungen für verhältnismäßig große Stadtsiegel des 13. Jahrhunderts, etwa für Grieth am Niederrhein und Blankenberg an der Sieg23, die nicht über den Status einer „Kümmerstadt“ hinauskamen, gefunden. Insofern scheint es generell auch bei Städtesiegeln eine Art Größenhierarchie gegeben zu haben, die grundsätzlich auf Konvention und Konsens beruhte. Sie zeigt sich auch bei den Siegeln der südwestdeutschen Reichsstädte, deren Größe nach Steck keine Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Entstehung erkennen läßt.24 Trotz vieler Auffälligkeiten und Besonderheiten, etwa durch die Verwendung von Bleibullen und zweiseitigen Wachssiegeln, bieten auch die 739 Städtesiegel Frankreichs25 ein Bild abgestufter Siegelgrößen. Wir nennen hier die größenmäßig herausragenden Stücke, allesamt Siegel, die für das 13./14. Jahrhundert belegt sind, weil auch hier wie bei den deutschen Städten die Größe der seit dem ausgehenden Mittelalter entstandenen Städtesiegel wieder abnimmt: Straßburg (9,6 cm im Dm.), Bayonne (9,4 cm im Dm.), Dijon, Metz, Soissons und Tours (jeweils 9 cm im Dm.). Dem bisher gezeichneten Bild der Größenhierarchie lassen sich die ersten rheinischen Städtesiegel aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Köln und Mainz: 10,4 cm im Dm., Trier 12,4 cm im Dm.), die nach wie vor als die ältesten ihrer Art überhaupt zu gelten haben, nicht ohne weiteres 23 Mit 8,2 cm im Dm. übertraf das große Siegel der Stadt Blankenberg das etwa gleichzeitig geschaffene große Siegel der Stadt Bonn (mit einem Dm. von 7,8 cm). 24 Vgl. Volker Steck, Das Siegelwesen der südwestdeutschen Reichsstädte im Mittelalter (Esslinger Studien 12), Esslingen 1994, S. 148. Die größten Siegel besaßen nach Steck Konstanz (2. Stadtsiegel: 8 cm im Dm.), Ulm (2. großes Stadtsiegel: 7,5 : 5,9 cm) und Wimpfen (1. großes Stadtsiegel: 7,3 cm im Dm.). Die meisten Siegel der südwestdeutschen Reichsstädte waren deutlich kleiner. 25 Vgl. die umfassende Publikation von Brigitte Bedos, Corpus des sceaux français du moyen âge.
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einordnen. Dies gilt einmal unter dem Gesichtspunkt, daß die Dimensionen bei Siegeln sonst allgemein erst seit dem späten Mittelalter enorm zunehmen. Das gilt vor allem aber unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die bis dahin im „Siegelkosmos“ führenden Herrschersiegel deutlich kleiner waren. Deren Maximalgrößen betrugen bei Heinrich V. (1106–1125) ca. 8,5 cm, Lothar III. von Supplinburg (1125–1137) 9 cm und Konrad III. (1138– 1152) 8 cm im Durchmesser.
Erklärung für die exorbitante Größe der ältesten Städtesiegel Die ältesten Stadtsiegel von Köln, Mainz und Trier, zu denen im weiteren auch noch das wohl in den 1120er Jahren gestochene Aachener Karlssiegel und das vielleicht schon in den 1140er Jahren entstandene Stadtsiegel von Soest zu rechnen sind26, haben die jüngere Siegelforschung wie kaum ein anderes Thema beschäftigt. Während in der Interpretation der Siegel weitgehende Übereinstimmung herrscht, bleibt ihre Datierung mit Ausnahme des Aachener Siegels umstritten. Ich will an dieser Stelle auf dieses komplizierte Thema nicht näher eingehen, sondern nur zwei Anregungen für die zu erwartende weitere Diskussion der Datierungsfragen geben. Erstens wäre es angebracht, nicht nur die jeweils jüngsten Beiträge zu diesem Thema zur Kenntnis zu nehmen, sondern durch eine relecture älterer Beiträge auch das einzubeziehen, was in den jüngeren weggelassen wird, gilt es doch, in dieser schwierigen Frage wirklich alle Gesichtspunkte zu erörtern. Zweitens wäre die ganz außergewöhnliche, ja geradezu „wahnsinnige“ Größe der ältesten Städtesiegel von Köln, Mainz und Trier zu würdigen.27 Wir haben es bei 26 Zuletzt hat Christoph Winterer, An den Anfängen der Stadtsiegel, S. 185–208, das erste Stadtsiegel von Saint-Omer als ältestes Stadtsiegel überhaupt ins Spiel gebracht, wobei er sich allein auf Stilvergleiche mit dem Liber Floridus von SaintOmer stützt. Sind die Stilvergleiche zwischen Buchmalerei und Kleinplastik schon nicht ganz unproblematisch, so überzeugen sie mich im vorliegenden Falle nicht. Selbst wenn man der Argumentation Winterers folgt und starke Übereinstimmungen herauslesen will, ist doch keineswegs die Gleichzeitigkeit erwiesen, denn die exzellente Handschrift könnte auch in späterer Zeit noch motivisch und stilistisch auf nachfolgende Schöpfungen eingewirkt haben. 27 Sehr eigenartig klingt die Formulierung bei Erich Kittel, Siegel, S. 186: „Auch bedeutende alte Städte hatten keine Scheu vor großformatigen Hauptsiegeln.“
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diesen Siegeln nicht nur mit einem ikonographischen Qualitätssprung, der Kombination von Architektur und Heiligen (örtlichen Patronen), zu tun. Hinzu kommt auch die in allen drei Fällen so überaus kirchlich gestimmte, im Falle Triers sogar kunstvoll als leoninischer Hexameter gestaltete Umschrift. Dem entspricht die für ihre Zeit unerhörte (gleiche) Siegelgröße der Siegel von Köln und Mainz, die im Trierer Siegel, dem größten Stadtsiegel aller Zeiten, noch einmal deutlich gesteigert wird. Man gelangt zwangsläufig zu der Erklärung, daß das Siegel der Stadt Köln, das bezüglich der Ikonographie des Siegelbildes und der Formulierung der anspruchsvollen Umschrift aus Kölner Quellen erklärt werden kann, als erstes Siegel, und zwar unter geistlichem Einfluß und schon gar nicht in Frontstellung zum erzbischöflichen Stadtherrn, geschaffen wurde. Bei der Entstehung der Stadtsiegel von Mainz und Trier ist das Konkurrenzdenken zwischen den rheinischen Erzbischöfen und ihren Kathedralstädten hoch zu veranschlagen. Mainz hat das Kölner Vorbild „kopiert“, indem Größe und Ikonographie des Kölner Siegels bis auf die Ersetzung des hl. Petrus durch den Mainzer Patron, den hl. Martin, übernommen wurden.28 Aber Mainz hat sich durch die Veränderung der Umschrift von Köln bewußt abgesetzt und herausgestellt, das „goldene“ Mainz (aurea Magontia) sei die „besondere“ Tochter der römischen Kirche (specialis filia); das „heilige“ Köln (sancta Colonia) hatte sich vorher nur als „treue“ Tochter (fidelis filia) derselben bezeichnet. Abgesehen von dem völlig eigenständigen, Christus ins Siegel nehmenden und mit der apostolischen Sukzession historisch argumentierenden Programm stellt das Trierer Siegel auch mit seiner exorbitanten Größe von 12,4 cm im Durchmesser eine nochmalige Steigerung dar. Das bedeutet, daß das Siegel des „heiligen“ Trier (sancta Treveris) nur in Reaktion auf Köln und Mainz entstanden sein kann. Die genannte Größe des Trierer Siegels wird so erklärlich. Stünde es als erstes Stadtsiegel da, so hätte man Probleme, den extremen Größensprung des Trierer Stadtsiegels gegenüber den zeitge28 Die Darstellung der Architektur ist im Mainzer Siegel gegenüber dem Kölner Vorbild leicht reduziert, was nach Einschätzung von Anton von Euw und Joachim M. Plotzek, mit denen ich die Frage seinerzeit erörtert habe, für das höhere Alter des Kölner Stückes spricht. Das umgekehrte Vorgehen – Anreicherung einer fremden Vorlage – ist für die fragliche Zeit auszuschließen. Tatsächlich erweisen sich auch die anderen von Köln und Mainz direkt abhängigen jüngeren Städtesiegel als Reduktionen gegenüber ihren Vorbildern; Näheres dazu bei Toni Diederich, Siegel der Stadt Köln.
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nössischen Herrschersiegeln (s. oben) und dem älteren Siegel des Trierer Domstiftes (7 cm im Dm.) plausibel zu machen. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Die Siegelgröße ist nur eines von vielen Kriterien bei der historischen Einordnung und Interpretation von Städtesiegeln, im vorliegenden Falle allerdings ein wichtiges. Auf die Bedeutung der Siegelgröße und die Tatsache, daß das älteste Kölner Stadtsiegel „im Durchmesser deutlich alle bisher dagewesenen Siegel, auch die der deutschen Kaiser und Könige, an Größe übertrifft“, habe ich schon 1980 hingewiesen.29 Diese Tatsache wäre bei künftigen Arbeiten zum Verständnis des ersten Kölner Stadtsiegels stärker zu beachten. Daß in der Wahl der Siegelgröße auch eine für die Interpretation wichtige Entscheidung liegt, läßt sich für sehr kleine wie auch verhältnismäßig große Siegel erweisen.30 Aus alledem folgern wir: Bei der Publikation von Siegeln sollte immer auch deren Größe angegeben werden. Sie ist ähnlich wichtig und aussagekräftig wie die Angabe von Größe und Gewicht bei Münzen, was längst zum wissenschaftlichen Standard gehört, weil nur so eine Einordnung der einzelnen Münze in die bestehenden Münzsysteme möglich ist. Da sich die siegelkundliche Literatur bezüglich der Feststellung der Siegelgröße ausschweigt, sei hier an das, was Karl Ernst Demandt an der Marburger Archivschule vorzutragen pflegte, erinnert. Demnach mißt man von dem einen äußeren Rand bis zum gegenüberliegenden Rand dessen, was das Typar im Siegelstoff (Gold, Blei, Wachs, Siegellack usw.) zurückgelassen hat, also in der Regel von der äußeren (Perl-)Linie bis zu derselben gegenüber. Wülste, Siegelschüsseln usw., die über den vom Stempel hinterlassenen Abdruck hinausragen, werden nicht mitgemessen. 29 Toni Diederich (wie Anm. 28), S. 33. 30 Vgl. etwa Stefan Pätzold, Siegel und Stadtansichten. Die ältesten Bildquellen der Bochumer Stadtgeschichte aus Historikerperspektive, in: Märkisches Jahrbuch für Geschichte 109 (2009), S. 45–71, wo das 1381 erstmals belegte Bochumer Stadtsiegel einleuchtend aus den historischen Gegebenheiten interpretiert wird. Die„schlichte Gestaltung“ des Siegels (ebenda, S. 56), das im Feld nur ein Buch zeigt, korrespondiert in diesem Falle mit der auffallend geringen Größe von 3,1 cm im Durchmesser. Auf die Kategorie der Siegelgröße sind zuletzt bei der Interpretation von Stadtsiegeln Wolfgang Krauth, Stadtsiegel in Soest und Coesfeld, S. 214 f. (2. großes Petrussiegel der Stadt Soest mit 9 cm im Dm.) und Thomas Michael Krüger, Siegel des Augsburger Domkapitels, S. 254 f. (Augsburger Stadtsiegel mit 8,1 cm im Dm.) eingegangen.
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Der Bedeutungsmaßstab in Siegeln Zum Maßstab der Bedeutung in Siegeln können wir uns kurz fassen, weil er jedem Kunsthistoriker geläufig ist. Die Siegelkunst unterscheidet sich, was die Größe der dargestellten Personen und Gegenstände angeht, nicht von den anderen Künsten. Schon in der Antike folgte man dem Bedeutungsmaßstab, den wir dann auch schon früh im Mittelalter beobachten können. In der wohl im 7. Jahrhundert errichteten kleinen Kirche St. Prokulus in Naturns (Vinschgau) befindet sich unter den um 800 entstandenen Fresken, den ältesten im deutschsprachigen Raum, ein aus zwölf Rindern bestehender Zug, der als Prozession zum hl. Prokulus gedeutet wird, weil dieser später als Viehheiliger verehrt wurde. An der Spitze der Viehprozession – ein für einen Kirchenraum ganz ungewöhnliches Motiv – befindet sich ein überdimensioniert dargestellter Hund, womit die Bedeutung des Herdenhundes herausgestellt wird. Sein wiederum übergoß gezeichnetes Auge stellt seine Aufgabe, die Herde in den Blick zu nehmen und zusammenzuhalten, in anschaulicher Weise heraus. Für die Siegelkunst ist das oben erwähnte älteste Siegel der Stadt Trier, das in den 1140er Jahren entstanden sein dürfte, ein schönes Beispiel: Entsprechend seiner Bedeutung ist Christus ganz groß in der Mittelachse dargestellt. Ihm gegenüber sind die beiden Stadtpatrone von Trier, die heiligen Petrus und Eucharius, die von ihm den Schlüssel in Empfang nehmen, deutlich kleiner abgebildet. Noch einmal wesentlich kleiner ins Bild gesetzt sind die vier Personen, die ihre Hände emporrecken und als pars pro toto das Volk von Trier hinter der Stadtmauer darstellen (Abb. 2). Daß der Gesamtkomposition eine Bedeutungshierarchie zugrunde liegt, ist evident. Ein weiteres Beispiel ist das von mir in anderem Zusammenhang genannte und dort abgebildete älteste Siegel des Stiftes St. Florin.31 In ihm ist die älteste und ursprünglich namengebende Kirchenpatronin, die Muttergottes, deutlich größer als die beiden seitlichen Heiligen, St. Innozenz und St. Florin, dargestellt, wobei im übrigen auch, wie uns aus der Heraldik geläufig ist, die rechte Seite als die vornehmere gilt. In diesem Falle nimmt der hl. Innozenz zur Rechten der Muttergottes entsprechend seiner Bedeu-
31 Vgl. oben Kapitel II, Abb. 1.
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tung als Märtyrer und älterer Heiliger den vornehmeren Platz gegenüber dem jüngeren Bekenner St. Florin ein.32
Abb. 2 Ältestes Siegel der Stadt Trier
Der Bedeutungsmaßstab begegnet uns in Siegeln so häufig, daß es mir nicht notwendig erscheint, weitere Beispiele anzuführen. Bei der Interpretation von Siegeln muß darauf geachtet werden. Eine Erklärung unterschiedlicher 32 Ähnlich „hierarchisch korrekt“ sind im Trierer Stadtsiegel der hl. Petrus zur Rechten Christi, der hl. Eucharius zu seiner Linken dargestellt.
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Größen aus rein kompositorischen Gründen oder gar Platzmangel bedarf einer überzeugenden Begründung. Hinzuweisen ist auch auf das Parspro-toto-Prinzip, welches dem Künstler – wie in der Heraldik – erlaubt, eine erwünschte Aussage dadurch zu erzielen, daß er statt des Ganzen nur einen Teil abbildet.
Ein anderes interpretationswürdiges Phänomen: die „Usurpation“ von Siegeltypen Analysiert man eine größere Menge von Siegeln hinsichtlich der Frage, welche Siegeltypen bei den einzelnen Siegelführergruppen vorkommen, so zeigt sich, daß in grob abgrenzbaren Zeitschichten bestimmte Siegeltypen dominieren, daneben aber auch eine mehr oder minder große Zahl von anderen Siegeltypen begegnet. Diese Feststellung gilt nur eingeschränkt für die Frühzeit der Siegelführung im Abendland und die Jahrhunderte seit dem ausgehenden Mittelalter mit der jeweils auffälligen Dominanz der Bildnissiegel bzw. der Wappensiegel. Generell konstatieren wir zudem bei den Städtesiegeln, wenn man von der Masse der jüngeren Nebensiegel absieht, bei denen dann auch die Wappensiegel vorherrschen, eine größere Zahl von „reinen“ Siegeltypen und unterschiedlichen Mischtypen. Der Gesamtbefund legt aber nahe anzunehmen, daß es ähnlich wie bei den Siegelgrößen gewisse Regeln, vielleicht auch nur Vorlieben, die sich an Vorbildern orientierten, gab, so daß letztlich für jede Siegelführergruppe mehrere Siegeltypen zur Verfügung standen, um sich im Umfeld der übrigen Siegelführer adäquat darzustellen. Sieht man von den Städten mit der ihnen eigenen Vielfalt in Ikonographie und Typologie ab, so bewegten sich die anderen Siegelführergruppen in festen Konventionen. Dazu gehörte die „,Kanonisierung‘ von bestimmten Darstellungsmotiven“33; dazu gehörte, wie wir oben gesehen haben, auch die Einordnung in den „Kanon“ der Siegelgrößen. Wenn man sich bei der Typenwahl und der Siegelgröße an den bestehenden „Kanon“ hielt, konnte man sicher sein, vom Betrachter des Siegels in seinem sozialen Status richtig eingeordnet zu wer-
33 Franz-Josef Arlinghaus, Konstruktionen von Identität, S. 44.
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den.34 Zugleich war damit garantiert, daß die spezifische Aussage des ausgewählten Siegeltyps von den Zeitgenossen problemlos verstanden wurde. Innerhalb der bestehenden Konventionen bezüglich der Typenwahl gab es allerdings gewisse Freiräume, weil bei etlichen Siegeltypen verschiedene Varianten zur Verfügung standen und es selbstverständlich auch möglich war, zwei oder mehr Typen zu kombinieren, um durch einen solchen Mischtyp eine komplexere Aussage zu erzielen. Darüber hinaus stand es dem Auftraggeber frei, sich über die bestehenden Konventionen hinwegzusetzen, wie wir das schon bezüglich der Siegelgröße dargelegt haben. Geht man von den ungeschriebenen Gesetzen bei der Typenwahl und einem diesbezüglichen stillen Konsens innerhalb der Siegelführergruppen aus, so bedeutet ein Ausbrechen aus dem bestehenden „Kanon“, wenn also ein Siegelführer einen ihm eigentlich nicht zustehenden Siegeltyp wählt, so etwas wie eine „Usurpation“. Wir setzen den Begriff bewußt in Anführungszeichen, weil es sich hier nicht um eine Übertretung eines förmlichen Dekretes oder Gesetzes, sondern um ein Verlassen der auf Konsens beruhenden Konvention handelt. Man wird das im gesellschaftlichen Umfeld als Anmaßung registriert haben. Nachfolgend soll das Phänomen der „Usurpation“ von Siegeltypen durch eine Reihe von Beispielen demonstriert werden. Da die „Usurpation“ – wir wollen bei dem Terminus mit Anführungszeichen bleiben – immer ein vom Auftraggeber des Siegelstempels veranlaßter Akt ist und dieser bei einem korporativen Siegel des Konsenses einer Mehrzahl von Personen bedarf, ist es leicht zu erklären, daß die „Usurpation“ von Siegeltypen bei Korporationen und Institutionen sehr viel seltener ist als bei Einzelpersonen.
34 Für die persönlichen Siegelführer ist dieser Gesichtspunkt deutlich herausgestellt worden bei Brigitte Miriam Bedos-Rezak, Seals and The Medieval Semiotics of Personality, S. 52 f.: „... seals, though belonging to individuals and though displaying a distinct human body, nevertheless portrayed the status of the person represented, a standing that was shared by other members of the same social category. Personal identity on seals was thus expressed in terms of the rapport of sameness which existed between different individuals belonging to a common ordo: ego was an instance of ordo.“
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Ein eklatantes Beispiel: das große Aachener Karlssiegel Eines der m. W. ältesten und ohne Zweifel eindrucksvollsten Beispiele für die „Usurpation“ eines Siegeltyps durch eine Korporation ist das große Aachener Karlssiegel (Abb. 3). Mit ihm haben sich in der Vergangenheit viele Forscher beschäftigt, von denen Erich Meuthen hervorgehoben werden soll. Er hat nicht nur die Belege für eine Benutzung des Karlssiegels als Aachener Stadtsiegel (ab 1200), sondern auch für seine vorhergehende Verwendung ab dem Jahre 1134, als Aachen noch gar keine Stadt im mittelalterlichen Rechtssinne war, zusammengetragen. Meuthen stellte auch die merkwürdige Tatsache heraus, daß in dem Siegel der thronende Kaiser Karl der Große mit Krone, Lilienzepter und Weltkugel dargestellt ist und die Siegelumschrift KAROLVS MAGNVS ROMANORV(M) IMP(ERATO)R AVGVSTVS keinen Bezug auf die Stadt Aachen nimmt.35 Das Siegel, das wahrscheinlich spätestens zwischen 1129 und 1134, vielleicht auch zwischen 1123 und 1134 im geistigen Dunstkreis des Aachener Marienstifts entstanden ist36, entspricht in Bild und Umschrift gänzlich dem Typ des Majestätssiegels, kann aber natürlich nicht von Karl dem Großen selbst geführt worden sein. Daß hier die „Usurpation“ eines Siegeltyps vorliegt, ist evident. Diese „Usurpation“ darf aber nicht der späteren Stadt Aachen angelastet werden. Sie beruht vielmehr auf einer Entscheidung des zu vermutenden Auftraggebers, des Aachener Marienstifts. Von wem genau und in welcher Funktion das große Karlssiegel ursprünglich benutzt wurde, war lange strittig. Daß ein „Funktionswandel“ eingetreten sein muß, ist eine seit Meuthen allerseits akzeptierte Tatsache. Ich selbst habe darauf hingewiesen, daß mit jedem Gebrauch des Siegels vor 1200 Karl der Große als Garant bemüht werden sollte – „ein Anspruch, der nur vergleichbar ist mit den Kirchenpatronen in den Stifts- und Klostersiegeln, mit den Stadtpatronen in den Stadtsiegeln“37. Manfred Groten hat zuletzt mit m. E. einleuchtenden
35 Erich Meuthen, Zu Datierung und Bedeutung des älteren Aachener Karlssiegels, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 77 (1965), S. 5–16. 36 Toni Diederich, Nachleben und Bedeutung Karls des Großen in den Siegeln der Stadt Aachen, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 104/105 (2002/2003), S. 719–733, insbes. S. 720–726. 37 Ebenda, S. 725.
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Abb. 3 Großes Karlssiegel der Stadt Aachen
Argumenten eine Erklärung vorgeschlagen, welche die Diskussion um die Art des Funktionswandels vielleicht zum Abschluß bringt: „Das Karlssiegel war ein Siegel des Aachener Marienstifts.“38 Nimmt man die Größe des Aachener Siegels – der Durchmesser schwankt nach den Angaben von Erich Meuthen zwischen 8,5 und 8,8 cm – und den seinerzeit von Rudolf M. Kloos39 anhand der Umschriften herausgearbeiteten Werkstattzusammenhang zwischen dem Siegel des Kölner Domstiftes und dem Karlssiegel hinzu, so spricht einiges dafür, daß das Karlssiegel in 38 Manfred Groten, Karlsmythos und Petrustradition, S. 377. 39 Rudolf M. Kloos, Epigraphische Bemerkungen zum Aachener Karlssiegel, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 82 (1972), S. 5–10.
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Kenntnis dieses Kölner Siegels, ja auch in Reaktion darauf entstanden ist. Das Siegel des Kölner Domstifts besitzt einen Durchmesser von ca. 7,5 cm. Es zeigt den thronenden hl. Petrus und trägt die anspruchsvolle Umschrift + S(AN)C(TV)S PETRVS AP(OSTO)L(V)S PATRONVS SANCTAE COLONIAE. Mit Blick auf Köln40 würde verständlich, warum das Aachener Marienstift nicht nur Karl den Großen, dem es seine Existenz und herausragende Bedeutung im Reich verdankte, für sich vereinnahmte und letztlich auch den Typ des Majestätssiegels „usurpierte“. Man scheute sich auch nicht, das Siegel in einer Größe stechen zu lassen, welche sich an die größten Siegel der damaligen Herrscher, nämlich Heinrichs V. (ca. 8,5 cm im Dm.) und Lothars III. (9 cm im Dm.), anlehnte. Das Siegel des Kölner Domstiftes wurde hingegen deutlich übertroffen. Die „Usurpation“ eines Kaisersiegels durch ein Stift mag auf den ersten Blick als dreist und unverständlich erscheinen. Analysiert man aber die historische und symbolische Bedeutung des Karlssiegels vor dem Hintergrund des in Aachen virulenten Karlsmythos41, so wird verständlich, warum das dortige Marienstift seinen hohen Anspruch in dem beschriebenen Karlssiegel, also einem „usurpierten“ Siegeltyp, zum Ausdruck brachte. Allerdings muß man berücksichtigen, daß in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in der auch die völlig aus dem Rahmen fallenden Stadtsiegel von Köln, Mainz und Trier entstanden sind, die Konventionen bezüglich Siegelgrößen und Siegeltypen noch nicht so verfestigt waren wie in späterer Zeit. Eine „Usurpation“ wie die vorliegende wäre für das Spätmittelalter nicht mehr denkbar, und tatsächlich ist das Aachener Siegel einzigartig geblieben.
Weitere Beispiele für die „Usurpation“ des Majestätssiegeltyps Der Typ des herrscherlichen Thronsiegels stand seit Heinrich II. (1002–1024) an der Spitze des abendländischen Siegelkosmos, was sich auch in dem mittel40 Eine Klammer zwischen Köln und Aachen bildet Hugo von Sponheim, der spätestens ab 1127 Dechant des Domstiftes und Propst des Gereonstiftes in Köln, zugleich aber auch Propst des Marienstiftes in Aachen war, bevor er 1137 zum Erzbischof von Köln erhoben wurde. 41 Vgl. Manfred Groten (wie Anm. 38), S. 379.
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alterlichen Terminus „sigillum maiestatis“ (Majestätssiegel) niederschlägt. Bei den hohen Geistlichen gab es keine Hemmungen, sich ebenfalls thronend im Siegel darstellen zu lassen. Insbesondere bei den Bischöfen setzte sich das Thronsiegel, eine besondere Form des Bildnissiegels, seit dem 11. Jahrhundert immer stärker durch.42 Der Adel, der im Reitersiegel einen eigenen standesgemäßen Siegeltyp gefunden hatte, vermied es i. a., den herrscherlichen Thronsiegeltyp zu „usurpieren“. Es gibt aber auch hierbei Ausnahmen: Graf Egeno der Bärtige von Urach erscheint in einem 1228 belegten Siegel ebenso thronend wie 1251 Graf Burchard von Hohenberg und wie der 1282 gestorbene Ulrich von Wildon.43 Diese Siegel sind erheblich kleiner als die Majestätssiegel der zeitgenössischen Kaiser und Könige. Insofern wurde von den genannten Vertretern des Adels die mittelalterliche Größenhierarchie beachtet. Adelige Frauen ließen sich ausweislich des Fürsten zu Hohenlohe-Waldenburg44 häufiger im Siegel thronend darstellen, z. B. die Burggräfinnen Agnes von Nürnberg (1299) und Margarethe von Nürnberg (1343). Der Thron befindet sich bei beiden in der Mitte eines Architekturrahmens, einer stilisierten Burg, welche ohne Zweifel den Status der Burggräfinnen hervorkehren soll. In anderen Fällen wird die thronende Siegelführerin nur von zwei Wappenschilden beseitet, z. B. in dem 1272 belegten Siegel der Gräfin Elisabeth von Holstein.45
„Weltliche“ Siegeltypen beim Klerus Daß Wappen gerade beim Adel eine große Rolle spielten und sich die kleinen Siegel (Sekretsiegel, Rücksiegel) der Fürsten und Grafen oft als reine Wappensiegel präsentieren, sei hier nur nebenbei festgestellt. Kleriker – adeliger oder nichtadeliger Herkunft – konnten bei der Gestaltung ihres persönlichen Siegels unter einer größeren Zahl von Siegeltypen wählen. Ihrem geistlichen Status 42 Manfred Groten, Das Aufkommen der bischöflichen Thronsiegel im Deutschen Reich, in: Historisches Jahrbuch 100 (1980), S. 163–197. Daneben gab es auch bischöfliche Standbildsiegel, insbesondere in England und bei Bischöfen im Osten, die nach ihrer Vertreibung im Westen als Weihbischöfe fungierten. 43 Friedrich-Karl von Hohenlohe-Waldenburg, Sphragistische Aphorismen. 300 mittelalterliche Siegel systematisch classificirt und erläutert, Heilbronn 1882, Nr. 101, 103 und 221. 44 Ebenda, Nr. 217, 218 und 247. 45 Ebenda, Nr. 250.
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und ihrer persönlichen Geisteshaltung entsprechend entschieden sich viele für ein Heiligen- oder ein Symbolsiegel. Es hat dann geradezu den Charakter einer „Usurpation“, wenn sie ein reines Wappensiegel führten, stand das Wappen, das ursprünglich aus handfesten Gründen zur Unterscheidung der Krieger auf den ritterlichen Abwehrwaffen angebracht worden war und sich erst später verselbständigte, doch nach wie vor für ein weltliches Handwerk. Gerade bei den hohen Geistlichen muß der Besitz eines reinen Wappensiegels als befremdlich erscheinen. Als Beispiele nenne ich Elyas de Littore, der als Kanoniker und später Propst des Stiftes zu Münstermaifeld 1323 bzw. 1340 jeweils ein Wappensiegel führte, von denen nur das jüngere in der Umschrift ausdrücklich als Sekretsiegel ausgewiesen ist.46 Standen die Kanonikerstifte generell „zwischen Kirche und Welt“, so beweisen die bei Stiftsherren vorkommenden Wappensiegel, daß für ihre Auftraggeber die Herkunft und die Zugehörigkeit zu ihrem Geschlecht auch bei einer geistlichen Karriere wichtig blieben. Wie weit sich weltliche Bezüge hoher Geistlicher im Siegel niederschlagen, zeigt sich bei Johann von Heinsberg, der als Bischof von Lüttich (1419–1455) nacheinander zwei Sekretsiegel führte, in denen zunächst sein Wappenschild von zwei Frauengestalten, dann von einer Frau gehalten wird. In dem zweiten Siegel ist die Frau mit einem Falken auf der linken Hand und einem kleinen Hund zu ihren Füßen dargestellt. Die Schildhalterin wirkt mit ihrer engen, hochangesetzten Taille und den kokett hervortretenden Brüsten ausgesprochen höfisch elegant und mondän. Da man die Umschriften, die in der gitterartigen gotischen Minuskel gehalten sind und zahlreiche Kürzeln aufweisen, nur schwer lesen kann – sie lauten aufgelöst jeweils „Sigillum Iohannis de Hensberg episcopi Leodiensis et comitis Lossensis secretum“ –, konnte auch der zeitgenössische Betrachter nicht ohne weiteres erkennen, daß es sich hier um zwei bischöfliche Siegel handelt. Wenn hier also von einem Bischof zwei im Zeitstil gestaltete Wappensiegel „usurpiert“ wurden, so lag dem ohne Zweifel eine bewußte Entscheidung zugrunde. Der Siegelführer dokumentierte mit seinem Wappen und der Umschrift seine ihm offenbar wichtige Herkunft und seine Hausmacht im Konzert der damaligen Territorialgewalten, so daß auch in diesem Falle die „Usurpation“ eines eher weltlichen Siegeltyps verständlich wird. Greifen wir noch einmal die Tatsache auf, daß die Stiftsgeistlichen „zwischen Kirche und Welt“ standen, so verwundert es nicht, wenn Kanoniker 46 Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel IV, Tafel 82 Nr. 16 (Kanonikersiegel) und Tafel 65 Nr. 10 (Sekretsiegel des Propstes).
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auch andere an sich ungeistliche Siegeltypen „usurpierten“. So führte Hermann von Solms, Kanoniker des Stiftes St. Kastor zu Koblenz, 1285 ein Reitersiegel, das mit 3,3 cm im Durchmesser sich in der Größe deutlich gegenüber den zeitgenössischen Reitersiegeln des hohen Adels zurücknimmt.47 Von dem Kölner Domkanoniker Alexander de Linepe ist 1270 ein spitzovales Falkenjagdsiegel von ca. 3,7 : ca. 2,6 cm belegt.48 Mit dem spitzovalen Siegel wählte der Kölner Domherr also eine unter seinesgleichen beliebte Siegelform, bei der Größe übte er aber gegenüber den Falkenjagdsiegeln der adeligen Damen und Jungherren eine auffällige Bescheidenheit. Auch das 1285 vorkommende, 4,5 : 3 cm messende spitzovale Siegel des Kölner Domkanonikers Wilhelm von Berg, das ein Burgtor mit drei Zinnentürmen und im Tor den aufrecht schreitenden bergischen Löwen, belegt mit einem Turnierkragen, zeigt49, läßt nicht ohne weiteres auf einen geistlichen Siegelführer schließen.
„Usurpierte“ Siegeltypen beim Adel Ich verzichte auf die Anführung weiterer Beispiele solcher Klerikersiegel. Wenn man die Verwendung mancher Siegeltypen auch nicht unbedingt als „usurpiert“ bezeichnen will, so sind etliche doch zumindest ungewöhnlich. Bei nicht geistlichen Adeligen ist ein Ausbrechen aus den Konventionen seltener zu beobachten, doch hat der Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg ein Siegel abgebildet, welches dem Typ mit idealisierter Architekturdarstellung zuzurechnen ist, zeigt es doch innerhalb eines zinnenbekrönten Mauerrunds eine symmetrische Burganlage, aus der ein mächtiger Zinnenturm in der Mitte und zu beiden Seiten jeweils ein spitzer Turm herausragen.50 Dieses Rundsiegel mißt etwa 6,1 cm im Durchmesser und scheint auf den ersten Blick ein Stadtsiegel zu sein, da es viele Städtesiegel dieses Typs gibt. Ausweislich der Umschrift + SIGILLVM · COMITIS · DE · TEKENEBVRG handelt es sich aber um das Siegel eines Grafen, den Hohenlohe-Waldenburg mit Berufung auf L. von Ledebur als Graf Otto von Tecklenburg (1226–1261) identifiziert. Auch in 47 48 49 50
Ebenda, Tafel 84 Nr. 11. Ebenda, Tafel 84 Nr. 3. Ebenda, Tafel 84 Nr. 13. Friedrich-Karl zu Hohenlohe-Waldenburg (wie Anm. 43), Nr. 74.
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diesem Falle eröffnet die „Usurpation“ eines an sich nicht gräflichen Siegeltyps Rückschlüsse auf die vom Auftraggeber angestrebte Aussage. Ich lasse an dieser Stelle die Mischtypen, die ich in einem eigenen Kapitel behandelt habe, beiseite und führe zunächst nur noch einige Beispiele für die „Usurpation“ des Heiligensiegeltyps an. Er war bei geistlichen Personen und noch weit mehr bei geistlichen Korporationen so verbreitet, daß er geradezu als geistlicher Siegeltyp erscheinen mußte. Dem steht nicht entgegen, daß auch Städte und Schöffenkollegien, Zünfte und andere Korporationen ihre Ortsheiligen oder Schutzpatrone ins Siegel nahmen. Für Laien, die nicht persönlich einen bestimmten Heiligen in Anspruch nehmen konnten, wäre die Verwendung des Heiligensiegels, gerade weil er bei den Geistlichen so verbreitet war, eine Anmaßung gewesen. Daß man sich in einzelnen Fällen aber auch über die diesbezüglich bestehenden Konventionen hinwegsetzte, zeigen die nachfolgenden Beispiele. Die einem fränkischen Rittergeschlecht angehörende Elisabeth von Breitenstein, Ehefrau und seit 1316 Witwe des Konrad von Buttendorf, führte ein 1316 belegtes Rundsiegel von 3, 8 cm im Durchmesser. Das runde Siegelfeld erhält eine besondere Spannung, weil in seine Mittelachse eine zweifach umrandete Mandorla eingestellt ist, die oben und unten die innere Perllinie berührt, welche Feld und Umschrift abtrennt. In der Mandorla ist Christus thronend als Weltenrichter mit Kreuznimbus dargestellt. Die Umschrift lautet: + ELIZABET · VIDVE · DE PVETENDORF.51 Wir kommen zu dem Schluß: Christus als Weltenrichter in der Mandorla – vor dem Hintergrund, daß die spitzovale Form derselben unwillkürlich die Assoziation zu den geistlichen Siegeln herstellte – das ist eine „Usurpation“, die eine Erklärung darin findet, daß die Siegelführerin, als sie 1316 Witwe geworden war und sich ein Siegel schneiden ließ, in ihrer Trauer um den verstorbenen Ehegatten Trost und Hoffnung bei Christus suchte, vielleicht auch die Bitte um ein mildes Urteil beim Jüngsten Gericht ausdrücken wollte. Ein weiteres Siegel einer Witwe, und zwar das Siegel der Margarethe von Wildon (1302–1328), Witwe Ulrichs von Eppenstein, hat der Fürst zu Hohenlohe-Waldenburg in seine Publikation aufgenommen, weil ihm die viereckige Form des Siegels und auch das Motiv, die Darstellung des Hauptes Christi, besonders interessant erschienen.52 Das Siegel mißt zwar nur 2,4 : 2,2 cm, bewegt sich aber doch durch seine 51 Wolfhard Vahl, Fränkische Rittersiegel, 1997 (wie Anm. 14), S. 455, Abb. S. 330. 52 Friedrich-Karl zu Hohenlohe-Waldenburg (wie Anm. 43), Nr. 87.
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außergewöhnliche Form und das Bildnis Christi in einem Frauensiegel ganz außerhalb der bestehenden Konventionen. Man wird die Bildwahl ähnlich wie bei Elisabeth von Breitenstein zu interpretieren haben. „Fromme“ Darstellungen und damit die Verwendung des Typs des Heiligensiegels sind bei Frauen wohl eher als bei Männern zu erwarten. So zeigt etwa das spitzovale Siegel der Lukardis, Edlen von Barby, das Lamm Gottes mit Kreuzfahne.53 Das 1274 belegte Siegel mißt 3,8 : 2,7 cm, ist in seinen Maßen also im Vergleich zu vielen Heiligensiegeln des Klerus bescheiden.
„Usurpation“ des Reitersiegeltyps durch einen mächtigen Kölner Bürger – unter Wahrung der Größenhierarchie Wie sehr selbst bei der „Usurpation“ eines Siegeltyps doch die mehrfach angesprochene „Größenhierarchie“ gewahrt wurde, zeigt ein Beispiel, auf das ich abschließend näher eingehen will, zumal es auch noch einmal das Phänomen der „Usurpation“ in frappierender Weise verdeutlicht. Während die Siegel Kölner Bürger, auch solche von Angehörigen der sog. Geschlechter, wie oben schon in anderem Zusammenhang erwähnt, sich im 14. und 15. Jahrhundert fast ausnahmslos als Wappen- und Hausmarkensiegel von bescheidener Größe darboten, ist von dem 1338 gestorbenen Hilger von der Stesse ein Reitersiegel bekannt.54 Als Ritter, Ratsherr, Bürgermeister, Schöffe, Münzerhausgenosse und Bannerherr gehörte Hilger von der Stesse zu den herausragenden Persönlichkeiten Kölns im 14. Jahrhundert. Wie ich schon an anderer Stelle dargelegt habe55, war er sehr reich, „weshalb er auch 53 Beatrice Marnetté-Kühl, Mittelalterliche Siegel, S. 379. 54 Das Siegel befand sich bis zum Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. März 2009 an der dortigen Urkunde HUA K/1032 vom 14. März 1321, die wie alle Urkunden mit K-Signatur vom Einsturz betroffen war, so daß man sich bezüglich des Erhaltungszustandes der Siegel, selbst wenn die Urkunde den Einsturz einigermaßen unbeschädigt überstanden hat, keinen Illusionen hingeben sollte. Eine S/W-Abbildung der Urkunde von 1321, die ursprünglich mit 70 Siegeln beglaubigt war, findet sich bei Toni Diederich, Revolutionen in Köln 1074–1918 (Ausstellungskatalog), Köln 1973, S. 106. Ein Gipsabguß von dem Siegel des Hilger von der Stesse befindet sich im Historischen Archiv des Erzbistums Köln, Siegelsammlung Ewald 1, Nr. 3354, ein Foto-Negativ hiervon im Rheinischen Bildarchiv, Glasplatte S. 583. 55 Toni Diederich (wie Anm. 20), S. 118.
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der rijch her Hilger genannt wurde“. Nach der Koelhoffschen Chronik hielt (er) ouch groissen adelichen stait in vill sachen ind was van groissem gehoere by den lantzheren ind in der stat van Coellen. Demnach tat Hilger es in vielen Dingen dem Adel gleich. Die Führung eines Reitersiegels belegt dies in eindrucksvoller Weise. Wir müssen die Wahl dieses Siegeltyps eindeutig als eine „Usurpation“ bewerten: Der reiche Hilger setzte sich mit seinem Siegel von den übrigen Bürgern der Stadt Köln ab und stellte sich in einem Siegeltyp dar, der eigentlich dem Hochadel vorbehalten war. Gemildert wird dieser Akt der Selbsterhöhung nur durch die vergleichsweise geringe Größe des runden Reitersiegels, das mit ca. 4,2 cm im Durchmesser allerdings die Siegel der anderen Kölner Bürger deutlich übertraf. Das letzte Beispiel zeigt einerseits, daß Siegeltyp und Siegelgröße immer in einem engen Zusammenhang zu sehen sind und immer dann, wenn sie nicht den Konventionen ihrer Zeit folgen, besonders aussagekräftig hinsichtlich der Intentionen des Auftraggebers sind. Allein schon aus diesem Grunde sollte der Größe und Typenwahl mehr Aufmerksamkeit als bisher geschenkt werden.
„Usurpationen“ anderer Art in der Siegelpraxis Das Thema „Usurpation“ im Siegelwesen hat noch weitere Facetten, die hier aber nicht behandelt werden. Es mag der Hinweis auf zwei spektakuläre Beispiele genügen: im byzantinischen Bereich die Usurpation des dem Kaiser vorbehaltenen Rechtes, in Gold zu siegeln, durch einen Despoten von Epirus (kurz vor 1318)56 und die Usurpation von Titeln in der Umschrift des ersten Reitersiegels Rudolfs IV. von Österreich, was dazu führte, daß dieser auf dem Reichstag von Eßlingen (1360) dazu gezwungen wurde, auf die bezüglich der Pfalz, Schwabens und des Elsaß erhobenen Titel zu verzichten und den Siegelstempel bis Weihnachten 1360 unbrauchbar zu machen.57
56 Werner Seibt, Artikel „Siegel“, XII. Byzanz, in Lexikon des Mittelalters VII (1995), Sp. 1858. 57 Vgl. Toni Diederich (wie Anm. 22), S. 159. Ursula Begrich, Die fürstliche „Majestät“ Herzog Rudolfs IV. von Österreich. Ein Beitrag zur Geschichte der fürstlichen Herrschaftszeichen im späten Mittelalter, phil. Diss., Wien 1965, S. 19, bemerkt zu dem auch in Größe und Ikonographie überaus anspruchsvollen Siegel: „Das Siegel ist der erste sichtbare Ausdruck der neuverstandenen fürstlichen ‚Majestät‘.“
VII. Ohne feste Regeln und Konventionen: Beobachtungen zur Frühzeit der Siegelpraxis Das Thema des vorliegenden Beitrags ist, soweit ich sehe, in der bisherigen Literatur nur mit beiläufigen Bemerkungen bedacht worden. Wenn ich hier einige Beobachtungen zur frühen Siegelpraxis im abendländischen Mittelalter, das im Zentrum unseres Interesses steht, zusammenstelle, so geht es mir weniger um die einzelnen siegelkundlichen Phänomene als um die Schlußfolgerungen, die sich uns im Hinblick auf Erkenntnisgewinnung und methodisches Vorgehen aufdrängen.
Erkenntnistheoretische und methodische Zweifel an unserer Forschungsarbeit Dieses Hauptziel vor Augen, müssen wir uns eingestehen, daß wir uns wie in anderen Teilbereichen historischer Forschung durch das Studium einschlägiger Literatur und gegebenenfalls auch durch die Suche, Kritik und Interpretation von Quellen einen Wissensfundus verschaffen, der es uns als möglich erscheinen läßt, ausgehend von dem, was wir als Historiker verinnerlicht haben, in bestimmten Fragen zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Der angesprochene Wissensfundus, so wird man einräumen müssen, setzt sich aus der Wahrnehmung – die Philosophie spricht ihrerseits von Perzeption – vieler Tatsachen, Phänomene und Thesen zusammen, die wir den Forschungen anderer oder auch eigener Forschungsarbeit verdanken. So entwickeln wir, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, eine Vorstellung, wie die Dinge gewesen sind oder gewesen sein könnten. Hier sollten nun aber unsere erkenntnistheoretischen und methodischen Zweifel einsetzen: Entsprechen unsere Vorstellungen auch immer der historischen Wahrheit? Auch wenn sich „historische Wahrheit“ letztlich nicht voll erfassen läßt und wir uns, sofern es nicht um ein reines Faktum, sondern um tieferes Verständnis geht, ihr nur in einem bestimmten Maße annähern können, ist doch immer zu fragen, ob unsere Wahrnehmungen und die daraus entwickelten Vorstellungen eine ausreichende Basis für die Gewinnung neuer Erkenntnisse bil-
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den können. Gerade wenn wir uns intensiver und vielleicht über Jahre hinweg mit einer Materie befaßt haben, verdichten sich die gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisse zu einem Gesamtbild, das, obwohl niemals festgelegt, weil im Prinzip dem Zustrom neuer Wahrnehmung unterworfen, in seinem temporären Zustand Ausgangspunkt jeweiliger Forschungsarbeit ist.
Die Gewinnung historischer Erkenntnisse – ein ständig fortschreitender Prozeß Diese Forschungsarbeit und die daraus gewonnenen neuen Ergebnisse sind, wie wir durch unzählige Beispiele wissen, in aller Regel nicht endgültig. Forschungen, auch solche zu demselben Gegenstand, gehen weiter, oft mit dem neuen, vermeintlich sicheren Resultat, daß damit die Ergebnisse früherer Forschungen überholt seien. Theodor Schieffer (1910–1992), mein Prüfer im Staatsexamen, hat das einmal in der ihm eigenen Art auf die Formel gebracht: „Der Letzte hat immer recht.“ Da der Letzte, der sich geäußert hat, nicht sicher sein kann, der Letzte zu bleiben, und er, sobald sich ein anderer erneut über denselben Gegenstand ausläßt, an die vorletzte Stelle rückt, könnte man als Historiker von erheblichen Selbstzweifeln gepackt werden, weil das, was etwa die Scholastik seinerzeit als „Wahrheit“ definiert hat, die adaequatio intellectus cum re, in der Geschichtsforschung offenbar nicht erreichbar ist.
Feste Denkmuster als Hindernis für die Gewinnung neuer Erkenntnisse Wir brauchen die Aporie nicht aufzulösen und können uns hier mit dem Hinweis auf die oben angeführte Formel von der Annäherung an die historische Wahrheit und mit dem Hinweis auf das Bemühen des Historikers, geschichtliche Fakten, Ereignisse und Prozesse einigermaßen zu verstehen, begnügen. Dies alles vorausgesetzt, wiegt der methodische Aspekt, daß wir uns nämlich oft genug keine ausreichende Wissensbasis verschaffen und in einem Anflug von „trägem Denken“, wie es José Ortega y Gasset einmal genannt hat, unsere Vorstellungen aus gleichförmigen (und allzu oft unvoll-
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ständigen) Wahrnehmungen entwickeln, schwerer. Wir sind dann geneigt, Denkmuster zu entwickeln und mit ihnen zu operieren, ohne irgendwelchen Phänomenen, die sich diesen Mustern nicht ohne weiteres einordnen lassen, nachzugehen und unsere Vorstellungen zu korrigieren. Ein häufig anzutreffendes Denkmuster besteht darin, daß man Vorstelllungen, die aus dem Spätmittelalter mit seinen reicher fließenden Quellen auf breiter Grundlage gewonnen wurden, auch auf frühere Zeiten bezieht, ja geradezu transponiert. Dies geschieht, um zwei Beispiele zu nennen, welche auch siegelkundliche Fragen berühren, etwa dadurch, daß man den aus Jahrhunderten vertrauten Interessengegensatz zwischen dem Bischof und seinem Domkapitel wie auch den zwischen Stadtherr und Stadtgemeinde auf die Frühzeit, als dieser Interessengegensatz noch gar nicht bestand, überträgt, dabei aber außer acht läßt, daß der Bischof ursprünglich für die Klerikergemeinschaft an seiner Kathedrale gesorgt hat und ein Stadtherr seiner Stadtgründung zum Erfolg verhelfen wollte, die Stadtgemeinde ihm in dieser Phase also ein förderungswürdiger Partner, nicht Gegner und Konkurrent des eigenen Machtanspruchs, gewesen ist. Das Problem, in Denkmuster zu verfallen, stellt sich wegen der ungeheuren Zahl überlieferter Siegel und wegen der vordergründig als recht gleichförmig erfahrenen Siegelpraxis des gesamten Okzidents für den Siegelforscher in besonderem Maße. Allein schon um die sich aus der Stoffülle ergebenden Wahrnehmungen zu bewältigen, sind wir geneigt, sie gleichsam in Schubladen unterzubringen und sie dort bei Bedarf herauszuholen. Daß ein solches Schubladensystem mit seinen starren Abgrenzungen problematisch ist, will ich zumindest mit der Frage andeuten, ob im Einzelfall eine Wahrnehmung denn wirklich in der richtigen Schublade untergebracht ist und nicht besser in eine andere Schublade gehörte. In jedem Falle stehen die Schubladen mit ihren festen Wänden einer differenzierenden, subtilen Betrachtung entgegen.
Fragwürdige Denkmuster in der Siegelforschung: ein Beispiel Ich will diese abstrakt anmutende Argumentation mittels eines Beispiels verdeutlichen, das mir sehr signifikant erscheint. Kein Geringerer als RobertHenri Bautier (1922–2010), dem die Sphragistik so viel verdankt, hat in seiner großen Überblicksdarstellung „Le cheminement du sceau et de la
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bulle des origines mésopotamiennes au XIIIe siècle occidental“1 das mittelalterliche Siegelwesen in Europa in zwei Schubladen untergebracht, indem er als Ereignis von großer Bedeutung herausstellte: „la c o u p u r e de l’Europe en deux zones, l’une demeurant fidèle à la bulle métallique d’origine hellénistique et reprise par Byzanze, et l’autre ayant adopté l’empreinte de cire, en usage chez les Mérovingiens et les Carolingiens. S c i s s i o n fondamentale qui ne fait que concrétiser un phénomène qui se manifeste en tant d’autres aspects de la civilisation, une E u r o p e d u M i d i et une E u r o p e d u N o r d.“2 Natürlich war es Bautier, der ja das Material überblickte, nicht entgangen, daß es seit der Karolingerzeit auch im Norden Bleibullen bei Herrschern und einzelnen Bischöfen3 gegeben hat. Dasselbe gilt für Bautiers Kenntnis der Tatsache, daß Wachssiegel auch in Spanien, Südfrankreich und Italien verbreitet waren. Die von Bautier behauptete Spaltung („Coupure“, „scission“) in ein nördliches Wachssiegeleuropa und ein südliches Metallbulleneuropa4 ist also unsinnig und wider besseres Wissen konstruiert. Man könnte allenfalls von einer festen Metallbullentradition im byzantinischen Bereich sprechen, die im übrigen nicht ganz ohne Einfluß auf das Siegelwesen im Okzident gewesen ist. Fragwürdig erscheinen mir z. T. auch die Begründungen, die Bautier für seine Nord-Süd-Zweiteilung liefert: außer der langen hellenistischen Tradition nämlich die Bleiarmut im Frankenreich5
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Robert-Henri Bautier, Le cheminement du sceau et de la bulle des origines mésopotamiennes au XIIIe siècle occidental, in: Revue française d’héraldique et de sigillographie 54–59 (1984–1989), S. 41–84, wonach im folgenden zitiert wird. Wiederabdruck in: Robert-Henri Bautier, Chartes, sceaux et chancelleries. Études de diplomatique et de sigillographie médiévales (Mémoires et documents de l’École des Chartes 34), Bd. 1, Paris 1990, S. 123–166. Ebenda, S. 53 (Hervorhebungen von mir, T. D.). Erzbischof Pilgrim von Köln (1021–1036) führte sogar zwei verschiedene Bleibullen nacheinander, während ein Wachssiegel von ihm nicht belegt ist. „L’Europe du sceau de cire et l’Europe de la bulle métallique“, so die Überschrift zu dem einschlägigen Kapitel bei Robert-Henri Bautier (wie Anm. 1), S. 53. Daß Blei auch im Norden zu beschaffen war und auch in ansehnlichen Mengen verwendet wurde, zeigt sich im kirchlichen Bereich, vor allem im Baubetrieb (Bleidächer, Glasfenster), aber auch bei Särgen, Inschriftenplatten und Altarsepulchren, ja selbst bei Wallfahrtsplaketten, wie sie z. B. in Rocamadour in großen Stückzahlen hergestellt wurden, nicht zu reden von den im Handel verwendeten zahlreichen Tuchplomben aus Blei.
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und die Klimaverhältnisse (unzuträgliche Wärme im Süden)6. Auch der nach Bautier wichtigste Grund für die Verbreitung der Metallbulle im Mittelmeerbecken, die Tatsache, daß die Bullierung das normale Verfahren im byzantinischen Reich war, kann nur eingeschränkt akzeptiert werden.7
Die Siegelpraxis in Früh- und Hochmittelalter: noch ohne feste Regeln und Konventionen Richten wir nunmehr den Blick auf die Anfänge der Siegelpraxis, sagen wir des Früh- und Hochmittelalters8, im Okzident, so zeigt sich, daß die zunächst spärlichen, mehr oder weniger zufällig erhaltenen Zeugnisse kein einheitliches und schon gar kein vollständiges Bild ergeben. Nachfolgend sollen einige Phänomene beschrieben werden, welche nicht unbedingt der später eingespielten und mancherlei Gesetzen unterworfenen Siegelpraxis entsprechen. Daß es in der Frühzeit noch keine festen Regeln und Konventionen gab, vieles noch tastend und experimentierend war, sich teils als Wildwuchs ohne Nachfolge, teils aber auch als Vorbild und Ausgangspunkt für eine Traditionsbildung erwies, kann eo ipso unterstellt werden. Ich will das auch keineswegs als eine grundlegende neue Erkenntnis hochstilisieren. Vielmehr geht es mir darum, einige Fakten vorzuführen und diese dem Ver6
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Hier bleibt völlig außer acht, daß es doch bekannt und üblich war, dem Bienenwachs diverse andere Stoffe beizumischen, um dem Siegelabdruck eine größere Härte und u. U. auch die gewünschte Farbe zu verleihen. Robert-Henri Bautier (wie Anm. 1), S. 53, sei hier ausführlich zitiert: „Une autre cause tient certainement aux ressources propres du monde occidental: le plomb n’était pas exploité dans le royaume franc, il devait y être importé à grands frais de l’Angleterre, tandis que le monde méditerranéen pouvait être alimenté par les mines de plomb des Balkans, de la Sardaigne et de l’Espagne. – Une autre explication peut encore être avancée, cette fois proprement climatique; la cire ne convient pas aux pays chauds; elle a tendance à se ramollir sous l’effet de la chaleur et à se déformer, les pièces risquant même de coller les unes sur les autres... – Mais la cause essentielle de l’adoption de la bulle de métal dans le bassin méditerranéen est que le bullement des actes était le système normalement en usage dans l’empire byzantin.“ Die Problematik einer solchen Zäsur sehe ich durchaus, denn sie liegt z. T. deutlich vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, mit der man gemeinhin das Spätmittelalter beginnen läßt. Die Termini Früh-, Hoch- und Spätmittelalter sollen in dem vorliegenden Beitrag nur einen groben Orientierungsrahmen geben.
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ständnis zu erschließen, um am Ende zu allgemeinen Schlußfolgerungen zu gelangen, welche über die eingangs erwähnten erkenntnistheoretischen und methodischen Erwägungen hinausreichen. Wir sollen letztlich befähigt und animiert werden, unser erwähntes Schubladendenken aufzugeben und in jeder Hinsicht offen zu werden für eine Interpretation des Einzelsiegels auf der Grundlage seiner spezifischen Voraussetzungen.
Siegelungstechniken – Diskrepanzen zwischen Lehrbuch und Wirklichkeit Das Fehlen fester Regeln und Konventionen läßt sich in vielerlei Hinsicht beobachten. Für die Art der Siegelbefestigung und Siegelprägung, d. h. die Siegelungstechnik, hat Heinrich Meyer zu Ermgassen, der langjährige Leiter des 1928 von Edmund E. Stengel begründeten Forschungsinstituts „Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden bis 1250“ in Marburg, unter Auswertung der dort erfaßten rd. 14.000 Urkunden eine ansehnliche Zahl unterschiedlicher „Normabweichungen“ beschrieben und z. T. mit Abbildungen ad oculos demonstriert.9 Ermgassens Beobachtungen sind deshalb so aussagekräftig und für unsere Fragestellung von Interesse, weil er nahezu das komplette Material für das gesamte Reich überblickte, so daß er auch statistische Auswertungen vornehmen konnte. Listen die siegelkundlichen Handbücher seit Hermann Grotefend bezüglich der Siegelbefestigung „aufgedrückte“, „durchgedrückte“, „eingehängte“, „abhangende“ und „angehängte“ (= „anhängende“) Siegel auf, so legt Meyer zu Ermgassen zahlreiche Sonderformen vor, die, wenn man von der „Norm“ ausgeht, z. T. kurios erscheinen mögen. Eine große Varietät beobachtete er z. B. für die „Siegelstellen“, d. h. die Plätze auf dem Urkundenblatt, die für die Besiegelung vorgesehen waren. Neben ungewöhnlicher Positionierung der Siegelabdrücke und ungewöhnlicher Prägung – „normalerweise“ steht die vertikale Bildachse des Siegels aufrecht und im rechten Winkel zum Zeilenverlauf – gibt es zahlreiche Siegel mit ungewöhnlicher Richtung des Siegelbildes, d. h. geneigte oder kopfstehende Bilder. 9
Heinrich Meyer zu Ermgassen, Siegel aus dem Lot. Beobachtungen über unübliche Siegelbefestigung und Siegelprägung, in: Peter Rück (Hrsg.), Mabillons Spur, Marburg 1992, S. 321–364.
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Welche Sonderformen bzw. „Normabweichungen“ auch bei hochrangigen Sieglern, denen man nicht einfach Unkenntnis oder bewußte Exzentrik unterstellen kann, vorkommen, zeigen die von Ermgassen ausgewählten Abbildungen. Ich führe hier nur einige Beispiele an: zunächst die „Mischform zwischen abhängendem und angehängtem Siegel“ (Abt von Cluny, [1135– 1153]). Hier wurde das Pergamentblatt an der unteren Seite (unter der letzten Zeile) so genutzt, daß ein als Pressel dienender senkrechter Streifen stehenblieb, links und rechts davon aber das gesamte Pergament weggeschnitten wurde, ein recht aufwendiges Verfahren, bei dem relativ viel von dem kostbaren Pergament „verschenkt“ wurde. Weiterhin: „Durchgedrücktes Siegel in Teilplica schräggestellt“ (Bischof von Hildesheim, 1201), „Siegel rückwärts eingehängt durch Plica, Prägung um 90° geneigt“ bzw. „um 180° gedreht“ (Erzbischof von Salzburg, 1163 und 1169) und schließlich „Durchgedrücktes Majestätssiegel kopfstehend“ (Heinrich IV., 1071). Meyer zu Ermgassen hat kurz zusammengefaßt, wie solche Phänomene i. a. gesehen werden: „Was von der Norm unserer Handbücher abweicht, erscheint leicht als ‚verkehrt‘.“10 Wilhelm Erben sprach von „Flüchtigkeiten“ bzw. „Versehen“, Wilhelm Ewald ebenfalls von „Flüchtigkeiten“.11 Wir können hinzufügen: Es sind die Handbücher bzw. unsere Gelehrten, welche die Regeln und Normen formulieren und insoweit in das oben erwähnte Schubladendenken verfallen. Die Wirklichkeit selbst sieht, zumindest für die Frühzeit des Siegelwesens, anders aus. Die Siegelpraxis ist so vielfältig, daß es unangemessen wäre, ihr feste Regeln zu unterstellen. Erst später können wir von Konventionen und eingespielten Gewohnheiten sprechen, vor deren Hintergrund die nicht selten vorkommenden Ausnahmen zu betrachten und zu werten sind.
Eine frühe „Eigenlösung“: die Augsburger Doppelbesiegelung Eine von Meyer zu Ermgassen erwähnte Abweichung von der gängigen Siegelpraxis kann sozusagen als Kronzeuge für die Richtigkeit unserer Überlegungen aufgeboten werden. An einer Urkunde des Bischofs Hermann von Augsburg aus dem Jahre 1130 befindet sich ein Siegel, das formal und auf 10 Ebenda, S. 324. 11 Ebenda, S. 324 und 333.
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den ersten Blick als gewöhnliches Münzsiegel erscheinen mag, in Wirklichkeit aber eine Art „Doppelsiegel“ ist. Es besitzt nämlich auf der Vorderseite einen Abdruck von dem Typar des Augsburger Domkapitels und auf der Rückseite einen Abdruck von dem Typar des Bischofs Hermann von Augsburg.12 „Normalerweise“ hätten beide, Domkapitel und Bischof, die Urkunde mit einem eigenen, selbständigen Siegel beglaubigt. Statt nun zwei selbständige Siegel herzustellen und nebeneinander an der Urkunde anzubringen, wirken beide Siegelführer hier in einer Weise zusammen, die für jedermann erkennbar ihren Konsens demonstriert. Wer wollte unterstellen, daß es sich bei dieser Doppelbesiegelungstechnik von Domkapitel und Bischof um ein „Versehen“ oder eine „Flüchtigkeit“ handelt? Daß man hier bewußt eine Eigenlösung gewählt hat, geht daraus hervor, daß nachfolgend zwei weitere Urkunden des Bischofs Walther von Augsburg dieselbe Doppelbesiegelung aufweisen.13 Da auch nach Bischof Walther noch Urkunden mit solcher Doppelbesiegelung – die Siegel sind dort nicht mehr durchgedrückt, sondern angehängt, was für uns allerdings unerheblich ist –, vorkommen14, kann man schon fast von einer eigenständigen Augsburger Doppelbesiegelungstechnik sprechen. Der Fall der Urkunde des Kanonissenstiftes Gerresheim aus der Zeit von 1167 bis 1188, den Meyer zu Ermgassen als zweites Beispiel anführt, liegt völlig anders. Das dort angebrachte Siegel mit dem ältesten Gerresheimer Siegel auf der Rückseite weist auf der Vorderseite kopfstehend einen vertieft eingedrückten Kruzifixus auf, der von einem „erhabenen medaillenförmigen Gegenstande“15 stammen muß. Er dürfte im Besitz des Stiftes gewesen sein, das sich seiner in frommer Anwandlung bediente, vielleicht um dem eigenen Siegel noch größere Autorität zu verleihen.16 12 Ebenda, S. 334 f. 13 Vgl. Thomas Michael Krüger, Siegel des Augsburger Domkapitels, S. 242 f., wo das Phänomen der Doppelbesiegelung bischöflicher Urkunden näher beschrieben und einleuchtend als „Zeichen der Zustimmung durch das Domkapitel“ gedeutet wird. 14 Ebenda, S. 243. 15 Edith Meyer-Wurmbach, Textband (1. Halbband) zu Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel IV, S. 16 (zu Tafel 5 Nr. 9). 16 Es sei an dieser Stelle festgehalten, daß mir die besagte Urkunde während meiner Dienstjahre im Stadtarchiv Köln von dem damaligen Oberverwaltungsdirektor der Sporthochschule Köln, Dr. iur. Wilhelm Schwarz, mit der Bitte vorgelegt wurde, ihm etwas über Datierung und Inhalt der Urkunde zu sagen. Dr. Schwarz, der an sich Autographen sammelte, hatte die Urkunde gutgläubig auf einem Flohmarkt in
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Das Fehlen fester Kanzleien als Erklärung für die Vielfalt der Siegelpraxis Sieht man von der Kanzlei des Reiches ab, so wird man für den hier betrachteten Zeitraum bei den meisten anderen Urkundenausstellern noch kaum von einer „an einem bestimmten Ort angesiedelten Behörde mit festem Personal, hierarchischer Struktur und geregeltem Geschäftsgang“17 sprechen können. Daraus erklären sich die sehr unterschiedlichen und vor allem die von Meyer zu Ermgassen zusammengestellten „ungewöhnlichen“ Siegelanbringungsarten. Ihnen können noch die verschiedenen Befestigungsmittel, die Ermgassen nicht eigens untersucht hat, an die Seite gestellt werden. Neben den Pergamentpresseln, Schnüren und Kordeln wären vor allem Lederriemen zu nennen, deren Verwendung nicht allein dafür herhalten kann, die Echtheit eines Siegels oder gar der Urkunde in Zweifel zu ziehen. Schon Hermann Grotefend hatte seinerzeit (1875) festgestellt, daß „Lederstreifen“ sich vornehmlich in der Zeit des beginnenden Anhängens von Siegeln „in den Rheingegenden“
Köln erworben. Mir war, da ich in meiner Eigenschaft als Stellv. Schriftführer der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde Frau Dr. Meyer-Wurmbach beim Druck der Textbände zu Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel IV, betreut und die Besonderheit der Gerresheimer Besiegelung in Erinnerung hatte, sofort klar, daß es sich um die Urkunde Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Gerresheim 8, handeln müsse. Ich habe daraufhin unverzüglich das genannte Archiv angerufen, das nach einer halben Woche reagierte und die Kriminalpolizei einschaltete. Dadurch wurde ein umfangreicher Urkundendiebstahl durch einen Elektriker aufgedeckt, der im damals schon bezogenen neuen Düsseldorfer Archivgebäude (Mauerstr. 55) offenbar unbeaufsichtigt Restarbeiten ausgeführt und zwischenzeitlich schon etliche Urkunden auf dem Flohmarkt verkauft hatte. 17 Manfred Groten, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Köln vom 9. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, in: Christoph Haidacher, Werner Köfler (Hrsg.), Die Diplomatik der Bischofsurkunde vor 1250 – La diplomatique épiscopale avant 1250 (Referate zum VIII. Intern. Kongreß für Diplomatik, Innsbruck 1993), Innsbruck 1995, S. 104, mit Bezug auf die Verhältnisse in Köln. Von einem „gering entwickelten Kanzleiwesen“ spricht auch Thomas Michael Krüger (wie Anm. 13), S. 243, mit Bezug auf Augsburg. Hans Fuhrmann, Das Urkundenwesen der Erzbischöfe von Köln im 13. Jahrhundert (1238–1297) (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 33), Siegburg 2000, S. 54, benutzt den Kanzleibegriff „als diplomatische Hilfskonstruktion“.
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finden. Aber auch von Heinrich II. sind z. B. zwei Diplome aus dem Jahre 1003 erhalten, deren Bullen an Lederriemen anhängen.18
Weitere „Eigenlösungen“ in der Siegelpraxis Die gleichzeitige Verwendung von Blei- bzw. Goldbullen und Wachssiegeln an den Urkunden der deutschen Könige und Kaiser mag hier unerörtert bleiben, weil dies bei ihnen eher „normal“ war. Für die Führung von Bleibullen durch einzelne Reichsbischöfe gab es sicherlich jeweils besondere, im einzelnen zu untersuchende Gründe.19 Daß es wegen des Fehlens fester Regeln in der Siegelpraxis zu manchen Eigenlösungen, ja „Innovationen“ kam, wird nach allem nicht überraschen. Ohne über die Gründe spekulieren zu wollen, seien einige auffällige Tatsachen angeführt. Das älteste erhaltene Siegel eines englischen Königs stammt von Eduard dem Bekenner (1042–1066). Es ist nach der später verbreiteten Art des abhangenden Siegels an zwei (!) Pergamentstreifen befestigt, die durch lange Schnitte am unteren Urkundenrand entstanden.20 Wichtiger als diese Eigentümlichkeit ist aber, daß das von ca. 1050 stammende Siegel auf der Vorder- und Rückseite einen Abdruck von demselben (!) Typar aufweist. Wir haben es hier also mit einem frühen sog. Münzsiegel zu tun. Im Gegensatz zu den späteren Münzsiegeln, die auf Avers und Revers unterschiedliche, sich oftmals auch inhaltlich ergänzende Prägungen aufweisen, wurde im vorliegenden Falle also derselbe Stempel mit dem Motiv des thronenden Königs für beide Seiten des Siegels benutzt.21 Das ist völlig neu gegenüber 18 Belege bei Toni Diederich, SANCTA COLONIA, S. 21 Anm. 90. 19 Vgl. Rainer Leng, Bleibullen an deutschen Bischofsurkunden des 11. Jahrhunderts, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 56 (2010), S. 273–316. Für Pilgrim von Köln habe ich eine umfangreiche Abhandlung (vgl. vorstehende Anm.) vorgelegt. 20 Vgl. T. A. Heslop, Seals, S. 301 mit Abb. 328. 21 Ich folge hier den Angaben von Heslop. Wie die von ihm publizierte Abbildung erkennen läßt, ist das Siegel schlecht erhalten. Wolfgang Hilger, Die Entwicklung des Majestätssiegels im Mittelalter, masch. Hausarbeit am Institut für österreichische Geschichtsforschung, Wien 1968, S. 38 f., will bei den beiden Königsfiguren auf Vorder- und Rückseite Unterschiede bezüglich ihrer Attribute erkennen, die er auch beschreibt. Jeder, der häufiger verschiedene, schlecht ausgeprägte oder schlecht
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der vorangehenden Siegelpraxis, ob man nun die zweiseitigen Bullen der deutschen Kaiser und Könige oder die Bullen im byzantinischen, süditalienischen oder päpstlichen Bereich heranzieht. Die großen Wachssiegel der deutschen Herrscher, die sich weiterhin zum Vergleich anbieten, waren in damaliger Zeit einseitig geprägte Thronsiegel (Majestätssiegel). Auch das erste Thronsiegel eines französischen Königs, das Heinrichs I. (1031–1060), präsentiert sich als einseitiges Siegel. Kann man also unterstellen, daß die ersten Siegel der englischen Könige, was den Typ angeht, den älteren Vorbildern auf dem Festland folgten, so ist die Siegelumschrift + SIGILLVM EADWARDI ANGLORVM BASILEI wiederum ganz eigenständig, weil hier erstmalig (und zugleich letztmalig) das griechische Wort Basileus zur Bezeichnung des Königs erscheint. Das Siegel Eduards des Bekenners wurde zum Vorbild für seine Nachfolger Wilhelm den Roten (1087–1100) und Heinrich I. (1100–1135), die ebenfalls ihre Siegel mit demselben Stempel auf Vorder- und Rückseite herstellten, allerdings den „Basileus“ durch „Rex“ ersetzten.22 In der Folge, seit Stephan (1135–1154), gingen die Könige von England dazu über, die Vorderseite als Majestätssiegel, die Rückseite als Reitersiegel zu gestalten.23 Diesem Beispiel folgte in Frankreich bald, aber auch als einziger, König Ludwig VII. (1137–1180)24, während später der Typ des Reitersiegels als (einseitiges) „Sceau ante susceptum“, d. h. als Siegel des Thronfolgers vor seinem Regierungsantritt, benutzt wurde. In Schweden hingegen hat, soweit wir wissen, erstmals König Karl Sverkersson (1161–1167) ein Siegel geführt und dabei das Münzsiegel der englischen Könige mit dem Majestäts- und dem Reitersiegeltyp nach-
erhaltene Exemplare desselben Siegels zu vergleichen hatte, weiß, welche Zweifel und Unsicherheiten aufkommen. (In meiner Referendarzeit am Hauptstaatsarchiv Düsseldorf erzählte mir der als Urkundenexperte ausgewiesene Kollege Dr. Erich Wisplinghoff, er habe auf einem schlecht erhaltenen Siegel im Feld einen Hund erkannt, dann aber sicherheitshalber den als Hausheraldiker tätigen Kollegen Dr. Wilhelm Stüwer befragt, der ihm erklärte, er sehe im Siegelfeld einen Adler.) Sollten die Beobachtungen von Hilger, die ich nicht nachprüfen konnte, zutreffen, wäre die Bewertung des Siegels in unserem Zusammenhang nur geringfügig zu modifizieren. 22 T. A. Heslop (wie Anm. 20), S. 302 mit Abb. 329 und 330. 23 Ebenda, S. 303 ff. mit Abb. 331–335. 24 Martine Dalas, Corpus des sceaux français du moyen âge, S. 146 f.
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geahmt.25 Die Münzsiegel wurden danach fester Bestandteil der königlichen Siegelpraxis in Schweden; allerdings mit dem Unterschied, daß später auf der Rückseite Wappendarstellungen dominierten.26 Die angeführten Beispiele zeigen sehr schön, daß ein frühes, sehr eigenständiges Siegel teils gänzlich ohne Nachfolge blieb (Basileus-Titel), teils aber auch nachgeahmt und nach weiterer Variation indirekt traditionsstiftend wurde. Demgegenüber handelt es sich bei dem erstmals 1146 belegten Siegel des Königs Alfons VII. von Leon und Kastilien (1126–1157) – es ist das älteste erhaltene spanische Siegel überhaupt – um ein einseitiges Majestätssiegel.27
Aufkommen spitzovaler Siegel – Lehrbuch und Wirklichkeit Wilhelm Ewald behauptete in seiner „Siegelkunde“, daß es spitzovale Siegel seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gegeben habe.28 Tatsächlich aber kommen sie vereinzelt schon viel früher vor, so bei dem zweiten König aus dem Hause der Kapetinger, Robert II. von Frankreich (996–1031)29, und bei der Königin Mathilde von England (1100–1118), deren Schwägerin Cäcilia, Äbtissin von Ste-Trinité in Caen, ebenfalls ein spitzovales Siegel führte.30 Solch frühe spitzovale Siegel wären nach der Lehre der Handbücher nicht zu erwarten, schon gar nicht das allererste Vorkommen bei einem König. Im Handbuch von Erich Kittel heißt es dazu: „Auch in der älteren Zeit wurden gern gewisse Siegelformen für besondere Siegelarten und bei bestimmten Sieglergruppen verwandt, so ... spitzovale Siegel bei geistlichen Würdenträgern.“31
25 H. Fleetwood, Svenska medeltida kungasigill I, Stockholm 1936, S. 9–13, Abb. Fig. 1 und 2. 26 Ebenda, Fig. 26 ff. 27 Faustino Menéndez-Pidal de Navascués, Apuntes de sigilografía española, S. 32 mit Abb. eines Abdrucks von 1153. 28 Wilhelm Ewald, Siegelkunde, S. 180. 29 Martine Dalas (wie Anm. 24), S. 140. Die Echtheit dieses Siegels ist wohl nicht zu bestreiten. 30 T. A. Heslop (wie Anm. 20), S. 305. 31 Erich Kittel, Siegel, S. 187.
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Ohne feste Regeln und Konventionen:
Ungewöhnlich große Siegel in der Frühzeit der Siegelpraxis Daß für die Siegelgröße in der Frühzeit der Siegelpraxis noch keine festen Regeln und Konventionen bestanden, ließe sich an vielen Beispielen zeigen. Hier wie in der Blütezeit des Siegelwesens wäre nach Stand und Stellung der Siegelführer – zudem auch in zeitlicher Hinsicht – zu differenzieren. Auch für das Spätmittelalter und die nachfolgende Zeit muß man trotz bestehenden Konventionen mit vielen Ausnahmen rechnen, weil sich einzelne Siegelführer über die ungeschriebenen Gesetze hinwegsetzten. Da ich mich in dem vorangehenden Beitrag näher mit der Frage der Siegelgröße beschäftigt habe, mögen hier v. a. die in dieser Hinsicht außergewöhnlichen ältesten Stadtsiegel von Köln, Mainz und Trier in Erinnerung gerufen werden. Ungewöhnlich groß ist auch eines der ältesten Damensiegel, das der Pfalzgräfin Adelheid aus dem Hause Orlamünde, Gattin des Pfalzgrafen Heinrich, aus dem Jahre 1097. Ihr Siegel hat einen Durchmesser von 8,2 cm.32 Es übertrifft damit die Siegel aller deutschen Könige und Kaiser bis einschließlich Heinrich III. (1039–1056). Erst unter Heinrich IV. (1056–1106) und seinen Nachfolgern sind die Herrschersiegel gleich groß oder geringfügig größer. Deutlich kleiner sind bis um 1100 auch die Siegel der Könige von Frankreich, wo erst das Siegel Ludwigs IX. (1226–1270) einen Durchmesser von 8,2 cm erreichte.33
Typenvielfalt in der Frühzeit der Siegelpraxis Die hier zum Vergleich herangezogenen Siegel der Kaiser und Könige gehören zum Typ des Thronsiegels (Majestätssiegels), der auch bei den Herrschersiegeln in anderen Ländern dominierte. Man trifft daher häufig auf die Ansicht, das Siegelwesen der Herrscher sei sehr konservativ gewesen, sicherlich eine richtige Einschätzung, wenn man „konservativ“ auf den Siegeltyp, nicht aber auf den künstlerischen Stil bezieht. Nachdem Otto III. 997/998 erstmals ein Thronsiegel benutzt hatte, wurde dieser Typ „seit 1003 im römisch-deutschen Imperium das Herrschersiegel schlechthin.“34 Demgegen32 Rainer Kahsnitz, Die Gründer von Laach und Sayn. Fürstenbildnisse des 13. Jahrhunderts (Ausstellungskatalog), Nürnberg 1992, S. 89 f. mit Anm. 192 auf S. 209. 33 Martine Dalas (wie Anm. 24), S. 156. 34 Hagen Keller, Ottonische Herrschersiegel, S. 31.
Beobachtungen zur Frühzeit der Siegelpraxis
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über erweist sich das Siegelwesen der vorausgehenden Zeit, eben der Frühzeit des Siegelwesens im Abendland, hinsichtlich der vorkommenden Typen als ausgesprochen vielfältig. Man kommt dann zwangsläufig zu dem Schluß, daß am Anfang noch vieles unreglementiert war. Dasselbe gilt auch, wenn man die Details betrachtet, für die Frühzeit der Bischofssiegel. Obwohl bei ihnen schon früh – aus naheliegenden, an anderer Stelle erörterten Gründen – das Bildnissiegel vorherrschte, gab es doch einzelne Erzbischöfe, die mit der Darstellung eines Erzbischofs in der Mitte einer Dreipersonengruppe eine eigene Ikonographie entfalteten35 oder sich mit der Führung einer Bleibulle in eine andere Siegeltradition stellten und die Rückseite der Bulle auch zu unterschiedlichen Aussagen benutzten: Hatto II. von Mainz (968–970) mit der Verwendung des in Byzanz verbreiteten Namenssiegeltyps, Pilgrim von Köln (1021–1036) mit einem völlig eigenständig konzipierten Symbolsiegel. Eine singuläre, sich von allen im Reich bekannten Lösungen unterscheidende Gestaltung hat auch die Bleibulle Erzbischof Liemars von Bremen (1072– 1101), welche direkt an byzantinische Vorbilder anknüpft.36
Ausblick auf die Blütezeit des Siegelwesens: neue Siegeltypen, Mischtypen Den bisher vorgetragenen Beobachtungen und Schlußfolgerungen steht nicht entgegen, daß in der Blütezeit des Siegelwesens mit seinen bis dahin entwickelten mannigfachen Konventionen etliche neue Siegeltypen und Mischtypen aufkommen, was besonders bei den Städtesiegeln auffällt. Den Städten ging es weniger darum, durch die Übernahme eines bekannten Siegeltyps die eigene Zugehörigkeit zu einem bestimmten ordo zu dokumentieren, wie dies zuvor bei persönlichen Siegelführern, der Geistlichkeit und dem Adel, der Fall war.37 Vielmehr wollten die Städte im Siegel vornehm-
35 Das gilt für zwei Siegel der Kölner Erzbischöfe Wichfried (924–953) und Bruno (953–965); vgl. Joachim Oepen, Siegel des Kölner Erzbischofs Wichfried, S. 93–121. 36 Vgl. Rainer Leng (wie Anm. 19), S. 294–300 u. 306–308. 37 Brigitte Miriam Bedos-Rezak, Seals and The Medieval Semiotics of Personality, S. 47–64, insbes. S. 64.
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Ohne feste Regeln und Konventionen:
lich ihre Einzigartigkeit („singularity“)38 zum Ausdruck bringen. Franz-Josef Arlinghaus hat das bekräftigt, aber noch etwas differenzierter gesehen, indem er das Bestreben der Städte herausstellte, ihre „,Prominenz‘ und ,Singularität‘ stärker in ihren Siegeldarstellungen zu nutzen“.39 Die von den Städten betriebene individuelle Selbstdarstellung im Siegel wurde zur Regel. Sie gehört zu den vielen Regeln, welche die spätmittelalterliche Siegelpraxis bestimmten.
Imperativ für die künftige Forschung: adäquate Bewertung der Phänomene früher Siegelpraxis Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Die angeführten Beispiele zeigen, daß wir in der Frühzeit mit sehr vielen individuellen, aus heutiger Sicht auch originellen und innovativen Lösungen im Siegelwesen rechnen müssen, die nicht der in den Handbüchern formulierten Lehre entsprechen. Bei der Bewertung von einzelnen Phänomenen der frühen Siegelpraxis sollten wir uns unserer Unsicherheit bewußt sein und uns vor Verallgemeinerungen hüten. Anders als bei uns vertrauten Erscheinungen des Spätmittelalters zwingt uns ein in irgendeiner Hinsicht „ungewöhnliches“ Siegel der frühen Zeit, die Vergleichsbasis zu erweitern und zu klären, ob es noch andere, eventuell sogar noch frühere Siegel gleicher Art gibt, die uns zu einer angemessenen Bewertung des auf den ersten Blick „ungewöhnlichen“ Siegels kommen lassen. Bei dem Bemühen um die Gewinnung einer Vergleichsbasis sind auch spätere Siegel gleicher Art heranzuziehen, weil sich daraus gegebenenfalls die Priorität und in Teilaspekten vielleicht auch Singularität eines Phänomens ergibt. Daß bei alledem generell die Frage der Echtheit zu prüfen ist, soll hier, obwohl selbstverständlich, eigens betont werden. Für die oft historisch wichtige Frage der Datierung eines Siegels sind stets die verschiedenen Merkmale desselben zu prüfen, einige davon vor dem historischen Hintergrund des betreffenden Siegels und seines Auftraggebers. Beim Vergleich wäre auch zu bedenken, daß das Siegel von einem Künstler stammen kann, der seiner Zeit weit voraus oder umgekehrt eher „konservativ“ war, ja vielleicht auch bewußt eine antikisierende Lösung bevorzugte. 38 Ebenda. 39 Franz-Josef Arlinghaus, Konstruktionen von Identität, S. 46.
Beobachtungen zur Frühzeit der Siegelpraxis
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Für alle diese Fälle könnte ich mehrere Beispiele aus der Blütezeit des Siegelwesens anführen40, doch gilt der hier formulierte methodische Imperativ auch für die Siegel des Früh- und Hochmittelalters. Letztlich bilden diese eine eigene Welt, deren Phänomene nur aus den spezifischen Voraussetzungen heraus beurteilt und verstanden werden können. Die Kenntnis der späteren Verhältnisse ist von Vorteil. Man sollte es aber vermeiden, sie auf die Frühzeit der Siegelpraxis zu übertragen. Diese bildet ein noch einigermaßen überschaubares Gebiet der Sphragistik – zweifellos mit einer Reihe eigener Probleme, zu denen vor allem die Lückenhaftigkeit des Materials und die Fälschungen gehören. Die Kenntnis der frühen Siegelpraxis trägt dazu bei, die Phänomene des Spätmittelalters und der Neuzeit besser zu verstehen. Es wäre schön, wenn die in vieler Hinsicht noch unreglementierte Siegelpraxis des Früh- und Hochmittelalters in künftigen Handbüchern, auch wenn diese notwendigerweise vereinfachen müssen, stärker berücksichtigt würde.
40 Ich beschränke mich auf jeweils ein Beispiel. Seiner Zeit voraus: gotisches Siegel der Stadt Köln, genau zu datieren auf 1268/1269; konservativ-retardierend: einzelne Kardinalssiegel des ausgehenden Mittelalters mit gotischen Elementen, gesehen im Vergleich mit koävalen Kardinalssiegeln, die stilistisch die modernen Elemente der Renaissancezeit aufweisen; antikisierend: Rom-Darstellung auf den Rückseiten der Königs- und KaiserGoldbulle Karls IV., wo auf das Vorbild des Staufers Friedrich II. zurückgegriffen wird.
VIII. Zum Gebrauch lateinischer Verskunst in Siegelumschriften Die Siegelumschrift (Siegellegende) ist neben dem Siegelbild wesentlicher Bestandteil des Siegels. Das gilt für das gesamte abendländische Mittelalter.1 Die Umschrift bezeichnet, von den nachfolgenden Ausnahmen abgesehen, das Siegel selbst bzw. die Siegelart, vor allem aber den Siegelführer, welcher das Typar in Auftrag gegeben hat, wobei es sich um eine Person oder eine Korporation handeln kann. Ausnahmen, d. h. Siegel ohne Nennung des Siegelführers in der Umschrift, finden sich am häufigsten bei Nebensiegeln, insbesondere bei Sekretsiegeln2 und Gegensiegeln (Rücksiegeln). In der Neuzeit überwiegen bei den Briefverschlußsiegeln in Form von Lacksiegeln sog. Signete, die sich auf die Darstellung des Wappens oder der Initialen des Siegelführers beschränken und ganz auf eine Umschrift verzichten.
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Bei den Siegeln, d. h. Bullen, des byzantinischen Ostens erscheinen die Inschriften in der Regel nicht als Umschriften, sondern als Aufschriften im Siegelfeld. Die Umschriften der Sekretsiegel umspielen oft die Wörter secretum, clavis und dergleichen oder enthalten allgemeine Formulierungen, die auf das Geheimnis (des Briefes), das sie schützen sollen, hinweisen. Mit der Materie haben sich vor allem Erich Kittel und Hermann Maué mehrmals beschäftigt; vgl. insbes. Erich Kittel, Siegelstudien, I. Briefverschlußsiegel, Rücksiegel, Sekrete, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 5–6 (1959–1960), S. 430–440, und Hermann Maué, Verschlossene Briefe – Briefverschlußsiegel, in: Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Renaissance, hrsg. von Heinz-Dieter Heimann, Paderborn–München–Wien–Zürich 1997, S. 205– 231. Ergänzend teile ich einige Beispiele mit: Margarete, Tochter des dänischen Königs Waldemar IV. Atterdag, führte von 1390–1392 ein Sekretsiegel von 4,7 cm im Durchmesser, dessen Umschrift lautet: + secretum + secretum + secretum + secretum : secretu(m), Abb. bei H. Fleetwood, Svenska medeltida kungasigill II, Stockholm 1942, Fig. 56. Das Sekretsiegel des Ritters Hendrik Wisse (van Borselen) von 1266 hat die Umschrift: + CLAVIS : SECRETI : SIGILLI (Corpus Sigillorum Neerlandicorum. De Nederlandsche zegels tot 1300, 3 Bde., ’s-Gravenhage 1937–1940, Nr. 751). Die Legende des Siegels des Ritters Gisbert uten Goye von 1259 lautet: + : FRANGE · [L]EGE · TEGE (ebenda, Nr. 876).
Zum Gebrauch lateinischer Verskunst in Siegelumschriften
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Entwicklung der Umschriften in der Frühzeit des abendländischen Siegelwesens Es ist hier nicht der Ort, näher auf die verschiedenen Aspekte der Siegellegenden einzugehen, doch sei im Hinblick auf das uns interessierende Thema die Entwicklung der Umschriften in der Frühzeit des Siegelwesens in Erinnerung gerufen. Am Anfang steht der Siegelring des Frankenkönigs Chilperich (Umschrift: CHILPERICI REGIZ).3 Es folgen die Herrschersiegel der Merowinger- und Karolingerzeit nach der Formel + N. N. rex Francorum – im Laufe der Zeit z. T. ergänzt durch eine Devotionsformel –, doch besitzt ein von Karl dem Großen geführtes Gemmensiegel erstmals eine Umschrift in Form eines Gebetes bzw. Segenswunsches (+ Christe protege Carolum regem Francorum). Das ist eine höchst bedeutsame Neuerung, die auch von späteren Herrschern aus dem Hause der Karolinger aufgegriffen wird.4 Bei den Bleibullen der Karolinger kommen dann noch die Renovatio-Umschriften hinzu. Eine solche erscheint – auch dies eine bemerkenswerte Neuerung – erstmals auf einer Bulle Karls des Großen, der mit der Renovatio Romani imperii die Bulle zur Manifestation seines Herrschaftsprogramms benutzt. Karl der Große nimmt durch die beiden Neuerungen, die ein persönliches Bekenntnis zu Christus und zur Erneuerung des Römischen Reiches (im Sinne der translatio imperii) zum Inhalt haben, auch im Siegelwesen eine herausragende Stellung ein.
Aussage und Gestalt der Umschrift In den Umschriften aller Siegel und Bullen dieser Zeit wie auch in den Umschriften der Kaiser- und Königssiegel des hohen und späten Mittelalters wird regelmäßig die lateinische Sprache benutzt. Sie dominiert in der Blütezeit des abendländischen Siegelwesens so eindeutig, daß darüber kein Wort verloren zu werden braucht. Es läßt sich auch beobachten, daß die Umschriften, vor allem die der persönlichen Siegelführer, im Laufe der Zeit immer länger und aussagekräftiger werden. In diesen Fällen legten die Siegelführer unverkennbar Wert darauf, daß nicht nur ihr Name, sondern auch ihre Abkunft/Herkunft 3 4
Martine Dalas, Corpus des sceaux français, S. 77. Belege ebenda, S. 95 ff.
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Zum Gebrauch lateinischer Verskunst in Siegelumschriften
und/oder ihre Würde/Stellung/Funktion in der Siegellegende ablesbar waren. Die zunehmende Größe der Siegel – das gilt in erster Linie für die Hauptsiegel – bot Platz für Aussagen, die über die bloße Nennung des Namens hinausgehen. Oft wurde die Umschrift mit dem Kreuz und dem folgenden Wort SIGILLUM eingeleitet, das man im Hinblick auf die erweiterte Aussage der Siegellegende, um Platz zu sparen, gern mit S’ oder SIG’ abkürzte. In dem Bestreben, alles in der Umschrift zu melden, was dem Siegelführer wichtig war, bediente man sich klarer, präziser Formulierungen. Deren Wiedergabe erfolgte, soweit notwendig oder gewünscht, unter Verwendung des konventionellen Abkürzungssystems, das man auch beim Schreiben der Urkunden benutzte. Die Zweckbestimmung der Umschrift und die Schwierigkeit, die den Siegelführer über den Namen hinaus kennzeichnenden Angaben in dem knappen zur Verfügung stehenden Raum unterzubringen, mögen es als abwegig erscheinen lassen, die Umschrift in einer Versform abzufassen.
Bisher wenig beachtet: Siegelumschriften in Versform Tatsächlich konstatieren wir aber, daß in etlichen Fällen die Umschrift die Form eines Hexameters besitzt. Bei manchen Siegeln erscheinen sogar Verspaare, seien es zwei Hexameter, sei es ein Distichon; gelegentlich findet sich auch ein Pentameter. Diese Zeugnisse fortlebender antiker Verskunst sind bisher nicht angemessen gewürdigt worden. Einige Autoren, die einen Überblick über die Siegelkunde liefern wollen, etwa Grotefend, von Berchem und zuletzt Stieldorf, gehen auf die Verwendung von Umschriften in Vers- oder Reimform gar nicht ein. Seyler, der „Umschrift und Inschriften“ in einem umfangreichen Kapitel mit vielen Beispielen – auch Abbildungen – behandelt5, führt immerhin sieben Siegel mit insgesamt acht Hexametern an. Er befaßt sich aber nicht näher mit der Versform, so daß die Siegel mit Hexametern über das ganze erwähnte Kapitel verteilt sind, während er unter der Zwischenüberschrift „Äußerungen der Gottesfurcht und der Weisheit“ systematisch entsprechende Beispiele beibringt.6 Bei Ilgen, der Hexameter und Pentameter gar nicht erwähnt, gibt es nur den Hinweis: „Bibelsprüche, Reimsprüche finden sich in den Umschriften verschiedener geistlicher Kor5 6
Gustav A. Seyler, Geschichte der Siegel, Leipzig 1894, 14. Capitel, S. 347–381. Ebenda, S. 364–369.
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porationssiegel, einzelner Geistlicher, des Reichshofgerichts, dieser oder jener Stadt.“7 Auch Ewald, der drei Siegellegenden in Hexameterform zitiert, äußert sich dazu nur kurz: „Metrische Verse und Reime begegnen auf den Siegeln des Mittelalters häufig.“8 Ähnlich druckt Kittel die Verse der Stadtsiegel von Trier und Worms sowie den bekannten Hexameter der Kaiserbullen ab, beschränkt sich in diesem Falle aber auf die Feststellung: „Was außer dem Sieglernamen in den Umschriften noch auftreten kann, sind die Bezeichnungen der Siegelart (Sigillum maius, ad causas u. a.), Jahreszahlen (kaum vor dem 15. Jahrhundert), genealogische Angaben, Sinnsprüche in Prosa, in metrischer oder gereimter Form.“9
Ein erster Hinweis von Giacomo C. Bascapé Die hier genannten deutschen Vertreter der Sphragistik hatten mit Ausnahme von Ewald vielleicht nur wenige Siegel mit Vers-Umschriften im Blick. Jedenfalls fällt auf, daß diese Besonderheit niemandem einer näheren Erörterung wert erschien. Demgegenüber kam Bascapé angesichts einer größeren Zahl einschlägiger Siegel in Italien – er zitiert insgesamt fünf Umschriften in Versform – zu dem Schluß, die metrischen Sinnsprüche, die gewöhnlich als leoninische Verse erscheinen („i motti metrici, per lo più in versi leonini“) verdienten eine gesonderte Erörterung. Von dem berühmten Vers der Kaiserbullen (Róma capút mundí // regit órbis fréna rotúndi)10 sei eine umfangreiche Gruppe von Städtesiegeln abgeleitet, welche die Größe der Stadt preisen, auf die legendären Anfänge anspielen oder den himmlischen Schutz erflehen bzw. die Feinde herausfordern oder ihnen drohen. Oft spielt der leoninische Vers, so Bascapé, auf die im Siegel dargestellte Figur an; z. B. wird der Greif 7 Theodor Ilgen, Sphragistik, S. 48 f. 8 Wilhelm Ewald, Siegelkunde, S. 223. 9 Erich Kittel, Siegel, S. 203. An anderer Stelle (S. 386) hat er drei Hexameter auf Papstbullen zitiert; vgl. unten Anm. 22, 24 und 25. 10 Die Wiedergabe der Verse erfolgt zur Erleichterung des Lesers hier und im weiteren stets in „Normalschrift“ mit Kennzeichnung der Hebungen und des Einschnitts, gewöhnlich nach der dritten Hebung (Penthemimeres), seltener nach der vierten Hebung (Hephthemimeres). Bei einer paläographisch getreuen Wiedergabe der Umschriften mit eventuell vorkommenden Kürzungen wäre die poetische Struktur schwerer zu erkennen.
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im Siegel von Perugia von den Worten begleitet: Grífi súm signúm // quod vóbis sígno sigíllum.11 Von den anderen ausländischen Siegelforschern, die ebenfalls nur knapp auf die Verskunst in Siegelumschriften eingehen, sei nur noch Gumowski genannt: Er bemerkte: „Zu den interessantesten Inschriften gehören die leonischen (!) Verse.“12 Nachfolgend führt er sechs gereimte Umschriften an, davon drei in Form eines Hexameters.
Fehlende Beachtung der Siegel bei den Mittellateinern Angesichts der Tatsache, daß die kunstvoll gestalteten Umschriften in der Siegelforschung bisher kaum Beachtung gefunden haben, kann es nicht verwundern, daß sie der mittellateinischen Philologie völlig entgangen sind. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Sphragistik (wie einige andere Historische Hilfswissenschaften) unter den Geisteswissenschaften ein Nischendasein führt und ihrerseits keinen Anlaß gesehen hat, die mittellateinische Philologie auf den von Siegelinschriften gebildeten Sonderbereich mittelalterlicher Schriftlichkeit aufmerksam zu machen: Obwohl es sich, wie eingangs festgestellt, bei der Umschrift um einen wesentlichen Teil des Siegels handelt, lag den Siegelforschern vermutlich eine Kontaktaufnahme zu den Mittellateinern fern, weil die Zweckbestimmung der Umschrift unstrittig war und keiner weiteren Erklärung bedurfte.
Bemerkungen zum römischen Versbau Um die Verwendung lateinischer Verskunst in mittelalterlichen Siegeln richtig einordnen und verstehen zu können, insbesondere um später im Einzelfall die Befolgung oder Abweichung von den klassischen Regeln des Versbaus zu erkennen, seien einige Bemerkungen zur Metrik vorausgeschickt. Ich beschränke mich hier wie auch später auf den Hexameter und den Pentame11 Giacomo C. Bascapé, Sigillografia. Il sigillo nella diplomatica, nel diritto, nella storia, nell’arte, Vol. I, Mailand 1969, S. 97. Ausführlicher zu der Menge der italienischen Städtesiegel mit leoninischen Versen bereits: G. B. Cervellini, I leonini delle città italiane, in: Studi medievali N. S. 6 (1933), S. 239–270. 12 Marian Gumowski, Handbuch der polnischen Siegelkunde, S. 19.
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ter.13 Sie waren die Hauptverse der Antike und in ihrer Verbindung – als Distichon – das klassische Verspaar der griechischen Elegie. Die nachhaltige Bedeutung des auch in der römischen Dichtung verbreiteten Verspaares ist daraus ersichtlich, daß Goethe es in seinen „Römischen Elegien“, Schiller in „Nänie“ und beide zusammen in den „Xenien“ verwendet haben.14 Beide haben 1797 im „Musenalmanach“ den Grundcharakter in folgendem Distichon beschrieben: Ím Hexámeter stéigt // des Spríngquells flü´ssige Säúle, Ím Pentámeter draúf // fä´llt sie melódisch heráb.15 Anders als bei den hier angeführten akzentuierenden Versen ergibt sich bei den klassischen lateinischen Versen der Rhythmus aus der Quantität der Silben, d. h. der bestimmten Folge langer und kurzer Silben. Die Quantität ist auch entscheidend für die Betonung mehrsilbiger Wörter, da diese sich nach dem Paenultimagesetz richtet. Demnach hat ein mehrsilbiges betontes Wort den Hauptakzent auf der vorletzten Silbe (der paenultima), wenn diese lang ist, auf der drittletzten (der antepaenultima), wenn die vorletzte Silbe kurz ist. Ohne auf die Quantitätsregeln näher eingehen zu wollen, seien doch die wichtigsten, weil sie für die Einschätzung des mittelalterlichen Versbaus bedeutsam sind, genannt: Lang sind Silben mit einem langen Vokal oder
13 Es bleibt einem Siegelforscher mit soliden Kenntnissen der römischen Metrik vorbehalten herauszufinden, ob die in Siegelumschriften vorkommenden Gebete und religiösen Sinnsprüche, deren Zahl deutlich höher als die der Hexameter und Pentameter ist, kürzeren römischen Versmaßen entsprechen. Dabei wäre darauf zu achten, ob die Umschriften reine Bibelzitate oder griffige Formeln aus eigener Wurzel sind, die vielleicht nur zufällig die Form eines kürzeren römischen Versmaßes haben. Diesbezüglich kämen etwa in Frage: iambischer und katalektischer trochäischer Dimeter, Anapäste (vgl. etwa Plautus, Cistellaria 689: ita súnt hominés // miseré miserí), Bakcheen, Glykoneus, Pherekrateus und die von Catull, Horaz und anderen benutzten sapphischen Verse; vgl. hierzu Friedrich Crusius, Römische Metrik, neu bearb. von Hans Rubenbauer, zuletzt 8. Aufl., Hildesheim 2008. Dabei wäre auch zu bedenken, welche klassischen Autoren im Mittelalter am bekanntesten waren. 14 Hans-Dieter Gelfert, Einführung in die Verslehre (Reclams Universal-Bibliothek 15037), Stuttgart 2005, S. 80 f. 15 Ebenda, S. 81.
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einem Diphthong; lang gemessen werden sie auch, wenn dem kurzen Vokal unmittelbar zwei oder mehr Konsonanten folgen (sog. Positionslänge). Besondere Regeln bestehen bezüglich der Messung bei der Abfolge von Muta (b, p, c, g, q, d, t) und Liquida (l, r), der Quantität von Binnensilben und Endsilben sowie des Zusammenstoßes eines Vokals am Wortende mit einem Vokal am Anfang des folgenden Wortes, wobei Synaloephe (Verschleifung) bzw. Elision (Unterdrückung) oder Hiat (Aussprache beider Vokale, und zwar durch „das Offenhalten des Mundes“ zum Tonansatz für den zweiten Vokal) möglich sind. Elision tritt auch ein, wenn ein Wort auf –m endet und das nächste mit einem Vokal beginnt. Der daktylische Hexameter (versus herous) besteht bekanntlich aus sechs Füßen (– ˘ ˘), von denen der letzte stets katalektisch (unvollständig) ist (– ). Anstelle der ersten vier Daktylen kann jeweils ein Spondeus (– –) ˘ stehen. Im fünften Fuß ist der Spondeus jedoch sehr selten. Eine Cäsur, d. h. ein Einschnitt (den ich durch // deutlich mache), findet sich am häufigsten nach der dritten Hebung, sonst meist nach der vierten.16 Auch die antike Kunstprosa wandte beim Satzschluß metrische Gesetze an, und wie bei der Verskunst wandelte sich der quantitierende zum akzentuierenden Satzschluß (cursus). Der seit dem 8. Jahrhundert verwildernde Cursus wurde, wie Ernst Robert Curtius (1886–1956) dargelegt hat, „Ende des 11. Jahrhunderts durch die päpstliche Kurie erneuert, und zwar unter Anknüpfung an den Briefstil Leos des Großen: daher die Bezeichnungen leoninus cursus und leonitas. Sie geben nun auch den Namen für den so beliebten Hexameter mit Binnenreim (versus leonini) her.“17 Der Hinweis auf die besondere Form des leoninischen Hexameters ist deshalb angebracht, weil diese, wie wir sehen werden, auch in mittelalterlichen Siegeln häufiger vorkommt. Wenn man das so überaus materialreiche und wahrlich überragende Werk „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ von Ernst Robert Curtius studiert, muß man aus sphragistischer Sicht bedauern, daß seinem Autor, diesem großen Gelehrten18, die Siegel mit ihren lateinischen 16 Vgl. oben Anm. 10. 17 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 3. Aufl. Bern und München 1961, S. 161. 18 Ruhm und Ansehen von Curtius, an den auch der von der Universitätsgesellschaft Bonn vergebene Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik erinnert, sind bis heute
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Umschriften entweder gänzlich unbekannt geblieben sind oder sie ihn nicht interessierten. Zu etlichen Teilaspekten der lateinischen Literatur des Mittelalters hätte Curtius auch die Umschriften in Versform heranziehen können, wie umgekehrt die Ausführungen Curtius’ es ermöglichen, die Verskunst der mittelalterlichen Siegel in einem größeren geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen. Hierauf werde ich später zurückkommen.
Auflistung von Siegelumschriften in Form von Hexametern und Pentametern Nach diesen Vorbemerkungen sollen nun endlich die Siegelumschriften in Hexameter- oder Pentameterform vorgestellt werden. Dies geschieht für die ersten 22 Hexameter der Zeit bis ca. 1200 in chronologischer Reihenfolge. Die Chronologie hat ihren eigenen Wert19, weil sich daraus allgemeine Entwicklungen und eventuell auch Beeinflussungen ablesen lassen. Im vorliegenden Falle wird aber auch deutlich, daß das frühe Vorkommen lateinischer Versmaße in Siegelumschriften nicht auf einzelne Länder beschränkt ist, sondern eine geographisch breite Grundlage im lateinischen Westen hat. Für die Zeit nach 1200 sollen dann die Beispiele nach einzelnen Ländern angeführt werden, um einen Überblick nach diesem wichtigen Gesichtspunkt zu erleichtern. Das bedeutet allerdings, daß die einzelnen Siegelführergruppen, die sich der Verskunst in Siegeln bedienen, und mehrere andere Gesichtspunkte zur Gliederung des Materials (etwa das Vorkommen von Hexametern und Pentametern) zurücktreten. Entsprechende Übersichten werden am Schluß nachgereicht.
nicht verblaßt. Es sei hier eine Begebenheit festgehalten, die Paul Egon Hübinger, der bei Curtius in Bonn studiert hatte, gern zum Besten gab: Als Curtius von einem Kollegen besucht und gefragt wurde, was er gerade mache, antworte dieser: „Ich lese den Migne.“ 19 Dazu zitiere ich gern ein von meinem Freund François-Jacques Himly (1915– 2004) überliefertes Wort des französischen Archivars und Historikers Gustave Dupont-Ferrier (1865–1956), der gesagt hat: „Geschichte ist nicht logisch, Geschichte ist chronologisch.“
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Frühe Beispiele bis in die Zeit um 1200 Unsere Aufzählung beginnt mit zwei lose überlieferten Bleibullen, die i. a. nicht Karl dem Großen, sondern Karl dem Kahlen (840–877) zugeschrieben werden.20 Hier findet sich jeweils ein Hexameter auf Vorderseite und Rückseite, und zwar gleichlautend auf beiden Bullen: 1. Iésu náte deí // Carlúm defénde poténter. (Avers) 2. Glória sít Christó // regi ét victória Cárlo. (Revers) Beide Hexameter folgen den klassischen, quantitierenden Regeln, wie sie in der Karolingerzeit allgemein beachtet wurden. In dem zweiten Hexameter auf der Bullenrückseite tritt wegen des langen e bei rēx, rēgis in regi et Synaloephe ein. Waren, wie oben dargelegt, die unter Karl dem Großen vorgenommenen Neuerungen im Bereich der Siegelumschriften (Umschrift in Gebetsform, Umschrift mit einem Renovatio-Programm) schon höchst bemerkenswert, so stellen die beiden Hexameter der wohl unter Karl dem Kahlen entstandenen Bulle einen weiteren Qualitätssprung dar, weil hier das Gebet in eine Kunstform gegossen wird. Diese Bulle hätte, wie ich schon in Kapitel I bemerkt habe, eine eingehende Untersuchung verdient, vor allem hinsichtlich des geistigen Wurzelbodens, der die beiden Hexameter hervorgebracht hat. Die nächste hier anzuführende Umschrift befindet sich auf der Rückseite der ab 1033 belegten Kaiserbulle Konrads II.: 3. Róma capút mundí // regit órbis fréna rotúndi. Es handelt sich um einen leoninischen Hexameter mit schönem, zweisilbig reinem Binnenreim (mundi – rotundi). Inhaltlich („Rom, das Haupt der Welt, führt die Zügel des Erdenrunds“) ist die Umschrift als Äußerung der 20 Vgl. Martine Dalas (wie Anm. 3), S. 105 f. Die Transkription der Umschrift wäre dahingehend zu korrigieren, daß es CARLVM und CARLO statt CAR(o)LVM und CAR(o)LO heißen muß. Die richtige Wiedergabe der Umschriften findet sich bei Hagen Keller, Zu den Siegeln der Karolinger und Ottonen, S. 411, der auf die Bedeutung der Versform nicht näher eingeht. Ich versehe die Umschriften mit einer laufenden Nummer, was das spätere Zitieren erleichtern soll. Mit Rücksicht auf die reine Lesung der Verse lasse ich das an sich bedeutsame Kreuz am Anfang der Umschriften weg.
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Herrschaftsauffassung Kaiser Konrads II. hochbedeutsam. Historisch gibt es keine Umschrift von ähnlicher Bedeutung, wurde sie doch bis zum Ende des Mittelalters regelmäßig in die Kaiserbullen übernommen.21 Ein schöner, sinnreicher leoninischer Hexameter findet sich auf der Bulle Papst Viktors II. (1055–1057)22: 4. Tú pro mé navém // liquísti súscipe clávem. Diesem Beispiel folgten bald danach weitere Päpste. Bei Nikolaus II. (1058– 1061), heißt es in der Umschrift der Bleibulle23: 5. Tíbi, Pétre, dabó // clavés regní celórum. Die Umschrift auf der Bleibulle Alexanders II. (1061–1073) nimmt ebenfalls auf den hl. Petrus, und zwar auf seine Binde- und Lösegewalt, Bezug24: 6. Quód nectís, nectám, // quod sólvis, Pétre, resólvam. Auch der Gegenpapst Clemens III. (1084–1100) führt diese kleine „PetrusTradition“ fort, heißt es in der Umschrift seiner Bleibulle doch25: 7. Córrrige, párce, ferí, // Petre, pánde, meménto, medéri. 21 Entsprechend gewürdigt ist die Umschrift bei Wilhelm Erben, Rombilder auf kaiserlichen und päpstlichen Siegeln des Mittelalters (Veröffentlichungen des Historischen Seminars der Universität Graz 7), Graz–Wien–Leipzig 1931, S. 38–45, und bei Percy Ernst Schramm, Die deutschen Kaiser und Könige, S. 106 f. u. 223, Abb. S. 387, Nr. 138. Demgegenüber wurde die eminent wichtige Bulle in der großen Ausstellung „Das Reich der Salier 1024–1125“ (Speyer 1992) nicht gezeigt und im zugehörigen Katalog nicht behandelt. Auch die historische Forschung hat sich mit der Bulle wenig, mit dem kunstvollen Vers und der Frage, wer im Umkreis Konrads II. der Ideengeber und „Komponist“ der Umschrift war, gar nicht beschäftigt. Man wird hier an die Mitglieder der Hofkapelle als der geistig-geistlichen Elite des Reiches denken müssen. 22 Erich Kittel (wie Anm. 9), S. 384–386, Abb. 223 e. 23 Wilhelm Ewald (wie Anm. 8), Abb. auf Tafel 35, Nr. 11. 24 Erich Kittel (wie Anm. 9), S. 386. 25 Ebenda.
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Die Verwendung von Hexametern auf päpstlichen Bullen vor der Zeit der Festlegung auf die Köpfe von Petrus und Paulus mit der sie kennzeichnenden Aufschrift kann nicht verwundern, befand sich der Papstsitz doch in Rom, wo antike Traditionen am stärksten fortwirkten. Auffällig ist nur, daß im 5. Vers des Hexameters Nr. 5 (Nikolaus II.), wo eigentlich ein Daktylus gefordert ist, ein Spondeus steht. Außerdem liegt der Iktus bei Tibi auf einer kurzen Silbe. Das Phänomen, daß die klassische Messung von kurzen und langen Silben nicht beachtet wird, läßt sich gelegentlich auch später feststellen. Es mag überraschen, daß in engem zeitlichem Anschluß an die genannten Papstbullen ein Siegel eines skandinavischen Herrschers folgt. Es handelt sich um ein nur als Zeichnung überliefertes Münzsiegel König Knuts des Heiligen von Dänemark (1080–1086) – die Originalvorlage stammt angeblich von 1085 (Abb. 1 und 2) –, das auf der Vorder- und Rückseite jeweils einen Hexameter aufweist26:
Abb. 1 Siegel König Knuts d. Heiligen von Dänemark, Vorderseite
Abb. 2 Siegel König Knuts d. Heiligen von Dänemark, Rückseite
26 Vgl. Wilhelm Ewald (wie Anm. 8), S. 222 und Nils G. Bartholdy, Thronsiegel dänischer Könige im Mittelalter mit besonderer Rücksicht auf ausländische Vorbilder und Parallelen, in: Middelalderlige seglstamper i Norden, S. 129. Das Siegel zeigt den König auf der Vorderseite thronend, auf der Rückseite mit dem Falken zur Jagd ausreitend. Die Echtheit wäre zu prüfen. Der paläographische Befund gibt keinen Anlaß zum Zweifel an der Echtheit, auch nicht die Tatsache, daß hier ein Münzsiegel verwendet wurde, weil es solche zuvor schon in England gab (vgl. Kapitel VII).
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8. Présentí regém // signó cognósce Cnutónem. (Avers) 9. Híc natúm regís // magní sub nómine cérnis. (Revers) Auch diese Hexameter sind, die Echtheit des Siegels vorausgesetzt, Zeugnis herrscherlichen Selbstbewußtseins. Ihre Gestaltung könnte formal von den Bullen der deutschen Kaiser beeinflußt worden sein. Daß man in Dänemark den Blick nach Westen (Münzsiegel in England) und nach Süden (Hexameter im Reich und bei den Päpsten) richtete, kann mit guten Gründen vermutet werden. Die nächsten in unserer chronologischen Reihenfolge zu nennenden, ebenfalls noch recht frühen Beispiele stammen aus Frankreich. Zum Jahre 1104 ist das Siegel des Bischofs Robert von Langres belegt.27 Die Umschrift lautet: 10. Nómine cómpertó // pastóri créde Robérto. Auch hier handelt es sich um einen leoninischen Hexameter mit schönem Binnenreim. Wie oben im ersten Hexameter Knuts des Heiligen (Nr. 8) ist auch in diesem Falle der Name des Siegelführers kunstvoll in die Umschrift eingebaut, so daß diese auch ihren originären Zweck erfüllte. Das zweite, ebenfalls den Namen einfügende französische Beispiel, das den Zweck des Siegels in subtiler Weise kundtut, findet sich in dem etwas später (1110) vorkommenden Siegel des Grafen Hugo I. von Champagne28: 11. Quód mandát scriptó // firmát comes Húgo sigíllo. Wenn man das nächste Beispiel, die Umschrift des ältesten Trierer Stadtsiegels, betrachtet, mag es geographisch nur als ein kleiner Sprung von der Champagne zur ältesten Stadt in Deutschland erscheinen. Ob bei diesem Siegel, das wohl in den 1140er Jahren entstanden ist29, eher eine koävale Kaiserbulle und/oder die etwas älteren Papstbullen Pate gestanden haben,
27 Jean-Luc Chassel (Hrsg.), Sceaux et usages de sceaux, S. 22. 28 Ebenda, S. 21. Bemerkenswert ist, daß hier ein weltlicher Fürst sich eines so feinsinnig gestalteten Hexameters bedient. In diesem Falle wäre die Forschung aufgerufen, sich der Erhellung des geistigen Umfeldes bzw. der Kultur am Hofe der Grafen von Champagne anzunehmen. 29 Für eine Datierung „auf die Zeit um 1130“ plädierte zuletzt Manfred Groten, Karlsmythos und Petrustradition, S. 396.
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mag offen bleiben. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß nun erstmals auch in einem Stadtsiegel ein Hexameter auftaucht: 12. Trévericám plebém // Dominús benedícat et úrbem. Das überaus anspruchsvolle Bildprogramm – Christus übergibt die Schlüssel an die heiligen Petrus und Eucharius und segnet die Einwohner wie auch die abbreviaturhaft dargestellte Stadt Trier – ist ohne Zweifel in Reaktion auf die älteren Stadtsiegel von Köln und Mainz aus eigener örtlicher Wurzel entstanden, und zwar, wie Christoph Winterer gezeigt hat30, in Anlehnung an den aus drei Zeilen bestehenden Psalm 133. Bezüglich der Interpretation des Siegels, das in jüngerer Zeit Gegenstand etlicher Untersuchungen gewesen ist31, besteht weitgehend Einigkeit. Die so religiös gestimmte, in der Gebetsbitte vielleicht an karolingische Herrschersiegel anknüpfende und so eindrucksvoll konzipierte Umschrift in Form eines leoninischen Hexameters, die das Bildprogramm kongenial umsetzt, kann nur einen geistlichen Nährboden haben. Es bleibt eine künftige Forschungsaufgabe zu klären, wer konkret als Auftraggeber und/oder als Erfinder des Bildprogramms und als Konzipient des leoninischen Hexameters in Frage kommt. Anzumerken ist, daß der angeführte Hexameter offenbar auch vier Jahrhunderte später seinen Reiz nicht verloren hatte und zur Nachahmung animierte. Als nämlich das alte Trierer Typar schadhaft geworden war, ließ man 1537 einen ziemlich genauen Nachschnitt und zugleich auch einen Stempel für ein Gegensiegel anfertigen. Bei diesem handelt es sich um ein reines Schriftsiegel mit der Aufschrift in Form eines Hexameters, den wir, da schon der Neuzeit angehörig, aus unserer Zählung herauslassen, hier aber zitieren wollen: Ánnis trécentís // detrítum réformabátur 1537.32
30 Christoph Winterer, An den Anfängen der Stadtsiegel, S. 188–197. 31 Literatur ebenda, darüber hinaus Bernd Röder, Romnachfolge und der Streit der drei rheinischen Erzbischöfe um den Primat: Zur Ikonographie und zur Entstehung des ersten Großen Siegels der Stadt Trier, in: Jahrbuch f. westdt. Landesgesch. 25 (1999), S. 69–108 (bei Winterer nicht angeführt) und Manfred Groten (wie Anm. 29), S. 382–399. 32 Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel III, Tafel 31, Nr. 4, und S. 78. Entgegen Ewald und der nachfolgenden Forschung ist statt 1534 wohl eher 1537 zu lesen, weil das am Ende der Umschrift stehende ∧ um 1500 stets eine 7 bezeichnet.
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In unserer Chronologie der Siegel des 12. Jahrhunderts ist als nächstes das für 1161 belegte Siegel der Stadt Pisa zu nennen33: 13. Úrbis mé dignúm // Pisáne nóscite sígnum. Auch hier begegnen wir einem leoninischen Hexameter mit schönem Binnenreim. Im 4. Versfuß ist das e in Pisane – mittelalterliche Schreibweise des Diphthongs ae – lang zu messen, so daß hier ein Spondeus vorliegt. Für 1181 ist das Siegel der nicht weit von Pisa gelegenen Stadt Lucca bezeugt, dessen leoninischer Hexameter den Stolz der Bürgerschaft und ihre Macht gegenüber den Feinden bekundet34: 14. Lúcca poténs sternít // sibíque contrária cérnit. Die zeitliche Abfolge führt nun nach England. Robert, Bischof von Winchester, besaß vor dem April 1185 ein Siegel mit einem schönen leoninischen Hexameter, in dem der Bischof seine beiden Kirchenpatrone anruft35: 15. Súnt michi síntque boní // Petrús Paulúsque patróni. Nur wenig später, in den 1190er Jahren, sind zwei deutsche Siegel mit gereimten Versen entstanden, von denen zuerst das Siegel des adeligen Damenstiftes in Essen angeführt sei36: 16. Égo flós campí // et lília vállium Asnída. In diesem Hexameter, der mit der Lilie feinsinnig auf die hl. Maria anspielt, sind Möglichkeiten des römischen Versbaus – Hiat bei der Cäsur und Elision beim 5. Versfuß – genutzt. Überragend in seiner Qualität und in seiner Bedeutung für unsere Fragestellung ist das älteste Siegel der Stadt Worms (Abb. 3), das wohl in den 33 34 35 36
Andrea Lermer, Besiegelung des Rathauses, S. 141. Ebenda. T. A. Heslop, Seals, S. 309. Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel IV, Tafel 4 Nr. 5. Texterläuterungen dazu bei Edith Meyer-Wurmbach; 1. Halbband, S. 12.
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1190er Jahren entstanden ist. In der Umschrift wartet es formal mit einem in seiner Verschachtelung und Alliteration genial komponierten leoninischen Hexameter, inhaltlich mit einer Gebetsbitte auf, die in einem ebenfalls gereimten Pentameter erhört wird. Dieser befindet sich als Aufschrift auf einem Kleeblattbogen, unter welchem der Stadtpatron, der hl. Petrus, thront.37 Das sich so ergebende Distichon lautet:
Abb. 3 Ältestes Siegel der Stadt Worms 37 Zum Siegel und zu seinen Inschriften vgl. Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 353–357. Vers Nr. 17 befand sich neben zwei Distichen und zwei weiteren Hexametern, welche die Verdienste der Stadt würdigten und die besonderen Beziehungen zwischen Stadt und Reichsoberhaupt reflektierten, als vermutlich gemalte Inschriften über dem Nordportal des Wormser Domes; vgl. Rüdiger Fuchs, Die Inschriften der Stadt Worms (Die deutschen Inschriften 29; Mainzer Reihe 2), Wiesbaden 1991, S. 32–34.
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17. Té sit túta bonó // Wormátia Pétre patróno. 18. Sémper erís clipeó // géns mea túta meó. Die freiere Wortstellung im Lateinischen, bei der im vorliegenden Hexameter auch geschlossene Ausdrücke (te ... Petre, tuta ... Wormatia, bono ... patrono) überlappen, ist hier souverän genutzt worden. Es stellt sich einmal mehr die Frage, wer das Typar in Auftrag gegeben und wer das Distichon mit seiner gekonnten Aufteilung auf Umschrift und Siegelfeld geschaffen hat. Auch wenn das Trierer Stadtsiegel vorbildhaft gewesen ist und die Wormser im Sinne eines Gleichtuns motiviert hat, bedurfte es doch einer außergewöhnlichen Vertrautheit mit lateinischer Dichtkunst, um ein solches sprachliches Kleinkunstwerk zu schaffen. Man wird an einen der Wormser Bürgerschaft nahestehenden Stiftsgeistlichen, etwa einen Scholaster, zu denken haben. Das nach Seyler noch dem 12. Jahrhundert angehörende Siegel des Klosters Göß (heute Stadtteil von Leoben; es ist das älteste Benediktinerinnenkloster der Steiermark) mit dem Bild der Stifterin Adela besitzt folgende Umschrift38: 19. Ádela súmme deús // hoc fért tibi fámula múnus. Die erstmals für 1203 belegte, aber wohl noch dem 12. Jahrhundert zuzurechnende Bleibulle der Stadt Arles zeigt auf der Vorderseite einen schreitenden Löwen, auf der Rückseite eine Stadtabbreviatur mit hohem Turm und zinnenbewehrter Stadtmauer. Die jeweils als Hexameter formulierten Umschriften, die auch in späteren Nachschnitten der Bulle beibehalten wurden39, demonstrieren Stärke und drohen den Feinden: 20. Nóbilis ín primís // dicí solet íra leónis. (Avers) 21. Úrbs Arelátensís // quod plébem sérvet et úrbem. (Revers) Das um 1200 entstandene Stadtsiegel von Straßburg, das unverkennbar von dem Siegel der Stadt Worms beeinflußt ist, hat keine metrische Umschrift, 38 Gustav A. Seyler (wie Anm. 5), S. 367. 39 Brigitte Bedos, Corpus des sceaux français, S. 59–64. Zur Interpretation der Darstellungen und Inschriften beider Bullenseiten vgl. Jean-Luc Chassel, Formes et fonctions des inscriptions sigillaires, S. 212.
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bietet aber wie das Wormser Vorbild auf einem Kleeblattbogen über der thronenden Muttergottes eine Aufschrift, hier in Form eines Hexameters40: 22. Vírgo rogá prolém // quod plébem sérvet et úrbem. Der hier vorliegende Hexameter erbittet über die Stadtpatronin den Schutz ihres Sohnes für Volk und Stadt. Er weist insoweit eine Ähnlichkeit mit dem Trierer Stadtsiegel und noch mehr mit der vorstehenden Bulle von Arles auf.
Jüngere Beispiele bis um 1500 Die vorstehende Abfolge zeigt, daß die beiden Karl dem Kahlen zugeschriebenen Bleibullen mit zwei Hexametern lange Zeit wie ein erratischer Block in der Siegellandschaft stehen, bis dann die ähnlich wichtige Kaiserbulle Konrads II. eine Tradition begründet. Bald nach der Mitte des 11. Jahrhunderts bilden die Bullen der Päpste, was die Verwendung von Versen angeht, eine eigene, kurze Tradition. Die weiteren Beispiele in Siegeln aus Dänemark (2), Frankreich (5), Westdeutschland (4), Italien (2), England (1) und Österreich (1) zeigen schon für die bis ca. 1200 reichende Frühzeit der abendländischen Siegelpraxis eine bemerkenswert breite geographische Verteilung. Sie wird in der Folgezeit, für die ich weitere 53 Siegelumschriften benennen kann, noch beträchtlich erweitert. Ich führe sie nunmehr mit Nennung des Siegelführers nach Ländern in ihren heutigen Grenzen an und beschränke mich aus Platzgründen bei den Anmerkungen auf das Notwendigste.
Deutschland (12) Stift St. Bartholomäus in Frankfurt (Siegel 1215 erstmals belegt)41: 23. Sérvi fórma deí // preséns est Bártholoméi.
40 Brigitte Bedos (wie Anm. 39), S. 491. 41 Gustav A. Seyler (wie Anm. 5), S. 347; Wilhelm Ewald (wie Anm. 8), S. 221 f.; Zeugnisse kirchlichen Lebens, S. 7.
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Dominikanerkloster (= Predigerkloster) Hl. Kreuz in Köln (Siegel zwischen 1221 und 1232 entstanden)42: 24. Nós predicámus Ihesúm // Christúm et húnc crucifíxum. Kanoniker am Stift St. Kastor in Karden an der Mosel (Siegel mit Pentameter in der Umschrift, 1236 belegt)43: 25. Cónfer opém servó // vírgo María tuó. Stift St. Maria in campis oder Hl. Kreuz bei Mainz (Siegel aus dem 13. Jh.)44: 26. Súm via véri ut viís // sum múndo cáusa salútis. Hartlieb, Kanoniker (?) am Marienstift zu Aachen (Siegel 1257 belegt)45: 27. Fíli sáncti [Deí // miserér]e meí Hartlíbi. Mainz (3. Stadtsiegel, 1308 erstmals belegt, mit Darstellung des legendären Traumgesichtes des hl. Martin, in der Umschrift zwei Hexameter nacheinander, Abb. 4)46: 28. Chríste, Magúntiní // populí secréta tuére. 29. Híc te Mártiní // tectú qui véste fatére.
42 Wilhelm Ewald (wie Anm. 36), Tafel 46, Nr. 7, Texterläuterungen bei Edith Meyer-Wurmbach (wie Anm. 36), S. 148. 43 Ebenda, Tafel 82, Nr. 14, Texterläuterungen bei Edith Meyer-Wurmbach (wie Anm. 36), 2. Halbband, S. 72. 44 Gustav A. Seyler (wie Anm. 5), S. 364 (Abb.) und S. 365. Bei veri ut tritt Synaloephe ein. 45 Wilhelm Ewald (wie Anm. 36), Tafel 82, Nr. 12, Texterläuterungen bei Edith Meyer-Wurmbach (wie Anm. 43), S. 72. Auffälligerweise steht im 5. Versfuß – wohl wegen des Eigennamens – kein Daktylus, sondern ein Spondeus. 46 Wilhelm Diepenbach, Die Siegel der „freien“ Stadt Mainz, in: Mainzer Zeitschrift 36 (1941), S. 74 f. und Abb. 3, mit Hinweis auf einen Nachschnitt von 1392 mit demselben Bildthema und derselben Umschrift.
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Abb. 4 Drittes Siegel der Stadt Mainz
Alzey in der Pfalz (ältestes Stadtsiegel von 1308, zweites spätestens 1366, beide mit gleichlautender Umschrift)47: 30. Óbdita sécretó // signó secréta tenéto. Gemeinschaft der sieben Vikare am Stift St. Gereon zu Köln (Siegel 1312 belegt)48: 47 Gustav A. Seyler (wie Anm. 5), S. 368 f.; Albrecht Eckardt, Die älteren Siegel der Stadt Alzey, in: 700 Jahre Stadt Alzey, Festschrift, Alzey 1977 (= Alzeyer Geschichtsblätter, Sonderheft 7), S. 101–105. Auf die Hexameterform geht Albrecht nicht ein. 48 Wilhelm Ewald (wie Anm. 36), Tafel 77, Nr. 15, Texterläuterungen bei Edith Meyer-Wurmbach (wie Anm. 43), S. 56, mit dem Hinweis auf das griechische ‛ιερός = heilig.
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31. Séptem présbiterós // inflámmet spíritus héros. Land Friesland (Siegel 1324 belegt49, in der Umschrift zwei leoninische Hexameter hintereinander!): 32. Hís signís votá // sua réddit Frísia tóta, 33. Cúi cum próle p(iá // sit) clémens vírgo María. Universität Trier (großes Siegel, datiert 1474)50: 34. Tréveris éx urbé // Deus cómplet dóna sophíe.
Österreich (1) Tulln (Stadtsiegel aus dem 14. Jh.)51: 35. Áustria tháu Romá // pro sígno sít tibi Túlna.
Tschechien (1) Benediktinerkloster Kladruby (Kladrau) in Böhmen (ohne Datumsangabe)52: 36. Vírgo Deí genetríx // reparátrix tótius órbis.
49 Gustav A. Seyler (wie Anm. 5), S. 366. 50 Wilhelm Ewald (wie Anm. 36), Tafel 56 Nr. 5, Texterläuterungen bei Edith MeyerWurmbach (wie Anm. 36), S. 191. 51 Gustav A. Seyler (wie Anm. 5), S. 367; Eduard Melly, Beiträge zur Siegelkunde, S. 50, mit der Bemerkung: „Leonische Hexameter kommen auf italienischen Stadtsiegeln häufig vor, seltener auf deutschen, unter den österreichischen ist dies das einzige mir bekannte Beispiel.“ Der griechische Buchstabe Tau entspricht dem römischen T. Das im Siegelfeld stehende T ist eine Abkürzung für Tulln, das Siegel selbst also ein Beispiel für den Typ des Gemerkesiegels. 52 Gustav A. Seyler (wie Anm. 5), S. 347.
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Polen (3) Leszek der Schwarze von Kujawien (Siegel 1287 belegt)53: 37. Sígnum dúcis Lestcónis // pars áquile pársque leónis. Przemyslaw II. (Majestätssiegel, 1295 belegt)54: 38. Réddidit ípse pronís // victrícia sígna Polónis. Glogau (Stadtsiegel, 1326 belegt)55: 39. Práesul en íste patér // et egó tibi súm pia máter.
Schweden (1) Einwohner von Gotland (Siegel 1280 belegt, Abb. 5)56 : 40. Gútensés signó // Christús signátur in ágno.
53 Marian Gumowski, Handbuch der polnischen Siegelkunde, S. 19. Das Siegel zeigt im Feld (heraldisch) rechts einen halben (gespaltenen) Adler, links einen linkssehenden aufrecht schreitenden Löwen, über beiden schwebend eine Krone. Gumowski hat am Anfang der Umschrift den vorhandenen Buchstabenbefund SIG DV aufgelöst mit Sigillum ducis. Wegen des Versmaßes ziehe ich vor die Lesung: Signum ducis, vor allem auch weil signum – in verschiedenen Kasusformen – und signare in den hier beigebrachten Versen häufig vorkommen. Das AQVIL der Umschrift ist als aquile aufzulösen (Gumowski liest aquila.) Es handelt sich im vorliegenden Falle um einen akzentuierenden leoninischen Hexameter, der sich inhaltlich auf das Siegelbild bezieht. 54 Ebenda. Der Siegelführer benutzt die Umschrift für ein Eigenlob, hierin vergleichbar dem Städtelob in Stadtsiegeln. 55 Ebenda. Auffällig ist, daß in diesem leoninischen Hexameter nur Daktylen vorkommen, von denen der letzte natürlich katalektisch ist. 56 Clara Nevéus, A Canadian Matrix Mystery, in: Middelalderlige seglstamper i Norden, red. von M. Andersen und G. Tegnér, Roskilde 2002, S. 74 mit Abb. (Fig. 1).
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Abb. 5 Siegel der Einwohner von Gotland
England (18) Christ Church (Kathedrale) zu Canterbury (Münzsiegel von 1232/1233 mit zwei leoninischen Hexametern auf der Rückseite, die an das Martyrium Thomas Beckets erinnern, und zwei weiteren leoninischen Hexametern auf der Randschrift desselben Siegels)57: 41. Ést huic víta morí // pro quá, dum víxit, amóri, 42. Mórs erat ét me morí // per mórtem vívit honóri. 43. Sít michi cáusa merá // stilus áptus líttera véra 44. Círcumspécta será // tenor útilis íntegra céra. 57 Roger H. Ellis, Monastic Seals, S. 18 f., Nr. M 166, Abb. Tafel 17; Markus Späth, Mikroarchitektur zwischen Repräsentation und Identitätsstiftung: Die Siegelbilder englischer Klöster und Kathedralkapitel im 13. Jahrhundert, in: C. Kratzke, U. Albrecht (Hrsg.), Mikroarchitektur im Mittelalter. Ein gattungsübegreifendes Phänomen zwischen Realität und Imagination, Leipzig 2008, S. 263–273. Zur Randschrift (Verse 43 und 44) vgl. Markus Späth, Siegelbild und Kathedralgotik, S. 57 f.
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Erzbischof Edmund von Canterbury (1233–1240).58 Der Pentameter der Umschrift spielt ebenfalls auf das im Siegelbild dargestellte Martyrium des Thomas Becket an, der lehrend sagt: 45. Eádmundúm doceát // mórs mea né timeát. Bischof Walter von Worchester (1237–1266).59: 46. Quém tenet híc tronús, // mihi sít cum mátre benígnus. Kathedralkloster St. Etheldreda und St. Peter zu Ely (zweites Konventssiegel, Münzsiegel, 1286 erstmals belegt); auf der Randschrift zwei Hexameter60: 47. Pétrus et Édeldréda mollís // sub tégmine cére 48. Ély sécretá // celáre simúl statuére. Benediktinerkloster Reading (Münzsiegel, datiert auf 1328)61: 49. Éns rex Hénricús // [s]ummé deitátis amícus 50. É curís degít, // entúm domum íste perégit, 51. Sígnum bís de nóbis // quárto cónsociátus. 58 Wilhelm Ewald (wie Anm. 8), S. 223. 59 Ebenda. Der Hexameter spielt inhaltlich auf die im Gegensiegel dargestellte Marienkrönung an. 60 Markus Späth, Siegelbild und Kathedralgotik, S. 65 f. mit Abb. 21 und Anm. 82. 61 Roger H. Ellis (wie Anm. 57), S. 75, Nr. M 715, Abb. Tafel 46. Die drei Hexameter befinden sich allesamt auf der Rückseite des Siegels: Nr. 49 und 50 hintereinander als Umschrift, Nr. 51 als konzentrische Aufschrift im Siegelfeld. Der 1. Hexameter hat im Original nur ein s beim 3. und 4. Wort; das s in [s]umme wurde von mir konjiziert. Im 2. Hexameter habe ich das im Original stehende DOM’, das Ellis mit domus aufgelöst hat, aus Gründen der Grammatik und Prosodie in domum (wobei Elision eintritt) geändert. Der Inhalt des 3. Hexameters (Nr. 51) wird verständlich aus dem Bildprogramm: Die Vorderseite zeigt im Zentrum die Muttergottes mit dem Kind, beseitet von den in der Umschrift genannten beiden Kirchenpatronen Johannes und Jacobus; die Rückseite zeigt im Zentrum den thronenden König mit Kirchenmodell, beseitet von Petrus und Paulus. Dem vierten Heiligen (Paulus) ist also gemäß Hexameter Nr. 51 König [Heinrich] beigesellt worden.
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Augustinerkloster Newnham (Münzsiegel im 13. Jh. entstanden, Hexameter auf der Rückseite)62: 52. Múcro furór Saulí // fuit énsis pássio Páuli. Prämonstratenserabtei Langdon (Typar aus dem ausgehenden 13. Jh. erhalten)63: 53. Cáusa domús Christí // mortém sic íntulit ísti. Benediktinerkloster St. Augustinus in Canterbury (Münzsiegel, wohl im 14. Jh. entstanden, zwei Hexameter nacheinander in der Umschrift der Rückseite)64: 54. Ánglia, quáe Dominó // fideí sociátur amóre, 55. Hóc Augústinó // debétur pátris honóre. Prior des Benediktinerklosters St. Martin in Dover (Siegel des 14. Jh. mit Traumgesicht des hl. Martin als Bildthema der Vorderseite, das im Hexameter der Rückseitenumschrift ähnlich wie in den jüngeren Siegeln der Stadt Mainz (Nr. 28 und 29) angesprochen wird)65: 56. Mártiní vesté // sum téctus páupere téste. Augustinerkloster St. Bartholomew’s Smithfield in London (Münzsiegel des 14. Jh., 1393 belegt, mit leoninischem Hexameter in der Umschrift der Rückseite)66: 57. Crédimus ánte Deúm // provéhi per Bártholoméum.
62 63 64 65 66
Roger H. Ellis (wie Anm. 57), S. 64, Nr. M 608, Abb. Tafel 20. Ebenda, S. 48, Nr. M 453, Abb. Tafel 21. Ebenda, S. 19, Nr. M 169, Abb. Tafel 41. Ebenda, S. 31, Nr. M 291, Abb. Tafel 34. Ebenda, S. 56, Nr. M 529, Abb. Tafel 45.
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Prior des Augustinerklosters West Acre (Gegensiegel des 14. Jh. mit einem Pentameter in der Umschrift)67: 58. Múndus abít, mundúm // cóntere, múndus erís.
Frankreich (5) Marseille (Bleibulle der Stadt, 1237 belegt, mit je einem leoninischen Hexameter auf Vorder- und Rückseite; desgl. das 1243 belegte große Wachssiegel)68: 59. Mássiliám veré // Victór civésque tuére. (Avers) 60. Áctibus ímensís // urbs fúlget Mássiliénsis. (Revers) Condom (Münzsiegel der Stadt aus dem 13. Jh. mit zwei leoninischen Hexametern auf der Rückseite)69: 61. Clávibus órnatús // Petrús sedet híc kathedrátus, 62. Cóndomií rectór // tempúsque per ómne protéctor. Hagenau (Sekretsiegel der Stadt aus der 2. Hälfte des 13. Jh., belegt 1332, mit einem leoninischen Hexameter)70: 63. Pér me rés multás // Hagnówia míttit oc[c]últas.
67 Ebenda, S. 95, Nr. M 908, Abb. Tafel 54. Zu beachten ist das feine Wortspiel mit den zwei Bedeutungen von mundus („Welt“ und „rein“): Die Welt vergeht, achte die Welt gering, und du wirst rein sein. 68 Brigitte Bedos (wie Anm. 39), S. 306 f. (mit Abb.). 69 Ebenda, S. 189. Bedos hält die Umschrift der Rückseite, die sie nicht bzw. nicht richtig auflöst, für zweifelhaft und hält wohl deswegen das Siegel selbst für zweifelhaft. Diese Bedenken teile ich nicht, weil die Abkürzungen des Siegels eindeutig aufgelöst werden können und dann auch einen Sinn ergeben. 70 Ebenda, S. 254. Der Hexameter beschreibt die Funktion des Sekretsiegels.
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Spanien (4) Oviedo (Münzsiegel der Stadt, erstmals belegt 1289, mit leoninischen Hexametern auf Vorder- und Rückseite)71: 64. Ángelicá laetúm // cruce súblimátur Ovétum. (Avers) 65. Régis habéndo thronúm // castí regnum ét patrónum. (Revers) Unbekannter Siegelführer (Typar des 13. Jh. erhalten, im Siegelfeld ist St. Jacobus zu Pferd mit Fahne und Schwert dargestellt)72: 66. Ést prestánte Deó // Iacobí certámine vícta. Alfonso Mexica, Kanoniker zu Segovia (Siegel belegt 1517)73: 67. Aúdacés fortúna iuvát // timidósque repéllit.
Italien (8) Padua (Stadtsiegel des 13. Jh. mit leoninischem Hexameter)74: 68. Múson móns Athés // mare cértos dánt michi fínes. Verona (Stadtsiegel des 13. Jh. mit leoninischem Hexameter)75:
71 Faustino Menéndez Pidal, Elena Gómez Pérez, Matrices de sellos españoles, S. 120, Nr. 235. Der in Nr. 65 angesprochene König, Alfons II. von Asturien (791–842), ist auf der Rückseite des Siegels thronend dargestellt. 72 Ebenda, S. 121, Nr. 238, mit Abb. 73 Araceli Guglieri Navarro, Catálogo de sellos, S. 683. Zu beachten ist die ungewöhnliche Cäsur nach der 4. Hebung. 74 Eduard Melly (wie Anm. 51), S. 117; Stefania Ricci, Il sigillo nella storia e nella cultura (Ausstellungskatalog), Rom 1985, S. 82 f. Die Autorschaft des gelehrten Verses wäre dem 1315 in Padua zum Dichter gekrönten Alberto Mussato zuzutrauen. 75 Eduard Melly (wie Anm. 51), S. 121.
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69. Ést iustílatríx // urbs héc et láudis amátrix. Bologna (Stadtsiegel, 1338 belegt, mit leoninischem Hexameter)76: 70. Pétrus ubíque patér // legúm Bonónia máter. Udine (Stadtsiegel des 14. Jh. mit leoninischem Hexameter)77: 71. Ést Aquiléiensís // fidés hec úrbs Utinénsis. Perugia (Stadtsiegel ohne Datierungsangabe; im Hexameter Anspielung auf den im Siegel dargestellten Greifen)78: 72. Grífi súm signúm // quod vóbis sígno sigíllum. Ranerius, nicht näher bezeichneter Siegelführer in Italien79: 73. Ránerií signúm // cunctí cognóscite dígnum. Guiscardus, nicht näher bezeichneter Siegelführer in Italien80: 74. Córdis sécretúm // Guiscárdi réfero mécum. Nicht näher bezeichneter Geistlicher in Italien mit leoninischem Pentameter in der Umschrift 81: 75. Déxtra beáta deí // sít pia cúra meí. *
76 77 78 79 80 81
Andrea Lermer (wie Anm. 33), S. 141. Eduard Melly (wie Anm. 51), S. 120. Giacomo C. Bascapé (wie Anm. 11), S. 97; vgl. oben Anm. 11. Ebenda. Ebenda. Ebenda; Bascapé schreibt DEXTERA, das ich des Verses wegen in déxtra verändert habe.
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Bemerkungen zur Zahl der hier vorgestellten Siegel mit Hexametern und Pentametern Natürlich kann die Liste der hier dargebotenen Hexameter und Pentameter keine Vollständigkeit beanspruchen. Im vorliegenden Falle ging es mir darum zu zeigen, daß es sich bei der in Siegeln angewandten lateinischen Verskunst nicht um ein unbedeutendes, randständiges Phänomen handelt. Bezüglich der Zahl der metrisch gestalteten Um-, Auf- und Randschriften ist zu betonen, daß sie ohne Zweifel noch viel größer ist, weil ich nur einen Teil der Siegelpublikationen systematisch durchgesehen habe.82 Hierbei wurden alle Inschriften weggelassen, deren vollständiger Wortlaut wegen des schlechten Erhaltungszustandes des Siegels nicht eindeutig bestimmt werden kann. Auch sollte man sich immer bewußt sein, daß eine unermeßliche Zahl von Siegeln noch gar nicht publiziert ist. Mag die wahrlich nicht kleine Liste von Siegelinschriften in Versform, die ich hier zusammengestellt habe, nicht unbedingt repräsentativ sein, so ermöglicht sie doch erste Erkenntnisse, die ich im folgenden mit weiteren Überlegungen verbinden möchte.
Erste Schlußfolgerungen Ein wichtiges Fazit ist, daß der lateinische Westen, geht man nach der Verbreitung und Bedeutung des Siegelwesens im allgemeinen und der Verwendung lateinischer Verskunst bei Siegeln im besonderen, sich in dieser Hinsicht als ein einheitlicher Kulturraum erweist, was im übrigen auch bezüglich der Verwendung der lateinischen Sprache und der Art der Urkundengestal82 Ich habe die Durchsicht an einem bestimmten Punkt abgebrochen, weil mir die bis dahin ermittelte Menge metrischer Siegelinschriften schon überwältigend erschien und man sich von vornherein darüber klar sein muß, daß Vollständigkeit nicht annähernd erreichbar ist. Für Italien führt z. B. Ruth Wolff, Descriptio civitatis: Siegel-Bilder und Siegel-Beschreibungen italienischer Städte des Mittelalters, in: Jörg Oberste (Hrsg.), Repräsentationen der mittelalterlichen Stadt (Forum Mittelalter, Studien 4), Regensburg 2008, S. 129–144, einige hier nicht berücksichtigte Verse an. Sie verweist auf einen Codex aus dem 14. Jahrhundert (Biblioteca Marciana, Venedig, cod. Marciano Lat. 479), wo weitere 25 leoninische Verse auf Stadtsiegeln unter dem Titel „Versus de sigillis civitatum“ gesammelt sind (ebenda, S. 133); vgl. dazu G. B. Cervellini (wie Anm. 11).
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tung gilt. Bei der räumlichen Verteilung treten Westdeutschland (mit Schwerpunkt Rheinland83) und Frankreich, vor allem aber Italien und England hervor, doch sind auch andere Länder – von Schweden und Polen bis nach Spanien – vertreten. Für Spanien, dessen ältestes erhaltenes Siegel vom Jahre 1146 stammt84, ist die Zahl von vier Belegen zwar relativ hoch, doch beginnt die Reihe erst mit dem Jahr 1282. Es wäre zu untersuchen, ob diese Tatsache in jenem größeren Zusammenhang zu sehen ist, den Ernst Robert Curtius behandelt hat. Er stellte bezüglich Spanien u. a. fest: „Auch die lateinische Bildung des 12. Jahrhunderts trifft dort mit starker Verspätung ein.“85 Natürlich stammen die meisten der von mir ermittelten Zeugnisse aus dem Spätmittelalter, doch fallen andererseits viele in die Zeit vor 1250. Die Frühzeit abendländischer Siegelpraxis, die ich bis etwa 1200 ansetze, ist immerhin mit 22 Hexametern oder Pentametern vertreten. Insoweit ergibt sich eine erstaunliche Kontinuität dieses Phänomens zumindest seit dem Jahre 1033 (Kaiserbulle Konrads II.). Sie ist z. T. auch ablesbar an der Tatsache, daß einzelne Siegel mit hohem Anspruch ihre Wirkung am Ort, in der Region und offenbar auch darüber hinaus nicht verfehlten. Dies gilt wiederum für die eben genannte Kaiserbulle, die ersten einschlägigen Städtesiegel Italiens, die anderen Städten Vorbild gewesen sind, aber auch für die Siegel der Städte Trier und Worms mit ihren besonders eindrucksvollen Umund Aufschriften in Versform. Für Trier ist die Ausstrahlung am Ort besonders gut ersichtlich, denn dort lassen sich mit dem Siegel der Trierer Universität und dem städtischen Gegensiegel von 1537 noch zwei späte Zeugnisse lateinischer Verskunst nachweisen. Insgesamt überwiegen eindeutig die Hexameter mit 71 Belegen, während sich die Zahl der Pentameter nur auf vier beläuft. Ein Distichon weist nur das Stadtsiegel von Worms (Nr. 17 und 18) auf. Das zeugt von einer guten Kenntnis der Antike und der Verskunst der klassischen Dichter. Großer Beliebtheit erfreute sich in den Siegelinschriften auch der leoninische Vers,
83 Hier zeigt sich ein allgemeines Problem: Die Zahl der rheinischen Belege ist vielleicht deshalb so groß, weil durch das Siegelcorpus von Wilhelm Ewald mehr Material als für andere Landschaften publiziert ist. 84 Vgl. Kapitel VII, Anm. 27. 85 Ernst Robert Curtius (wie Anm. 17), S. 524; vgl. ebenda S. 524–526 das Kapitel XX: Spaniens kulturelle „Verspätung“.
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der bei unseren Beispielen eindeutig überwiegt und insoweit für das ganze lateinische Mittelalter charakteristisch ist. Trotz der nicht geringen Zahl der hier vorgestellten Siegelinschriften, die sich, wie schon bemerkt, bei Auswertung weiterer Siegelpublikationen und Einbeziehung anderer Versarten deutlich erhöhen dürfte, darf man nicht vergessen, daß im Vergleich zu der riesigen Masse überlieferter Siegel aus dem Mittelalter diejenigen mit metrisch gestalteten Inschriften nur einen kleinen Bruchteil ausmachen. Demnach war die Verwendung der Verskunst auf eine Elite im wahrsten Sinn des Wortes beschränkt. Die Verteilung auf einzelne Siegelführergruppen, die ich hier folgen lasse, kann nicht überraschen: Kaiser und Könige: 5 (allesamt recht früh) Päpste: 4 (alle aus der 2. Hälfte des 11. Jh.) Bischöfe: 4 (davon 3 in England) Grafen, Adlige: 3 (davon 2 in Polen) Städte: 25 Geistliche Institutionen: 23 Geistliche Personen: 5 Regionen: 3 (nur Friesland und Gotland) Unbekannte Personen: 3 (möglicherweise Geistliche)
Neue Fragen – neue Forschungsaufgaben Ich verzichte darauf, die metrischen Inschriften in ihrer räumlichen, zeitlichen und sozialen Verteilung näher zu analysieren. Interessanter als die hieraus erwachsenden Fragen erscheinen mir, wie ich an anderen Stellen schon oft betont habe, die Beschäftigung mit jedem einzelnen Siegel und die damit auch jeweils verbundenen Fragen bezüglich Auftraggeber und Autorschaft der Verse. Dazu gehört eine Untersuchung mit dem Ziel, eventuelle Vorbilder und Einflüsse zu ermitteln. Wie erklären sich so frappierende Parallelen, wie wir sie in dem dritten Siegel der Stadt Mainz (Nr. 28 und 29) und dem Siegel des Klosters St. Martin in Dover (Nr. 56) antreffen? Warum nutzen die Erfinder der Verse an entfernten Orten – Trier (Nr. 12), Arles (Nr. 21) und Straßburg (Nr. 22) – die Akkusative plebem und urbem zu ganz ähnlichen Aussagen? Ist hier überhaupt an eine direkte Beeinflussung durch ein
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älteres Siegel zu denken oder kommen in solchen Fällen allgemein menschliche Denkmuster und Motivationen, vielleicht auch bekannte Muster der Dichtkunst zum Tragen? Geht man philologisch an die Verse heran, was mir bei diesen zwingend notwendig erscheint, so eröffnet sich ein großes und spannendes Untersuchungsfeld. Das gilt zunächst einmal ganz handwerklich für die Textemendation, zu der wir uns in einigen Fällen veranlaßt gesehen haben, denn in Kenntnis der römischen Metrik sind einige Siegelinschriften anders zu lesen, als sie von ihren bisherigen Editoren präsentiert worden sind. Vor allem aber legen die inhaltlichen Aussagen und die dabei angewandten dichterischen Gestaltungsmittel eine Typisierung nahe. So bilden etwa fromme Äußerungen, Gebete und Sinnsprüche, wie sie häufig auch in nicht metrischen Umschriften begegnen86, einen eigenen Typ. Ähnliches gilt für das „Städtelob“ und die „Lobtopik“, die Ernst Robert Curtius in der Literatur des lateinischen Mittelalters festgestellt hat.87 Der von Curtius beschriebene „Überbietungstopos“88 läßt sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in Siegeln und ihren Inschriften ausmachen. Er tritt dort vielleicht nicht immer offen zutage, erschließt sich aber einer tiefer gehenden Interpretation. Reichlich Stoff für eine philologische Betrachtung der Siegelverse bieten die feinsinnigen Anspielungen und die oft ähnlich feinsinnige Wortwahl.89 Wir kommen zu dem Schluß, daß es sich bei den in Siegelinschriften erscheinenden Versen um Kleinkunstwerke handelt, die im Gegensatz zu der oft herausragenden künstlerischen Gestaltung des Siegelfeldes bisher nicht angemessen gewürdigt wurden. Tatsächlich haben solche Siegel mit kunstvollen Versen, vor allem die Münzsiegel, für die man zwei (oder bei 86 Heinrich von Geldern, Herr von Montfort und ehemaliger Bischof von Lüttich, führte 1280 ein Siegel mit der Umschrift Fides sine operibus mortua est; vgl. Corpus sigillorum Neerlandicorum (wie Anm. 2), S. 48, Nr. 488; A. P. van Schilfgaarde, Zegels Gelre, S. 17 f. Es lassen sich leicht weitere Beispiele dieser Art beibringen. 87 Ernst Robert Curtius (wie Anm. 17), S. 166 und 191; vgl. auch oben Anm. 54. 88 Ebenda, S. 171–174. 89 Ein schönes Beispiel ist Nr. 52, wo die Wandlung des Saulus zum Paulus durch mucro (d. i. eigentlich die schneidende Spitze des Degens) und ensis (Schwert) deutlich gemacht wird. Mucro bezeichnet die Waffe, die Saulus bei der Verfolgung Christi benutzte; ensis ist das Schwert, das ihm später als Jünger Christi das Martyrium einbrachte, weshalb das Schwert in der bildenden Kunst d a s Attribut des hl. Paulus geworden ist.
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zusätzlichen Randschriften noch mehr) Stempel benötigte, etwas von dem Charakter eines „Gesamtkunstwerkes“.90 Auch wenn man dieser Bewertung nicht folgen will, muß man anerkennen, daß dem Auftraggeber eines solchen Siegels und den beteiligten Künstlern dessen Gestaltung hochwichtig war. Man ging an sie, so müssen wir schließen, mit Liebe, Esprit, Kenntnis lateinischer Verskunst und Selbstdarstellungswillen heran. Dies und viele andere Aspekte gäben Stoff für eine umfangreiche Untersuchung, vielleicht sogar durch einen Doktoranden, der sich durch Kenntnisse in römischer Metrik, mittellateinischer Philologie und Siegelkunde auszeichnet. Die vorliegende Studie will in jedem Falle dazu anregen, der lateinischen Verskunst in Siegeln künftig größere Beachtung zu schenken.
90 Ich bin mir bewußt, daß dieser Begriff anderweitig vergeben ist, benutze ihn aber, um das Zusammenwirken von Sprachkunst und bildender Kunst deutlich zu machen.
IX. Siegelkunst und Grabmalkunst Beobachtungen zu ihren partiellen Übereinstimmungen und zur Beeinträchtigung beider durch den Siegeszug der Heraldik
In der Sphragistik gehört das Wort „Siegelkunst“ bisher zu den eher selten gebrauchten Vokabeln1, obwohl es unstrittig ist, daß es sich bei Siegeln oft um qualitätvolle Kleinkunstwerke handelt. Aber auch diejenigen, welche die Geringschätzung bzw. Vernachlässigung der Siegel durch die Kunstgeschichte beklagen – ihre Zahl mehrt sich2 –, schwingen sich nicht dazu auf, von „Siegelkunst“ zu sprechen und diesen Zweig der Goldschmiedekunst als eigene Kunstgattung anzusehen. Wenn ich im folgenden Vergleiche zwischen der Siegelkunst und der Grabmalkunst anstelle und hierbei einen besonderen Aspekt, nämlich die negativen Auswirkungen des Wappenwesens, hinzunehme, so geschieht dies aus mehreren Gründen: Erstens wurden seitens der Sphragistik, wenn man von einigen Hinweisen3 absieht, die Parallelen zwischen Siegel und Grabmal bisher nicht thematisiert. Zweitens haben umgekehrt die kunsthistorischen Arbeiten zu Grabdenkmälern die Siegel mit figürlichen Darstellungen nur wenig beachtet, was daran liegen mag, daß Grabmäler und Siegel sich in vielerlei Hinsicht, vor allem bezüglich Größe, verwendetem Material, Form und Zweckbestimmung, unterscheiden. Drittens ist den Freunden und Erforschern der Heraldik bisher offenbar nicht bewußt gewesen, daß der Siegeszug der Heraldik zu einer Verkümmerung der Grabmalkunst wie auch der Siegelkunst geführt hat; jedenfalls schweigen sich die Handbücher der Heraldik hierüber aus. Es gibt also genug Gründe, die Beziehungen zwischen Siegeln, Grabmälern und Wappen in den Blick zu nehmen. Allerdings kann ich in meiner Studie nicht viel mehr als erste Hinweise zu dem angesprochenen Themenkomplex liefern, der hoffentlich einmal genauer untersucht werden wird. 1 2 3
Vgl. Kapitel I, Anm. 16 und 17. Ausführlicher hierzu: Markus Späth, Bildlichkeit korporativer Siegel. Perspektiven. Vgl. Toni Diederich, Siegelkunst, S. 152; Markus Späth, Siegelbild und Kathedralgotik, S. 61 f. und S. 66.
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Harald Kellers früher Hinweis auf die Bildnisfeindlichkeit der Heraldik – deren Auswirkungen auf die Siegelkunst Ich gestehe gern, daß ich meine frühe Erkenntnis von der Bildnisfeindlichkeit der Heraldik einem meiner Lehrer an der Archivschule Marburg, dem von mir hochgeschätzten Prof. Dr. Harald Keller4, verdanke. In seinem materialreichen Aufsatz von 1939 über die Entstehung des Bildnisses findet sich der Hinweis auf eine im 13. Jahrhundert aufkommende große Bewegung, welche der Entstehung des Bildnisses entgegenwirken mußte: „eine Vergegenwärtigung des Menschen, die überhaupt auf das Antlitz verzichten kann, weil jetzt die Identifizierung des Dargestellten durch das Wappen erfolgt“.5 In dem Wissen um die große Bedeutung der figürlichen Grabmäler für das Bildnis stellte Keller fest: „In der Grabmalkunst gelang es stellenweise der Heraldik, die Figur des Toten völlig zu verdrängen.“6 Ähnliches geschah stellenweise in der Siegelkunst, denn die Dominanz des Wappenwesens zeigt sich nicht allein in der Tatsache, daß praktisch von Anfang an der niedere Adel und das Bürgertum den Wappensiegeltyp bevorzugten, sondern auch darin, daß in der frühen Neuzeit bei den Siegeln der Herrscher und des hohen Adels Wappendarstellungen gegenüber den traditionellen Bildnisdarstellungen, etwa in Form von Majestäts- und Reitersiegeln, eindeutig überwogen. Hierauf werde ich im zweiten Teil der vorliegenden Studie zurückkommen.
Grabdenkmäler als Forschungsgegenstand Wie der Tod zu den Grundkategorien menschlicher Existenz gehört, so haben Grab, Grabmal und Grabdenkmal als Bestattungsort und Zeichen der 4
5 6
Harald Keller (1903–1989), Ordinarius an der Universität Frankfurt, nahm zeitweilig an der Archivschule Marburg einen Lehrauftrag für Kunstgeschichte wahr, so auch in den drei Semestern des 9. wissenschaftlichen Kursus (1967–1968), dem ich angehörte. In dem genannten Kursus war Kunstgeschichte noch Prüfungsfach. Keller ging zu Beginn ausführlich auf die Entstehung des modernen Bildnisses ein. Mit diesem Thema hatte er sich früher in einem umfangreichen Aufsatz befaßt: „Die Entstehung des Bildnisses am Ende des Hochmittelalters“, in: Römisches Jahrbuch 3 (1939), S. 227–356. Ebenda, S. 248. Ebenda, S. 249.
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Erinnerung an die Toten in allen Kulturen ihre eigene große Bedeutung. Die vielen heute noch erhaltenen Zeugnisse früherer Sepulchralpraxis sind für eine ganze Reihe von Wissenschaftszweigen von hohem Quellenwert. Hatte Erwin Panofsky das Grabmal als Kunstgattung in einem von Alt-Ägypten bis Bernini reichenden großartigen Überblick behandelt7 und Kurt Bauch in einem ähnlich grundlegenden Werk ikonographische Betrachtungen zu den figürlichen Grabmälern des Mittelalters vorgelegt8, so grenzte die nachfolgende Grabmalforschung ihre Untersuchungen sachlich (z. B. durch Beschränkung auf einzelne Grabmonumente), räumlich und zeitlich enger ein, bis sie dann bei dem von 1994 bis 2001 an der Universität Trier betriebenen Sonderforschungsprojekt „Grabdenkmäler zwischen Rhein und Maas“ zu einem neuartigen interdisziplinären Ansatz kam. Die aus dem Trierer Grabmalsprojekt hervorgegangenen Publikationen9 haben die Komplexität des Grabdenkmals in seiner geistes- und kulturgeschichtlichen Relevanz deutlich gemacht, indem sie u. a. auch neuere Fragestellungen der Memorialforschung und der Bildwissenschaften einbezogen.
Typologien der Grabmalformen Die Vielfalt der Grabmalformen hat die Forscher immer wieder veranlaßt, Typologien aufzustellen. Dies gilt auch hinsichtlich der Grabmäler des Mittelalters, die noch in großer Zahl vorhanden sind.10 All dies kann hier nicht 7 Erwin Panofsky, Grabplastik. Vier Vorlesungen über ihren Bedeutungswandel von Alt-Ägypten bis Bernini, Köln 1964 (Neudruck Köln 1993). 8 Kurt Bauch, Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts in Europa, Berlin–New York 1976. 9 Angeführt seien hier nur: W. Maier, W. Schmid, M. V. Schwarz (Hrsg.), Grabmäler. Tendenzen der Forschung an Beispielen aus Mittelalter und früher Neuzeit, Berlin 2000, sowie Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid, Grabdenkmäler der Erzbischöfe (mit umfangreichem Verzeichnis der Literatur zur Grabmalforschung); vgl. meine Besprechung dieses Werkes in: Rheinische Vierteljahrsblätter 69 (2005), S. 350–353. 10 Vgl. etwa Ernst Borgwardt, Die Typen des mittelalterlichen Grabmals in Deutschland, phil. Diss. Freiburg i. Br. 1939; Kurt Bauch (wie Anm. 8), der sein Hauptthema, das Bildnis auf Grabmälern, sukzessive nach deren einzelnen Typen abhandelt; Gerhard Schmidt, Zur terminologischen Unterscheidung mittelalterlicher Grabmal-
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referiert werden. Vielmehr will ich nachfolgend in einer Art Engführung die Bildnissiegel – und auch hier nur die Siegel mit figürlichen Darstellungen des stehenden oder thronenden Siegelführers – in Beziehung setzen zu den figürlichen Grabmälern des Mittelalters als Ausdruck des Bestrebens, das Andenken des Verstorbenen durch ein Werk der Bildniskunst zu sichern. Die Beschränkung auf figürliche Grabmäler gibt Anlaß zu einem Seitenblick auf die bei Grabplatten vorkommenden anderen (nichtfigürlichen) Typen, denen ich entsprechende Siegeltypen zuordnen möchte. Ich folge hier der Unterscheidung, die Ernst Borgwardt vorgenommen hat: Symbolgrabstein (→ Symbolsiegel), Wappengrabstein (→ Wappensiegel) und Inschriftenplatte (→ Schriftsiegel). Diese Parallelen sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Bei den uns interessierenden figürlichen Grabmälern spielen vor allem die von Kurt Bauch aufgeworfenen Fragestellungen eine Rolle; hinzukommen die von der jüngeren Grabmalforschung behandelten Aspekte. Es erscheint mir sinnvoll, bei dem Vergleich von Siegelkunst und Grabmalkunst nicht nur die Konvergenzen, sondern auch die Divergenzen zu betrachten, weil dadurch die Eigentümlichkeiten beider stärker hervortreten.
Figürliche Grabdenkmäler und vergleichbare Siegel Von den vielen Grabmalformen mit figürlichen Darstellungen kommen zum Vergleich mit Siegeln vornehmlich die Grabplatten in Betracht, welche eine liegende, kniende, stehende oder reitende Grabfigur zeigen. Dabei ist allerdings zu beachten, daß nicht jede horizontale Figur eine liegende darstellt. Adolf Reinle hat darauf hingewiesen, daß häufiger die »liegende« Figur in fast allen Elementen eine stehende meint und sich von den Gewändefiguren der Portale herleitet.11 Die kniende Grabfigur, die oft in einer Szene oder typen, in: Walter Koch (Hrsg.), Epigraphik 1988, Wien 1990, S. 293–304; Dorothea Terpitz, Figürliche Grabdenkmäler des 15. bis 17. Jahrhunderts im Rheinland, phil. Diss. Köln 1996, Leipzig 1997, wo die unterschiedlichen äußeren Grabmalformen eingangs beschrieben und später nach ihrer örtlichen Verbreitung und zeitlichen Schichtung untersucht werden; eine subtilere Typologie für den Bereich der Bischofsgräber findet sich bei Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid (wie Anm. 9), S. 209–211, wo auch die besonderen örtlichen Typen mit regelrechten Serienbildungen in den einzelnen Kathedralkirchen dargestellt werden. 11 Adolf Reinle, in: Lexikon des Mittelalters IV (1989), Sp. 1626.
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einem Figurenensemble erscheint, lassen wir hier bewußt beiseite, obwohl der Typ des Adoranten- oder Devotionssiegels mit dem zu Christus, Maria oder einem anderen Heiligen betenden Siegelführer sich zum Vergleich anbietet. Da auch die Epitaphe, die sich nicht über dem Grab befinden, sondern an anderer Stelle an den Verstorbenen erinnern und zu einem Gebet für diesen auffordern, nicht selten den Verewigten kniend in einer Szene darstellen, lasse ich sie gänzlich unberücksichtigt. Ein eigenes, hier ebenfalls nicht zu erörterndes Thema wäre der Vergleich der beim hohen Adel Jahrhunderte lang dominierenden Reitersiegel mit den Reitergrabmälern, die sich erst mit den Scaligergräbern des 14. Jahrhunderts in Verona entfalten, im spätmittelalterlichen Italien mit repräsentativen Beispielen vertreten sind und zum Reitermonument der Neuzeit überleiten.12 Im Vergleich zu den vor allem bei Herrschern, Bischöfen, Pröpsten, Äbten und Äbtissinnen massenhaft vorkommenden Thronsiegeln des Mittelalters sind Grabmäler mit Darstellung des Verblichenen in sitzender Haltung ausgesprochen selten.13 Ich werde daher trotz der bestehenden Unterschiede bewußt auch einen Vergleich zwischen Thronsiegeln und Grabplatten mit stehenden oder liegenden Figuren herstellen. Es sei vorweg in aller Deutlichkeit gesagt, daß es sich bei diesen Grabplatten nur um einen – freilich bedeutenden – Ausschnitt aus dem großen Komplex Grabmal und Grabmalkunst handelt.
Frage der Auftraggeberschaft An erster Stelle soll uns die Frage beschäftigen: Wer ist im Siegel bzw. auf der Grabplatte dargestellt und wer hat den Auftrag zu ihrer Herstellung gegeben? Bei den Siegeln ist regelmäßig davon auszugehen, daß eine Person ein Typar 12 Ebenda; Dorothea Terpitz (wie Anm. 10), S. 26, weist darauf hin, daß sich das Reiterstandbild bei Grabmälern in Ländern außerhalb Italiens, etwa in Frankreich und Deutschland, nicht durchsetzen konnte. 13 Ein qualitativ herausragendes Beispiel ist das Grabmal des 1321 gestorbenen Bischofs Antonio d’Orso, ein Werk des Tino da Camaino im Dom zu Florenz; vgl. Harald Keller (wie Anm. 4), S. 311 (mit Abb.). Zum Grabmaltyp des thronenden Regenten mit seinen Insignien – sedente in maestà – vgl. Birgitte Bøggild Johannsen, Zum Thema der weltlichen Glorifikation des Herrscher- und Gelehrtengrabmals des Trecento, in: Hafnia 6 (1979), S. 85 (zitiert nach Dorothea Terpitz, wie Anm. 10, S. 167 und 217).
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herstellen ließ, sobald sich durch Erreichen eines bestimmten Alters oder einer bestimmten Stellung/Würde für sie die Notwendigkeit zur Beglaubigung von Urkunden durch ein – in der Regel – großes Siegel (Hauptsiegel)14 ergab. Der Personenkreis, der im Siegel thronend oder stehend abgebildet wurde, beschränkte sich im Mittelalter auf die weltliche und geistliche Elite: Kaiser, Könige, Herzöge und Grafen sowie Bischöfe und geistliche Dignitäre. Bei Personen unterhalb dieser Oberschicht, etwa Angehörigen des niederen Adels oder des Bürgertums, ist der anspruchsvolle Bildnissiegeltyp relativ selten anzutreffen. In diesen Kreisen dominierte eindeutig der Wappensiegeltyp (vgl. Abb. 1); auch andere Siegeltypen wie das redende Siegel oder das Hausmarkensiegel (bei Bürgern) treten zahlenmäßig gegenüber den massenhaft vorkommenden Wappensiegeln zurück. In allen Fällen ist zu vermuten, daß der Siegelführer selbst der Auftraggeber war oder zumindest an der Auftragsvergabe mitgewirkt hat. In der Regel dürfte er den Siegeltyp ausgewählt und Anweisungen zur Gestaltung des Siegels gegeben haben.
Abb. 1 Wappensiegel des Burggrafen Heinrich von Drachenfels, Abdruck von 1305
Wappensiegel waren seit dem Spätmittelalter sehr beliebt und weit verbreitet. Sie sind heute noch, wenngleich nicht immer in gutem Zustand, in unermeßlicher Zahl erhalten. Bei dem hier ausgewählten Stück aus der Blütezeit der Heraldik handelt es sich um ein redendes Wappen. Der geschwun14 Sekretsiegel in der (ursprünglichen) Funktion von Briefverschlußsiegeln und andere Nebensiegel, die i. a. keine Thronfigur zeigen, bleiben hier außer Betracht.
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gene spitze Wappenschild tritt plastisch aus dem Siegelfeld hervor. Der den ganzen Schild ausfüllende Drachen hebt sich seinerseits als Flachrelief vom Schildgrund ab. Sind die gemeinen Figuren wie auch die Heroldsbilder in flächig dargestellten Wappen durch den Wechsel von Farben und Metallen gut erkennbar, so wird dies bei den monochrom ausgeführten Wappen im Siegel und auf dem Grabdenkmal durch die Verwendung verschiedener Reliefebenen erreicht. Der Kreis der Personen, für die figürliche Grabmäler erhalten sind, ist i. w. derselbe wie bei den Bildnissiegeln. Figürliche Grabmäler wurden im hohen Mittelalter fast ausschließlich für die erwähnte weltliche und geistliche Elite geschaffen. In zahlreichen Kirchen, nicht nur ehemaligen Stiftsund Klosterkirchen, finden sich figürliche Grabmäler von Adeligen und geistlichen Dignitären (die in vielen Fällen dem Adel angehörten). Nur verhältnismäßig wenige Ritter und Bürger – diese i. w. auch erst seit der Mitte des 14. Jahrhunderts und sofern es sich um Stifter oder Wohltäter handelte – erhielten ein figürliches Grabmal in „ihrer“ Kirche. Vereinzelt hat man auch Werkmeistern der Gotik, Gelehrten, Bürgermeistern und Handelsherren ein figürliches Grabmal in der Kirche zugestanden.15 Allerdings spielten bei den Bürgerlichen Wappengrabsteine eine weitaus größere Rolle, worauf später zurückzukommen ist. Im Gegensatz zu den Siegeln sind bei den figürlichen Grabmälern Auftraggeber und dargestellte Person nicht immer identisch. Der Auftrag und u. U. auch nähere Bestimmungen zur Gestaltung des Grabmals sind, wie die in der Literatur angeführten Beispiele zeigen, in vielen Fällen schon zu Lebzeiten des Verstorbenen ergangen. Sehr viel häufiger kam es natürlich vor, daß der Auftrag zur Errichtung eines Grabmals von den Nachfahren, dem Amtsnachfolger (etwa einem Bischof ) oder aber einer geistlichen Institution (etwa aus Dankbarkeit für Stiftungen oder Wohltaten) erteilt wurde. Das ist für die Interpretation und Bewertung eines figürlichen Grabmals wichtig. Dasselbe gilt für den ebenfalls nicht seltenen Fall, daß ein Grabmal Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte nach dem Tod des Verblichenen in Auftrag gegeben wurde. Harald Keller hat eine ansehnliche Zahl solcher Beispiele zusammengetragen und die dabei obwaltenden Motive benannt:
15 Adolf Reinle (wie Anm. 11), Sp. 1625.
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Drang nach Vergegenwärtigung aus dem Gefühl dankbarer Verehrung, politische Absicht, Legitimitätsnachweis und Repräsentationsbedürfnis.16
Datierungsmöglichkeiten Es ist schon oft als ein Vorzug herausgestellt worden, daß Massen von Siegeln an datierten Urkunden überliefert sind und der Herstellungszeitpunkt von Typaren persönlicher Siegelführer meistens eng eingegrenzt werden kann. Sieht man von den eben erwähnten Fällen der deutlich nach dem Tod erfolgten Errichtung von Grabmälern ab, so bietet das i. a. auf der Grabplatte angegebene Todesdatum einen zuverlässigen Anhaltspunkt zur Datierung der jeweiligen Grabplastik. Der Kunsthistoriker gewinnt damit wichtige Festdaten für die Plastik überhaupt, bei der man oft mit Stilvergleichen arbeiten muß. Grabfiguren und Siegel haben also gleichermaßen den Vorteil, daß sie in großer Zahl erhalten und gut zu datieren sind.
Verwendete Materialien Die unterschiedlichen Materialien und Größen der Siegel einer- und der Grabplatten andererseits scheinen einem Vergleich beider Kunstgattungen entgegenzustehen. Für Grabmäler hat man vorwiegend Gesteinsarten aus der Region verwandt, aber auch importiertes Material wie Marmor oder Alabaster. Die Zahl der aus Holz gefertigten Grabfiguren mag ehemals größer gewesen sein, als heute ersichtlich ist, doch tritt Holz bei Grabmälern gegenüber Stein eindeutig zurück. Eine beträchtliche Verbreitung erlangten hingegen die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts einsetzenden figürlichen Grabplatten aus Bronze, Messing oder Kupfer. Diese waren i. a. nicht skulptiert, sondern zeigten ein graviertes „ornamenthaftes Liniengebilde“17. Hergestellt wurden die minuziös gearbeiteten Messinggrabplatten vor allem in Flandern (mit Zentrum Brügge). Seit den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts breiteten sie sich in Mittel- und Nordeuropa aus. Ritzzeichnungen in Stein gab es schon seit dem 11. Jahrhundert, doch standen Bronze, Mes16 Harald Keller (wie Anm. 4), S. 253 f. 17 Ebenda, S. 284.
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sing und Kupfer in höherem Ansehen. Die Herstellung von figürlichen Grabplatten in Stein, Holz oder Metall erforderte unterschiedliche Techniken und lag dementsprechend in der Hand von spezialisierten Künstlern. Siegelstempel wurden meistens ebenfalls in Bronze oder Messing, seltener in Silber geschaffen, und zwar von Goldschmieden oder darauf spezialisierten Siegelschneidern (Graveuren). Der Durchmesser bzw. die Höhe bei spitzovalen Siegeln lag bis zum Ende des Spätmittelalters deutlich unter 10 cm und schwoll erst seit dem ausgehenden Mittelalter bei Herrscher- und Fürstensiegeln beträchtlich an. Doch auch Siegel von 15 cm im Durchmesser hatten als Kleinkunstwerke mit den erwähnten gravierten Metallplatten wenig zu tun. Diese wurden nämlich ebenso wie die figürlichen Grabmäler in Stein oder Holz meist in annähernder Lebensgröße hergestellt.
Erhaltungszustand Während die Grabmäler wegen der Festigkeit des Materials, sofern nicht mutwillige oder unbeabsichtigte Beschädigungen, etwa bei abgetretenen Grabplatten, vorliegen, oft recht gut erhalten sind18, befindet sich ein großer Teil der an Urkunden überlieferten Siegel in einem Zustand, der die Feinheit und künstlerische Qualität des Siegelschnitts nicht recht erkennen läßt. Nur ein kleiner Teil dieser Siegel ist heute noch intakt und in seiner ursprünglichen Ausprägung zu erkennen. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Da für die Siegelabdrücke Bienenwachs – mit unterschiedlichen Beimischungen zur Erzielung einer größeren Festigkeit und bestimmten Farben – benutzt wurde, sind sie sehr fragil und so einem Verfallsprozeß ausgesetzt gewesen, der sich in den letzten zwei Jahrhunderten durch die Benutzung der Urkunden in den Archiven, aber auch durch mangelnde Fürsorge der Archivare beschleunigt hat.19 Mit Recht hat Rainer Kahsnitz die Siegel als die „buchstäblich empfindlichsten Kunstwerke“ bezeichnet, „die uns aus dem Mittelalter über18 Vgl. dazu aber auch Gerhard Schmidt (wie Anm. 10), S. 294 f., der auf mögliche Substanzverluste bis zum Verschwinden maßgeblicher Partien sowie häufigere Dislokationen hingewiesen hat, wobei letztere in unserem Zusammenhang weniger relevant sind. 19 Vgl. Toni Diederich, Die Erhaltung von Siegeln. Eine vordringliche Aufgabe des Denkmalschutzes für die Archive, in: Der Archivar 34 (1981), Sp. 379–388.
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kommen sind“.20 Die Zahl erhaltener Typare von anspruchsvollen persönlichen Siegelführern, die sich des Bildnissiegels bedienten, ist aufs Ganze gesehen nicht groß, für kunsthistorische Forschungen aber doch von Bedeutung.
Formen Die rechteckige Form der figürlichen Grabplatten entspricht in ihrer betonten Längen- bzw. – bei stehenden Grabplatten – Höhenerstreckung der Gestalt des Menschen. Im mittelalterlichen Siegelwesen haben sich dagegen die runde und die für die Darstellung von Standfiguren besonders geeignete spitzovale Form beherrschend durchgesetzt. Andere Siegelformen, etwa das schon in der Karolingerzeit vorkommende Oval oder die beim niederen Adel zeitweise beliebte Schild- oder Dreieckform, sind zahlenmäßig von geringer Bedeutung, ganz zu schweigen von anderen ausgefallenen Siegelformen wie Quadrat und Rechteck. Wir werden also bei dem später folgenden Vergleich des ikonologischen Aufbaus runde und spitzovale Siegel zu den rechteckigen Grabplatten in Beziehung setzen.
Standortfrage beim Grabdenkmal Zu den erheblichen Divergenzen zwischen Siegel und Grabdenkmal gehört die Tatsache, daß bei dem letztgenannten die Standortfrage eine große Rolle spielt. Sie war nicht nur für die Errichtung eines einzelnen Grabdenkmals im Kirchenraum von Bedeutung, sondern auch und vor allen Dingen bei der Einfügung in eine schon bestehende Reihe oder ein Ensemble, wie die Untersuchung über die Grabdenkmäler der Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz in den betreffenden Domkirchen deutlich gemacht hat.21 Dieser für die Grabmalforschung hochwichtige Aspekt soll hier nicht näher beleuchtet werden, weil sich zu dem primären Zweck des Siegels, d. i. die Beglaubigung von Urkunden, keine Parallelen ergeben. Das Typar, das vom Künstler geschaffen wurde, war in dieser Hinsicht nur Mittel zum Zweck. Der Siegel20 Rainer Kahsnitz, Siegelforschung und Kunstgeschichte, Bericht über das diesbezügliche Tagungsreferat, in: Geschichte in Köln 13 (1983), S. 20. 21 Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid (wie Anm. 9).
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abdruck hatte seinen durch die Urkundenpraxis festgelegten Ort, übrigens auch, worauf ich schon früher hingewiesen habe22, durch die feste Reihenfolge der Siegel, weil der erste Platz dem vornehmsten Siegler zustand, dem dann, wenn mehrere Siegler beteiligt waren, die übrigen rechts anschließend nach ihrem Rang folgten.
Plastizität Die stehenden oder liegenden Figuren auf den Grabplatten, oft in betender Haltung dargestellt, erscheinen in sehr unterschiedlicher Plastizität. Sieht man von den erwähnten flächenhaften Ritzzeichnungen ab, so sind vollplastische oder annähernd vollplastische Durchbildungen wie die Grabfigur des Trierer Erzbischofs Jakob von Sierck († 1456), die Wolfgang Schmid „zu den Meisterwerken der spätgotischen Skulptur im westdeutschen Raum“ zählt23, selten. Wie Dorothea Terpitz für die rheinischen Verhältnisse des 15. bis 17. Jahrhunderts festgestellt hat, war die Ausgestaltung des Grabmals im Flach- oder Hochrelief die weitaus häufigste.24 Man darf annehmen, daß dies auch für andere Landschaften in Mittelalter und früher Neuzeit zutrifft. Beim Siegel ist die Variationsbreite für die plastische Durchbildung wie bei Münzen und später auch Medaillen begrenzt. Es handelt sich dort generell um Flachreliefs, und es fällt sofort auf, wenn der Künstler einen Siegelstempel ein wenig tiefer als „normal“ geschnitten hat.
Parallelen beim ikonologischen Aufbau Beim ikonologischen Aufbau zeigen die hier interessierenden Thron- und Standbildsiegel auffällige Parallelen zu den figürlichen Grabplatten. Im Zentrum steht das Bildnis des Siegelführers bzw. des Verstorbenen. Entsprechend der Bedeutung der Heraldik wird die Figur seit dem Spätmittelalter 22 Siehe oben Kapitel VI. 23 Wolfgang Schmid, Grabmalforschung im Rhein-Maas-Mosel-Raum. Konzepte und Ergebnisse, in: Wolfgang Schmid (Hrsg.), Regionale Aspekte der Grabmalforschung, Trier 2000, S. 1. 24 Dorothea Terpitz (wie Anm. 10), S. 35.
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oft von einem oder mehreren Wappen begleitet. Hinzukommen – ebenfalls oft, wenngleich in ganz unterschiedlicher, seit dem Spätmittelalter zunehmender Zahl – Attribute mit spezifischer Bedeutung: Standesabzeichen, geistliche Insignien, Engel, Figürchen und Tiere. Wachsende Bedeutung erhalten seit der Gotik die architektonischen Elemente. Unverzichtbar ist beim Siegel wie beim Grabmal die Umschrift. Alle diese Bestandteile sollen uns nunmehr hinsichtlich ihrer Form, Funktion und Bedeutung näher beschäftigen.
Figürliche Darstellung (Bildnis) und Frage der Porträtähnlichkeit Im Zentrum unserer Betrachtungen steht zwangsläufig die Darstellung des Menschen im Siegel und auf der Grabplatte. Ihre Bedeutung kann, bezogen auf unser Thema, nicht hoch genug eingeschätzt werden, und tatsächlich weist die Forschung, die sich einerseits mit den Siegeln und andererseits mit den Grabplatten mittelalterlicher Herrscher, Fürsten, Grafen und Prälaten beschäftigt hat, eine Reihe von Ergebnissen auf, die in erstaunlich hohem Maße für beide Kunstgattungen zutreffen. Unterschiede ergeben sich aus der grundlegenden Tatsache, daß der Siegelführer sein Typar zu Lebzeiten – oft nach Übernahme der Regierung oder Erreichen einer neuen Stufe auf der Karriereleiter – stechen läßt, während die Grabplatte mit dem Bildnis des Verstorbenen fast ausnahmslos25 erst nach seinem Tod geschaffen wird. Der Siegelführer benutzt sein Siegel zu Repräsentationszwecken und als Kommunikationsmittel, kurz zur Darstellung seiner selbst.26 Dabei kommt es lange Zeit nicht darauf an, daß das Siegelbild den Auftraggeber als individuelle Persönlichkeit ausweist. Wichtig ist vielmehr, daß er durch die Kleidung, weltliche Herrschaftszeichen, geistliche Insignien usw. als Angehöriger eines bestimmten Standes oder Inhaber eines bestimmten Amtes bzw. Ranges
25 Auch wenn die durch Vertrag oder Testament getroffenen Festlegungen bezüglich der Gestaltung des eigenen Grabmals schon zu Lebzeiten vorgenommen wurden, erfolgte die Ausführung in der Regel erst nach dem Ableben des Auftraggebers. 26 Vgl. oben die Ausführungen zum Bildnissiegel in Kapitel I, sowie Rainer Kahsnitz, „Bildnis“.
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identifiziert werden kann.27 Um es an einem konkreten Beispiel deutlich zu machen: Bischöfe lassen sich generell in liturgischer Kleidung mit ihren Pontifikalien darstellen. Den Unterschied zum Bischof unterstreicht der Erzbischof durch das nur ihm zustehende Pallium; es fehlt auf den erzbischöflichen Bildnissiegeln nie. Eine Wiedergabe individueller Züge durch die realistische Gestaltung des Antlitzes hat es Jahrhunderte lang nicht gegeben. Man könnte geneigt sein, dies auf die äußerliche Tatsache zurückzuführen, daß die Siegel bis ins 13. Jahrhundert hinein noch relativ klein waren und daher kaum Platz für die Herausarbeitung individueller Gesichtszüge boten. Eine solche Annahme verbietet sich aber aus zwei Gründen: Erstens fällt die Entstehung des Porträts im modernen Sinne allgemein erst in die Zeit von 1250 bis 135028 – eine Entwicklung, die besonders an der Grabmalkunst ablesbar ist und übrigens in Italien schon etwas früher einsetzt.29 Zweitens zeigt die Kaisergoldbulle Karls IV. von 1355, die mit 5,8 cm im Durchmesser wahrlich nicht viel Platz für die Thronfigur des Kaisers bietet, eine „perfekte Beherrschung des individuellen Porträts“, allerdings „verbunden mit einer überhöhten Idealisierung“.30 Für die Tendenz zur Porträtgestaltung im Siegel gibt es seit der Zeit Karls IV., die teilweise mit der kunsthistorisch so bezeichneten Parlerzeit zusammenfällt, einige Belege.31 Helga Wammetsberger hat beobachtet, daß bei den erhaltenen Bildnissen Karls IV. außer den
27 Brigitte Miriam Bedos-Rezak, Seals and The Medieval Semiotics of Personality, S. 53, hat dieses Phänomen zuletzt treffend auf die Formel gebracht: “Personal identity on seals was thus expressed in terms of the rapport of sameness which existed between different individuals belonging to a common ordo: ego was an instance of ordo“. 28 Harald Keller (wie Anm. 4), S. 229. Zu demselben Zeitansatz kommt Helga Wammetsberger, Individuum und Typ in den Porträts Kaiser Karls IV., in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 16 (1967), S. 79: „Mit der Entwicklung des Portätrealismus in der europäischen Kunst von um 1250 bis um 1350 wurden die alten Bildnistypen einer Wandlung unterzogen, die mit Beginn der Neuzeit zu ihrer Auflösung führte.“ 29 Harald Keller (wie Anm. 4), S. 267, stellt diesbezüglich fest, „daß es Italien ist, wo die Entstehung des Porträts in unserem Sinne zwischen 1240 und 1340 sich vollzieht“. 30 Helga Wammetsberger (wie Anm. 28), S. 80. 31 Ebenda, S. 79; Toni Diederich, Siegelkunst (wie Anm. 3), S. 151 und 153–157 (bezüglich der Siegel Karls IV.) sowie S. 160 (bezüglich des Trierer Erzbischofs Kuno von Falkenstein).
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Gesichtern auch Insignien und Gewänder porträtiert werden.32 Mit den vielen Porträts Karls IV., vor allem denjenigen in Prag und auf Karlstein, die Wammetsberger zu den individuellsten und „triumphalsten“ rechnet, gelang „erstmals in größerem Umfang der Durchbruch des modernen Porträts“.33 Bei der Durchmusterung der einzelnen Porträtgruppen – ein Grabmal Karls IV. ließ sich nicht heranziehen, da ein solches nicht existiert34 – kam Wammetsberger zu der wichtigen Feststellung, daß die oben beschriebene lange Phase des typisierenden Bildnisses zwar unter den Anjous in Italien und Frankreich, Papst Bonifaz VIII., teilweise auch Ludwig dem Bayern, vor allem aber unter Karl IV., von einer Phase porträtrealistischer und zugleich idealisierender Gestaltung abgelöst wurde, daß man aber danach wieder zu einer typisierenden Gestaltungsweise überging.35 Das zeigt sich auch in der Siegelkunst, insbesondere in den Herrschersiegeln, die nicht zuletzt wegen des weitgehenden Festhaltens an dem so entwickelten idealisierenden Typ als konservativ gelten. In der Grabmalkunst ist die Darstellung des Toten von zentraler Bedeutung und seit Ende des 11. Jahrhunderts eine der wichtigsten Aufgaben mittelalterlicher Plastik.36 Demgemäß sind die Untersuchungen zum Bildnischarakter und zu anderen Aspekten der figürlichen Grabplatten ein wichtiges Thema nicht nur der Grabmalforschung, sondern auch der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunstgeschichte überhaupt. Aus der umfangreichen Literatur können nur einige – weitgehend unstrittige – Ergebnisse referiert werden: Wie bei den Bildnissiegeln wurde auch bei den Figuren auf Grabplatten lange Zeit keine Porträtähnlichkeit angestrebt. Vielmehr ist das Bildnis des Toten idealisiert. Seine Identifizierung erfolgt in den Jahrhunderten vor der Herausbildung des modernen Porträts nicht über das Gesicht, sondern wie im Siegel über die Kleidung und die weiteren Attribute, welche den Verstorbenen als Angehörigen eines Standes oder Inhaber eines bestimmten Amtes ausweisen. Bei dieser Typisierung kommt es auch nicht darauf an, den Toten so darzustellen, daß sein Alter zum 32 Helga Wammetsberger (wie Anm. 28), S. 80. 33 Ebenda, S. 87. 34 Karl IV. wurde unter dem Hauptaltar des Prager Veitsdomes begraben; seine Gebeine hat man im 16. Jahrhundert umgebettet. 35 Helga Wammetsberger (wie Anm. 28), S. 86 f. 36 Adolf Reinle (wie Anm. 11), Sp. 1625.
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Zeitpunkt des Ablebens ersichtlich ist. Wie Harald Keller gezeigt hat, gab es seit Beginn des 13. Jahrhunderts die Auffassung, „das Bild des Toten auf seinem Grabstein müsse ihn als Dreiunddreißigjährigen darstellen, so alt wie Christus war, als er für uns starb, und so alt, wie alle Schläfer sein werden, wenn die Posaune des Jüngsten Gerichts sie rufen wird, um als Jugendliche im Geiste Gottes zu leben“37. Diese Vorstellung wird erst um die Mitte des 14. Jahrhunderts in den Ländern nördlich der Alpen aufgegeben, wobei das weibliche Bildnis länger als das männliche der idealisierenden Typik verhaftet bleibt.38 Die Herausbildung des modernen Bildnisses mit dem Interesse an der individuellen Physiognomie wurde oben schon kurz beschrieben. Ablesbar ist diese Entwicklung insbesondere an der Grabmalkunst. Trotz der nunmehr vorherrschenden realistisch-porträthaften Wiedergabe des Antlitzes gibt es bei den Grabfiguren auch weiterhin idealisierende Elemente, wie sie oben für die Bildniskunst insgesamt schon erwähnt wurden. Sie verstärken sich durch die noch näher zu behandelnden weiteren Gestaltungsmittel der figürlichen Grabplatte und die Funktion des Grabmals. Dieses zeigt ein Bild des Verstorbenen, „das sich an einem latent unbestimmten Standort zwischen Sterben, Tod, Begräbnis, Auferstehung und Jüngstem Tag befindet“.39
Kleidung und Attribute zur Kennzeichnung der dargestellten Person Zu den wesentlichen Elementen, die sowohl den Siegelführer als auch die Grabfigur hinsichtlich Stand und Rang bezeichnen, gehören die Kleidung und – im wahrsten Sinn des Wortes – signifikante Attribute. Der Herrscher etwa, bekleidet mit gesäumtem Königsmantel und u. U. darunter sichtbarer Dalmatik, erscheint mit Krone, Zepter und Reichsapfel; der Landgraf hingegen wird im gemusterten Kleid mit darüber zurückgeschlagenem Mantel, standartenartiger Fahne und Wappenschild dargestellt, der Ritter in Rüstung, der Gelehrte im Talar, der Bürger im Festtagsgewand. Die hohen Geistlichen, Bischöfe und Dignitäre, tragen liturgische Kleidung. Ihre spezifischen Amts- und Würdezeichen signalisieren ihren Rang: Beim Bischof sind dies Mitra, Krummstab und Buch, wobei an die Stelle des Buches der 37 Harald Keller (wie Anm. 4), S. 246. 38 Ebenda, S. 246 f. 39 Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid (wie Anm. 9), S. 200.
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Segensgestus der Rechten treten kann. Der Stiftspropst erscheint mit virga und Buch, der Abt mit Krummstab und Buch. Nicht ohne Grund werden die Attribute von Herrschern und Bischöfen Insignien genannt. Es sind wie auch die Attribute der anderen Personengruppen, die in der mittelalterlichen Hierarchie folgen, Zeichen mit einer klaren kommunikativen Funktion: Sie melden dem Kundigen, der das Bildnis betrachtet und die Proprien der verschiedenen Stände und Würden kennt, in einer unmittelbaren Weise, wie der Dargestellte in der Gesellschaft einzuordnen ist.
Wappen Ein Attribut ganz anderer Provenienz und Aussage tritt seit dem Spätmittelalter immer häufiger im Siegel wie auch auf der Grabplatte hinzu, um den Dargestellten zu bezeichnen: das Wappen. Seiner ursprünglichen, auf das Kriegswesen bezogenen Funktion zwar nicht entkleidet40, gewinnt das Wappen spätestens seit dem 14. Jahrhundert in der Siegel- und Grabmalkunst aber noch eine weitere, in der Folge stetig zunehmende Bedeutung. Das Wappen ist nunmehr auch ein Identifikations- und Eigentumszeichen, das für ein Geschlecht oder ein Territorium steht. Diese Funktion des Wappens, die sich mit einer spürbaren Freude der Menschen am Wappenwesen, nicht zuletzt wohl an seiner reglementierten Farbigkeit, verbindet, kommt in vielen Bereichen zum Tragen. Zwar erscheint das Wappen im Siegel immer, auf der Grabplatte ganz überwiegend, in monochromer Form, doch schmälert das nicht seine Bedeutung. Der Siegelführer wie auch der Verstorbene wird als Angehöriger seines Geschlechtes41 bzw. als (ehemaliger) Inhaber eines Territoriums ausgewiesen. Als Lebender wie als Toter steht er in einer Ahnenreihe, mit der er durch sein Wappen sichtbar verbunden ist und mit der er sich identifiziert. Ähnliches gilt für das Territorialwappen: Es bezeichnet den im 40 Nur beim hohen Adel – in seinen Reiter- und Standbildsiegeln wie auch auf den figürlichen Grabmälern – und den Grabmälern des niederen Adels wird mit dem Wappen die Assoziation zu dessen ursprünglicher Rolle im Kriegshandwerk hergestellt. 41 Daher ist immer der Zusammenhang von Genealogie und Heraldik im Auge zu behalten. Vor allem die neuzeitlichen Grabmäler erweisen sich mit ihren durch eine Mehr- oder Vielzahl von Wappen demonstrierten Ahnenreihen als eine wichtige genealogische Quelle.
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Siegel bzw. auf der Grabplatte Dargestellten in der Nachfolge seiner Vorgänger als rechtmäßigen Inhaber des betreffenden Landes. Das Wappen ist nicht nur Zeichen der Identifikation mit dem Territorium, sondern dient auch der Legitimation, darüber hinaus seit dem 14. Jahrhundert durch die Kumulation mehrerer Territorialwappen, zunehmend der Machtdemonstration. Die ideelle Bedeutung des Wappens kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie erklärt zu einem wesentlichen Teil auch den Siegeszug der Heraldik in der Neuzeit, obwohl das Wappen seit dem 14. Jahrhundert seine praktische Bedeutung im Kriegshandwerk verloren hatte und der Blütezeit der Wappenkunst im 16. Jahrhundert eine lange wappenkünstlerische Verfallszeit folgte.
Symboltiere Zu den Parallelen, die wir bei Bildnissiegeln und figürlichen Grabmälern feststellen können, gehören die dort zwar nicht sehr oft, aber auch nicht ganz selten vorkommenden Tiere. Kurt Bauch hat den „Symboltieren“, wie sie gern bezeichnet werden, einen eigenen Abschnitt gewidmet.42 Er führt als erste „Symbolfigur“ den Löwen an, weist aber darauf hin, daß der symbolische Sinn des Löwen, der u. a. für Herrschaft, Königtum, Kraft, Zorn und Gewalt steht, „recht vielfältig und widersprüchlich“ ist. Wie der Löwe erscheint auch der Hund unter den Füßen der Grabfigur. Dieser ist nach Bauch „wohl eher Sinnbild der Treue als überwundener Lüsternheit“. Auch in den Thron- und Standbildsiegeln ist nicht selten unter den Füßen des Dargestellten ein Löwe oder ein Hund zu finden. Das gilt insbesondere für die Bischofssiegel.43 Da dort in zeitnaher Folge einmal ein Hund, ein anderes Mal ein Löwe zu Füßen des Bischofs abgebildet ist44, wird man bei der Interpretation der Tiere Vorsicht walten lassen müssen. Bezüglich der Grabdenkmäler kommt Adolf Reinle zu einem ähnlichen Fazit wie Kurt Bauch: „Tiere unter Grabfiguren sind kaum je eindeutig zu erklären, da es sich meist um 42 Kurt Bauch (wie Anm. 8), S. 73 f. 43 Daß die Bischöfe oft auf Faltstühlen sitzen, die mit Löwen-, Hunden- oder Drachenköpfen geschmückt sind, soll hier erwähnt, aber nicht näher erörtert werden. 44 Beispiele seit dem 14. Jahrhundert gibt es etwa bei den Siegeln der Erzbischöfe von Köln und – zahlreicher – der Erzbischöfe von Trier, wie aus dem Corpus von Wilhelm Ewald, hier: Rheinische Siegel I und II, ersichtlich ist.
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gegensätzliche Symbole handelt.“45 Wenn daher der Löwe zu Füßen der Grabfigur Erzbischof Friedrichs von Saarwerden im Kölner Dom als „Symbol der Herrschaft und der Auferstehung des Verstorbenen gedeutet wird46, so erscheint der erste Teil plausibel, weil der Löwe auch in anderen Zusammenhängen eine solche Interpretation nahelegt, doch bleiben bei der Erklärung des Löwen als Symbol der Auferstehung Fragen.47 Es ist hier zu beherzigen, was Günther Binding in grundsätzlicher Weise zur Bedeutung der Zeichen und Symbole dargelegt hat. Er kam zu dem Schluß: „Kommunikation über die Zeichen kann nur zustande kommen, wenn der Betrachter das Zeichen so versteht, wie es der Zeichengeber gemeint hat. Das ist aber nur dann der Fall, wenn die benutzten Zeichen nur eine Bedeutung haben. Da aber die Zeichen mehrdeutig sind und verschiedene Interpretationen zulassen, ist das Zeichen in seiner Bedeutung nur in seinem Kontext zu erfassen.“48 Ich verzichte hier auf die Anführung der weiteren Symboltiere, deren Vorkommen Kurt Bauch bei den Grabmälern festgestellt hat. Sein Fazit lautet: „Die Bedeutungen sind also oft nur heraldisch und recht äußerlich.“49 Blicken wir noch einmal auf die früher behandelten Herrschafts-, Amtsund Würdezeichen wie Krone, Zepter, Reichsapfel, Mitra, Krummstab und Buch zurück, die wir einigermaßen richtig zu verstehen meinen, so zeigt sich der Unterschied zu den mehrdeutigen „Symboltieren“. Allenfalls der Falke, in Standbildsiegeln häufig auf dem Handschuh der adeligen Dame anzutreffen, scheint ein vergleichbares Standeszeichen zu sein, bei dem allerdings auch eine tiefere Bedeutung, nämlich der ideelle Wert des adeligen Jagdvergnügens in der exklusiven Form der Beizjagd, und vielleicht auch die Hochachtung vor dem abgerichteten Falken mitschwingen.50 45 Adolf Reinle (wie Anm. 11), Sp. 1625. 46 Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid (wie Anm. 9), S. 117 (Text zu Abb. 68). 47 Der Löwe zu Füßen Kaiser Heinrichs VII. (1308–1313) in dessen großem (Wachs-) Siegel wie auch auf der Vorderseite seiner Goldbulle darf sicherlich als Herrschafts-, nicht aber als Auferstehungssymbol verstanden werden. 48 Günther Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus (61. Veröffentlichung der Abt. Architekturgeschichte des Kunsthistor. Instituts der Univ. Köln), Köln 1996, S. 23. 49 Kurt Bauch (wie Anm. 8), S. 74. 50 Der Typ des Falkenjagdsiegels mit dem Falken auf der Hand der zur Jagd ausreitenden Dame, der besonders im 13. Jahrhundert beliebt war und auch bei Jungherren
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Architekturelemente Zu den auffälligen Parallelen von Siegel- und Grabmalkunst gehört die Tatsache, daß dort die Stand-, Liege- oder Sitzfigur sehr oft von Architekturelementen umrahmt bzw. in eine reiche Architektur hineinkomponiert ist. Eine solche Kombination von Siegel-/Grabfigur und Architektur war nicht zwingend und tatsächlich auch lange Zeit nicht vorhanden. Es wäre lohnend, die Anfänge und die Entwicklung von Architekturelementen bei Bildnissiegel und figürlicher Grabplatte in größeren Zusammenhängen, etwa auch mit Blick auf die Elfenbeinkunst, zu untersuchen. Da man die im Kirchenraum vorfindliche Grabplatte nicht isoliert von den verschiedenen Grabmalformen wie Sarkophag, Kastentumba, Tischgrab, Nischengrab, Wandgrab oder Baldachingrab sehen darf, ergibt sich schon durch den Ort in der Kirche als seiner Natur nach herausragendem Werk der Baukunst ein allgemeiner Bezug zur Architektur. Noch mehr stellt die Ausgestaltung der einzelnen Grabmaltypen, etwa die Verwendung von Arkaden über dem Grab, eine enge Verbindung zwischen Grabfigur und architektonischer Umgebung her. So erscheint es nur als ein kleiner Schritt, wenn man die Figur des Verstorbenen in einer von Säulen getragenen Arkade unterbrachte. Da solche Schmuckformen von der Sakralarchitektur her bekannt waren, lag ihre Transferierung auf die figürliche Grabplatte nahe, wurde damit der Verblichene doch noch unmittelbarer in eine heilige Sphäre gerückt. Inwieweit konkrete Werke der Bauplastik für die frühen mit Architekturelementen versehenen figürlichen Grabplatten vorbildhaft gewesen sind, müßte einmal genauer untersucht werden. Daß sich die Architekturelemente der figürlichen Grabplatte von der einfachen Form eines auf zwei Säulen aufruhenden Kleeblattbogens bis zur reichen, baldachinbekrönten Nischen- und Tabernakelarchitektur der Spätgotik entwickelten und dann in der Neuzeit natürlich auch die Formen der Renaissance und des Barock auf der Grabplatte selbst oder in ihrer Umgebung auf dem anspruchsvollen Grabmonument zu finden sind, ist bekannt und braucht hier nicht näher belegt zu werden. Bei den Siegeln ergibt sich kein örtlicher oder anderweitiger architektonischer Bezug, der eine Umrahmung der Figur des Siegelführers durch vorkommt, hätte eine eingehende Untersuchung verdient. Kurze Bemerkungen finden sich bei Toni Diederich, Rheinische Siegel (5): Das Jagdsiegel der Mechtild von Molenark, in: Rheinische Heimatpflege NF 13 (1976), S. 34 f.
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eine Architektur nahelegen könnte. Es spricht alles dafür, daß die mit der Gotik einsetzende Entwicklung, die ab der Spätgotik in der Siegelkunst parallel zur Grabmalkunst verlief, eher ästhetisch-künstlerische Gründe hat. Ohne einer notwendigen Spezialuntersuchung vorgreifen zu wollen, läßt sich, wenn man von dem in mancher Hinsicht progressiven Siegelwesen im Rheinland ausgeht51, folgendes ablesen: Eine Verbindung von figürlichen und architektonischen Elementen wiesen schon die ältesten Stadtsiegel von Köln, Mainz und Trier auf. Beim Typ des Heiligensiegels hatte man den oder die Heilige(n) schon relativ früh in eine Sakralarchitektur hineingestellt.52 Das Heiligensiegel ist ohne Zweifel Vorbild für den Typ des Adoranten- oder Devotionssiegels geistlicher Dignitäre gewesen, bei denen die Figuren alle in eine Architektur eingepaßt sind: oben, d. h. in der himmlischen Sphäre, der oder die Heilige(n) und unten, in der irdischen Sphäre, der Siegelführer. Letzterer ist entsprechend dem Bedeutungsmaßstab i. a. kleiner abgebildet, meist in demütiger Orantenhaltung unter einer Arkade. Siegel dieses Typs lassen sich nach dem Siegel des Kölner Domthesaurars Philipp vom Jahre 1249 vermehrt seit der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts nachweisen.53 Bei den geistlichen Dignitären war zuvor das Bildnissiegel mit Darstellung des Siegelführers in stehender oder sitzender Haltung vorherrschend, was die anhaltende Verbreitung dieses Siegeltyps auch im Spätmittelalter erklärt. Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Umrahmung eines Siegelführers durch eine Arkade erstmals bei zwei Stiftspröpsten im Westen auftaucht: 1261 bei Heinrich, Propst des Stiftes Wassenberg, und um 1273 bei Dietrich, Propst 51 Die Heranziehung des Rheinlandes ist deshalb gerechtfertigt, weil das Siegelmaterial des Rheinlandes durch das Corpus von Wilhelm Ewald in größerem Maße zur Verfügung steht und auch die Siegel der Mainzer Erzbischöfe von Otto Posse publiziert sind; vgl. allgemein auch Toni Diederich, Bedeutung des Siegelwesens in Köln und im Rheinland. 52 Bezüglich der Aufnahme von Architekturelementen in Heiligensiegeln geistlicher Institutionen stellte Markus Späth, „Corporate Design“ im Mittelalter? Ein Forschungsprojekt zu den Siegelbildern sozialer Gruppen im spätmittelalterlichen Westeuropa, in: Spiegel der Forschung, Wissenschaftsmagazin der Justus-LiebigUniversität Giessen 27 (2010), Nr. 1, S. 21, fest: „Solche Architektonisierungen des Siegelfeldes wurden im Südosten Englands während des 13. Jahrhunderts zum konstitutiven Mittel der Repräsentation monastischer Identität.“ Bei den Kardinalssiegeln ist diese Entwicklung seit den 1240er Jahren festzustellen. 53 Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel IV, Tafel 76 Nr. 8, sowie Tafel 71, 76, 83 und 64 passim.
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des Domstiftes zu Trier (vgl. Abb. 9). Dazwischen liegt das Siegel des Johann, Abtes der Reichsabtei Kornelimünster, von 1264.54 Auch hier sitzt der Abt unterhalb eines von zwei Säulen getragenen gotischen Dreiblattbogens; auch dieser Beleg führt uns in den Westen des Reiches. Diesen frühen, noch spärlichen Beispielen folgt seit den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts eine größere Zahl von Siegeln gleichen Typs, z. T. schon – wie das Siegel des Abtes Gottfried von St. Pantaleon in Köln vom Jahre 1303 – mit einer reichen tabernakelartigen Architektur im Stile der Gotik.55 Bei den rheinischen Erzbischöfen verlief die Entwicklung ganz unterschiedlich. Sie beginnt in Köln mit einem Nebensiegel Wilhelms von Gennep aus dem Jahre 1352. Das erste große Bildnissiegel mit Architekturrahmen nebst Heiligendarstellung oberhalb und Wappenschilden beiderseits des thronenden Erzbischofs – nach meiner Siegel-Typologie ein Mischtyp – findet sich 1364 bei Engelbert III. von der Mark. Die Reihe von Siegeln dieses Typs endet aber schon mit Hermann V. von Wied (1515–1547). Es folgen dann bei den Kölner Erzbischöfen bis zum Ende des Ancien régime nur noch Wappensiegel. In Mainz setzt die Reihe der erzbischöflichen Bildnissiegel mit Architekturelementen 1371 unter Johann I. von Luxemburg ein. Sie wird aber fortgesetzt, bei sachlichen und stilistischen Wandlungen, bis zu Erzbischof Emmerich Joseph von Breitbach zu Bürresheim (1763–1774). Im Vergleich zu Köln und Mainz recht spät, nämlich nach 1450 unter Johann II. von Baden, nehmen die Bildnissiegel der Erzbischöfe von Trier Architekturelemente auf, doch halten diese immerhin bis zu Lothar von Metternich (1599–1623) daran fest. Danach gehen auch die Trierer Erzbischöfe zu reinen Wappensiegeln über. So lassen sich im Rheinland als Hochblüte für die Verbindung von Siegelfigur und Architektur das Spätmittelalter und die früheste Neuzeit ausmachen, ein Ergebnis, das wahrscheinlich auch für andere Landschaften Gültigkeit hat.
Engel Der Architekturrahmen der Grabplatte wird nicht selten, und zwar spätestens seit dem 14. Jahrhundert, häufiger aber noch im ausgehenden Mittelalter 54 Ebenda, Tafel 94 Nr. 6. 55 Ebenda, Tafel 95 Nr. 11.
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und in der Neuzeit, dazu benutzt, um Engel aufzunehmen. Dies geschieht etwa in der Weise, daß zwei Engel ein Weihrauchfaß schwingen und das Haupt des Verstorbenen inzensieren. Auf der aus dem späten 14. Jahrhundert stammenden Grabplatte des Kölner Erzbischofs Engelbert II. von Valkenburg (1261–1274) im Bonner Münster sind oberhalb des krabbenbesetzten Kielbogens, welcher das auf einem Kissen ruhende Haupt des Erzbischofs umrahmt, zwei große Engel dargestellt. Sie halten ein Tuch mit einem in Halbfigur abgebildeten Kind, entrücken also die in dieser Form dargestellte Seele dem Leib des Toten, um sie dem Himmel zuzuführen. Nach Dorothea Terpitz ist die „Elevatio animae“ im Rheinland zwar selten, spielt aber in Frankreich bei der Totenfeier am Wandnischengrab bzw. Enfeu eine Rolle. Die Engel können aber auch in anderer Weise auf der Grabplatte erscheinen, etwa indem sie das Kissen des Verstorbenen halten oder gar wie im Falle des Kornelimünsterer Abtes Heribert von Lülsdorf († 1481) den Toten mit einer Mitra krönen. Engel sind auf Grabmälern als Boten Gottes und als Mittler zwischen Gott und den Menschen zu verstehen. In den Paradiesvorstellungen des mittelalterlichen Menschen spielen sie eine große Rolle.56
Architektur, Engel und Wappen im Bildnissiegel Die Verwendung sakraler Architektur und die Darstellung von Engeln auf der Grabplatte sind, wie wir gesehen haben, geeignet, den Toten aus der irdischen Sphäre zu erheben und Gott zu empfehlen. Anders liegen die Dinge beim Siegel. War das Eindringen von Architektur ins Bildnissiegel schon nicht zwingend, so gilt dies in noch höherem Maße für die Aufnahme von Engeln in ein Standbild- oder Thronsiegel. Tatsächlich kommen sie dort aber, wenngleich nicht eben häufig, vor. Sie treten im Bildnissiegel erst zu einem Zeitpunkt auf, als die dort verwendete Architektur bereits eine gewisse Opulenz in spätgotischen Formen erreicht hatte. Geht man nach dem von Wilhelm Ewald publizierten Material, so haben erstmals zwei Äbte des Zisterzienserklosters Kamp am Niederrhein Standbildsiegel geführt, die eine reiche Tabernakelarchitektur mit je einem Engel in den Nischen beiderseits des Siegelführers auf56 Dorothea Terpitz (wie Anm. 10), S. 98 f.; vgl. dazu auch Adolf Reinle (wie Anm. 11), Sp. 1626: „Engel über oder neben dem Grabbild vertreten die himmlische Zone und empfangen zuweilen die als Kind dargestellte Seele.“
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weisen.57 Die Belege stammen von 1372 bzw. 1379. Das jüngere Siegel des Abtes Adam von Lövenich ist ein Nachschnitt nach dem älteren Siegel des Abtes Vulling von Plizel. Der Hauptunterschied besteht darin, daß das jüngere Siegel zu Füßen des Abtes auch seinen Wappenschild zeigt. Dieser ikonologische Aufbau (mit Wappen) entwickelt in Kamp eine gewisse Tradition und kommt, bei veränderten Stilformen, noch in den dortigen Abtssiegeln des 16. und 17. Jahrhunderts vor.58 Häufiger ist die Rolle von Engeln als Wappenhalter. Besonders frühe und schöne Beispiele, die auch in luzider Weise für die Bedeutung der Heraldik sprechen, sind das Standbildsiegel und das zweite Reitersiegel Herzog Rudolfs IV. von Österreich (zum Standbildsiegel vgl. oben Kapitel V, Abb. 6) aus den 1360er Jahren.59 Auch in den Bildnissiegeln von Äbten und (Erz-)Bischöfen, etwa denen von Trier, Mainz, Chiemsee und Salzburg, kommen Engel als Wappenhalter vor. Gelegentlich füllt ein Engel den obersten Raum des spitzovalen Siegelfeldes, indem er gleichsam die himmlische Höhe über dem Siegelführer einnimmt. Aber auch in der unteren Spitze, unterhalb des Wappens, ist mitunter ein Engel dargestellt. In neuzeitlichen Siegeln von Herrschern oder Bischöfen halten sie manchmal den Vorhang oder Pavillon, vor dem der Siegelführer thront. Da ein Siegelführer, der in den besten Jahren seines Lebens steht und nicht gerade im Angesicht des Todes einen Siegelstempel in Auftrag gibt, sich nicht ohne einen Anflug von Blasphemie im Siegel mit einem oder mehreren Engeln schmücken kann, bleibt deren Aufnahme ins Bildnissiegel erklärungsbedürftig. Es ist zu vermuten, daß hier der Einfluß des ausführenden Künstlers zum Tragen kam und andere Kunstgattungen Pate gestanden haben, wobei vor allem wegen der oben behandelten Parallelen an die Grabmalkunst zu denken ist. Schließlich stand jedem Siegelführer einmal der Tod bevor, so daß er auch zu Lebzeiten schon mit den Fragen der Jenseitsvorsorge konfrontiert war. Dazu gehörte u. a. die entsprechende Gestaltung seines Grabdenkmals, die, wenn er sie nicht selbst in die Hand nahm, Aufgabe der Angehörigen oder des Amtsnachfolgers war. In jedem Falle war dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Menschen die Grabmalkunst sehr präsent. So könnten gerade die in die Komposition der Grabplatte eingefügten Engel vorbildhaft für ihre Aufnahme ins Siegel gewesen sein. 57 Wilhelm Ewald (wie Anm. 53), Tafel 106 Nr. 5 und Nr. 7. 58 Ebenda, Nr. 11 und Nr. 12. 59 Vgl. zu diesen Siegeln Toni Diederich (wie Anm. 3), S. 158 f. (mit Abb.).
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Inschriften Zu den wichtigsten Parallelen von Siegelkunst und Grabmalkunst gehört die Verwendung von Inschriften. In der Sphragistik unterscheidet man wie in der Numismatik zwischen Umschriften (Legenden), welche das Siegelfeld bzw. Münzbild im engeren Sinne umgeben, und Aufschriften, die im Siegelfeld stehen oder in das Münzbild hineinkomponiert sind. Die dritte Inschriftenart, Randschriften, spielen bei dickeren Münzen der Neuzeit eine gewisse Rolle, kommen bei Siegeln bis auf wenige hier zu vernachlässigende Ausnahmen60 aber nicht vor, da man die bei einigen frühen Siegeln auf abgeschrägtem Rand angebrachten Inschriften eher zu den Umschriften rechnen muß. Während des ganzen Mittelalters ist die Umschrift ein notwendiger, die Aufschrift ein wichtiger Bestandteil des Siegels. Lediglich die als Rücksiegel benutzten Gemmensiegel sind oft ohne Umschrift. Dasselbe gilt für die Masse der neuzeitlichen Lacksiegel. Bei diesen sog. Signeten, die hauptsächlich als Verschlußsiegel dienten, genügte es dem Siegler offenbar, durch sein Wappen – in manchen Fällen auch durch seine Initialen – ausgewiesen zu werden. Die Bedeutung der Siegelinschriften erhellt daraus, daß sie in den Handbüchern und vielen Spezialbeiträgen behandelt wurden. Allerdings beschränkte man sich früher meist auf eine eher äußerliche Beschreibung der Einzelphänomene. Erst in jüngster Zeit hat man deren Sinn und Funktion reflektiert. In ganz vortrefflicher Weise geschah dies zuletzt durch Jean-Luc Chassel.61 Auch wenn er selbst auf die fehlende Behandlung einiger Aspekte hingewiesen hat62, verdanken wir ihm doch eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen, insbesondere bezüglich des engen Zusammenhangs von Bild und Schrift im Siegel und bezüglich der unterschiedlichen Gestaltung und 60 Vgl. Wilhelm Ewald, Siegelkunde, S. 224, und Markus Späth, Siegelbild und Kathedralgotik, S. 57 f., 62 f. und 65 f. mit Abbildung einer Randschrift auf dem Münzsiegel des Konventes der Kathedrale von Ely (ebenda S. 65, Abb. 21). 61 Jean-Luc Chassel, Formes et fonctions des inscriptions sigillaires. 62 Ebenda, S. 214: „En tenant d’étudier les formes et les fonctions de cette combinaison [sc. des languages, images et textes, T. D.] nous avons conscience d’avoir laissé de nombreuses questions dans l’ombre: nous n’avons rien dit de l’emploi respectif du latin et des langues vernaculaires, nous n’avons posé qu’au cas par cas le problème des différences culturelles et sociales des sigillants et n’avons jamais abordé celui de la géographie des usages.“
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Funktion der Inschriften. An seinem materialreichen und sich durch überzeugende Interpretationen auszeichnenden Aufsatz wird die künftige Siegelforschung nicht vorbeikommen. Ich greife nur einige Beobachtungen Chassels heraus, die für den Vergleich mit den Grabmalinschriften wichtig sind: Die Umschrift bezeichnet in vielen Fällen einerseits das Objekt Siegel, und zwar durch das einleitende SIGILLVM, SIGNVM, SECRETVM usw., andererseits den Siegelführer. Dieser wird mit Namen, Status und Titel benannt, wobei wegen des geringen zur Verfügung stehenden Platzes ein Zwang zur Konzentration und zur Verwendung von Abkürzungen besteht. Es kamen ziemlich feste Konventionen («conventions assez strictes») zum Tragen, um den Siegelführer vor allem in seinem politischen, juristischen und sozialen Status zu bezeichnen. Durch sein Bild (im Bildnissiegel, so dürfen wir im Hinblick auf unsere Fragestellung ergänzen) und die Umschrift ist der Siegler auch bei seiner Abwesenheit oder nach seinem Tod noch für den Empfänger der Urkunde präsent. Einen eigenen, hier nicht näher zu verfolgenden Komplex bilden die vielen Umschriften wie insbesondere auch Aufschriften, welche das Siegelbild, d. h. die dargestellte Person und/oder den Gegenstand benennen. Inschrift und Bild können in ihrer Aussage parallel laufen oder einander ergänzen. Eine besondere Interpretation verdienen die Inschriften, die in die Form eines Verses oder eines Gebetes gekleidet sind. In jedem Falle muß man Bild und Inschrift als Einheit sehen, und es läßt sich nicht bestreiten, daß die Siegel den größten verfügbaren Bestand an Bildern darstellen, die mit einer Legende versehen sind.63 Von überaus großer Bedeutung ist die Inschrift auch beim Grabdenkmal. Sie gehört daher zu den wichtigen Themen der Grabmalforschung, die sich im Einzelfalle immer wieder mit der formalen Gestaltung, der inhaltlichen Aussage und der Funktion der Grabinschrift beschäftigt hat. Nur einige Ergebnisse seien hier angeführt: Nach Kurt Bauch besaß jedes Grabmal eine Inschrift.64 Der für sie zur Verfügung stehende Raum ermöglichte es i. a., den Namen samt (Adels-)Titel, Stellung und Würde des Verstorbenen 63 Ebenda, S. 202: „Il faut bien admettre que les sceaux constituent le plus immense stock disponible d’images légendées.“ 64 Kurt Bauch (wie Anm. 8), S. 10. Er führt erläuternd aus: „Wo sie heute fehlt, ist sie abgeschlagen oder – weil einst gemalt – ausgelöscht.“ Allerdings gibt es auch frühe Grabplatten, die nicht mit Schrift, sondern nur mit geometrischen Mustern verse-
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anzugeben.65 Ebenso wichtig war die Aufnahme des Todesdatums in die Inschrift. Hierbei kam es insbesondere auf das Tagesdatum an, und zwar im Hinblick auf die am Jahrestag vor dem Grab abzuhaltende Memorienfeier (Anniversarienfeier). Die memoriale Funktion des Grabdenkmals ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß man gelegentlich die Inschrift dazu benutzte, um den Toten zu würdigen oder zu loben, wobei man sich u. a. auch der lateinischen Verskunst bediente.66 Wie beim Epitaph findet sich in der Inschrift des Grabdenkmals oft die Aufforderung zu einem Gebet für den Verstorbenen. Die Inschriften auf Siegeln und Grabmälern unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht grundlegend: Im Siegel bezeichnen sie einen Lebenden, auf dem Grabmal einen Toten. Weiterhin war der Platz, den das Siegel für die Umschrift und eine eventuelle Aufschrift bot, sehr begrenzt. Dadurch gab es einen Zwang, den Text und damit die Aussage im Siegel auf das Wesentliche zu beschränken. Dieser Zwang bestand bei der Umschrift einer Grabplatte mit annähernd lebensgroßer Figur nicht. Wir beobachten nun, daß in der Regel sowohl bei Siegeln als auch bei Grabdenkmälern die Umschrift im ganzen wie in ihren Details sorgfältig gestaltet wurde. Oft liegen sogar kalligraphische Inschriften in höchster Qualität vor, die gegenüber derjenigen der Siegel- oder Grabfigur nicht abfällt. Die Inschriften hen sind. Ebenso besitzen nicht alle frühen Grabsteine in Köln und am Niederrhein eine Inschrift (freundlicher Hinweis von Günther Binding). 65 Die Anrede, die dem Verstorbenen zu Lebzeiten im persönlichen Gespräch und im Schriftverkehr (Briefanrede, Außenadresse) zustand, wird vor allem in der frühen Neuzeit häufig in die Inschrift übernommen. Sie als „Epitheton ornans“ zu bezeichnen, wie dies Klaus Krüger, Selbstdarstellung im Grabmal. Zur Repräsentation städtischer und kirchlicher Führungsgruppen im Hanseraum, in: Wolfgang Schmid (Hrsg.), Regionale Aspekte der Grabmalforschung, Trier 2000, S. 90, getan hat, trifft die Sache nicht recht, weil es sich im Kern nicht um ein schmückendes Beiwort, sondern um die Übernahme einer standesspezifischen Anrede bzw. eines Anredetitels handelt; vgl. dazu Eckart Hennig, Titulaturenkunde. Prolegomena einer „neuen“ Hilfswissenschaft für den Historiker, in: Eckart Henning, Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen, 2., stark erw. Aufl. Köln–Weimar–Wien 2004, S. 128–151. 66 Etliche Beispiele von lateinischen Grabinschriften in Form von Hexametern und Distichen finden sich bei Rüdiger Fuchs, Fromme Männer in der Welt. Totenlob auf Trierer Bischofsgrabmälern des Mittelalters, in: Regionale Aspekte der Grabmalforschung (wie Anm. 65), S. 95–110.
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waren also in beiden Fällen kein Accessoire, sondern wesentlicher Bestandteil des Ganzen. Das hat Konsequenzen für die Interpretation. Jean-Luc Chassel hat sie, wie oben erwähnt, mit der Betonung der Einheit von Bild und Schrift (Text) herausgestellt. Gleiches gilt auch für die Grabdenkmäler, und man kann nur der Feststellung von Gerhard Schmidt zustimmen, „daß sich jede Grabinschrift nur als Teil des größeren Ganzen interpretieren läßt – nämlich als verbale Artikulation jener spirituellen und/oder profanen Anliegen, die sich auch in der formalen Struktur und im Bildprogramm des betreffenden Denkmals ausdrücken.“67 Der oben erwähnten Verwendung von lateinischer Verskunst in Grabinschriften entsprechen die in Siegelinschriften vorkommenden Hexameter und Pentameter, denen ich ein eigenes Kapitel gewidmet habe.68 In etlichen Siegeln singen die Verse das Lob des Siegelführers, hierin durchaus den Grabinschriften vergleichbar, welche die Würde und die Verdienste des Verstorbenen für die Nachwelt festhalten. Trotz der genannten Unterschiede weisen Siegel- und Grabinschriften also bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf. Sie treten noch deutlicher hervor, wenn man andere Kunstgattungen wie Großplastik, Glasmalerei, Elfenbeinkunst oder Buchmalerei betrachtet, bei denen Schrifterläuterungen zur Bezeichnung von Personen, Sachen und Szenen69 – in der Glasmalerei etwa in der Form von Spruchbändern – zwar vorkommen, aber nicht die Regel sind. Für viele Werke dieser Kunstgattungen bestand kein Anlaß, sie mit einer Inschrift zu versehen. Es kann keinen Zweifel geben, daß Siegel- und Grabmalkunst sich in der konsequenten Verwendung von Inschriften sehr nahestehen.
Funktion und Zweck der einzelnen Elemente Bei der Behandlung der einzelnen Elemente von Bildnissiegel und Grabdenkmal ist jeweils mehr oder weniger auch die Frage erörtert worden, wel67 Gerhard Schmidt (wie Anm. 10), S. 294; vgl. auch Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid (wie Anm. 9), S. 20: „Form und Inhalt der Inschriften sind nicht minder aussagekräftig wie figürliche Darstellungen...“ 68 Vgl. oben Kapitel VIII. 69 Man denke etwa an die Erzählkapitelle, welche ikonographisch Parallelen zu den Erzählsiegeln mit der Darstellung biblischer oder hagiographischer Szenen aufweisen.
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chem Zweck sie dienten. Die Frage der Funktionalität der einzelne Bestandteile führt zwangsläufig dazu, alle Aspekte zusammenzuführen, um aus der Gesamtschau zu einem adäquaten Verständnis eines jeden Siegels und Grabdenkmals zu gelangen. Denn darum muß es letztlich gehen: daß wir in Kenntnis der größeren Zusammenhänge und der historischen Entwicklung eines bestimmten Siegel- oder Grabmaltyps das einzelne Werk durch Einordnung in die konkrete historische Situation und im Seitenblick auf andere Kunstgattungen zu verstehen versuchen. Hatte sich schon die ältere Grabmalforschung mit den verschiedenen Funktionen des Grabdenkmals beschäftigt, so wurde deren Spektrum in jüngster Zeit durch neue Fragestellungen beträchtlich erweitert. Sie in einem reflektierten Überblick zusammenzufügen und als Grundlage für die weitere Forschung bereitzuhalten, wäre eine lohnende Aufgabe. Hier mag es sein Bewenden mit der Feststellung haben, daß es sich bei den überkommenen Grabdenkmälern um Zeugnisse mit memorialer, liturgischer, symbolischer, religiöser, allgemeinpolitischer, kirchenpolitischer, landespolitischer und gesellschaftlicher Funktion handelt, die nicht nur den diversen Formen des Totengedächtnisses, sondern auch der Repräsentation, Legitimation und Kommunikation dienten, wobei unausgesprochen beim Rezipienten ein entsprechender Bildungsgrad vorausgesetzt wurde. Das Grabdenkmal als solches rückt damit in den Rang eines der herausragenden Phänomene der Religions-, Mentalitäts-, Geistesund Kunstgeschichte. Daß dem Siegel als solchem ein ähnlicher Rang zukommt, ist breiten Kreisen der Wissenschaft inklusive der Historikerzunft nicht bewußt, sollte aber seitens der Siegelforschung künftig noch deutlicher herausgestellt werden. Dies zu unterstreichen, war u. a. Sinn der oben vorgenommenen „Engführung“ von Bildnissiegel und figürlichem Grabdenkmal.
Erste Erkenntnisse – Aufgaben künftiger Forschung Die Konsequenzen, die sich aus alledem für die Kunstgeschichte ergeben, sind erheblich. Sind dort Vergleiche zwischen der Großplastik und der Goldschmiedekunst schon nicht sehr häufig, so ist die Herstellung von Bezügen zwischen Grabmalkunst und Siegelkunst ausgesprochen selten. Das mag daran liegen, daß es zu wenige Siegelcorpora mit guten Abbildungen und ausreichenden Angaben zu den einzelnen Siegeln gibt. Dieses Defizit ist um so schmerzlicher, als große Teile der erhaltenen Siegel einem latenten
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Verfallsprozeß ausgesetzt sind.70 Immerhin hat Adolf Reinle bemerkt, daß vom 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts ein starker Einfluß der Goldschmiedekunst auf französische Metallgrabmäler bezeugt ist.71 Beim Grabdenkmal handelt es sich um ein Kunstwerk von „mehrschichtiger Qualität“72, das m. E. zum Blick auf andere Kunstgattungen anregen sollte.73 Wie fruchtbar die Heranziehung von Werken verschiedener Kunstgattungen sein kann, hat Percy Ernst Schramm am Beispiel der Herrscherikonographie gezeigt. Untersucht man stilistische Zusammenhänge und künstlerische Beziehungen, so sind diese „oft der Spiegel der Kontakte der Auftraggeber untereinander“74. Der Hinweis auf den Auftraggeber ist wichtig. Auch bei der Interpretation eines Siegels ist der Auftraggeber stets von Bedeutung, wie ich oben in Kapitel I dargelegt habe. Dabei ist zu beachten: Der Auftraggeber – das gilt trotz unterschiedlicher Ausgangslage für Siegel und Grabdenkmal gleichermaßen – steht immer auch in einer Reihe mit seinen Vorgängern, sozusagen in einer bis zu ihm hinführenden Traditionslinie. Gerade aus dem Vergleich mit den früheren (und natürlich auch späteren) Siegeln und Grabdenkmälern, die in einer größeren Reihe stehen, ergeben sich Erkenntnisse für die Bewertung und das Verständnis des einzelnen Werkes. Der Erkenntniswert erhöht sich noch, wenn man mehrere Reihen vergleichen kann, wie die Arbeit über die Grabdenkmäler der Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz zeigt.75 Den Grabdenkmälern ließen sich die von Wilhelm Ewald und Otto Posse publizierten Siegel der Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz an die Seite stellen, für die eine Auswertung noch aussteht. Nicht zuletzt für die Verfolgung der Stilentwicklung sind solche Reihen ergiebig. Darüber hinaus ermöglicht die große Zahl von anderen koävalen Grabdenkmälern und Siegeln, deren Ikonographie und Stil zu vergleichen. Gerade die Spitzenwerke, zu denen wir etliche Bildnissiegel der gesellschaftlichen Elite
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Toni Diederich (wie Anm. 19). Adolf Reinle (wie Anm. 11), Sp. 1624. Klaus Krüger (wie Anm. 65), S. 79. So hat bemerkenswerter Weise Dorothea Terpitz (wie Anm. 10), S. 28–30, darauf hingewiesen, daß die Grabmäler nicht nur mit Werken der Großplastik in Holz und Stein, sondern auch mit Goldschmiedearbeiten, Elfenbeinen und Siegeln (!) vergleichbar sind. 74 Dorothea Terpitz (wie Anm. 10), S. 19. 75 Stefan Heinz, Barbara Rothbrust, Wolfgang Schmid (wie Anm. 9).
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des Mittelalters ebenso wie viele ihrer Grabdenkmäler rechnen dürfen76, bieten sich für vergleichende Untersuchungen an. Für das ausgehende Mittelalter ist dann auch mit einem „Netz internationaler Kunstbeziehungen“77 zu rechnen, das Wolfgang Schmid u. a. am Beispiel des Nicolaus Gerhaert eindrucksvoll vorgeführt hat, dem wir die Anfertigung der Grabdenkmäler des Trierer Erzbischofs Jakob von Sierck († 1456) in Trier und Kaiser Friedrichs III. († 1493) in Wien (vgl. Abb. 12) verdanken. Wir stellen diesen künstlerisch herausragenden Werken das ähnlich qualitätvolle Siegel Friedrichs III. zur Seite (vgl. Abb. 13). Die wenigen nachfolgend abgebildeten Beispiele aus der großen Masse von Werken der Siegel- und Grabmalkunst sind, das sei hier betont, nicht dazu bestimmt, direkte Werkstattzusammenhänge, künstlerische Abhängigkeiten oder gar stilistische Übereinstimmungen anzudeuten, deren Herausarbeitung ich gern den Kunsthistorikern überlasse. Nehmen wir aber die oben beschriebenen Parallelen formaler Art in den Blick und reflektieren in der Zusammenschau die spezifische Botschaft von Siegel und Grabdenkmal, so erschließt sich uns viel von der Gedankenwelt der weltlichen und geistlichen Elite des Mittelalters.
Ausgewählte Beispiele: Parallelen und Unterschiede Die zeitlich, räumlich und stilistisch weit entfernten Gestalten der Plektrudis in Köln (Abb. 2) und der Gräfin Blanca von Navarra (Abb. 3) stehen sich insofern nahe, als sie durch ihre Kleidung – hier mit reicher Plissierung, dort mit langen Parallelfalten bei Kleid und Umhang – und durch die Gestik ihrer Arme und Hände jeweils eine eigene Vornehmheit ausstrahlen, die bei Blanca von Navarra durch den überschlanken Körper mit leichtem Hüftschwung noch gesteigert wird. Während die Siegelumschrift in der üblichen Weise das Siegelbild umrahmt, ist die Inschrift der relativ frühen Grabplatte über und neben dem Haupt der Plektrudis in drei Zeilen angebracht:
76 Vgl. etwa das Urteil von Harald Keller (wie Anm. 4), S. 350: „Die Bischofsköpfe ... in den Grabdenkmal-Reihen der deutschen Dome, die nun endlich nicht mehr am Idealbild des Jugendlichen festhalten, gehören ... zu den schönsten Bildnissen des gesamten deutschen Mittelalters.“ 77 Wolfgang Schmid (wie Anm. 23), S. 15.
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Abb. 3 Siegel der Blanca von Navarra, Gräfin von Champagne, belegt 1210
Abb. 2 Grabplatte der Plektrudis in der Kirche St. Maria im Kapitol zu Köln, um 1150/1160
S(ANCTA) PLECTRVDIS // RE – GI // NA. Eine „Umschrift“ im Sinne späterer Grabplatten findet sich hier nicht; vielmehr hat der Künstler den weiteren Text auf einem Schriftband angebracht, das von der Linken der Plektrudis schräg herabfällt und so in der Gesamtkomposition eine besondere Betonung erfährt.
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Abb. 5 Siegel des Kölner Bürgers Wilhelm, 1226
Abb. 4 Grabmal des Grafen Diether III. von Katzenelnbogen († 1276) im Museum zu Wiesbaden
Das Kopfkissen des in vornehmer weltlicher Kleidung dargestellten Grafen Diether III. von Katzenelnbogen (Abb. 4) erweckt den Eindruck, als handle es sich um eine Liegefigur. Die Falten des Gewandes und des schwer herabfallenden Mantels sprechen aber ebenso wie die Kopfbedeckung und der auf dem linken Fuß aufsitzende Wappenschild dafür, daß der Verstorbene wie zu Lebzeiten dem Betrachter gegenübersteht, und zwar nicht als Greis, sondern als Jugendlicher bzw. Mann in den besten Jahren. Es handelt sich also, wie in
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jener Zeit üblich, um eine idealisierende Darstellung. Die Individualisierung erfolgt über das Wappen und näherhin über die Umschrift. Diese beginnt wie bei dem im Siegel ebenfalls idealisiert abgebildeten vornehmen Kölner Bürger Wilhelm (Abb. 5) mit einem Kreuz. Die spitzovale, sich zur Mitte hin verbreiternde Form erlaubt es dort, den Siegelführer in lebhafter Gestik darzustellen (vgl. auch Abb. 3). Das Grabdenkmal Konrads von Hochstaden (Abb. 6) in edlem Material (Bronze), nach den meisten jüngeren Forschern bald nach 1261 entstanden, gehört zu den modernsten und qualitätvollsten seiner Zeit im Reich. Den
Abb. 7 Siegel des Jean de Rochefort, Bischofs von Langres, um 1296
Abb. 6 Grabmal des Kölner Erzbischofs Konrad von Hochstaden († 1261) im Dom zu Köln
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in liturgischer Kleidung und mit seinen Pontifikalien dargestellten Erzbischof, der auf einem Hund und einem Löwen steht, umrahmt eine von zwei überschlanken Säulen getragene hochgotische Blendarchitektur mit gotischem Dreiblattbogen. Die ganz oben beiderseits des krabbenbesetzten Giebels angebrachte Inschrift nennt nur den Namen des Verstorbenen. Das eine Generation später entstandene Siegel des Jean de Rochefort (Abb. 7) zeigt den Bischof mit dem segnenden Dreifingergestus, hier umrahmt von einem auf zwei schlanken Säulen ruhenden Kleeblattbogen, über dem sich eine dreiteilige sakrale Architektur türmt.
Abb. 9 Siegel des Trierer Dompropstes Dietrich, um 1273
Abb. 8 Grabdenkmal des Pfalzgrafen Heinrich II. († 1095) in der Abteikirche Maria Laach, errichtet um 1270/80
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Obwohl in dieser Hinsicht vielen anderen Bischofssiegeln, etwa denen des Rheinlandes, voraus, verkörpert das Siegel gegenüber der Architektur und den Gewandfalten des Hochstaden-Grabmals eine deutlich ältere Stilstufe. Anders als die vorhergehenden Grabdenkmäler (Abb. 4 und 6) besteht das des Pfalzgrafen Heinrich II. (Abb. 8) aus Nußbaumholz mit farbiger Fassung. Obwohl die Grabfigur mit einem Kissen versehen ist und auf einer Tumba aufliegt, ist sie als fürstliche Standfigur dargestellt. Zu den verbreiteten Ausstattungsstücken (Wappen oben, Drachen und Löwe zu Füßen des Grafen) kommt hier das Kirchenmodell in der Rechten, womit Heinrich als Gründer von Maria Laach ausgewiesen ist. (Weitere Einzelheiten bei Rainer Kahsnitz, Die Gründer von Laach und Sayn. Fürstenbildnisse des 13. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, Nürnberg 1992.) Das gleichzeitig entstandene Siegel des Trierer Dompropstes Dietrich (Abb. 9) zeigt den Siegelführer in liturgischer Kleidung mit Buch und virga (Zuchtrute) als Symbol für die Disziplinargewalt des dem Domkapitel vorstehenden Propstes. Wie bei Konrad von
Abb. 11 Siegel des Trierer Erzbischofs Johann II. von Baden, um 1456 Abb. 10 Grabmal des Bischofs Wilhelm Westval († 1509) im Dom zu Lübeck
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Hochstaden (Abb. 6) verwendet das Grabdenkmal einen spitzen Dreiblattbogen, das Siegel (wie in Abb. 7) einen runden Kleeblattbogen. Trotz der Unterschiede von Stand- und Thronfigur zeigen die gravierte Grabplatte des Bischofs Wilhelm Westval (Abb. 10) und das deutlich frühere Siegel des Trierer Erzbischofs Johann II. von Baden (Abb. 11) die üblichen Elemente des ikonologischen Aufbaus: liturgische Kleidung, Pontifikalien, Segensgestus der rechten Hand, Wapppenschilde, reiche spätgotische Architektur, Symboltiere und Umschrift, diese in zeitgemäßer gotischer Minuskel. Der sich im spitzovalen Siegel zur Bildmitte weitende Raum wird für eine kunstvolle Architektur und die Anbringung von Wappenschilden benutzt, während das Grabdenkmal hier nur zwei schlanke Säulen aufweist. Sie tragen hier einen überreich gestalteten Baldachin, in dem sich diverse Bögen überschneiden. In der Spitze sind auch zwei kleine Löwen integriert, während der Löwe im Siegel zu Füßen des Erzbischofs liegt. Die Wappenschilde zeigen in beiden Fällen schon erste Merkmale des für die Renaissancezeit typischen Tartschenschildes.
Abb. 13 Majestätssiegel König Friedrichs III., Vorderseite, um 1440
Abb. 12 Grabmal Kaiser Friedrichs III. († 1493) im Stephansdom zu Wien
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Das Grabdenkmal Kaiser Friedrichs III. (Abb. 12) ist mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem anspruchsvollen großen Königssiegel (Abb. 13) entstanden. Die zuvor schon bei Abb. 11 und 12 aufgezählten Elemente finden sich auch hier wieder. Beide hochrangigen Kunstwerke werden durch die Person Friedrichs III. und die sehr ähnlichen Gesichtszüge – die Nase des Herrschers ist im Wachssiegel leider ein wenig abgeschabt – verklammert. Im Gesamtverständnis und in den Details gibt es aber erhebliche Unterschiede. Zeigt schon die Versammlung der für die einzelnen habsburgischen Territorien stehenden Wappenschilde im Siegel die gestiegene Bedeutung der Heraldik, so wird sie auf dem Grabmal durch die deutlich größeren Schilde, die Schildhalter unten und die Kronen über den vier oberen Schilden noch gesteigert. In beiden Werken ragt die bildliche Darstellung oben und unten in den Raum der Umschrift hinein. Die Bedeutung der Textaussage erhellt daraus, daß die normale Umschrift im Siegel für die Aufzählung der Titel nicht ausreichte und durch eine zweite, innere Umschrift ergänzt wurde. Die Architektur ist im Siegel für die Gesamtkomposition noch von großer Bedeutung, tritt auf dem Grabdenkmal aber zugunsten des Wappenzeremoniells zurück. Hier zeigt sich, daß Siegel und Grabdenkmal ein und derselben Person, wenn sie zeitlich entfernt sind, eher Divergenzen und Fortentwicklungen in Verständnis und Stil als Konvergenzen deutlich machen. *
Der Siegeszug der Heraldik Das Grabdenkmal Kaiser Friedrichs III. mag als Ausgangspunkt für die Erörterung der Frage dienen, wie sich der Siegeszug der Heraldik auf die Siegel- und Grabmalkunst ausgewirkt hat. Es handelt sich dabei um ein komplexes Thema, zu dem hier nur knappe Hinweise gegeben werden können, denn allein schon ein Überblick über die Entwicklung des im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts aus handfesten militärischen Gründen entstandenen Wappenwesens bis hin zu den heutigen Anwendungsformen der Heraldik würde einigen Platz in Anspruch nehmen. Für die Wertschätzung der Wappen und den von mir so bezeichneten „Siegeszug“ der Heraldik gibt es sicherlich eine ganze Reihe von Gründen: praktische, gesellschaft-
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liche78, psychologische, ästhetische, künstlerische79, genealogische und vor allem ideelle, wie oben schon bei der Behandlung der Wappen herausgestellt wurde. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist folgendes: Die Siegelfigur steht im Siegel für den Siegelführer selbst, die Grabfigur steht für den Verstorbenen. Die Inschrift mit der Nennung des Namens bezeichnet in beiden Fällen die dargestellte Person, garantiert also ihre Unverwechselbarkeit und Individualität. Seit dem Spätmittelalter übernimmt bis zu einem gewissen Grad das Wappen die Funktion der Figur, zumindest in der Weise, daß es den Wappenführer oder -inhaber als Angehörigen eines bestimmten Geschlechtes ausweist. Diesbezüglich sorgte der Ausschließlichkeitsgrundsatz der Heraldik, d. h. das ausschließliche Recht am eigenen Wappen, für Klarheit. Spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter bot das Vollwappen mit der Verwendung des Stechhelms für Bürgerliche und des Spangenhelms für Adelige erste Hinweise zur gesellschaftlichen Stellung des Wappeninhabers. Beim Adel stellten vor allem die unterschiedlichen Rangkronen feinere Unterscheidungen her. Auch einzelne Linien eines Geschlechtes konnte man mit heraldischen Mitteln unterscheiden, etwa dadurch, daß ein jüngerer Zweig das angestammte Wappen in verwechselten Farben führte oder ein Beizeichen in den Wappenschild aufnahm.80 Diese wenigen 78 Man denke an die Bedeutung des Wappens, das ursprünglich in der Adelswelt und beim Rittertum angesiedelt war, dann aber, seiner militärischen Zweckbestimmung entkleidet, auch vom Klerus und geradezu begierig vom Bürgertum übernommen wurde. 79 Hier kamen auch einige der vorgenannten Gründe mit zum Tragen, was einmal auf breiter Grundlage untersucht werden sollte. Einen vereinzelten Hinweis gab schon Harald Keller (wie Anm. 4), S. 292, und zwar bezüglich der „Freude am Heraldischen, eines der ausgesprochensten Merkmale der Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre im ganzen Abendland“. 80 Die Verwendung solcher Beizeichen wird in der Literatur z. T. übergangen oder bestritten. Sie lassen sich im Nordwesten des Reiches aber häufig nachweisen. Selbst bei verzweigten bürgerlichen Geschlechtern wie den Overstolzen in Köln sind mir nicht wenige Wappensiegel mit Beizeichen begegnet. Ihr Gebrauch mag auch dadurch gefördert worden sein, daß man sich von den ebenso bedeutenden Kölner Geschlechtern der Quatermart und Lyskirchen abheben wollte. Diese führten nämlich wie die Overstolzen, allerdings in anderen Farben, im Schild übereinander 3 Turnierkragen mit 5:4:3 Lätzen, die sich im monochromen Siegel natürlich nicht unterscheiden ließen.
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Bemerkungen zur heraldischen Praxis lassen vielleicht schon erahnen, warum sich die Wappen zunehmender Beliebtheit erfreuten und warum sachkundige Experten, die Herolde, das Wappenwesen reglementierten und weiterentwickelten. Es wurde schließlich ein in seiner Bedeutung nicht hoch genug zu veranschlagendes Phänomen der abendländischen Kultur.
Auswirkungen auf die Siegelkunst Das Wappen hatte, wie oben schon dargelegt, für den einzelnen, der in der Ahnenreihe seines Geschlechtes stand, einen hohen Identifikationswert. Es wird so verständlich, daß im Siegel das Wappen den Siegelführer repräsentierte und insoweit eine Alternative zur Stand- oder Sitzfigur darstellte. Wie beim Bildnissiegel erfolgte auch beim Wappensiegel die nähere Bezeichnung des Siegelführers durch die Umschrift. Es mag hier eine unbeantwortete Frage bleiben, ob die allgemeine Bedeutung und Verbreitung des Wappenwesens im Abendland ausschlaggebend für die Dominanz des Wappensiegeltyps seit dem Spätmittelalter waren oder ob die Verbreitung des Wappensiegels zu einer Zeit, als man das Wappen für kriegerische Zwecke nicht mehr benötigte, zum Ansehen und zur Bedeutung der Heraldik beigetragen hat. Es ist jedenfalls eine Tatsache, daß Wappensiegel in Massen überliefert sind. Beim Bürgertum und beim niederen Adel dominieren sie eindeutig, aber auch beim Klerus und hohen Adel, ja selbst bei Kaisern und Königen, sind die Nebensiegel sehr oft als Wappensiegel gestaltet. Untersucht man die für die Hauptsiegel verwendeten Siegeltypen der gesamten Oberschicht, also etwa das Vorkommen von Thron-, Standbild-, Reiter- und Wappensiegeln, so ergibt sich für die Neuzeit ein sehr unterschiedliches Bild. Ein Blick auf die zahlreich belegten Mischtypen zeigt, daß dort oft verschiedene Elemente mit einem oder mehreren Wappen kombiniert sind. Aber selbst wenn man die Mischtypen beiseite läßt, überwiegen bei den in der Oberschicht verwendeten „reinen“ Siegeltypen die Wappensiegel. Es sei daran erinnert, daß z. B. nach Hermann V. von Wied (1515–1547) alle Kölner Erzbischöfe nur noch Wappensiegel geführt haben. Welche Nachhaltigkeit der Wappensiegeltyp entwickelt hat, sollte uns bewußt werden, wenn wir bedenken, daß die Aussage „alle Kölner Erzbischöfe“ tatsächlich für sie alle bis in unsere Tage gilt. Auch Joachim Kardinal Meisner (seit 1989) hat sich von einem der
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letzten Meister seines Fachs, dem hochdekorierten Schrift-, Siegel- und Wappenstecher Kurt Niedballa (1914–1996), ein großes und ein kleines Messingtypar anfertigen lassen, die beide wie selbstverständlich als reine Wappensiegel ausgeführt sind. Diese lange Reihe über ein halbes Jahrtausend hinweg ist ohne Zweifel ein Extremfall. Insgesamt ist aber nicht zu bestreiten, daß durch die Ausbreitung der Wappensiegel die anderen Siegeltypen und mit ihnen die anspruchsvollen Bildnissiegel, zurückgedrängt worden sind. Wir konstatieren daher zwangsläufig nicht nur eine Verengung bezüglich der ausgewählten Siegeltypen, sondern auch, wenn man den Schwund anspruchsvoller Siegel wie Thron- und Standbildsiegel betrachtet, eine in der Neuzeit um sich greifende Verkümmerung der Siegelkunst insgesamt. Dieses Fazit mag einen leidenschaftlichen Wappenfreund erstaunen, kann aber von einem nüchternen Historiker nicht bezweifelt werden. Es lohnt vielleicht, hier die an sich nicht zulässige Frage zu stellen: Was wäre gewesen, wenn es keine Wappen gegeben hätte? Analysiert man den historischen Befund, so ist zu fragen, welche künstlerische Qualität die herausragenden Wappensiegel aufweisen. Es gibt tatsächlich eine beträchtliche Zahl von anspruchsvollen Siegeln mit Vollwappen, Allianzwappen und heraldischer Prachtentfaltung unterschiedlicher Art. Dem stehen allerdings Massen von einfachen Wappensiegeln mit einem Durchmesser von nur 2–3 cm gegenüber. In der Spätgotik hat man den Wappenschild – seltener das Vollwappen – gern in einen Drei-, Vier- oder Mehrpaß hineingestellt, wobei diese Pässe oft von Spitzen, die in den Raum der Umschrift hineinragen, unterbrochen und oft auch mit gotischem Maßwerk ausgefüllt sind. Bei der Verzeichnung der Allgemeinen Siegelsammlung des Stadtarchivs Köln, die von dem Einsturz des 3. März 2009 betroffen war und wohl zu den Verlusten gerechnet werden muß, sind mir große Mengen von Wappensiegeln des Spätmittelalters und der Frühneuzeit begegnet. Ich habe dabei den Eindruck gewonnen, daß die Kölner Siegelstecher so ziemlich alle denkbaren Varianten durchgespielt haben, am Ende aber resignierten und die Auftraggeber nach vorhandenen Mustern bedienten, ja vielleicht Rohlinge vorhielten, in die nur noch das jeweilige Wappen nebst individueller Umschrift eingegraben werden mußte. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß die Griffe der erhaltenen Typare in der Neuzeit immer aufwendiger und kunstvoller bearbeitet wurden. Die Siegelstecher fertigten dabei die Prägeplatte mit dem Wappen offenbar nach Schema F an und verlegten ihre Kunstfertigkeit auf die Gestal-
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tung des Griffs81, vielleicht auch um damit einen höheren Preis zu erzielen. Alle diese Aspekte des Wappensiegeltyps bedürfen noch einer eingehenden Untersuchung.
Auswirkungen auf die Grabmalkunst Bei der Erörterung der Frage, wie sich der Siegeszug der Heraldik auf die Grabmalkunst auswirkte, ist zunächst an das anzuknüpfen, was oben im Zusammenhang mit dem ikonologischen Aufbau des figürlichen Grabdenkmals bezüglich des Wappens gesagt wurde. Wegen der großen Bedeutung des Wappens war es nur folgerichtig, daß sich neben der figuralen Grabplatte ein neuer Grabmaltyp in Form der Wappengrabplatte herausbildete. Bezüglich ihrer Bedeutung und Verbreitung ist aber in verschiedener Hinsicht zu differenzieren. Man wird pauschal behaupten dürfen: Wappengrabplatten finden sich praktisch überall. Entsprechend häufig werden sie in der einschlägigen Literatur behandelt, in den Denkmälerverzeichnissen oft nur mit Abbildungen und knappen erläuternden Hinweisen. Eine eingehende Untersuchung verdanken wir Klaus Krüger bezüglich des Vorkommens von figürlichen und Wappengrabplatten im Hanseraum, insbesondere in den drei Städten Brügge, Lübeck und Visby.82 Das dortige erste Auftreten von Wappengrabplatten fällt nach Krüger in das frühe 14. Jahrhundert, wobei zunächst keine Unterschiede zwischen Adel, Bürgertum und Klerus erkennbar sind.83 Für die Folgezeit hat Krüger die zahlenmäßig belegten Grabdenkmäler in Lübeck für das Bürgertum und den Klerus in getrennten, jeweils sehr aufschlußreichen Graphiken dargestellt. Beim Bürgertum setzten sich seit etwa 1400 die Wappengrabplatten beherrschend durch. Knapp zwei Jahrhunderte später wurden 81 Dies gilt vornehmlich für die Wappensiegel persönlicher Siegelführer, wie die Sammlungen neuzeitlicher Siegelstempel zeigen. Eindrucksvoll belegt dies Marie Claude Le Floc’h-Vellay, Il Sigillo – Impronta dell’ uomo, a cura di Euro Capellini, Milano 1995. 82 Klaus Krüger (wie Anm. 65). Eine Reihe von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wappengrabsteinen aus Kärnten wurde publiziert von Friedrich W. Leitner, Epigraphik und Heraldik, in: Epigraphik 1982, Wien 1983, S. 21–30. Leitner hat dort u. a. auch exemplarisch gezeigt, daß mitunter der verderbte Namen in einer Grabinschrift durch die Bestimmung des Wappens rekonstruiert werden kann. 83 Klaus Krüger (wie Anm. 65), S. 85.
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figürliche Grabdenkmäler für Lübecker Bürger fast gar nicht mehr in Auftrag gegeben. Beim Lübecker Klerus hingegen dominierte das figürliche Grabmal bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts sehr eindeutig. Allerdings war die Zahl der bei Geistlichen vorkommenden Wappengrabplatten zeitweilig – um 1325 und um 1500–1550 – noch ansehnlich. Für unsere Fragestellung sind die letzten Einträge für die Zeit um 1575 wichtig: Erstmals, und zwar ganz eindeutig, war nun auch beim Lübecker Klerus die Wappengrabplatte zum „Leittypus“ geworden.84 Das entspricht in etwa den Verhältnissen, die wir bei den Wappensiegeln der rheinischen Erzbischöfe beobachtet haben.
Rang und Bedeutung des figürlichen Grabdenkmals Daß der Adel und die hohe Geistlichkeit bis in die frühe Neuzeit weitestgehend am figürlichen Grabdenkmal festhielten, kann nicht verwundern. Das Grabdenkmal war für die gesellschaftliche Elite ein Prestigeobjekt, Kunstwerk und Wertgegenstand.85 In ihren Augen hatte das Figurengrabmal gegenüber der Wappengrabplatte mancherlei Vorzüge. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeiten der Repräsentation, aber auch bezüglich der anderen Funktionen des Grabdenkmals. Hier liegt im übrigen auch der große Unterschied zum persönlichen Siegel: So wichtig dieses dem Siegelführer als Mittel der Repräsentation und Kommunikation sein mochte, mit einem großen, anspruchsvollen Grabdenkmal konnte es nicht konkurrieren. Hier genügt allein schon, auf die gewaltigen Unterschiede bezüglich Größe und Kosten hinzuweisen, welche dem Grabdenkmal einen ungleich höheren Stellenwert verschafften.
Wappenwesen und Wappenkunst als Phänomene abendländischer Kultur Sind wir am Ende wieder auf die Unterschiede zwischen Siegel und Grabdenkmal zurückgekommen, so bleibt doch das zuvor hinreichend herausge84 Ebenda, S. 86–88. 85 Diese Qualität besaß mutatis mutandis natürlich auch das Grabdenkmal des Bürgertums; vgl. ebenda, S. 79.
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stellte Phänomen, daß nämlich bei beiden die Wappen eine immense Bedeutung erlangt haben. Die eingangs erwähnte Bildnisfeindlichkeit der Heraldik ließe sich weiter belegen durch die weite Verbreitung der Totenschilde, auf die ich hier nicht eingehen will. Der Siegeszug der Heraldik beschleunigte sich in der frühen Neuzeit – mit deutlichen Auswirkungen auf die Siegelund Grabmalkunst, verdrängten die reinen Wappendarstellungen dort doch in zunehmendem Maße die bisherigen anspruchsvollen Siegel- und Grabmaltypen. Wenn man die gesamte europäische Kunstentwicklung der Neuzeit betrachtet, kann man dies nur bedauern. Dem negativen Fazit steht allerdings entgegen, daß sich andererseits eine eigene Wappenkunst entwickelte. Auch wenn wir die Zeit von ca. 1650 bis ca. 1850 mit einigem Recht als wappenkünstlerische Verfallszeit ansehen86, stellt die Heraldik ein kulturelles Erbe von unschätzbarem Wert dar, das sich nicht zuletzt auch in den Wechselbeziehungen von Wappen, Siegeln und Grabdenkmälern manifestiert.
86 Vgl. Ludwig Biewer, Handbuch der Heraldik. Wappenfibel. Begründet durch Adolf Matthias Hildebrandt, 19. verb. u. erw. Auflage, Neustadt a. d. Aisch 1998, S. 25.
X. Gefälschte Siegelstempel: Wie kann man sie erkennen? Urkundenfälschungen gehören zu den großen Themen der Mediävistik. Aber schon zu einer Zeit, als noch nicht das historische, sondern das rechtliche Interesse an den Urkunden vorherrschend war, besaß das Discrimen veri ac falsi eine grundlegende Bedeutung. Insofern besitzt die Urkundenkritik, die mit einschlägigen Bestimmungen des kanonischen Rechts im Hochmittelalter begann, eine lange Geschichte. Den Anstoß gab Papst Innozenz III. (1198–1216), bei dem die Urkundenkritik die Prüfung bezüglich der Echtheit des Siegels (im vorliegenden Falle der päpstlichen Bulle) und der Siegelbefestigung einschloß. Seither – und insofern nicht erst seit dem großen Werk von Jean Mabillon1 – war die Siegelkunde, deren Bedeutung sich auch in der von den Kanonisten geführten Diskussion um das Sigillum authenticum äußert, Bestandteil der Urkundenlehre.2 Erst im 19. Jahrhundert emanzipierte sich die Sphragistik zu einer eigenständigen Disziplin, die wir bis heute zu den klassischen Hilfswissenschaften der Geschichte rechnen.
Gefälschte Siegel an Urkunden Die große Zahl von gefälschten oder verunechteten Urkunden hat in der Vergangenheit zu einer Fülle von Untersuchungen geführt, in denen auch dem Siegel die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde.3 Da für den 1 2 3
Jean Mabillon, De re diplomatica libri VI, Paris 1681. Demgemäß nehmen Siegel und Siegelkunde in den Handbüchern zur Urkundenlehre, insbesondere dem Standardwerk von Harry Breßlau, einen wichtigen Platz ein. Noch bis weit in die Neuzeit hinein stand das rechtliche Interesse im Vordergrund. In der Geschichte der Urkundenkritik sind besonders erwähnenswert die frühen Nachweise des 14./15. Jahrhunderts, daß es sich bei der sog. Konstantinischen Schenkung und bei dem Privilegium maius um Fälschungen handelt. Aber auch ausführliche Traktate, mit denen die Echtheit einer Urkunde nachgewiesen werden sollte, spielten bis zum Ende des Ancien régime eine wichtige Rolle im Rechtsleben. Ein solches (bisher nicht beachtetes) Beispiel begegnete mir bei meiner Tätigkeit im
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Urkundenfälscher die Besiegelung, d. h. die Beschaffung eines „glaubwürdigen“ Siegels und dessen möglichst unverdächtig aussehende Befestigung an der Urkunde, sicherlich eines der größten Probleme darstellte, mag es verwundern, daß die Siegelforschung dem Phänomen der Siegelfälschung an sich bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Eine rühmliche Ausnahme bildet allerdings Wilhelm Ewald. Im Jahre 1911 veröffentlichte er einen umfangreichen Aufsatz über „Siegelmissbrauch und Siegelfälschung im Mittelalter, untersucht an den Urkunden der Erzbischöfe von Trier bis zum Jahre 1212“.4 Er konnte sich dabei auf die ältere Literatur, etwa Grotefend, Ilgen, Posse und Breßlau, stützen. Auch in seiner „Siegelkunde“ von 1914 hat der Altmeister der deutschen Sphragistik dem „Siegelbetrug“ ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem Siegelmißbrauch, Siegelfälschung und Maßnahmen zur Verhütung von Siegelfälschung behandelt werden.5 Es
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Historischen Archiv der Stadt Köln: In der langen Auseinandersetzung zwischen Stadt und Erzbischof von Köln um die Verpfändung erzbischöflicher Rechte und Einkünfte (u. a. aus den Rheinmühlen und der Fettwaage) vom Jahre 1444, bei der auch die auswärtige Grut eine besondere Rolle spielte, beauftragte der Rat der Stadt Köln bei einem vergleichsweise geringen Streitwert keinen geringeren als Johann Christoph Gatterer, „Königl. Großbritann- und Kurbraunschweig-Lüneburg. Hofrat und Professor der Geschichte zu Göttingen“, mit der Erstellung eines Gutachtens bezüglich einer über 50 Goldgulden lautenden Originalquittung vom Jahre 1501, deren Echtheit von erzbischöflicher Seite angefochten wurde. In seinem Gutachten vom 3. Oktober 1790 ging Gatterer auch ausführlich auf die Besiegelung ein, die ihm ebenso wie die inneren und anderen äußeren Merkmale der Urkunde unverdächtig erschienen (Histor. Archiv der Stadt Köln, Köln und das Reich 415; Fotokopie der betreffenden gedruckten Prozeßunterlagen im Besitz des Verf.). Siegelmissbrauch und Siegelfälschung im Mittelalter, untersucht an den Urkunden der Erzbischöfe von Trier bis zum Jahre 1212, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 30 (1911), S. 1–100. Wilhelm Ewald, Siegelkunde, S. 225–241. Die älteren, sehr knappen Spezialuntersuchungen, die bei Eckart Henning und Gabriele Jochums (Bearb.), Bibliographie zur Sphragistik, S. 43–45, angeführt sind, können vernachlässigt werden. Die ebenda, S. 45, Nr. 573, 575 und 579 genannten jüngeren Aufsätze von Wilhelm Engel, Wilhelm Baumeister und Peter Acht behandeln verhältnismäßig kurz das Vorgehen von Fälschern zur Herstellung von Bleibullen und Wachssiegeln an gefälschten Urkunden. Wenigstens einen Überblick über das Thema „Siegelfälschungen“ mit Hinweisen auf rheinische Beispiele habe ich im Jahre 1984 versucht; vgl. Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 142–149. Die deutschsprachigen Handbücher zur Siegelkunde, die nach Ewald erschienen sind, also Egon Frhr. von Berchem, Siegel, Erich
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wäre lohnend, dieses facettenreiche und unter verschiedenen Gesichtspunkten reizvolle Thema ausgehend von den grundlegenden Vorarbeiten Ewalds systematisch in einer Dissertation zu untersuchen.
Gefälschte Siegelstempel: ein bisher nicht systematisch behandeltes Phänomen Nachfolgend beschäftige ich mich mit einem Teilaspekt, den gefälschten Siegelstempeln, die von der Urkundenlehre und der Siegelkunde bisher nie unter Auswertung der großen Sammlungen systematisch behandelt wurden. Falsifikate gibt es heute noch in nicht geringer Zahl, vornehmlich in den Sammlungen unterschiedlicher Einrichtungen; gefälschte Stempel wurden z. T. aber auch von Privatpersonen erworben, und manche begegnen sogar als vagabundierende Stücke immer wieder auf dem Antiquariatsmarkt. Für das Discrimen veri ac falsi bei Siegelstempeln hat man bisher keine allgemeinen Kriterien entwickelt. Lediglich im konkreten Einzelfall wurden Argumente vorgetragen bzw. Vermutungen geäußert, die für oder gegen die Echtheit eines Siegelstempels sprechen.
Zur Problematik gefälschter Siegelstempel Versucht man, zu allgemein gültigen Kriterien zu gelangen, um die Frage nach der Echtheit von Siegelstempeln zu beantworten, so wird man grundsätzlich wie seinerzeit Wilhelm Ewald, der sich auf Siegel a b d r ü c k e an Urkunden und Briefen oder in Altarsepulcren beschränkte, auch bei Typaren von „Abstufungen der Erkennbarkeit der Echtheit und der Unechtheit“6 auszugehen haben. Dieses von Ewald mehrfach angesprochene erkenntnistheoretische Problem, insbesondere ob wir imstande sind, „Originalabdrücke von geschickten Kopien echter Abrücke zu unterscheiden“7, stellt sich in analoger Weise bei den überlieferten Siegel s t e m p e l n. Während
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Kittel, Siegel, und Andrea Stieldorf, Siegelkunde, gehen auf Siegelfälschungen fast gar nicht ein oder vermitteln entsprechend ihrer Intention nur „Basiswissen“. Wilhelm Ewald (wie Anm. 4), S. 2. Ebenda, S. 10.
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Ewald aus gutem Grund die technischen Möglichkeiten des Mittelalters zur Herstellung gefälschter Siegel – „gefälscht“ im wahrsten Sinne des Wortes8 – erörterte, müssen wir bei den Siegelstempeln auch mit den technischen Fähigkeiten der Neuzeit, insbesondere des hierin unübertroffenen 19. Jahrhunderts, rechnen. Insofern gestaltet sich die Einschätzung von erhaltenen Typaren von vornherein viel schwieriger als die von Siegelabdrücken. Wenn wir nachfolgend bei Siegelstempeln oder Typaren – wir benutzen beide Begriffe ohne sachliche Unterscheidung – von „Fälschungen“ sprechen, so geschieht dies keineswegs, weil wir damit in jedem Falle eine Verwendung in betrügerischer, also moralisch verwerflicher Absicht unterstellen. Vielmehr soll der Terminus „gefälscht“ bzw. „Fälschung“ als Verabredungsbegriff gebraucht werden, mit dem wir die Unechtheit oder mangelnde Authentizität eines Stempels bezeichnen wollen. Anders ausgedrückt: Ein Siegelstempel ist für uns gefälscht, wenn er nicht ist, wofür er sich ausgibt, (was aber Merkmal eines echten Stückes ist): ein Stempel, den ein konkreter Auftraggeber, gleichgültig ob Einzelperson oder Korporation, hat anfertigen lassen, um ihn künftig für eigene Siegelungszwecke zu benutzen. Die schwierige Frage bezüglich des Entstehungszeitpunktes, der bei der Kopierung eines Originals kurze Zeit nach dessen Entstehung, aber auch Jahrhunderte später liegen kann, und die in manchen Fällen ebenso schwierige Frage des Verwendungszweckes von gefälschten Typaren sollen nur am Rande berührt werden. Ganz außer Betracht lassen wir hier den häufiger vorkommenden Fall des Nachschnitts, d. h. die im Auftrag des Siegelführers erfolgte Herstellung eines neuen Siegelstempels nach dem Vorbild des alten Stempels, weil dieser verlorengegangen oder schadhaft geworden war. Ein Nachschnitt lag auch dann nahe, wenn man einen kleinen Fehler im bisherigen Siegel beseitigen wollte, wie es im Fall des ersten/zweiten Siegels der Stadt Duisburg geschah.9 Ein ganz wesentlicher Unterschied bei der Behandlung und Beurteilung eines verdächtigen Siegelabdrucks einerseits und eines verdächtigen Typars 8 9
Der terminologischen Unterscheidung, die Ewald mit Kritik an Hermann Grotefend und Harry Breßlau vorgenommen hat (ebenda, S. 4 f.), kann man nur zustimmen. Vgl. unten Anm. 28. Näheres zu dem angesprochenen Themenkomplex bei Toni Diederich, Nachgravur, Umgravur, Nachschnitt und Neuschnitt. Beobachtungen an Dürener und anderen rheinischen Siegelstempeln, in: Dürener Geschichtsblätter 84 (1997), S. 185–215.
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andererseits besteht darin, daß der Abdruck, wenn es sich nicht um ein loses, von einer Urkunde abgeschnittenes Exemplar handelt, stets in einem größeren Kontext überliefert ist, während der Siegelstempel, auch wenn er sich in der Gesellschaft mit anderen Stempeln einer Sammlung befindet, immer allein steht. Er kann, selbst wenn eine gemeinsame Erwerbung oder gar Provenienz mit anderen, unzweifelhaft echten Stempeln gesichert ist, bezüglich seiner Echtheit letztlich nur für sich betrachtet und bewertet werden. Die Prüfung eines jeden Stempels muß sich auf seine diversen Merkmale erstrecken: Material, Form, Größe, Gravur, Gestaltung des Siegelfeldes (Inhalt, Stil), Elemente der Umschrift (Wortlaut, Epigraphik) und Rückseite (eventuell mit Handhabe bzw. Griff). Ob ein Stempel als echt anzusehen ist, ergibt sich daraus, ob jedes der einzelnen Elemente in sich stimmig ist und diese auch zusammengenommen ein einheitliches Bild ergeben. Hierauf werde ich später zurückkommen. Die unbefriedigende Forschungssituation bezüglich der Echtheitsfrage bei Siegelstempeln erklärt sich teilweise daraus, daß sie sich auf eine kaum zu überschauende Zahl von Siegelstempelsammlungen in ganz Europa verteilen, ein Überblick also kaum zu gewinnen ist.10 In den meisten Institutionen, die Siegelstempelsammlungen besitzen, führen diese ein Schattendasein, insbesondere wenn die Sammlungen nur aus einer kleinen Anzahl von Typaren bestehen. Die Umfrage des Internationalen Siegelausschusses hat in einzelnen Fällen, wie entsprechende Rückmeldungen 10 Der Internationale Siegelausschuß hat 1988/1989 eine europaweite Umfrage zu Siegelstempelsammlungen durchgeführt, deren Ergebnisse in sechs Aktenordnern, vorliegen. Es wurde seinerzeit entschieden, das Material, das für eine Reihe von Ländern die ausgefüllten Originalfragebögen, für andere Länder immerhin komplette Kopien davon umfaßt, im Historischen Archiv des Erzbistums Köln aufzubewahren, wo es für Forschungen zur Verfügung steht. Übersichten finden sich bei Toni Diederich, Siegelstempelsammlungen in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin. Bericht über das Ergebnis einer Umfrage des Siegelausschusses des Internationalen Archivrats, in: Der Archivar 43 (1990), Sp. 573–586; Dieter Hebig, Die Erfassung von Siegelstempeln in Archiven, Museen und Sammlungen der neuen Bundesländer. Abschlußbericht, in: Archivmitteilungen 41 (1991), S. 253–262; Stefan K. Kuczyński, Rapport concernant l’enquête sur les matrices des sceaux, in: Janus. Revue archivistique 1993.1, S. 18–24. Vermutlich wurden in vielen Fällen gefälschte Typare mitgezählt, so daß die angegebenen Zahlen für mittelalterliche Typare nach unten korrigiert werden müssen.
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zeigten, dazu geführt, daß die vorhandenen Siegelstempel gesichtet, gereinigt, neu gelagert und/oder karteimäßig verzeichnet wurden. Selbst wenn man sich auf die hier in erster Linie interessierenden Stücke des Mittelalters beschränken will, bleibt neben wenigen sehr umfangreichen und etlichen mittelgroßen Stempelsammlungen eine Menge von kleinen und kleinsten Beständen, die einem interessierten Forscher nicht ohne weiteres zugänglich sind. Insofern muß man auch meine eigenen Erfahrungen und Anschauungen als sehr bescheiden ansehen. Es erscheint mir aber lohnend, hier einiges davon festzuhalten in der Hoffnung, daß die nachfolgenden Ausführungen einer späteren systematischen Behandlung der Siegelstempelfälschungen dienlich sind.
Gefälschte Siegelstempel an verschiedenen Orten – ableitbare Fälschungskriterien Wenn ich die ansehnliche Siegelstempelsammlung des Kölnischen Stadtmuseums, die ich über Jahrzehnte hinweg für verschiedene Anliegen nutzen durfte, vorerst beiseite lasse, so ist mir unvergessen eine Auswahl von Siegelstempeln, die Yves Metman (1913–1999)11, damals Leiter des „Service des sceaux“ am französischen Nationalarchiv in Paris und langjähriger Vorsitzender des Internationalen Siegelausschusses, 1975 einer kleinen Gruppe von interessierten Teilnehmern des „Stage technique international d’archives“ in besagtem Nationalarchiv vorführte und kenntnisreich kommentierte. Er lieferte nicht nur sachliche Erläuterungen zu den ausgewählten Typaren und ihrer künstlerischen Qualität, sondern gab uns auch etliche Exemplare zwecks näherer Betrachtung in die Hand. Das war ein großer Vertrauensbeweis und im übrigen auch didaktisch sehr klug, weil niemand in der kleinen Runde sich dem haptischen Erlebnis, mittelalterliche Kleinkunstwerke in der Hand zu halten, entziehen konnte. (Ich beobachtete eine offensichtlich tief beeindruckte algerische Kollegin, die zuvor nur mit der Verwaltung moderner Akten betraut gewesen war und sicherlich noch niemals eine mittelalterliche Urkunde, geschweige denn ein Typar angefaßt hatte.) Metman ging auch auf die Echtheitsfrage ein. Sein persönliches Credo lautete: Wenn 11 Nachruf von Jean-Luc Chassel, in: Revue française d’héraldique et de sigillographie 69–70 (1999–2000), S. 3 f.
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die Handhabe auf der Rückseite ein Loch (zum Anketten) aufweist, ist der Siegelstempel mutmaßlich echt, im anderen Falle aber verdächtig. Diese These hat er später, als wir im Internationalen Siegelausschuß zusammenarbeiteten12, mehrfach wiederholt. Sie wurde allerdings nicht von allen akzeptiert, von einem gelehrten französischen Kollegen sogar belächelt. Ich selbst habe die These Metmans, die offenkundig aus der Kenntnis einer größeren Zahl von Siegelstempeln abgeleitet war, ernstgenommen und in späteren Jahren beim Umgang mit mittelalterlichen Typaren überprüft – mit einem so klaren Ergebnis, daß ich heute formulieren möchte: Bei mittelalterlichen Typaren, die aus einer nicht allzu dicken Prägeplatte mit sauber gearbeiteter Rückseite bestehen und eine Öse oder Handhabe mit einem Loch aufweisen, spricht zunächst alles für die Echtheit. Ist die Rückseite sorgfältig gestaltet, aber kein Loch zum Anketten vorhanden, so ist nicht eo ipso von einer Fälschung auszugehen, sondern eine Bewertung nach Prüfung aller übrigen Merkmale vorzunehmen.13 Eine Fälschung kann man mit ziemlicher Sicherheit ausschließen, wenn die Rückseite mit einigem Aufwand gearbeitet 12 Hieraus hat sich eine freundschaftliche Beziehung über Jahre hinweg ergeben. Ich konnte mich anläßlich des Internationalen Archivkongresses, der 1984 in Bonn stattfand, mit einer persönlichen Einladung an Metman und zwei weitere Mitglieder des Internationalen Siegelausschusses revanchieren. Es gelang mir, für uns ein „Privatissimum“ im Kölnischen Stadtmuseum zu arrangieren, wo uns eine Reihe ausgewählter Siegelstempel, darunter besonders schöne Stücke, auf einem Samttuch ausgebreitet wurden. Herrn Museumsdirektor i. R. Dr. Werner Schäfke und seinem damals für die Siegelstempel zuständigen Mitarbeiter, Dr. Reiner Dieckhoff, danke ich noch einmal für das großzügige Entgegenkommen und die für uns aufgewandte Mühe. 13 Wilhelm Ewald (wie Anm. 5), S. 132, hat bemerkt, „daß viele Stempel des Mittelalters an Ketten getragen wurden“ und Siegelketten in mittelalterlichen Inventaren und Rechnungen erwähnt werden. Von den auf seiner Tafel 2 abgebildeten zehn Siegelstempeln zeigen sechs ein Loch, davon einige auch die zugehörige Kette. In anderen Fällen, etwa wenn ein Typar zwei gegenüberliegende Prägeplatten – für das große Siegel und das kleinere Nebensiegel – besitzt, hat man zwangsläufig auf eine Möglichkeit zum Anketten verzichtet (vgl. ebenda Tafel 2, Nr. 4 und 10, sowie Tafel 3, Nr. 7). Auch Erich Kittel (wie Anm. 5), S. 132, stellte fest: „Die Stempelplatten erhielten, wie sich aus den Abdrucken erkennen läßt, eine am Rand etwas überstehende Öse, die sich im 13. Jahrhundert zu einem rückwärtigen Steg ausbildete. Die Ösen dienten zur Anbringung von Ketten, an denen die Siegel getragen werden konnten“; vgl. auch die Abbildungen ebenda, S. 134 f.
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wurde, diese etwa ein Scharnier mit einer klappbaren Handhabe aufweist, aus einem pyramidalen, kegelförmigen oder anderweitig gestalteten Knauf besteht, der u. U. in einem Drei- oder Vierpaß ausläuft, oder in anderer Weise durch die Verwendung von Zierelementen den besonderen Gestaltungswillen des Künstlers erkennen läßt.14 Im Jahre 1982 hatte ich Gelegenheit, einen Eindruck von der Siegelstempelsammlung der französischen Nationalbibliothek in Paris zu gewinnen, die damals noch ungeordnet in verschiedenen Kästen aufbewahrt wurde. Michel Pastoureau, dem ich seit 1979 freundschaftlich verbunden bin, hatte mich zu einem Besuch in die Bibliothèque Nationale eingeladen. Er war Leiter des „Cabinet des médailles“ und mit der Verzeichnung der dort verwahrten Medaillen betraut. Wir widmeten uns einen ganzen Vormittag lang ausschließlich den Siegelstempeln, nahmen viele Stücke in die Hand und erörterten in etlichen Fällen die Echtheitsfrage. Bei plumpen Stücken waren wir uns schnell einig, daß es sich wohl um Fälschungen handeln müsse, in anderen Fällen waren wir uns aber unsicher und legten die Stempel mit der Erkenntnis aus der Hand, daß hier nur eine intensive Prüfung aller Details, eventuell durch Ermittlung des (vermeintlichen) Siegelführers und seines Siegels an Originalurkunden, weiterhelfen kann. Das oben zitierte Wort Ewalds von den „Abstufungen der Erkennbarkeit der Echtheit und der Unechtheit“15 konnte also auch im Hinblick auf die Siegelstempel der Bibliothèque Nationale Geltung beanspruchen. Daß sich praktisch in jeder größeren Siegelstempelsammlung auch Falsifikate befinden, konnte ich 1985 feststellen. Anläßlich des Erscheinens 14 Beispiele dieser Art sind beschrieben und z. T. abgebildet in dem Ausstellungskatalog „Empreintes et matrices. Les sceaux du patrimoine historique et artistique du Nord, XIIe–XVIIIe siècle“, Lille 2009, Nr. 2–25. Dort (S. 8) wird auch darauf hingewiesen, daß die Öse bzw. das Loch auf der Rückseite dazu diente, das Typar mittels einer Kette oder Kordel am Gürtel zu tragen. Zum „Nachlaß“ des 1398 in Köln hingerichteten erzbischöflichen Siegelbewahrers Hermann von Goch gehören auch zwei silberne Typare, von denen das größere noch mit einer Kette versehen ist. Eine Abbildung der diversen Gegenstände, die wie die Siegelstempel mit Ketten, ansonsten aber mit Schnüren am Gürtel befestigt werden konnten, u. a. mehrere Geldbeutelchen, ein Klapplöffel mit Etui, eine Nadelbüchse und ein Goldprobierstein mit Etui, findet sich im Ausstellungskatalog „Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800–1400“, Köln 1972, S. 40. 15 Siehe oben Anm. 6.
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des Katalogs von Christoph Battenberg16 hatte das Kestner-Museum in Hannover eine größere Ausstellung vorbereitet und mich um einen Vortrag bei der Eröffnungsveranstaltung gebeten.17 Der mir vorab zugeschickte Katalog enthielt einige als verdächtig deklarierte Stücke, bei einigen weiteren schien mir eine Prüfung der Echtheit angebracht, insbesondere bei dem Stadtsiegel von Prag18 und dem großen spitzovalen Petrussiegel des Wormser Domkapitels aus dem 13. Jahrhundert.19 Als ich das Typar zu dem Wormser Siegel in der Ausstellung zu Hannover sah, fiel mir die dunkle, fast schwarze Färbung der Metall-Legierung auf, die sich von der Masse der unzweifelhaft echten Bronzen und Messinge des Mittelalters unterschied. Da sich ein zweites Typar desselben Siegels in Berlin befindet, das aus Messing besteht und eine zeittypische Handhabe an der oberen Spitze besitzt20, wird man das im Kestner-Museum liegende Exemplar als Fälschung bzw. als Replikat ansehen müssen, weil man von der Prämisse ausgehen darf, daß aus Sicherheitsgründen grundsätzlich immer nur ein einziges Typar für ein bestimmtes Siegel hergestellt wurde.21 Die Möglichkeit einer „Zweitanfertigung“, die 16 Christoph Battenberg, Die Sammlung der Siegelstempel im Kestner-Museum Hannover, Hannover 1985. 17 Vortrag am 27. November 1985 im Kestner-Museum. 18 Die Bestätigung erhielt ich, als mich der bekannte tschechische Siegel- und Wappenforscher Tomáš Krejčík am 23. August 1993 in Köln aufsuchte und wir u. a. über das mittelalterliche Stadtsiegel von Prag sprachen. Nach Auskunft des genannten Kollegen befindet sich der Originalstempel in Prag; eine weitere Nachbildung liegt in Madrid. Zum Originalstempel in Prag vgl. auch Eduard Melly, Beiträge zur Siegelkunde, S. 133. Zu dem Stück im Kestner-Museum vgl. Christoph Battenberg (wie Anm. 16), Nr. 30. 19 Christoph Battenberg (wie Anm. 16), Nr. 99. 20 Publiziert und abgebildet bei Arthur Suhle, Petschafte des Münzkabinetts aus dem 13.–16. Jahrhundert (Staatliche Museen zu Berlin), Berlin 1964, Nr. 17, sowie Rainer Kahsnitz, Siegel und Goldbullen, Band I, Nr. 120, und Band II, Abb. 50. 21 Ganz vereinzelte Ausnahmen, für die offenbar besondere Gründe vorlagen, hat es gegeben, doch kann an dieser Stelle darauf nicht näher eingegangen werden. Einen speziellen Grund erwähnt Erich Kittel (wie Anm. 5, S. 143): „Wenn man mit einem Stempel nicht auskam, mußte man Kopien (Hilfsstempel) anfertigen, von denen man dann einen mit auf Reisen nehmen konnte.“ Konkrete Beispiele nennt Kittel aber nicht. Ein anderer Fall liegt vor, worauf Kittel selbst hinweist, wenn für unterschiedliche Geschäftsbereiche – bei den Kaisern etwa für Deutschland und Italien – getrennte Siegelstempel existieren.
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Battenberg in Erwägung gezogen hat, möchte ich im vorliegenden Fall ausschließen. Die dunkle Farbe des Stempels zum Wormser Petrus-Siegel in Hannover wird vielmehr zu einem zusätzlichen Kriterium, um moderne, nicht materialgerechte Siegelstempel als solche zu erkennen. Ein eindeutiger Befund dieser Art, und zwar in einem wichtigen Fall, war mir bereits 1969 aufgefallen. Bis dahin befand sich der Stempel zum ältesten Kölner Stadtsiegel in einer Vitrine des Kölnischen Stadtmuseums. Er wurde dort als echt deklariert. Das Typar stammte von dem berühmten Kölner Sammler Hans Lückger, der es von einem Kölner Antiquar erworben hatte. Lückger stellte das Stück 1928 im Wallraf-Richartz-Jahrbuch vor.22 An der Echtheit der stark verkrusteten Bronzeplatte, „die sich auf den ersten Blick als jahrhundertelang in der Erde gelegener Siegelstempel erwies“, hatte Lückger keinen Zweifel. Wilhelm Ewald, dem das Stück wegen persönlicher Spannungen zu Lückger nicht zugänglich war, bestritt die Echtheit wegen der Abweichungen, die er beim Vergleich zwischen dem Abdruck des besagten Stempels und Originalabdrücken des ältesten Kölner Stadtsiegels an Urkunden festgestellt hatte.23 Da der Stempel später mit der Sammlung Lückger in das Kölnische Stadtmuseum gelangt war, stand er mir 1969 dank des Entgegenkommens des damaligen Museumsdirektors Dr. Günther Albrecht für eine eingehende Prüfung zur Verfügung. Der Stempel unterschied sich von den anderen unzweifelhaft echten mittelalterlichen Typaren des Museums durch seine dunkle Farbe. Mit Einverständnis von Dr. Albrecht nahm ein Museumsrestaurator einige Späne von der Rückseite des Typars, die dann zwecks Spektralanalyse an die Bundesanstalt für Materialprüfung in Berlin geschickt wurden. Glücklicherweise gab es dort einen Spezialisten, Dr. Otto Werner, der eine Vielzahl von mittelalterlichen Bronzen und Messingen untersucht hat.24 Nach seiner Einschätzung ergab sich aus der Spektralanalyse der Kölner Späne mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, „daß das Material des Siegelstempels neuzeitlich ist“.25 Aus der damaligen Untersuchung darf zweierlei festgehalten 22 Wallraf-Richartz-Jahrbuch 5 (1928), S. 159–165. 23 Wilhelm Ewald, Rheinische Siegel III, S. 29. 24 Grundsätzliches bei Otto Werner, Analysen mittelalterlicher Bronzen und Messinge I, in: Archäologie und Naturwissenschaften 1·1977, S. 144–170. 25 Näheres dazu bei Toni Diederich, Das älteste Kölner Stadtsiegel, in: Aus kölnischer und rheinischer Geschichte. Festgabe Arnold Güttsches (Veröffentlichungen des
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werden: Erstens geben allzu dunkle Legierungen bei Typaren Anlaß, an deren Echtheit zu zweifeln, zweitens bietet die moderne Spektralanalyse, wenn ihr Ergebnis, d. h. die Zusammensetzung der Legierung, die im Mittelalter nie ganz „rein“ war, sachkundig interpretiert wird, eine Möglichkeit, mittelalterliche Legierungen von denen der Neuzeit zu scheiden. Das gilt insbesondere für Legierungen des 19. Jahrhunderts, das aus mehreren Gründen so recht als das Säkulum der Siegelstempelfälschungen angesehen werden kann. Wegen des gestiegenen historischen Interesses gab es im 19. Jahrhundert, vor allem in der 2. Hälfte desselben, einen „Markt“ für Siegel und Siegelstempel. Mit Fälschungen ließ sich damals Geld verdienen, so daß es zu einer bedeutenden Produktion von Siegelstempeln kam.26 Die beschriebene bedeutende Produktion27 führte dazu, daß die Fälscher auf das Einzelstück nicht jene Sorgfalt verwandten, wie wir sie in aller Regel bei echten Typaren feststellen können. Der Auftraggeber des Mittelalters erwartete vom Künstler ein in jeder Hinsicht perfektes Einzelstück, das er i. a. ja auch teuer bezahlte.28 Die mangelnde Sorgfalt – man könnte auch sagen die Sorglosigkeit – der Fälscher ist verräterisch, erlaubt sie uns doch, ihre Produkte als Falsifikate zu erkennen. Bei dem gefälschten Stempel zum zweiten großen Siegel der Stadt Goch, der sich im Bode-Museum zu Berlin Kölnischen Geschichtsvereins 29), Köln 1969, S. 57, sowie Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 145 f. 26 Empreintes et matrices (wie Anm. 14), S. 6: „Cet engouement pour les sceaux, tout au long du XIXe siècle, fut sans doute à l’origine de l’importante production de faux, à des fins commerciales ou esthétiques, dans la seconde moitié du siècle.“ Zu den verdienstvollen Sammlern in Frankreich gehörte Victor Delattre (1818–1889); vgl. ebenda, S. 5 f. 27 Zu ihr gehören auch die bewußt als Replikate hergestellten und als solche deklarierten Stücke, bei denen keine Fälschungsabsicht zugrunde lag, die aber auch ihre Käufer fanden; vgl. Michel Pastoureau, Les sceaux, S. 45. 28 Kleine Versehen in der Umschrift wie seitenverkehrte Buchstaben oder unharmonische Verteilung derselben, etwa durch Platzmangel bedingte gestauchte oder stärker gekürzte Wörter am Ende der Legende, wurden offenbar nicht unbedingt als Makel oder Mangel empfunden. Doch gibt es auch Fälle, in denen ein fehlerhaftes Typar später durch ein neues ersetzt wurde. Ein Beispiel hierfür ist der Wechsel vom ersten zum zweiten großen Siegel der Stadt Duisburg, wo unter wesentlicher Beibehaltung des Siegelbildes das falsche PARRONVS in der Umschrift des ersten Siegels in das richtige PATRONVS korrigiert wurde; vgl. Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 217–220.
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Gefälschte Siegelstempel:
befindet – das Original liegt im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg – unterlief dem Fälscher eine verhängnisvolle Verschreibung, nämlich contatis statt richtigem ciuitatis, weil er offenkundig im Lesen der gitterartigen gotischen Minuskel nicht geübt war und keine ausreichenden Lateinkenntnisse besaß.29 Häufig benutzten Fälscher Originalabdrücke oder davon genommene Siegelabgüsse als Vorlagen für die Herstellung eines Siegelstempels (oder auch mehrerer Exemplare), wenn sie sich des Abgußverfahrens bedienten. Man hielt es dann nicht immer für nötig, an den Stellen des gefälschten Siegelstempels, die aufgrund schlecht erhaltener Partien des Originalabdrucks nur ein schwaches Relief hergaben, eine Nachgravur vorzunehmen, um einen makellosen Eindruck zu erwecken. Beispiele dieser Art sind mir häufiger begegnet.30 Ein besonders instruktiver, in anderem Zusammenhang beschriebener Fall sei hier noch einmal angeführt. Zu der 1984 vom Erzbistum Köln erworbenen Siegelsammlung des Jesuitenpaters Stephan Beissel (1841– 1915) im Historischen Archiv des Erzbistums Köln gehört ein vorzüglich erhaltener, von einer Urkunde abgeschnittener Originalabdruck des großen Siegels des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg (1307–1354). Unter den losen Stücken derselben Sammlung befindet sich aber auch ein moderner Lackabdruck von einem mit Sicherheit gefälschten Typar, das sich als das des Erzbischofs Balduin ausgibt, seinerzeit schon Stephan Beissel für einen Abdruck zur Verfügung stand und wohl im 19. Jahrhundert im Abgußverfahren hergestellt wurde. Der Lackabdruck davon ist in seinem Relief auffällig flach und läßt die feine Schraffur des Siegelfeldes nicht erkennen. Der Stempel wurde mir in den 1970er Jahren von dem Kölner Auktionator Rolf Venator zur Prüfung vorgelegt und danach, obwohl von mir als Fälschung erkannt und im Katalog nicht als Original bezeichnet, von unbekannter Seite ersteigert. 1984 tauchte der Stempel erneut in einer Kölner Auktion auf und wurde im Katalog als „Messingguß, möglicherweise späterer Guß“ deklariert. Der niedrige Schätzpreis von 600,– DM erklärt sich aus der Tatsache, daß das Auktionshaus den Stempel nicht als authen-
29 Näheres bei Toni Diederich, Rheinische Städtesiegel, S. 146. 30 Die Beispiele und die weiterführenden Bemerkungen zu Fälschungen dieser Art in dem einschlägigen Kapitel meiner „Rheinischen Städtesiegel“ brauchen hier nicht wiederholt zu werden.
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tisch ansah.31 Der (jederzeit wiederholbare) Vergleich des (handwerklich sehr gut ausgeführten) Lackabdrucks von dem gefälschten Stempel mit dem Originalabdruck des Balduin-Siegels im Historischen Archiv des Erzbistums Köln läßt einen wesentlichen Qualitätsunterschied erkennen. Dieser ist, so darf man verallgemeinernd sagen, immer dann evident, wenn die Vorlage für den gefälschten Siegelstempel schadhaft oder schlecht ausgeprägt war und der Fälscher auf eine Nachgravur verzichtete. Hierbei ist auch zu bedenken, daß durch häufige Benutzung und Beanspruchung zwar die Oberfläche der Prägeseite ein wenig abgeflacht oder abgeschliffen sein kann, doch müßten die tiefer gravierten, also geschützten Partien – etwa Nase und Knie einer Thronfigur – bei einem Abdruck vom Typar deutlich hervortreten. Zeigen sich bei einem Originaltypar Mängel, was vorkommt, so gibt es dafür jeweils einen besonderen Grund. So hat Rainer Kahsnitz bei den zerfressen anmutenden Gesichtern der Stifter und dem abgeschliffenen Gewand des hl. Petrus im Typar des großen Siegels der Universität Heidelberg an eine unsachgemäße Reinigung (etwa eine Verätzung) gedacht32, während in einem anderen Falle nach einer Erklärung des Solinger Graveurs Werner Wagner (1923–1999), der sich mit alten Gußtechniken – auch mit Theophilus presbiter – befaßt und das Typar zum großen Siegel der Universität Köln im Jahre 1997 untersucht hat, die groben Gesichtszüge der dort dargestellten Personen durch Lunker beim Bronzeguß (sog. Tafelguß) entstanden sind.33 Das Typar, das sich heute in der Stempelsammlung des Kölnischen Stadtmuseums befindet, weist, wie ich schon 1978 dargelegt habe, einige Schwächen auf, besticht aber durch seine gelungene, ja mutige Gesamtkomposition.34 Trotz der genannten Schwächen kann an der Echtheit
31 Nähere Angaben bei Toni Diederich, Die Siegelsammlungen Beissel und Ewald im Historischen Archiv des Erzbistums Köln, in: Herold-Jahrbuch N. F. 10 (2005), S. 60 f. Zu diesem Zeitpunkt besaß das Bistumsarchiv Trier schon einen ebenfalls gefälschten Stempel zu demselben Siegel. Über die Herkunft dieses Typars ist nach Auskunft des Leiters des Bistumsarchivs Trier, Dr. Martin Persch, nichts bekannt. 32 Dazu auch Toni Diederich, Siegelkunst, S. 162. 33 Vgl. Toni Diederich und Manfred Huiskes, Das große Siegel der Universität Köln in neuem Licht, in: Geschichte in Köln 44 (1998), S.139–149, und den Artikel „Zweifel am großen Universitätssiegel ausgeräumt“, in: Kölner Universitäts-Journal 1 – 1998, S. 2–6 mit Farbabbildungen S. 2. 34 Toni Diederich, Siegelkunst, S. 162.
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Gefälschte Siegelstempel:
des Typars keinerlei Zweifel bestehen.35 Der Nachweis wurde im Jahre 1997 möglich, als die Universitätsbibliothek Köln einen Abdruck des Universitätssiegels in rotem Wachs erwarb, der auf der Rückseite das älteste Rektoratssiegel aufweist. Der relativ dünne, von einer Urkunde abgeschnittene Siegelabdruck ist zwar der einzige, aber in jeder Hinsicht unverdächtig. Es gehört zu meinen unvergeßlichen siegelkundlichen Sternstunden, daß ich in einer größeren Runde von Experten das im Besitz des Kölnischen Stadtmuseums befindliche Typar des Universitätssiegels auf den besagten Wachsabdruck legen durfte und dieses nach kurzer Drehung millimetergenau „einrastete“.36 Letztlich, so darf man apodiktisch feststellen, stützen sich das Typar und der von der Universitätsbibliothek Köln erworbene Abdruck gegenseitig: Beide sind echt. Hierzu ist ergänzend zu bemerken, daß Abgüsse wegen des Schrumpfungsprozesses beim Erkalten des Wachses in der Regel etwas kleiner ausfallen als die Originale. Mit dem großen Siegel der Universität Köln verbindet sich ein häufiger anzutreffendes Problem, das hier angesprochen werden soll. Wären nicht der erwähnte Originalabdruck des Kölner Universitätssiegels aus dem Privatbesitz der Familie Lückger (Reststück der oben genannten Sammlung) in die öffentliche Hand gelangt und so eine fachkundige Prüfung möglich geworden, so hätten die bislang von Manfred Huiskes geäußerten Restzweifel bezüglich der Echtheit des Typars im Kölnischen Stadtmuseum fortbestanden. Trotz seiner umfangreichen Recherchen im Stadtarchiv Köln und bei vielen anderen Universitätsarchiven in ganz Europa ließ sich nämlich keine Urkunde mit dem Abdruck des großen Universitätssiegels nachweisen. Die Erklärung dürfte im vorliegenden Falle primär darin zu suchen sein, daß die Universität als solche wohl kaum Urkunden ausgestellt hat, weil dies eher Sache des Rektors (mit Benutzung seines Amtssiegels) und der einzelnen Fakultäten war, die alle ihr eigenes Siegel besaßen. Auch von anderen heute noch existierenden anspruchsvollen Siegelstempeln sind keine Abdrücke nachweisbar, offenbar weil das große Siegel – insbesondere seit dem Spät35 Bei dem Typar handelt es sich um eine Messinglegierung. Eine Analyse mit Hilfe der Atomabsorptionsanlage des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln (Schreiben von Dipl.-Min. Kurt Hangst an Dr. Werner Schäfke, Kölnisches Stadtmuseum, vom 29. Juni 1987) ergab: Kupfer 82,4 %, Zink 16,9 %, Eisen 0,6 %, Mangan unter 0,1 %. 36 Einzelheiten hierzu bei Toni Diederich und Manfred Huiskes (wie Anm. 33).
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mittelalter – nur selten zum Einsatz kam. Beispiele hierfür sind u. a. der Siegelstempel der Kölner Münzerhausgenossen aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts37 im Kölnischen Stadtmuseum und das im Bode-Museum zu Berlin liegende silberne Typar zu dem großen Siegel des Damenstiftes St. Vitus in Elten am Niederrhein.38 Gerade das Beispiel des Kölner Universitätssiegels zeigt, daß das Fehlen eines alten Originalabdrucks nicht unbedingt gegen die Echtheit eines Typars spricht. Es kommt dann bei der Bewertung entscheidend darauf an, ob alle anderen Merkmale eines Siegelstempels stimmig sind oder nicht. Daß sich auch von künstlerisch und anderweitig bemerkenswerten Siegelstempeln keine Originalabrücke an Urkunden erhalten haben bzw. bekannt sind, zeigen in einer geradezu unglaublichen Weise spanische Siegelstempel des 12.–16. Jahrhunderts, deren Publikation wir Faustino Menéndez Pidal und Elena Gómez Pérez verdanken.39 Die Autoren haben aus den verschiedenen ihnen bekannten und zugänglichen Sammlungen für den genannten Zeitraum insgesamt 317 Siegelstempel ermittelt.40 Originalabdrücke an Urkunden konnten sie nur von fünf Stempeln nachweisen.41 Das mag sich vielleicht auch daraus erklären, daß überhaupt nur 7.000– 8.000 verschiedene spanische Siegel aus dem Mittelalter überliefert sind.42 Im übrigen haben die genannten Autoren einen spitzovalen Siegelstempel, der sich als Bischofssiegel ausgibt, aber wohl kein wirklich existierendes Siegel imitierte, als alte Fälschung deklariert, wofür u. a. auch das Material (Quarzstein) spricht.43 Einige weitere der publizierten 317 Siegelstempel sind nach Meinung der Autoren verdächtig („nicht authentisch“). Ein Verdächtigungsgrund verdient hier besonders erwähnt zu werden: Bei den 37 38 39 40
Behandelt und abgebildet bei Rainer Kahsnitz, Siegel und Goldbullen, Nr. 156. Behandelt und abgebildet bei Toni Diederich, Siegelkunst, S. 161. Faustino Menéndez Pidal, Elena Gómez Pérez, Matrices de sellos españoles. Ihre Zahl dürfte insgesamt höher sein, weil Pater Stephan Beissel S. J. – vielleicht durch persönliche Beziehungen oder solche seines Ordens – Zugang zu kleineren kirchlichen Sammlungen oder Einzelstücken hatte, von denen sich hervorragende Lackabdrücke in seiner Sammlung befinden, die in der genannten Publikation von Menéndez Pidal und Gómez Pérez jedoch nicht erscheinen; vgl. Toni Diederich (wie Anm. 31), S. 56. 41 Faustino Menéndez Pidal, Elena Gómez Pérez (wie Anm. 39), S. 15 und 18. 42 Ebenda, S. 15. 43 Ebenda, S. 153, Nr. 316; nähere Ausführungen dazu ebenda, S. 25 f.
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Gefälschte Siegelstempel:
Wappensiegeln gibt es Stücke, die ungewöhnliche heraldische Elemente zeigen, weil der Fälscher mit der Heraldik der Zeit, als deren Produkte sie erscheinen sollen, nicht vertraut war.44 Diese Beobachtung ist von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie wie die unten noch zu erörternden nicht zeitgemäßen Stilelemente ein Kriterium zur Entlarvung einer Fälschung darstellen. Um es losgelöst von den spanischen Typaren an einem fiktiven Beispiel deutlich zu machen: In einem Wappensiegel, das sich als Produkt des 14. Jahrhunderts ausgibt, ist ein tartschen- oder gar rautenförmiger Wappenschild unmöglich. Der Fälscher verrät sich, weil er Phänomene seiner Zeit in eine ältere Zeit projiziert. Noch eine weitere Überlegung der spanischen Kollegen sei hier erwähnt. Im Hinblick auf moderne Siegelstempelfälschungen halten sie es für möglich, daß ein versierter Künstler mit Hilfe sorgfältig ausgewählter Vorlagen Werke herstellen konnte, die kaum als Fälschung zu erkennen sind. Aber: Solche Werke wären für den Hersteller nicht profitabel gewesen!45 Insoweit decken sich diese Überlegungen mit dem schon oben herausgestellten Kriterium, daß Fälschungen auch an der mangelnden Bearbeitung der Rückseite zu erkennen sind. Leider wird in den publizierten Katalogen von Siegelstempelsammlungen in aller Regel auf die Abbildung der Stempelrückseite verzichtet, womit ein Siegelforscher, der sich noch eingehender mit diesem Aspekt der Fälschungsproblematik befassen möchte, auf eine Autopsie der Stücke oder zu beschaffende Fotos von der Rückseite angewiesen wäre. Solche Forschungen lassen sich natürlich nur im Einzelfall realisieren, so daß die in den Katalogen abgedruckten Beschreibungen der Typare und die normalerweise auch in Kurzform mitgelieferten Angaben zu Material, Rückseite, Handhabe usw. herangezogen werden müssen. Hilfreich ist in diesen Fällen auch, wenn die Bearbeiter der Kataloge gefälschte Stempel nicht nur in die Publikation aufnehmen, sondern sie auch als Fälschungen ausweisen. In dem vierbändigen Katalog zu einer der größten und bedeutendsten Siegelstempelsammlungen überhaupt, der Sammlung des Museo Nazionale del Bargello in Florenz, ist in vielen Fällen das Typar als „copia fusa“, d. h. im Abguß-
44 Diese Beobachtung gewinnt an Gewicht, weil Faustino Menéndez Pidal international als herausragender Kenner der Heraldik gilt, dem nicht zeitgemäße Elemente in Wappendarstellungen natürlich auffielen. 45 Vgl. den Abschnitt „Los problemas especificos. Falsificaciones“ ebenda, S. 25 f.
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verfahren hergestellte Kopie, bezeichnet.46 Die Autoren sehen hierin nicht unbedingt Fälschungen. Vielmehr könnten diese Stücke ihrer Meinung nach auch koäval sein und als zweites Original gedient haben. Vielleicht seien sie aber auch zu Studienzwecken angefertigt worden. Den Terminus „Fälschung“ lassen sie nur für die Stücke gelten, die für den Antiquariatsmarkt des 18. und 19. Jahrhunderts („commercio antiquariale fra Sette e Ottocento“) hergestellt wurden. Die Kopien aber, welcher Art sie auch seien, könne man, so die Autoren, daran erkennen, daß sie von der ordnungsgemäßen Bearbeitung des Metalls auf der Rückseite abweichen.47 Belege für eine Herstellung von „Kopien“ im Auftrag des Siegelführers oder zu Studienzwecken führen die Bearbeiter des Bargello-Kataloges jedoch nicht an, so daß diesbezüglich große Zweifel bleiben, selbst wenn dies in einigen wenigen Fällen nachgewiesen werden könnte. Unter den insgesamt 2.793 Siegelstempeln des Bargello befinden sich nämlich unverhältnismäßig viele „copie fuse“, die wohl doch eher (wie anderenorts) für den Antiquariatsmarkt hergestellt worden sind. Anders als in dem Katalog des Kestner-Museums, wo jeweils die Prägeseite des Typars und ein Positivabdruck nebeneinander abgebildet sind, gibt es im Katalog des Bargello jeweils nur eine Abbildung, und zwar von der (an sich ja negativ gestochenen) Prägeseite, die aber dadurch, daß man das Litho beim Druck gedreht hat, positiv erscheint. Diese häufiger vorkommende Manipulation ist völlig inakzeptabel, weil so ein ganz falscher Eindruck entsteht.48 Eine ganz neue Qualität der optischen Präsentation bietet der Katalog zu der mit 189 Stücken allerdings vergleichsweise kleinen Siegelstempelsammlung im Stadtarchiv Halle. Marc-Robert Wistuba hat sie 2006 im Rahmen
46 Andrea Muzzi, Bruna Tomasello, Attilio Tori, Sigilli ecclesiastici e civili dei secoli XIII-XVIII, 4 Bände, Florenz 1988–1990. Abgesehen von Informationen zur Entstehung der Sammlung des Bargello und der knappen Erläuterung der Bearbeitungsgrundsätze enthält der Katalog leider keine adäquate siegelkundliche Einführung oder ansatzweise Auswertung, welche der Bedeutung und der Vielfalt der in der Sammlung enthaltenen Siegelstempel gerecht würden. 47 Ebenda, Band I Sigilli ecclesiastici, S. 5. 48 Eine mit zwei Abbildungen belegte Kritik an diesem Verfahren zuletzt bei: Toni Diederich, Sphragistik, in: Toni Diederich, Joachim Oepen (Hrsg.), Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln–Weimar–Wien 2005, S. 58 f.
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Gefälschte Siegelstempel:
seiner Magisterarbeit49 bearbeitet. In Band I, dem Darstellungsteil, hat sich der Verfasser erstmals ausführlich mit den verschiedenen Aspekten der Siegelstempel, u. a. auch mit der schwankenden und z. T. eigenwilligen Terminologie (z. B. „Siegelstampe“), auseinandergesetzt und eine Reihe trefflicher Beobachtungen festgehalten. Wie kein anderer Autor zuvor hat sich Wistuba in dem Kapitel über „Die besondere Rolle der Handhabe“50 mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rückseitengestaltung der Siegelstempel befaßt. Die mit S 2 bezeichnete, in Messing ausgeführte Nachbildung des Bronze-Typars zu dem großen „Bürgersiegel“ (Stadtsiegel) von Halle (S 1 des Katalogs) ist nach Wistuba ein Nachschnitt, der sich nur in wenigen Details vom Original unterscheidet. Die Kopie sei vielleicht erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts angefertigt worden, „um das stadthistorisch äußerst bedeutsame Stück vor Zerstörung oder fremdem Zugriff zu bewahren“.51 Mag es sich bezüglich des Entstehungszwecks letztlich um eine Vermutung handeln, so spricht alles für eine Zuweisung des in unserem Sinne gefälschten Siegelstempels in das 19. Jahrhundert. Bietet das Material der Fälschung, Messing, noch keinen Verdächtigungsgrund, so lassen der um 2 mm geringere Durchmesser der Kopie und vor allem die Rückseitengestaltung keinen Zweifel daran, daß diese nicht aus dem Mittelalter stammen kann. Der gefälschte Stempel besitzt im Zentrum der Rückseite nämlich ein verhältnismäßig tiefes Loch mit einem Gewinde, um einen ellipsenförmigen Bügel über einem als Schraubstift ausgeführten Dorn auf der Stempelplatte festzuschrauben. In der vorzüglichen Fotodokumentation von Wistuba gibt es auch unterschiedliche Abbildungen mit dem festgeschraubtem Bügel auf der Rückseite und mit dem losgeschraubten Bügel, der neben dem Stempel liegt. Demgegenüber weist das aus dem 49 Marc-Robert Wistuba, Der Siegelstempel als historische Quelle. Der Bestand des Stadtarchivs Halle, Magisterarbeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Band I und Band II (Katalog), Halle 2006. Dem Katalog ist eine DVD beigefügt, auf der 1.094 sehr gute, mit einer Digitalkamera erstellte Aufnahmen gespeichert sind. Zu der Vielzahl der Aufnahmen von jedem einzelnen Siegelstempel gehören regelmäßig auch solche von der Rückseite. Was die bildmäßige Dokumentation der Siegelstempelsammlung in Halle angeht, werden neue Maßstäbe gesetzt. Herrn Wistuba sage ich auch an dieser Stelle herzlichen Dank für die Überlassung seiner genannten Arbeit. 50 Ebenda, Band I, S. 32 f. 51 Ebenda, Band I, S. 67, Band II, S. 2.
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Anfang des 13. Jahrhunderts stammende Original (S 1) als Handhabe eine zeittypische Öse am oberen Außenrand auf, „die oft auch im Abdruck sichtbar ist. Hier konnte das Stück an einer Kette gesichert werden.“52 Lassen wir einige verdächtige Siegelstempel aus Schiefer, die Wistuba mit guten Gründen ins 19. Jahrhundert setzt, beiseite, so enthält die Sammlung des Stadtarchivs Halle auch zwei unzweifelhaft gefälschte Stücke, vermutlich des 19. Jahrhunderts, die sich als mittelalterlich ausgeben. Bei dem ersten (S 63) handelt es sich um ein Siegel der Stadt Wahren53, die heute ein Stadtteil von Leipzig ist. Nicht nur das Material des Stempels (Stein), sondern auch die Divergenzen von Umschrift (Majuskelschrift, fehlende klare Wortabstände bzw. fehlende Punkte zwischen den Wörtern) und Wappendarstellung lassen an eine Erfindung des 19. Jahrhunderts denken. Vielleicht handelt es sich nur um eine „Spielerei“ eines handwerklich Begabten mit lokalpatriotischem Hintergrund, denn gerade in diesem Falle (wie auch bei anderen, ausgesprochen primitiven Stücken) ist zu fragen, was man damit bezweckte, da sie auf dem Antiquariatsmarkt kaum Interessenten gefunden haben dürften. Das zweite Stück, der Messingstempel S 40 (Abb. 1 und 2), weist eine völlig verballhornte Umschrift in gotischer Minuskel auf, so daß eine Identifizierung des Siegelführers unmöglich ist. Die Darstellung der Muttergottes innerhalb eines gotisch anmutenden Architekturrahmens unterhalb eines Baldachins ist nur der Konzeption nach mittelalterlich, ansonsten aber völlig verunglückt. Wie Wistuba richtig festgestellt hat, handelt es sich hier um eine Fälschung54. In unserem Zusammenhang bleibt zu ergänzen, daß auch die klobige Rückseitengestaltung gegen eine Entstehung des Typars im Mittelalter spricht. Beispiele für moderne „Erfindungen“ von Siegelstempeln, die sich als Stücke des Mittelalters ausgeben, sind nicht selten, wenngleich die nach echten Vorlagen hergestellten Falsifikate zahlenmäßig überwiegen. Die freien Erfindungen lassen sich abgesehen von den mehrfach erwähnten Merkmalen (Material, Rückseitengestaltung etc.), die nicht zeitgemäß sind, in vielen
52 Ebenda, Band II, S. 1. 53 Ebenda, Band II, S. 63. 54 Ebenda, Band I, S. 70 (Fälschung des 18. oder 19. Jh.); Band II, S. 40 (schlechte Fälschung oder eine im 19. Jh. angefertigte Nachahmung nach einem alten Abdruck).
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Abb. 1 Gefälschter Siegelstempel S 40 im Stadtarchiv Halle
Fällen sehr leicht mit stilkritischen Mitteln als moderne Machwerke nachweisen. Solche kommen wohl in allen größeren Sammlungen vor. Wie schön
Abb. 2 Gefälschter Siegelstempel S 40 im Stadtarchiv Halle, Prägeseite
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wäre es, wenn die „Universitäts-Kunsthistoriographie“ (Irmscher)55 bei den Studenten das rechte Sehen und Urteilen anhand gefälschter Siegelstempel, die in örtlichen Sammlungen liegen, einüben und vertiefen würde! Für Köln gäbe die Siegelstempelsammlung des Kölnischen Stadtmuseums, das 1963 die Sammlung Lückger übernommen hat56, einiges her. Ich führe hier einen Stempel des benachbarten Museums für Angewandte Kunst in Köln an, der sich nach der (verballhornten) Umschrift als Typar des Rektors der Kölner Pfarrkirche St. Maria Ablaß vom Jahre 1406 ausgibt (Abb. 3).57 Tatsächlich handelt es sich um eine Fälschung, die eine eigene Untersuchung verdient hätte. Zu den vielen Merkwürdigkeiten gehört, daß auf der Rückseite ein reliefplastisches Bild – Muttergottes mit Kind und Lilienstengel über einem Engelsköpfchen – goldschmiedisch gefaßt ist, so daß das Stück keine eigentliche Handhabe zum Siegeln besitzt. Es genügt hier der Hinweis, daß die Stilelemente der Darstellung nichts mit dem Mittelalter zu tun haben. Vielmehr spricht alles dafür, daß es sich um ein Falsifikat des 18. oder 19. Jahrhunderts handelt.
Abb. 3 Gefälschter Siegelstempel im Museum für Angewandte Kunst in Köln
55 Günter Irmscher, Kölner Goldschmiedehandwerk, Textband, S. 11. 56 Vgl. Sammlung Lückger, Ausstellungskatalog, Köln 1964, Siegel unter den Nummern 1046–1191, von denen allerdings nur wenige abgebildet sind. 57 Museum für Angewandte Kunst, Inventar-Nr. G 350.
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Gefälschte Siegelstempel:
Unterscheidung von echten und gefälschten Siegelstempeln Es hat sich gezeigt, daß alle bisher erwähnten Siegelstempelsammlungen Fälschungen aufweisen, die im Hinblick auf die uns bewegende zentrale Frage eine systematische Untersuchung verdient hätten. Sicherlich könnte schon eine Analyse aller einschlägigen Publikationen, auch wenn sie nur (kleine) Teile der vorhandenen Sammlungen enthalten, unser Wissen verbreitern und in einzelnen Punkten weiter absichern. Die bisher in Abbildungen veröffentlichten Siegelstempel sind immerhin so zahlreich, daß man bezüglich des Materials und insbesondere der Rückseitengestaltung, die uns so wichtig erscheint, Entwicklungslinien über Jahrhunderte hinweg herausarbeiten kann. Dazu zählt etwa die Tatsache, daß Siegelstempel seit dem ausgehenden Mittelalter vermehrt ein Scharnier und einen verzierten Bügel auf der Rückseite besitzen, welche einerseits die Kunstfertigkeit und Kunstfreude der ausführenden Gold- und Silberschmiede zeigen, andererseits aber auch die Freude des Auftraggebers an dem filigranen Kleinstobjekt Siegelstempel manifestieren. Ein schönes Beispiel hierfür ist ein nur 2,6 cm großes Rundsiegel der Hausarmen zu Frankfurt, das zu den „rund 600 OriginalSiegelstempeln“ des Münzkabinetts des Historischen Museums in Frankfurt gehört.58 Offenbar ließen die selbstbewußten Provisoren, die für die Hausarmen sorgten und das zu ihrem Unterhalt bestimmte Vermögen verwalteten, den Stempel mit Scharnier und kunstvoll gestaltetem Bügel in Silber ausführen. Die auf der Rückseite eingravierte Jahreszahl 1535 bezeichnet hier wie in anderen Fällen das Entstehungsjahr, an dessen Richtigkeit nicht zu zweifeln ist. In diesem Zusammenhang wäre auch darauf hinzuweisen, daß silberne Siegelstempel nicht ganz selten sind. Daß sie heute noch in beträchtlicher Zahl existieren, kann nicht verwundern, weil sie, als sie ihren praktischen Wert verloren hatten, offensichtlich ihren ideellen Wert behielten und auch wegen ihres ästhetischen Reizes nicht eingeschmolzen wurden. Lassen sich bezüglich der Herstellungstechnik und künstlerischen Gestaltung authentischer Siegelstempel Entwicklungslinien vom Hochmittelalter bis in unsere Zeit herausarbeiten, so zeigt schon eine erste oberflächliche Sichtung des publizierten Materials, daß es in dem großen europäischen Kulturraum viele gleichartige Phänomene, aber natürlich auch 58 Gisela Förschner in: Zeugnisse kirchlichen Lebens, S. 5; Abbildung des Siegels der Hausarmen ebenda, S. 24.
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Besonderheiten gibt; man nehme etwa das Siegelwesen Spaniens bis zur Reconquista. Die Erstellung eines kleinen Handbuchs oder Leitfadens für den gesamten europäischen Raum wäre eine lohnende Aufgabe für einen technisch versierten Kunsthistoriker oder einen kunsthistorisch ausgebildeten Toreuten. Es würde sich dann noch deutlicher erweisen, wie richtig die oben erwähnte These von Yves Metman ist, die ich mir zu eigen gemacht habe und nunmehr mit noch größerer Überzeugung vertrete. Was wir an den Siegelstempeln diverser Sammlungen in Italien, Spanien und Mitteleuropa gesehen haben, bestätigt sich auch an dem erhaltenen Material in Nordeuropa. Vor Jahren haben sich Archivare, Museumsleute und andere Spezialisten aus Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden zu dem gemeinsamen Projekt NORMA (Nordic Seal Matrices) zusammengeschlossen, dessen Ziel es ist, alle mittelalterlichen Siegelstempel in den genannten Ländern nach gleichen Grundsätzen zu erfassen und zu publizieren. Am 11. und 12. Juni 1999 fand in Roskilde eine erste Tagung mit 41 Teilnehmern statt, deren Vorträge z. T. gedruckt vorliegen.59 Die im Tagungsband abgebildeten Siegelstempel – natürlich nur eine kleine Auswahl60, zu der auch Stücke aus dem Rheinland und aus englischen Sammlungen gehören – zeigen technisch gesehen, einschließlich der Befestigungsmöglichkeit auf der Rückseite der Stempel, die uns schon vertrauten Merkmale; ikonographisch gibt es wenig Auffälligkeiten, wenn man von dem zahlenmäßig stark vertretenen Typ des Hausmarkensiegels in Island absieht. Das Kolloquium und der Tagungsband von Roskilde haben eine Besonderheit hinsichtlich der Herkunft der mittelalterlichen Siegelstempel im Norden deutlich werden lassen: Es ist die in unseren Augen unverhältnismäßig große Zahl von Siegelstempeln, die bei Grabungen gefunden wurden. So wurde auch in Ergänzung des vorgesehenen Tagungsprogramms ein kurzer Vortrag eingeschoben, um über den Fund eines kleinen spitzovalen Typars eines Klerikers zu berichten, das man gerade eine Woche zuvor mit einem Detektor am Rande eines unbefestigten Weges gefunden hatte. Das in mehreren Lichtbildern vorgestellte Stück war unverdächtig und zweifellos als mittelalterliche Arbeit anzusehen. 59 Middelalderlige seglstamper i Norden. 60 Die Zahl der mittelalterlichen Siegelstempel wurde auf der Tagung mit insgesamt ca. 1160 angegeben (Dänemark ca. 450, Finnland 10, Island 30, Norwegen 120, Schweden 550).
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Gefälschte Siegelstempel:
Siegelstempel, die man bei der Öffnung von Gräbern, insbesondere Bischofsgräbern, gefunden hat, sind nicht gerade selten und in hohem Maße unverdächtig. Allerdings wäre sehr zu wünschen, daß die Graböffnung jeweils ordnungsgemäß protokolliert und der Stempel mit Prägeseite und Rückseite in einem Graböffnungsbericht abgebildet wird. In solcherart dokumentierten Fällen ist grundsätzlich von der Echtheit des Stückes auszugehen, es sei denn, einzelne oder alle Merkmale sprächen dagegen.
Ein erster Kriterienkatalog zur Bestimmung von Siegelstempelfälschungen Versuchen wir ein Fazit aus unseren Erfahrungen und Überlegungen, die vielleicht durch das Studium weiterer Siegelstempelsammlungen erweitert werden können, so gelangen wir zu der nachfolgenden Liste von Merkmalen, um gefälschte Siegelstempel zu erkennen: 1. Ein Siegelstempel ist um so verdächtiger, je älter zu sein er vorgibt. Wie den durchgesehenen einschlägigen Publikationen zu entnehmen ist, gibt es aus dem Frühmittelalter und beginnenden Hochmittelalter eine Reihe von Siegelringen, die als echt angesehen werden, eine Kostbarkeit eigener Art darstellen und daher für die Erörterung von Fälschungsfragen unergiebig sind. Siegelstempel des 11. und 12. Jahrhunderts sind ausgesprochen selten. Unter den von Ewald erwähnten Bleityparen befinden sich zwei von englischen Bischöfen des 12. Jahrhunderts, doch bleibt nach seiner Einschätzung „bei manchen der angeführten Stempel noch der Echtheitsbeweis zu erbringen“61. (Blei war zwar wenig geeignet, doch ist seine Verwendung für Typare durch Schriftquellen bezeugt.) In der Stuttgarter Staufer-Ausstellung von 1977 wurden insgesamt 34 Typare gezeigt und von Rainer Kahsnitz beschrieben. Die zeitliche Verteilung wie auch die Anteile von persönlichen und unpersönlichen Siegelführern ist sehr aufschlußreich, denn nur zwei Stempel datieren eindeutig aus dem 12. Jahrhundert, drei aus der Zeit um oder bald nach 1200, der gesamte Rest aus späterer Zeit. Von den 34 Typaren sind nur fünf von persönlichen Siegelführern (ein Gemmensiegel eines Unbe61 Wilhelm Ewald (wie Anm. 5), S. 123.
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kannten, vier Bischofssiegel). Man wird unterstellen können, daß die hier genannten Zahlen für Deutschland einigermaßen repräsentativ sind. Die große Masse echter Siegelstempel entstammt, wenn man die Neuzeit ausklammert, dem Spätmittelalter. Finden sich in Siegelstempelsammlungen Stücke, welche dem 11. und 12. Jahrhundert anzugehören scheinen, so muß a priori mit einer Fälschung gerechnet werden. Unverdächtige Stücke dieser Zeit, die einer intensiven Prüfung standgehalten haben, sollten unbedingt in einer kleinen Monographie gewürdigt werden. 2. Siegelstempel, die nicht aus Messing, Bronze oder Silber bestehen, sind in hohem Maße verdächtig. Lassen wir Eisen, das für die Bullenstempel verwandt wurde, außer Betracht, so besteht der weitaus größte Teil der als echt erkannten mittelalterlichen Siegelstempel, wie schon Wilhelm Ewald richtig festgestellt hat, aus Messing bzw. Bronze und in nicht wenigen Fällen aus Silber. Bedenkt man, daß es im Mittelalter eine Reihe von Konventionen und Gewohnheiten bezüglich der Größe eines Siegels und der Verwendung von Siegeltypen gab, so ist auch bei der Verwendung des Materials für Siegelstempel mit ähnlichen Gewohnheiten zu rechnen. Der Siegelstempel war ja ein außergewöhnliches Gebrauchsgut, das man nicht im nächsten Dorf oder kleinen Städtchen anfertigen lassen konnte. Es bedurfte schon der Könnerschaft eines Spezialisten im nächsten Zentrum, vielleicht sogar Oberzentrum. Die dortigen Gold- und Silberschmiede bzw. Münzstempelschneider oder die im 15. Jahrhundert vielleicht schon auf eine Massenproduktion von Wappensiegelstempeln spezialisierten Siegelschneider werden sich kaum mit anderen Materialien als Messing, Bronze oder Silber abgegeben haben, so daß bei Stempeln aus Stein, Schiefer, Holz, Elfenbein usw. stets vom Auftraggeber in seinem zeitlichen, räumlichen und sozialen Kontext auszugehen ist, um eine Erklärung zu finden. Bei Siegelstempeln der Ober- und Mittelschicht bis hin zum Stadtbürger wird man stets mit den üblichen Materialien für Siegelstempel, ja sogar mit antiken Gemmen zu rechnen haben, während auf dem Lande, besonders in stadtfernen Gebieten, in der untersten siegelführenden Schicht am ehesten Siegelstempel aus ungewöhnlichen Materialien zu erwarten sind, die in diesen Fällen nicht unbedingt gegen die Echtheit sprechen. Insofern ist gerade bei anspruchslosen, einfachen oder gar primitiven Stücken das Discrimen veri ac falsi besonders schwierig. Wir müssen davon ausge-
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Gefälschte Siegelstempel:
hen, daß es neben der Masse der bekannten kunstvollen Siegelstempel auch kleine anspruchslose Stücke gegeben hat, die beim verwendeten Material vom Üblichen abweichen oder in Anspruch und Qualität abfallen, deshalb aber nicht eo ipso gefälscht sind. 3. Siegelstempel aus besonders dunklen Legierungen, die sich deutlich von den bekannten Messingen und Bronzen des Mittelalters unterscheiden, sind verdächtig. Diese Einschätzung beruht zugegebenermaßen eher auf Erfahrungen als auf rationalen Gründen, denn selbstverständlich hätte ein mittelalterlicher Siegelstecher auch eine Legierung wählen können, die stark von der Norm abweicht. Wie aber die Untersuchung zahlreicher mittelalterlicher Bronzen gezeigt hat, gab es auch hierfür gewisse Rezepte und Margen, von denen man nicht ohne Grund abwich. Im Zweifelsfalle kann eine Spektralanalyse Klarheit schaffen, weil die Legierungen von Zink und Kupfer (Messing) bzw. Zinn und Kupfer (Bronze), die im Mittelalter stets auch kleinste Beimischungen von anderen Metallen enthalten, in der Moderne viel „reiner“ sind. 4. Siegelstempel, die in Größe und Form nicht zeitgemäß sind, legen die Vermutung nahe, daß der Hersteller mit den Konventionen und ungeschriebenen Gesetzen der mittelalterlichen Siegelführung nicht hinreichend vertraut war oder sich bewußt über diese hinwegsetzte. Die Anhaltspunkte, wegen ungewöhnlicher Größe oder Form eines Siegelstempels auf eine Fälschung zu schließen, sind mitunter zwingend, aber dann nicht überzeugend, wenn ein begabter Meister sich erkennbar Freiheiten genommen hat, die eingefahrenen Wege zu verlassen, oder eine Vermutung besteht, daß der Auftraggeber die Abweichung, etwa die ganz ungewöhnliche Größe des Siegels oder die Wahl eines ihm nach den Konventionen nicht zustehenden Typs, bewußt veranlaßt hat.62 Bei allen Siegelstempeln, die durch unzeitgemäße Größe oder ganz außergewöhnliche Form auffallen, kommt es entscheidend auf die Zusammenschau aller Elemente an, weil sich daraus die Bewertung – Falsifikat oder Typar mit hohem Quellenwert – ergibt.
62 Dieses Phänomen ist in Kapitel VI eingehend behandelt.
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5. Siegelstempel, die durch sparsamste oder übermäßige Materialverwendung (d. h. durch eine ungemein dünne oder übermäßig dicke bzw. plumpe Prägeplatte) auffallen, keine sorgfältig gestaltete Rückseite aufweisen oder keine Öse bzw. Handhabe mit einem Loch zum Anketten besitzen, sind in hohem Maße verdächtig. Die Masse der als echt geltenden Siegelstempel in Bronze oder Messing läßt erahnen, daß es bei den Goldschmieden für die Herstellung von Siegelstempeln gewisse Regeln gab. In Zunftordnungen etlicher Städte gehörte die Anfertigung eines Siegelstempels zu den Anforderungen bei einer Meisterprüfung. Grobe Abweichungen von der Norm sind insofern immer ein Verdächtigungsgrund. Über die Bedeutung der Rückseitengestaltung, die ein ganz wesentliches Kriterium für die Echtheit oder Unechtheit eines Siegelstempels ist, wurde das Wesentliche oben gesagt. 6. Fehlende Tiefe des Schnitts, insbesondere Unklarheit an einzelnen Stellen des Siegelbildes oder der Umschrift, lassen mit einiger Sicherheit auf eine Fälschung schließen. Auf die Ursache der fehlenden Tiefe bei Siegelstempeln, die auf dem Abgußwege hergestellt worden sind, ist oben schon hingewiesen worden: Der Originalabdruck, der als Vorlage diente, besaß vermutlich bereits durch ungleichmäßiges Abdrücken des Typars im Wachs oder durch Abrieb, Abbröckeln oder Abplatzen in späterer Zeit undeutliche Stellen, die aufwendig nachzubearbeiten der Fälscher nicht für nötig hielt. Bei frei erfundenen Siegelstempeln war dem Fälscher u. U. daran gelegen, entscheidende Stellen der Umschrift unlesbar zu machen, um eine Zuordnung zu einem bestimmten Siegelführer zu erschweren; durch einen Vergleich mit einem echten Siegelabdruck eines genannten Siegelführers hätte man die Fälschung nämlich leicht erkennen können. 7. Eine verballhornte Umschrift läßt in aller Regel auf die Unechtheit eines Siegelstempels schließen. Das Phänomen wurde oben hinreichend erläutert. Es sei auch hier noch einmal festgehalten, daß kleine Verschreibungen, seitenverkehrte Buchstaben, ungleichmäßige Raumaufteilung bei der Legende und dergleichen bei echten Siegeln häufig vorkommen, also seinerzeit hingenom-
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Gefälschte Siegelstempel:
men wurden. Verballhornungen von Umschriften und Aufschriften sind jedoch bei echten Siegelstempeln, insbesondere bei anspruchsvollen Stücken, undenkbar. Bei anspruchslosen Siegeln von Personen der untersten Siegelführerschicht ist das Kriterium weniger zwingend, weil dort auch bei echten Siegeln ungewöhnliche Formulierungen, eigenwillige Abkürzungen und andere Eigenheiten vorkommen. Die Fälschungsquote bei solchen kleinen Siegelstempeln dürfte schon deshalb geringer sein, weil sie gewiß keinen hohen Marktwert hatten. 8. Unzeitgemäße Elemente in Siegelbild und Siegellegende sind typisch für freie Erfindungen, so daß diese leicht als Machwerke von Fälschern zu erkennen sind. Daß sich solche Falsifikate leicht mit den kunsthistorischen Methoden, vor allem durch Stilkritik, erkennen lassen, wurde oben schon dargelegt. Auch der Siegelforscher, der mit der Entwicklung des Siegelwesens näher vertraut ist, kann, wie schon Wilhelm Ewald treffend gezeigt hat, Unzeitgemäßes leicht erkennen.63 9. Gut gelungene Fälschungen lassen sich u. U. durch einen Vergleich mit Originalabdrücken als Falsifikate erkennen. Schwer erkennbare Fälschungen wurden i. d. R. auf dem Abgußwege hergestellt. Abdrücke von gefälschten Typaren fallen daher meist geringfügig kleiner aus als die Originalabdrücke. Da der Fälscher bei solchen qualitätvollen Falsifikaten nachgearbeitet hat, um eventuelle Schwächen seines Produktes zu beseitigen, ergeben sich bei einem genauen Vergleich kleinste Abweichungen im Detail, wie ich oben schon bei den ältesten Stadtsiegeln von Köln und Halle gezeigt habe. 10. Eine sichere Aussage bezüglich der Echtheitsfrage ist möglich, wenn mehrere Kriterien zu demselben Ergebnis führen. Es versteht sich nach allem, daß bei der Prüfung eines jeden Siegelstempels alle Kriterien zusammengenommen und die einzelnen entsprechend ihrer Bedeutung gewichtet werden müssen. Man wird dann am Ende wohl in den meisten Fällen zu sicheren Aussagen bezüglich der Echtheit oder Unechtheit eines Siegelstempels gelangen. 63 Wilhelm Ewald (wie Anm. 5), S. 233.
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Untersuchung von Siegelstempeln: ein Forschungsdesiderat Die große Zahl erhaltener Siegelstempel aus der Blütezeit des Siegelwesens im Mittelalter eröffnet ein bisher wenig bearbeitetes großes Forschungsfeld. Allzu viele schöne Stücke sind nämlich bisher noch nicht eingehend untersucht worden. Die Echtheitsfrage ist dabei ohne Zweifel ein wichtiger Aspekt, der bei jeder Untersuchung berücksichtigt werden sollte. Ungeachtet der oft anzutreffenden künstlerischen Qualität verdient letztlich aber jeder erhaltene Siegelstempel unser Interesse, weil er als Quelle eigener Art zum Auftraggeber und seinem Umfeld oder aber zum Fälscher und seiner Zeit hinführt.
Nachbemerkung Vor der Drucklegung nicht mehr eingearbeitet werden konnte der Ende 2011 erschienene, mir aber erst Anfang 2012 zugängliche Aufsatz von Dominique Delgrange, Matrices de sceaux: Copies, imitations, faux ou pastiches, in: Marc Gil et Jean-Luc Chassel (Hrsg.), Pourquoi les sceaux? La sigillographie, nouvel enjeu de l’histoire d’art, Lille 2011, S. 61–91. Der materialreiche und gut bebilderte Aufsatz darf als wichtige Vorarbeit für eine systematische Behandlung des Themas gelten. Delgrange beschreibt u. a. ausführlich die Blütezeit der Siegelstempelfälschungen im 19. Jahrhundert. Die Ausführungen zu der Frage, wie man Kopien von Siegelstempeln erkennen kann, bestätigen viele meiner eigenen Beobachtungen. Von besonderem Wert ist der historische Überblick über Gestalt und Rückseitenbehandlung echter Siegelstempel, wobei sich Delgrange an einer Tafel des Sammlers Auguste Preux (1822–1879) orientiert. Dort finden sich Zeichnungen von 29 Typen in zeitlicher Abfolge vom 12. bis zum 19. Jahrhundert. Ihnen stellt Delgrange eine Tafel mit Zeichnungen von den Rückseiten gefälschter Siegelstempel gegenüber.
Literaturverzeichnis Vorbemerkung: Bei der folgenden Literaturliste handelt es sich entweder um Arbeiten, die nur in einem Kapitel des vorliegenden Buches angeführt werden, im Gesamtzusammenhang aber von besonderer Bedeutung sind, oder um solche, die in den Anmerkungen mehrerer Kapitel vorkommen. In diesen Fällen werden nur Kurztitel zitiert, welche im nachfolgenden Verzeichnis kursiv gesetzt sind. Ansonsten erscheint die herangezogene Literatur in den Anmerkungen mit vollständigen Angaben. Franz-Josef Arlinghaus, Konstruktionen von Identität mittelalterlicher Korporationen – rechtliche und kulturelle Aspekte, in: Markus Späth (Hrsg.), Bildlichkeit korporativer Siegel, S. 33–46. Günter Bandmann, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951. Giacomo C. Bascapé, Sigillografia. Il sigillo nella diplomatica, nel diritto, nella storia, nell’arte, Vol. I, Mailand 1969. Kurt Bauch, Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts in Europa, Berlin–New York 1976. Robert-Henri Bautier, Le cheminement du sceau et de la bulle des origines mésopotamiennes au XIIIe siècle occidental, in: Revue française d’héraldique et de sigillographie 54–59 (1984–1989), S. 41–84. Brigitte Bedos, Corpus des sceaux français du moyen âge, tome premier: Les sceaux des villes, Paris 1980. Brigitte Miriam Bedos-Rezak, Ego, Ordo, Communitas. Seals and The Medieval Semiotics of Personality (1200–1350), in: Markus Späth (Hrsg.), Bildlichkeit korporativer Siegel, S. 47–64. Egon Frhr. von Berchem, Siegel (Bibliothek für Kunst- und AntiquitätenSammler 11), Berlin 1923. Ludwig Biewer, Handbuch der Heraldik. Wappenfibel. Begründet durch Adolf Matthias Hildebrandt, 19. verb. u. erw. Auflage, Neustadt a. d. Aisch 1998. Jean-Luc Chassel, Formes et fonctions des inscriptions sigillaires, in: Qu’estce que nommer? Entre monde monastique et pensée scolastique (Répertoire iconographique de la littérature du Moyen Âge. Les études du RILMA 1), Turnhout 2010, S. 201–217.
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Toni DieDerich Joachim oepen (hg.)
hisTorische hilfswissenschafTen sTanD unD perspek Tiven Der forschung
Die Historischen Hilfswissenschaften werden wegen ihrer grundlegenden Bedeutung auch als Grundwissenschaften der Geschichte bezeichnet, liefern sie doch das Rüstzeug für den sicheren Umgang des Historikers mit den Quellen. Im Lehrangebot der Universitäten und in der Archivarsausbildung der letzten Jahrzehnte haben sie allerdings zunehmend an Bedeutung verloren. Die Herausgeber des Bandes haben, auch in der Erkenntnis, dass die Altbestände der größeren Archive weiterhin eine kompetente archivische, hilfswissenschaftliche und historische Betreuung durch den Historiker und Archivar erfordern, ausgewiesene Kenner eingeladen, eine Standortbestimmung vorzunehmen und die Perspektiven der Historischen Hilfswissenschaften zu entwickeln: Thomas Vogtherr (Einführung), Theo Kölzer (Diplomatik und Urkundenbücher), Toni Diederich (Sphragistik), Ludwig Biewer (Heraldik), Eckart Henning (Genealogie) und Niklot Klüßendorf (Numismatik und Geldgeschichte). Der Kunsthistoriker Rainer Kahsnitz beleuchtet in einem neuartigen Ansatz das Verhältnis zwischen Historischen Hilfswissenschaften und Kunstgeschichte. 2005. IX, 188 S. MIt 31 S/w-Abb. Gb. 135 X 210 MM | ISbN 978-3-412-12205-8
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EBERHARD ISENMANN
DIE DEUTSCHE STADT IM MITTELALTER 1150–1550 STADTGESTALT, RECHT, VERFASSUNG, STADTREGIMENT, KIRCHE, GESELLSCHAFT, WIRTSCHAFT
Der Historiker Eberhard Isenmann zeichnet in interdisziplinärer Perspektive ein bis in das Alltagsleben hineinreichendes Gesamtbild der Stadt im Mittelalter. Er behandelt eingehend die vielfältigen Aspekte urbanen Lebens, insbesondere Phänomene, die auch unsere Gegenwart prägen: wie etwa Migration, wirtschaftsethische Kapitalismuskritik, Furcht vor Pandemien, demografische Einbrüche und Armutsproblematik. Ausführliche bibliografische Angaben sowie ein Sach- und ein Ortsregister erschließen die einzelnen Themenbereiche. Das 1988 erschienene und als »Der Isenmann« in Lehre und Forschung eingegangene Standardwerk erscheint nun in stark erweiterter und aktualisierter Neubearbeitung. 2012. 1124 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-20940-7
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
Markus späth (hg.)
Die BilDlichkeit korpor ativer siegel iM Mittel alter kunstgeschichte unD geschichte iM gespr äch (sensus. stuDien zur Mittel alterlichen kunst, BanD 1)
Obwohl das Siegel ein verbreitetes Bildmedium im europäischen Mittelalter war, hat die Forschung es lange ausschließlich als Rechtszeichen wahrgenommen. Folglich ist es eine Quelle der Geschichtswissenschaft geworden. Der Kunstgeschichte, die dem Siegel trotz seiner reichen Ikonographie und seiner aufwändigen kleinplastischen Gestaltung bislang wenig Interesse entgegengebracht hat, bieten sich durch bildwissenschaftliche Impulse jedoch neue Zugriffsmöglichkeiten. Die hier versammelten Beiträge aus beiden Disziplinen gehen am Beispiel der korporativen Siegel des Spätmittelalters der Frage nach, welche Bilder eine vielgliedrige Gruppe für ihre spezifische Identität fand und wie sie sich dabei mit den Traditionen des Mediums auseinandersetzte.
2009. 264 S. 105 S/w-Abb. Auf 36 TAf. Gb. 170 x 240 mm. ISbN 978-3-412-20353-5
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FRIEDRICH BECK, ECKART HENNING (HG.)
DIE ARCHIVALISCHEN QUELLEN MIT EINER EINFÜHRUNG IN DIE HISTORISCHEN HILFSWISSENSCHAFTEN (UTB 8479 L)
Für die Studierenden aller Disziplinen der Geschichtswissenschaft sowie für alle, die in Archiven forschen, und für gelegentliche Archivbenutzer, aber auch für angehende Archivare bildet das vorliegende Werk ein wichtiges Arbeits- und Ausbildungsmittel. Mit dieser Einführung, die jetzt in erweiterter und aktualisierter Neuauflage vorliegt, geben namhafte Archivare und Historiker in knapper und übersichtlicher Form unentbehrliche praktische Anleitungen und Handreichungen zur Benutzung archivalischer Quellen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 5., ERWEITERTE UND AKTUALISIERTE AUFLAGE 2012. 468 S. 131 S/W- U. 10 FARB. ABB. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-8252-8479-4
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