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German Pages 271 Year 1990
Beiträge zum Parlamentsrecht
Band 17
Deutscher Bundesrat und Schweizer Ständerat Gedanken zu ihrer Entstehung, ihrem aktuellen Erscheinungsbild und ihrer Rechtfertigung
Von
Dr. Matthias Heger
Duncker & Humblot · Berlin
MATTHIAS HEGER
Deutscher Bundesrat und Schweizer Ständerat
Beiträge zum Parlaments recht Herausgegeben von
Werner Kaltefleiter, Ulrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen
Band 17
Deutscher Bundesrat und Schweizer Ständerat Gedanken zu ihrer Entstehung, ihrem aktuellen Erscheinungsbild und ihrer Rechtfertigung
Von
Dr. Matthias Heger
Duncker & Humblot . Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Heger, Matthias: Deutscher Bundesrat und Schweizer Ständerat: Gedanken zu ihrer Entstehung, ihrem aktuellen Erscheinungsbild und ihrer Rechtfertigung / von Matthias Heger. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Beiträge zum Parlamentsrecht; Bd. 17) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1989/90 ISBN 3-428-06756-8 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-06756-8
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit beschreibt ausgewählte Charakteristika des deutschen Bundesrates und des schweizerischen Ständerates. Sie will keine enzyklopädische Erfassung aller Wesenszüge dieser Föderativorgane erreichen, sondern das Typische, das beide Organe Verbindende und das Trennende herausarbeiten. Es sollen daher beide Organe vor allem in ihren Funktionen und ihrer Stellung im jeweiligen parlamentarischen System dargestellt werden. Auch werden auf diese Weise bestimmende Grundzüge moderner Bundesstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland wie in der Schweiz sichtbar. Die vorliegende Arbeit will darüber hinaus einen Beitrag leisten zur fortwährenden Diskussion über eine Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung sowie zu einem besseren Verständnis der Rolle des Bundesrates, eines Organes, dessen Legitimität und dessen Bedeutung häufig ein Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Kontroversen waren. Diese Arbeit wurde im Juli 1988 fertiggestellt und im Wintersemester 1988/ 89 von der Hohen Juristischen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen. An dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Konrad Hesse danken, ohne dessen Anregungen zum Thema und dessen weiterer Betreuung diese Arbeit nicht entstanden wäre. Dank habe ich auch den Herren Dres. Egbert Beier und Karl-Reinhard Titzck abzustatten, die diese Arbeit durch manche Diskussion mit dem Verfasser unterstützten. Weiteren Dank schulde ich Herrn Rechtsanwalt Joachim Strauss aus Karlsruhe, der mir nicht nur die technische Ausrüstung seiner Kanzlei zur Ausfertigung dieser Arbeit überließ, Herrn Direktor des Bundesrates Georg-Berndt Oschatz sowie Herrn Oberregierungsrat Dr. Horst Risse für ihre freundliche Beförderung der Veröffentlichung dieser Arbeit und schließlich Herrn Prof. Dr. Ulrich Karpen sowie dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme in die Reihe "Beiträge zum Parlamentsrecht" .
Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
I. Abschnitt Deutscher Bundesrat und schweizerischer Ständerat
Ihre Vorläufer und ihre Entstehung
24
A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates ....
25
B. Die Geschichte der Tagsatzung und der Weg zum Ständerat
57
II. Abschnitt Deutscher Bundesrat und schweizerischer Ständerat
Das gegenwärtige Erscheinungsbild, dargestellt anhand ausgewählter Sachfragen
70
A. Die Zahl der Vertreter eines Gliedstaates im Föderativorgan
70
B. Das Verhältnis der Mitglieder des Föderativorganes zu den Organen der einzelnen Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
C. Funktionen und verfassungsrechtliche Stellung des Föderativorganes
120
D. Einflüsse des Parteienwettbewerbes auf die Stellung des Föderativorganes . .. 186 III. Abschnitt Reformbestrebungen - Tendenzen und Anforderungen
238
A. Die Enquete-Kommission des Bundestages und ein Vierteljahrhundert Totalrevision im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 B. Bundesrat und Ständerat - Gegenstände einer Verfassungsreforrn? Literaturverzeichnis
243
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
I. Abschnitt Deutscher Bundesrat und schweizerischer Ständerat
Ihre Vorläufer und ihre Entstehung
24 25
A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates ....
I. Der Deutsche Bundestag von 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
1. Der Deutsche Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
2. Die gewichtete Vertretung der einzelnen Staaten . . . . . . . . . . . . .
26
3. Die Rechtsstellung der einzelstaatlichen Gesandten
26
. . . . . . ..
4. Die Funktionen des Bundestages
27
11. Der Bundesrat von 1871
27
1. Der Bundesrat in der zeitgenössischen Darstellung . . . . . . . . . . . .
28
a) Der Reichsaufbau und die Natur des Bundesrates
28
b) Funktionen und Stellung des Bundesrates
29 29
c) Die gewichtete Vertretung der einzelnen Staaten . . . . . . . . . . . d) Die Stellung der "Gesandten" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
e) Die Relevanz der politischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
2. Der Bundesrat als Instrument der preußischen Hegemonie .. . . . ..
31
a) Die Lage nach dem Text der Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . b) Das Stimmgewicht Preußens im Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . .
31 31
c) Die Beherrschung des Bundesrates durch die Reichsämter . . . ..
32
3. Der "hegemoniale Föderalismus"
33
111. Der Reichsrat von 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Weg zum Weimarer Reichsrat
34
. . . . . . . . . . . . . . . ...... .
34
a) Vom Bundesrat zum Staatenausschuß . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
b) Vom Staaten ausschuß zum Reichsrat
35
2. Der Reichsrat im Staatsaufbau der Weimarer Republik . . . . . . . . .
36
3. Das unterschiedliche Stimmgewicht der Länder und der Sonderfall Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Inhaltsverzeichnis
11
a) Die Unmöglichkeit einer schematischen Regelung . . . . . . . .. . b) Die Regelung in den Art. 61,63 WRV
... .. .. .. .. . .. .
37 38
4. Die Zusammensetzung des Reichsrates
39
5. Funktionen und Stellung des Reichsrates
40
a) Funktionenzuweisung durch die Reichsverfassung b) Die Stellung des Reichsrates
....... . . .
40
...................... . .
42
6. Der Reichsrat in der Staatspraxis der Weimarer Republik
..... . .
a) Der Reichsrat im "vereinfachten Gesetzgebungsverfahren" b) Die Stellung in den verfassungsmäßigen Verfahren
....
43
. . . . . . . ..
43
c) Preußen im Reichsrat . . . . . . . . . . . . . . . . .
43 44
d) Die Rolle der politischen Parteien im Reichsrat 7. Das Ende des Reichsrates
......................
IV. Die Paulskirchenverfassung und die Entwürfe von Hugo Preuß 1. Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849
42
45
45
..............
46
a) Das Werk der Paulskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
46
b) Der Reichsaufbau und die Natur des Staatenhauses . . . . . . . . .
46
c) Die gewichtete Repräsentation der einzelnen Länder
...
47
d) Die Stellung der einzelnen Repräsentanten . . . . . . . . . .
47
e) Funktionen des Staatenhauses . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
f) Bedeutung des Paulskirchen-Entwurfes . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
2. Die Entwürfe von Hugo Preuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
a) Der Problemfall Preußen
..........................
49
b) Das Föderativorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
c) Schicksal der Preuß'schen Entwürfe
51
...................
V. Die Entstehung des Bundesrates im Parlamentarischen Rat 1. Die Ausgangspositionen
2. Die Einigung
................. .
........................ .
51
52 53
3. Die nähere Ausgestaltung des Bundesrates
54
4. Die Kritik v. Mangoldts
55
........... .
B. Die Geschichte der Tagsatzung und der Weg zum Ständerat . . . . . . . . ...
57
.....................
57
1. Die alte Konföderation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
2. Struktur und Funktion der Tagsatzung . . . . . . . .
58
II. Helvetik und die Geschichte der Tagsatzung bis 1848 .
59
I. Die Tagsatzung der alten Konföderation
1. Die Helvetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
2. Die Mediationsakte
3. Die Tagsatzung der Restaurationsphase
60 60
4. Der Weg in den Sonderbundskrieg
62
............ . ....... .
Inhaltsverzeichnis
12
IH. Die Genese des Zweikammersystems: Der Ständerat 1. Die Ausgangspositionen 2. Die Einigung
64
................ .
....................................
3. Exkurs: Das Vorbild der US-Verfassung von 1787
65 65
............
66
4. Der Ständerat unter der Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Il. Abschnitt Deutscher Bundesrat und schweizerischer Ständerat
Das gegenwärtige Erscheinungsbild, dargestellt anhand ausgewählter Sachfragen
70
A. Die Zahl der Vertreter eines Gliedstaates im Föderativorgan
70
I. Deutscher Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
71
1. Die unterschiedliche Gewichtung der Länder als Fortführung einer Verfassungstradition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
......
72
b) Die Fragwürdigkeit historischer Deduktionen . . . . . . . . . . . . .
a) Elemente der Konstanz in der historischen Entwicklung
73
2. Das Prinzip der Proportionalität als Grundlage der Gewichtung
75
a) Die Länder des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
75
b) Die gewichtete Vertretung der Länder nach dem Grundgesetz ..
76
11. Schweizerischer Ständerat 1. Die Gleichheit der Kantone in der Verfassungstradition der Schweiz..
77 77
a) Die gleichmäßige Vertretung der Kantone auf der Tagsatzung. ..
78
b) Die gleichmäßige Vertretung der Kantone gemäß Art. 80 BV
78
2. Die Gewährleistung der Gleichheit der Kantone IH. Spannungen zwischen föderativer Gleichheit und Mehrheitsprinzip. 1. Die Antinomie von Gleichheit und Mehrheit im föderalen Staat
79
80 81
a) Der Begriff der Gleichheit - Die Gleichheit der Gliedstaaten
81
b) Die Antinomie der Prinzipien der Gleichheit und der Mehrheit ..
82
c) Der Turnus - Eine Überwindung der Antinomie?
83
d) Durchbrechung des Turnus durch Blockbildungen
84
2. Die Zweite Kammer im Spannungsfeld zwischen föderativer Gleichheit und Mehrheitsherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
a) Der schweizerische Ständerat zwischen föderativer Gleichheit und Mehrheitsherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
86
b) Der deutsche Bundesrat zwischen föderativer Gleichheit und Mehrheitsherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
...................................
90
IV. Zusammenfassung
Inhaltsverzeichnis
13
B. Das Verhältnis der Mitglieder des Föderativorganes zu den Organen der einzelnen Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
...........................
93
1. Bundesrat und Ständerat in ihrer jeweiligen Verfassungstradition . .. a) Der Bundesrat als Produkt einer Tradition des Bundesratsprinzipes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
93 93
b) Der Ständerat - Eine Neuschöpfung nach amerikanischem Vorbild
94
2. Weitergehende Einteilungen: Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
3. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Vertretung und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
I. Bundesrats- und Senatsprinzip
a) Vertretungsprinzip und Prinzip der Repräsentation
96
b) Die Zuordnung von Bundesrat und Ständerat ...
98
11. Deutscher Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
98
1. Die Regelung des Bundesrates: Neuerungen und Elemente der Verfassungstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
99
a) Die Mitglieder des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
b) Die Weisungsgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Die Idee vom "besseren" Föderativorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Eine Gegenstimme: Die Kritik Bilfingers . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Hintergrund und Kritik der Idee vom "besseren" Föderativorgan 102 c) Die Fragwürdigkeit einer Suche nach dem "besseren" Föderativorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Auswirkungen auf das Gefüge im Inneren der einzelnen Gliedstaaten 103 a) Das Faktum: Die Depossedierung der Landtage
104
b) Die Stärkung der Länderregierungen
105
............
c) Stärkung der Länderparlamente durch Beteiligung an Bundesratsangelegenheiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Die Verfassungspraxis in den Ländern .. . . . . . . . . . . . .. 106 bb) Der Widerpart der Länderregierungen . . . . . . . . . cc) Zur Zulässigkeit bindender Landtagsbeschlüsse . . . .
107 107
dd) Zur Zulässigkeit "unverbindlicher" Äußerungen ..... 108 ee) Das Abstimmungsverhalten im Bundesrat als Kernbereich der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 ff) Grenzen der Ingerenzen der Landtage . . . . . . . . . . . . . .. 110 111. Schweizerischer Ständerat
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
1. Die Stellung der Ständeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Die Wahlen zum Ständerat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Auswirkungen des Majorzsystemes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 c) Verbindungen zwischen Ständeräten und Kantonsbehörden .... 114
14
Inhaltsverzeichnis d) Problematik einer Verstärkung der Verbindungen zwischen Ständerat und kantonaler Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Das Vernehmlassungsverfahren
117
IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
c.
Funktionen und verfassungsrechtliche SteUung des Föderativorganes
..... 120
1. Grundlagen einer Funktionenbestimmung des Föderativorganes ...... 121 1. Bundesrat und Ständerat als Zweite Kammer
a) Grundtypus der Zweiten Kammer
121 . . . . . . . . . . . . . . .. 121
aa) Der Begriff des Zweikammersystems
. . . . . . . . . . . . . . . 121
bb) Konsequenzen aus dem Begriff der Zweiten Kammer ..... 123 b) Die Funktionsweise des Zweikammersystems - Differenzbereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 aa) Das navette-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 124 ...................
125
c) Grundfunktionen eines Zweikammersystemes . . . . . . . . . .
bb) Der Vermittlungsausschuß
127
aa) Bessere Vertretungsmöglichkeit ..
... .. .. ... ..
bb) Bessere Beratung
.......
. . . . . . . . . . . . . .. 128
127
cc) Mäßigung der Gewalten ...
. . . . . . . . . . . . . .. 128
2. Aspekte der Bundesstaatlichkeit in Deutschland und der Schweiz . .. 130 a) Ältere Bundesstaatslehren
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
aa) Die Lehre Montesquieus
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
bb) Der Bundesstaatsbegriff in der älteren deutschen Bundesstaatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Ältere funktionenorientierte Bundesstaatslehren . . . . . . . . . . . 133 c) Aspekte moderner Bundesstaatlichkeit
. . . . . . . . . . . . . . . . . 135
aa) Der Prozeß der Unitarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
bb) Zeichen der Unitarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136
cc) Der Hintergrund der Unitarisierung dd) Der moderne Bundesstaat
. . . . . . . . . . . . . . . . 137
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
II. Funktionen des Föderativorganes im Bundesstaat: "klassische" Funktionengebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. "Klassische" Funktionengebungen in der deutschen Verfassungstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
2. "Klassische" Funktionengebungen in der schweizerischen Verfassungstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Klassische Funktionengebung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 142 III. Funktionen von Bundesrat und Ständerat im modernen Bundesstaat 1. Deutscher Bundesrat
a) Föderative Funktionen im traditionellen Verständnis
143 144
144
15
Inhaltsverzeichnis b) Die "bürokratische" Funktion des Bundesrates c) Die gewaltenteilende Funktion des Bundesrates
145 146
d) Die Einschaltung des Bundesrates bei Systemverschiebungen ... 149 e) Weitere Funktionen des Bundesrates
149
aa) Mitwirkung bei Verfassungsänderungen
150
bb) Funktionen im Gesetzgebungsnotstand
151
cc) Verwaltungsaufgaben des Bundesrates
151
f) Bundesstaatliche Funktionen des Bundesrates - Der Bundesrat als Zweite Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
2. Schweizerischer Ständerat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
a) Föderative Funktionen im traditionellen Verständnis
153
b) Der Ständerat als chambre de reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 c) Die gewalten teilende Funktion des Ständerates ......
156
d) Der Ständerat als Zweite Kammer
158
..............
IV. Die verfassungsrechtliche Stellung des Föderativorganes 1. Deutscher Bundesrat
158 159
................... .
a) Form und Funktionen des Bundesrates
159
aa) Der Zusammenhang zwischen Form und Funktion des Organes 159 bb) Die Grenzen der Ingerenzen der Landtage . . . . . . . . . . . . 160 cc) Die freiheitssichernde Wirkung der Einschaltung des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 161 b) Stellung, Form und Funktionen des Bundesrates . . . . . . . . . . . 162 aa) Gleichstellung von Bundestag und Bundesrat?
. . . . . . . . . 163
bb) Die verfassungsrechtliche Stellung des Bundesrates
164
cc) Die Stellung des Bundesrates bei Zustimmungsgesetzen . ..
166
dd) Die Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen . ..
170
ee) Die Stellung des Bundesrates bei Einspruchsgesetzen ..... 171 2. Schweizerischer Ständerat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Form und Funktionen des Ständerates . . . . . . . . . . . . . . . . .. 174 aa) Die Funktion einer chambre de reflexion . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Die gewaltenteilende Funktion
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
cc) Grenzen der Ingerenzen der Kantonsregierungen
....... 175
dd) Die Senatsform und die Funktion der Repräsentation der Kantone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 ee) Die "bürokratische" Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Stellung, Form und Funktionen des Ständerates . . . . . . . . . . . 177 aa) Die Relevanz des kantonalen Elementes in der modernen Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
16
Inhaltsverzeichnis bb) Der Ständerat als Faktor des "helvetischen Kompromisses"
180
cc) "Struktureller Konservativismus" der "chambre de reflexion"? 181 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 D. Einflüsse des Parteienwettbewerbes auf die SteUung des Föderativorganes .. 186
I. Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien .
187
1. Die politischen Parteien im deutschen Verfassungsrecht
....... . 188
a) Die Entwicklung bis zum Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Die Entwicklung unter der Geltung des Grundgesetzes ...... . 191 aa) Die Parteienstaatslehre von Leibholz bb) Die Gegenposition zu Leibholz
. . . . . . . . . . . . . . . 192
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
cc) Der "Parteienstaat" des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . 194 dd) Aspekte der verfassungsrechtlichen Stellung der politischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Die politischen Parteien im schweizerischen Verfassungsrecht ..... 197 a) Das Entstehen des Multipartismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 b) Die Stellung der politischen Parteien im Multipartismus 200 11. Einflüsse der politischen Parteien auf das Föderativorgan
1. Deutscher Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Parteienwettbewerb im Bundesrat b) Die Stellung der Ministerpräsidenten
203
204 204 207
208 c) Die Landtagswahlen als "Bundesratswahlen"? 2. Schweizerischer Ständerat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 a) Der Einfluß der Bundesparteien im Ständerat . . . . . . . . . . . . . 210 b) Der geringe Einfluß der politischen Parteien im Ständerat ..... 211 111. Bundesstaatlichkeit und Parteienstaatlichkeit - Spannungen zwischen zwei Subsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
1. Zur Legitimität des Parteieneinflusses im Bundesrat ........ . .. 214 a) Die Theorie vom "Parteienbundesstaat"
. . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Parteieneinflüsse im Bundesrat als problemfreie Verfassungswirklichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 c) Spannungen zwischen den Prinzipien der Bundesstaatlichkeit und der Parteienstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 d) Die Legitimität einer über den Bundesrat mitregierenden Opposition 221 2. Legitimationsprobleme in einer Allparteien-Koalition . . . . . . . . . . 225 a) Parteienwettbewerb in einer Allparteien-Regierung?
........ 226
b) Die Legitimität des Kompromisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Inhaltsverzeichnis
17
IV. Der Ständerat - Ein Föderativorgan jenseits des Parteienwettstreits 1. Konfliktslinien im Ständerat
228
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
a) Freiheit vom dominanten Parteienwettstreit als Konfliktsfreiheit? 229 b) Die Anlage zu Konflikten im Ständerat . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 2. Aspekte des ständerätlichen Entscheidungsmusters . . . . . . . . . . .. 231 a) Die Einflußnahme sozialer Verbände b) Der Konservativismus im Ständerat
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 IIl. Abschnitt Refonnbestrebungen - Tendenzen und Anforderungen
238
A. Die Enquete-Kommission des Bundestages und ein Vierteljahrhundert Totalrevision im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 I. Die Arbeiten der Enquete-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
11. Das Unternehmen "Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung" 240 B. Bundesrat und Ständerat - Gegenstände einer Verfassungsrefonn? I. Grundlegende Fragen zur Form des Föderativorganes
1. Deutscher Bundesrat
243 243 243
a) Bundesrats- oder Senatssystem
243
b) Verstärkte Mitspracherechte der Landesparlamente 2. Schweizerischer Ständerat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
244 245
a) Zweikammer- oder Einkammersystem ... .
245
b) Stärkere Beteiligung der Kantonsorgane
246
11. Die Zahl der Vertreter eines Gliedstaates im Föderativorgan
247
1. Deutscher Bundesrat
247
2. Schweizerischer Ständerat . . . . . . . . . . . . .
247
..
249
111. Funktionen und Stellung des Föderativorganes 1. Deutscher Bundesrat
a) Die Funktionen des Bundesrates
249 ........
250
b) Die Stellung des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Schweizerischer Ständerat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 a) Die Funktionen des Ständerates
256
b) Die Stellung des Ständerates ..
257
Literaturverzeichnis
2 Heger
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Abkürzungsverzeichnis a. A.
anderer Ansicht
aaO.
am angegebenen Ort
Abs.
Absatz
a. E.
am Ende
Amtl.
Amtlich
Anm.
Anmerkung
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts (Band (Jahr), Seite)
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
BA
Bundesakte vom 8.6.1815
BayVBI. BayVerfGHE
=
Bayerische Verwaltungsblätter (Jahr, Seite) Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes (Band, Seite)
Bd.
Band
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch vom 18 August 1896 (RGBI. S. 195, BGBI. III 400-2)
BGBI.
Bundesgesetzblatt (Teil, Seite)
BK
Bonner Kommentar (vgl. Literaturverzeichnis)
BV
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE bzw.
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite) beziehungsweise
CDU
Christlich-Demokratische Union
CH
Confoederatio Helvetica, Schweiz
Cl.
Clause (Satz, US-amerikanische Verfassung)
Const.
Constitution (Verfassung, USA)
CSU
Christlich-Soziale Union
CVP
Christlichdemokratische Volkspartei (CH)
ders.
derselbe
d. h.
das heißt
Diss. div.
diverse
DÖV
Die öffentliche Verwaltung (Jahr, Seite)
Dissertation
Abkürzungsverzeichnis DVBI.
Deutsches Verwaltungsblatt (Jahr, Seite)
Eidgen.
Eidgenössisch (Schweiz)
Erl.
Erläuterung
etc.
et cetera
Ev.
Evangelisch
f.
folgende (Seite etc.)
FDP
Freie Demokratische Partei
19
FDP
Freisinnig-Demokratische Partei (eH)
ff.
folgende (Seiten etc.)
FN
Fußnote Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, BGBI. S. 1, BGBI. III 100-1
GG ggfs.
gegebenenfalls
GO
Geschäftsordnung
GVG
Bundesgesetz über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse (Geschäftsverkehrsgesetz) vom 23. März 1962 (eH)
HA
Hauptausschuß (des Parlamentarischen Rates)
Heh
Herrenchiemsee (Verfassungskonvent von)
HdbDStR
Handbuch des Deutschen Staatsrechts (1930/1932)
HdBStR
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1987 ff.)
HdBVerfR
Handbuch des Verfassungsrechts (1984)
Hrsg.
Herausgeber,herausgegeben
Jg.
Jahrgang
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (Band (Jahr) Seite)
Kap.
Kapitel
Komm.
Kommentar
KPD
Kommunistische Partei Deutschlands
LdU
Landesring der Unabhängigen (eH)
lfd.
laufende
Ls
Leitsatz Landesverfassung
LV NATO
Northern Atlantic Treaty Organisation (Nordatlantisches Verteidigungsbündnis )
n. F. (N. F.)
neue Folge
Nr. (N.)
Nummer
NSDAP
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NVwZ NZZ ParI. Rat 2*
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
= Neue Zürcher Zeitung (Nr., Jg.) Parlamentarischer Rat
20
Abkürzungsverzeichnis
PdA
Partei der Arbeit (eH)
Prot.
Protokolle
Randnr. (Rdn, Rdnr, RN)
Randnummer
RGBI.
Reichsgesetzblatt
RV
Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871
Rz
Randziffer
s.
siehe
S.
Satz, Seite
SchiA.
Wiener Schlußakte (vom 15. Mai 1820)
Sec.
Section (Absatz, US-amerikanische Verfassung)
SJZ
Süddeutsche Juristenzeitung (Jahr, Spalte)
s. o.
siehe oben
Sp.
Spalte
SP(S)
Sozialdemokratische Partei der Schweiz
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Sten.Ber.
Stenographischer Bericht
StGB
Strafgesetzbuch, in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. März 1987 (BGBI. I S. 945)
SVP
Schweizerische Volkspartei
u. a.
unter anderem, und andere
US(A)
Uni ted States of America
usw.
und so weiter
v.
von
VermA
Vermittlungsausschuß
vgl.
vergleiche
Vol.
Volume (= Band)
Vorbem.
Vorbemerkung
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Band, Seite)
WRV
Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (RGBI. 1919, S. 1383; "Weimarer Reichsverfassung")
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
z. B.
zum Beispiel
zit.
zitiert
ZParl
Zeitschrift für Parlamentsfragen
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZSR
Zeitschrift für Schweizerisches Recht (Band der neuen Folge (Jahr), Seite)
Einleitung Die im IV. Abschnitt des Grundgesetzes enthaltenen Bestimmungen über den deutschen Bundesrat zeichnen sich in gleicher Weise wie diejenigen über den Ständerat in den Art. 80 ff. der schweizerischen Bundesverfassung durch ein Paradoxon aus. Blieb der IV. Abschnitt als einziger des Grundgesetzes von allen bisherigen Änderungen unberührt, unterfielen die Art. 80 ff. BV weiterhin nur insofern einer Änderung, als im Vollzug der Gründung des neuen Kantones Jura die Zahl der Abgeordneten entsprechend von 44 auf 46 erhöht wurde, so stellen sowohl der Bundesrat als auch der Ständerat diejenigen Bundesorgane dar, deren Zusammensetzung, deren Funktion und deren Stellung immer wieder zu den am meisten umstrittenen Fragen des gesamten Verfassungsrechts gehören. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man auf die jeweiligen Beratungen bei der Schaffung des Bonner Grundgesetzes 1948/ 49 bzw. derjenigen der schweizerischen Bundesverfassung 100 Jahre zuvor blickt oder aber auf die Diskussionen um die Fortentwicklung beider Verfassungen in den 70er Jahren (dieses Jahrhunderts) - in jedem Falle entzündete sich an der Ausgestaltung des Föderativorganes heftigster Streit, zählten die umrissenen Fragestellungen zu den wichtigsten der Verfassungsberatungen überhaupt.! Werden bereits so vorhandene Spannungen angedeutet, erscheinen diese noch deutlicher, wenn man die Verfassungswirklichkeit mit einbezieht. Der Bundesrat, dessen Stellung als "Zweiter Kammer" in Frage steht 2 , der sich möglicherweise als bloßes "Instrument der Opposition"3 darstellt, ist ebenso wie der Ständerat, der als eigenständiges Organ schlichtweg für überflüssig erachtet wird 4 , Gegenstand mannigfaltiger Kritik. Vor diesem Hintergrund soll in der hier vorgelegten Arbeit der Versuch unternommen werden, die Stellung des Bundesrates und des Ständerates im deutschen bzw. schweizerischen Verfassungssystem zu analysieren. Es sollen 1 Vgl. einerseits v. Mangoldt, Kommentar, S. 262 ff. und Rappard, Bundesverfassung, S. 150 ff. sowie andererseits Schlußbericht "Verfassungsreform" , S. 95 und Schlußbericht "Totalrevision" , S. 463. 2 So im Titel des Aufsatzes von Schmitt, BayVBI 1974, S. 685: "Der Bundesrat keine Zweite Kammer?". 3 Im Titel bei Laufer, ZPari 1969/70, S. 318: "Der Bundesrat als Instrument der Opposition?" oder bei Seeliger (Hrsg.): "Der Bundesrat als Blockadeinstrument der Union". 4 Neidhart, Föderalismus, S. 27.
22
Einleitung
dabei die bestimmenden Grundzüge sichtbar gemacht werden, die letztlich in ihrer Gleichartigkeit wie in ihrer Verschiedenheit für das Verständnis beider Föderativorgane all eine förderlich sein können. Diese Zielsetzung schließt es auch aus, die jeweiligen Regelungen bis in ihre feinsten Verästelungen zu verfolgen oder Föderativorgane weiterer Staaten in diese Arbeit mit einzubeziehen; eine solche Vergleichung würde notwendig oberflächlich werden. 5 Lediglich noch die den US-Senat betreffenden Normierungen sollen hier insoweit Erwähnung finden, als sie aufgrund ihrer Vorbildwirkung insbesondere für den schweizerischen Ständerat für ein Verständnis der Regelungen im einzelnen notwendig sind. Innerhalb dieses so definierten Rahmens sollen der deutsche Bundesrat und der schweizerische Ständerat im folgenden unter vier Aspekten untersucht werden, die jeder für sich Charakteristika des Föderativorganes hervortreten lassen. Als ein erster Aspekt der Ausgestaltung der bei den Föderativorgane werden die Berechnungsmodi der einem einzelnen Gliedstaat6 zustehenden Anzahl von Vertretern im Bundesrat bzw. Ständerat zu analysieren sein. Die beiden Verfassungen weisen hier einen offensichtlich unterschiedlichen Ansatz aus, indem die deutschen Länder eine nach der Bevölkerungszahl gestaffelte, unterschiedliche Vertretung erfahren, wohingegen im Ständerat ein jeder Kanton gleichmäßig mit je zwei Sitzen repräsentiert ist. Insbesondere diese schematische Gleichbehandlung eines jeden Kantones im Ständerat wird dabei noch der Rechtfertigung bedürfen, gibt sie die Größenverhältnisse innerhalb der Schweiz doch vollständig verzerrt wieder. Als ein zweiter Aspekt werden die Zurechnungsmodi zu analysieren sein, derer sich die beiden Verfassungen zur Legitimation der Föderativorgane bedienen; den bestellten Regierungsvertretern im Bundesrat stehen hier die unabhängigen Abgeordneten im Ständerat gegenüber. Zugleich sind die Auswirkungen der bei den Modi auf das jeweilige innergliedstaatliche Gefüge darzustellen, wobei für die Bundesrepublik eine Gewichtsverschiebung zu Gunsten der Länderregierungen, für die Schweiz ein eher beziehungsloses Nebeneinander von Ständeräten und den Behörden der Heimatkantone zu konstatieren ist. 5 Vgl. insoweit Gaa, Zweite Kammer. Dort werden zwar auch Zweikammersysteme aus Indien oder lateinamerikanischen Staaten und diese in allen Einzelfragen vorgestellt; dafür sind Fragen nach der Begründung einer Regelung etwa des Grundgesetzes zum Bundesrat ausgeklammert. 6 Der Begriff "Gliedstaat" soll in dieser Arbeit lediglich als Oberbegriff für die deutschen Länder sowie die schweizerischen Kantone (und die US-Staaten) dienen. Mit dieser Bezeichnung soll dagegen nicht in dem Streit um die Staatsqualität solcher Gliedstaaten Stellung genommen werden; zu diesem Hesse, Grundzüge, Rdn 217 mit
FN 1.
Einleitung
23
Als ein dritter Aspekt werden so dann Funktion und Stellung der beiden Föderativorgane auf Bundesebene, insbesondere also das Verhältnis zur jeweils anderen Kammer, zu analysieren sein. Für den Bundesrat bedeutet dies vor allem den Versuch, ein vertiefteres Verständnis der Gründe für die Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes zu erlangen, nachdem in den 70er Jahren gerade diese Frage der Zustimmungsbedürftigkeit angesichts entgegengesetzer parteipolitischer Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat immer wieder ins Zentrum der politischen Diskussion geriet. Für den Ständerat geht es dagegen um eine Überprüfung der These, daß ihm als einer nur zweiten Bundeskammer heute eigentlich keine Existenzberechtigung mehr zukommt; insbesondere würde er weder die Kantone vertreten noch eine andere Funktion tatsächlich erfüllen. Als ein vierter Aspekt wird weiterhin der Einfluß der politischen Parteien auf das Föderativorgan zu werten sein. Im Falle des Bundesrates steht dabei die Frage der Funktionsfähigkeit eines Zweikammersystems im Rahmen eines bipolaren Parteienwettbewerbes im Zentrum der Analyse; die 70er Jahre mit ihrer SPD-geführten Mehrheit im Bundestag und der CDU/CSU-geführten Mehrheit im Bundesrat ließen viele Stimmen laut werden, die einer Beschneidung der (Oppositions-)Rechte des Bundesrates das Wort redeten. Im Falle des Ständerates gilt es in diesem Zusammenhang erst einmal, den vollständig anderen Aufbau des schweizerischen Parteiensystems darzustellen. Die schweizerische Konkordanzdemokratie läßt Frontstellungen, wie sie den Bundesrat prägen konnten, in dieser Form nicht entstehen. Bei allen diesen vier Fragenkomplexen wird es dabei erforderlich sein, den Bundesrat wie den Ständerat nicht lediglich als einen Normenkomplex zu begreifen, sondern stets auch die Verfassungwirklichkeit mit einzubeziehenJ Vor allem verschiedenen Mischmodellen, die aus Bundesrat und Ständerat (US-Senat) zur Überwindung von Nachteilen der jeweils eigenen Regelung entwickelt wurden, fehlt dieser Bezug zumeist fast vollständig. Schließlich bedürfen beide Föderativorgane der Einordnung in die verfassungsgeschichtliche Entwicklung. Vor allem die Regelungen über den Bundesrat werden immer wieder von geschichtlichen Vorläufern her abgeleitet; beide Organe sind auch als Produkte einer alten Verfassungs tradition zu sehen. Der I. Abschnitt wird daher dieser historischen Entwicklung zu widmen sein. Zuletzt sollen noch in einem III. Abschnitt die bereits erwähnten Reformbestrebungen der 70er Jahre beurteilt werden. Tendenzen und Anforderungen solcher Reformen werden von der durch die vorliegende Arbeit zu gewinnenden Basis aus sicherer beurteilt werden können.
7
Vgl. auch Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 11 ff. (S. 12 - 15).
I. Abschnitt
Deutscher Bundesrat und schweizerischer Ständerat ihre Vorläufer und ihre Entstehung Es wurde bereits gesagt - das Erscheinungsbild von Bundesrat und Ständerat ist geprägt durch die jeweilige Verfassungsgeschichte, nur vor ihrem Hintergrund werden die heute gültigen Regelungen verständlich. Dies gilt zunächst in besonderem Maße vom Bundesrat. Er wird gleichsam als "Verfassungserbgut"l angesehen und eine Würdigung des Bundesrates wird nicht für möglich erachtet, sofern sie nicht die geschichtliche Entwicklung mit einbezieht. 2 Desweiteren sah Anschütz schon den Vorläufer des heutigen Bundesrates, den Reichsrat der Weimarer Reichsverfassung, in einer "Generationenfolge" stehen3 , und Laband schrieb 1911 über dessen Vorläufer, den Bundesrat der Bismarckverfassung von 1871: "Wenn für irgendein Institut des jetzigen deutschen Reichsstaatsrechtes die historischen Wurzeln klar erkennbar sind und für das juristische Verständnis verwertet werden können, so ist es der Bundesrat. "4 Eine so deutliche Prägung durch die Verfassungsgeschichte kann für den schweizerischen Ständerat nicht festgestellt werden. Für ihn wird vielmehr herausgestellt, daß seine Einführung in die schweizerische Bundesverfassung von 1848 einen Bruch mit hergebrachten Strukturen dargestellt habe. 5 Andererseits wird für die zentrale Vorschrift des Art. 80 S. 2 BV, nach der sämtliche Kantone (grundsätzlich) in gleicher Weise durch 2 Abgeordnete im Ständerat vertreten sind, darauf verwiesen, daß eine solche gleichgewichtete Vertretung eines jeden Kantones auch schon die frühere Tagsatzung prägte. 6 Die solchermaßen in ihrem Wert erkannte Analyse der Verfassungsgeschichte wird auch das jeweilige zeitgenössische Verständnis auszuwerten haben,7 soweit möglich also "zweigleisig" zu verfahren haben. Insbesondere bei auftretenden Unterschieden zwischen zeitgenössischem und modernem Verständnis können weitergehende Unterschiede in der Konzeption von Bundesstaatlichkeit überhaupt deutlich werden. Stern, Staatsrecht, Bd II, § 27 I 1 b. Posser, Der Bundesrat und seine Bedeutung, HdBVerfR, S. 900. 3 Anschütz, Kommentar, vor Art. 60, S. 335. 4 Laband, Staatsrecht, Bd 1, S. 234. 5 Aubert, Traite, Vol 2, NT. 1253. 6 Schindler, Gleichheit, S. 147. 7 Erichsen, Prolegomena, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, S. 11. 1
2
A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates Die Napoleonischen Kriege und der anschließende Wiener Kongreß von 1814/15 bewirkten im gesamten mitteleuropäischen Raum tiefgreifende Veränderungen. Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 führte durch die angeordnete Mediatisierung und Säkularisierung der vielen hundert ehemals reichsunmittelbaren Herrschaften zu einer vollständigen Neuordnung der deutschen Gebiete; die Niederlegung der Kaiserkrone 1806 besiegelte auch formell das endgültige Zerbrechen des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Es erscheint somit gerechtfertigt, das Jahr 1815 hier als den (Neu-)Beginn zu sehen und auf eine nähere Betrachtung vergleichbarer Gremien im alten Reich, etwa den "Immerwährenden Reichstag" von 1663 - 1806, zu verzichten. J. Der deutsche Bundestag von 1815 1. Der Deutsche Bund
Die endgültige Struktur des Deutschen Bundes, so wie sie später auch in der Wiener Schlußakte von 1820 festgeschrieben wurde, stellt das Resultat langwieriger Verhandlungen zwischen den deutschen Vormächten Österreich und Preußen sowie den bestimmenden ausländischen Mächten England, Rußland und Frankreich dar. War hierbei zunächst die Idee eines engeren "lien federatif"8 von Preußen und auch von Österreich verfolgt worden, führten Interessengegensätze zwischen diesen beiden Staaten dazu, daß der Vertreter Österreichs, Fürst von Metternich, auf Distanz zu Preußen ging und die Errichtung eines nur losen Bundes forderte. Da diese Haltung sowohl von den beteiligten Westmächten als auch von den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, die um ihre Souveränität bangten, unterstützt wurde, mußte auch Preußen seine Idee von der Verwirklichung eines engeren Bundes schließlich aufgeben. 9 Es entstand der Deutsche Bund als Bund einzelner souveräner Staaten. Infolge dieser Struktur als "völkerrechtlicher Verein"l0 wies der Deutsche Bund nur ein gemeinschaftliches Organ von Bedeutung auf, die Frankfurter 8 Dieser Ausdruck wurde im Ersten Pariser Frieden von 1814 verwendet, vgl. Scheyhing, Verfassungsgeschichte, 10. Kap., § 1 RN 3. 9 Zum Ganzen Griewank, Wien er Kongreß, S. 226 - 23l. 10 Art. 1 der Wien er Schlußakte, wiedergegeben bei Huber, Dokumente, Bd 1, Nr. 30.
26
I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
Bundesversammlung, den "Bundestag", bestehend aus den Gesandten der einzelnen Mitgliedsstaaten. 2. Die gewichtete Vertretung der einzelnen Staaten
Der Bundestag war entsprechend der Natur des Deutschen Bundes als "völkerrechtlichen Vereines" als Versammlung gleichberechtigter Bundesglieder konzipiert; dennoch waren die einzelnen Staaten in ihm unterschiedlich vertreten. Jedem Mitgliedsstaat gebührte hiernach mindestens 1 Stimme, den größeren 2 oder 3 und den größten Mitgliedsstaaten, wie etwa Preußen oder Österreich deren 4 (Art. 6 Abs. 1 Bundesakte).l1 Diese "ungleiche" Vertretung wurde dabei in Art. 6 Abs. 1 der Bundesakte selbst als "verabredet" bezeichnet. Ein besonderes Gewicht wurde diesem Faktum der gewichteten Vertretung in der zeitgenössischen Literatur nicht beigemessen. 12 Ungleich bedeutsamer erschien dort die Frage der Anredeformen im Plenum. Die Tatsache, daß Österreich etwa ein anderes Stimmengewicht gebührt als Liechtenstein, wurde schlicht für selbstverständlich erachtet. Eine solche Privilegierung korrespondiere doch nur der tatsächlichen Bedeutung und dem Umfang der von Preußen und Österreich zu tragenden Lasten und Pflichten. Erschien hiernach der zeitgenössischen Literatur der Zusammenhang von Größe des Mitgliedsstaates und der Anzahl seiner Vertreter im Bundestag als quasi naturgegeben, so erscheint er bei nüchterner Betrachtung als Ergebnis der damaligen Mächtekonstellation. Der Deutsche Bund war geprägt von einer Doppelhegemonie Österreichs und Preußens. Sie all eine waren die politisch bestimmenden Faktoren, sie setzten daher auch eine Repräsentation im Bundestag durch, die diesen Verhältnissen Rechnung trug. J3 3. Die RechtssteUung der einzelstaatlichen Gesandten
Die Gesandten der einzelnen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes hatten die Stellung von völkerrechtlichen Diplomaten inne. Äußerlich genossen sie in Frankfurt, dem Sitz des Bundestages, Exterritorialität 14 und auch im Bundestag selbst waren sie kraft ihrer Person Mitglied, mußten also auch in persona abstimmen. 15 Für ihre Stimm abgabe im Bundestag waren diese Wiedergegeben bei Huber (FN 10) unter Nr. 29. Zum Folgenden Zoepfl, Grundsätze, §§ 118 - 120. 13 Dennewitz, Der Föderalismus, S. 50 f. 14 Geregelt in: Localverhältnisse der deutschen Bundesversammlung und der Bundestagsgesandtschaften in der freien Stadt Frankfurt, Teil 111, abgedr. in: Des Corpus Juris Confoederationis Germanicae, zweiter Theil, S. 29 ff. 15 Vgl. die Vorläufige Geschäftsordnung der deutschen Bundesversammlung vom 14. November 1816, Teil I; abgedr. aaO (FN 14), S. 32 ff. 11
12
11. Der Bundesrat von 1871
27
Gesandtschaften nur gegenüber dem Entsendestaat verantwortlich (Art. 8 Schlußakte). Sie waren zugleich auch dessen Instruktionen unterworfen, was bei Ländern, die wie Österreich über mehrere Stimmen verfügten, zu einer einheitlichen Stimmabgabe führte.1 6 4. Die Funktionen des Bundestages
Die Funktionen des Bundestages waren entsprechend der bloß völkerrechtlichen Natur des Deutschen Bundes sehr bescheiden ausgestaltet. Im wesentlichen beschränkte sich seine Aufgabe auf die Aufrechterhaltung des inneren und äußeren Friedens. Als maßgeblichste Entscheidung sind daher auch die Karlsbader Beschlüsse vom 20. 9. 1819 anzusehen. Erschwert wurde die Arbeit des Bundestages weiter dadurch, daß für alle grundlegenden Fragen Einstimmigkeit vorgeschrieben war (Art. 13 SchIA) und daß Art. 4 S. 2 Sch1A!7 jede weitere Entwicklung des Bundes - etwa hin zur Begründung weiterer Bundeskompetenzen - ausdrücklich untersagte. Auf dieser Basis konnte der Bundestag sich nicht zu einem bedeutsamen Faktor entwickeln. Österreich und Preußen bedienten sich seiner nur, wenn sie es für opportun erachteten. 18 11. Der Bundesrat von 1871 "Über Weimar zurück zu Bismarck" - mit diesen und ähnlichen Ausdrükken wird immer wieder die Ausgestaltung des Bundesrates durch das Grundgesetz beschrieben.!9 Der Bundesrat der Reichsverfassung von 1871 wird so deutlich als Vorbild der heutigen Regelung herangezogen. Zugleich galt dieser Bundesrat schon 1871 als "Meisterwerk Bismarck'scher Staatskunst", als Herzstück des von ihm konzipierten Reichsaufbaus, als hiernach vollständig zeitbezogen auf die Bedürfnisse Preußens, die Abstützung seiner Hegonomie ausgerichtet. 2o Diese Aussagen weisen auf zwei Pole in einem Verständnis des Bundesrates von 1871 hin, das vor allem durch eine extreme Gegensätzlichkeit von zeitgenössischer und späterer Betrachtung gekennzeichnet ist: Ersterer ebenso wie derjenigen, die ihm später "Vorbildwirkung" beimißt, erscheint der Bundesrat als Träger der Souveränität im Reich, wohingegen er der späteren Betrachtung nur noch als Machtwerkzeug der preußischen Hegemonie gilt. Triepel, Art. Bundesversammlung, Handwörterbuch, S. 835. Wiedergegeben bei Huber (FN 10). 18 Dennewitz (FN 13), S. 50. 19 Vgl. bereits Heuss im Parlamentarischen Rat, Sten.Ber. 10. Sitzung, S. 207. 20 Preuß, Denkschrift, in: Staat, Recht und Freiheit, S. 368 f.; Anschütz, VVDStRL 1 (1924), S. 15; Heuss (FN 19). 16 17
28
I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
1. Der Bundesrat in der zeitgenössischen Darstellung
In der Reichsverfassung von 1871 erschien der Bundesrat an vornehmster, erster Stelle. Allein aus den dortigen Bestimmungen und dem so verdeutlichten Rang leitete die zeitgenössische Staatsrechtswissenschaft die Stellung des Bundesrates ab, die dann in der Feststellung mündete, Träger der Souveränität im Reich sei die Gesamtheit der Verbündeten Fürsten und Freien Städte und diese Souveränität finde im Bundesrat ihren Ausdruck. 21 a) Der Reichsaufbau und die Natur des Bundesrates Das Reich und die Gesamtheit der in ihm befindlichen Teilstaaten scheinen rein logisch stets identisch zu sein. 22 Der herrschenden Lehre war es im Bismarckreich gleichwohl möglich, beides zu trennen. 23 Das Reich selbst war nur "das Subjekt der Reichsgewalt"; das Substrat dieser juristischen Person "Deutsches Reich", der Träger der Souveränität waren die 25 Mitglieder. Diese Differenzierung zwischen Reich und Gesamtheit der Mitglieder konnte sich auch unmittelbar auf den Text der Reichsverfassung stützen, in deren Präambel das Reich als ein "Bund" bezeichnet wurde, das Reich selbst jedoch zugleich nach derselben Präambel als Staat erschien, wenn von dem "innerhalb desselben gültigen Recht (es)" gesprochen wurde. Die Verfassung war hiernach zugleich als Gesetz und als Vertrag, das Reich als Staat und Bund souveräner Staaten zu sehen. 24 Diesem Verständnis vom Reichsaufbau entsprechend wurde auch dem Bundesrat von Laband eine "Doppelnatur" zugeschrieben: 25 Einerseits stellte er einen völkerrechtlichen Gesandtenkongress dar (vgl. auch Art. 10 RV), in dem die Gliedstaaten ihre Mitgliedschaftsrechte ausüben, andererseits stellte er auch ein Organ des einen Deutschen Reiches dar. Geht man von diesem Verständnis einmal aus, so wird die herausragende Stellung des Bundesrates deutlich; in ihm manifestierte sich die Natur des Reiches als eine Doppelnatur , in ihm kam die Souveränität im Reich, die Gesamtheit der Verbündeten Fürsten und Freien Städte zum Ausdruck.
21 22 23 24
25
Laband (FN 4), S. 97, 1Ol. Scholl, Bundesrat, S. 36. Zum Folgenden Laband (FN 4), S. 95 ff. Deutlich nachgezeichnet von Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 153 f. Laband (FN 4), S. 235 f.
11. Der Bundesrat von 1871
29
b) Funktionen und Stellung des Bundesrates Auch wenn man weiterhin die Funktionenverteilung betrachtet, so wie sie in der Reichsverfassung selbst vorgenommen wurde, erscheint der Bundesrat als das zentrale Organ im Staatsaufbau. Art. 5 und 7 Abs. 1 Nr. 1 RV gestalteten ihn zunächst zum maßgeblichen Faktor im Gesetzgebungsverfahren aus; kein Gesetz kam hiernach zustande, wenn nicht durch einen übereinstimmenden Beschluß von Bundesrat und Reichstag. Darüber hinaus befand alleine der Bundesrat darüber, welche Entwürfe dem Reichstag vorgelegt wurden und stand nur ihm die "Gesetzessanktion" ZU. 26 Dieses Sanktionierungsrecht hob den Bundesrat nach Laband deutlich über den in Art. 5 Abs. 1 RV festgelegten Gleichrang im Verhältnis zum Reichstag hinaus.27 Der Begriff der Gesetzessanktion setzte dabei ein Verständnis vom Gesetzgebungsverfahren voraus, wie es Laband entwickelte: Nach ihm zerfällt das Verfahren in zwei deutlich voneinander getrennte Teile, der Feststellung des Gesetzesinhalts und die Anordnung seiner Befolgung, eben die Sanktion. Erst letztere, der Gesetzesbefehl, verleiht dem festgestellten Gesetzesinhalt normative Kraft. Diesen Gesetzesbefehl geben, diese Sanktion erteilen, konnte wiederum nur der Träger der Souveränität, also der Bundesrat. "Gesetzgeber" in diesem strengen Sinne des Wortes war nur der Bundesrat. Neben den gesetzgeberischen Funktionen übte der Bundesrat weitere vor allem im Bereich der Exekutive aus. Er war von der Anlage der Verfassung, die keine selbständige Reichsregierung kannte, sondern lediglich ein aus dem Kaiser und dem Reichskanzler bestehendes "Präsidium" (Art. 11 ff.RV), der einzig mögliche Verordnungsgeber. In zahllosen Einzelgesetzen wurde daher der Bundesrat zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigt. 28 Schließlich berief Art. 76 RV den Bundesrat noch zur Entscheidung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten, verlieh die Verfassung ihm auch noch Kompetenzen aus dem Bereich der Judikative. c) Die gewichtete Vertretung der einzelnen Staaten
Art. 6 Abs. 1 RV übernahm ein Charakteristikum, das schon den Frankfurter Bundestag auszeichnete, wenn er den einzelnen Bundesstaaten eine unterschiedliche Stimmenzahl im Bundesrat zuerkannte. So war zwar jedes Land durch mindestens eine Stimme vertreten, 7 Länder verfügten über 2 und mehr Stimmen, darunter Bayern über 6 und Preußen schließlich über 17. Auch
27
Laband, Staatsrecht, Bd 2, S. 33. Zum Folgenden Laband (FN 26), S. 23 ff.; auch in: Deutsches Reichsstaatsrecht,
28
Beispiele aus dem BGB: §§ 23, 33 Abs. 2, 44 Abs. 2, 80, 982.
26
S. 119 ff.
30
I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
dieser enorme Unterschied repräsentierte dabei noch in keiner Weise die wahren Größenverhältnisse: So lebten in Preußen achthundertmal so viele Einwohner wie in Schaumburg-Lippe und vor allem mehr als die Hälfte aller Reichsbürger überhaupt.29 Angesichts dieser enormen Größenunterschiede und des übergroßen Gewichtes Preußens erschien es von vornherein als unmöglich, jedem Staat die gleiche Stimmenzahl zugestehen zu wollen. Da andererseits eine Ausrichtung alleine an der Bevölkerungszahl Preußen eine automatische Mehrheit verschafft hätte, mußte eine "willkürliche" Lösung gefunden werden. 3o Sie bestand in der Übernahme der bereits "gewöhnten" Stimmenverteilung, auf die man sich für den Bundestag "geeinigt" hatte. 31 Die erhebliche Steigerung der preußischen Stimmen von 4 auf 17 beruhte dabei auf der "Übertragung" der Stimmen derjenigen Länder wie zum Beispiel Hannover, die Preußen zwischenzeitlich erobert hatte. 32 d) Die Stellung der "Gesandten" Ebenfalls in bewußter Anknüpfung an den Frankfurter Bundestag ist die Zusammensetzung des Bundesrates gestaltet worden. Wurde in Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 3 RV bestimmt, daß er aus instruierten Vertretern der einzelstaatlichen Regierungen besteht, so wurden diese Vertreter von Art. 10 RV mit den Vorrechten eines Diplomaten versehen. Anders als noch im Frankfurter Bundestag war im Bundesrat eine physische Präsenz der einzelnen Gesandten nicht mehr erforderlich. Entscheidend war nunmehr die Anzahl der "Stimmen", die einem Land zukamen. Diese konnten von einem einzelnen "Stimmführer" abgegeben werden, ja sogar die Vertretung durch einen Gesandten eines anderen Landes war zulässig. 33 Von der Reichsverfassung nicht geregelt war die Frage, wer innerhalb des einzelnen Landes bei der Erteilung der Instruktion beteiligt war, ob also insbesondere den Landtagen hier ein Mitbestimmungsrecht zustand; dies zu bestimmen war jeweils Sache des Landesrechts. Als sehr bedeutsam wurde diese Frage nach einem solchen Mitbestimmungsrecht dabei nicht erachtet. 34 Da die Scholl (FN 22), S. 46, FN 180, 181. Bismarck, nach v. Seydel, Commentar, S. 133 f. 31 Bismarck (FN 30). 32 Preuß (in: Nationalstaat, S. 48 f.) gab dem Vorgang der "Stimmenübernahme" später einen ganz anderen Sinn: "Wie nach primitiver Vorstellung der muskelgewaltige und verdauungskräftige Sieger mit der Leiblichkeit auch die Seelen der erschlagenen und aufgefressenen Feinde sich einverleibt, so annektierte Preußen mit Land und Leuten auch die "föderativen" Rechte der 1866 erschlagenen Bundesglieder, indem es deren Bundestagsstimmen auf sein Konto übertrug, das so von 4 auf 17 Bundesratsstimmen anwuchs." Zu der hier deutlich werdenden Sicht der preußischen Hegemonie gleich unter 2. 33 Scholl (FN 22), S. 49 und 55 f. 29
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11. Der Bundesrat von 1871
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Instruktionserteilung selbst Aufgabe der Regierung sei, würde eine Mitbestimmung des Landtages doch nur dazu führen, daß im Konfliktsfall eine Instruierung nicht erfolgen könnte; bei einem Fehlschlagen der Einigung würden die Stimmen des Landes im Bundesrat verloren gehen. 35
e) Die Relevanz der politischen Parteien In der Reichsverfassung an keiner Stelle erwähnt, räumte auch die zeitgenössische Lehre den politischen Parteien keinen Platz im Verfassungssystem ein, wurde vielmehr festgestellt, daß sie in der "staatlichen Ordnung ... keine Stelle" hätten. 36 Laband hielt sie selbst in seinem mehrbändigen Werk für nur einer ganz peripheren Erwähnung würdigY Die Parteien spielten für die zeitgenössische Staatsrechtswissenschaft keine Rolle. 2. Der Bundesrat als Instrument der preußischen Hegenomie
a) Die Lage nach dem Text der Reichsverfassung Die erdrückende Übermacht Preußens im Reich, die sich gerade auch in seiner Stellung im Bundesrat äußerte, schien der zeitgenössischen Staatsrechtslehre im wesentlichen nicht erwähnenswert. 38 Dabei lassen sich bereits im Text der Verfassung selbst Hinweise auf diese Hegenomie finden: Art. 5 Abs. 2 RV gewährte der "Präsidialmacht", also Preußen, ein Vetorecht in Militärfragen, Art. 78 RV ließ 14 Stimmen im Bundesrat genügen, um eine Verfassungsänderung zu verhindern, wobei Preußen über deren 17 verfügte. Preußen war so all eine und ohne daß es weiterer Unterstützung bedurfte, in der Lage, von ihm nicht gewollte grundlegende Änderungen zu verhindern.
b) Das Stimmengewicht Preußens im Bundesrat Preußen war weiterhin bei Abstimmungen im Bundesrat nicht auf seine eigenen 17 Stimmen beschränkt: In einem Falle, demjenigen Waldecks, war Preußen gleich die gesamte Landesverwaltung, samt der Stimmführung im Bundesrat, übertragen worden. 39 Preußen versicherte sich jedoch auch noch 34 Laband (FN 4), S. 248, sprach von einer Frage von "lediglich theoretischem Interesse". 35 Laband (FN 34). 36 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 114. 37 Laband (FN 4), S. 297 f. 38 Laband etwa sprach so nur an einer einzigen Stelle (Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 124) von dieser preußischen Vorherrschaft und leugnete sie auch dort. 39 Triepel, Unitarismus, S. 76.
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
stets der Stimmen weiterer norddeutscher Kleinstaaten und - sofern opportun - der süddeutschen Mittelstaaten. Vor allem bei den zuletzt genannten geschah dies meist auf "diplomatischem Wege", wobei gleichwohl deutlich war, daß im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen Preußen auch Druck ausüben könnte. 4O Ein weiteres Mittel waren die vielfältigen "Konventionen", die Preußen mit den übrigen Staaten auf vielen Sachgebieten verband. Hierdurch begaben sich die Kleinstaaten in eine sachliche und oftmals personale Abhängigkeit von Preußen, die es nicht mehr zuließ, sich offen gegen die Vormachtstellung Preußens zu stellen. 41 Als besonders wirksam erwies sich in diesem Zusammenhang auch die Übermacht der preußischen Staatsbahn. Sie rundete die Abhängigkeit der Kleinstaaten von Preußen ab, so daß dieses über weit mehr als die ihm nach dem Verfassungstext zustehenden 17 Stimmen verfügte. In wichtigen Fragen wurde Preußen auch nur ein einziges Mal überstimmt: 1877 wurde gegen die preußischen Stimmen Leipzig anstelle Berlins zum Sitz des Reichsgerichts bestimmt. Auch dieses Beispiel verdeutlicht jedoch die Übermacht Preußens; denn die kleinen und mittleren norddeutschen Staaten sprachen sich nur deshalb für Leipzig aus, weil Bismarck sich in dieser Frage nicht geäußert hatte.Er selber stellte es später so dar, als wollte er durchaus einmal eine Abstimmungsniederlage Preußens herbeiführen, um den Eindruck zu verwischen, Preußen setze sein Gewicht zu massiv ein. 42 c) Die Beherrschung des Bundesrates durch die Reichsämter
War der Bundesrat derart deutlich unter preußische Kontrolle geraten, daß Anschütz ihn rückblickend als "Machtwerkzeug der preußischen Hegemonie"43 bezeichnete, ging Bismarck zur Absicherung der preußischen Hegemonie noch darüber hinaus und schuf neben dem Bundesrat noch eine eigene Reichsexekutive . Die mit der Reichsverfassung im wesentlichen identische Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 sollte zunächst überhaupt keine eigenständige Bundesexekutive vorsehen. Erst durch den während der Beratung eingefügten Zusatz des Art. 17 S. 2 RV, der "lex Bennigsen", wurde das "Präsidium" des Bundes, bestehend nur aus Kaiser und Bundeskanzler, zu einer eigenständigen Exekutive des Bundes und 1871 des Reiches. 1878 sodann wurde es Bismarck gestattet, für "Fälle der Behinderung" Ressortstellvertreter zu benennen, was fortan ständige Übung 40
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Rosenau, Hegemonie, S. 54. Triepel (FN 39), S. 75 f.; Preuß (FN 20), S. 369. Nach Rosenau (FN 40), S. 55 f.; s. auch Klein, AöR 108 (1983), S. 329 (335). Anschütz (FN 20), S. 15.
11. Der Bundesrat von 1871
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wurde. Hieraus entwickelten sich die Ämter des Reiches mit Staat sekretären an der Spitze. Die Bezeichnungen "Ministerien" und "Minister" wurden lediglich aus föderalistischer Rücksichtsnahme vermieden. 44 Insgesamt war Bismarck durch diese Konstruktion Vorsitzender dreier zentraler Organe: Als preußischer Ministerpräsident übte er den Vorsitz im preußischen und als Reichskanzler denjenigen im Reichskabinett aus, einem Kabinett, das nach dem Verfassungstext gar nicht existierte. Außerdem war er nach Art. 15 Abs. 1 RV Vorsitzender des Bundesrates. Bismarck verband nun diese 3 Organe durch mannigfache weitere Personalunionen miteinander: 7 der 17 Mitglieder Preußens im Bundesrat waren Staatssekretäre der Reichsämter, 26 der 38 stellvertretenden Mitglieder stammten aus den Reichsämtern. Reichsämter, preußische Ministerien und preußische Stimmen im Bundesrat verschmolzen so zu einer Einheit. Berücksichtigt man dann noch die dargelegte Dominanz Preußens im Bundesrat, erscheint es nicht übertrieben, mit Triepel 45 die bundesrätlichen Verordnungen als "Verordnungen der obersten Reichsbehörde, die sich um der verfassungsmäßigen Form willen in das Gewand einer Bundesratsverordnung gekleidet haben", zu bezeichnen. Der Bundesrat, der nach dem Verfassungstext oberstes Verfassungsorgan war und durch den die "Mitglieder des Bundes" ihre Mitgliedschaftsrechte ausüben sollten, stellt sich als - selbst weitgehend machtloses - Instrument der von Preußen beherrschten Reichsexekutive dar, geschaffen, um den Einfluß der Hegemonialmacht Preußen abzustützen und zu vergrößern. 46 3. Der "hegemoniale Föderalismus"
Das Deutsche Reich der Bismarckverfassung von 1871 war beherrscht von einem übermächtigen Teilstaat, Preußen. Entgegen aller in der Verfassung enthaltener "föderalistischer Ideologie und Phraseologie" ,47 war das Reich nicht auf der Souveränität der Mitgliedsstaaten errichtet, sondern auf der Macht des einen hegemonialen Staates, Preußen. Bismarck baute den Föderalismus der Reichsverfassung in das von ihm entworfene System der Vorherrschaft Preußens ein. Herzstück dieses Systems war der Bundesrat. 48 Diesen Bundesrat machte Bismarck zum zentralen Organ der Verfassung, um durch Scholl (FN 22), S. 19 f. und Triepel (FN 39), S. 65. Triepel (FN 39), S. 68. 46 Am Rande sei erwähnt, daß Bismarck auf diese Weise auch den Reichstag weiter entmachtete. Als "Staatssekretäre" waren diese Minister nur ihm, dem Reichskanzler, verantwortlich, der seinerseits nur dem Kaiser verantwortlich war. Weiter wurde die Verantwortung dadurch verwischt, daß formal alle Gesetzesentwürfe der Reichsexekutive als "Vorlagen des Bundesrates" galten. Einen Überblick über dieses von Bismarck wohl bewußt so schwer durchschaubar konzipierte System gibt Preuß (FN 32), S. 53 - 60. 47 Anschütz (FN 43). 48 Preuß (FN 32), S. 45. 44
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ihn, den scheinbaren Bewahrer der föderalen Struktur des Reiches, die Hegemonie Preußens zu gewährleisten. Bismarck bediente sich so föderaler Strukturen, um vollständig entgegengesetzte Ziele zu erreichen: Die Bewahrung und Festigung Preußen-Deutschlands. Preuß spricht insoweit vom Werk eines Meisters;49 der Bundesrat ist die einzigartige Schöpfung, mit der Bismarck es gelang, Preußens Herrschaft über Deutschland zu vervollkommnen, ohne daß die übrigen "regierenden Fürsten und Freien Städte" der Form nach ihre Souveränität aufgeben mußten. IH. Der Reichsrat von 1919 Art. 1 Abs. 1 WRV bestimmte es gleich an vornehmster Stelle: "Das Deutsche Reich ist eine Republik". Hierin drückte sich nicht nur der Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur republikanischen Staatsform aus, sondern auch ein weiterer Wandel wurde deutlich; Deutschland bestand nun auch nach dem Verfassungstext nicht mehr aus einer Mehrzahl souveräner Einzelstaaten, sondern stellte selbst einen einheitlichen Staat dar. Ein Föderativorgan, wie auch immer es gestaltet sein mochte, mußte vor diesem Hintergrund gegenüber dem Bundesrat der Bismarckverfassung abgewandelt sein. 1. Der Weg zum Weimarer Reichsrat
a) Vom Bundesrat zum Staatenausschuß Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann die Deutsche Republik aus. Das alte Kaiserreich und mit ihm das Bismarck'sche Verfassungssystem hörten auf zu bestehen. Der Kaiser hatte abgedankt und der letzte von ihm ernannte Reichskanzler, Prinz Max von Baden, übertrug die Kanzlerschaft dem Führer der im Kampf um die Macht wohl chancenreichsten Partei, Friedrich Ebert. 50 Als einziges Organ des Kaiserreichs blieb der Bundesrat jedoch bestehen. Bereits mit Verordnung vom 14. 11. 191851 ordnete die neue Reichsregierung an, daß der Bundesrat "die ihm nach Gesetz und Verordnungen des Reiches zustehenden Verwaltungsbefugnisse auch fernerhin auszuüben" ermächtigt sei. Reduziert auf ein bloßes Verwaltungsorgan dienten so die alten Bundesratsgesandten der neuen Regierung. Diese bedurfte auch ihrer Unterstützung, um die wirren Anfangszeiten verwaltungsmäßig im Griff zu halten. 52 49
50 5! 52
Preuß (FN 48). Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd V, S. 682 ff. Wiedergegeben bei Huber, Dokumente, Bd 3, Nr. 10. Scholl (FN 22), S. 28.
III. Der Reichsrat von 1919
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Mit der Ausarbeitung einer neuen Reichsverfassung wurde von der provisorischen Reichsregierung, dem "Rat der Volksbeauftragten", Hugo Preuß, Staatssekretär im Innenministerium beauftragt. Auf einer Versammlung vom 25./26. Januar 1919, an der neben Vertretern der Reichsregierung auch die Länderregierungen teilnahmen, wurden die ersten Preuß'schen Entwürfe erörtert. Zentrales Thema war dabei die Frage, ob das künftige Reich zentralistisch oder föderalistisch organisiert werden sollte. 53 Die Länder, die hier erstmals aktiv in den Fortgang der Verfassungsberatungen eingreifen konnten, setzten gegen den erbitterten Widerstand von Preuß die Schaffung eines aus den Länderregierungen bestehenden Staaten ausschusses durch. Dieser diente ihnen im weiteren Ablauf der Verfassungsberatungen als Plattform zur Geltendmachung ihres Einflusses. 54
b) Vom Staatenausschuß zum Reichsrat Durch Übergangsgesetz vom 4. 3. 191955 trat der neugeschaffene Staatenausschuß an die Stelle des Bundesrates, der damit endgültig zu bestehen aufhörte. Der Staatenausschuß übernahm so die Verordnungsbefugnisse des Bundesrates. Seine gesetzgeberischen Befugnisse sowie seine Zusammensetzung wurden bereits am 10. 2. 1919 durch das "Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt"56 geregelt. Es wurde hier deutlich an die Regelungen über den alten Bundesrat angeknüpft: Jedem Freistaat stand im Staaten ausschuß mindestens eine Stimme zu, bei den größeren entfiel auf jede Million Einwohner eine zusätzliche Stimme. Preußen, das so automatisch über die Mehrheit der Stimmen verfügt hätte, wurde auf ein Drittel der Stimmen beschränkt (§ 2 Abs. 2 des Gesetzes). Ebenso wie der Bundesrat bestand auch der Staaten ausschuß aus Regierungsvertretern (§ 2 Abs. 1), mußte er gr~ndsätzlich Regierungsvorlagen zustimmen, bevor diese an die Nationalversammlung weitergeleitet werden konnten (§ 2 Abs. 1 und 4) und bedurften Reichsgesetze zur Verabschiedung auch seiner Zustimmung (§ 4 Abs. 2). Lediglich die künftige Reichsverfassung sollte alleine von der Nationalversammlung verabschiedet werden (§ 4 Abs. 1); der Staaatenausschuß war hier auf die Abgabe von Stellungnahmen zu den an die Nationalversammlung weitergeleiteten Regierungsentwürfen beschränkt. Am 11. 8. 1919 wurde die neue Reichsverfassung verabschiedet. Sie übernahm den Staaten ausschuß in Form des Reichsrates, der gemäß Art. 179 Abs. 1 WRV an seine Stelle trat. Nur das Recht zum Erlaß von Ver-
53 54 55 56
3*
Walter lellinek, HdbDStR I, S. 129. Huber (FN 50), S. 1182. Wiedergegeben bei Huber (FN 51), Nr. 80. Wiedergegeben bei Huber (FN 51), Nr. 76.
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1. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
ordnungen ging gemäß Art. 179 Abs. 2 WRV nicht über, der Reichsrat war nicht mehr Verordnungs geber. Er begleitete die Tätigkeit der Reichsregierung und wirkte an der Gesetzgebung mit.57 2. Der Reichsrat im Staatsautbau der Weimarer Republik
Nach der Anlage der alten Bismarck'schen Reichsverfassung war der Bundesrat das zentrale Organ im Reich gewesen. In der Praxis hatte er Bismarck zur Absicherung der preußischen Hegemonie gedient unter gleichzeitiger Beachtung der "Souveränität" der übrigen "Mitgliedsstaaten des Bundes". Für die Erfüllung solcher Funktionen durch den Reichsrat bestand in der Weimarer Republik kein Bedarf mehr. Äußerlich wurde dies schon dadurch deutlich, daß der Reichsrat nach Reichstag, Reichspräsident und Reichsregierung in der Verfassung erst an vierter Stelle genannt war. Die Einheit von Reichsregierung, preußischer Regierung und Bundesrat bestand nicht mehr. So stand die Reichsregierung dem Reichsrat nunmehr unabhängig gegenüber, Art. 65 WRV bestimmte nur noch, daß der - nicht stimmberechtigte - Vorsitz im Reichsrat von einem Mitglied der Reichsregierung innegehalten wurde. So wurde weiterhin Preußen zu einem Teil des ganzen, den anderen Teilen gleich und getrennt vom Reich, mit dem es keine Personalunionen oder Organisations einheiten mehr verband. 58 Der Reichsrat war auch kein Organ mehr der verbündeten Regierungen, er war ein Organ des Reiches, geschaffen durch die Reichsverfassung. 59 Dem Reichsrat konnte auch keine "Doppelnatur" wie dem Bundesrat mehr zugeschrieben werden. 60 Die Vorstellung einer vom Reich verschiedenen Gesamtheit der Länder hatte angesichts des klaren Wortlautes in Art. 1 Abs. 1 WRV, der von der "einen" Republik sprach, ihren Sinn verloren. 61 Anders als Bismarck es 1871 noch dargestellt hatte, konnte auch die Gewichtung der einzelnen Länder nicht mehr aus einer Einigung von 1815 abgeleitet werden, anders als 1871 ergab sich die Zusammensetzung des Reiches aus Delegierten der einzelnen Regierungen nicht mehr aus der Anknüpfung an die Strukturen einer völkerrechtlichen Gesandtenkonferenz. Beides hatte durch die vollständige Neubegründung des Staatsaufbaus durch Art. 1 Abs. 1 WRV seinen Sinn verloren, bedurfte neuer Rechtfertigung. Auch wenn der Reichsrat einige äußere Formen des Bundesrates übernommen hatte, zeigte sich hieran, daß seine Stellung im Staatsaufbau gegenüber derje57
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61
Anschütz, Kommentar, vor Art. 60, S. 336. Behnke, Gleichheit, S. 65. Anschütz (FN 3), vor Art. 60, S. 337. Anders aber Bilfinger, HdbDStR I, S. 552 f. Anschütz (FN 59).
III. Der Reichsrat von 1919
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nigen des Bundesrates der Bismarckverfassung vollständig neu definiert werden mußte. 3. Das unterschiedliche Stimmgewicht der Länder und der Sonderfall Preußen
Die Weimarer Republik übernahm vom Kaiserreich zwar nicht die Hegemonie des alles überragenden Teilstaates Preußen. Sie mußte dafür auch mit der Tatsache fertigwerden, daß mit Preußen ein Teilstaat vorhanden war, in dem alleine mehr als die Hälfte der Einwohner des gesamten Reiches lebten, der achthundertmal soviele Einwohner zählte wie der kleinste Teilstaat. 62 a) Die Unmöglichkeit einer schematischen Regelung
Eine solche Einteilung erschwerte von vornherein jeden vernünftigen föderalen Reichsaufbau, widersprach vor allem dem in Art. 18 Abs. 1 WRV postulierten Ziel der Gliederung des Reiches, die "der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen" sollte. 63 Preuß sprach auch im Falle Preußens nicht von einem Land, sondern von einem "engeren, aber zentralisierten Reich". 64 Unausgesprochen setzte die Weimarer Reichsverfassung ein gutes Einvernehmen der bei den Berliner Regierungen voraus, machte das Vorhandensein einer zweiten Regierung, die etwa 60 % des Reiches verwaltete, Sonderabstimmungen zwischen diesen zwei "Zentralregierungen" erforderlich. Auch konnte die Aufgabenverteilung zwischen Reich und Ländern nicht ungeachtet der Tatsache durchgeführt werden, daß sie in den meisten Fällen der Übertragung von Aufgaben auf die Länder eine Dezentralisierung nicht bewirken konnte; im Falle Preußens ließ sich von einer Dezentralisierung angesichts seiner Größe kaum sprechen, im Falle der Kleinst-Länder wie Lippe verlor die Dezentralisierung ihren Sinn, weil diese Länder organisatorisch zur Übernahme vielfältiger Verwaltungsaufgaben kaum in der Lage waren. 65 Eine solche Länderstruktur erschwerte auch - in gleicher Weise wie beim Bundesrat unter Bismarck - den inneren Aufbau des Reichsrates. Da eine Neugliederung Preußens in den Verfassungsberatungen nicht durchgesetzt werden konnte und auch Art. 18 WRV lediglich die Schaffung eines einheitlichen Landes Thüringen sowie die Angliederung Coburgs an Bayern Vgl. Thoma, HdbDStR I, S. 184 f. Thoma (FN 62) S. 185 sprach insoweit von einem "Hohn auf die Reichsverfassung". 64 Preuß, Ist Preußen ein Land?, in: Staat, Recht und Freiheit, S. 436; ähnlich auch Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem, S. 7 ff. 65 Zum Ganzen vgl. Preuß (FN 64), S. 437 f. 62
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
bewirkte,66 mußte versucht werden, die Vertretung Preußens im Reichsrat "irgendwie" zu regeln. Eine Gleichbehandlung Preußens mit den übrigen Ländern war dabei gleich in zweifacher Hinsicht unmöglich: Weder erlaubten die Größenunterschiede eine gleichgroße Vertreterzahl aller Länder noch war eine Ausrichtung alleine an der Bevölkerungszahl möglich, was Preußen eine automatische Mehrheit verschafft hätte. Es mußte wie schon 1871 wieder eine "willkürliche" Stimmverteilung gesucht werden. b) Die Regelung in den Art. 61,63 WRV Der neue Schlüssel zur Verteilung der Stimmen im Reichsrat machte noch einmal den grundlegenden Wandel, der 1918/19 stattgefunden hatte, deutlich. An die Stelle der Einigung zwischen regierenden Fürsten trat die Bemessung der Stimmenzahl an hand der Bevölkerungszahl des jeweiligen Landes. 67 Art. 61 Abs. 1 Satz 2 WRV bestimmte den Grundsatz, daß jedem Land proportional zur Einwohnerzahl eine aus dieser zu errechnende Anzahl von Stimmen im Reichsrat zustand. Nur die bloße Zahl der Einwohner war maßgeblich, jede Abweichung von dieser strengen Proportionalität wurde gemieden. Auch wenn also Art. 61 Abs. 1 Satz 2 WRV in gleicher Weise wie Art. 6 der alten RV eine gewichtete Vertretung der Länder vorsah, hatte sich der Charakter der Regelung entscheidend gewandelt. 68 Dieses Prinzip der Proportionalität erfuhr jedoch zwei Durchbrechungen: Art. 61 Abs. 1 Satz 1 WRV räumte auch dem kleinsten Land Anspruch auf mindestens eine Stimme ein. Da hierdurch auch diejenigen Länder eine Stimme erhielten, die angesichts ihrer geringen Bevölkerungszahl aus dem in Art. 61 Abs. 1 WRV festgelegten Schema eine Stimme = 700.000 Einwohner fielen, wich die Proportionalität hier dem Grundsatz, daß jedes Land im Reichsrat eine Vertretung erfahren sollte. Jedes Land - und sei es auch noch so klein - wurde von der Verfassung als "Land" angesehen und mußte daher auch im Reichsrat vertreten sein. 69 Die zweite Durchbrechung wurde - genauso wie die Gewichtung selbst durch Preußen bedingt. Um die sich nach dem Grundsatz der Proportionalität ergebende automatische Mehrheit der preußischen Stimmen zu vermeiden, beschränkte Art. 61 Abs. 1 Satz 4 WRV diese "willkürlich" auf 2f; der gesamten Stimmenzahl. Man mag dies als "clausula antiborussica" bezeichnen7o ; solange das Land Preußen bestand, war jedoch eine Stimmverteilung, die alle 66 67 68
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Nachweise bei Huber (FN 51), Nr. 185 u. 186. Bilfinger (FN 60), S. 555. Bilfinger (FN 67). Bilfinger (FN 67). Huber, Verfassungsgeschichte, Bd V, S. 1194.
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Länder, Preußen eingeschlossen, in vollständig gleicher Weise behandelt, unmöglich. Auch nach dieser Beschränkung wäre das Gewicht Preußens im Reichsrat noch zu stark gewesen, Mehrheiten gegen die preußische Regierung sehr unwahrscheinlich. Deshalb bestimmte Art. 63 Abs. 2 WRV darüberhinaus, daß die Hälfte der preußischen Stimmen auf die einzelnen Provinzialverwaltungen entfielen, Preußen selbst nur über insgesamt 20 % aller Stimmen verfügte. Diese doppelte Zurücksetzung Preußens, die nach mancher Ansicht seiner "Entrechtung" gleichkam,71 war einerseits unumgänglich, wollte man einen rein preußisch bestimmten Reichsrat verhindern, machte andererseits nochmals die schiere Unmöglichkeit deutlich, Preußen als ein Land den anderen Ländern gleichzustellen. 4. Die Zusammensetzung des Reichsrates
Wie bereits im Staatenausschuß der Übergangszeit waren die Länder auch im Reichsrat gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 WRV durch ihre Regierungen vertreten. So stellte sich die neue republikanische Verfassung bewußt in die Verfassungstradition des Deutschen Bundes und des Bismarckreiches.72 Wieder waren es weisungsgebundene Regierungsvertreter , die im Föderativorgan saßen. Das Erfordernis der einheitlichen Stimmabgabe blieb erneut unerwähnt, ergab sich jedoch aus der Tatsache, daß alle im Reichsrat anwesenden Vertreter eines Landes für dieselbe Regierung sprachen. Art. 63 Abs. 2 WRV stellte ergänzend klar, daß es unmaßgeblich ist, wie viele Vertreter des Landes tatsächlich anwesend sind; auch ein einzelner Stimmführer konnte über die Gesamtzahl der dem Lande zustehenden Stimmen verfügen. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 WRV markierte zugleich einen grundlegenden Wandel. Die Länder sollten nicht mehr durch Ministerialbeamte vertreten werden, sondern durch Mitglieder der Regierungen selbst. Der Reichsrat sollte nicht mehr ein geheimer Rat von Sachverständigen sein, sondern die demokratisch gewählten Länderregierungen sollten auf diesem Forum selbst die Interessen ihrer Länder vertreten. Der Reichsrat sollte "parlamentarisch" werden. 73 Die Staatspraxis ist dem nicht gefolgt. Von spektakulären Ausnahmefällen einmal abgesehen, waren es wieder wie im Bundesrat die Fachleute aus den Ministerien, die im Reichsrat auftraten. 74 § 6 der Geschäftsordnung des Reichsrates bestätigte diese Übung der Entsendung von "stellvertretenden Bilfinger (FN 60), S. 557. Anschütz (FN 3), Nr. 1 zu Art. 63. 73 Nawiasky, Grundprobleme, S. 4l. 74 Nawiasky (FN 73); Rose, Reichsrat, nennt einen solchen Ausnahmefall, dort S.119. 71
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Regierungsdelegierten" in den Reichsrat neben oder eben auch anstelle der in Art. 63 Abs. 1 Satz 1 WRV genannten "ordentlichen" Delegierten, den Regierungsmitgliedern.7 5 Die Kontinuität blieb so noch über den Text der Verfassung hinaus gewahrt. Einen Sonderfall bildeten noch die preußischen Provinzialvertreter , die gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 2 WRV von den Provinzialverwaltungen zu "bestellen" waren. Die Art dieser Bestellung überließ die Reichsverfassung dabei ausdrücklich dem preußischen Landesrecht. § 8 Abs. 2 des ausführenden preußischen Gesetzes vom 3. Juni 192176 bestimmte in Ausführung des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 WRV, daß diese Vertreter über ein freies Stimmrecht verfügten und nicht abberufen werden konnten. Der Reichsrat bestand so zu 20 % aus parlamentarischen Abgeordneten, die frei über ihre Abstimmung entschieden und nur zu 80% aus weisungsgebundenen Regierungsvertretern. 77 5. Funktionen und Stellung des Reichsrates
Der durch die deutliche äußerliche Zurücksetzung des Reichsrates in der Reichsverfassung sichtbar gemachte Wandel manifestierte sich vor allem in seinen im Vergleich zu seinem Vorläufer, dem Bundesrat, erheblich geminderten Funktionen. Der von Bismarck ins Zentrum des Verfassungssystems gestellte Bundesrat ist gleichsam "entthront" worden. 78 a) Funktionenzuweisung durch die Reichsver[assung
Entsprechend der allgemeinen Umschreibung in Art. 60 WRV wurde der Reichsrat an Aufgaben der Legislative wie der Exekutive beteiligt.79 Die Beteiligung des Reichsrates am Gesetzgebungsverfahren war dabei für einfache Gesetze an zwei Stellen geregelt, für Verfassungsänderungen dann nochmals verstärkt. Einfache Gesetze konnten zunächst grundsätzlich nicht ohne Zustimmung des Reichsrates von der Regierung dem Reichstag vorgelegt werden, Art. 69 Abs. 1 Satz 1 WRV. Auch wenn es nun Regierungs- und nicht mehr Bundesratsvorlagen waren, wurden auf diese Weise dem Reichsrat bereits im Initiativstadium Einflußmöglichkeiten auf die Gesetzgebung gewährt. Die Regierung konnte zwar solche Entwürfe auch dann dem Reichs75 Vgl. hierzu Heyland, HdbDStR, S. 568 f.; Zentralblatt für das Deutsche Reich, 47. Jahrgang (1919), S. 1521. 76 Preußische Gesetzessammlung, Jahrgang 1921, 379 ff. (lfd. Nr. 37). 77 Heyland (FN 75), S. 577. 78 Nawiasky (FN 73), S. 45. 79 Eingehend zum folgenden Rose (FN 74), S. 65 ff. sowie Bilfinger (FN 60), S. 561 ff.
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tag vorlegen, wenn der Reichsrat seine Zustimmung verweigerte; dies jedoch nur unter Darlegung der Gründe des Reichsrates (Art. 69 Abs. 1 Satz 2 WRV), was den Einfluß des Reichsrates in gleicher Weise gewährleistete. Die Verabschiedung der Gesetze bedurfte der Zustimmung des Reichsrates nicht mehr. Er war gemäß Art. 74 Abs. 1 WRV auf ein Einspruchsrecht beschränkt. Ein solcher Einspruch konnte nun vom Reichstag gemäß Art. 74 Abs. 3 WRV zurückgewiesen werden. Hierzu bedurfte es jedoch einer schwer zu erlangenden V3-Mehrheit, so daß letztlich der Reichstag die Auffassungen des Reichsrates bei seiner Beschlußfassung bereits mit zu berücksichtigen hatte. Eine dem Reichstag nahezu gleichberechtigte Stellung hatte der Reichsrat lediglich beim Verfahren der Verfassungsänderung bewahren können. Auch hier auf ein Einspruchsrecht beschränkt, genügte es, wie sich aus einem Umkehrschluß aus Art. 76 Abs. 1 Satz 3 WRV ergab, daß 1/3 plus eine der Stimmen im Reichsrat sich gegen die vom Reichstag beschlossene Verfassungsänderung wandten. 80 Ein solcher Einspruch konnte dann vom Reichstag auch nicht durch z/3-Mehrheit wirkungslos gemacht werden, sofern der Reichsrat eine Volksabstimmung verlangte (Art. 76 Abs. 2 WRV). Das dem Bundesrat desweiteren zustehende Recht der Gesetzessanktion ist auf den Reichsrat nicht übergegangen. Art. 68 Abs. 2 WRV bestimmte insoweit eindeutig, daß das Letztbestimmungsrecht stets und nur dem Reichstag zustand. Darüberhinaus stellte sich noch die Frage, ob die Unterscheidung zwischen Feststellung des Gesetzesinhalts und Gesetzessanktion nunmehr, nachdem äußerlich nur noch ein Beschluß des Reichstages vorlag, noch sinnvoll blieb.81 Einen neben dem Reichstag stehenden Souverän, der Gesetzesbeschlüssen Geltungskraft verleiht, gab es jedenfalls nicht mehr.
Im Bereich der Reichsexekutive war eine Einschaltung des Reichsrates an zwei Stellen geregelt: Art. 179 Abs. 1 WRV übertrug die vielfältigen Verwaltungsbefugnisse des vormaligen Bundesrates auf den Reichsrat. Diese reichten vom Biersteuerrecht bis hin zum Vereinsrecht.8z Gemäß den Artikeln 77 Satz 2, 14 WRV bedurften darüber hinaus die allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Ausführung der Reichsgesetze grundSätzlich der Zustimmung des Reichsrates.
Anschütz (FN 3), Nr. 6 zu Art. 76. Bejahend Anschütz (FN 3), Nr. 6 zu Art. 68, 69; verneinend Walter lellinek, HdbDStR 11, S. 163 f. 82 Ausführlich Rose (FN 74), S. 77 ff. 80 81
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
b) Die Stellung des Reichsrates
Gleich seinem Vorgänger vereinigte auch der Reichsrat gesetzgeberische und verwaltungsmäßige Aufgaben in sich. Ein Widerspruch zu dem die Verfassung im ganzen beherrschenden Grundsatz der Gewaltenteilung wurde hierin nicht erblickt. Diese Funktionenvereinigung wurde von Bilfinger vielmehr als "eigenartige, überlieferte Überschneidung des Organtrennungsprinzipes ... durch das bundesstaatliche Prinzip "gesehen.83 Deutlich wird hieran nochmals, wie sehr die Konstruktion des Reichsrates derjenigen des Bundesrates verhaftet war. Nicht aus überzeitlichen Dogmen ist die Stellung des Reichsrates ableitbar, sondern - wie das Zitat Bilfingers verdeutlicht - einzig aus der Überlieferung, der Tradition. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger kam dem Reichsrat schon nach dem Text der Verfassung keine zentrale Rolle im Verfassungssystem mehr zu. Wie dargelegt wurden Gesetze nur noch vom Reichstag beschlossen, Verordnungen von der Reichsregierung erlassen. Selbst diese eingeschränkte Rolle eines nur mitwirkenden Organes war dabei noch weitreichenden Gefährdungen ausgesetzt. So ließ Art. 68 Abs. 1 WRV es zu, daß Gesetzentwürfe der Reichsregierung auch "aus der Mitte des Reichstages", von einer regierungstreuen Mehrheit, eingebracht wurden. Die geschilderten Rechte des Reichsrates im Initiativstadium aus Art. 69 Abs. 1 WRV wurden so umgangen. Vor allem aber konnte sich der Reichsrat einem Gesetz, das seine Abschaffung vorsieht, nicht letztlich widersetzen. Gern. Art. 76 Abs. 2 WRV lag das letzte Wort insoweit beim Volk. Insgesamt erscheint es hiernach nicht übertrieben, wenn Nawiasky feststellt, daß bei einem Vergleich mit dem Bundesrat nach der Analyse der beiden Verfassungen der Reichsrat seine "Machtvollkommenheit" in entscheidendem Umfange eingebüßt hatte. 84 6. Der Reichsrat in der Staatspraxis der Weimarer RepubJik
Der Reichsrat konnte seine von der Verfassung ihm zugewiesenen Funktionen nicht nur ausfüllen; anders als beim vollständig von der preußischen Ministerialbürokratie beherrschten Bundesrat führten die politischen Entwicklungen der Weimarer Zeit beim Reichsrat zu einem Machtzuwachs, der zeitweilig über den Text der Verfassung hinausging.
83
84
Bilfinger ( FN 60), S. 545 ff. Nawiasky (FN 73), S. 42.
III. Der Reichsrat von 1919
43
a) Der Reichsrat im "vereinfachten Gesetzgebungsverfahren" In den Jahren 1919 bis 1924 wurde der Reichsrat maßgeblich im Verfahren der sogenannten "vereinfachten" Gesetzgebung beteiligt. Statt der Verabschiedung durch den Reichstag bedurften die so erlassenen gesetzesvertretenden Verordnungen der Zustimmung einerseits eines Gremiums bestehend aus 28 Mitgliedern des Reichstages, andererseits des Reichsrates. Hier stand der Reichsrat dem Reichstag ausnahmsweise gleichberechtigt gegenüber. 85 Benutzt wurde dieses Verfahren, um der wirtschaftlichen Not der damaligen Zeit Herr zu werden; das von der Verfassung vorgesehene Verfahren erschien der Reichsregierung hierfür nicht geeignet. Etwa 200 solcher ge setzesvertretenden Verordnungen wurden insgesamt erlassen. 86 b) Die Stellung in den verfassungsmäßigen Verfahren Auch im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren konnte der Reichsrat eine gesteigerte Bedeutung erlangen. Der Reichstag war durch die parteipolitischen Gegensätze derart zerrissen, daß er kaum je einmal die in Art. 74 Abs. 3 WRV geforderte 2!J-Mehrheit zur Überstimmung des reichsrätlichen Einspruches aufbrachte. Auch wurde der Reichsrat als einzig funktionierendes Legislativorgan von der Reichsregierung immer dann zu Rate gezogen, stützte sie sich immer dann auf den Reichsrat, wenn der Reichstag aufgrund von Neuwahlen einmal wieder ausfiel.87 Andererseits konnte der Reichsrat politische Entscheidungen kaum beeinflussen. Seine ihm von der Verfassung zugewiesene Rolle als Ratgeber und Begleiter erlaubte ihm stets nur Reaktionen.88 c) Preußen im Reichsrat
Die auf bloße 20 % der Stimmen beschränkte preußische Landesregierung sah sich im Reichsrat nur selten einer geschlossenen Gruppe von Provinzialstimmen gegenüber, die sie im Verein mit anderen Ländern in die Minderheit brachten. Im einzig untersuchten Zeitraum von Juli 1921 bis September 1924 gelangte die preußische Regierung bei insgesamt 2.394 Abstimmungen in gerade 7 Fällen dadurch in die Minderheit, daß die Provinzialvertreter im entgegengesetzten Sinne stimmten. Da es sich bei diesen 7 Fällen jedoch durchweg um wichtigere Abstimmungen handelte, bleibt das Faktum bestehen, daß 85 86 87
88
Triepel, AöR 39 (1920), S. 456 (468). Ausführlich hierzu Poetzsch, JöR 13 (1925), 1 (206 - 216). Poetzsch (FN 86), S. 203 f. Rose (FN 74), S. 98 f.
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
Preußen mit seinen lediglich 20 % der Stimmen sein wahres Gewicht im Reichsrat nicht geltendmachen konnte.89 Parteipolitisch betrachtet profitierte vor allem das in den katholischen Provinzen starke Zentrum von dieser Lage. 9o d) Die Rolle der politischen Parteien im Reichsrat
Gleich wie die Bismarck'sche Reichsverfassung nahm auch die Weimarer Reichsverfassung von den politischen Parteien keine Notiz, sieht man einmal von der abwehrenden Formel in Art. 130 Abs. 1 WRV ab. Im Gegensatz hierzu nahm die Staatsrechtswissenschaft in verstärktem Ausmaße Kenntnis von der nicht mehr hinwegzuleugnenden Bedeutung der Parteien in der Verfassungswirklichkeit .91 Regelmäßig wurde der Einfluß der Parteien als störend für das Funktionieren der Staatsorgane empfunden; insbesondere der sich auf dem Umweg über die parteimäßig gebundenen Länderregierungen auch im Reichsrat manifestierende Einfluß der Parteien war Gegenstand harter Kritik. 92 Eine Herrschaft von "Parteigeist" wurde im Reichsrat ausgemacht, die Kombination des "bündischen Parlamentarismus" als "problematisch" bzw. als "offenbare Anomalie" bezeichnet. 93 Vor allem die Abstimmung über die Bewilligung von Mitteln zum Bau eines neuen Panzerkreuzers ("Panzerkreuzer A") am 17. 12. 1927, mit der die SPD durch die Stimmen Preußens und anderer Länder diesen Bau erst einmal verhinderte, wurde zum Anlaß genommen, den Einfluß der Parteien zu beklagen. Bilfinger ging sogar so weit zu sagen, daß der Reichsrat als Reichsorgan in diesem Fall versagt hätte, indem er sich Parteiinteressen ausgeliefert und somit nicht als für das Ganze verantwortungsvolles Reichsorgan gehandelt hätte. 94 So stand der Reichsrat nicht außerhalb des Einflußbereiches der politischen Parteien, auch wenn betont wurde, daß er gleichwohl ein "sachbezogen" arbeitender Rat geblieben wäre. 95
89 Düesberg, AöR 51 (N. F. 12; 1927) S. 321 (356 ff.); Hummel, Preußen und seine Provinzen, S. 84 f. 90 Rose (FN 74), S. 91. 91 Etwa Koellreutter, Der Deutsche Staat, 1927; Nawiasky, Zukunft der politischen Parteien, 1924; Radbruch, Die politischen Parteien, in: HdbDStR I, S. 285 - 294,1930; Triepel, Die Staatsverfassung, 2. Aufl., 1930. Im einzelnen hierzu später unter D I 1 a im 2. Abschnitt der vorliegenden Arbeit. 92 Bilfinger (FN 60), S. 558 f. 93 Bilfinger, AöR 55 (1929), S. 416 (424 f.). 94 Bilfinger (FN 93), S. 424. 95 Rose (FN 74), S. 109. Zu den hiermit aufgeworfenen Fragen im einzelnen im 2. Abschnitt unter D.
IV. Die Paulskirchenverfassung und die Entwürfe von Hugo Preuß
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7. Das Ende des Reichsrates
Das Ende des Reichsrates 1933/34 fiel mit demjenigen des Staatsganzen der Weimarer Republik zusammen. Er spielte bei der Machtübernahme durch Hitler keine irgendwie geartete aktive Rolle, konnte nach der Anlage der Verfassung das völlige Versagen erst des Reichstages und dann auch der Reichsregierung unter Brüning nicht ausgleichen. Präsidialkabinette herrschten gern. Art. 48 Abs. 2 WRV auf der Grundlage von präsidentiellen Notverordnungen. Der Reichsrat wurde in der Schlußphase der Weimarer Zeit nicht gebraucht. Der Reichsrat wurde auf einem quasi föderalistischen Weg jeder Einflußmöglichkeit beraubt. Mit den preußischen Landtagswahlen vom 20. 4. 1932, die NSDAP und KPD zusammen eine "negative" Mehrheit der Sitze brachten, fiel der letzte demokratische Pfeiler weg. Hiernach waren nur noch nationalsozialistische oder geschäftsführende Regierungen - wie die Regierung Braun in Preußen - im Amt. Nachdem die Reichsregierung Hitler durch das Ermächtigungsgesetz am 24. 3. 1933 instand gesetzt wurde, Gesetze durch Regierungsbeschluß zu verabschieden, ermächtigte sie sich, Länderparlamente aufzulösen und Reichsstatthalter einzusetzen. Dort, wo immer noch demokratische Landesregierungen - geschäftsführend - im Amt waren, wurden diese abgesetzt. So wurde auch der Reichsrat nationalsozialistisch. Als schließlich nur noch überflüssig wurde der Reichsrat am 14. 2. 1934 abgeschafft. 96 IV. Die Paulskirchenverfassung und die Entwürfe von Hugo Preuß Die deutsche Verfassungsgeschichte ist nicht nur durch die bisher aufgezeigte Entwicklungslinie vom Frankfurter Bundestag über den Bismarck'sehen Bundesrat zum Weimarer Reichsrat gekennzeichnet. Sie kennt nicht nur die Abfolge von Föderativorganen, die sich jeweils aus weisungsgebundenen Vertretern der einzel- bzw. gliedstaatlichen Regierungen zusammensetzen. Als eine zweite Linie läßt sich das - stets vergebliche - Ringen um die Einführung des Senats systems nach US-amerikanischem Vorbild in das deutsche Verfassungsrecht auffinden. Zweimal wurde zwischen 1815 und 1934 dieser Versuch unternommen, an die Seite der unitarischen Volkskammer ein "Staatenhaus" zu stellen, das aus frei abstimmenden Abgeordneten bestünde, die frei vom jeweiligen Landesvolk oder dessen Vertretung gewählt werden würden: 1848/49 in der insoweit niemals in Kraft getretenen Paulskirchenverfassung und 1918/19 in den ersten Entwürfen des Schöpfers der Weimarer Reichsvefassung, Hugo Preuß. 96
Im einzelnen hierzu ausführlicher Rose (FN 74), S. 37 - 40 und 47 - 51.
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
1. Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849
a) Das Werk der Paulskirche Am 18. Mai 1848 konstituierte sich die erste Deutsche Nationalversammlung, hervorgegangen aus allgemeinen Wahlen. Diese waren ermöglicht worden infolge der Umwälzungen, die im Frühjahr 1848 ganz Deutschland ergriffen und etwa in Österreich den seit Jahrzehnten die deutsche Politik bestimmenden Kanzler Metternich zum Rücktritt gezwungen hatten. 97 Aufgabe der Nationalversammlung ("Paulskirchenversammlung") war die Ausarbeitung einer Verfassung für ein Deutsches Reich. Als sie dieses Werk am 28. 3. 1849 vollendete, stand das Scheitern der Paulskirche bereits fest; die gerade erst entmachteten Fürsten hatten ihre Macht wieder erlangt, die Verfassung blieb ein Entwurf.98 b) Der Reichsaufbau und die Natur des Staatenhauses Deutschland wurde in § 1 des Entwurfes als "Deutsches Reich" bezeichnet. Schon dies deutete den vollständigen Wandel gegenüber dem Deutschen Bund, wie er durch Bundesakte und Wiener Schlußakte konstituiert war, an. Deutschland sollte kein "völkerrechtlicher Verein" souveräner Staaten, sondern ein einheitlicher, deutscher Staat sein. War man sich insoweit bei den Beratungen einig, so bildete die Frage, ob Deutschland als zentralistischer oder als föderal gegliederter Staat konzipiert werden sollte, einmal mehr einen der Hauptstreitpunkte. 99 Die linke Fraktion, die die althergebrachte "Kleinstaaterei" beseitigen wollte und die Idee der "republique une et indivisible" verfocht, konnte sich letztlich jedoch nicht durchsetzen. Der Entwurf sah vielmehr eine Aufrechterhaltung der alten Länder vor. Auch wenn diese schon damals mit Sprach- und Stammesgrenzen sich schnitten, oftmals bloße napoleonische Zufalls- und Willkürbildungen waren, sollte so Kontinuität gewahrt werden. Diese Staatenstruktur sollte dann auch in einer zweiten Kammer des "Reichstages" zum Ausdruck kommen. Getreu dem amerikanischen Vorbild wurde dem Volkshaus mit dem Staatenhaus eine zweite, föderalistische Kammer zur Seite gestellt. Auf diese Weise konnten auch das revolutionär Neue in Gestalt des Volkshauses mit dem Überlieferten, dem Föderativorgan, verbunden werden; ein Kompromiß zugleich zwischen Konservativismus und Liberalismus sowie Föderalismus und Unitarismus war gefunden. 101 Scheyhing, Deutsche Verfassungsgeschichte, 13. Kap., § 3. Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 124 f. 99 Zum folgenden Huber, Verfassungsgeschichte, Bd H, S. 792 ff. 100 entfällt
97
98
IV. Die Paulskirchenverfassung und die Entwürfe von Hugo Preuß
47
c) Die gewichtete Repräsentation der einzelnen Länder
Angesichts der überragenden Größe der beiden deutschen Vormächte Österreich und Preußen stellte sich bei der Ausarbeitung der Regelungen über das Staatenhaus sogleich das Problem, wie man die jedem Staat zustehende Anzahl der Repräsentanten berechnen sollte.!02 Einig war man sich darüber, daß jeder Staat entsprechend seiner Bevölkerungszahl repräsentiert werden sollte. Weil sich hieraus jedoch automatische Mehrheiten für Preußen und Österreich ergeben hätten, die deutschen Mittel- und Kleinstaaten so erdrückt worden wären, wurden Preußen und Österreich willkürlich auf 40 bzw. 38 bei insgesamt 192 Mitgliedern im Staatenhaus beschränkt. Ein korrigierendes Prinzip lag dieser Berechnung dabei nicht zugrunde, einzig das Bestreben, eine HegemonialsteIlung Preußens und Österreichs zu verhindern. d) Die Stellung der einzelnen Repräsentanten
Deutlich angelehnt an die Regelungen in der US-Verfassung über den amerikanischen Senat wurden die Bestimmungen über den Wahlmodus und das Mandat der Abgeordneten im Staatenhaus. Gemäß § 96 des Entwurfes waren zunächst die Abgeordneten beider Häuser, also auch diejenigen des Staatenhauses, nicht an Weisungen gebunden. Hier wurde die Abkehr vom Bundestag mit seinen weisungsgebundenen Vertretern der regierenden Fürsten besonders offensichtlich. Wiederum als Komprorniß stellte sich die Regelung des § 88 des Entwurfes dar. Die eine Hälfte der Abgeordneten sollte entsprechend dem amerikanischen Vorbild von den gliedstaatlichen Volksvertretungen gewählt,103 die andere dagegen von den jeweiligen Regierungen ernannt werden. So wurde auch insoweit ein vollständiger Bruch mit der durch den Deutschen Bund geprägten Verfassungstradition nicht unternommen; das Staatenhaus bildete hiernach einen Zwitter.!04
101 Huber (FN 99), S. 785. Diese Idee, das Zweikammersystem als eine Frucht des eben dargestellten Kompromisses anzusehen, wird in der vorliegenden Arbeit noch weiter konkretisiert werden. In gleicher Weise beherrscht diese Idee die Beratungen im gleichen Jahre in der Schweiz (vgl. Rappard, Bundesverfassung, S. 168) sowie diejenigen zuvor in den USA (Der Föderalist, Nr. 39, S. 222 ff.(224». 102 Zum folgenden Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus, S. 642 - 645. 103 In den USA wurden die Senatoren bis 1913 von den gliedstaatiichen Parlamenten gewählt; erst in jenem Jahr wurde die Volkswahl eingeführt. Vgl. hierzu Jaag, Die zweite Kammer, S. 95 sowie U.S.Constitution, Art. I Sec. 3 Cl. 1 und Amendment XVII. 104 Botzenhart (FN 102), S. 643.
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
e) Funktionen des Staatenhauses
Ganz entsprechend dem US-amerikanischen Vorbild des Senates wurden auch die Funktionen des Staatenhauses geregelt. Gemäß § 100 des Entwurfes konnten Reichsgesetze grundsätzlich nur durch übereinstimmende Voten beider Häuser zustandekommen; das Staatenhaus war hiernach dem Volkshaus gegenüber gleichberechtigt. Auch dieses Gleichgewicht stellte wiederum das Ergebnis eines Kompromisses dar. Wollten die Progressiven dem Staatenhaus nur ein suspensives Veto zugestehen, sahen die Konservativen in ihm einen wichtigen Schutz gegen die "Krawall-Souveränität". 105 In gleicher Weise wie das Zweikammersystem überhaupt, kam auch dieses Gleichgewicht beider Kammern als Komprorniß divergierender politischer Strömungen zustande. Dem so konsequent als eine Kammer des Parlamentes ausgestalteten Staatenhaus konnten keine Kompetenzen der Exekutive zukommen. Es war als föderal strukturierte Parlamentskammer entworfen und nicht als Ländervertretung. f) Bedeutung des Paulskirchenentwurfes
Die organisatorischen Bestimmungen der Paulskirchenverfassung sind niemals in Kraft getreten. Man könnte hieraus mit ForsthofflO6 den Schluß ziehen, daß sich jede nähere Darstellung dieses Verfassungsentwurfes erübrigt. Die hier erstmals ausgetragene Auseinandersetzung um die Rechtsnatur des Föderativorganes und die dabei gefundenen Lösungen rechtfertigen diese Darstellung jedoch durch ihre Ausstrahlungswirkung. 107 Sowohl Hugo Preuß 1918/19 als auch der Parlamentarische Rat 1948/49 griffen später auf diesen ersten deutschen Entwurf einer "Staatenhaus-Lösung" zurück. 2. Die Entwürfe von Hugo Preuß
Hugo Preuß schrieb bereits im Januar 1919, daß es wohl zu den umstrittensten Fragen zählen würde, ob der Volksvertretung eine Zweite Kammer zur Seite zu stellen und wie diese zu gestalten wäre. IOS Seine verschiedenen Entwürfe zur neuen Reichsverfassung legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Gleichzeitig verdeutlichen die in verschiedenen Abhandlungen, Artikeln und Reden enthaltenen Begründungen, wie sehr Preuß die Fragen nach Zusam-
105 106
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Zitiert bei Botzenhart (FN 102), S. 646. Forsthoff (FN 98), S. 125. Scheyhing (FN 99), 13. Kap., § 7 a. E. Preuß (FN 20), S. 391.
IV. Die Paulskirchenverfassung und die Entwürfe von Hugo Preuß
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mensetzung, Funktion und Stellung eines Föderativorganes überdachte und wie deutlich ihm auch der Zusammenhang dieser Einzelfragen war. a) Der Problemfall Preußen
Mit kaum einem anderen Problem hat Preuß sich so häufig auseinandergesetzt wie mit der Umgestaltung ("Zerschlagung")109 des Großstaates Preußen. Ausgehend von einer eingehenden und zugleich von fast manischer Abneigung gegen Preußen geprägten Analyse der Bismarckverfassung lassen sich Preußens Gedanken hier in einem einzigen, auch von ihm wiederholt zitierten Satz zusammenfassen: "Der Löwe und die Maus können sich nicht konföderieren. "110 Der Fortbestand bzw. die Aufteilung Preußens waren für Preuß das "Kernproblem der künftigen inneren Gestaltung Deutschlands" 111 schlechthin, ein Fortbestehen Preußens erschien ihm widernatürlich und politisch widersinnig. 112 Preuß wies deutlich darauf hin, daß es Essentiale eines Bundesstaates sei, daß die Gliedstaaten eine in etwa gleiche Größe aufwiesen; Preußen, in dem etwa 4f7 der Reichsbevölkerung lebten, war für ihn nur ein zweites, aber zentralisiertes Reich. Ein ernsthafter Konflikt zwischen der Reichsregierung und der preußischen Landesregierung mußte den gesamten Reichsaufbau erschüttern,113 was - wie oben dargelegt - 1932 auch geschah. In § 29 Abs. 1 seines Entwurfes I vom 3. 1. 1919 teilte Preuß Preußen konsequent auch in neugebildete Freistaaten wie Preußen, Schlesien, Brandenburg, Westfalen usw. auf, die jeder etwa die Größe Bayerns gehabt hätten. 114 Bereits im Entwurf 11 vom 20. 1. 1919 jedoch war von dieser Aufteilung Preußens nichts mehr geblieben. Ähnlich wie der spätere Art. 18 WRV sah § 11 dieses Entwurfes nur noch die Möglichkeit einer Neugliederung vor.1 15 b) Das Föderativorgan
Ein Grundzug der Preuß'schen Entwürfe und grundsätzlich auch der endgültigen Fassung der Weimarer Reichsverfassung war die starke Ausprägung der Volksrechte. Der Reichspräsident wurde vom Volk gewählt (Art. 41 109 Ein Schlagwort, das Preuß immer wieder entgegengeworfen wurde; Preuß (FN 32), S. 136 oder Erklärung vom 25. 1. 1919, in Huber, Dokumente, Bd3, Nr. 40. 110 Preuß (FN 32), S. 41 (nach Constantin Frantz, Föderalismus, S. 49). 111 Preuß (FN 20), S. 374. 112 Preuß (FN 20), S. 377. 113 Preuß (FN 32), S. 135. 114 Abgedr. in: Triepel, Quellensammlung, Nr. 7. 115 Abgedr. aaO (FN 114), Nr. 10.
4 Heger
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
Abs. 1 WRV) , über alle Reichsgesetze, selbst den Haushaltsplan, konnten Volksentscheide veranlaßt werden (Art. 73 WRV) und sogar vom Reichstag beschlossene Gesetze konnten durch einen Volksentscheid anulliert werden (Art. 75 WRV). Es war hiernach nur konsequent, wenn Preuß neben den Reichstag, der Vertretung des ganzen deutschen Volkes, ein Staatenhaus, eine Vertretung des deutschen Volkes, gegliedert in die einzelnen Freistaaten, stellen, eine dem Reichstag gleichberechtigte Vertretung einzelstaatlicher Regierungen dagegen nicht dulden wollte. 116 Darüber hinaus war für Preuß die Erkenntnis maßgebend, daß mit der preußischen Monarchie auch das Herzstück des Bismarck'schen Verfassungsaufbaus, der Bundesrat, fallen müßte. Ein Fortdauern dieser Institution, die nach seiner Analyse der entscheidende Baustein im System der preußischen Hegemonie war, kam für ihn nicht in Betracht. ll7 Auch für die einzelnen Freistaaten bietet nach Preuß die Staatenhauslösung Vorteile: 118 nur in einem solchen Staatenhaus würden die Interessen der Landesvölker zur Geltung kommen können, nur so wäre eine "föderative Demokratie" möglich; ein Bundesrat bliebe dagegen ein unkontrollierbares Regierungsorgan. Entscheidend sei jedoch, daß ein Staatenhaus im Gegensatz zu einem Bundesrat gegenüber dem Reichstag gleichberechtigt sein könnte. Versehen mit der gleichen demokratischen Legitimierung könne ein Staatenhaus dem Reichstag gleichberechtigt sein; ein Bundesrat dagegen, der sich aus instruierten Regierungsvertretern zusammensetzt, müßte wegen seiner minderen Legitimität dem Reichstag nachgeordnet sein. Schließlich würde sich die Zahl der Vertreter eines einzelnen Staates im Staatenhaus proportional an der Bevölkerungszahl der Staaten ausrichten können,119 während doch bei einer Bundesratslösung schon Preußen kunstvolle Berechnungen erfordere. In allen diesen Erwägungen wird nochmals das von Preuß dem Volk bzw. seinen unmittelbaren Vertretungsorganen, den Landtagen und dem Reichstag, zuerkannte Primat ersichtlich. Alleine das Volk selbst, oder von ihm unmittelbar legitimierte Organe, können berechtigt sein, Beschlüsse des obersten Reichsorganes, des Reichstages, zu hemmen. Die Konstruktion eines dem Reichstag gleichberechtigten Reichsrates wäre für Preuß eine Mißachtung dieses dem Volk gebührenden Ranges, ein Relikt aus Zeiten der konstitutionellen Monarchie, der Gleichberechtigung von Volk und "Souverän" (= Regierung), so wie sie noch dem Wortlaut der Verfassung nach im Bismarckreich bestand. Preuß (FN 20), S. 392. Preuß (FN 20), S. 392 f. 118 Zum folgenden Preuß (FN 117). 119 Preuß (FN 117) spricht insoweit von einer "natürlichen Verteilung des Stimm gewichtes der Einzelstaaten nach ihrer Einwohnerzahl". 116
117
v.
Entstehung des Bundesrates im Parlamentarischen Rat
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Der nach seinem Schöpfer benannte "Entwurf Preuß" (Entwurf II)12o sah dann auch einen Reichstag, bestehend aus Volkshaus und Staatenhaus vor. Beide Häuser bestanden aus frei gewählten Abgeordneten, die Abgeordneten des Staatenhauses wurden dabei von den gliedstaatlichen Landtagen gewählt (§ 32). In das Staatenhaus durfte jeder Freistaat pro Million Einwohner einen Abgeordneten, Preußen jedoch nicht mehr als Y3 der Gesamtzahl der Abgeordneten entsenden (§ 33); zu einem Gesetzesbeschluß sollte das übereinstimmende Votum beider Häuser erforderlich sein (§ 51). Mit diesen Regelungen knüpfte Preuß deutlich an die oben wiedergegebenen Regelungen aus dem Paulskirchen-Entwurf von 1849 an. Nicht nur die bereits programmatischen Namen wiesen daher auf jene erste deutsche demokratische Verfassung hin, auch die Ausgestaltung der Organe selbst richtete sich grundsätzlich nach jenem Vorbild. Lediglich die von der PaulskirchenVerfassung für das Staatenhaus vorgesehenen Regierungsvertreter entfielen nunmehr vollständig. Der nachfolgende Entwurf III vom 17. 2. 1919 sah bereits die Einrichtung eines Reichsrates vor .121 c) Schicksal der Preuß'schen Entwürfe
Beide hier aufgezeigten Kernideen, die Aufteilung Preußens und die Einrichtung eines Staatenhauses, mußte Preuß fallenlassen; beide waren nicht durchsetzbar. Preuß war aber einer der ersten, der so deutlich den Zusammenhang von Form und Funktion des Föderativorganes sah und diesen in seinen Entwürfen umsetzte. Seine Gedankengänge wurden 30 Jahre später, bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat, wieder aufgegriffen. Sie sind darüber hinaus beispielhaft für eine eingehendere Erörterung der in der vorliegenden Arbeit behandelten Fragen; es wird daher auch im folgenden auf diese Preuß'schen Entwürfe und seine Begründungen zurückzukommen sein. V. Entstehung des Bundesrates im Parlamentarischen Rat Bei der Frage, wie ein Förderativorgan durch das künftige Grundgesetz auszugestalten wäre, sahen die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat sich zwei Entwicklungslinien gegenüber: die eine führte vom Frankfurter Bundestag über den Bismarck'schen Bundesrat zum Weimarer Reichsrat, die andere wurde durch die Entwürfe der Paulskirchen-Versammlung und von Hugo Preuß gebildet. 122 Man war so in der Lage, Kontinuität in diesem Teilbereich
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4*
Nachweise in FN 115. Art. 18 des Entwurfes 111, wiedergegeben bei Triepel (FN 114), Nr. 13.
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
zu gewährleisten, wo im übrigen doch ein vollständiger Neuanfang erforderlich war. Ein ganz neuer Staat war aufzubauen, das Deutsche Reich existierte faktisch nicht mehr. Angesichts der Katastrophe des Nationalsozialismus galt es, aus möglichen Fehlern in der Weimarer Verfassung zu lernen, die Funktionen der beteiligten Staatsorgane neu zuzuordnen, um so - vielleicht - eine erneute Katastrophe zu verhindern. 123 Vor diesem Hintergrund mußte gerade auch die Stellung des zukünftigen Föderativorganes neu definiert werden. Die Erinnerung an das Versagen der unitarischen Organe Reichstag und Reichspräsident war noch zu präsent. 1. Die Ausgangspositionen
Einmal mehr bildete die Frage nach der Ausgestaltung des Föderativorganes einen der Hauptstreitpunkte in den Verfassungsberatungen.l 24 Dabei war man sich jedoch zumindest darin einig, daß auf Bundesebene das "Element Land" irgendwie zur Geltung gelangen sollte. 125 Dies ergab sich wiederum aus der damaligen Situation nahezu zwangsläufig. Eine irgendwie geartete föderale Struktur stellte gleichzeitig eine Reaktion auf den Zentralismus des ,,111. Reiches" dar und eine Konsequenz des Neuaufbaus auf dem Weg über die neu gegründeten Länder. Außerdem entsprach ein solcher föderaler Aufbau auch den Wünschen der Siegermächte. 126 Darüber jedoch, ob das "Element Land" durch einen Bundesrat oder einen Senat zur Geltung zu bringen sei, konnte man sich zunächst im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee nicht einigen. Der sogenannte HerrenchiemseeEntwurf sieht daher alternativ eine "Bundesratsvariante" und eine "Senatsvariante" vor.l 27 Nach der Bundesratslösung sollte das Föderativorgan wie schon seine Vorläufer Bundesrat und Reichsrat aus weisungsgebundenen Vertretern der Länderregierungen bestehen; nach der Senatslösung hingegen entsprechend dem Vorbild des oben dargestellten Entwurfes Preuß aus Senatoren, die von den einzelnen Landtagen zu wählen wären.
122 V. Doemming u. a., JöR 1 (1951), S. 1 (380) sieht auch diese zwei Linien; er übergeht jedoch den Bundestag und Preuß, fügt stattdessen den Immerwährenden Reichstag in die zuerst genannte Reihe ein; zu diesem unter A, vor 1. 123 Morsey, Entstehung, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Macht, S. 66. 124 V. Mangoldt, Kommentar, S. 262. 125 Eine häufig gebrauchte Wendung; v. Mangoldt (FN 124); v. Doemming (FN 122), S. 379. 126 Morsey (FN 123), S. 65 f. Die Rolle der "Vorgaben" der Alliierten ist dabei im einzelnen umstritten; näher hierzu Morsey, aaO. mit weiteren Nachweisen. 127 Wiedergegeben bei v. Doemming (FN 122), S. 383.
v.
Entstehung des Bundesrates im Parlamentarischen Rat
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Die Gruppen derjenigen, die entweder die Bundesrats- oder die Senatslösung oder schließlich Mischmodelle bevorzugten, deckten sich dabei nicht ganz mit den im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteigruppierungen. 128 So befürworteten die SPD-Vertreter die Senatsvariante, ebenso wie zunächst ein Teil der CDU, wohingegen ein anderer Teil der CDU mit der CSU der Bundesratsvariante anhing und die FDP schließlich ein Mischmodell wie in der Paulskirchenverfassung durchzusetzen versuchte. Adenauer suchte beständig, die CDU-Vertreter zu einer einheitlichen Linie zu bringen; schließlich gelang es ihm, die Partei nach einer Intervention v. Mangoldts auf das von diesem befürwortete gemischte System nach dem Vorbild der Paulskirche zu verpflichten. 129 Kompliziert wurden diese Verhältnisse auch dadurch, daß man zwar allgemein einen Zusammenhang zwischen Form und Funktion des Föderativorganes sah, diesen jedoch gegenläufig bewertete. Sowohl die Vertreter der Bundesrats- als auch diejenigen der Senatsvariante befürworteten eine gleichberechtigte Stellung dieses Organes gegenüber dem unitarischen Bundestag. 13o 2. Die Einigung
Eine Annäherung der bezeichneten Positionen erschien zunächst nicht möglich. Der Durchbruch wurde dann bei einem Abendessen zwischen dem SPDAbgeordneten Menzel und dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard, CSU, erzielt, dem "interessantesten Vorgang" in der Arbeit des Parlamentarischen Rates. l3l Das Besondere an dieser Einigung ist zunächst, daß Menzel kein Mandat für solche Besprechungen hatte und Ehard dem Parlamentarischen Rat überhaupt nicht angehörte. Diese Einigung über die Fraktionen hinweg sorgte dann auch für entsprechende Kritik, vor allem aus den Reihen der CDU/ CSU.132 Menzel und Ehard hatten sich auf eine Bundesratslösung verständigt. Die Gründe, warum sich Menzel überzeugen ließ, sind unbekannt. Es dürfte jedoch die Überlegung ausschlaggebend gewesen sein, daß die in mehreren Ländern recht starke SPD von diesem System nur profitieren könnte. Auch
Morsey (FN 123), S. 67. V. Mangoldt (FN 124), S. 265. 130 Morsey (FN 123), S. 67; v. Doemming (FN 122), S. 615; für die CDU in diesem Sinne Dr. Süsterhenn, ParI. Rat, Hauptausschuß, 48. Sitzung, S. 124. 131 V. Mangoldt (FN 124), S. 266 nach Heuss, ParI. Rat, Steno Ber., 10. Sitzung, S.207. 132 Morsey (FN 123), S. 71 f. Auch bei v. Mangoldt (FN 124), S. 266 f. wird deutlich, daß er sich übergangen fühlte. 128
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
gilt es als sehr wahrscheinlich, daß Ehard im Gegenzug die Forderung nach der gleichberechtigten Stellung des Bundesrates fallen ließ.133 Die CDUlCSU-Fraktion konnte sich diesem Komprorniß nur mit knapper Mehrheit anschließen und dies nur unter dem Vorbehalt, daß den Ländern ein abgestuftes Stimmrecht eingeräumt würde. 134 Schließlich wurde diese Bundesratslösung in der Abstimmung vom 9. 2. 1949 im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates mit großer Mehrheit angenommen.!35 Doch auch hier waren die Spannungen nochmals deutlich geworden, denn Sprecher von FDP, SPD und CDU/CSU machten kurz vor der Abstimmung in "persönlichen Stellungnahmen" ihre Vorbehalte gegen die gefundene Lösung deutlich, so daß die im Anschluß hieran von Renner, KPD, gestellte Frage, wer eigentlich noch die Bundesratslösung befürworte, verständlich ist. 136 3. Die nähere Ausgestaltung des Bundesrates
Bereits die Entstehung des Bundesrats-Kompromisses verdeutlicht, wie eng die Frage nach der Form des Föderativorganes im Zusammenhang mit weiteren Fragen wie derjenigen nach der Kompetenz dieses Organes gesehen wurde. Dabei dürfte es zu oberflächlich sein, wollte man davon ausgehen, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hätten alle diese Sachfragen nur unter dem einzigen Aspekt der Parteiengeometrie betrachtet. 137 Die Frage nach der Anzahl der Vertreter der einzelnen Gliedstaaten wurde in bewußter Anknüpfung an die Verfassungstradition entschieden. Art. 51 Abs. 2 GG sieht eine gewichtete Vertretung der einzelnen Länder vor; gewichtet entsprechend der Einwohnerzahl, um so die großen Länder nicht zu brüskieren, andererseits aber auch nicht rein proportional, um erneute Hegemonialstellungen, etwa Nordrhein-Westfalens, zu verhindern. 138 Ein unlösbarer Zusammenhang bestand, wie gezeigt, zwischen den Fragen nach der Form und den Funktionen des Föderativorganes. 139 Nachdem die Entscheidung zugunsten der Bundesratslösung gefallen war, mußten die Kompetenzen des Bundesrates im einzelnen festgelegt werden; eine dem BundesMorsey (FN 132); v. Mangoldt (FN 124), S. 267. Morsey (FN 123), S. 73. 135 Morsey (FN 123), S. 76 sowie ParI. Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 48. Sitzung, S. 634 f. 136 V. Mangoldt (FN 124), S. 266 f. sowie ParI. Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 48. Sitzung, S. 634. 137 In diese Richtung geht die Darstellung Morseys, (FN 123), S. 71 und 75. 138 V. Mangoldt (FN 124), S. 264,278. 139 V. Doemming (FN 122), S. 380 und 383 f. 133 134
V. Entstehung des Bundesrates im Parlamentarischen Rat
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tag gleichberechtigte Stellung schied aus, wurde mit den SPD-Stimmen im Parlamentarischen Rat abgelehnt. l40 Die Kompetenzen des Bundesrates sind im Grundgesetz an den verschiedensten Stellen verstreut geregelt; ein Zuständigkeitskatalog fehlt. Auf diese Weise sollte bereits optisch deutlich gemacht werden, daß der Bundesrat nur ein nachgeordnetes Organ ist. 141 Gemäß Art. 77 Abs. 2 - 4 GG ist so nach der Anlage des Grundgesetzes der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich auf ein Einspruchsrecht beschränkt; diejenigen Fälle, in denen seine Zustimmung erforderlich wird, sind besonders geregelt. Die Fälle, in denen zum Zustandekommen eines Bundesgesetzes die Zustimmung des Bundesrates erforderlich würde, sollten gegenüber dem Normalfall des bloßen Einspruchsrechtes die Ausnahme bilden.1 42 Auch in diesen Fällen werden darüber hinaus die Gesetze gemäß Art. 77 Abs. 1 GG einzig vom Bundestag verabschiedet. Entsprechend den Vorbildern des Bundesrates der Bismarckverfassung und des Reichsrates der Weimarer Reichsverfassung, ist der Bundesrat auch an Aufgaben der Exekutive in weitem Umfange beteiligt. Verordnungsgeber ist zwar nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG stets ein Regierungsorgan; vielfach bedürfen diese Verordnungen jedoch der Zustimmung des Bundesrates, vor allem gemäß Art. 80 Abs. 2 GG. 4. Die Kritik v. Mangoldts
V. Mangoldt war Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Parlamentarischen Rat. Er war es gewesen, der den Streit in der Fraktion um die richtige Form des Föderativorganes dadurch zu überbrücken half, daß er ein für alle akzeptables Mischmodell nach dem Vorbild der Paulskirchenverfassung entwarf.1 43 Seine, in der ersten Auflage seines Kommentares enthaltene Kritik an der schließlich gefundenen Lösung sei hier wiedergegeben. Sie stellt eine erstmalige Auseinandersetzung mit den Beratungen im Parlamentarischen Rat und dem Grundgesetz selbst dar, die manche Spannungen im Verfassungskompromiß deutlich werden läßt: Besonders deutlich kritisierte v. Mangoldt die nach seiner Ansicht nicht gerechtfertigte unterschiedliche Gewichtung der Länder. l44 Wenn mab die Einrichtung des Bundesrates damit begründe, daß hier der Sachverstand der Länderregierungen zur Geltung gelangen solle, so könne dieser doch kaum an
V. Mangoldt (FN 124), S. 267. Ossenbühl, AöR 99 (1974), S. 369 (384); v. Doemming (FN 122), S. 619 f. 142 V. Mangoldt (FN 124), S. 268; v. Brentano, DÖV 1949, S. 270 (271); Nawiasky, Grundgedanken, S. 59; Morsey (FN 123), S. 75. Eine Übersicht findet sich bei Ossenbühl (FN 141), S. 373 - 375. 143 V. Mangoldt (FN 124), S. 265. 144 V. Mangoldt (FN 124), S. 271 f. 140 141
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I. Abschnitt: A. Vorläufer und Entstehung des deutschen Bundesrates
der jeweiligen Einwohnerzahl gemessen werden. Auch wenn man seinen Zweck darin sehe, daß die Länderinteressen zu Wort kommen sollen, könnten die Länder nicht unterschiedlich gewichtet werden, weil die Länder als gleichberechtigte Glieder dem Bund gegenüber stünden. Erscheint nun bei dem ersten Kritikpunkt die Frage der Form des Organes mit der Frage nach der Gewichtung zu wenig differenzierend vermengt, wird im zweiten Bedenken ein grundsätzlicher Gedanke deutlich. Hier wird die Frage nach einer grundsätzlichen Gleichheit der Gliedstaaten aufgeworfen, die sich auch in einer numerisch gleichen Vertreterzahl auszudrücken habe. Hierauf wird noch im einzelnen unter Punkt Ades H. Abschnittes einzugehen sein. Weiterhin sah v. Mangoldt die Frage nach den Mitgliedern im Bundesrat als ungeklärt an. 145 Legte man Art. 51 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG streng aus, müßten bis zu fünf Regierungsmitglieder pro Land im Bundesrat anwesend sein, wodurch die übrigen Regierungsgeschäfte notwendig leiden müßten. Eine solche Präsenz erschien angesichts des Gebotes der einheitlichen Stimmabgabe vollends überflüssig. Doch erkannte auch v. Mangoldt schon, daß sich das Problem durch das Institut eines stimmführenden Ministers beseitigen ließe.l 46 Schließlich war für v. Mangoldt eines der Hauptargumente für die Bundesratslösung, daß nämlich ein Bundesrat im Gegensatz zu einem Senat sachbezogen und frei von parteipolitischen Erwägungen arbeiten würde,147 nicht stimmig. So war für ihn bereits die Gewichtung der Länder in Art. 51 Abs. 2 GG im wesentlichen ein Ergebnis der Parteien arithmetik und bildeten sich auch bei den Abstimmungen im Bundesrat deutlich parteigebundene Gruppen. 148 Auch ein solcher Bundesrat würde eben aus letztlich parteigebundenen Regierungen gebildet werden und könne daher nicht außerhalb der Parteipolitik stehen. Auf die hier deutlich werdende Bedeutung der Parteipolitik im Bundesrat wird noch ausführlich in Punkt D des H. Abschnittes zurückzukommen sein.
V. Mangoldt (FN 124), S. 269. V. Mangoldt bezeichnet die Interpretation eines Abgeordneten im ParI. Rat, nach der Art. 51 Abs. 1 GG eine solche Stimmführung zuläßt, als authentisch (FN 124), S. 278 f. 147 Referiert bei v. Mangoldt (FN 124), S. 262. 148 V. Mangoldt (FN 124), S. 270 f. 145
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B. Die Geschichte der Tagsatzung und der Weg zum Ständerat Napoleon, der 1798 französische Truppen in die Schweiz einmarschieren ließ, die alte Eidgenossenschaft beseitigte und eine "Republique Helvetique une et indivisible" an ihre Stelle setzte, mußte schon 1802 gegenüber schweizerischen Gesandten erkennen: "La nature a fait votre Etat federatif. "149 Der von Frankreich aufgezwungene Zentralismus in dieser kurzen Phase der Helvetik paßte nicht zu dem durch landschaftliche, sprachliche und konfessionelle Gegensätze stark gegliederten Land, das von jeher durch eine Konzentration der politischen Macht auf der Ebene der Kantone geprägt war. Selbst noch die Bundesverfassung in ihrer 1874 revidierten Fassung bestimmt in ihrem Art. 3, daß die Kantone insoweit "souverän" seien, als ihre Rechte nicht durch die Bundesverfassung eingeschränkt würden. Angesichts einer solchen Dominanz des kantonalen Elementes ist es dann auch nur konsequent, wenn es auf Bundesebene wiederum die Kantone sind, die durch ein aus ihren Vertretern zusammengesetztes Organ die Entscheidungen des gesamten Bundes zumindest mitbestimmen. I. Die Tagsatzung der alten Konföderation 1. Die alte Konföderation
Auberts Beschreibung der alten Konföderation 15o gemahnt überdeutlich an diejenige Pufendorfs vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation als einem "irregulare aliquod corpus et monstro simile. "151 So stellt für Aubert auch die Schweiz der alten Konföderation nur ein "etrange amalgame de petits Etats" dar, das sich nach anderer Ansicht auch vollständig den Kategorien "Bundesstaat/Staatenbund" entzieht. 152 Das Eigentümliche an dieser vor allem aus den 13 alten Kantonen bestehenden Konföderation war zunächst, daß das einigende Band eines einzigen Bundesvertrages vollständig fehlte und die Kantone untereinander stattdessen durch eine Vielzahl zwei- und mehrseitiger Verträge verbunden waren. 153 Um 149 150 151 152
Zitiert nach Ricklin, ZSR 101 (1982) - I, S. 217 (231). In seiner Petite histoire, Nr. l. Zitiert nach Hartung, Verfassungsgeschichte, S. 150. Heusler, Verfassungsgeschichte, S. 118.
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I. Abschnitt: B. Die Tagsatzung und der Weg zum Ständerat
dieses Bild noch weiter zu komplizieren, sei darauf verwiesen, daß zur Eidgenossenschaft noch "zugewandte Orte" rechneten wie Mühlhausen oder St. Gallen, die nicht die Rechtsstellung eines Kantones besaßen, daß sogar die 13 Kantone solche unterschiedlichen Rechts kannten - mit besonderen Lasten etwa für den Kanton Glarus - und daß schließlich einzelne Kantone alleine oder gemeinsam mit anderen Kolonien besaßen, so wie etwa Bern das Waadtland. 154 2. Struktur und Funktion der Tagsatzung
Diese absonderliche Konföderation besaß ein einziges Organ, die Tagsatzung. 155 Diese tagte grundsätzlich einmal im Jahr. Alle Kantone waren auf ihr durch einen Gesandten vertreten, ohne Rücksicht auf Größe und Einwohnerzahl eines Kantones. So war der Kanton Bern, in dem knapp 40 % der damaligen Gesamtbevölkerung lebten, genauso durch nur einen Gesandten vertreten wie der kleinste Kanton. Eine erste Ausnahme galt insoweit für die Halbkantone Ob- und Nidwalden sowie Appenzell-Innerrhoden und -Außerrhoden.1 56 Diese konnten zwar auch je einen Gesandten zur Tagsatzung schicken, konnten ihr Stimmrecht jedoch nur ausüben, wenn die Vertreter beider Halbkantone sich auf die Abgabe der einen Stimme verständigen konnten. Eine echte Durchbrechung der grundSätzlichen Gleichbehandlung eines jeden Kantones stellte dann jedoch die Tatsache dar, daß Zürich das Präsidium innehatte, die laufenden Geschäfte allein leitete und den Tagsatzungen selbst präsidierte.1 57 Zürich kam zwar nur die Stellung eines primus inter pares zu, die alte Konföderation erweist sich jedoch einmal mehr als sehr komplexes Gebilde, bestehend aus einzelnen "Orten" sehr unterschiedlichen Rechts. Die Gesandten der einzelnen Kantone auf der Tagsatzung waren weisungsgebundene Vertreter ihres Entsendekantones. Sie mußten sich so inhaltlich bei jeder Einzelabstimmung Instruktionen holen, was naturgemäß eine große Schwerfälligkeit des Organes bewirken konnte.1 58 Aufgabe der Tagsatzung war es, über den inneren Frieden zu wachen und eine gemeinsame Außenpolitik abzustimmen. 159 Letzteres war dabei nur von geringerer Bedeutung, nachdem die Schweiz sich seit dem 30jährigen Krieg aus den internationalen Geschäften zurückgezogen hatte. 160 153 Fleiner/Giacometti, Bundesstaatsrecht, S. 1 und neuestens Aubert in Kommentar BV, Introduction historique, Rz 4 f. 154 Aubert (FN 150), Nr. 1. 155 Hierzu und zum folgenden Aubert (FN 154). 156 Schindler (FN 6), S. 155. 157 Aubert (FN 154). 158 Aubert (FN 154). 159 Aubert (FN 154). 160 Fleiner/Giacometti (FN 153), S. 2.
11. Helvetik und die Geschichte der Tagsatzung bis 1848
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Noch komplizierter wurde das Verhandeln auf der Tagsatzung dadurch, daß man zur Wahrung des inneren Friedens dazu übergegangen war, in Fragen, die die Konfessionszugehörigkeit berühren konnten, Mehrheitsentscheidungen zu vermeiden. Vielmehr stimmten die "reformierte Gruppe" und die "katholische Gruppe" sich erst je untereinander und dann miteinander ab, um so die Gleichberechtigung beider Konfessionen zu wahren. Nachdem auch andere Sachfragen immer häufiger zunächst innerhalb der Konfessionsgruppen abgestimmt wurden, wurden insgesamt die Einzelkantone zurückgedrängt und die Konfessionsparität beherrschte alle Abstimmungen der Tagsatzung. 161 11. Helvetik und die Geschichte der Tagsatzung bis 1848 Das überaus komplizierte Gebilde der alten Konföderation wurde 1798 mit einem Schlag zertrümmert, als Napoleon die Schweiz durch seine Truppen besetzen ließ. Einzig Bern leistete einen gewissen Widerstand, doch war es, allein gelassen von den übrigen Kantonen, dem Druck der französischen Truppen letztlich auch nicht gewachsen. 162 1. Die Helvetik
Napoleon setzte, wie schon erwähnt, an die Stelle der alten Eidgenossenschaft die zentralistische "Republique Helvetique une et indivisible" nach dem Vorbild der revolutionären französischen Republik. In allem wurde dabei ein vollständiger Neubeginn unternommen. Zentrale Behörden wurden eingerichtet, Luzern zur vorläufigen Hauptstadt bestimmt. Die Schweiz wurde in Verwaltungs bezirke aufgegliedert, die "Kantone".163 Im übrigen wurden alle Gebiete auf eine gleiche Ebene gestellt; es gab fortan keine zugewandten Orte oder Kolonien mehr, diese wurden entweder zu Kantonen (St. Gallen) oder französisch, die Vorrechte des Patriziats der regierenden Orte wurden beseitigt. l64 Die Tagsatzung wurde ersetzt durch ein Zweikammer-Parlament nach französischem Vorbild, bestehend aus einem Senat und einem Großen Rat. Beide wurden von aus dem jeweiligen Kantonsvolk hervorgegangenen Wahlausschüssen gewählt. Dem Senat kam die Rolle eines kontrollierenden Oberhauses ZU. 165 Schind1er (FN 6), S. 154 f. Aubert (FN 150), Nr. 2. 163 Der Name "Kanton" wird hier erstmals verwendet; hierzu und zum ganzen Heus1er (FN 152), S. 309; vgl. zum Begriff "Kanton" noch Aubert in Kommentar BV, Art. 1, Rz 32 ff. 164 Fleiner/Giacometti (FN 153), S. 2. 165 Heusler (FN 152), S. 310; ausführlicher noch Aubert, Introduction, Rz 8 - 20. 161
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I. Abschnitt: B. Die Tagsatzung und der Weg zum Ständerat
2. Die Mediationsakte
Sobald Napoleon seine Truppen abzog, fiel die Helvetik in sich zusammen und die Schweiz stürzte von einer Krise in die nächste. Beendet wurde dies erst durch die Vermittlungsakte Napoleons, den "acte de mediation" vom 19. Februar 1803. 166 Die zentralen Gewalten wurden aufgelöst, die Souveränität der Kantone unter französischer Oberhoheit - wieder hergestellt.I 66a Nicht wieder hergestellt wurde das alte System der zugewandten Orte und Kolonien; die in der Helvetik neu geschaffenen Kantone wie St. Gallen oder das Waadtland blieben bestehen. Auch die Tagsatzung als einziges Organ auf gesamtschweizerischer Ebene wurde in ihrer alten Form wieder hergestellt. Lediglich zwei - allerdings markante - Änderungen sind aufzuzeigen: zum einen wurden den sechs größten Kantonen eine zweite Stimme verliehen. Hier wurde also erstmals in der schweizerischen Geschichte eine gewichtete Vertretung der Kantone geschaffen. Daß vier dieser sechs Kantone den gerade erst neu geschaffenen (Waadt, Aargau, Graubünden und St. Gallen) angehörten, erhöhte die Bedeutung der Neuerung noch. Auf diese Weise sollte der Bedeutung dieser Kantone Rechnung getragen werden; sie auf eine Stufe mit den alten Kantonen der Innerschweiz zu stellen, schien nicht angängig. Zum anderen wurde das Präsidium nicht mehr Zürich all eine übertragen, sondern sechs Direktorialkantonen, die einander im jährlichen Turnus abwechselten. Unter diesen sechs Kantonen befanden sich drei reformierte und drei katholische, so daß auch in konfessioneller Hinsicht ein Mehr an Gleichheit hergestellt wurde. Im übrigen war die Tagsatzung jedoch wieder die Gesandtenkonferenz, beschickt mit weisungsgebundenen Vertretern, die sich auf die Aufrechterhaltung des inneren Friedens und die "Außenpolitik", d. h. die Beziehungen zu Frankreich, beschränkte. 3. Die Tagsatzung der Restaurationsphase
Das Jahr 1813 brachte den Rückzug Napoleons aus Rußland und sodann das stete Vordringen der alliierten Gegner. Im Dezember 1813 schließlich wurde auch die Schweiz befreit und noch im selben Monat wurde eine Tagsatzung einberufen, auf der eine neue Grundlage für die Eidgenossenschaft erarbeitet werden sollte. 167 Bis zum 7. August 1815 sollte diese Tagsatzung dauern, weshalb sie auch schlicht die Lange Tagsatzung (Longue Diete) heißt.I 68 166 166.
Hierzu und zum Folgenden Fleiner/Giacometti (FN 153), S. 3 f. Aubert, Introduction, Rz 22.
11. Helvetik und die Geschichte der Tagsatzung bis 1848
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Die lange Dauer ist vor allem dadurch zu erklären, daß Bern mit allen Mitteln den Zustand vor 1798 herstellen, seinen alten Territorialbesitz wieder erlangen wollte. Hiergegen wehrten sich die neuen Kantone, unterstützt von Zürich. Um nun Bern kompromißbereit zu stimmen, verzichtete Zürich auf sein ursprüngliches Vorhaben, einen einheitlichen Staat "Schweiz" herzustellen. Der endgültige Durchbruch gelang jedoch erst, nachdem der von der Tagsatzung angerufene Wiener Kongreß 1815 ein Kompromißpapier ausgearbeitet hatte. Am 7. August 1815 konnte der neue Bundesvertrag unterzeichnet werden. 169 Es waren nunmehr 22 Kantone, aus denen die Eidgenossenschaft bestand. Zu den 13 alten waren nach den 6 Kantonen aus der Mediationsakte noch Genf, das Wallis und Neuenburg hinzugekommen. Der Bund war wieder das alte lose Bündnis souveräner Kantone, der nur zur Wahrung des inneren Friedens und zur Unterhaltung der Beziehungen mit dem Ausland zuständig war. 170 Eine Wiederherstellung der Verhältnisse vor 1798 bedeutete dies jedoch nur in einem eingeschränkten Sinne: die Kantone der Schweiz waren nunmehr durch einen einheitlichen Bundesvertrag miteinander verbunden und nicht mehr durch eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Abkommen. Wie schon nach der Mediationsakte gab es auch keine Gebiete minderen Ranges mehr. Die gleiche Rechtsstellung aller Kantone blieb so als eine bedeutende Frucht der französischen Besetzung trotz der intensiven Bemühungen Berns, die alten Zustände wieder herzustellen, erhalten. Die Schweiz erscheint so als ein Bund, bestehend aus 22 souveränen Kantonen. Die Tagsatzung war wiederum das einzige Organ dieses Bundes, zusammengesetzt aus den weisungsgebundenen Gesandten der einzelnen Kantone. Gemäß § 8 des Bundesvertrages war jeder Kanton wieder mit einer Stimme auf der Tagsatzung vertreten. Zugunsten der überlieferten gleichmäßigen Vertretung aller Kantone aus der alten Tagsatzung verzichtete man also darauf, den gegebenen Größen unterschieden durch Zuerkennen zusätzlicher Stimmen Rechnung zu tragen. 171 § 8 legte weiter fest, daß Entscheidungen mit absoluter Mehrheit zu fällen seien. Hierin ist eine Reaktion auf die oben dargestellte Praxis in der alten Tagsatzung zu sehen, nach der durch die konfessionelle Spaltung in zwei Heus1er (FN 152), S. 322 f. Aubert (FN 150), Nr. 1l. 169 Aubert (FN 150), Nr. 11 f. Der Text ist wiedergegeben bei Heusler (FN 152), S. 332 - 334. 170 Heusler (FN 152), S. 331 f.; Aubert, Introduction, Rz 33 und 35 ff. l71 Lediglich bezüglich der beiden Unterwaiden, Appenzell und späterhin der bei den Basel wurde die alte Regelung wieder aufgegriffen, daß die Halbkantone sich auf die Abgabe der ihnen zustehenden einen (Gesamt-)Stimme einigen mußten; vgl. Schindler (FN 156). 167
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I. Abschnitt: B. Die Tagsatzung und der Weg zum Ständerat
Gruppen Entscheidungen nur noch einstimmig gefällt werden konnten. Eine Ausnahme für konfessionelle Streitpunkte wurde gleichfalls aus diesem Grunde nicht getroffen; es sollte stets die Mehrheit entscheiden. Gemäß § 10 des Vertrages fiel der Vorort jeweils für zwei Jahre an Zürich, Bern und Luzern. 172 Mit dieser Regelung wurde einerseits der überragenden Bedeutung der bei den erstgenannten Kantone Rechnung getragen, die - wie gezeigt - im übrigen auf einer Stufe auch mit den kleinsten Kantonen standen. Andererseits wurde durch die Einbeziehung des katholischen Luzerns auch der weiterhin dominante konfessionelle Gegensatz zu überbrücken gesucht. 4. Der Weg in den Sonderbundskrieg
Die Zeit des Bundesvertrages läßt sich in zwei deutlich voneinander unterschiedene Perioden aufteilen: Die Zeit der "Restauration" von 1815 - 1830 und diejenige der "Regeneration" von 1830 - 1848. a) Die Restaurationsphase brachte auf kantonaler Ebene ein weitgehendes Anknüpfen an die Zustände vor 1798. Die alten Vorrechte des Patriziats der regierenden Städte wurden wieder hergestellt. Das Land wurde wieder vernachlässigt, es herrschten wieder die alten Familien. 173 Gesamtschweizerisch ist diese Zeit durch ein beinahe beziehungsloses Nebeneinander der Kantone geprägt. Die regierenden Familien blieben unter sich; außerhalb der einmal jährlich stattfindenden Tagsatzung gab es kaum Kontakt zwischen den Kantonen. Bedrohlich für den Zusammenhalt der Schweiz wurde diese Sprachlosigkeit später deshalb, weil sich zur gleichen Zeit der konfessionelle Gegensatz zwischen Katholischen und Reformierten innerhalb der gemischten Kantone, wie vor allem dem Aargau und zwischen den konfessionell gegensätzlichen Kantonen weiter vertiefte. Es war kein Gremium vorhanden, in dessen Rahmen dieser gefährliche Konflikt hätte entschärft werden können, beschäftigte man sich auf der Tagsatzung doch mehr mit Grußworten als mit Politik. 174 b) Ermutigt durch die Julirevolution 1830 in Frankreich wurden auch in der Schweiz diejenigen Kräfte stärker, die nach einer Reform des Bundesvertrages von 1815 strebten. Es waren vor allem Kaufleute und Intellektuelle, dieaus unterschiedlicher Motivation - die Grenzen zwischen den Kantonen aufheben und ein einheitliches Gebiet "Schweiz" schaffen wollten. Diese libera-
172 Ausgehend von dieser Regelung sind diese drei Kantone in Art. 1 der heutigen Bundesverfassung an erster Stelle und abweichend von der sonst durch das Beitrittsdatum bestimmten Reihenfolge genannt; vgl. Aubert in Kommentar BV, Art. 1, Rz 35. 173 Fleiner/Giacometti (FN 153), S. 7. 174 Aubert (FN 150), Nr. 15; Fleiner/Giacometti (FN 173).
11. Helvetik und die Geschichte der Tagsatzung bis 1848
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len Kräfte schlossen sich zusammen und bildeten auf Kantonsebene Gruppen, aus denen später die freisinnige Partei hervorging.1 75 Das Jahr 1830 brachte zunächst eine "Regeneration" des öffentlichen Lebens. Die Liberalen traten öffentlich hervor mit ihren Forderungen nach Reform. 1832 wurde dann von der Tagsatzung eine Kommission zur Revision des Bundesvertrages eingesetzt, die letztlich jedoch scheiterte. 175a Es waren die konservativen katholischen Kantone, die dieser Bewegung zutiefst mißtrauten, weil sie von den Liberalen getragen wurde. So scheiterte auch dieser erneute Versuch, ein engeres Band zwischen den Kantonen zu schaffen, bereits im Ansatz. Nur auf kantonaler Ebene konnten die Vorrechte der Städte gebrochen werden, was im Falle von Basel zur Bildung der bei den Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft führte.1 76 c) Trotz dieses Mißlingens einer Bundesreform blieben die Liberalen in 12 Kantonen die dominante Kraft. Es war schließlich so, daß sie in fast allen reformierten Kantonen und in Luzern regierten. Dem standen etwa 10 konservativ regierte Kantone gegenüber. Die Tagsatzung glich hiernach wieder derjenigen vor 1798; nur waren es jetzt nicht konfessionell gebundene Blöcke, die sich gegenüberstanden, sondern Liberale und Konservative. Zu Entscheidungen war man jedoch in gleicher Weise nicht mehr in der Lage. Zur endgültigen Spaltung kam es, als Luzern 1841 eine konservative Regierung bekam. Die beiden Blöcke aus der Tagsatzung deckten sich jetzt auch noch mit der konfessionellen Trennungslinie und der Vorort Luzern wurde gleich der führende Kanton innerhalb der konservativen Gruppe.!76a Als 1841 im Aargau die liberale Regierung entgegen der Bestimmung des Art. 12 des Bundesvertrages alle Klöster schloß und 1844/45 Freikorps aus den Reihen der Radikalen!77 Luzern zweimal erfolglos zu erobern suchten, schlossen sich 1845 sechs katholische Kantone und die beiden katholischen Unterwaiden zum zunächst geheimgehaltenen Sonderbund unter der Führung Luzerns zusammen, was seinerseits eine flagrante Verletzung des Bundesvertrages darstellte, der jede Art von besonderen Bündnissen ausdrücklich ausschloß. Die Tagsatzung konnte nach Bekanntwerden dieses Sonderbundes zunächst nicht reagieren, weil zwischen regenerierten und konservativen Kantonen ein StimmenAubert (FN 174). Ausführlich zu den hier erarbeiteten Verfassungsentwürfen Aubert, Introduction, Rz 54 - 74. 176 Fleiner/Giacometti (FN 153), S. 8 f. 176. Auch Aubert, Introduction, Rz 52 f. nennt diesen Wechsel im Vorort Luzern das "folgenreichste Ereignis", das die heikle Balance endgültig zerstörte. 177 Eine Gruppe innerhalb der Liberalen. Die liberale (freisinnige) Partei heißt in der französischen Schweiz auch heute noch "Parti radicai" . 175
175.
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patt bestand. Erst als in St. Gallen 1847 die Regierung wechselte, hatten die regenerierten Kantone die Mehrheit. 177a So beschlossen sie am 20. Juli 1847 die Auflösung des Sonderbundes und ließen diesen Beschluß durch ein Bundesheer ausführen. Der "Sonderbundskrieg" dauerte gerade 16 Tage und endete mit der Niederlage der Sonderbundskantone. Am 16. August beschloß die Tagsatzung die Revision des Bundesvertrages und am 3. September die Ausweisung der Jesuiten, die vor allem in Luzern die Regierungsgeschäfte kontrolliert hatten. 178 So konnte die Tagsatzung in den konfessionellen Streit erst in einem Moment eingreifen, als sich eine militärische Allianz der katholischen Kantone bereits gebildet hatte und erst, als mit dem Wechsel St. Gallens die Mehrheit auf seiten der regenerierten Kantone erreicht wurde. Sie konnte dann auch nur noch mit militärischer Exekution ihre Beschlüsse durchführen, eine andere Autorität, die beide Lager anerkannt hätten, bestand nicht mehr. Auch gegenüber solchen flagrantesten Verletzungen des Bundesvertrages, wie es die Bildung des Sonderbundes darstellte, erwies die Tagsatzung sich als im Grunde machtlos. Ihre wichtigste Funktion, die Wahrung des inneren Friedens, konnte sie nicht mehr erfüllen, die durch die Konfession getrennten Lager standen sich geschlossen und unversöhnlich gegenüber. III. Die Genese des Zweikammersystems: Der Ständerat
Der Beschluß, eine Kommission zur Revision des Bundesvertrages von 1815 einzusetzen, war schon gefällt, der Weg zu einer grundlegenden Neuordnung der Schweiz war offen. Als Kernfrage, als "question vitale",179 stellte sich in den Kommissionsberatungen alsbald die Frage der Zusammensetzung einer künftigen Bundesversammlung. Die gerade erst auf dem Schlachtfeld ausgetragenen Gegensätze brachen auch hier wieder hervor. Es standen sich große und kleine Kantone, Liberale und Konservative gegenüber. In gleicher Weise wie bei den US-amerikanischen Verfassungsberatungen
1787 in Philadelphia einigte man sich schließlich auf ein Zweikammersystem,
in dem man alle Gegensätze auszugleichen suchte. Es war ein Komprorniß, den zunächst niemand wollte und der doch wohl wie kaum eine andere Lösung geeignet war, die Spannungen, die einen Bürgerkrieg verursachen konnten, schließlich abzubauen.
177. Aubert, Introduction, Rz 80 - 84, zeichnet die Entwicklung der beiden Abstimmungslager genauer nach. 178 Zum ganzen Aubert (FN 150), Nr. 18 - 24. 179 V. Berchem, systeme bicameral, S. 170.
III. Die Genese des Zweikammersystems: Der Ständerat
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1. Die Ausgangspositionen
Die Gelegenheit war besonders günstig, den 1815 und 1832 bereits zweimal vergeblich unternommenen Versuch, einen engeren Bund zwischen den Kantonen zu schaffen, dieses Mal zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Die entschiedenen Gegner jeder irgendwie gearteten Zentralisierung, die katholischen Sonderbundskantone, waren gerade erst besiegt. Sie konnten auch nicht mehr den Bundesvertrag von 1815 als unantastbar hinstellen, nachdem sie ihn selbst gerade durch die Begründung des Sonderbundes eklatant verletzt hatten.1 8o Gleichwohl wurde von den Vertretern der Sonderbundskantone in den Ausschußberatungen eine Lösung favorisiert, die die Rückkehr zur Tagsatzung vorsah mit lediglich der Modifikation, daß eine Bindung an Instruktionen grundsätzlich nicht vorgesehen war. Ein anderes Modell sah eine Tagsatzung vor, in der die Kantone gewichtet entsprechend ihrer Einwohnerzahl vertreten wären, während die großen Kantone das Projekt einer einzigen gesamtschweizerischen Nationalversammlung, bestehend aus unmittelbar gewählten Abgeordneten, unterstützten. Ein Modell nach dem Zweikammersystem wurde zunächst nicht erörtert. Einzig der Vertreter Genfs befürwortete ein solches Zweikammersystem. James Fazy hatte dem Genfer Großen Rat die Übernahme der "amerikanischen Lösung" als idealen Komprorniß auch für die Schweiz empfohlen und auch eine Mehrheit im Großen Rat finden können.1 81 2. Die Einigung
Die Frontstellung zwischen den Bürgerkriegsparteien bestimmte auch die Kommissionsberatungen; 11 Kantone stimmten für eine einheitliche Nationalversammlung, 9 für die Erhaltung des status quo und es waren wieder die liberalen reformierten Kantone und die konservativen katholischen Kantone, die sich als Blöcke gegenüberstanden. 182 Der Wunsch der katholisch-konservativen Kantone nach einer Rückkehr zur alten Tagsatzung und ihre Abneigung gegen eine proportional zur Bevölkerung bemessenen Nationalversammlung entstammten dabei einer ganz realistischen Einschätzung der Kräfteverteilung innerhalb der Schweiz. Abgesehen von Luzern waren die katholischen Kantone zugleich sehr bevölkerungsschwache Kantone. Sie würden als einzelne und sogar noch als geschlossene Gruppe in einer proportional eingerichteten Nationalversammlung kaum 180 181 182
V. Berchem (FN 179), S. 163 und 174. Rappard (FN 1), S. 150 - 152. V. Berchem (FN 179), S. 180.
5 Heger
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1. Abschnitt: B. Die Tagsatzung und der Weg zum Ständerat
Gewicht haben, während sie in der alten Tagsatzung fast die Hälfte der Stimmen stellten. So mußten sie befürchten, in einer einkammerigen Nationalversammlung zwischen den Großen, also vor allem Bern, Zürich und dem Waadtland zerrieben zu werden,183 Eine Mehrheitsentscheidung wäre hier sicherlich möglich gewesen, doch hätte dann der neue Staat von Anfang an mit der geschlossenen Gegnerschaft einer kompakten Gruppe von Kantonen zu rechnen gehabt; es wurde daher ein Kompromiß gesucht. In diesem Moment wurde das Zweikammersystem erneut vorgetragen. 184 Es hätte vergleichbare Gegensätze in den USA zwischen großen und kleinen Staaten überbrückt und würde die gleiche Wirkung auch in der Schweiz haben können. Gerade jedoch dieser ausländische Ursprung wurde den Befürwortern des Zweikammersystems immer wieder entgegengehalten, eine Mehrheit in der Kommission empfand ein tiefes Mißtrauen gegen eine solche "importierte" Lösung. Des weiteren wurden die durch eine zweite Kammer verursachten höheren Kosten und die zu befürchtende Schwerfälligkeit vorgetragen. Schließlich kannte die Schweiz eben nur in der Zeit der Helvetik ein Zweikammersystem, was instinktiv die Abneigung gegen die Helvetik auf das Zweikammersystem übertrug. 18S Im weiteren Gang der Verhandlungen einigte man sich schließlich doch auf die Übernahme des Zweikammersystems nach amerikanischem Vorbild als der einzig für alle akzeptablen Lösung. Am 26. Juni 1848 stimmten alle Kantone einem Entwurf einer Bundesversammlung, bestehend aus einem Nationalrat als der repräsentativen Vertretung des ganzen Schweizer Volkes und einem Ständerat, in dem jeder Kanton mit zwei Abgeordneten vertreten sein würde, zu; lediglich Uri, Schwyz, Unterwaiden und Appenzell-Innerrhoden enthielten sich auch hier noch der Stimme. 186 Die katholischen Urkantone mochten sich also auch jetzt noch nicht damit abfinden, daß eine Rückkehr zur alten Tagsatzung, auf der sie mit den großen Kantonen wie Bern und Zürich gleichberechtigt gewesen waren, nicht mehr möglich sein sollte. 3. Exkurs: Das VorbUd der US-Vedassung von 1787
Gleichgültig, ob das schweizerische Zweikammersystem als eigenständige Lösung bezeichnet wird, die nur deshalb der amerikanischen gleicht, weil sie von den gleichen Problemen ausging,187 oder ob man es eben als schlichte
183 184 185 186
V. Berchem (FN 179), S. 173. Rappard (FN 1), S. 153. Rappard (FN 101), S. 155, 150. Rappard (FN 101), S. 171 f.
III. Die Genese des Zweikammersystems: Der Ständerat
67
Übernahme des US-Vorbildes versteht, können die Motive, die 1787 zur Einrichtung des US-Kongresses mit zwei Kammern führten, wertvolle Hinweise auf den Sinn eines solchen Systems geben. Der Ausgangspunkt war in den USA insofern ein anderer, als die Vertreter aller 13 Staaten im Verhandlungsgang sehr bald ein Zweikammersystem befürworteten, wobei der zu bildende Senat eine korrigierende, mäßigende Funktion übernehmen sollte, ähnlich dem House of Lords in dem wohl ältesten Zweikammersystem, dem Parlament von Westminster. 188 Die 7 kleinen Staaten wie Rhode Island oder Delaware forderten nun, daß alle Staaten in beiden Häusern in je gleicher Weise vertreten würden, denn jeder sei als gleichberechtigter souveräner Staat der Union beigetreten. Sie hätten sich so in beiden Kammern auch eine beständige Mehrheit gesichert. Die 6 großen Staaten verlangten dagegen eine durchgängige proportionale Besetzung beider Häuser, denn es sei nicht richtig, wenn 7 Staaten, die zusammen gerade ein Drittel der Gesamtbevölkerung repräsentierten, die anderen zwei Drittel majorisierten.1 89 Der Komprorniß wurde darin gefunden, daß man beide Positionen als berechtigt ansah. Sowohl entspräche es in einem föderal strukturierten Staat dem Prinzip der nationalen Einheit, wenn jeder Staat einen proportionalen Anteil an der Staatslenkung habe, als auch entspräche es dem Prinzip einer Föderation, wenn jedes Mitglied als gleichberechtigt angesehen wird. So wurde mit dem Repräsentantenhaus eine Kammer geschaffen, die auf dem Prinzip der proportionalen Vertretung beruht und mit dem Senat eine, in dem jeder Staat gleichberechtigt vertreten iSt. 190 Es war dies ein Kompromiß zwischen den gegenläufigen Interessen der großen und der kleinen Staaten, der wie gezeigt - über 60 Jahre später auch in der Schweiz in gleicher Weise gefunden wurde. 4. Der Ständerat unter der Bundesverfassung
a) Die Übernahme des US-Vorbildes war nahezu komplett: Ebenso wie im US-Senat jeder Staat durch zwei Senatoren vertreten ist, entsendet auch in der Schweiz jeder Kanton zwei Abgeordnete in den Ständerat. Hier wird zugleich der Kompromißcharakter der schweizerischen Regelung nochmals sehr deutlich. An die Seite des proportional besetzten Nationalrates wurde mit dem Ständerat ein Organ gestellt, in dem die Kantone ungeachtet ihrer Größe wie in der alten Tagsatzung gleichmäßig vertreten sind. 187 So - wohl zu Unrecht - v. Berchem (FN 179), S. 196 f.; Aubert in Kommentar BV, Art. 80, Rz 6, spricht sogar von einer "Imitierung" des US-Senates, allerdings, ohne daß dessen Sonderstellung in außenpolitischen Belangen übernommen wäre. 188 Condrau, Zweikammersystem, S. 18 und 38. 189 Co nd rau (FN 188), S. 38. 190 Der Föderalist, Nr. 62, S. 347 f.; US Const. Art. I Sec. 2, Cl. 3 und Sec. 3, Cl. 1.
5*
68
I. Abschnitt: B. Die Tagsatzung und der Weg zum Ständerat
Für die Schweiz brachte diese Regelung überdies den Vorteil, die HalbKantone besser berücksichtigen zu können. Statt bei diesen einen Einigungszwang auf die Abgabe der einen Stimme zu statuieren, was im Falle der bei den Basel und der beiden Appenzell gerade 1847/48 immer wieder zur Blockierung der Stimme geführt hatte, steht nun jedem Halb-Kanton eine Stimme zu (Art. 80 Satz 2 BV 1874).191 Gleichfalls seinem amerikanischen Vorbild folgend und insoweit abweichend von der Tradition der Tagsatzung sind die Abgeordneten des Ständerates Weisungen ihres Kantones nicht unterworfen. Sie sind unabhängige Abgeordnete (Art. 91 BV). Schließlich entspricht es dem US-Vorbild, wenn zum Zustande kommen eines Bundesgesetzes stets die Übereinstimmung von Nationalrat und Ständerat verlangt wird, beide Kammern also gleichberechtigt gegenüberstehen (Art. 89 Abs. 1 BV). b) Die Bundesverfassung trifft keinerlei Bestimmungen über den Wahlmodus zum Ständerat und über die Mandatsdauer. Diese Fragen zu regeln, blieb den kantonalen Verfassungen überlassen. Auch noch entsprechend dem Vorbild des Senates wurden die Ständeräte zunächst von den Kantonsparlamenten bzw. den Landsgemeinden 192 gewählt. Während die USA 1911 die Volkswahl der Senatoren einführten, dauerte es in der Schweiz Jahrzehnte, bis alle Kantone, zuletzt Bern im Jahre 1977, zur Volkswahl übergingen. 193 Heute werden die Ständeräte überall wie die Nationalräte direkt vom Volk gewählt und außerdem noch in 17 Kantonen sowie in 3 Halbkantonen am selben Wahltag.l 94 In nahezu allen Kantonen der Schweiz werden die Ständeräte heute nach dem Majorzsystem gewählt.l 95 Lediglich im Kanton Jura gilt das Proporzwahlrecht. Ansonsten bedürfen beide Ständeräte einer Stimmenzahl, die der Zahl der absoluten Mehrheit der teilnehmenden 191 Bezüglich des Ständerates sind die Regelungen in den Verfassungen von 1848 und 1874 wortidentisch; auf eine Angabe der Artikel in der Verfassung von 1848 sowie eine Darstellung der Totalrevision von 1874 kann daher hier verzichtet werden. Wegen der Regelung in den USA vgl. FN 190.
192 Versammlung des ganzen stimmberechtigten Kantonsvolkes, die Gesetze beschließt und Wahlen vornimmt; heute noch in beiden Unterwaiden, Glarus und in beiden Appenzell einmal jährlich abgehalten. 193 Jaag (FN 105), Amendment XVII und Häfelin/Haller, Bundesstaatsrecht, N. 188; Aubert in Kommentar BV, Art. 80, Rz 18. 194 Am 18. Oktober 1987 wurden in allen Kantonen die Ständeräte gewählt, außer in Zug, Graubünden, Glarus (dort werden die Ständeräte zwar auch an den Urnen, jedoch jeweils ein Jahr zuvor gewählt) und den Halbkantonen Nidwalden, Obwalden und Appenzell-Innerrhoden (jeweils Wahlen durch Landsgemeinde); vgl. NZZ vom 20. 10. 1987, Fernausgabe Nr. 241, 208 Jg., S. 17 f. und Aubert in Kommentar BV, Art. 80, Rz 27. 195 Jaag (FN 105), S. 90.
III. Die Genese des Zweikammersystems: Der Ständerat
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Stimmbürger entspricht, um gewählt zu sein. Jedem Stimmbürger stehen hierfür auch zwei Stimmen zur Verfügung. 196 c) Der Ständerat, der in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens von den Kantonen mit deren bedeutendsten Persönlichkeiten beschickt wurde, verlor zur Jahrhundertwende hin einiges an Bedeutung. Vor allem die Tatsache, daß viele Kantone die Dauer des Mandates auf ein Jahr begrenzten, ließ den Einfluß des Ständerates geringer werden.1 97 Zwei Faktoren waren es sodann, die die Stellung der einzelnen Ständeräte und damit letztlich auch des ganzen Organes stärkten: Die Kantone glichen die Dauer der Mandate an diejenigen der Nationalräte, also heute vier Jahre, an und gingen - wie bereits erwähnt - zur Volkswahl über. Beide Maßnahmen sicherten den Ständeräten ein Mehr an Autorität und versetzten den Ständerat als Ganzen in die Lage, dem Nationalrat als gleichberechtigtes Organ entgegen zu treten. 198
196 Vgl. die Berichte zum 18. 10. 1987 in der NZZ (FN 194) sowie Aubert in Kommentar BV, Art. 80, Rz 23 - 25, der für den Kanton Genf noch eine leicht abweichende Regelung nachweist (Rz 24). 197 Aubert (FN 10), NI. 1291. 198 Aubert (FN 5), NI. 1292. Die Stellung des Ständerates wird im einzelnen noch unter C im 2. Abschnitt der vorliegenden Arbeit erörtert werden.
11. Abschnitt
Deutscher Bundesrat und schweizerischer Ständerat Das gegenwärtige Erscheinungsbild, dargestellt anhand ausgewählter Sachfragen A. Die Zahl der Vertreter eines Gliedstaates im Föderativorgan Vom Frankfurter Bundestag aus dem Jahre 1815 bis hin zum heutigen Bundesrat blieb ein Charakteristikum der deutschen Föderativorgane stets erhalten, die unterschiedliche, gewichtete Vertretung der einzelnen Länder. Gemäßigt im Frankfurter Bundestag, in dem den größten Mitgliedsstaaten wie Preußen und Österreich vier Stimmen zuerkannt wurden, und im heutigen Bundesrat, in dem die kleinen über 3 und die großen über 5 Stimmen verfügen, führte dies im Bismarck'schen Bundesrat wie im Weimarer Reichsrat zu eminenten Unterschieden. Die Vormacht Preußen verfügte hier über ein Mehrfaches der den kleinen und kleinsten Ländern zustehenden Stimmen. Des weiteren zeichnet diese Gewichtung auch die Staatenhausentwürfe der Paulskirche und von Preuß aus, letzterer sprach insoweit gar von einer "natürlichen Verteilung des Stimmgewichts der Einzelstaaten nach ihrer Einwohnerzahl".1 Von nahezu der gleichen Konstanz ist die schweizerische Verfassungstradition, nach der jeder Kanton im Föderativorgan über dieselbe Anzahl von Vertretern verfügt. Sieht man einmal vom kurzen Zwischenspiel der Mediations-Verfassung ab, so waren alle Kantone auf der Tagsatzung mit je einer Stimme und sind sie im Ständerat mit je zwei Abgeordneten vertreten. Ohne Rücksicht auf die stets gegebenen erheblichen Unterschiede an Größe und Bedeutung wurde diese gleichmäßige Vertretung bewahrt. So manifestiert sich hier ein erster grundlegender Unterschied zwischen dem deutschen Bundesrat und dem schweizerischen Ständerat. 2 Jeweils in großer historischer Konstanz erfahren die deutschen Gliedstaaten eine gewichtete, die schweizerischen Kantone eine gleichmäßige Vertretung. Ein näheres Eingehen auf diesen Unterschied könnte sich jedoch dadurch erübrigen, daß den unterschiedlichen Traditionen keine unterschiedlichen staatstheoretiJ
2
Preuß, Denkschrift, in: Staat, Recht und Freiheit, S. 393. Auch Aubert nennt ihn in seiner kurzen Vergleichung in Traite, VolII, NI. 1290.
I. Deutscher Bundesrat
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schen Begründungen zugrundelägen. Für Stern3 hat jede Berechnungsform der gliedstaatlichen Vertretung im Föderativorgan "etwas Beliebiges an sich". Staatstheoretische Begründungen für ein bestimmtes Modell seien nicht möglich. Auch Jaag4 nennt es unmöglich, die Entscheidung für das eine oder das andere Berechnungsmodell theoretisch zu begründen. Im Föderalisten5 heißt es hierzu weiter, daß die für den US-Senat gefundene Lösung sich nicht aus der Theorie, sondern "aus dem Geist der Freundschaft", also einem politischen Komprorniß, ergeben hätte. V. Mangoldt6 erklärt zu der im Grundgesetz für den Bundesrat gefundenen Lösung schließlich etwas verbittert, daß Art. 51 Abs. 2 GG wohl nur der Parteienarithmetik seine heutige Gestalt zu verdanken hätte. Wenn hier im folgenden gleichwohl auf die unterschiedlichen Berechnungsmodi der Zahl der Gliedstaatenvertreter im Bundesrat und im Ständerat eingegangen werden soll, so geschieht dies nicht ungeachtet der eben genannten Äußerungen. Ausgehend von den eingehend erörterten historischen Entwicklungslinien soll versucht werden, die deutsche und die schweizerische Lösung je für sich und in ihrer Unterschiedlichkeit zu erläutern. Die Analyse dieser konkreten Beispiele führt dann möglicherweise zu Ergebnissen, die sich durch ein abstraktes Gegenüberstellen der beiden Berechnungsmodi nicht erzielen ließen. I. Deutscher Bundesrat 1. Die unterschiedliche Gewichtung der Länder als Fortführung einer Verfassungstradition
Angesichts der aufgezeigten Konstanz in der unterschiedlichen Gewichtung der Länder vom Frankfurter Bundestag bis zum Bonner Bundesrat liegt die Vermutung nahe, diese Tradition lasse sich auf einen einzigen Grundgedanken zurückführen. Doch konnte andererseits oben beim Übergang von der Bismarck-Verfassung zur Weimarer Reichsverfassung bereits nachgewiesen werden, daß mit der Staatsform auch in der Begründung der Gewichtung der Länder im Föderativorgan sich ein Wandel vollzogen hatte. Das bloße Faktum der Gewichtung ist damit im vorliegenden Zusammenhang nur von begrenzter Aussagekraft.
3 4
5 6
Stern, Bd I, 2. Aufl., § 19, III 8 g, S. 740. Jaag, Zweite Kammer, S. 89. Der Föderalist, Nr. 62, S. 347 f. V. Mangoldt, Komm., Vorbem. 4 vor Art. 50, S. 271.
II. Abschnitt: A. Berechnungsarten der Zahl der Vertreter
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a) Elemente der Konstanz in der historischen Entwicklung aa) Nicht nur die gewichtete Vertretung der einzelnen Länder im Föderativorgan als solche zeichnet sich durch eine durchgängige Konstanz aus; auch die Begründungen dieser Gewichtung gleichen sich auffallend. So stützte Bismarck 1871 seine Berechnungsweise darauf, daß man sich 1815 hierüber ja schon geeinigt habe und im Parlamentarischen Rat sprach man in gleicher Weise wie schon Preuß davon, daß es "unmöglich" sei, einem Land wie Bremen so viele Stimmen zu geben wie dem mehr als 20m al so großen Nordrhein-Westfalen. 7 Insbesondere 1815 bei der Gründung des Deutschen Bundes und 1918/19 bei derjenigen der Weimarer Republik wurden also die Frage der Gewichtung der einzelnen Länder konsequent neu durchdacht. Bismarck übernahm direkt die Begründung von 1815 und der Parlamentarische Rat - soweit er die Gewichtung nicht ablehnte - stützte sich auf Überlegungen von Hugo Preuß. Die Stimmverteilung im Frankfurter Bundestag wurde dabei schlicht damit begründet, daß es (allein) der Vernunft entspräche, Mitgliedsstaaten wie Preußen, die erhöhte Lasten träfen, auch ein erhöhtes Mitspracherecht zu gewähren; dies entspräche auch seiner Bedeutung. 8 Preuß seinerseits stellte es als Erfordernis des Wandels zur Demokratie heraus, die Länder entsprechend ihrer Bevölkerungszahl zu gewichten. 9 bb) Maßgeblich ist hiernach in beiden und damit in allen vier Verfassungen von 1815 bis 1949 der Gedanke, die Mitgliedsländer des Bundes sollten entsprechend ihrer Bedeutung im Föderativorgan vertreten sein. Die Bedeutung eines Landes ihrerseits wurde zwar verschieden bemessen. 1815 und 1871 war es die Macht des jeweiligen Fürsten, sein Rang, der entschied. Preußen und Österreich waren europäische Mächte und trugen auch am meisten zu den (wenigen) Bundeseinrichtungen bei. Sie zusammen kontrollierten die Politik in Deutschland, übten eine Doppelhegemonie aus. 1919 und 1949 wurde dann die Bevölkerungszahl zum Ausgangspunkt genommen, um die Bedeutung eines Landes zu ermessen. Weder Preuß 1919 noch der Mehrheit des Parlamentarischen Rates 30 Jahre später erschien es zulässig, die Tatsache der unterschiedlichen Bevölkerungszahl zu übergehen. Die hieraus resultierenden Bedeutungsunterschiede müßten sich auch in einer "entsprechenden"Vertretung niederschlagen. Die einzelnen Mitgliedsländer wurden und werden nicht nur als Mitglieder des Bundes gesehen. Hieraus resultiert nur, daß auch dem kleinsten Land ein Recht auf eine Stimme zusteht. Es ist vielmehr die Bedeutung des einzelnen 7
8 9
Dr. Süsterhenn, ParI. Rat, Hauptausschuß, 11. Sitzung, S. 124 f. Zoepfl, Grundsätze, § 118. Preuß (FN 1).
1. Deutscher Bundesrat
73
Mitgliedes für das Ganze, die über die Anzahl der Stimmen entscheidet. Nicht die Eigenschaft als Mitglied oder als ein Land innerhalb des einheitlichen Bundesstaates wird zum maßgeblichen Kriterium erhoben. Maßgebend ist vielmehr die Bedeutung des jeweiligen Teiles im Gesamtverband, also eine relative Größe. Entsprechend fällt die Vertretung im Föderativorgan auch gewichtet aus. cc) Von gleicher Konstanz wie diese an der Bedeutung des einzelnen Landes ausgerichtete Vertretung im Föderativorgan ist die Durchbrechung dieses Prinzipes. In keiner Verfassung von 1815 bis 1949 wurde die Stimmenzahl des einzelnen Landes ausschließlich relativ berechnet. Stets wurden Korrekturen vorgenommen, um Hegemonien zu vermeiden. Angesichts der nach dem Ausscheiden Österreichs grotesken Größenverhältnisse innerhalb Deutschlands bedurfte es dieser Korrektur 1871 und 1919, um eine automatische Mehrheit Preußens zu verhindern. 1949 sodann befürchtete man eine neue Doppelhegemonie, dieses Mal durch Nordrhein-Westfalen und Bayern.l° Das Prinzip der Anknüpfung an die Bedeutung des Einzelstaates wird hier durchbrochen, um das sonst unvermeidliche Umschlagen in Sinnlosigkeit zu verhindern. Eine Vertretung der einzelnen Länder wird in dem Moment sinnlos, in dem ein Mitglied allein über die Mehrheit verfügt; der anderen bedürfte es in einem solchen Organ nicht mehr. 11 Ein solches Mitgliedsland könnte niemals überstimmt werden; sein Wille würde stets mittels eines konformen Beschlusses des Föderativorganes zum Bundeswillen erhoben werden. Die Regierung dieses Teilstaates würde so das einzige Gegengewicht zur zentralen Bundesgewalt, ein zwischengeschaltetes Föderativorgan wäre eben sinnlos. Die Berechnung der Stimmenzahl ausgehend von der Bedeutung des einzelnen Landes bedarf zur Vermeidung einer derartigen Vorherrschaft einer Korrektur, die ihrerseits von der Funktion des Organes für das Ganze - den Bund - her legitimiert ist. Wie auch immer diese Funktion dabei im einzelnen definiert wird; in einem Bundesstaat, bestehend aus mehreren Teilstaaten (Ländern) kann sie nicht apriori mit den Zielsetzungen eines Teilstaates identisch sein. Dies bedeutete die hegemoniale Herrschaft eines Teiles und damit letztlich eine nur scheinföderale, unitarische Struktur. 12 b) Die Fragwürdigkeit der historischen Deduktion Erkennt man nach dem oben Gesagten die Bedeutung der Gliedstaaten für den jeweiligen Gesamtverband als konstantes Anknüpfungskriterium zur 10 11
12
Heuss, ParI. Rat, Hauptausschuß, 11. Sitzung, S. 126. Otto v. Bismarck, zit. nach v. Seydel, Commentar, S. 133. Messmer, Föderalismus, S. 199 - 201.
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11. Abschnitt: A. Berechnungsarten der Zahl der Vertreter
Bemessung der Stimmen im Föderativorgan an, so erscheint eine Übertragung auf den heutigen Bundesrat gerechtfertigt. Nicht die bloße Macht des einzelnen Landes ist entscheidend,13 vielmehr die auch demokratisch durch die Bevölkerungszahl erfaßbare Bedeutung. Insoweit scheitert eine historische Deduktion nicht. Eine historische Betrachtung greift jedoch zu kurz, wenn sie außer acht läßt, wie sehr die Gewichtung der Stimmen im Föderativorgan durch Preußen bedingt, im Falle der Verfassung von 1871 einzig den Bedürfnissen Preußens angepaßt war. Der Sonderfall Preußen erlaubte 1919 keine andere Berechnungsweise, die europäische Großmacht Preußen konnte - wie auch Österreich - 1815 nicht auf eine Stufe mit den deutschen Klein- und Mittelstaaten gestellt werden und in der Verfassung von 1871 diente der Bundesrat Bismarck ohnehin nur zur Absicherung der preußischen Hegenomie. 14 Preußen hat 1947 jedoch aufgehört zu existieren.I 4a Es gibt diesen den "Rest" erdrückenden Großstaat nicht mehr. Es ist auch wohl nur aus der spezifisch bayerischen Perspektive zu erklären, wenn Nawiasky15 für den Bundesrat eine neue Hegemonie durch die "norddeutschen" Länder befürchtet. Diese läßt sich nur konstruieren, wenn man mit Nawiasky auch Hessen und Rheinland-Pfalz zu den "norddeutschen" Ländern rechnet. Der Parlamentarische Rat stand nicht mehr vor dem Problem, eine "Konföderation von Löwe und Maus" zu schaffen, wie Preuß es 1919 erreichen mußte. Nordrhein-Westfalen hat zwar 25mal so viele Einwohner wie die Hansestadt Bremen, doch ist dies in keiner Weise vergleichbar mit dem absurden Verhältnis Preußens etwa zu Schaumburg-Lippe, das ein 800faches Übergewicht Preußens aufwies, wobei Preußen zusätzlich noch mehr Einwohner hatte als alle anderen Länder zusammen. Eine einfache Deduktion der Gewichtung der Stimmen im Bundesrat aus der Verfassungsgeschichte läßt diese vollständig andere Situation, in der sich die Bundesrepublik Deutschland nach der "Zerschlagung" Preußens befindet, außer acht und führt so zu notwendig fehlerhaften Resultaten. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Existenz des Großstaates Preußen eine entsprechend gewichtete Vertretung der Länder in den früheren Föderativorganen zur Folge hatte, ist für den Bundesrat entfallen.
13 So jedoch - unter Außerachtlassung der WRV - C. Schmid, ParI. Rat, Hauptausschuß, 11. Sitzung, S. 127. 14 Besonders deutlich stellt dies auch Heuss, ParI. Rat, Sten.Ber., 10. Sitzung, S. 207, heraus. 14. Vgl. das Kontrollratsgesetz Nr. 46. 15 Nawiasky, Grundgedanken, S. 55 f.
1. Deutscher Bundesrat
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2. Das Prinzip der Proportionalität als Grundlage der Gewichtung
Wenn auch die im Grundgesetz vorgenommene Gewichtung der den einzelnen Ländern zustehenden Stimmen sich nicht als bloße Fortführung einer Verfassungstradition erklären läßt, behält auch für das Grundgesetz der Grundsatz der Anknüpfung an die Bedeutung eines Landes seine Relevanz. Er bedarf jedoch angesichts der vollständig anderen Länderstruktur , aus der 1949 die Bundesrepublik Deutschland geschaffen wurde, einer neuen Sinngebung.
a) Die Länder des Grundgesetzes Das Jahr 1947 bedeutete nicht nur für Preußen das Ende einer langen Geschichte. Andere Länder gingen mit unter, neue wurden im Rahmen der Besatzungszonen der Alliierten geschaffen. Der Wandel, der sich hierdurch vollzog, ist in seiner durchgreifenden Wirkung wohl nur mit dem durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 bewirkten zu vergleichen. Es entstanden Länder, die historisch stets Getrenntes zusammenfügten wie Baden-Württemberg und Länder, die ohne jeden Zusammenhang mit der Territorialgeschichte kreiert wurden wie Rheinland-Pfalz. Nur die Hansestädte, Bayern und Schleswig-Holstein können eine eigene Territorialgeschichte aufweisen,16 wobei im Verlauf dieses Jahrhunderts auch diese Länder von erheblichen territorialen Veränderungen betroffen waren, Schleswig-Holstein von 18641945 als eigenständige politische Einheit gar überhaupt nicht mehr existierte. Es sind also im wesentlichen neu kreierte, konstruierte Länder, aus denen dann 1949 die Bundesrepublik Deutschland konstruiert wurde. Territorialgeschichtlich gesehen bildet die Bundesrepublik Deutschland so gleich in zweifacher Weise ein Produkt alliierter Konstruktionen. Sowohl die Bundesrepublik als ganze als auch die einzelnen Länder je für sich wurden zusammengesetzt im Hinblick auf die neu gebildeten Besatzungszonen. Nur aus diesen lassen sich die Grenzen einerseits zur Deutschen Demokratischen Republik, andererseits zwischen den Ländern untereinander erklären. Die Situtation der Länder im Jahre 1949 unterscheidet sich hiernach grundlegend von der oben geschilderten Lage der schweizerischen Kantone im Jahre 1848. Nicht geht es wie dort um einen Zusammenschluß zur Schaffung eines neuen Staates von souveränen Einzelstaaten, die bislang lediglich durch einen Bundesvertrag in einem lockeren Bund zur Aufrechterhaltung des inneren und äußeren Friedens verbunden waren. So fehlt es für die Bundesrepublik bereits an fast jeglicher historisch gewachsener Struktur der einzelnen Länder. 16 Hesse, Grundzüge, Rdn 220, der Schleswig-Holstein wohl wegen dessen langer Zugehörigkeit zu Preußen in diesem Zusammenhang nicht nennt.
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11. Abschnitt: A. Berechnungsarten der Zahl der Vertreter
Die Länder geben nicht wie die schweizerischen Kantone eine ihnen in je gleicher Weise zukommende Staatlichkeit auf, um im neuen Bundesstaat möglicherweise als Kompensation für diese Preisgabe ein sich in der Stimmengleichheit im Föderativorgan manifestierendes gleichgewichtetes Teilhaberecht zu erhalten.!7 Eine Übernahme des völkerrechtlichen Gedankens der Gleichheit aller Staaten, wie sie sonst für das Bundesstaatsrecht im Wege einer Analogie bejaht wird,!8 scheidet für die deutschen Länder von vornherein aus. b) Die gewichtete Vertretung der Länder nach dem Grundgesetz Eine Rechtfertigung der gewichteten Vertretung der Länder im Bundesrat vermißt etwa v. Mangoldt, der hierin sogar einen inneren Bruch sieht.!9 Wenn man, so argumentiert er, die Bundesratsvariante der Senatsvariante vorziehe mit der Begründung, auf diese Weise könnte auch auf Bundesebene der Sachverstand der Länder nutzbar gemacht werden, dann sei eine Gewichtung der Länder am Maßstab der Bevölkerung unzulässig, weil sich doch aus der Bevölkerungszahl kaum auf den Sachverstand der jeweiligen Landesregierung schließen lassen könne. Diese Kritik v. Mangoldts scheint jedoch im Ansatzpunkt verfehlt: Die Fragen nach der Form des Föderativorganes und diejenige nach einer gewichteten Vertretung der einzelnen Länder werden hier in unzulässiger Weise vermischt. Auch wenn beide Fragen sicherlich eng zusammenhängen, knüpft doch die Gewichtung eines einzelnen Landes an diesem selbst und nicht an der jeweiligen Landesregierung und deren Sachverstand an. Die Fragen nach dem vertretungsberechtigten Organ eines Landes und diejenige nach der diesem zustehenden Stimmenzahl sind zu trennen. Ausgangspunkt für eine sachgerechtere Beantwortung der Frage der Berechtigung einer Gewichtung der Länder muß die oben gegebene Beschreibung dieser Länder selbst sein. Die Länder des Grundgesetzes sind (wesentlich) konstruierte Gebilde; hieraus folgt sodann, daß auch ihre Vertretung im Bundesrat konstruierbar ist. Jede lineare Ableitung aus der Verfassungsgeschichte scheitert - wie gezeigt - am Fehlen Preußens, jede lineare Ableitung aus völkerrechtlichen Gedanken an der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, die gerade nicht einen Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat kennt. So war der Parlamentarische Rat in der Tat frei, die Anzahl der Vertreter eines Landes im Bundesrat neu zu bestimmen. 17 So die gängige Begründung der Stimmverteilung im Ständerat, Messmer (FN 12), S. 194; Meyer, Mitwirkungsrechte, S. 34 f. 18 Schindler, Gleichheit, S. 147 und Messmer (FN 17); im einzelnen hierzu sogleich unter 11. 19 V. Mangoldt (FN 6), S. 271.
11. Schweizerischer Ständerat
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Indem das Grundgesetz in Art. 51 Abs. 2 GG eine unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Länder, relativ zu ihrer Bevölkerungszahl, vorsieht, knüpft es an die bereits dargelegte Tradition der Bemessung der Vertreterzahl im Föderativorgan anhand der Bedeutung des jeweiligen Landes für das Ganze an. Nicht der Status eines Landes als Bundesland, sondern die Unterschiedlichkeit in der Bevölkerungszahl bildet das maßgebliche Anknüpfungskriterium. 20 Auch wenn in gleicher Weise eine gleichmäßige Vertretung aller Länder im Bundesrat denkbar gewesen wäre, würde sich eine solche gleichmäßige Vertretung angesichts der konstruierten Länder nur schwerlich in das Gesamtsystem einfügen lassen. In diesem Falle bildete die Eigenschaft eines Landes als Bundesland das einzig maßgebliche Kriterium; diese (Über-)Betonung des Bundesland-Charakters würde dann der bloßen historischen Zufälligkeit der Länder nicht mehr entsprechen. Ihre Eigenschaft als Bundesländer gebietet nur die Vertretung eines jeden Landes im Bundesrat; insoweit ist nicht ersichtlich, wie eine Differenzierung zu rechtfertigen wäre. Nicht jedoch ist die alleinige Maßgeblichkeit dieser Eigenschaft als Bundesland zwingend ableitbar und damit auch nicht die gleichmäßige Vertretung aller Länder im Bundesrat. Der konkreten in Art. 51 Abs. 2 GG gefundenen Berechnungsweise haftet letztlich etwas Willkürliches an. 21 Ausgehend von den zwei Prinzipien der Anknüpfung an die Bedeutung des einzelnen Landes und der Vermeidung neuer Hegemonien läßt sich dieser Modus zwar begründen. Andere Zahlenverhältnisse zwischen den großen und den kleinen Ländern wären dies jedoch in gleicher Weise. 11. Schweizerischer Ständerat 1. Die Gleichheit der Kantone in der Vedassungstradition der Schweiz
Schindler bezeichnet die Gleichheit der Kantone als einen "Grundsatz des schweizerischen Staatsrechts", 22 der zudem die gesamte Verfassungsgeschichte bis heute geprägt habe. Wird hier bereits eine enorme Konstanz über die Jahrhunderte hinweg im Grundsätzlichen deutlich, so bestätigt sich die Beobachtung für das Föderativorgan, wo die wesentlichste Änderung gegenüber der Zeit vor 1798 -läßt man einmal die neu entstandenen Kantone außer Betracht - darin besteht, daß jedem Kanton nicht nur ein, sondern zwei Ver20 Für die WRV vgl. Bilfinger, HdbDStR, I, S. 554 - 556; Herzog, HdBStR, § 44, Rn 4 spricht insoweit vager von "gewissen unitarischen Einspielungen" . 21 Nur insoweit hat Stern (FN 3) recht, wenn er die Beliebigkeit eines jeden Berechnungsmodelles herausstellt. 22 Schindler (FN 18), S. 147.
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II. Abschnitt: A. Berechnungsarten der Zahl der Vertreter
treter zustehen. 23 Eine gleichmäßige Vertretung aller Kantone war, abgesehen von der Zeit von 1798 - 1815, stets gegeben. a) Die gLeichmäßige Vertretung der Kantone auf der Tagsatzung Im direkten Gegensatz zum Bundestag des Deutschen Bundes von 1815 kannte die Tagsatzung weder vor 1798 noch in der Zeit von 1815 - 1848 eine unterschiedliche Vertretung der einzelnen Kantone (Orte). Gleichviel, ob es sich um das bevölkerungsreiche und mächtige Bern oder um einen kleinen Kanton wie Zug handelte, jedem stand in gleicher Weise eine Stimme auf der Tagsatzung zu. Diese Gleichstellung der Kantone entspricht dem völkerrechtlichen Grundsatz der Gleichheit aller souveränen Staaten. 24 Es war also einzig die Qualität als Kanton maßgeblich. Diese Eigenschaft alleine stellte gleichzeitig die Berechtigung zur Vertretung auf der Tagsatzung und die Begrenzung der Zahl der jedem Kanton zustehenden Vertreter dar. Irgendwelche Differenzierungen zu Gunsten oder zu Lasten eines Kantones wurden - grundsätzlich - nicht vorgenommen. 25 Ausgehend von der allen Kantonen in gleicher Weise zukommenden Souveränität galten sie auf der Tagsatzung alle gleich. b) Die gLeichmäßige Vertretung der Kantone gemäß Art. 80 BV Auch bei der Bemessung der jedem Gliedstaat zukommenden Stimmen im US-Senat, dem zweiten Vorbild der schweizerischen Bundesverfassung von 1848, knüpfte man isoliert an der Eigenschaft der Staaten als Bundesglieder an. Jedem Staat kommt hiernach in seiner Eigenschaft als Mitglied der Union das Recht auf Sitze im Senat ZU 26 und, da einzig diese Eigenschaft als Bundesstaat relevant ist, das Recht auf gleichmäßige Zuerkennung von Sitzen. aa) Ausgehend von diesen beiden Vorbildern der alten Tagsatzung und des US-Senates wurde auch durch Art. 80 Satz 2 BV für den Ständerat die gleichmäßige Vertretung eines jeden Kantones durch zwei Standesherren angeordnet. Die äußerst unterschiedliche Bedeutung eines Kantones, die unterschiedlichen Größenverhältnisse und Bevölkerungszahlen, wurden vollständig negiert; einzig die Eigenschaft als Kanton ist relevant.
23 Die Sonderstellung der Halbkantone soll hier nicht weiter untersucht werden. Im wesentlichen gilt für diese jedoch das gleiche. 24 Schindler (FN 22). 25 Wegen der hier nicht weiter zu verfolgenden Differenzierungen ("Direktorialkantone" etc.) s. oben im historischen Teil der Arbeit. 26 Der Föderalist, Nr. 62, S. 347.
II. Schweizerischer Ständerat
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Ließe sich für die Regelung in Art. 51 Abs. 2 GG sagen, daß die Verfassungsgeschichte eine solch gewichtete Vertretung nahelegt, so läßt sich diejenige des Art. 80 Satz 2 BV noch deutlicher aus der historischen Entwicklung ableiten. 27 Hervorgegangen aus einem Bund gleichberechtigter und voneinander unabhängiger Kantone werden diese auch im neu gegründeten Bundesstaat als gleichwertig angesehen. Jeder Kanton verlor in gleicher Weise im Moment der Gründung der Schweiz seine Souveränität,28 jedem steht somit auch ein gleichgewichtetes Teilhaberecht zu. Die Situation des Vertragsschlusses zwischen Gleichberechtigten zur Gründung eines neuen (Bundes-) Staates führt zur gleichmäßigen Vertretung eines jeden Bundesgliedes im Föderativorgan, im Ständerat. War vor der Bundesgründung einzig die Eigenschaft eines Landes als Kanton maßgebend, zählt danach nur noch die Eigenschaft als Mitglied der Eidgenossenschaft. Differenzierungen im Ständerat verbieten sich hiernach. bb) Bezieht man nun nochmals die Zusammensetzung der anderen Kammer der Bundesversammlung, des Nationalrates, mit ein, so wird der Charakter dieses Zweikammersystems als Vereinigung gegenläufiger Prinzipien sehr deutlich. Wird im Ständerat das von der Tagsatzung überlieferte Prinzip der Gleichheit aller Kantone übernommen, manifestiert sich im Nationalrat durch die rein proportionale Sitzverteilung das Prinzip der Gleichheit aller Schweizer Bürger. Gleichheit der Kantone und Gleichheit der Bürger - beides hat seinen Ausdruck in einer Kammer der Bundesversammlung gefunden; beide bilden zusammen die Grundlage der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 29 Diese ruht somit - bildhaft gesprochen - auf diesen zwei Säulen, der Gleichheit der Kantone und der Gleichheit der Bürger oder - prägnanter formuliert - auf Volk und Kantonen. 2. Die Gewährleistung der Gleichheit der Kantone
a) Gemäß Art. 123 Abs. 1 BV bedürfen Verfassungsänderungen eines zweifachen Mehrs; neben der mehrheitlichen Annahme durch das Volk im obligatorischen Referendum bedarf eine solche Verfassungsänderung der Zustimmung durch die Mehrheit der Kantone. Als Kantonsstimme gilt dabei nach Art. 123 Abs. 3 BV das Ergebnis der Volksabstimmung bezogen auf den Messmer (FN 12), S. 194. Wenn Art. 3 BV von einer "Souveränität der Kantone" spricht, so geschieht dies in Entsprechung der Waitz'schen Theorie der geteilten Souveränität. Nach dieser - von Alexis de Tocqueville übernommenen - Theorie teilen sich in einem Bundesstaat die Gliedstaaten und der Zentralstaat in die Souveränität. Diese Vorstellung einer geteilten Souveränität wird heute als Widerspruch in sich angesehen, vgl. HäfeliniHaller, Bundesstaatsrecht, N. 170. Im übrigen vgl. Meyer (FN 17). 29 Schindler (FN 18), S. 158 f. 27
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einzelnen Kanton. Dieses Erfordernis einer doppelten Mehrheit kann nun aufgrund der großen Unterschiede in den Bevölkerungszahlen der einzelnen Kantone dazu führen, daß eine von der Mehrheit des Volkes angenommene Verfassungsänderung gleichwohl scheitert, weil sie in einer Mehrheit der kleinen Kantone verworfen wurde. In gleicher Weise wie die in Art. 80 BV festgelegte gleichmäßige Vertretung aller Kantone im Ständerat bewirkt auch diese Regelung des Art. 123 Abs. 1 BV einen Schutz der alten Sonderbundskantone. 3o Es ist die konservativkatholische Minderheit vor allem der Innerschweiz, die von dieser Regelung profitiert. Gleichfalls bedeutet diese Regelung auch eine Gewährleistung der Sitzverteilung im Ständerat. Um diese zu ändern, bedürfte man der Zustimmung durch die Mehrheit der Kantone. Selbst wenn also einmal eine Mehrheit des Volkes einer solchen Veränderung zustimmen sollte, könnten die kleinen Kantone durch das Erfordernis des Ständemehrs die Minderung ihrer Rechte immer noch verhindern. Grundlage dieser Regelung in Art. 123 BV ist dabei wiederum eine Anknüpfung isoliert an die Eigenschaft der Kantone als Mitglieder der Eidgenossenschaft. Ungeachtet der jeweiligen Größe oder Einwohnerzahl zählt die Stimme eines jeden Kantones gleichviel, wird jeder für ein gleichberechtigtes Bundesglied geachtet. b) Noch weitergehend wird der Schutz der gleichgewichteten Vertretung im Föderativorgan in den USA gewährleistet. Gemäß Art. V der US-Verfassung bedürfte eine Änderung dieser gleichmäßigen Vertretung im US-Senat jeweils der Zustimmung des betroffenen Staates. Da im übrigen auch in den USA Mehrheitsentscheidungen zur Verfassungsänderung ausreichend sind,3! wird durch diese Sonderregelung deutlich, welche eminente Bedeutung der gleichmäßigen Vertretung der einzelnen Staaten im Senat beigemessen wird. 111. Spannungen zwischen föderativer Gleichheit und Mehrheitsprinzip Der Abbe Sieyes drückte prägnant wie wohl kein anderer seine Kritik am Zweikammersystem aus: Eine Erste Kammer sei überflüssig, wo sie mit der Volksvertretung übereinstimme und gefährlich, wo sie von ihr abweiche. 32 Sowohl im Falle des Bundesrates als auch beim Ständerat weicht nun, wie gezeigt, die Zusammensetzung so erheblich von derjenigen der jeweiligen Volksvertretung ab, daß in bei den Fällen das Zweikammersystem als eine Hangartner, Grundzüge, Bd I, S. 225 f. Gern. Art. V US-Const. müssen sonst 3/4 aller Staaten einer Verfassungsänderung zustimmen. 32 Zitiert nach Messmer (FN 12), S. 220. 30
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III. Föderative Gleichheit und Mehrheitsprinzip
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"Gefahr" im Sinne des Abbe Sieyes anzusehen wäre. Sieyes erkennt nur eine Autorität an, diejenige eines Mehrheitsbeschlusses des Volkes. Eine Einschaltung einer zweiten Kammer, die wie der Bundesrat und der Ständerat den Willen der Bevölkerung in einer abweichenden Gewichtung widerspiegeln, müßte sich hiernach als Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger darstellen. Bezieht man einmal die Überlegungen, die bisher zur gleichmäßigen Vertretung der Länder im Föderativorgan angestellt wurden, auf die These von Sieyes, so läßt sich leicht erkennen, wie wenig die These auf die Verhältnisse in föderal strukturierten Ländern paßt. Er geht vom zentralistischen Frankreich aus; Länder oder Kantone, die Frage nach Gleichheit zwischen diesen, ignoriert er vollständig. Bevor also die Frage der "Gefährlichkeit" eines Bundesrates oder Ständerates für das deutsche bzw. das schweizerische Verfassungssystem sinnvoll angegangen werden kann, bedürfen diese Organe einer genaueren Analyse im Hinblick auf die bei Sieyes thematisierten Kategorien der Mehrheit und der Gleichheit. 1. Die Antinomie von Gleichheit und Mehrheit im föderalen Staat
a) Der Begriff der Gleichheit - Die Gleichheit der Gliedstaaten Im Ständerat sind alle Kantone gleichmäßig mit zwei Abgeordneten vertreten. Diese gleichmäßige Vertretung verursacht zugleich die bereits erwähnten Ungleichmäßigkeiten in der Vertretung der Bürger, indem sie keine Rücksicht auf die außerordentlich unterschiedlichen Bevölkerungszahlen in den einzelnen Kantonen nimmt. Einzig die Eigenschaft als Kanton ist hier maßgebend. Im Bundesrat sind alle Länder - abgemildert - entsprechend ihrer Bedeutung vertreten. Diese relative Berechnung vermeidet die eben aufgezeigte Ungleichmäßigkeit in der Vertretung der Bürger, indem sie die Anzahl der in einem Land lebenden Bürger für jedes Land in gleicher Weise zum Ausgangspunkt der Berechnung der ihm zustehenden Sitze nimmt. In beiden Fällen läßt sich sagen, daß die Länder bzw. Kantone im Föderativorgan in gleicher Weise vertreten seien. Zwei Aspekte des Gleichheitsbegriffes werden hier deutlich: 33 Zur Berechnung der den Kantonen im Ständerat zustehenden Stimmen wird von allen Eigenschaften des Kantones abstrahiert. Einzig seine Qualität als Kanton zählt. Nur in dieser einen Eigenschaft müssen die Kantone übereinstimmen; aufgrund dieser einen übereinstimmenden Eigenschaft werden sie im übrigen gleich behandelt. Wegen der Absolutsetzung dieses einen Attributes "Kanton" wird diese Form der Gleichheit auch "absolute Gleichheit" 33 Zum Folgenden Hesse, AöR 77 (1951/52), S. 172 - 177 sowie Leibholz, Gleichheit, S. 138 f. und Aubert in Kommentar BV, Art. 1, Rz 46 f.
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11. Abschnitt: A. Berechnungsarten der Zahl der Vertreter
(Leibholz) genannt. Um eine Abgrenzung zur einzig absoluten Gleichheit, der Identität als der Übereinstimmung in allen Merkmalen, zu erzielen, sollte man jedoch eher von "schematischer Gleichheit" (Hesse) sprechen. Auch bei der Anknüpfung an nur einern einzigen Merkmal (z. B. Kanton) läßt sich zwar von Absolutsetzung dieses Attributes sprechen, nicht jedoch von "absoluter Gleichheit". Diese kann nur Übereinstimmung bezüglich aller Merkmale, also Identität, bedeuten, will man den Begriff der Absolutheit nicht relativieren. Ein minderer Grad der Abstraktion besteht bei der Berechnung der den einzelnen Ländern im Bundesrat zustehenden Stimmen. Hier wird von der Bedeutung des Landes, ausgedrückt in seiner Bevölkerungszahl, nicht abstrahiert. Vielmehr wird ihm eine entsprechende, eine proportionale Vertretung zuerkannt. Diese Proportionalität bewirkt eine gleichmäßig mit der Bevölkerungszahl steigende Anzahl von Vertretern im Bundesrat und damit eine "relative" Gleichheit der Länder, bezogen eben auf ihre Bevölkerungszahl. Sowohl die Kantone im Ständerat als auch die Länder im Bundesrat sind also in je gleicher Weise vertreten. Unterschiede ergeben sich erst durch den verschieden gebrauchten Gleichheitsbegriff.
b) Die Antinomie der Prinzipien der Gleichheit und der Mehrheit Die als gleich erkannten Gliedstaaten werden in dem Moment jedoch ungleich bewertet, in dem Mehrheitsentscheidungen verbindlich werden können. Solange das Einstimmigkeitsprinzip gilt, sind alle in gleicher Weise an der Entscheidung beteiligt; sobald jedoch das Majoritätsprinzip eingeführt ist, teilen sich die Länder in Mehrheitsländer und Minderheitsländer auf, von denen die ersteren den letzteren ihren Willen aufzwingen können. Es entstehen auf diese Weise Länder, die bestimmen können, in welchem Sinne ein Beschluß zu fassen ist und solche, die dieser Bestimmung zwar entgegentreten können, diese letztlich jedoch zu respektieren haben. Eine erste Möglichkeit, die hierin auftretende Antinomie zwischen den Prinzipien der Gleichheit und der MehrheiP4 zu beseitigen, besteht darin, diese Differenz gedanklich zu überwinden. Indern der Wille der Mehrheit als "allgemeiner Wille" definiert wird, damit zum wahren Willen aller und letztlich auch der Minderheit erhoben wird, die über ihren wahren Willen lediglich im Irrtum war, besteht ein Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit nicht mehr. 35
34 Siegrist, Schweizerische Verfassungsordnung, Bd 11, S. 67 ff., spricht insoweit von einem "spannungsgeladenen Verhältnis zwischen den Werten der Demokratie und denjenigen des Föderalismus"; inhaltlich besteht insoweit jedoch kein Unterschied. 35 Vgl. die prägnante Darstellung hierzu bei Hesse (FN 33), S. 191.
III. Föderative Gleichheit und Mehrheitsprinzip
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Doch erscheint diese Fiktion einer volonte generale für die hier untersuchten Verfassungen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland nicht haltbar. Sowohl im Bundesrat als auch im Ständerat bestimmt die Mehrheit den Inhalt des Beschlusses aufgrund der Tatsache des arithmetischen Mehrs, nicht aufgrund einer Übereinstimmung mit einer volonte generale. Diese Kategorie findet im vorliegenden Zusammenhang keinen Platz. Im übrigen läßt sich sicher bezweifeln, ob hier nicht Identitäten durch willkürliche Identifizierungen erst postuliert werden. Da die volonte generale nicht wie die volonte de tous durch Abstimmungen zu ermitteln ist, könnte sie auch mit dem Willen einer Minderheit identisch werden. Die Willkürlichkeit der ganzen Konstruktion einer volonte generale wird so deutlich. 36 c) Der Turnus - Eine Überwindung der Antinomie?
Die Antinomie zwischen den Prinzipien der Gleichheit und der Mehrheitsherrschaft ist letztlich nicht aufzuheben.37 Stets müssen diejenigen Gliedstaaten, die bei einer Abstimmung in der Minderheit geblieben sind, den Beschluß anderer Gliedstaaten respektieren; diese können ihren Willen durchsetzen, erstere nicht. Wenn aber jeder Gliedstaat einmal zu den bestimmenden, ein anderes Mal zu den respektierenden gehört, schwächt sich der Gegensatz erheblich ab. Indem jeder Gliedstaat apriori die selbe Chance hat, zur bestimmenden Mehrheit zu gehören, kein Gliedstaat stets seinen Willen durchsetzt und jeder auch einmal den Willen der anderen zu respektieren hat, werden die Unterschiede ~wischen Mehrheits- und Minderheitsländern zwar nicht aufgehoben, jedoch für die Praxis akzeptabel gemacht. Dieser Turnus, der Wechsel von Mehrheiten, gleicht die Härten des Mehrheitsprinzipes nahezu aus, läßt die Minderheitsländer im Wissen, selbst auch bei anderen Abstimmungen zur bestimmenden Mehrheit gehören zu können, eine Mehrheitsentscheidung akzeptieren. Der Turnus bewirkt, daß sich von Mehrheits- und Minderheitsländern nicht sinnvoll sprechen läßt, da jedes Land einmal zur Mehrheit und ein anderes Mal zur Minderheit gehört. Der Turnus schafft so ein großes Maß an Gleichheit. 38 36 VgJ. Hesse (FN 35); Siegrist (FN 34), S. 68 f., spricht davon, die Antinomie sei durch einen Rückbezug von "Föderalismus" und "Demokratie" auf die gemeinsame Wurzel "Freiheit" zu überwinden. Daß es sich dabei um eine bloß gedankliche, nicht aber eine praktische Lösung handelt, erkennt aber auch er an (aaO, S. 70). Er argumentiert jedoch auch in der Folge sehr häufig mit abstrakten Begriffen, um den "Konflikt Föderalismus-Demokratie" in den Griff zu bekommen. 37 Leibholz (FN 33), S. 146. 38 Hesse (FN 33), S. 193 f., der insoweit vom "Prinzip der Rotation" spricht, was sachlich jedoch keinen Unterschied bedeutet; Leibholz (FN 37); Schindler (FN 18), S.149.
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Am deutlichsten wird diese Funktion des Turnus in institutionalisierten Formen wie z. B. bei der Regelung über den Vorort in der Tagsatzung der Restaurationsphase. Zürich, Bern und Luzern stand abwechselnd die VorortSteIlung zu; keiner konnte so den anderen dominieren. Jeder der drei Kantone wurde in gleicher Weise oft bevorzugt, der zeitliche Ablauf bewirkte eine relative Gleichstellung und damit annähernd Gleichheit. 39 Bewirkt ein konstanter Turnus eine relative Gleichheit der Gliedstaaten, so bewirkt die Dominanz eines einzelnen Landes, das stets zur Mehrheit gehört, dessen Vorherrschaft oder Hegemonie. Gerade dies war der Fall bei Preußen im Bismarck'schen Bundesrat. Niemals in wichtigen Fragen in die Minderheit gedrängt, konnte Preußen stets seinen Willen durchsetzen. Es fehlte vollständig jegliche Gleichgeordnetheit und der Bundesrat war nicht viel mehr als dasjenige Organ, dessen Preußen bzw. die preußisch beherrschte Reichsexekutive sich bediente, um seinen Willen in verfassungsmäßig zustandegekommene Reichsgesetze umzuformen. Preußen allein bestimmte so das Entstehen des Reichswillens. Gefährliche Spannungen konnten aus dieser preußischen Hegemonie nicht entstehen, weil - wie bereits eingehend geschildert wurde - Bismarck diese Vorherrschaft derart kaschierte, daß die übrigen Länder sich als gleichberechtigte Glieder eines Bundes fühlen konnten. Daneben konnte Preußen auch derartigen Druck ausüben, daß bereits die latente Möglichkeit, sich dieser Vorherrschaft zu bedienen, den Zusammenhalt des Reiches gewährleistete. Gleichheit zwischen den einzelnen Gliedstaaten bestand somit bereits im Ansatz nicht.
d) Durchbrechung des Turnus durch Blockbildungen Die Labilität der durch einen Turnus bewirkten annähernden Gleichheit der Gliedstaaten zeigt sich, sobald diese nicht mehr als einzelne abstimmen, sondern in festgefügten Blöcken. Stellen diese sich dann als derart festgefügt dar, daß sie ohne Rücksicht auf den jeweiligen Gegenstand in immer der gleichen Weise bei Abstimmungen auftreten, dann ist der Turnus durchbrochen. Es besteht wieder ein Gegensatz von Mehrheits- und Minderheitsländern, die Gleichheit zwischen den Gliedstaaten ist suspendiert. Gerade dies war der Fall der Schweiz vor dem Sonderbundskrieg und in den USA vor dem Sezessionskrieg. 40 Regenerierte und konservative Kantone bzw. Nord- und Südstaaten waren - von geringfügigen Ausnahmen abgesehen derart festgefügte Gruppen, daß 'sie sich im Föderativorgan nur noch als Blöcke gegenüberstanden. Es war in beiden Fällen eine einzige der vielfältig 39 40
Schindler (FN 38). Leibholz (FN 33), S. 145 f.
III. Föderative Gleichheit und Mehrheitsprinzip
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vorhandenen Spannungslinien derart dominant geworden, daß alle anderen Gegensätze dahinter zurücktraten und einzig diese Blöcke zählten. Da weiterhin eine Gruppe sich jeweils als die konstant stärkere erwies, die andere - also die konservativen Kantone bzw. die Südstaaten - stets unterlag, war es nur konsequent, daß beide Konflikte im Bürgerkrieg mündeten. Konstant in der Minderheit und angesichts der starren Spannungslinie ohne jede Aussicht auf einen Turnus, blieb den konservativen Kantonen bzw. den Südstaaten kein anderer Ausweg als die Sezession, die dann den Bürgerkrieg nach sich zog.41 Beide Fälle demonstrieren sehr deutlich, von welch grundlegender Bedeutung der Turnus für den Zusammenhalt eines Bundes(-staates) ist. Finden sich einzelne Gliedstaaten immer wieder auf der letztlich unterlegenen Seite, werden sie also von anderen konstant dominiert, muß bei ihnen der Gedanke der Sezession aufkommen. Forciert wird dieser Prozeß dabei noch durch Blockbildungen, die jeglichen Turnus nahezu verunmöglichen. Der Turnus und die hierdurch bewirkte annähernde Gleichheit der einzelnen Gliedstaaten erweisen sich somit als ein Essentiale eines aus mehreren Einzelstaaten zusammengefügten Bundes und damit von Bundesstaatlichkeit schlechthin. 2. Die Zweite Kammer im Spannungsfeld zwischen föderativer Gleichheit und Mehrheitsherrschaft
Die aufgezeigte Antinomie zwischen den Prinzipien der Gleichheit und der Mehrheit läßt die eingangs dieses Abschnittes zitierte Kritik von Sieyes nunmehr in einem anderen Licht erscheinen. Wenn nach Sieyes einzig eine auf gesamtnationaler Ebene zu ermittelnde Mehrheit bestimmen darf und die Minderheit dies zu respektieren habe, so muß dies nach dem Dargelegten in dem Moment zu Spannungen führen, in dem eine lokal kompakte Gruppe aufgrund einer dominanten Spannungslinie beständig in die Minderheit gerät. Die so entstehende Gefahr der Sezession läßt sich nur durch Ausübung von Druck wie im Falle der Hegemonie Preußens vermeiden. Andere Mechanismen stünden in dem System von Sieyes nicht zur Verfügung, was letztlich das von Sieyes so betonte Prinzip der Demokratie in eine absolute Mehrheitsherrschaft verwandelt. Die These von Sieyes geht hiernach von einem hohen Grad an Homogenität aus. Sie setzt voraus, daß entweder der Mehrheitswille als volonte generale akzeptiert wird oder daß sich ein Turnus von Mehrheiten und Minderheiten einstellt. Das Vorhandensein von derart konstanten und bestimmenden Spannungslinien, wie sie z. B. die Schweiz vor dem Sonderbundskrieg oder die USA vor dem Sezessionskrieg prägten, paßt nicht in eine solche Vorstellung oder anders formuliert: eine These, wie sie Sieyes aufstellte, paßt nicht auf die Verhältnisse in der Schweiz. 41
Schindler (FN 18), S. 151 f.
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Es ist also nicht so sehr ein unzulässiges Vermengen zweier Oppositionen, nämlich demokratisch/autokratisch und zentralistisch/föderalistisch, woran die Anwendung der These von Sieyes auf die Verhältnisse der Schweiz letztlich scheitert. 42 Geht man einmal mit ihm von seiner Prämisse aus, daß alleine die Mehrheit eines Volkes herrschen dürfte, dann wäre - rein theoretisch - eine anders als streng proportional zusammengesetzte zweite Kammer mit diesem Demokratieverständnis schlechthin unvereinbar. Es ist vielmehr die unausgesprochene Prämisse der weitreichenden Homogenität, der Abwesenheit konstanter Spannungslinien, die die These von Sieyes so schwierig auf Länder wie die Schweiz übertragbar werden läßt. a) Der schweizerische Ständerat zwischen föderativer Gleichheit und Mehrheitsherrschaft aa) Ein zentraler Kritikpunkt, der gegen die gleichgewichtete Vertretung eines jeden Kantones im Ständerat immer wieder vorgebracht wird, ist die dadurch bewirkte, gegenüber dem Nationalrat erheblich abweichende parteienmäßige Zusammensetzung. 43 Seit Jahrzehnten bewirkt diese Abweichung eine mindere Vertretung der sozialdemokratischen Partei und eine Dominanz der katholisch-konservativen CVP. 44 Hervorgerufen wird diese Dominanz der CVP durch die schon mehrfach angesprochene relative Über-Repräsentation der katholisch-konservativen Kantone wie des Wallis, Freiburg und vor allem der Innerschweiz. Diesen von Luzern einmal abgesehen - sehr bevölkerungsschwachen Kantonen kommt durch die gleichgewichtete Vertretung jedes Kantones eine Stellung zu, die sich deutlich von derjenigen im Nationalrat unterscheidet. Verfügen Vri und Zürich so im Ständerat über je 2 Sitze, verfügt Vri im Nationalrat über nur einen, Zürich dagegen über 35 Sitze. Die Anknüpfung all eine an der Kantonseigenschaft bewirkt hier überdeutlich die Möglichkeit der Bildung einer "zweiten", katholisch-konservativ geprägten Mehrheit, die entscheidend von derjenigen des ganzen Volkes abweichen kann. Sobald sich die drei großen Minderheiten der Schweiz, die konservativ-katholischen Kantone der Innerschweiz, die welschen Kantone 42 Vor dieser - häufig vorgenommenen - Vermengung warnt etwa Gut, Grundfragen, S. 296, wenn er darauf verweist, daß die Existenzberechtigung des Ständerates alleine von den tatsächlichen (I) Voraussetzungen des Föderalismus her bestritten werden dürfe. 43 Deutlich etwa bei Gut (FN 42) und Aubert (FN 2), Nr. 1293. 44 So stehen nach den Wahlen im Herbst 1987 im Ständerat 19 Abgeordnete der CVP deren 5 der SPS gegenüber, während im Nationalrat ein Verhältnis von 42 zu 41 besteht; Quelle: NZZ vom 17. 11. 1987, Fernausgabe, 208. Jg., Nr. 266, S. 17 und 19; vgl. auch Aubert in Kommentar BV, Art. 1, Rz 13.
III. Föderative Gleichheit und Mehrheitsprinzip
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und diejenigen der Ostschweiz zusammenschließen, verfügen sie über eine Mehrheit nach Kantonen, ohne eine solche in der Bevölkerung zu besitzen. 45 bb) Diese Bildung "zweiter" Mehrheiten ist ein für die Schweiz typisches Phänomen, weil sie durch sehr variable Mehr- und Minderheiten, damit sehr variable Spannungslinien geprägt ist. 46 Die konfessionelle Opposition brachte die Schweiz 1847 noch in den Sonderbundskrieg; diese Opposition besteht auch heute noch, nur wird sie überlagert durch weitere Oppositionen, die im Gegensatz zum 18. Jahrhundert und zur Zeit des Sonderbundskrieges die konfessionelle Spannungslinie schneiden und damit diese relativieren. So besteht eine deutliche Opposition zwischen deutschsprachigen und welschen Kantonen, die dann immer wieder aufbricht, wenn die welsch-schweizer Kantone eine Tendenz zu erhöhter Zentralisierung - nach Bern (politisch) oder Zürich (wirtschaftlich) hin - befürchten. 47 Eine weitere konstante Opposition besteht zwischen eher urbanen und mehr bzw. rein ländlichen Kantonen,48 die in jüngster Zeit sich auch in einer Opposition zwischen solchen Kantonen, denen die Erhaltung der natürlichen Alpenwelt ein vorrangiges Anliegen ist und den (betroffenen) Kantonen, die eine weitgehende wirtschaftliche Nutzung der natürlichen Ressourcen ("Wasserschloßkantone") befürworten, äußerte. 49 Diese und noch manche Oppositionen mehr erzeugen in der Schweiz diejenige Situation, die Frenkel mit "sich überkreuzenden Spannungsfeldern (cross-cutting cleavages )"50, Reck etwas schlichter mit "anderen Röstigräben"51 umschreibt. Es können sich in Abhängigkeit von der Sachfrage neue Mehrheiten bilden, wobei jeweils kompakte lokale Gruppen auftreten, die 45 An einer solchen 2. Mehrheit ist 1970 etwa das Finanzreferendum gescheitert, wobei der bereits erläuterte Art. 123 Abs. 1 BV die gleiche Schutzfunktion erfüllt wie die gleichmäßige Vertretung gemäß Art. 80, S. 2 BV im Ständerat; Nachweise bei Trivelli, Bicamerisme, S. 494 f. 46 Frenkel, Föderalismus, Bd I, Nr. 574; vgl. zum folgenden auch Rhinow, VVDStRL 44 (1986), S. 90. 47 Z. B. Manuel, federalisme suisse, Schweizer Monatshefte, 39. Jg. (1959), S. 718 (721); deutlich wird dies auch immer wieder bei der besonders vehementen Zurückweisung von Verfassungsänderungen, die dem Bund "zu weitgehende" Kompetenzen einräumen sollen; Nachweise bei Trivelli (FN 45). Dort werden verschiedene Abstimmungen dargelegt, aus denen sich dieses tiefe Mißtrauen ablesen läßt. Besonders deutlich etwa die Abstimmungen über das Finanzreferendum vom 30. 9. 1956 und die Neuordnung der Bundesfinanzen vom 15. 11. 1970; Trivelli , S. 394 ff. und 484 ff. In beiden Fällen stimmten die welsch-schweizer Kantone im Verein mit den innerschweizerischen konservativen Kantonen im Sinne einer Beschränkung der Bundesgewalten. 48 Exemplifiziert durch die Volksabstimmung über die Initiative zum Verbraucherund Mieterschutz vom 13. 3. 1955. Für eine solche - soziale und dirigistische - Politik des Bundes votierten die Kantone Zürich, Bern, beide Basel, Tessin, Waadtland, Neuenburg und Genf. Nachweise bei Trivelli (FN 42), S. 390 f. 49 Allgemein Frenkel (FN 46), speziell zum Terminus der "Wasserschloßkantone" Reck in "Die Weltwoche" vom 8. 10. 1987,55. Jg., Nr. 41, S. 47. 50 Frenkel (FN 46), Nr. 572. 51 Reck (FN 49).
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sich aber von Sachfrage zu Sachfrage neu formieren. Mehr- und Minderheiten sind durch lokal je andere Spannungslinien geschnitten. Insgesamt vermeidet diese Situation die Gefahr einer neuen Sezession, eines neuen Sonderbundes. Indem sich stets andere Gruppen von Mehrheits- und Minderheitskantonen bilden, ist die Gefahr einer festen Blockbildung gebannt,52 cc) Beließe man es in dieser Situation sich kreuzender Spannungsfelder bei einer rein proportionalen Volksvertretung, bestünde angesichts der schweizerischen Verhältnisse immer noch die Gefahr, daß bestimmte Gruppen beständig in die Minderheit gerieten. So könnten die welschen Kantone im Verein mit den katholischen Kantonen der Innerschweiz immer noch überstimmt werden, obwohl sie mit 11 Kantonen und 2 Halbkantonen53 nach Kantonen bereits die Mehrheit bilden. Es würden so Mehrheitskantone in der Deutschschweiz entstehen, die die übrige Schweiz konstant majorisieren könnten. Eine neue Sezession wäre dann wieder möglich. Eine Gleichgewichtslage und damit annähernde Gleichheit läßt sich in einer solchen Situation nur durch eine zweite Kammer mit schematisch gleicher Vertretung aller Kantone erzielen. Nur so haben die je lokal kompakten Minderheiten die Chance, zur Mehrheit zu werden. Erst und gerade eine so strukturierte zweite Kammer kann in einer Situation sich kreuzender Spannungsfelder, wie sie die Schweiz prägt, Gleichheit zwischen den Kantonen bewirken. dd) Bei einem Verständnis, das die tatsächliche Lage der Schweiz mit berücksichtigt, erfährt die gleichgewichtete Vertretung der Kantone so eine zweite Rechtfertigung. Neben der historischen Begründung, die an der je gleichen Stellung aller Kantone als ehemals souveräner Partner eines Bundesvertrages anknüpft, erfährt die schematische Gleichstellung der Kantone aus dem Spannungsverhältnis von Gleichheit und Mehrheit ihre innere Begründung. Ausgehend von dem Faktum sich kreuzender Spannungslinien und je lokal strukturierter Minderheiten wird diesen durch die schematische Berechnung das Erzielen von Mehrheiten im Ständerat ermöglicht und damit die Gefahr ungleicher Mehrheits- und Minderheitskantone beseitigt. b) Der deutsche Bundesrat zwischen föderativer Gleichheit und Mehrheitsherrschaft
aa) Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete den Staat des Grundgesetzes einmal als auf dem Weg zur "radikal-egalitären parteienstaatlichen Demokratie" befindlich. 54 Der Begriff des "Radikal-Egalitären" gemahnt dabei deutFrenkel (FN 46). Genf, Waadt, Neuenburg, Jura, Freiburg, Wallis, Tessin, Luzern, Uri, Schwyz, beide UnterwaIden, Zug. 54 BVerfGE 32, 157 (164). 52 53
III. Föderative Gleichheit und Mehrheitsprinzip
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lich an Demokratievorstellungen, wie sie zur Zeit der französischen Revolution gerade durch Sieyes entwickelt wurden. Wenn diesem Begriff ein greifbarer Inhalt zukommen soll, kann er nur eine Absage an jegliche Differenzierung der Bürger eines Landes nach überkommenen Kriterien wie Stand oder Herkunft bedeuten. Jede Stimme muß hiernach - in jeglicher Beziehung gleichviel zählen. Nur arithmetische Mehrheiten können legitimiert sein, den Inhalt von Beschlüssen zu bestimmen; es handelt sich gerade um jenes Demokratieverständnis, von dem ausgehend Sieyes zu seiner Ablehnung des Zweikammersystems gelangte. Die Durchführung radikaler Egalität verbietet zwangsläufig die Schaffung einer zweiten Kammer, in der das Volk nach anderen Maßstäben als nach dem der Proportionalität vertreten wäre. Die "radikale" Absage an jede abweichende Mehrheitenbildung in einer zweiten Kammer läßt eine solche im Sinne von Sieyes entweder als überflüssig oder als gefährlich erscheinen. Diese Sichtweise verfehlt die Strukturprinzipien der Bundesrepublik, so wie sie durch das Grundgesetz konstituiert werden. Wie bereits mit der Einschaltung des Bundesrates, als einem zweiten Organ, in das Gesetzgebungsverfahren deutlich wird, erkennt das Grundgesetz nicht die bei Sieyes deutlich werdende monistische Sichtweise an. Nicht alleine die Mehrheit des Gesamtvolkes wirkt legitimierend. Diese andersartige Legitimation des Bundesrates läßt sich nur erfassen, wenn man sich von dem Verständnis der Bundesrepublik als einer "radikal-egalitären" Demokratie löst. Nur dann kann es auch gelingen, die im Bundesrat bestehenden gegenläufigen Mehrheiten zu legitimieren, aus dem Verfassungssystem des Grundgesetzes heraus zu verstehen. Nur so läßt sich schließlich auch für die Bundesrepublik die These von Sieyes falsifizieren. bb) Auf der anderen Seite läßt sich auch die Analyse der schweizerischen Verhältnisse nicht auf die Bundesrepublik übertragen. Angesichts der geschilderten völlig andersartigen Struktur der Länder kann hier nicht von "sich kreuzenden Spannungsfeldern" gesprochen werden, die nach Ländern gegliedert wären; streng lokal gegliederte Mehr- und Minderheiten fehlen in Deutschland nahezu vollständig. Die durch den 2. Weltkrieg sowie den Neuaufbau Deutschlands bedingten Vermischungen in der Bevölkerung und die erwähnte ahistorische Länderstruktur lassen solch kompakte, nach Gliedstaaten aufgebaute Gruppen, wie sie für die Schweiz nachgewiesen werden konnten, nicht zur Entstehung gelangen. 55 Die Voraussetzung konstanter, lokal strukturierter gegenläufiger Mehrheits- und Minderheitsländer kann für Deutschland nicht nachgewiesen werden. Ausgehend von dieser andersartigen Situation ist auch in dieser Hinsicht eine schematisch gleiche Vertretung der Länder im Bundesrat nicht vorgegeben. Kompakte, lokal strukturierte Minderheiten, die nur auf diese Weise 55
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hesse (FN 16), Rdn. 220.
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Mehrheiten bilden und dadurch Gleichheit annähernd wieder herstellen könnten, sind nicht vorhanden. cc) Abgemildert durch die in Art. 51 Abs. 2 GG angeordnete gewichtete Vertretung, können so auch im deutschen Bundesrat zum unitarischen Bundestag entgegengesetzte Mehrheiten sich bilden, ohne daß dies durch entsprechende lokal gebundene Trennungslinien wie in der Schweiz gerechtfertigt wäre. Um das Sieyes'sche Verdikt der "Gefährlichkeit" zu widerlegen, bedarf der Bundesrat noch einer Legitimation aus sich heraus. Im Gegensatz zum Ständerat kann diese Legitimierung nicht bereits einer durch gegenläufige, lokal gegliederte Minderheiten geprägten Verfassungswirklichkeit entnommen werden. Sie muß daher funktional verstanden werden. Nur die Analyse der dem Bundesrat durch das Grundgesetz zugewiesenen Funktionen kann dieses Organ in seiner vom Bundestag abweichenden Struktur, in seinen gegenläufigen Mehrheiten erklären und damit rechtfertigen. IV. Zusammenfassung
Die Zahl der Vertreter eines Gliedstaates im Föderativorgan hat weder in Deutschland noch in der Schweiz etwas rein Beliebiges an sich. In bei den Staaten knüpft die aktuelle Regelung an die jeweilige, durch ein hohes Maß an Konstanz geprägte Verfassungsgeschichte an. In der Schweiz wird die schematisch gleiche Vertretung aller Kantone zusätzlich durch die verschiedenen, jeweils lokal strukturierten und kompakten Minderheiten bedingt, denen so die Chance verschafft wird, zur Mehrheit zu werden. Für den deutschen Bundesrat läßt sich die Regelung des Art. 51 Abs. 2 GG nur insoweit aus der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung rechtfertigen, als eine ausschließliche Anknüpfung an die Eigenschaft eines Landes als Bundesland die fehlende Historizität der Länder übergehen würde. Art. 80 BV bringt hingegen durch seine ausschließliche Anknüpfung an die Eigenschaft eines Kantones als Glied der Eidgenossenschaft und die hieraus resultierende schematisch gleiche Vertretung eines jeden Kantones im Ständerat zum Ausdruck, daß jeder Kanton als vormals souveräner Vertragspartner dem Bund gegenüber gleichsteht und daß die Schweiz als ganze nicht nur auf der im Nationalrat repräsentierten Gleichheit aller Schweizer Bürger, sondern auch auf der Gleichheit der vormals in gleicher Weise souveränen Kantone, repräsentiert im Ständerat, ruht. Anders als im Falle des Bundesrates läßt sich die schematisch gleiche Vertretung der Kantone im Ständerat auch durch die aktuelle Verfassungswirklichkeit begründen. Aufgrund des Vorhandenseins bestimmter konstanter Spannungsfelder , die ihrerseits lokal strukturierte, oftmals sehr kompakte Mehr- und Minderheiten hervorbringen, bedarf es dieses Korrektives zur reinen Proportionalität, um zu verhindern, daß einzelne Kantonsgruppen bestän-
IV. Zusammenfassung
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dig in die Minderheit geraten. Durch die so anders berechneten Mehrheiten wird diesen Minderheiten die Chance verschafft, zur Mehrheit zu werden. Die schematische Gleichstellung aller Kantone im Ständerat erfüllt insoweit für das Ganze eine stabilisierende Wirkung. Dem Bundesrat kann eine in dieser Art integrierende Funktion nicht zugeschrieben werden. Derart lokal kompakte Mehr- und Minderheiten lassen sich für die Bundesrepublik Deutschland nicht nachweisen. Seine Zusammensetzung und seine im Vergleich zum Bundestag anders berechneten Mehr- und Minderheiten bedürfen einer anderen Rechtfertigung. Sie ist in der Funktion des Organes zu suchen.
B. Das Verhältnis der Mitglieder des Föderativorganes zu den Organen der einzelnen Gliedstaaten Die Föderativorgane der deutschen Verfassungsgeschichte zeichnen sich vom Frankfurter Bundestag bis hin zum Bundesrat des Grundgesetzes noch durch Kontinuität in einem weiteren Aspekt aus: Stets waren es die gliedstaatlichen Regierungen, die diese Organe beschickten. So bildete der Bundestag von 1815 eine Versammlung weisungsgebundener Diplomaten, die in Vertretung und nach Weisung der Regierungen ihres jeweiligen Entsendelandes abstimmten. Der Bundesrat von 1871 war von Bismarck auch insoweit bewußt dem Bundestag nachempfunden worden: Nirgends sollte der bündische Charakter des Reiches deutlicher werden als in dem einer Gesandtenkonferenz angenäherten Bundesrat. Der Reichsrat der Weimarer Reichsverfassung und der Bundesrat des Grundgesetzes setzten diese Tradition insoweit fort, als auch sie aus Mitgliedern der gliedstaatlichen Regierungen bestehen; Versuche, ein Föderativorgan zu schaffen, das aus Abgeordneten bestünde, die von den Landesparlamenten gewählt würden, sind jeweils gescheitert. Gerade eine solche "Staatenhaus-" oder "SenatsLösung" , wie sie 1919 von Preuß und 1949 von großen Teilen des Parlamentarischen Rates erstrebt wurde, ist in der Schweiz seit 1848 verwirklicht. Die Abgeordneten des Ständerates sind gewählte und freie Mandatsträger , unabhängig von kantonalen Regierungen. Ausgehend von der Erkenntnis echter oder vermeintlicher Mängel der eigenen Lösung wird sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz teilweise der Einbau von Elementen aus der jeweils anderen Lösung befürwortet. Sollen hiernach die Mitwirkungsrechte der deutschen Länderparlamente in Bundesratsangelegenheiten verstärkt werden, wird in der Schweiz die Einführung eines "Ständeratsministers" diskutiert. Macht sich in Deutschland so ein Unbehagen an der weitgehenden Autonomie deutlich, mit der die Länderregierungen die Bundesratsangelegenheiten betreiben, zeigt das schweizerische Bestreben, daß gerade die Kantonsregierungen in die Entscheidungsfindung im Ständerat direkt mit einbezogen werden sollen. Angesichts solcher "konvergierender" Tendenzen gilt es für beide Staaten zunächst einmal, die gegensätzlichen "Modelle" in ihrer konkreten Verwirklichung darzustellen, um dann die Berechtigung dieser Tendenzen zu überprüfen.
I. Bundesrats- und Senatsprinzip
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I. Bundesrats- und Senatsprinzip Die Föderativorgane lassen sich nach ihrer Form in zwei verschiedene Gruppen aufteilen; solche, die nach dem Bundesrats- und solche, die nach dem Senatsprinzip aufgebaut sind. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Systemen besteht zunächst in dem Verfahren, nach dem die Mitglieder des Föderativorganes bestimmt werden: setzt sich der Bundesrat aus ernannten Vertretern der gliedstaatlichen Regierungen zusammen, wird ein Senat aus Abgeordneten gebildet, die vom Volk oder den Parlamenten in den einzelnen Gliedstaaten gewählt werden.! Zwischen einem Bundesrat und einem Senat bestehen hiernach gleich zwei grundlegende Unterschiede. Zum einen ist das Kreationsorgan ein anderes. Während die Mitglieder eines Senates ihre Legitimation vom gliedstaatlichen Volk bzw. dessen Vertretung unmittelbar erhalten, sind die Mitglieder eines Bundesrates vom glied staat lichen Volk her in nur sehr mittelbarer Weise legitimiert. Unmittelbar sind sie Vertreter der gliedstaatlichen Regierung; erst diese ist durch Wahlen zum Landesparlament, aus dem sie hervorgeht, vom Volke legitimiert. Zum anderen ist auch die Art der Bestimmung eine andere. Werden die Mitglieder des Senates gewählt, werden diejenigen des Bundesrates ernannt. Den mit einem eigenen Mandat versehenen Senatoren stehen so die "bestellten" Vertreter im Bundesrat gegenüber. 2 1. Bundesrat und Ständerat in ihrer jeweiligen Verfassungstradition
a) Der Bundesrat als Produkt einer Tradition des Bundesratsprinzipes Gerade auch im Hinblick auf die Form wird der Bundesrat als "Verfassungserbgut"3 bezeichnet, als deutlich den ausführlich dargestellten Vorbildern des Frankfurter Bundestages, des Bismarck'schen Bundesrates und des Weimarer Reichsrates nachempfunden. Manche gehen sogar so weit zu sagen, der Bundesrat des Grundgesetzes sei "wie der Bundesrat der Bismarck'schen Verfassung ein Gesandtenkongreß der deutschen Länder. "4 Die letzte Äußerung macht überdeutlich, zu welchen Fehlschlüssen undifferenzierte Übernahmen aus der Verfassungsgeschichte führen können. Die unmittelbare Ableitung des Bundesrates des Grundgesetzes aus dem Bis1 2 3
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Hesse, Grundzüge, Rdn 612 f. Hesse (FN 1); Aubert, Traite, Vol II, Nr. 1290 a. E. Stern, Bd II, § 27 I 1 b. Schnorr, AöR 76 (1950/51), S. 259 (281 f.).
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marck'schen Bundesrat erscheint dabei besonders fragwürdig. Letzterer ist losgelöst von der Situation des Jahres 1871, dem Streben Bismarcks, die Hegemonie Preußens abzusichern, nicht erklärlich. 5 Da Preußen 1947 zu existieren aufhörte, läßt sich der Bundesrat des Grundgesetzes nicht als bloße Fortführung einer Verfassungstradition verstehen. Trotz der deutlichen äußerlichen Konstanz und trotz der sich hierin manifestierenden Anknüpfung auch der Regelung des Grundgesetzes insbesondere an dem Vorbild des Bismarck'sehen Bundesrates, läßt sich die Ausgestaltung des heutigen Bundesrates als eines Regierungskollegiums nicht aus diesen Vorbildern begründen. Eine bloß formale Fortführung eines Prinzips, dessen ratio, die Absicherung der Hegemonie der preußischen Staatsregierung, fortfiel, wäre für eine Erklärung der im Grundgesetz verwirklichten Bundesratslösung nicht genügend. b) Der Ständerat Eine Neuschöpfung nach amerikanischem Vorbild
In kaum einem anderen Punkt stellt die Regelung des Ständerates durch die Bundesverfassung von 1848 (und 1874) einen so markanten Bruch mit der Tradition der Tagsatzung dar, wie in der Frage der Bindung seiner Abgeordneten an Instruktionen der kantonalen Behörden. Auf der Tagsatzung hatten die Gesandten bis 1848 noch nach Instruktionen ihrer Heimatkantone zu stimmen. Es bestanden so die gleichen Abhängigkeiten wie auf dem Frankfurter Bundestag und gelegentlich wurden wie dort auch auf der Tagsatzung Mängel der Instruktionen dazu benutzt, eine Entscheidung durch den Zwang, neue Instruktionen einholen zu müssen, erst einmal offen zu halten. 6 Wenn auch Art. 91 BV ganz neutral formuliert: "Die Mitglieder beider Räte stimmen ohne Instruktionen", so richtete sich dies doch primär gegen diese Tradition der Tagsatzung.? Nirgends wurde der Wandel vom weisungsgebundenen Gesandten auf der Tagsatzung zum unabhängigen Abgeordneten im Ständerat so deutlich wie in dieser Vorschrift. Sie stieß daher auch bei den meisten Kantonen auf entschiedene Ablehnung; einzelne schlugen auch eine zusätzliche Regelung vor, nach der den Kantonen das Recht der Instruktion vorbehalten bleiben sollte.8 Schließlich überwog jedoch die Ansicht, daß nur die vollständige Unabhängigkeit der Ständeräte vom jeweiligen Heimatkanton die Funktionsfähigkeit des Ständerates gewährleisten könne,9 und das Senatssystem getreu dem USamerikanischen Vorbild wurde übernommen. 5 6 7
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In diesem Sinne Heuss, ParI. Rat, Steno Ber., 10. Sitzung, S. 207. V. Berchem, systeme bicameral, S. 202. V. Berchem (FN 6), S. 201; ebenso Aubert in Kommentar BV, Art. 91, Rz 3. V. Berchem (FN 6), S. 201 f. und dort FN 1.
I. Bundesrats- und Senatsprinzip
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Die Feststellung Auberts, daß die Einführung des Zweikammersystemes in der Schweiz einen größeren Bruch mit dem Hergebrachten darstelle als in den USA,1O trifft auch gerade auf die Struktur des Ständerates zu. Die Anlehnung an das amerikanische Vorbild wird hierin auch besonders deutlich. 2. Weitergehende Einteilungen: Stern
Abweichend von der obengenannten Einteilung der Föderativorgane in solche nach dem Bundesrats- und solche nach dem Senatsprinzip will Stern eine Dreiteilung vornehmen,ll indem er Bundesrats-, Senats- und Repräsentationsprinzip unterscheidet; Senats- und Repräsentationsprinzip sollen dabei danach abzugrenzen sein, daß das Wahlorgan bei ersterem das Volk, bei letzterem die gliedstaatlichen Parlamente wären. Diese weitergehende Differenzierung führt dazu, daß man den US-Senat zunächst dem Repräsentationsprinzip und ab 1913, als die Volkswahlen eingeführt waren, dem Senatsprinzip zuordnen müßte. Ähnlich gilt dies für den Ständerat, der zunächst dem Repräsentationsprinzip, dann wohl einer Mischform und erst, nachdem mit Bern der letzte Kanton die Volkswahl der Ständeräte einführte, dem Senatsprinzip zuzuordnen wäre. Die historische Entwicklung in bei den Ländern ließe sich so kurz als Übergang vom Repräsentations- zum Senatsprinzip beschreiben. Mit einer solchen Aussage ist jedoch in keiner Weise erfaßt, welche Gründe in bei den konkreten Fällen den Übergang zur direkten Volkswahl verursachten. In den USA waren es in den Gliedstaaten eingetretene Fehlenwicklungen, die zu dem Übergang durch das 17. Amendment führten. In verschiedenen Staaten hatte sich nämlich die Gewohnheit gebildet, daß die Wahlen der Gliedstaatenparlamente durch die Verpflichtung auf einen bestimmten Senatskandidaten entschieden wurden. 12 Dieser ungewollten Verquickung steuerte man durch die genannte Verfassungsänderung entgegen. In der Schweiz waren es eher grundSätzliche Überlegungen, die den Übergang bewirkten. 13 Stand bei der ursprünglichen Wahl durch die Kantonsparlamente die Überlegung im Vordergrund, daß so gewährleistet werden könnte, daß in die kleine Kammer ausgewiesene Fachleute und auch treue Vertreter der Kantonsinteressen gelang9 Hornberger, Art. 91 BV, S. 74. Einige Kantone versahen ihre Ständeräte jedoch trotz Art. 91 BV mit Instruktionen. Diese "Abgesandten" wurden vom Ständerat in ihre Heimatkantone zurückgeschickt, vgl. Jaag, Zweite Kammer, S. 100. 10 Aubert (FN 2), Nr. 1253. 11 Stern (FN 3), § 27 11 a. Er nennt dort noch das Ernennungsprinzip als ein viertes, das er in Kanada verwirklicht sieht. Aufgrund des fehlenden Bezuges zur vorliegenden Arbeit soll dies jedoch nicht weiter vertieft werden. 12 Jaag, (FN 9), S. 95. 13 Zum folgenden Jaag (FN 9), S. 94 f.
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ten, erblickt man hierin heute keinen Grund mehr, die Wahl des Ständerates, der ja einen Teil des Parlamentes, der Bundesversammlung, bildet, dem Volk vorzuenthalten. Auch ihm wird insoweit heute genügende Kompetenz zugetraut. Diese sehr unterschiedlichen Gründe lassen sich durch die Formel "Übergang vom Repräsentations- zum Senatsprinzip" nicht erfassen. Überdies erscheint diese weitergehende Differenzierung von Stern nur dann gerechtfertigt, wenn sich damit auch ein Unterschied in der Sache verbindet. Dem Senatsprinzip müßte dadurch etwas Nicht-Repräsentatives anhaften, daß das Wahlorgan das Volk anstelle des gliedstaatlichen Parlamentes ist. 3. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Vertretung und Repräsentation
Mit Bezug auf den Ständerat wird in der schweizerischen staatsrechtlichen Literatur immer wieder betont, daß er "juristisch" keine Vertretung der Kantone darstelle. 14 Dies wird mit dem Instruktionsverbot des Art. 91 BV begründet, nach dem die Mitglieder des Ständerates selbstverantwortliche Abgeordnete sind, die in keiner Weise von den Behörden ihres Heimatkantones abhängen.1 5 Auf der anderen Seite wird jedoch über denselben Ständerat gesagt, daß er die Kantone "repräsentiere". 16 Vertretung und Repräsentation erscheinen so als zwei Prinzipien der gliedstaatlichen Mitwirkung auf Bundesebene, unterschieden nach dem hier untersuchten Grad der Abhängigkeit von den jeweiligen gliedstaatlichen Behörden. a) Vertretungsprinzip und Prinzip der Repräsentation Leibholz bringt im Rahmen seiner grundlegenden Untersuchung über das "Wesen der Repräsentation" den Unterschied zwischen dem Senats- und dem Bundesratssystem auf die kurze Formel, daß die Gliedstaaten in jenem repräsentiert und in diesem vertreten wären.!7 Zu dieser Gegenüberstellung gelangt Leibholz, nachdem er den Begriff der Repräsentation auch gerade aus einer Abgrenzung gegenüber dem Begriff der Vertretung definieren konnte. Ausdruck eines auf dem Prinzip der Repräsentation aufgebauten Verfassungssystemes ist für Leibholz zunächst der vielzitierte Satz von Blackstone, daß "every member, though chosen by one particular district, when elected and returned serves for the whole realm. "18 Leibholz sieht hierin jedoch nicht 14
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Häfelin/Haller, Bundesstaatsrecht, N. 188 und 692. HäfeliniHaller (FN 14), N. 692. Hangartner, Grundzüge, Bd I, S. 110. Leibholz, Repräsentation, S. 200.
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nur einen bestimmten Zurechnungsmodus, sondern sieht den "Sinn der Repräsentationsfunktion" darin, daß "die als geistige Einheit existentiell vorhandene, konkrete Volksgemeinschaft in der Realität empirisch greifbar zu machen" ist. 19 Für Leibholz wird der Begriff der Repräsentation auf diese Weise zu etwas Über-Empirischem,20 eine Konsequenz, deren Stringenz gerade angesichts der auch von ihm so hervorgehobenen Äußerung Blackstones zumindest zweifelhaft erscheint. Diese läßt sich auch ohne Rückgriff auf eine überempirische Volksgemeinschaft dahin verstehen, daß das von einem bestimmten Kreis gewählte Parlamentsmitglied seine Legitimation nicht (nur) von den Wählern oder Bürgern dieses Kreises erhält; daß seine Handlungen vielmehr dem Königreich im ganzen zuzurechnen sind. 21 Der Leibholz'sche Begriff der Repräsentation zeichnet sich neben dem Über-Empirischen auch durch eine besondere "Wertbezogenheit"22 aus. Für ihn ist Repräsentation "nur in einer ganz bestimmten Wertsphäre möglich. Nur dort, wo die Träger des Repräsentationsgedankens einen besonderen Wert, eine spezifische Würde und Autorität für sich in Anspruch nehmen, kann man in Wirklichkeit von Repräsentation sprechen. "23 Gerade in dieser "Wertbezogenheit" sieht Leibholz dann auch den wesentlichen Unterschied zur Vertretung. 24 Leibholz entwirft so ein bestimmtes Idealbild des würdevollen, mit Autorität, d. h. hoher Bildung und vorbildhaftem Charakter, versehenen Abgeordneten, welches er den Parlamenten des konstitutionellen Zeitalters entnimmt. Hierin wird der konservative, gegen einen egalitären Begriff der Demokratie gerichtete Charakter dieses Begriffes der Repräsentation deutlich.2s Befreit man den Begriff der Repräsentation von dieser Enge und ersetzt man die Wertbezogenheit durch die Verpflichtung des Abgeordneten auf sein eigenes Gewissen, seinen Willen,26 läßt sich ein Gegensatz zum weisungsgebundenen Vertreter gleichwohl herausarbeiten. Zusammenfassend läßt sich das Repräsentationsprinzip dann umschreiben als ein Zurechnungs- und Legitimationsmodus des Handeins von Abgeordneten für die - empirische - Gesamtheit der Angehörigen eines Staatsvolkes, nach dem nicht die tatsächliche Übereinstimmung zwischen Abgeordneten und Volk maßgeblich ist, erstere vielmehr als Organe des Staates handeln und Nach Leibholz (FN 17), S. 55. Leibholz (FN 17), S. 57. 20 So treffend Badura in BK-Badura, Art. 38, Randnr. 27. 21 In diesem Sinne versteht Badura den Begriff der Repräsentation, Badura (FN 20), Randnr.28. 22 Badura (FN 20). 23 Leibholz (FN 17), S. 32. 24 Leibholz (FN 23). 25 Badura (FN 21). 26 Badura (FN 20), Randnr. 33. 18 19
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alleine aus dieser durch Wahl erlangten Organstellung heraus ihre Legitimität beziehen. Im Gegensatz hierzu zeichnet sich ein Vertretungsverhältnis durch eine rechtliche Gebundenheit aus, kraft deren dem Gesandten Weisungen erteilt werden können. 27 b) Die Zuordnung von Bundesrat und Ständerat Geht man von einem solchermaßen "entmythologisierten" Begriff der Repräsentation aus, läßt sich der Unterschied zwischen Bundesrats- und Senatsprinzip mit Leibholz dahin umschreiben, daß die Gliedstaaten im Bundesrat vertreten und im Senat repräsentiert sind. Der in dieser Weise aus weisungsgebundenen Vertretern zusammengesetzte Bundesrat des Grundgesetzes läßt sich jetzt dem Bundesratsprinzip zuordnen; in abgewandelter Form paßt noch auf diesen das Wort Bismarcks: "So leicht wiegen die Stimmen im Bundesrat nicht; da stimmt nicht der Freiherr v. Friesen, sondern der König von Sachsen stimmt durch ihn. "28 Der schweizerische Ständerat ist dem Senatsprinzip zuzuordnen, denn auch dort gilt der von Leibholz über den USSenat zitierte Satz: "The vote a senator gives is his own and not that of his state. "29 Art. 91 BV drückt insoweit mit etwas anderen Worten inhaltlich das gleiche aus. Die von Stern vorgeschlagene weitergehende Einteilung der nach dem hier als "Senatsprinzip" bezeichneten Modell aufgebauten Föderativorgane in solche nach dem Senats- und solche nach dem Repräsentationsprinzip aufgebauten Organe erweist sich nunmehr nicht nur als überflüssig, sondern auch als irreführend. Der suggerierte Gegensatz zwischen einem "Senatsprinzip" und einem "Repräsentationsprinzip" besteht nicht. Auch und gerade wenn die Mitglieder des Föderativorganes vom Volk unmittelbar gewählt werden, "repräsentieren" sie das Volk in dem oben dargelegten Sinne. Das Senatsprinzip wird durch jene Repräsentation gerade charakterisiert. 11. Deutscher Bundesrat
Ausgehend von der so gewonnenen Erkenntnis des dem Bundesrat zugrundeliegenden Strukturprinzipes lassen sich die überkommenen wie die neuen Elemente in den Regelungen der Art. 50 ff GG jetzt verstehen. Auch die Diskussion um Vorzüge des Bundesratsprinzipes sowie um die Frage des Einbaues einzelner Elemente des Senatsprinzipes kann so der Gefahr, Analysen Nach Badura (FN 20), Randnr. 28 und 33. Zitiert nach Leibholz (FN 17), S. 204; anders Pollmann, Repräsentation, S. 111, der mit Bezug auf den Bundesrat von "sekundärer Repräsentation im weiteren Sinne" spricht. 29 Leibholz (FN 17), S. 201. 27
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11. Deutscher Bundesrat
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der beiden genannten Aufbauprinzipien und deren Wertungen miteinander zu vermengen, entgehen. 1. Die Regelung des Bundesrates: Neuerungen und Elemente der Verfassungstradition
Die Regelungen bezüglich des heutigen Bundesrates in den Art. 50 ff GG lassen sich systematisch als Ausgestaltung eines Föderativorganes nach dem Vertretungsprinzip verstehen. 3o Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG bestimmt ausdrücklich, daß der Bundesrat aus "Mitgliedern der Regierungen der Länder" besteht. Im Bundesrat sitzen hiernach keine gewählten Abgeordneten des Landesvolkes oder -parlamentes, wie es auch im Parlamentarischen Rat zunächst diskutiert wurde. a) Die Mitglieder des Bundesrates
Die Zusammensetzung des Bundesrates aus Mitgliedern der Länderregierungen markiert zugleich einen sehr weitreichenden, im Verfassungstext selbst zunächst nicht merklichen Wandel gegenüber dem Reichsrat der Weimarer Reichsverfassung. Auch dort bestand der Reichsrat von Verfassungs wegen gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 WRV aus Mitgliedern der Länderregierungen. Wie gezeigt, wurde den Ländern durch die Geschäftsordnung des Reichsrates jedoch gestattet, auch Regierungsbeamte in den Reichsrat zu entsenden. Ein solches Vorgehen ist nach dem Grundgesetz nun nicht mehr möglich, nachdem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG nur die Regierungsmitglieder als Mitglieder des Bundesrates zuläßt und entsprechend dem allgemeinen Vorrang der Verfassung eine solche Bestimmung auch durch eine Geschäftsordnung nicht mehr abgeändert werden kann. 3! Der Bundesrat bildet hiernach gerade kein "Parlament der Oberregierungsräte"32 mehr, wie ihn (angeblich) Heuss bezeichnete. Es sind vielmehr - im hier allein interessierenden Plenum des Bundesrates - ausschließlich Landesminister und ihnen gleichgestellte Staatssekretäre 33 als Mitglieder zugelassen. Nur Politiker und keine Berufsbeamten mehr finden sich im Bundesrat. Im Gegensatz zum Reichsrat sollen im Bundesrat diejenigen Politiker, die 30 Hiermit soll freilich nicht gesagt werden, daß die Art. 50 ff. GG aus einem Dogma abzuleiten wären. Es geht im Gegenteil um die Zuordnung eines vorgefundenen Regelungskomplexes zu einem theoretischen Modell. 3! Stern, Bd I, § 19 III 8 d, S. 732. 32 Zitiert nach Stern (FN 3) § 27 11 3 a. 33 In Bayern (Art. 43 Abs. 2 LV) und Baden-Württemberg (Art. 45 Abs. 2 S. 2 LV) können auch Staatssekretäre Regierungsmitglieder sein. Als solche können diese Staatssekretäre dann auch Mitglieder des Bundesrates werden.
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11. Abschnitt: B. Die Rechtsstellung der Mitglieder
zugleich an der Spitze der einzelnen Landesverwaltungen stehen, vertreten sein und nicht Glieder in dieser Landesverwaltung. b) Die Weisungsgebundenheit Die Mitglieder des Bundesrates sind als Vertreter ihrer Landesregierungen auch deren Weisungen unterworfen. 34 Da im Grundgesetz eine ausdrückliche diesbezügliche Regelung fehlt, war diese Frage der Weisungsgebundenheit früher noch umstritten. 35 Die in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete freie Abberufbarkeit eines Bundesratsmitgliedes durch die ihn entsendende Regierung und der in Abs. 3 derselben Vorschrift festgelegte Zwang zur einheitlichen Abgabe aller Stimmen eines Landes ergeben jedoch nur dann einen Sinn, wenn die Regierung diese Abstimmungsweise durch Instruktionen sicherstellt. Auch wäre eine freie Abstimmung durch die Regierungsmitglieder im Bundesrat so wenig systemkonform, daß eine ausdrückliche Bestimmung durch das Grundgesetz naheliegend wäre. Da entsprechend diesem Gedanken das Grundgesetz in Art. 53a Abs. 1 Satz 3 GG und Art. 77 Abs. 2 Satz 3 GG für Ausnahmefälle die Weisungsfreiheit der Bundesratsmitglieder vorschreibt, ergibt sich letztlich auch aus diesen Sonderregelungen der Grundsatz der Weisungsgebundenheit der Bundesratsmitglieder. 36 2. Die Idee vom "besseren" Föderativorgan
Mit nahezu der gleichen Konstanz, wie die Föderativorgane in den deutschen Verfassungen nach dem Vertretungsprinzip eingerichtet wurden, wurde in der staatsrechtlichen Literatur zum Ausdruck gebracht, daß dieses "Bundesratssystem" die Idee des Föderalismus stärker zur Auswirkung brächte als das "Staatenhaussystem" ,37 und daß die Einführung eines solchen Senatsoder Staatenhaussystemes den Interessen der Länder widerspräche, weil "hierdurch der einzelstaatliche Einfluß auf die Willensbildung des Reiches eine Schwächung erfahre, möglicherweise sogar völlig aufgehoben werden würde. "38 a) Eine Gegenstimme: Die Kritik Bilfingers Es war jedoch nicht nur Preuß, der dieser Bevorzugung des Bundesratsprinzipes widersprach. Bilfinger etwa bezeichnet die Einrichtung des Reichsrates 34
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Stern (FN 31), S. 733. A. A. etwa noch Scupin in BK-Scupin Art. 51, Anm. 5 (Erstbearbeitung). Ähnlich Stern (FN 34). Anschütz, Kommentar, Vorbem. zum 2. Abschnitt, S. 177. Leibholz ( FN 17), S. 206.
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in der Weimarer Reichsverfassung schlicht als "organisatorische Anomalie in einem Bundesstaat. "39 Für ihn erscheint ein Bundesrat nur in einem Staatenbund als Organ der "verbündeten Regierungen" systemkonform, wodurchbildhaft gesprochen - die einzelnen Staaten in den Bund eingebaut würden. In einem Bundesstaat jedoch, in dem der Bund in den Staat eingebaut ist, bedarf es einer zweiten Kammer von Repräsentanten der Gliedstaaten, mithin eines Staatenhauses (Senates).40 Bilfinger verkürzt durch diese Beschränkung die möglichen Varianten eines auf dem Bundesratsprinzip aufgebauten Föderativorganes jedoch derartig, daß in der Tat ein solches Organ in einem Bundesstaat eine Anomalie darstellen müßte. Wenn ein Bundesrat nur als Organ verbündeter Regierungen denkbar wäre, in dem diese ihre Mitgliedschaftsrechte ausüben, ließe sich nur der Frankfurter Bundestag diesem Typus zuordnen. Denn auch der Bundesrat Bismarcks läßt sich angesichts der durch die preußische Hegemonie gefestigten Staats struktur des Deutschen Reiches und vor allem des Gebrauchs des Bundesrates durch die preußische Regierung für ihre eigenen Zwecke nicht mehr jener Beschreibung Bilfingers zuordnen. Geht man hingegen von den oben gefundenen Definitionen des Repräsentations- und des Vertretungsprinzipes aus, erscheinen die Prämissen Bilfingers fragwürdig. Das Vertretungsprinzip beschreibt zunächst nur, in welcher Form das Handeln des Vertreters der vertretenen Regierung zugeordnet und woraus er zu seinem Handeln legitimiert ist. Sicherlich eignet sich als Organ verbündeter Staaten ein auf dem Vertretungsprinzip aufgebauter Bundesrat - wie etwa der Bundestag im Falle des Deutschen Bundes von 1815 - besser als ein auf dem Repräsentationsprinzip aufgebautes Staatenhaus, das keine Legitimationsgrundlage in Form eines (Bundes-) Staates fände. Dies schließt jedoch die Übernahme eines Bundesrates in einen Bundesstaat noch nicht aus. Zwar kann er dort - insoweit hat Bilfinger durchaus recht - nicht mehr der Geltendmachung von Mitgliedschaftsrechten durch verbündete Regierungen dienen; es erscheint jedoch nicht apriori ausgeschlossen, daß das wertfreie Vertretungsprinzip neuen Zwecken dienlich gemacht wird. Diese "Offenheit" macht damit auch das Bundesratsprinzip - bei entsprechend neu gefaßter Zweckbestimmung - für einen Bundesstaat tauglich. 41 Es ist also eine Vermengung des Bundesratsprinzipes als solchen mit Zwekken, denen eine bestimmte Ausprägung hiervon (der Frankfurter Bundestag) diente, die Bilfinger zu seiner These von der Unvereinbarkeit eines Bundesstaates mit dem Bundesratsprinzip führt. Diese These erweist sich danach als nicht haltbar. Bilfinger, HdbDStR I, S. 546. Bilfinger (FN 39). Ähnlich auch Trivelli, bicamerisme, S. 43, der in bezug auf die deutsche Bundesratslösung von einem "Steckenbleiben auf halbem Wege" vom Bund souveräner Einzelstaaten zum Bundesstaat hin spricht. 41 Grundlegend hierzu Hesse, Unitarischer Bundesstaat, S. 12 ff. 39
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11. Abschnitt: B. Die Rechtsstellung der Mitglieder
b) Hintergrund und Kritik der Idee vom "besseren" Föderativorgan Geradezu das andere Extrem zu der Ansicht Bilfingers bildet die eingangs dieses Abschnittes zitierte herrschende Ansicht der Weimarer Zeit, nach der Bundesstaatlichkeit die Einrichtung eines Bundesrates geradezu zu bedingen scheint und der Einbau eines Senates mit einem Weniger an föderalistischer Struktur verbunden wird. Auch hier stellt sich wiederum die Frage nach der Berechtigung der diesen Thesen immanenten Wertungen. Für Nawiasky42 dient das Bundesratsprinzip den Interessen der Länder besser, weil sie dort ihr Stimmgewicht geschlossen geltend machen können und nicht in verschiedene politische Fraktionen sich zergliedern, wie dies in einem Senat der Fall wäre. Nur dort seien es auch die Länder als solche, die vertreten sind und nicht wie in einem Senat (partei-) politische Strömungen. Kennzeichnend für die Bevorzugung des Bundesrates ist gerade diese Gegenüberstellung von einerseits den parteipolitisch gebundenen Abgeordneten eines Senates und andererseits der alleine das Wohl und die Interessen des Landes beachtenden Regierung, durch die hindurch im Bundesrat die Länder selbst handeln. Die Identifizierung von Regierungshandeln und den Interessen des betroffenen Landes bildet damit den Hintergrund dieser Bevorzugung des Bundesratssystemes. Diese Argumentation erweist sich somit letztlich als ein Ausfluß der Vorstellung einer über den Parteien stehenden Regierung. 43 Diese allein vermag, dem "Hader der Parteien" entzogen, überparteilich und damit rein sachbezogen zu entscheiden. Eine solche Anschauung wird jedoch einem modernen demokratischen Staatsaufbau, wie er durch das Grundgesetz konstituiert wurde, nicht mehr gerecht. Es kann hiernach keinen solchen objektiv richtigen, eben "rein sachbezogenen und überparteilichen" Standpunkt mehr geben. Wie nicht zuletzt die Art. 5 und 21 GG deutlich machen, lebt der demokratische Staat des Grundgesetzes von einem offenen Wettstreit der politischen Meinungen, der in Vorschriften wie Art. 21 Abs. 2 und 18 GG nur insoweit begrenzt wird, als dieser Wettstreit selbst außer Kraft gesetzt werden soll. Wenn somit das Grundgesetz den Parteienstreit auch nicht unbegrenzt, "relativistisch"44, gewähren läßt, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür her, aus welchen Gründen der Standpunkt einer einmal gewählten Regierung der "richtige" sein soll. Wie der Wahlmodus in den Art. 38, 63 etc. GG zeigt, kommt es auch ausschließlich auf den Besitz der Mehrheit an, nicht aber den einer objektiv richtigen Sichtweise. 42 43 44
Nawiasky, Grundprobleme, S. 109. Zum folgenden Radbruch, HdbDStR I, S. 289. Insoweit abweichend von Radbruch (FN 43).
II. Deutscher Bundesrat
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Die Auffassung, ein Bundesrat bringe die "Idee des Föderalismus" besser zum Ausdruck, weil die in ihm vertretenen Länderregierungen von einem Standpunkt über den politischen Parteien aus nur den objektiven Interessen des Landes verpflichtet seien, läßt sich für den Bundesrat des Grundgesetzes nicht aufrechterhalten. 45 c) Die Fragwürdigkeit einer Suche nach dem "besseren" Föderativorgan Insgesamt läßt sich hiernach weder erweisen, daß ein nach dem Prinzip des Bundesrates aufgebautes Föderativorgan im Bundesstaat des Grundgesetzes eine "organisatorische Anomalie" wäre, noch daß es die "Idee des Föderalismus" besser zum Ausdruck brächte. In beiden Fällen werden in unzulässiger Weise Vorstellungen, die für bestimmte Vorläufer des heutigen Bundesrates zutreffend gewesen sein mögen, mit dem Strukturprinzip des Bundesrates selbst vermengt. Versteht man dagegen das auf dem Vertretungsprinzip beruhende Bundesratsmodell als eine Organisationsform, nach der in einer bestimmten Weise, nämlich durch weisungsabhängige Regierungsvertreter, die Länder auf Bundesebene mitwirken, lassen sich die mit diesem Aufbau verbundenen Probleme präziser erfassen. Die Frage nach dem "besseren" Föderativorgan zielt damit an den wirklichen Fragen vorbei, die Verknüpfung des Bundesratsmodelles mit bestimmten historischen Vorbildern gleichfalls. Vielmehr müssen die Probleme untersucht werden, die sich aus der durch das Grundgesetz gegebenen Ausgestaltung des Bundesrates ergeben. Es geht um die Auswirkungen, die diese Ausgestaltung auf Bundes- wie auf Länderebene verursacht, hier also zunächst um diejenigen, die die Mitwirkung der Länder auf Bundesebene durch deren Regierungen in der Zuordnung der Länderorgane zueinander hervorruft. 3. Auswirkungen auf das Gefüge im Inneren der einzelnen Gliedstaaten
Durch den Bundesrat wirken nur die Länderregierungen auf Bundesebene mit; die Landesparlamente sind hiervon ausgeschlossen. Dieser Umstand führte zu einer verstärkten Stellung der Länderregierungen den Länderparlamenten gegenüber, die teilweise mit dem Schlagwort der "Depossedierung der Landtage" umschrieben wurde. 46 Nach Abhilfen gegen diese Entwicklung wird gesucht, und zum Teil wird befürwortet, die Landesverfassungen dahin zu ändern, daß die Landesregierung verpflichtet wird, in bestimmten Fragen 45 Darüber hinaus erscheint es auch sehr fragwürdig, wie eine solche, wohl vom Text einer konkreten Verfassung unabhängig zu sehende "Idee des Föderalismus" konkretisiert werden sollte; hierzu kritisch Hesse (FN 41), S. 1 ff. 46 Konow, DÖV, 1970, S. 22 (25).
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11. Abschnitt: B. Die Rechtsstellung der Mitglieder
vor einer Abstimmung im Bundesrat die Stellungnahme des Landtages einzuholen. 47 Häufig wird hierbei auch mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung argumentiert, der einer zu weitgehenden Beteiligung der Landtage entgegenstünde. Auf die Regelungen des Grundgesetzes wird so oftmals kein Bedacht genommen. a) Das Faktum: Die Depossedierung der Landtage Die Entwicklung der Bundesstaatlichkeit unter dem Grundgesetz ist durch eine immer stärkere Konzentration der Gesetzgebungskompetenzen beim Bund geprägt. 48 Die Wege dieser Konzentration sind dabei verschiedene: Am bedeutsamsten erweist sich hierbei die weitherzige Auslegung, die Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG nicht zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht49 erfahren hat. Wenn es hiernach im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zur Begründung einer Bundeskompetenz genügen kann, daß das Gesetz die geforderte "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" erst herstellen will, sind kaum Fälle denkbar, in denen in diesem Bereich der Bund die Gesetzgebungskompetenz nicht beanspruchen könnte. Alle Gegenstände des in Art. 74 GG genannten Kataloges unterfallen somit - zumindest potentiell - der Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Des weiteren wurden neue Bundeskompetenzen durch eine Erweiterung des in Art. 74 GG enthaltenen Kataloges begründet. Zwei Wege wurden hierbei beschritten. Zum einen wurden Bereiche in Art. 74 GG aufgenommen, die zuvor der Ländergesetzgebung unterlagen, wie z. B. durch Nr. 4a das Waffen- und Sprengstoffrecht, zum anderen wurden jedoch Gesetzgebungskompetenzen beim Bund neu begründet, die auf einer Ausweitung der staatlichen Aufgaben insgesamt beruhen,5o was etwa die Fälle der Nr. lla und 19a betrifft. Schließlich wurde den Ländern auch die Regelung des Gesetzesvollzuges weitgehend entzogen. Ansatzpunkt hierfür ist im wesentlichen Art. 84 Abs. 1 GG, 2. Halbsatz. Durch eine Umkehrung des hierin zum Ausdruck kommenden Regel-Ausnahme-Verhältnisses, d. h. eine weitgehende Regelung auch der Behördeneinrichtung und des Verwaltungsverfahrens durch Bundesgesetze, verlieren die Länder auch insoweit die Regelungskompetenz. Den Landtagen wurden auf diesen verschiedenen Wegen derartig viele Regelungsmaterien entzogen, daß es nicht übertrieben erscheint, insoweit von Heyen, Der Staat 1982, S. 191 (200). Grundlegend Hesse (FN 41), S. 14 - 19. 49 BVerfGE 2,213 (224 f.) und E 13,230 (233 f.). 50 Vgl. allgemein Schindler, JöR Bd 9 N. F. (1960), S. 45 (für die Schweiz) und Bathe, Föderalismus-Hearings, S. 1125. 47
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einer "Depossedierung" zu sprechen. Ob dasjenige, was ihnen verblieb, so unbedeutend ist, daß dieser Rest gleich als bloßes "Minimum"51 zu bezeichnen ist, mag hier dahinstehen; in jedem Falle wurden die Gesetzgebungskompetenzen der Landtage zugunsten des Bundes immer bescheidener. b) Die Stärkung der Länderregierungen In einer zunächst paradox wirkenden Gegenläufigkeit wurde mit der Schwächung der Stellung der Landtage diejenige der Landesregierungen immer mehr gestärkt. 52 Das Vehikel hierfür ist die Mitgliedschaft der Regierungen im Bundesrat. Grundsätzlich bedürfen' nämlich Kompetenzverlagerungen von den Ländern auf den Bund der Zustimmung des Bundesrates. Ergibt sich dies bei der nur als Verfassungsänderung möglichen Begründung vollständig neuer Gesetzgebungskompetenzen des Bundes bereits aus Art. 79 Abs. 2 GG, ist es in der weitaus überwiegenden Mehrzahl die "Automatik" in Art. 84 Abs. 1 GG, die diese gegenläufige Stärkung des Bundesrates und damit der Länderregierungen bewirkt. 53 Indem der Bundesgesetzgeber in immer neuen Fällen außer dem materiellen Recht auch gleich die Verfahrensfragen einheitlich regeln will, bedarf er gemäß Art. 84 Abs. 1 GG, 2. Halbsatz der Zustimmung des Bundesrates und damit der Länderregierungen. Die Schwächung der Länderparlamente, die durch die immer weitere Gebiete erfassende und immer detailliertere Bundesgesetzgebung hervorgerufen wird, verursacht auf diesem Weg über Art. 84 Abs. 1 GG, 2. Halbsatz mittelbar eine Stärkung der Stellung der im Bundesrat vertretenen Länderregierungen. Der Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungslinien ist jedoch ein noch direkterer. Nicht nur bewirkt die mit einer Schwächung der Landesparlamente verbundene, immer weiter vordringende Bundesgesetzgebung diese Stärkung der Länderregierungen, diese bewirken selbst die Erweiterung der Bundeskompetenzen und damit die Schwächung der Landtage. Nur mit ihrer Zustimmung (derjenigen des Bundesrates) kann der Bundesgesetzgeber die erwähnten Regelungsbereiche an sich ziehen. In vollständiger Umkehrung der in den einzelnen Landesverfassungen geregelten Verantwortlichkeiten entziehen die im Bundesrat vereinten Landesregierungen so den Landtagen deren Regelungsbereiche. 54 51
So Hesse (FN 41), S. 15.
52 Hierzu und zum folgenden Kratzsch, DÖV 1975, S. 109 (110) und Leisner, DÖV
1968, S. 389 ff. 53 Im einzelnen hierzu sobald unter C III 1 c, cc. 54 Leisner (FN 52), S. 390 und 395.
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H. Abschnitt: B. Die Rechtsstellung der Mitglieder
Die Depossedierung der Landesparlamente ist so das unmittelbare Resultat einer immer stärker werdenden Stellung der Länderregierungen und dies einzig auf dem Weg über deren Vertretung im Bundesrat. c) Stärkung der Länderparlamente durch Beteiligung an Bundesratsangelegenheiten?
Diese Kräfteverschiebung infolge der Beteiligung der Länderregierungen im Bundesrat läßt vielfach das Bestreben aufkommen, den Landesparlamenten durch eine Beteiligung an den Bundesratsangelegenheiten wieder Kontroll- bzw. Mitbestimmungsmöglichkeiten zu verschaffen. Die als mißlich empfundene "Autonomie der Kabinette"55 soll auf diese Weise beseitigt werden. 56 aa) Die Verfassungspraxis in den Ländern Grundlage einer jeden Form solcher Beteiligungen der Länderparlamente an Bundesratsangelegenheiten ist deren Information durch die Länderregierungen. Ohne daß eine solche ausreichend und rechtzeitig gegeben ist, wäre jedwede Beteiligung eines Landesparlamentes von vornherein illusorisch. In verschiedenen Formen und von unterschiedlicher Intensität sind in den einzelnen Bundesländern teils formelle, teils informelle Wege eingerichtet worden, die den Landtagen die Verschaffung von Informationen über die im Bundesrat behandelten Gegenstände geWährleisten sollenY In allen Bundesländern werden so die Landtage oder spezielle Ausschüsse über "wesentliche" Fragen wie vor allem Grundgesetzänderungen und solche, die das Land "unmittelbar" betreffen informiert; doch werden bereits diese Informationen nur teilweise im Vorfeld von Abstimmungen im Bundesrat gewährt,58 oftmals nur nachträglich. 59 Eine gesetzliche Basis besteht für diesen Informationsaustausch sogar nur in zwei Bundesländern, in Bayern und Berlin. In allen übrigen beruht die Information des Landtages entweder auf einseitigen Zusagen der Landesregierungen oder auf Absprachen zwischen diesen und den Landtagspräsidenten. 60
In Anlehnung an die Überschrift bei Heyen (FN 47). Z. B. Heyen (FN 47); Konow (FN 46), S. 25 f.; Kratzsch (FN 52), S. 109 f.; grundsätzlich skeptisch insoweit Scheuner, DÖV 1974, S. 433 (439). 57 Übersichten finden sich bei Linck, DVBl1974, S. 861 (861 f.) und Heyen (FN 47), S. 192 - 193. 58 So in Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen; nach Linck (FN 57), S.862. 59 So in 5 Bundesländern; nach Linck (FN 57). 60 Linck (FN 57), S. 862. 55
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Bereits dieser Befund macht deutlich, wie wenig die Landtage von ihren Regierungen in den Entscheidungsprozeß im Bundesrat einbezogen werden. Spärliche Information und dies zumeist erst post festurn sind die insoweit typischen Charakteristika. bb) Der Widerpart der Länderregierungen Die Frage von Information und einer hierauf basierenden Mit-Entscheidung der Landtage in Bundesratsangelegenheiten stellt sich dabei unabhängig davon, worin man die entscheidende Frontstellung innerhalb eines Landes erblickt, in der Gegenüberstellung von Regierung und Landtag als ganzem oder Regierung und Oppositionsfraktion. 61 Auch wenn man als Widerpart der Regierung "lediglich" die Oppositionsfraktion (-en) ansieht, stellt sich das vorliegende Problem in gleicher Weise. Sieht man es als eine Aufgabe einer parlamentarischen Opposition an, "die Verantwortung der Regierung geltend zu machen" ,62 so bedarf sie nämlich zur Erfüllung dieser Funktion gerade auch der Information über das Regierungshandeln und der Möglichkeit, dieses Handeln durch Parlamentsbeschlüsse zu lenken bzw. nachträglich zu sanktionieren. cc) Zur Zulässigkeit bindender Landtagsbeschlüsse Ein erster Weg, den Landesparlamenten eine Beteiligung in Bundesratsangelegenheiten zu sichern, wäre die Verpflichtung der Landesregierung durch die Landesverfassungen, vor einer Abstimmung im Bundesrat die für sie dann auch verbindliche Stellungnahme des Landtages einzuholen. 63 Eine solche Bindung der Landesregierungen an Stellungnahmen der Landtage widerspricht nach herrschender Ansicht jedoch dem "Grundsatz der Gewaltenteilung", nachdem es eben, wie Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG festlegt, Regierungssache sei, im Bundesrat mitzuwirken. 64 Dieser Rekurs auf den Grundsatz der Gewaltenteilung erscheint hier seinerseits sehr bedenklich. Ist es schon fraglich, ob diesem Grundsatz feste Konturen abgewonnen werden können, erscheint es noch schwieriger, aus einem solchen wohl prä-konstitutionellen allgemeinen Grundsatz eine bindende Antwort auf diese konkrete Frage der Zu lässigkeit eines Mitspracherechts der Länderparlamente in Bundesratsangelegenheiten nach dem Grundgesetz zu finden. Korrekter dürfte es daher sein, von der Norm des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG selbst auszugehen. 65 61
62 63 64
Eingehend hierzu Stern (FN 31), § 23. Scheuner (FN 56), S. 437. In diesem Sinne für bestimmte Fälle Heyen (FN 47), S. 200. Kratzsch (FN 52), S. 112 mit weiteren Nachweisen.
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11. Abschnitt: B. Die Rechtsstellung der Mitglieder
Das Grundgesetz legt in dieser Vorschrift fest, daß der Bundesrat nicht aus "den Ländern", sondern "den Mitgliedern der Regierungen der Länder" besteht. Es ist also ein Föderativorgan nach dem Vertretungsprinzip errichtet worden, das aus weisungsgebundenen Regierungsvertretern besteht. Wenn es hiernach die Regierungen sind, die letztlich die Abstimmungshaltung ihrer Vertreter im Bundesrat festlegen, tragen sie insoweit auch die Verantwortung. Das Grundgesetz ruft - kurz gesagt - die Regierungen der Länder zur Mitwirkung im Bundesrat und damit zur Mitverantwortung im Entscheidungsfindungsprozeß des Bundes auf. 66 Ein Organ, das so wie hier die Landesre'gierung die Verantwortung für ein Abstimmungsverhalten trägt, den verbindlichen Stellungnahmen eines weiteren Organes, den Landtagen, zu unterwerfen, bedeutete nun eine Trennung von Verantwortung und Entschließungsfreiheit. Die Verantwortung beließe man bei den Landesregierungen, Entschließungsfreiheit bestünde nur bei den Landtagen. Eine solche Konsequenz würde nun im Grundgesetz eine derartige Anomalie darstellen, daß die zugrundeliegende These der Bindung der Länderregierungen an Stellungnahmen der Landtage sich als unhaltbar erweist. In allen sonstigen Bereichen der staatlichen Leitung, am deutlichsten durch Art. 65 Satz 1 GG beim Bundeskanzler, verknüpft das Grundgesetz Entscheidungsfreiheit mit Verantwortung und umgekehrt. Verantwortung kann hiernach nur tragen, wer den Inhalt seiner Entscheidungen selbst frei bestimmen kann. 67 Die für ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat verantwortlichen Länderregierungen müssen daher auch über den Inhalt ihrer Abstimmung frei entscheiden können. Die Bindung der Länderregierungen bei ihrem Abstimmungsverhalten im Bundesrat an Stellungnahmen der Länderparlamente ist hiernach mit Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar und damit de constitutione lata nicht zu verwirklichen. dd) Zur Zulässigkeit "unverbindlicher" Äußerungen Um diesen Widerspruch zu Art. 51 Abs, 1 Satz 1 GG zu vermeiden, plädieren andere dafür, den Landtagen durch frühzeitige und umfassende Infonpation die Möglichkeit zu eröffnen, rechtlich unverbindliche Entschließungen zu treffen und auf diese Weise der jeweiligen Landesregierung den eigenen Willen zu verdeutlichen. 68 65 Grundlegend zu den hier angeschnittenen methodologischen Fragen Hesse (FN 1), Rdn 476 - 491. 66 Vgl. auch BVerfGE 8,104 (120 f.), 67 BVerfGE 9, 268 (281 f,) und BayVerfGHE 4, 30 (47).
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Auch dieser Weg erweist sich letztlich als undurchführbar. Die in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Entschließungsfreiheit der Länderregierungen über ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat wird nicht erst in dem Moment beeinträchtigt, in dem ein anderes Organ sich hierzu verbindlich äußert. Auch bloße "unverbindliche" Äußerungen eines anderen, hier des Landtages, können die Freiheit der Landesregierung aufheben, wenn durch eine solche Äußerung ein gewisser Überlegungsdruck erzeugt werden soll.69 Einem anderen Ziel können solche "unverbindlichen" Äußerungen des Landtages nicht dienen; sie müssen daher aus dem gleichen Grund wie verbindliche Stellungnahmen eines Landtages als unzulässig, weil unvereinbar mit Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG, verworfen werden. 70 ee) Das Abstimmungsverhalten im Bundesrat als Kernbereich der Exekutive Noch deutlicher als unhaltbar erweist sich auch die andere Extremthese, daß das Abstimmungsverhalten der Länderregierungen im Bundesrat einen "domaine reserve" darstellen würde, in dem eine parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierungen nicht bestünde. 71 Die Entschließungsfreiheit der Länderregierungen soll ja gerade deren parlamentarische Verantwortlichkeit begründen, nicht deren Unverantwortlichkeit. Sind so gewisse Grenzen abgesteckt, innerhalb derer sich der gen aue Grad der Beteiligung der Landtage an den Abstimmungen der Länderregierungen im Bundesrat, ihre Information durch die Regierungen und ihre Mit-Entscheidung ergeben muß, erweist sich des weiteren eine vorherige Behandlung eines Abstimmungsgegenstandes durch den Landtag als generell unzulässig, bedarf es noch eines Kriteriums, anhand dessen sich die gen aue Grenzziehung vornehmen läßt. In anderem Zusammenhang gebrauchte das Bundesverfassungsgericht einmal den Begriff des "Kernbereiches der Exekutive", um Eingriffen des Parlamentes eine letzte Grenze zu ziehen. 72 Zur Begrenzung des Einflusses der Landtage auf das Abstimmungsverhalten der Landesregierungen im Bundesrat taugt dieser Begriff des "Kernbereiches" jedoch nicht.?3 Was zu diesem Kernbereich im einzelnen zu rechnen ist, wo eine Ingerenz der Landtage ihn 68 Vor allem Kratzsch (FN 52), S. 113 und Linck (FN 57), S. 863 ff; vorsichtiger Konow (FN 46), S. 25; vgl. auch Zeh, Bundesstaatliches System, S. 314 ff. (331). 69 Entsprechend argumentiert das BVerfG in E 8, 104 (110 - 115), um die Unzulässigkeit einer nur "informativen" Bürgeranhörung zu erweisen. 70 Im Ergebnis ebenso BVerfGE 8, 104 (121). 71 Ähnlich BVerfGE 8, 104 (121). 72 BVerfGE 9, 268 (280). 73 Allgemein kritisch zu diesem Begriff Hesse (FN 1), Rdn 478 a. E.
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11. Abschnitt: B. Die Rechtsstellung der Mitglieder
verletzen würde, läßt sich aus diesem Begriff in keiner Weise begründen. Daß insoweit ein Rückgriff auf das Gewaltenteilungsprinzip, wie ihn das Bundesverfassungsgericht auch hier wieder vornimmt, nicht weiterhilft, konnte bereits festgestellt werden. ff) Grenzen der Ingerenzen der Landtage Die erforderliche Begrenzung der Ingerenzen der Landtage muß daher nach einem anderen, sachgerechteren Kriterium vorgenommen werden. In einer neueren Entscheidung74 grenzte das Bundesverfassungsgericht die Bereiche der Exekutive und Legislative ohne Rückgriff auf ein "Prinzip der Gewaltenteilung" danach ab, "daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, d. h. von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen. "75 Überträgt man diesen Gedanken einmal auf den hier interessierenden Zusammenhang, so ergibt sich, daß als einzig sachgerechtes Kriterium letziich nur die Funktion des Bundesrates selbst bleibt. Erst ausgehend von einer Klärung dieser Funktion des Bundesrates läßt sich die Frage beantworten, warum Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG gerade die Länderregierungen zur Mitwirkung auf der Bundesebene beruft. Diese Frage wiederum ist es jedoch, die dann auch eine Grenzziehung gegenüber den Ingerenzen der Landtage erlauben wird. Ist erst geklärt, welchem Ziel die Einbeziehung der Länderregierungen durch den Bundesrat dient, kann auch die Mitsprache der Landtage in Bundesratsangelegenheiten definiert werden. Der Ansatz des Bundesverfassungsgerichtes erweist sich so im vorliegenden Zusammenhang als eine entscheidende Wendung. Er erlaubt eine Antwort allein aus dem Kontext der Verfassung heraus und macht einen - stets mit Unsicherheiten verbundenen - Rückgriff auf die klassischen Lehren der Gewaltenteilung (Locke, Montesquieu) zunächst überflüssig. Dieser Ansatz erlaubt daher schließlich eine Grenzziehung gegenüber den Ingerenzen der Landtage, die alleine aus der vom Grundgesetz vorgenommenen Funktionenzuweisung argumentiert.
BVerfGE 68,1 (86), "NATO-Nachrüstung". Damit übernimmt es einen Ansatz von Hesse, den dieser in seinen "Grundzügen" schon lange zuvor entwickelt hatte; vgl. etwa die 11. Auf!. von 1978, dort S. 195 - 200, vor allem S. 198. 74 75
1II. Schweizerischer Ständerat
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IH. Schweizerischer Ständerat
Bedingt durch die andersartige, auf dem Repräsentationsprinzip beruhende Struktur, führt die Zusammensetzung des Ständerates zu einem grundsätzlich beziehungslosen Nebeneinander von Föderativorgan und Gliedstaatenbehörden. In gleicher Weise wie die Dominanz der Länderregierungen im deutschen bundesstaatlichen Aufbau wird auch dieser Zustand in der Schweiz als unbefriedigend erachtet. Weitere und vielfach kritisierte Besonderheiten ergeben sich zudem aus dem Wahlmodus zum Ständerat. 1. Die Stellung der Ständeräte
a) Die Wahlen zum Ständerat Der Modus der Ständeratswahlen ist in der Bundesverfassung nicht geregelt. Diese Regelung ist den Verfassungen der Kantone (und Halbkantone ) überlassen. So ergibt es sich, daß es weder ein einheitliches Wahlverfahren noch auch nur einen einheitlichen Wahltag gibt. Wie oben 75a bereits ausgeführt wurde, werden die Ständeräte in 3 Halbkantonen von den Landsgemeinden gewählt, in Zug und Graubünden nur zu einem anderen Zeitpunkt.76 Im Kanton Jura gilt abweichend vom sonst üblichen Majorzsystem das Proporzwahlrecht, so daß hier Unterschiede zur Nationalratswahl nicht bestehen, weil der Kanton in beide Kammern jeweils zwei Abgeordnete entsenden kann. 77 Im übrigen ist jedoch eine weitgehende Vereinheitlichung eingetreten.78 So wird weitgehend das Majorzwahlrecht angewendet, betragen die Amtszeiten vier Jahre und fällt der Wahltag mit demjenigen zum Nationalrat zusammen. Es entsteht auf diese Weise auch nahezu eine einheitliche Legislaturperiode beider Kammern der Bundesversammlung.
b) Auswirkungen des Majorzsystems Das entscheidende Element in der Struktur des Ständerates, das immer wieder Anlaß zur Kritik gibt, ist die vom Nationalrat erheblich abweichende und "unrepräsentative" parteienmäßige Zusammensetzung des Ständerates.79 Ursache hierfür ist neben der bereits ausführlich gewürdigten gleichberechtig75. 76 77
78 79
26.
Im 1. Abschnitt unter B III, 4 b). NZZ vom 20. 10. 1987, Fernausgabe, 208 Jg., Nr. 242, S. 17. HäfeliniHalier (FN 14), N. 696 f.; NZZ (FN 76), S. 18,19. In diese Richtung auch HäfeliniHalier (FN 77). Vgl. etwa Jaag (FN 9), S. 90 f. und auch Aubert in Kommentar BV, Art. 80, Rz
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11. Abschnitt: B. Die Rechtsstellung der Mitglieder
ten Stellung eines jeden Kantones das Wahlsystem. Dieses ermöglicht den jeweils stärksten politischen Kräften in den Kantonen eine Repräsentanz, die ihnen nach ihrem innerkantonalen Gewicht nicht zukäme. Majorz und die Beschränkung auf nur zwei Ständeräte pro Kanton bewirken diese Gewichtsverschiebung, jeweils im wesentlichen zu Lasten der Sozialdemokratischen Partei. aa) Solange die vier bürgerlichen Parteien (CVP, Freisinnige, SVP und Liberale) sich nicht gegenseitig befehden, kann mit Hilfe des Wahlrechts ein Ständerat einer "linken" Partei (SP, LdU) weitgehend verhindert werden. Sind etwa in einem Kanton zwei bürgerliche Parteien stark vertreten, sprechen diese gegenseitig die Empfehlung aus, mit der zweiten Stimme, die jedem Bürger zusteht, den Kandidaten der je anderen Partei zu wählen. So können beide in den Ständerat einziehen, der Kandidat der SP bleibt draußen.8° Sollte das bürgerliche Stimmenpotential nicht ausreichen, um beiden Kandidaten den Einzug zu sichern, bildet das Majorzsystem die entscheidende Stütze. Solange einem "bürgerlichen" Kandidaten im ersten Wahlgang das Überwinden der 50%-Grenze glückt, können sich im zweiten Wahlgang alle bürgerlichen Stimmen auf den zweiten bürgerlichen Kandidaten konzentrieren. Der Kandidat der "linken" Parteien bleibt wiederum Verlierer. 81 Kandidaten der SP können so nur dann in den Ständerat einziehen, wenn es ihnen im ersten Durchgang gelingt, die 50%-Hürde zu schaffen, oder wenn sich die bürgerlichen Stimmen im zweiten Durchgang nicht auf einen Kandidaten zu konzentrieren vermögen.82 Als vielfach nur drittstärkste politische Kraft und kaum in der Lage, gegen vereinigte bürgerliche Stimmen das Quorum von 50% zu erzielen, ist die sozialdemokratische Partei der Schweiz diejenige, die im Ständerat nur schwach repräsentiert ist. Bei den Wahlen von 1987 konnte sie zwar 41 der 200 Sitze im Nationalrat erringen, zugleich aber nur 5 von 46 im Ständerat.83 bb) Die Repräsentanz der Kantone im Ständerat wird in der geschilderten Weise durch das Wahlsystem maßgeblich beeinflußt. Keine Wiedergabe der tatsächlichen Stärkeverhältnisse, sondern eine Repräsentanz der je zwei stärksten politischen Strömungen - oder der stärksten durch beide Ständeräte - ist das Ergebnis dieser Berechnungsweise. Die Ständeräte werden so zu RepräSo beispielsweise geschehen bei der Wahl 1987 in Luzern, vgl. NZZ (FN 76). So geschah es bei der letzten Wahl in Uri, bei der die CVP im 1. Wahlgang nur einen Sitz gewann. Der Vertreter der Linken (kritisches Forum Uri) blieb unter dem Quorum von 50 % und unterlag im 2. Durchgang dem verbleibenden bürgerlichen Bewerber, NZZ (FN 76), S. 17 sowie Die Weltwoche vom 12.11. 1987,55. Jg., Nr. 46, S.20. 82 Eine solche Zersplitterung führte bei der Nachwahl vom 15. 11. 1987 zum Einzug eines SP-Ständerates für den Kanton Thurgau; NZZ vom 17. 11. 1987, Fernausgabe, 208. Jg., Nr. 266, S. 17. 83 NZZ (FN 82). 80 81
III. Schweizerischer Ständerat
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sen tanten nicht der politischen Kräfteverhältnisse innerhalb eines Kantones in ihrer ganzen Vielfalt, sondern eben der Hauptströmungen in einem Kanton. Indem durch das Majorzsystem Repräsentanten der Minoritäten eliminiert werden, wird ausschließlich die Mehrheit innerhalb eines Kantones zum relevanten Faktor. 84 Durch das Majorzsystem wird im Ergebnis der Charakter des Ständerates als Repräsentanz der Kantone noch deutlicher hervorgehoben. Diejenige politische Kraft, die im Kanton über die Mehrheit verfügt und diesen daher zu repräsentieren vermag - sie alleine erfährt vom Bund durch die Zuweisung der zwei Ständeratssitze Berücksichtigung. 85 Der einzelne Kanton wird auf diese Weise für die Bundesverfassung zu einem Ganzen, nicht einem Teil eines solchen. Wäre der Kanton nur ein solcher Ausschnitt, wäre das Außerachtlassen der kantonalen Minoritäten nur schwerlich zu rechtfertigen. Nachdem der Kanton hier jedoch ausschließlich als solcher zählt, als Einheit repräsentiert werden soll, ist eine weitere Zergliederung nicht zulässig. Alleine eine kantonsinterne Kraft kann repräsentiert werden und dies kann dann nur die Mehrheit sein. Die Repräsentanz "der Kantone" wird auf diese Weise geschaffen. Die damit verbundene Ungleichbehandlung von Mehrheit und Minderheit innerhalb eines Kantones ist für den Bund ohne Belang. 85a Indem die Bundesverfassung die Regelung des Wahlverfahrens zum Ständerat den Kantonen überläßt, zeigt sie, daß die interne Behandlung kantonaler Minderheiten Gegenstand kantonaler Regelung bleiben soll und sie auch eine Vertretung der Kantone als solche, so wie geschildert, gestattet. cc) Die am Wahlmodus zum Ständerat geäußerte Kritik stellt hiernach letztlich eine Kritik an der Repräsentanz der Kantone als solcher im Ständerat dar.86 Sobald man jedoch diesen Grundzug des Ständerates als Repräsentanz der Kantone akzeptiert, erscheint die Kritik am Majorzwahlrecht wenig konsequent. Erkennt man die Kantone als den zweiten Grundpfeiler neben dem schweizerischen Volk an, läßt sich ihre Repräsentanz, d. h. diejenige der in ihnen vorherrschenden Strömungen, nur schwerlich mit Fug in Frage stellen.
Aubert (FN 2), Nr. 1293. Auch Aubert sieht hierin den Zweck des Ständerates: ,,11 a ete con