Shakespeares Dramen [2. durchges. Aufl. (Photomech. Nachdr.) Reprint 2010] 9783110829907, 9783110001921


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German Pages 474 [476] Year 1966

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Table of contents :
VORWORT
TRAGÖDIEN
Julius Caesar
Hamlet
Othello
Coriolan
Macbeth
König Lear
Die Tragödien der Liebe
Romeo und Julia
Troilus und Cressida
Antonius und Cleopatra
Titus Andronicus — Timon von Athen
Titus Andronicus
Timon von Athen
KOMÖDIEN UND ROMANZEN
Komödie
Ein Sommernachtstraum
Was ihr wollt
Die Jugendkomödien
Die Komödie der Irrungen
Die beiden Veroneser
Verlorne Liebesmüh
Kritik und Preis des Lebens
Der Widerspenstigen Zähmung
Der Kaufmann von Venedig
Die lustigen Weiber von Windsor
Viel Lärm um nichts
Helle und dunkle Spiele
Wie es euch gefällt
Ende gut, alles gut
Maß für Maß
Romanzen
Pericles
Cymbeline
Das Wintermärchen
Der Sturm
HISTORIEN
Königsdramen
König Johann
König Richard II
König Heinrich IV
König Heinrich V
König Heinrich VI
König Richard III
König Heinrich VIII
SCHLUSSBETRACHTUNG
ANHANG
Shakespeares Leben
Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Politisches
Elisabethanische Atmosphäre
Elisabethanisches Drama und Theater
Sprache und Literatur der Zeit
Shakespeares Werke
Chronologie, Quellen
Zeittafel
Tragödien
Komödien und Romanzen
Königsdramen
Apokrypha
Epik und Lyrik
Ausgaben, Übersetzungen, Interpretationen
Ausgaben
Deutsche Übersetzungen
Interpretationen
Stichwörter
Personen, Werke
Sachregister
INHALT
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Shakespeares Dramen [2. durchges. Aufl. (Photomech. Nachdr.) Reprint 2010]
 9783110829907, 9783110001921

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LÜTHI / S H A K E S P E A R E S D R A M E N

MAX LÜTHI

SHAKESPEARES DRAMEN

Zweite, durchgesehene Auflage

W A L T E R DE

G R U Y T E R & CO.

VORMALS G.J. GOSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG · J. GUTTENTAG, VERLAGSB U C H H A N D L U N G · GEORG REIMER · KARL J. TROBNER · VEIT tc COUP.

B E R L I N

1966

Photomechanischer Nachdruck

Ardiiv-Nr. 43 28 661 © 1956 and 1966 by Walter de Gruyter& Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen

VORWORT Shakespeares Dramen haben in England vom Theater aus, auf dem Kontinent aber vom Buche aus zu leben begonnen. Goethes „Wilhelm Meister" und Ulrich Braekers liebenswertes Shakespeare-Büchlein bezeugen, daß die deutschen Übersetzungen Wielands und Eschenburgs den Leser des 18. Jahrhunderts ebenso machtvoll ergriffen wie die Aufführungen um 1600 den englischen Zuschauer. Der Streit, ob die Bühne oder das Buch den besseren Zugang zu Shakespeare gewähre, ist müßig, beide Formen haben ihre eigene Legitimität. Shakespeare selber liebt in seinen Dramen ebensosehr das Spiel im Spiel wie die Erzählung eines Vorgangs, der rein in der Vorstellung des Hörers lebendig werden soll. Er gibt damit innerhalb seiner Stücke dem wirklichen Theater und dem Imaginationstheater in gleicher Weise ihr Recht, er legitimiert die Phantasiebühne des einsamen Lesers ebenso wie die öffentliche Aufführung. Diese bewahrt uns davor, die Dinge in einer nur unserer eigenen Wesensart entsprechenden Weise zu sehen; die Leistung der Schauspieler und des Regisseurs läßt vieles, was sonst verborgen bliebe, erscheinen. Doch kann die dramatische Vision des Lesers ihre eigene Intensität haben; Shakespeare läßt mehr als einmal entscheidende Szenen nicht auf der Bühne, sondern in der Phantasie des Hörers erstehen: Die Realität des Unsichtbaren ist oft von höherer Potenz als die des Sichtbaren, „nichts ist, als was nicht ist." Der dramatische Dichter zieht wie kein anderer den Zuschauer, den Leser ins Gespräch. Wenn die Figuren des Spiels — von denen einige es nicht verschmähen, sich unmittelbar an den Hörer zu wenden - mit den Partnern, mit der Situation, dem Schicksal sich auseinandersetzen, nimmt der Zuschauer an der Auseinandersetzung teil. Doch ist es nicht leicht, Shakespeares vielschichtige Dramen - man hat sie mit polyphoner Musik verglichen - zu erfassen; erst die Kenntnis des Gesamtwerks und der Literatur und Kunst des Zeitalters öffnet den Zugang. Die Forschung des 20. Jahrhunderts hat vor allem die Beziehung Shakespeares zu den dichterischen und theatralischen Konventionen seiner Zeit erhellt; sie hat andererseits begonnen, die Eigenart und dramatische Funktion der Bildwelt als eines geheimen Zentrums Shakespearescher Dichtung zu verstehen und überhaupt deren einzelne Elemente in ihrer Beziehung zueinander systematisch zu untersuchen. Unser Buch geht seinen eigenen Weg, indem es mehr als lange Zeit üblich war die V o r g ä n g e in Shakespeares Dramen ernst nimmt. Manche Forscher haben die Handlung als ein bloßes Vehikel betrachtet, dessen wichtigste Aufgabe es sei, eindrucksvolle Charaktere ins Spiel zu setzen. Unsere

Gegenwart hat ein neues Sensorium für die Bedeutsamkeit der dramatischen Situation. Aber audi der Elisabethaner ging nicht bloß dazu ins Theater, um scharfe Sensationen zu empfinden und sich an großen Gestalten zu berauschen, sondern um ein Spiel zu sehen, das aber heißt die Auseinandersetzung der Figuren mit wechselnden Situationen. In diesem Buche geht es uns nicht um ein Nachzeichnen der Charaktere, ein Beschwören der Leidenschaften, der Atmosphäre, der Poesie: das ist von anderen, in mannigfach verschiedener Art, geleistet worden. Hier soll versucht werden, in enger Fühlung mit dem Text die Eigenbewegung der Stücke zu erfassen, die wirkenden Grundmotive herauszuheben und so dem eigentlichen Geschehen, dem geistigen Sinn der Vorgänge nahe zu kommen. Die Frage nach dem Menschen wurde in Shakespeares Zeit neu gestellt, der Dramatiker hatte seinen Beitrag zu ihrer Beantwortung zu leisten. Man könnte die Frage Lears: „Wer kann mir sagen, wer ich bin?" als Motto vor das gesamte Werk Shakespeares setzen. Es ist durchaus nicht ein „sublimes Mißverständnis", wenn Goethe ähnlich wie andere vor und nach ihm Shakespeare zu den Stiftern seiner geistigen Existenz gezählt hat. „Es sind keine Gedichte!" ruft Wilhelm Meister, „man glaubt vor den aufgeschlagnen Ungeheuern Büchern des Schicksals zu stehen". „Sie scheinen ein Werk eines himmlischen Genius zu sein, der sich den Menschen nähert, um sie' mit sich selbst auf die gelindeste Weise bekannt zu machen." Nachdem Goethe ein Leben lang lesend, dichtend, interpretierend, Regie führend mit Shakespeare Zwiesprache gehalten, schreibt er im Rückblick auf die Zeit, da der "Will of all Wills" und Charlotte von Stein ihm alles bedeuteten: Lida! Glück der nächsten Nähe, William! Stern der schönsten Höhe, Euch verdank ich, was ich bin. Daß Shakespeare kein bloßer Artist war, sondern 'a füll man', wie Emerson es sagt, glaubt man im Umgang mit seinem Werk unmittelbar zu spüren. Seine Zeit neigte zur Artistik ebenso wie zur Tat, zur Weltgestaltung was ist Artistik anderes als Tat auf der Ebene der Kunst. Wie weit Shakespeare einfach · darstellen, ergreifen, unterhalten, wie weit er bewußt auch Impulse geben, seinen Zuschauern ihr eigenes Dasein, die menschliche Situation überhaupt erhellen wollte, ist schwer nachzuweisen. Seine Dichtung läßt und schenkt ein erstaunliches Maß von Freiheit. Wie die Figuren im Spiel, so muß auch der Zuschauer die Entscheide zuletzt allein treffen. Doch ist bemerkenswert, daß Hamlet mit der Aufführung des Spiels im Spiel eine Erschütterung des Königs erzielt, welche diesen zur Selbstbesinnung, zu echter Einsicht und bis an die Schwelle tätiger Reue führt; daß er diese nicht überschreitet, ist seine Schuld. Oberon wird durch den Anblick des Schauspiels, das er selber in Szene gesetzt, zu einer höheren Klarheit, zu einer 6

neuen Ausrichtung seines Verhaltens geleitet. Wir dürfen annehmen, daß so auch Shakespeare dichtend sich die Welt erschloß und daß er vom Publikum Teilnahme an solcher Vergegenwärtigung erhoffte. Es gilt, die Stimme der Shakespeareschen Stücke möglichst rein zu vernehmen: die Stimme eines Menschen und Dichters eigener Prägung, zugleich die Stimme einer großen Epoche. Nicht deren äußere Konventionen, wohl aber ihre Grundstruktur, nicht des Dichters private Biographie, wohl aber die menschliche und künstlerische Kraft, welche in seinen Werken lebt, sind uns wesentlich. Shakespeare spricht aus dem Geist seiner Zeit zu dem der unsern. Er spricht das Wort, das nur er und seine Epoche sprechen konnte; wir vernehmen es so, wie die unsere es vernehmen kann, das aber heißt: nicht in ganz gleicher Weise wie frühere Zeiten es vernommen haben. In diesem Buch sollen so viel als möglich die Dramen selber zum Wort gelangen. Statt einer eigentlichen Einleitung geht die Besprechung zweier Tragödien der mittleren Zeit, Caesar und Hamlet, voraus; da diese Kapitel zum Verständnis der Shakespeareschen Dichtung hinführen wollen, gehen sie stellenweise ins Einzelne und richten sich daher mehr an den geduldigen als an den eiligen Leser. Bei den Komödien werden in ähnlicher Weise der Sommernachtstraum und Was ihr wollt vorausgenommen. Vorbereitet durch die Betrachtung der Tragödien, Komödien und Romanzen sollen dann die Königsdramen in einem volleren Licht erscheinen als ohne solche Wegbereitung. Jeder Abschnitt kann für sich allein gelesen werden, wie es dem Bedürfnis des Theaterbesuchers, des Literaturfreunds entspricht. Doch ergänzen die Betrachtungen einander; wenn Caesar und Hamlet zugleich der Interpretation der kürzer beleuchteten Stücke dienen, so können diese - und das über sie Gesagte - ihrerseits als erweiterter Kommentar zum Caesar und besonders zum Hamlet gelten. Das Schlußkapitel arbeitet einige Hauptthesen heraus, will aber keine Zusammenfassung des Ganzen sein. Dafür soll das Stichwortverzeichnis die einzelnen Themen sichtbar machen, die Herstellung von Beziehungen erleichtern und dem Fachmann das Nachschlagen auch untergeordneter Hinweise ermöglichen. Der Anhang stellt die äußeren Gegebenheiten (Daten, Quellen, Ausgaben, zeitgeschichtlicher Hintergrund u. a.), von denen im Text nur beiläufig oder gar nicht die Rede ist, knapp zusammen und weist auch den Epen und Gedichten ihre Stelle im Gesamtwerk zu. Für die Zitate sind vorwiegend die Übersetzungen von SchlegelTieck und von Gundolf zugrunde gelegt. Da das Buch sich an einen weiteren Leserkreis wendet, verzichtet es auf wissenschaftliche Anmerkungen, ebenso im allgemeinen auf eine direkte Auseinandersetzung mit der Forschung. Wer diese kennt, wird leicht feststellen, wo sich unsere Darstellung mit der modernen Shakespeare-Interpretation berührt und was sie Neues bringt.

ZUR ZWEITEN AUFLAGE Die vorliegende zweite Auflage ist ein photographischer Abdruck der ersten. Zu einer grundlegenden Umarbeitung bestand kein Anlaß; kleine Korrekturen und Ergänzungen sind angebracht worden. Einige der leitenden Gesichtspunkte und Themen dieses Buchs habe ich an anderer Stelle weiterentwickelt, so in den Aufsätzen über die Macht des Nichtwirklichen in Shakespeares Dramen, über das Spiel im Spiel, über die Bezüge zum Märchen, über Selbstverlust und Selbstverwirklichung (der letztgenannte Aufsatz im Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft West 1965, die ändern im Dalp-Taschenbuch Shakespeare, Dichter des Wirklichen und des Nichtwirklichen, Bern und München 1964). Hauptanliegen des vorliegenden Buchs bleibt die Interpretation der einzelnen Stücke und der Aufweis ihres inneren Zusammenhangs. Zürich, im Herbst 1965

M. L.

TRAGÖ DIEN

JULIUS CAESAR Doch Menschen deuten oft nach ihrer Weise Die Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn. Der Zugang zu der ersten großen Tragödie des reifen Shakespeare ist nicht ganz leicht. Mancher, der das Stück zum ersten Mal aufnimmt, steht befremdet. Warum stellt Shakespeare seinen Titelhelden, mit dessen Namen für uns wie für die Renaissancezeit der Glanz historischer Größe verbunden ist, als einen Menschen voller Schwächen und Gebrechen dar? Warum überhaupt benennt er sein Stück nach ihm, den er doch als dramatische Gestalt nicht voll zur Entfaltung kommen, sondern schon in der Mitte des Spiels wegtreten läßt? Das hinreißende Talent des Antonius, das frei und überlegen sich entwickelt, fasziniert. Und Brutus: die Schönheit, der Adel, die Trauer seiner Seele und seines Schicksals ergreifen. Aber das Stück als Ganzes scheint kühler als andere Tragödien Shakespeares. Die Unmittelbarkeit, mit der Hamlet, Othello, Lear, Macbeth uns anrühren, fehlt. Die großen, den Menschen bis auf den Grund aufwühlenden oder aufreißenden Leidenschaften, die dort Wort, Gebärde und Handlung werden und uns in ihren Rhythmus hereinzwingen, sie scheinen hier verhüllt oder gedämpft, weniger direkt, wohl auch irgendwie karger. Das Bild Caesars, wie es in dieser Tragödie erscheint, befremdet. Und doch ist gerade es geeignet, ihr eigentliches Wesen zu erhellen. Das erste Wort, das Caesar spricht, zeigt ihn als einen Darbenden: Er ist kinderlos, sein Weib ist unfruchtbar. Wie weit er als Mann den Sohn, wie weit nur als Herrscher den Thronfolger entbehrt, wird nicht angedeutet. Jedenfalls ist er bestrebt, beinahe ängstlich bestrebt, eine Heilung des Gebrechens herbeizuführen, sei es auch durch ein Mittel, das sich auf einen zweifelhaften Volksglauben gründet. Und noch etwas zeigt das erste Gespräch: Caesar hat kein Privatleben, darf keines haben. Kaum haf er den Namen seiner Gattin ausgesprochen: „Calpurnia!", heißt Casca die Musik schweigen. Caesar muß Dinge, welche sonst die schützende Hülle der privaten Sphäre verlangen, im Angesichte des Volkes, des Reiches aussprechen. Und ein drittes stellt sich in diesem ersten kurzen Gespräch sogleich dar: Caesar ist der Schmeichelei zugänglich und ausgesetzt. Sein vertrautester Anhänger, Antonius, hält es für schicklich, die Befehlsannahme so zu garnieren: „Wenn Caesar sagt: Tu das, so ist's vollbracht." Caesar schmerzlich kinderlos, ohne den Schutz der privaten Sphäre, dafür von Schmeichelei umgeben, wohl auch abergläubisch, so tritt er vor uns hin, so entwickelt sich uns sein Bild in der ersten Minute, da wir ihn sehen und hören. Später sagt es Cassius den Verschwörern, daß Caesar „kürzlich aber11

gläubisch worden", und Calpurnia gesteht ihrem Gatten: „Caesar, ich hielt auf Wunderzeichen nie, doch schrecken sie mich nun." Daß sie auch ihn schrecken, die unheimlichen, zeichenhaften Vorgänge, von denen das Gerücht geht, dazu Calpurnias Traum, das Orakel der Augurn, erweist sich bald: Er ändert seinen eben noch wortreich bekräftigten Entschluß, trotz allem in den Senat zu gehen, und will nun zu Hause bleiben. Dieselbe Szene zeigt in nochmaliger Wendung nicht nur seinen Wankelmut, sondern zugleich seine Beeinflußbarkeit durch die Rede anderer: Er läßt sich durch Decius, einen heimlichen Gegner, bereden, den eben getroffenen Entscheid abermals umzustoßen und gegen sein eigenes Gefühl doch auszugehen. Im Senat selber dann kommt deutlicher noch als in früheren Szenen die theatralisch-prahlerische Seite Caesars zur Auswirkung: Als man ihn um Rückberufung eines Verbannten bittet und einer nach dem ändern in den Ruf nach Gnade einstimmt, antwortet Caesar: Ich ließe wohl mich rühren, glich ich euch: Mich rührten Bitten, bat ich, um zu rühren. Doch ich bin standhaft wie des Nordens Stern, Des unverrückte, ewig stete Art Nicht seinesgleichen hat am Firmament... Und weiter noch wirft er wie einen Königspurpur den Mantel hochtönender Worte um sich, die ihm als lebendiger Verkörperung der Herrschermacht an sich auch anstehen wie keinem ändern, hier aber, wo diese Macht schon untergraben ist, hohl und gespenstisch tönen. Was sollen wir von einem Machtträger halten, den wir soeben zweimal wankelmütig seinen Entschluß haben ändern sehen, und der sich nun mit dem Nordstern vergleicht und dem Olymp: Fort, sag ich! Willst du den Olymp versetzen? Und was ist es denn für eine Macht, die Caesar zu verwalten begehrt? Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein, Mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen. Der Cassius dort hat einen hohlen Blick; Er denkt zu viel: die Leute sind gefährlich. Gleicht Caesar nicht ein wenig einem Schulmeister, der lieber eine Klasse von braven Durchschnittsschülern unterrichtet als helle Köpfe, die ihm unbequeme Fragen stellen und gescheit widersprechen? Ich kenne niemand, den ich eher miede Als diesen hagern Cassius. Er liest viel; Er ist ein großer Prüfer und durchschaut Das Tun der Menschen ganz ... 12

Caesar wünscht sich zu Freunden und Untertanen Männer, die möglichst bequem zu lenken sind. Ein eher bescheidenes Ziel. „Ich weiß", sagt Cassius von ihm, „er wäre kein Wolf, wenn er nicht sah, die Römer sind nur Schafe.« Den inneren Schwächen Caesars entsprechen äußere. Wir erfahren, daß er auf einem Ohr taub ist, der Fallsucht unterworfen und überhaupt körperlich rasch ermüdbar. Von der Taubheit Caesars hören wir nicht nur, Shakespeare macht sie uns dramatisch und szenisch deutlich: Caesar hat zu Antonius ausführlich über die Gefährlichkeit des Cassius gesprochen. Nun besinnt er sich, daß er den Sicheren spielen muß, den Gott Caesar, und vollzieht eine Schwenkung: Ich sag dir eher, was zu fürchten stände, Als was ich fürchte: ich bin stets doch Caesar. Dann aber fügt er, mit neuer Schwenkung, unvermittelt hinzu: Komm mir zur Rechten, denn dies Ohr ist taub, Und sag mir wahrhaft, was du von ihm denkst. Unmittelbar nach der Äußerung seiner inneren Unsicherheit, die er sogleich wieder zu verhüllen sucht, ist Caesar genötigt, unverhüllt seine äußere Schwäche kundzugeben. Wir sehen ihn abgehen und Antonius an seine rechte Seite treten, während die Gegenpartei auf dem Platze bleibt und Casca nun sich anschickt, das politische Mißgeschick zu schildern, das Caesar soeben betroffen hat: den verunglückten Versuch, sich krönen zu lassen und die krankhafte Reaktion Caesars, den epileptischen Anfall. Im äußeren Verlauf des Stückes spielt die Taubheit Caesars keine Rolle. Wenn sie trotzdem, ohne äußere Not, ja sogar gegen die äußere Wahrscheinlichkeit - Antonius muß ja das, was Caesar ihm da kundtut, längst wissen - in so auffallender Weise erwähnt und szenisch sichtbar gemacht wird, so ist kein Zweifel, daß sie rein als Zeichen ihren Sinn hat. Sie ist ein Zeugnis von Caesars Gebrechlichkeit, vielleicht sogar ein besonders symbolkräftiges : das Organ, mit dem Caesar hörend die Welt und im besonderen die Reden seiner Mitmenschen aufnimmt, ist nicht mehr intakt. Die Fallsucht Caesars wird uns nicht auf der Bühne gezeigt, aber von Casca hämisch geschildert und glossiert. „Er ward ohnmächtig und fiel nieder." „Er hatte Schaum vor dem Munde und war sprachlos." Caesar teilweise taub und zeitweise sprachlos: das eine scheint das andere zu ergänzen. Und wenn dann Brutus feststellt: „Er hat die fallende Sucht", so nimmt Cassius es sogleich symbolisch: „Nein, Caesar hat sie nicht, doch Ihr und ich und unser wackrer Casca: wir haben sie." Das ist Polemik. In Wahrheit ist wirklich Caesar der Fallende, und das Bild seines Niedersinkens und sprachlos Daliegens ist zugleich Sinnbild. Und ebenso das andere Bild, das Cassius schon 13

vorher heraufbeschworen hat, immer in dieser selben zweiten Szene des ersten Aufzuges: das Versinken Caesars im Tiber. Cassius selber freilich, der hier Vergangenes berichtet, erzählt den Vorgang nur als Beispiel für Caesars Schwächlichkeit. In der Vorstellung des Hörers aber wird das Bild des sinkenden Caesars Gegenwart: der Strom will Caesar nicht mehr tragen. „Hilf mir, Cassius,. ich sinke!" Und sogleich fügt Cassius die Erzählung von dem fieberkranken Caesar hinzu, der „wie ein krankes Mädchen" bebte. Ja, er bebte, dieser Gott! Das feige Blut der Lippen nahm die Flucht; Sein Auge, dessen Blick die Welt bedräut, Verlor den Glanz, ich hörte, wie er ächzte Cassius haßt Caesar, denn er neidet ihm seinen Platz. Aber seine Bilder - „er ist ein großer Prüfer und durchschaut das Tun der Menschen ganz" sind lebensecht; man spürt in ihnen den Atem der Wirklichkeit, und sie fügen sich in den Rahmen des Ganzen. Ausdrücklich nennt er Caesar einen Mann von schwächlicher Natur, a man of such a feeble temper. Man hat versucht, das Gewicht der Züge, die Caesars Gebrechlichkeit zur Darstellung bringen, herabzumindern. Shakespeare habe sie alle, mit Ausnahme der Taubheit und der Prahlhansigkeit, im Plutarch gefunden und einfach aus ihm übernommen. Die Ruhmredigkeit aber sei die allgemeine Eigenschaft der Renaissance-Helden und gerade auch des Caesar-Bildes der Renaissance, das doch deutlich die Größe Caesars darstelle. Auch sei es so, daß neben der imponierenden Wirkung von Caesars Persönlichkeit die Züge der Schwäche verschwänden. Diese Argumente sind nicht stichhaltig. Wenn Shakespeare in den wenigen Szenen, da er Caesar auftreten läßt, uns gerade Züge der Gebrechlichkeit in einer solchen Häufung vor die Augen führt, so ist es nicht anders möglich, als daß sie eine starke und ohne Zweifel auch beabsichtigte Wirkung ausüben. Shakespeare hat sie von Plutarch und anderen nicht einfach übernommen, er hat sie offensichtlich zielbewußt ausgewählt. Und vor der genialischen Größe Caesars, die in Shakespeares Drama freilich auch aufleuchtet, verschwinden sie nicht, sondern heben sich von ihr scharf dissonierend ab. Für jede einzelne Schwäche mag eine Erklärung oder Entschuldigung gefunden werden - in ihrer Gesamtheit fügen sie sich zur einheitlichen Wirkung. Wir sehen Caesar als einen Koloß auf tönernen Füßen. Den Sinn dieser Darstellung Caesars macht ein Blick auf die Welt der übrigen Figuren des Dramas sichtbar. Brutus, für manche die zentrale Gestalt des Stückes, hat wie Caesar Größe. Aber sie ist anderer Art. Caesar hält sich an die Welt mit klammernden Organen, läßt sich von ihr tragen, macht sie sich dienstbar, als Herrscher 14

bestimmt er die Geschicke der anderen Menschen. Brutus entfaltet sich am reinsten im privaten Bereich. Wunderschön, voll von Liebe und Achtung und zarter Nachsicht zugleich ist sein Verhältnis zur Gattin, zu den Sklaven, sein Verkehr mit den Gefährten. Wo er zürnt und schmäht, geschieht es aus echtem Leid. Äußere Macht im Sinne von Gewalthaben bedeutet ihm nichts, ja sie scheint ihm böse. Frei wie sich selber wünscht er sich die Römer. Ohne egoistische Ziele, nur dem strengen Gewissen folgend, möchte er das Menschenbild wirklich werden lassen, das in ihm lebendig ist und das er für einzig menschenwürdig hält: das Bild des freien Menschen. Die Möglichkeit, frei zu sein, scheint ihm durch Caesar gefährdet. Deshalb muß Caesar fallen. In schwerem Kampf gegen seine eigene Liebe zu Caesar und gegen sein natürliches Empfinden zwingt er sich den Entschluß zur Tat ab. Seine Größe ist heroischer Art. Sie besteht im Sittlichen. Aber ist nicht auch er ein Koloß auf tönernen Füßen? Schon im Zentralen täuscht er sich. Brutus erkennt scharf: Caesars Geist müßte man töten, den Geist der Tyrannei nämlich, seine Person aber leben lassen. Wir alle stehen gegen Caesars Geist, Und in dem Geist des Menschen ist kein Blut. O könnten wir doch Caesars Geist erreichen, Und Caesar nicht zerstücken! „Und in dem Geist des Menschen ist kein Blut ..." Dieses Wissen Brutus', daß das Böse nicht getroffen wird, wenn man seinen Träger tötet, läßt ihn den Mord an Caesars Freunden entschieden ablehnen. Nur gerade bei Caesar selber glaubt er eine Ausnahme machen zu müssen. Aber ach! Caesar muß für ihn bluten. Brutus versucht diesen Mord als sakralen Ritus aufzuziehen, um ihn am Ende doch, gegen sein besseres Wissen, als einen Schlag gegen den Geist betrachten zu können. Zerlegen laßt uns ihn, ein Mahl für Götter, Nicht ihn zerhauen wie ein Aas für Hunde. Daß Caesar doch nur zerhauen wurde, daß im Prinzip, vor den Göttern also, nichts geschehen ist, das müßte Brutus schon da zum Bewußtsein kommen, wo ihn das Volk, dem er die Freiheit bringen wollte, zum Caesar machen will. Aber er überhört den Zuruf, wie er vor der Tat die eigenen Bedenken überhörte. Nun muß er erleben, daß genau das Gegenteil von dem geschah, was er selber als richtig erkannt. Er hätte den Geist töten und den Leib retten wollen. Aber er hat den Leib getötet, und der Geist lebt weiter. Wenn Brutus es sich auch nicht gestehen will, das Wissen ist doch in 15

ihm. In der Stille der Nacht steigt es herauf aus dem Dunkel, Brutus muß Caesars Geist, den er hatte überwinden wollen, mit Augen sehen, wie er gespenstisch umgeht. Daß Brutus in seinen tieferen Schichten weiß, sein Tun gehe fehl, das spüren wir nach der Tat in der gequälten Ratlosigkeit vor dem nächtigen Spuk, in der Schlaflosigkeit, in der Art, wie er den Dienern den Schlaf gütig gönnt und wehmütig neidet, in der Gereiztheit im Gespräch mit Cassius: Denkt an den März! Denkt an des Märzen Idus! Hat um das Recht der große Julius nicht geblutet? in der müden Zerfahrenheit: Hab Geduld mit mir, Mein guter Junge, ich bin sehr vergeßlich ... und schließlich im Irrewerden an seiner Philosophie, in der schwankenden Beurteilung des Selbstmords. Aber wir spüren es auch in seinem Gram und in seiner Unruhe vor der Tat. Ist Brutus krank? fragt Portia. Du trägst ein krankes Übel im Gemüt... Nicht essen, reden, schlafen läßt es dich, Und könnt es deine Bildung so entstellen, Wie es sich deiner Fassung hat bemeistert, So kennt ich dich nicht mehr... Und wie sollte nicht der Gram über ihn kommen, nachdem er sein lebendiges Gefühl und Wissen erwürgt und sich mühsam und gewaltsam zum Tyrannenmord überredet hat: Caesar sei zwar noch kein Scheusal, das den Tod verdiene, aber er könne es werden, eine Präventivaktion müsse es verhindern. Drum eh er kann, beug vor! Und weil der Streit Nicht Schein gewinnt durch das, was Caesar ist, Leg so ihn aus: das, was er ist, vergrößert, Kann dies und jenes Übermaß erreichen. Drum achte ihn gleich einem Schlangenei, Das, ausgebrütet, giftig würde werden Wie sein Geschlecht, und würg ihn in der Schale. In seinem Bewußtsein hält Brutus diese faule Argumentation für richtig: Es muß durch seinen Tod geschehn, 16

aber in der Tiefe fühlt er, daß er irregeht, Gram legt sich über ihn, und das Auge Portias erkennt, daß seines Wesens Züge sich entstellen. Eine Folge von Fehlentscheiden läßt Brutus auch äußerlich als einen Irrenden erscheinen. Er täuscht sich nicht nur im Zentralen, er vergreift sich auch in den Mitteln. Was menschlich und geistig richtig ist: daß er die Caesarianer leben läßt, ist politisch ein Fehler und macht seine Tat nun auch äußerlich sinnlos. Daß er gar Antonius sprechen läßt und nicht einmal dableibt, um ihn zu überwachen, entspringt einer völligen Verkennung der Sachlage. Seine eigene Rede ist ungeschickt. Sie ist rein intellektuell konstruiert, syllogistisch aufgebaut, sie zündet nicht. Statt wie Antonius auf eine spontane Reaktion des Volkes hinzuarbeiten, beginnt er mit den Worten: „Seid ruhig bis zum Schluß", und nach einer Reihe von rhetorischen Fragen, deren jede, wäre Brutus ein wirklicher Volksredner, Zurufe der Hörer hätte erregen müssen, endet er schulmeisterlich mit den Worten: „Ich halte inne, um Antwort zu hören." Brutus irrt auch als Feldherr. Gegen den besseren Rat des Cassius verläßt er die gute Stellung und zieht dem Feind entgegen. Hier, wo er es nicht dürfte, widersteht er Cassius, früher, als er hätte widerstehen sollen, ließ er sich von ihm täuschen und verführen. „Brutus, schläfst du?" rief Cassius ihm zu, und Brutus nahm die Gaukelei eines Ehrgeizigen für die Stimme der Römer. Die Römer sind nicht so, wie Brutus sie sich denkt. Der „Schlaf" des Brutus aber, aus dem er sich durch die Gaukelstimmen des Cassius aufstören läßt, was war er anderes als seine Untätigkeit im Politischen, sein Aufgehen im Privaten: in der Freundschaft und in der Liebe, der Liebe zur Gattin und der Freundschaft mit Caesar und mit den Sklaven. Sein „Schlaf" war sein Herrlichstes. Wieviel Achtung lebt in seinem Verkehr mit den Sklaven, wie sehr läßt er gerade sie f r e i s e i n. Er entschuldigt sich bei ihnen, er bewacht ihren Schlaf und nimmt sorgsam die Laute aus dem Arm des Einnickenden, damit er sie nicht zerbreche. Lieber Schelm, schlaf wohl; Ich tu dir's nicht zu leid, daß ich dich wecke. Und ein andermal: He, Lucius! - Fest im Schlaf? Es schadet nichts. Genieß den schweren Honigtau des Schlummers. Du siehst Gestalten nicht noch Phantasien, Womit geschäftge Sorg' ein Hirn erfüllt; Drum schläfst du so gesund. Der Verkehr mit Freunden, mit der Gattin, mit den Sklaven seines Hauses, das ist das wahre Leben des Brutus, hier atmet er frei und entfaltet sich und wirkt, hier, nicht in der Öffentlichkeit, bildet er sich und andere zu Menschen. Im öffentlichen Reden und Handeln ist er unbegnadet und un17

beholfen, er setzt sich falsche Ziele und greift zu falschen Mitteln. Cassius weckt ihn unsanft auf aus dem Schlaf, aus seinem edlen und lebendigen privaten Dasein und zerrt ihn in die große Politik. Aber Brutus gelangt dadurch nicht aus Nacht ins Licht, sondern aus der Tiefe an die Oberfläche. Er selber scheint es zu spüren, wenn er, immer wieder, den Schlaf preist und schützt, er, dem zuletzt auch dem Wortsinne nach der Schlaf geraubt ist. Seine sehnsuchtsvollen Worte vom Schlaf stehen in geheimer Beziehung zu der schiefen Anschuldigung des Cassius: „Brutus, du schläfst!" So stellt sich in Brutus ebensosehr wie in Caesar die Unsicherheit des Menschen dar. Nicht Caesar ist die Hauptgestalt dieser Tragödie, und auch nicht Brutus, sondern der Mensch in seiner Gebrechlichkeit. Die Haltlosigkeit und der Wankelmut der großen Masse, des Volkes, ist Thema schon der ersten Szene. Sie, die eben noch dem Pompejus zugejubelt haben, wollen nun den Triumph seines Gegners feiern und genießen. Aber der beredte Appell der beiden Tribunen - ihre lebendig aus der Situation erwachsende Rede, der fortreißende Rhythmus und die Bildkraft ihrer Sprache sind Vorklang der gleichartigen, aber ins Genialische gesteigerten Leistung des Antonius — macht sie unsicher, schon scheinen sie sich wieder der anderen Partei zuzuwenden. Sieh, wie die Schlacken ihres Innern schmelzen! Sie schwinden weg, verstummt in ihrer Schuld. Was diese Szene im Kleinen gibt: Wendung von Pompejus zu Caesar und Rückwendung zu den Pompejanern, erscheint im Gesamtspiel in gleichartiger Bewegung, aber in vergrößertem Maßstab und dem Inhalte nach in der Umkehrung r Das Volk jubelt Caesar zu, dann Brutus und den Caesarmördern, um schließlich in jäher Wendung wieder den Caesarianern zu verfallen. Es ist dasselbe wankelmütige Hin und Wider, das in der Caesar-Calpurniaszene zu beobachten war. Das Individuum bewegt sich wie das Volk, das Volk wie das Individuum, in jedem spiegelt sich das andere, im einzelnen die Masse und in der Masse der einzelne, beide sind Abbild, keines ist Urbild. Casca, der Caesar schmähte, bringt die Beeinflußbarkeit des verantwortungslosen Pöbels am schärfsten ins Wort: „Drei oder vier Weibsbilder, die bei mir standen, riefen: ,Ach die gute Seele!' und vergaben ihm von ganzem Herzen. Doch das gilt freilich nicht viel; und wenn er ihre Mütter abgestochen hätte, sie hätten's ebensogut getan." Casca selber, den wir bei seinem ersten Auftreten rauh und frech sehen, fällt in der Gewitternachr in Furcht und Zittern, um sich dann durch die Worte des Cassius wieder stärken zu lassen. Und was seine Rauheit angeht, so erscheint sie Brutus als die plumpe Zerrform seines einst feurigen Wesens. Caesar ist abergläubisch geworden, Calpurnia ist abergläubisch geworden, 18

Brutus und auch Cassius werden ihrer Philosophie untreu, der einst feurige Casca ist jetzt rauh und schreckhaft - überall und immer wieder Verfall. Cassius verfolgt kraftvoll und mit Geschick sein Ziel. Aber er ist zerfressen von Ehrgeiz und Mißgunst. Seine hagere Gestalt, sein hohler Blick, darin hat Caesar ganz recht, zeugen davon. Un,d so auch sein immer wieder neu ansetzendes Sichvergleichen mit Caesar, sein gieriges Spähen nach dessen Schwächen. In Wirklichkeit aber ist er Caesar weder überlegen noch ebenbürtig. Er imitiert ihn. Sein „Sprich, schlage, stelle her" - Speak, strike, redress - ist deutlich nach dem Schema Veni, vidi, viel gebildet (einer Formel, die Shakespeare in der Verlornen Liebesmüh, in Wie es euch gefällt und in Cymbellne zitiert und als „Thrasonisches Geprahle" bezeichnet); aber nur ein Brutus, der die Welt nicht kennt, läßt sich dadurch blenden. Cassius muß alles mühsam erzwingen, schlau und verbissen bewerkstelligen, die Gnade des Schicksals trägt ihn nicht, wie sie Caesar trug. Kaum hat er Brutus für sein Unternehmen gewonnen, muß er in die zweite Reihe zurücktreten. Immer wieder weicht er, auch da, wo er im Recht ist, die stärkere Persönlichkeit des Brutus heißt ihn schweigen. Cassius möchte Cicero in den Bund aufnehmen, Antonius unschädlich machen oder doch wenigstens nicht öffentlich reden lassen, überall stößt er auf Brutus' Nein und gibt resigniert nach. So auch bei der Beratung des Schlachtenplans. Brutus fällt von seiner stoischen Philosophie ab, Cassius von der epikuräischen. Du weißt, ich hielt am Epikurus fest Und seiner Lehr: nun ändr' ich meinen Sinn Und glaube halb an Dinge, die das Künftge deuten. So wird auch er, ein matter Abglanz des Caesar, abergläubisch, als seine Bahn sich senkt. Er nennt das Leben des Menschen „stets unsicher" (V 1), und wirklich beginnt er nun die Dinge falsch zu deuten, den Sieg und Jubel der Freunde nimmt er für den der Feinde Ach, jeden Umstand hast du mißgedeutet! sagt Titinius von ihm. Er selber kommt gerade hier auf seine kurzsichtigen Augen zu sprechen: My sight was ever thick. Und wie Caesars Taubheit, so läßt Shakespeare Cassius' Sehschwäche szenisch wirksam werden. Auch sie ist Zeichen für die Gebrechlichkeit des Menschen. Antonius ist ein echteres und stärkeres Abbild Caesars als Cassius. Er wirft sich in die Wellen, und der Strom trägt ihn, während die anderen versinken. Aber schon ist auch sein Untergang leise vorgedeutet. Er liebt ein leichtes Leben, Brutus hält ihn deshalb für ungefährlich. Das ist er jetzt noch nicht; aber gegen Ende des Spiels gleiten auch ihm, ähnlich wie Cassius, die Zügel aus der Hand. Er tritt die Führerrolle an Octavius ab. Nach dem großen 19

Umsdiwung steht er nodi deutlich an erster Stelle. Er will Lepidus ausschalten. Den Einspruch des Octavius: Doch ist er ein geprüfter, wackrer Krieger entkräftet er mit einem eleganten und geistvollen Wort: Das ist mein Pferd ja auch, Octavius; Dafür bestimm ich ihm sein Maß von Futter. So in der ersten Szene des vierten Aktes. In der ersten Szene des fünften, bei der Planung der Schlacht, sind die Rollen vertauscht. A. Octavius, führet langsam Euer Heer Zur linken Hand der Ebne weiter vor! O. Zur rechten ich, behaupte du die linke! A. Was kreuzt Ihr mich, da die Entscheidung drängt? O. Ich kreuz Euch nicht, doch ich verlang es so. Octavius hat es nicht nötig, geistvoll zu sein. Wenn Caesar einst sagte: Der Grund ist nur mein Will: ich will nicht kommen. Das gnügt zu des Senats Befriedigung, so war es großtuerisches Theater, unmittelbar darauf nannte er den Grund doch. Octavius aber ist so, wie Caesar sich nur sieht. Was bei Caesar, zuletzt jedenfalls, Maske war, bei ihm ist es Dasein. Octavius ist die einzige Gestalt in diesem Spiel, die aus echter Sicherheit lebt. Aber seine Rolle dominiert nicht. Sie wirkt neben all den anderen mehr als Kontrast und Gegenklang. Auch steht er erst im Anfang, während bei Caesar das Ende, bei Brutus und Cassius Steigen und Fallen, bei Antonius die Höhe und das leise beginnende Sinken gezeigt werden. Das Motiv der Unsicherheit ist dominierend. Es stellt sich auch in Nebenfiguren dar: Cinna, der Poet, zwischen Wollen und Nichtwollen, entschließt sich gegen seine Ahnung und gegen sein Gefühl zum Ausgehen, und geht wie Caesar seinem Tod entgegen. Mir träumte heut, daß ich mit Caesar schmauste, Und Mißgeschick füllt meine Phantasie. Ich bin unlustig, aus dem Haus zu gehn, Doch treibt es mich hinaus. I have no will to wander forth of doors, Yet something leeds me forth. So variiert sich in kleinem Maßstabe Caesars Ausgang wider sein Gefühl und in weiterem Sinne auch Brutus' Handeln wider sein Gefühl. Seltsame Vorfälle und „Zeichen" tun das ihrige, die Menschen zu verwirren 20

und unsicher zu machen, und auch die Natur mit ihren Gewittern und nächtigen Stürmen spielt mit in dem großen Spiel. „Nicht Erd noch Himmel", sagt Caesar, „war heut nacht in Frieden." Nor heaven nor earth have been at peace to-night. Der Gegenpol, echte Sicherheit, ist da in der Gestalt des Octavius, aber auch in einzelnen Momenten der anderen Figuren, so etwa in Caesars Haltung im Tod, in Portias Liebe zu Brutus (im gesamten gesehen ist auch sie unsicher: „Ich habe Mannes Sinn, doch Weibes Kraft." „Ach, welch ein schwaches Ding das Herz des Weibes ist!"), in Brutus' privatem und in Antonius* öffentlichem Leben. Doch das sind Untertöne. Der eigentliche Gegenklang zur Unsicherheit, beinahe ebenso mächtig tönend wie sie ist in diesem Drama die Schemsicherbeit. Caesar, den Fortuna schon verlassen hat, agiert den Sicheren. Er vergleicht sich dem Nordstern, dem Olymp, er beteuert, im Gespräch mit Calpurnia wie in dem mit Antonius, daß Furcht ihm fremd sei; er liebt die großen Worte: „Der Grund ist nur mein Will" - „Was uns angeht (pluralis majestatis), werd auf die Letzt verspart." Er spricht in der dritten Person von sich, so als ob er von einem Gott spräche: „Caesar neigt sein Ohr." „Caesar geht aus." „Hilft Caesar sich mit Lügen?" „Caesar tut kein Unrecht." „Ach mein Gatte", klagt Calpurnia, „in Zuversicht geht deine Weisheit unter." Sie spürt nicht, daß es nur die Maske der Zuversicht ist. Caesar spielt vor sich und den anderen den Sicheren, der er nicht oder nicht mehr ist. Auch Cassius spricht davon, daß er den Tod nicht fürchte. Ja, der Tod, die Möglichkeit zu sterben ist ihm, so behauptet er, geradezu eine letzte Sicherung gegen alle Gefahr: Das Leben, dieser Erdenschranken satt, Hat stets die Macht, sich selber zu entlassen. Und später: Ja, wer dem Leben zwanzig Jahre raubt, Der raubt der Todesfurcht so viele Jahre. Ein fieberhaft gesteigertes, trotziges Sicherheitsgefühl lodert in der Sturmnacht in ihm empor. Ich, für mein Teil, bin durch die Stadt gewandert, Mich unterwerfend dieser grausen Nacht; Und so entgürtet, Casca, wie Ihr seht, Hab ich die Brust dem Donnerkeil entblößt. Und wenn des Blitzes schlangelnd Blau zu öffnen 21

Des Himmels Busen schien, bot ich mich selbst Dem Strahl des Wetters recht zum Ziele dar. (Jene von Casca gezeichnete Szene, wo Caesar in großartigem Theater sein Wams aufriß und dem gemeinen Haufen seinen Hals zum Abschneiden bot, spiegelt sich hier wieder). Forciert ist auch das Sicherheitsgefühl, dem der kranke Ligarius sich ergibt: Mit neu entflammtem Herzen folg ich euch Zu tun, ich weiß nicht was. Doch es genügt, Daß Brutus mir vorangeht. Und forciert ist der Versuch Portias, die eigene Festigkeit zu erproben, indem sie sich eine Schenkelwunde beibringt. Bei Brutus selber prägt sich das Bedürfnis, sich zu sichern, wie bei Caesar schon im Sprachlichen aus. Er liebt den Syllogismus, die rhetorisch fest geprägte Figur überhaupt. Dem ihn stachelnden Cassius antwortet er: Daß Ihr mich liebt, bezweifl' ich keineswegs; Worauf Ihr bei mir dringt, das ahn ich wohl, Was ich davon gedacht und von den Zeiten, Erklär' ich Euch in Zukunft. Und weiter: Was ihr gesagt, Will ich erwägen; was Ihr habt zu sagen, Mit Ruhe hören ... Zur höchsten Unnatur steigert sich diese Art zu reden in Brutus" Ansprache an die Römer, deren logisch eherner Aufbau einem sichernden Gitterwerk gleicht. Während Antonius tastend sich dem Augenblick anvertraut und dann sich von der Gunst der Stunde tragen läßt, tritt Brutus mit einer fertig ausgearbeiteten, kunstvoll gemachten Rede vor die Römer. „Ich bin kein Redner, wie Brutus" darf Antonius mit einem gewissen Recht sagen. Er hat seine Rede nicht künstlich gebaut, er hat sie lebendig wachsen lassen, ein jubelndes Gefühl der echten Sicherheit erfüllt ihn in dieser Stunde des Einklangs mit dem Strom des Geschehens, des Geschicks. Des Brutus starre Formeln aber entspringen nicht wirklicher Sicherheit, sondern sollen sie vortäuschen. Wie durch das Zeremoniell der Worte, so sucht Brutus auch durch das Zeremoniell der Gebärden den Schein der Sicherheit. Er stellt sich und den anderen die Ermordung Caesars als ein heiliges Opfer dar und schmückt sich öffentlich mit den Zeichen seiner Tat: Bückt, Römer, bückt euch, Laßt unsre Hand in Caesars Blut uns baden 22

Bis an die Ellenbogen! Färbt die Schwerter! So schreiten wir hinaus bis auf den Markt, Und überm Haupt die roten Waffen schwingend, Ruft alle dann: Erlösung! Friede! Freiheit! Und Cassius:

Bückt euch und taucht! In wie entfernter Zeit Wird man dies hohe Schauspiel wiederholen, In künftigen Ländern und mit fremdem Laut.*) Auch dieses sakrale Schauspiel dient der Selbstbestärkung. Die gespenstische Unwirklichkeit der Zeremonie enthüllt sich dem Hörer in dem Augenblicke, wo er Cassius von ihrer rituellen Wiederholung „in noch ungeborenen Staaten und unbekannten Sprachen" reden hört. In keinem der anderen Spiele Shakespeares wird so viel prophezeit wie in diesem, so ängstlich auf Zeichen, Vorzeichen, Weissagungen, Orakel und Träume geachtet oder trotzig-theatralisch nicht geachtet. Die Menschen stehen im Leeren, greifen nach Sicherungen, die keine sind und lauschen angestrengt nach der Zukunft und nach dem Schlag der Stunde. Brutus vor der Schlacht bei Philippi: Oh, wüßte jemand doch Das Ende dieses Tagwerks, eh es kommt! Allein es gnüget, enden wird der Tag, Dann wissen wir sein Ende. Artemidorus, der sein Gesuch stellt, drängt Caesar: Verschieb nicht, Caesar, lies es augenblicklich. Und zu Beginn der selben Szene, als Einsatz des dritten Akts, der kurze Wortwechsel zwischen Caesar und dem Wahrsager: Caesar: Des Märzen Idus sind nun da. Wahrsager: Ja, Caesar, Doch nicht vorbei. Vor der Tat streiten die Verschwörer sich über den Stand der Sonne, wo und wann sie aufgehe, jetzt und zwei Monate später. Ihr sollt gestehn, daß ihr euch beide täuscht, sagt Casca. Und immer wieder hören wir die Frage nach der Zeit: Brutus: Still! Zählt die Glocke! Cassius: Sie hat drei geschlagen. *) vgl. dazu unten S. 27 und S. 45, Anmerkung.

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Trebonius: Es ist zum Scheiden Zeit. (II 1) Brutus: Zur achten Stund aufs späteste, nicht wahr? Cinna: Das sei das spätste, und dann bleibt nicht aus. (II 1) Caesar: Was ist die Uhr? Brutus: Es hat schon acht geschlagen. (II 2) Portia: Was ist die Uhr? Wahrsager: Die neunte Stund etwa. Portia: Ist Caesar schon aufs Capitol gegangen? (II 4) Brutus zu seinem Sklaven: He, Lucius! Auf! Ich kann nicht aus der Höh der Sterne raten, Wie nah der Tag ist. - Lucius, hörst du nicht? Ich wollt, es war mein Fehler, so zu schlafen. — Nun, Lucius, nun! Ich sag: erwach! Auf Lucius! Dies der Einsatz des zweiten Aktes. Dieselbe Szene enthält das Rätselraten der Verschworenen um den Stand der Sonne. Wir wissen, daß wir sterben werden. Frist Und Zeitgewinn nur ist des Menschen Trachten, sagt Brutus nach der Ermordung Caesars. Im Lager bei Sardes dann, im vierten Akt, beschleunigt Brutus die Entscheidung, er glaubt der Zeit den Lauf nicht lassen zu dürfen, der richtige Zeitpunkt scheint ihm da, er möchte ihn nicht verfehlen, und so rennt er hastig in sein Verderben. Sein Versuch, sich an die Zeit zu klammern, bleibt ebenso ohnmächtig wie einst jener andere, sich durch Logik und Rhetorik zu sichern. Die Zeit geht ihren ehernen Gang und kümmert sich nicht um den nach ihr hinlauschenden und hintastenden Menschen. Des Cassius Geburtstag wird zu seinem Todestag. An diesem Tage atmet* ich zuerst. Die Zeit ist um, und enden soll ich da, Wo ich begann: mein Leben hat den Kreislauf Vollbracht... Unsicherheit, Scheinsicherheit, echte Sicherheit: Es sind nicht drei verschiedene Motive, die das Stück durchklingen, es ist ein Grundthema, das, ähnlich wie in der Fuge, immer wieder ertönt, in eigener Gestalt, variiert, oder in der Umkehrung. Der Julius Caesar ist die Tragödie der Scheinsicherheit; sie muß dem unsicheren Menschen Ersatz sein für die echte Sicherheit, nach der er sich sehnt. Es ging Shakespeare, so viel läßt sich sagen, gewiß nicht darum, sich zum Richter gerade Caesars aufzuwerfen, ihn als „Invaliden" 24

zu entlarven. Die Gebrechlichkeit seines Caesar, die wegzuleugnen töricht wäre, entspricht vielmehr der Gebrechlichkeit der übrigen Figuren des Spiels. Nicht um Caesars Person geht es, sondern um den letztlich unsicheren Menschen überhaupt, der in vielen Spiegelungen und Gegenspiegelungen erscheint. Die Einzelmotive, die Gesicht und Atmosphäre der Tragödie bestimmen, leben, obwohl sie ihrerseits selbständig sich entfalten und variieren, von der Beziehung zum Hauptthema. So die Motive der Nacht, des Stroms, des Schlafs und des Nichtschlafenkönnens und Nichtschlafendürfens, das Motiv der Maske und des Schauspielerns, die Motive der Einsamkeit, des privaten und des öffentlichen Daseins, des Mißtrauens und der Sorglosigkeit. Neben dem starren, maskenhaften Schauspielertum Caesars, der dem Volk und sich selber schon zum festgeprägten Bilde geworden ist und nun dieses Bild darstellen muß, steht die Vermummung der Verschworenen - „sie tragen eingedrückt die Hüte und das Gesicht im Mantel halb vergraben" -, ihr heuchlerisches Bitten und Flehen im Senat. Brutus, der widerwillig duldete, daß die Verschwörung ihr scheußlich Angesicht hinter freundlichem Lächeln barg, reißt nach der Tat mit einer heftigen Bewegung die Maske herunter und will maskenlos, mit allen Zeichen seiner Tat, vor die Öffentlichkeit treten; aber auch dies ist Schauspiel, sakrales Theater; schmerzlich lebendig, aus erschütterter Seele emporgetrieben, nicht komödiantenhaft wie bei Caesar, aber doch auch Maskenspiel, hinter einer grellen und schreienden Maske verbirgt Brutus seine Gefühlsverwirrung. Von anderer Art ist die schauspielerische Leidenschaft des Antonius. Er spielt mit wirklicher Freude, nicht starr wie Caesar und nicht verkrampft wie Brutus. In großartiger Steigerung agiert er an der Bahre Caesars vor dem Volke und vor sich selber. Er bezieht den Mantel, die Leiche Caesars in das Spiel ein, mit lebendigem Sinn für das theatralisch Wirksame. „Schließt einen Kreis um Caesars Leiche denn", sagt er, und die Bürger: „O kläglich Schauspiel", o piteous spectacle. Und wie er die Masse mit sich reißt, so auch sich selber. In lebendiger Bewegung läßt er die Trauer, die Empörung, die Begeisterung immer machtvoller und höher emporbrausen, in sich wie in den ändern. Kluges Berechnen und Manipulieren ist mit dabei, aber es ist nicht das einzige. Wie der echte Schauspieler, der das Leid Hekubas so innig nacherlebt, daß er Tränen vergießt um sie, ist auch Antonius eins mit seiner Rolle, er spielt sie über seine politischen Zwecke hinaus mit wirklicher Überzeugung, er kann sich vom eigenen Gefühl tragen lassen, ist nicht auf Mache angewiesen. In kleineren Figuren kehrt das Motiv des Schauspielerns, der Maske an vielen Stellen des Stückes wieder. So, wenn Lucilius bei der Gefangennahme sich für Brutus ausgibt oder wenn der Diener des Antonius den Caesarmördern seinen Auftrag vorschauspielert mit immer wiederholtem Hinweis, daß er eine ihm zugeteilte Rolle spiele. 25

So, Brutus, hieß midi mein Gebieter knien, So hieß Antonius mich niederfallen, Und tief im Staube hieß er so mich reden: Brutus ist edel, tapfer, weis und redlich; Caesar war groß, kühn, königlich und gütig. Sprich: Brutus lieb ich und ich ehr ihn auch. Sprich: Caesarn fürchtet ich, ehrt' ihn und liebt' ihn. In ähnlicher Weise variieren sich die anderen Motive. Das nächtige Handeln und das nächtige Schicksal nimmt Gestalt an in den bedeutsamen Nachtszenen des Stücks, in der Sturmnacht des ersten Aktes, in dem nächtlichen Selbstgespräch des Brutus in seinem Garten, der nächtlichen Zusammenkunft der Verschworenen, und in der Nacht vor der Schlacht bei Philippi, wo Brutus der Geist Caesars erscheint. Nacht und Ungewitter treten real in das Stück herein und werden zu Mitspielern. In der Wortsphäre ist es das Bild des Stroms und der Woge, das immer wiederkehrt. Schon in der ersten Szene erinnert Marullus die Bürger daran, wie sie dem Pompejus zujauchzten, So daß die Tiber bebt' in ihrem Bett, Wenn sie des Lärmes Widerhall vernahm An ihrem hohlen Ufer, und Flavius fordert dieselben Bürger auf, ihre Tränen in das Bett des Stroms zu weinen, bis die flachste Welle Die steilsten aller Uferhöhen küßt. Cassius, der so gern sich von dem Strom des Schicksals tragen lassen möchte, der sich ihm aufnötigt in verbissener Verblendung, und der schließlich von ihm verschlungen wird, ruft auch zuletzt noch das vertraute Bild empor: Nun tobe, Wind! schwill, Woge! schwimme, Nachen! Der Sturm ist wach, und alles auf dem Spiel. (V 1) Brutus aber spricht, ohne es zu meinen, sich und seinen Freunden selber das Urteil: Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück; Versäumt man sie, so muß die ganze Reise Des Lebens sich durch Not und Klippen winden. Die die Flut wahrzunehmen wissen, im rechten Moment sich tragen ließen von den Wellen des Stroms, sind gerade die anderen: einst Caesar, jetzt Antonius und auch schon Octavius. Cassius aber ist unbegnadet und kann sich das Versagte nicht erzwingen. Brutus selber irrt vom eigenen Wege ab, wenn er auf den Gang des Geschicks, auf Gunst und Ungunst der Stunde 26

lausdien zu müssen glaubt, statt dem eigenen Herzen zu folgen. Er hört die fremden Stimmen - Brutus, du schläfst! - und vernimmt darüber die eigene nicht mehr, er meint ins öffentliche Leben treten zu sollen, und zerstört sich dadurch nur sein wundervolles privates Leben. Portia ist tot, er selber, der am köstlichsten in der Welt seines Hauses sich entfaltete, haust nun im Zelt - ein bitteres Symbol. Zuviel Mißtrauen hegte Brutus gegen Caesar, zu wenig gegen Cassius, zu wenig gegen Antonius. Cassius rettete einst Caesar das Leben, dann mordete er ihn. Variation und Umkehrung der Motive, Nachahmung und „Vorahmung" des Hauptthemas, der Hauptmotive: Shakespeares Drama ist voll davon. Aber dieses Geflecht der Motive, dieser gleichsam musikalische Aufbau des Stückes wird nirgends aufdringlich sichtbar. Er bleibt dem Bewußtsein des unbefangenen Hörers oder Lesers gemeinhin verborgen, wird nur unbewußt aufgenommen. Denn über dem geheimen Grundgewebe, dem Gefüge der Motive, erhebt sich das individuelle Leben der Gestalten. Sie sind keine bloßen Puppen im Spiel der Handlung, sondern reich differenzierte Charaktere. Caesar, dessen Schwächen, dessen Unsicherheit so scharf ins Licht gesetzt sind, ist doch keineswegs nur schwach und unsicher. Er hat zugleich Glanz und Größe. Daß er bei der mißglückten Krönung trotz aller Behinderung sich die Herzen des Volkes zu gewinnen vermag, blickt selbst durch den hämischen Bericht Cascas hindurch. Casca nennt ihn einen Komödianten. Aber Caesar ist nicht nur ein genialer Komödiant, er ist sichtbarlich ein vom Schicksal Begnadeter. Im richtigen Augenblick tut er den rechten Griff, hat die rechte Gebärde, spricht das rechte Wort. Noch im Sterben überwindet er seine Gegner - mit seiner Haltung und mit seinem Wort. Nicht Tat und Zeremonie der Caesarmörder werden, wie Brutus und Cassius meinen, im Ritus durch Jahrtausende lebendig bleiben, sondern das Wort des sterbenden Caesar. Et tu, Brute - Shakespeare läßt dem Ausspruch seine lateinische Gestalt, als wollte er fühlbar machen, wie lebendig diese Prägung durch die Zeiten und durch den Verfall der Sprachen hindurch geblieben ist. Auch andere Worte Caesars fallen so, daß sie ihre Wirkung nicht verfehlen. „Er ist ein Träumer, laßt ihn gehn und kommt", sagt Caesar vom Wahrsager, als ob er wirklich über solche Warnung erhaben wäre. „Was uns angeht, werd auf die Letzt verspart" es ist Theater, aber großes, wirkungsvolles Theater, und für Caesar, der die Welt beherrschen will, bedeutet die Wirkung alles. Caesar kennt auch die Menschen, er durchschaut den Cassius, der ihm selber ähnlich ist, und auch in Brutus, der von anderer Art als er, täuscht er sich nur halb: die Schön27

heit seiner Seele, um derentwillen er ihn liebt, sein Adel, seine Wärme, sie bestehen wirklich, ihn führt nicht neidischer Ehrgeiz von Caesar weg. — Auch Caesars körperliche Schwächen und Anfälligkeiten sind nicht bloß Signum einfacher Gebrechlichkeit. Die fallende Sucht, die Anfälligkeit für das Fieber, die Nervosität im privaten Leben, sie zeugen von der fast krankhaften Empfindlichkeit Caesars, von seiner Sensibilität, die nicht nur Schwäche ist, sondern ihm zugleich auch die Witterung schenkt für den Gang der Dinge. Gerade die Gebrechlichkeit Caesars macht ihn zum empfindlichen Medium, er nimmt die feinen Schwingungen auf, die in der Luft liegen, er kann sich seinen Impulsen anvertrauen, sie sind im Einklang mit dem, was die Stunde will. Das alles ist freilich fast schon Mythos, fast schon Vergangenheit, die Gegenwart schenkt ihm nur gleichsam nebenbei noch das glückliche Wort, die elegante Gebärde — gleichzeitig macht Caesar seinen entscheidenden Fehler: er geht in den Senat. Wir sehen ihn in seiner Ratlosigkeit, sehen, wie er willkürlich den Entschluß faßt und spüren, wie sein Dämon ihn verläßt. Caesar fällt aus der Gnade. Fast ist er nur noch die Maske seiner selbst. Sein jüngeres, voll lebendiges Abbild, Abbild dessen, was er einst war, ist Antonius. In ihm spiegelt sich das auf dem Strome Schwimmen, das ehedem Caesar in noch herrlicherer Weise geschenkt war. In Antonius sehen wir den, der spielend die Situationen meistert, in voller Gegenwart. Auch er freilich hält sich nicht durch das ganze Stück auf der Höhe, wir werden Zeugen auch schon seines beginnenden Sinkens. Diese feinen Veränderungen tragen dazu bei, uns die Gestalten als lebendig erscheinen zu lassen. Und ebenso ihre große innere Spannweite: Denselben Antonius, den wir in echter Trauer um Caesar sehen und den wir den warmen Nachruf auf Brutus sprechen hören, erblickt man während der Proskriptionsszene in kaltem Schachern mit seinen politischen Freunden. Cassius ist klug, geschickt, treffsicher - und unbegnadet. Er kennt die Menschen und weiß sie zu behandeln, Brutus so gut wie Casca. Er schätzt die Situation richtig ein, er versteht den Gang der Dinge zu seinen Gunsten zu wenden, der Erfolg bleibt ihm doch versagt. In bewundernswerter Weise nimmt er die ihm begegnenden Gelegenheiten wahr. Als Brutus nach des Cassius langer und erregter Erzählung von Caesars mehrmaligem schwächlichem Versagen statt aller Antwort nur auf das Jauchzen hinweist, das erneut sich hören läßt: Ich glaube, dieser Beifall gilt den Ehren, Die man auf Caesars Haupt von neuem häuft, da fällt Cassius, ohne irgend Empfindlichkeit zu zeigen, sogleich ein: Ja, er beschreitet, Freund, die enge Welt Wie ein Kolossus, und wir kleinen Leute, 28

Wir wandeln unter seinen Riesenbeinen Und schaun umher nach einem schnöden Grab. Das Jauchzen, nach dem der andere hingehorcht hat, ist für Cassius nur ein neuer Anlaß, seine Agitation zu stützen: Der Mensch ist manchmal seines Schicksals Meister: Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus, Durch eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge. Ebenso rasch und gewandt benüzt er Cascas Bericht von Caesars Ohnmacht für seine Polemik, und wie er hier das Fallen Caesars symbolisch versteht, so später auch das Toben des Unwetters in der Sturmnacht: Und Antlitz und Gestalt des Elements Sind wie das Werk beschaffen, das wir treiben, Höchst blutig, feurig, und höchst fürchterlich. (Die symbolische Bedeutung des Naturgeschehens, das in die Handlung der Menschen hineinspielt, braucht also nicht in das Stück hineingedeutet zu werden, sie wird von einer Figur Shakespeares selber ausgesprochen.) Die taktischen Vorschläge des Cassius sind alle richtig, von seinem Wunsch, Cicero in die Verchwörung einzubeziehen bis zu den strategischen Plänen des letzten Aktes - sie scheitern alle am Widerspruch des Brutus, der kraft einer Autorität, die aus ganz anderer Wurzel stammt, sich auch im Politischen durchsetzt. Den Cassius aber will der Strom nicht tragen, wie oft er auch das geliebte Bild emporzaubert und Wort werden läßt. Ehrgeiz, Neid, Raffsucht einen sich in Cassius mit echter empörerischer Leidenschaft - echt und theatralisch zugleich ist sein Hinaustreten in der Sturmnacht, mit entblößter Brust, und sein Sprechen von dieser seiner eigenen Gebärde: theatralisch und echt, wie ja in der Barockzeit, an der Shakespeare teilhat, das Theatralische eine echte Lebensäußerung des Menschen war. Ebenso komplex und deshalb als Gestalt ebenso individuell und wirklich wie Cassius ist Brutus. Er handelt aus Reinheit und Gewissen, und doch grundsätzlich falsch. Er macht taktische Fehler — aber gerade sie entspringen seinem Ethos. Seine Lauterkeit gibt ihm ein unbedingtes Ansehen — er gebraucht es, um unkluge Maßnahmen durchzusetzen. Er glaubt das Richtige zu tun und getan zu haben, und gleichzeitig bemächtigt sich seiner der Gram. Im Streit ist er heftig und ungerecht, und doch ist Liebe der Grund seines Wesens. Und wenn einerseits der Ruf des Cassius: Brutus, du schläfst! ein falscher Ruf ist, falsch in jedem Sinne (gefälscht und in falsche Richtung weisend), so ergeht in ihm doch zugleich ein echter Anruf an Brutus: Er wird durch ihn aus der schönen Gewohnheit des Alltags herausgerissen und zur Entscheidung aufgerufen. In tragischer Verblendung entscheidet er sich 29

fälsch; aber daß er überhaupt in die Entscheidung hineingestellt, für sie auserwählt wird, daß er diese Entscheidung in schwerem innerem Ringen vollziehen darf und vollziehen muß: das macht ihn erst in vollem Sinne zum Menschen, und zum großen Menschen. Der Julius Caesar ist kein bloßes Brutusdrama, aber Brutus ist seine wichtigste und dramatischste Gestalt. Keiner ringt wie er um die Entscheidung, ja keiner außer ihm wird zu einer wirklich umfassenden Entscheidung auserwählt. In ihm vollzieht sich der eigentliche Kampf, und er hat ihn in voller Einsamkeit zu bestehen. So wie die einzelnen Gestalten des Shakespeareschen Dramas in einem vielschichtigen Sinnzusammenhang stehen, so hat auch die einzelne Szene eine vielfach differenzierte Funktion. Am Ausgang des dritten Aktes wird der Poet Cinna (eine neu eingeführte Figur) durch das rasende Volk ermordet. Handlungsmäßig bringt die kurze Szene den chaotischen Ausbruch der Volkswut, in ihr schwingt das große öffentliche Geschehen des Mittelaktes aus. Dem Sinne nach markiert sie, wie verfehlt des Brutus Tat war: ohne äußeren Erfolg, und vor allem ohne inneren, statt zu freien Männern sind die Römer zu Wölfen geworden. Sie haben sich durch Antonius blenden und aufputschen lassen, wie Brutus selber sich durch Cassius blenden und aufputschen ließ. Ihr Wüten gleicht dem der unvernünftigen Natur, wie es in der letzten Szene des ersten Aufzugs sich darstellte. So vernehmen wir in dem wilden, sinnlos zerstörerischen Aufruhr des wankelmütigen Volkes das Grundmotiv der menschlichen Unsicherheit in gräßlicher Vergrößerung und Verzerrung. Ganz fein, leise, gewissermaßen in Verkleinerung, aber vollkommen rein hörbar, ertönt dasselbe Motiv zu Beginn der Szene, wo Cinna schwankt, ob er ausgehen oder daheim bleiben soll, und schließlich, trotz düsterer Ahnungen und Gefühle, doch das Haus verläßt, weil ein dumpfes Etwas ihn hinaustreibt. In seinem Schwanken und schließlichen Fehlentschluß spiegelt sich, immer in der Verkleinerung, dasselbe Schwanken und derselbe Fehlentschluß Caesars vor seinem Ausgang zur Senatssitzung. Und in der Ermordung Cinnas klingt die Ermordung Caesars in schauerlicher Verzerrung nach, so wie sie in der von Casca berichteten Ohnmacht Caesars in unheimlicher Weise vorklang. In der sinnlosen Ermordung des Poeten Cinna durch das Volk spiegelt sich die sinnlose Ermordung Caesars durch Brutus. Das Volk tötet den falschen Cinna, den Poeten statt des Verschworenen, so wie Brutus den falschen Caesar tötete, die Person statt des Geistes. Beide Taten sind aus dem Irrtum, aus dem Chaos geboren. Und noch eine andere Szene spiegelt sich in dieser letzten Volksszene des Stückes: die allererste. Damals wurden die Bürger durch zwei Tribunen in rasch laufendem Zwiegespräch ausgefragt, jetzt sind sie die Ausfragenden; sie setzen, in genauer Umkehrung des Motivs, ihre Fragen genau so scharf und spitz wie einst jene. Und wenn sie damals durch die Worte der Tribunen über30

wunden wurden, so vernichten sie jetzt mit ihren Fäusten den Vornehmen. So steht die Szene nicht nur in einer Linie; viele Linien kreuzen oder verflechten sich in ihr. Wenn der Julius Caesar den modernen Menschen nicht so unmittelbar anrührt wie andere Tragödien Shakespeares, so wirkt er bei tieferem Eindringen um so stärker. Es wird fühlbar, daß es nicht um die Darstellung des Schicksals der Einzelgestalten geht, des Caesar oder Brutus, des Antonius, der Portia, sondern um den Menschen überhaupt. Es wird sichtbar, daß in diesem Drama ein Bild des Menschen gezeichnet wird. Die Renaissance, an der Shakespeare Anteil hat wie am Barock, war eine Zeit des Übergangs wie die unsere. Sie baute sich eine neue Welt, mußte sich eine neue bauen, denn die alte, die so lange Jahrhunderte festgefügt dagestanden hatte, versank. Ulrich von Hütten rief sein „Es ist eine Lust zu leben!", Dürer entwarf die Melencolia. Hochgefühl und Zweifel vereinen sich in dem, der neue Werte setzt und eine neue Welt gründet. Übergangszeiten lassen die Gefährdung des Menschen, der wie kein anderes Geschöpf dieser Erde im Leeren steht und sich immer wieder Sicherungen schaffen muß, grell sichtbar werden. And you all know security Is mortals chiefest enemy, sagt Hekate im Macbeth. Sicherheit - der Wahn, sicher sein zu können ist des Menschen Erbfeind. Denn der Mensch ist seinem Wesen nach ein Unsicherer. Das Gefühl der Sicherheit wird als trügerisch und als gefährlich erkannt, die vermeintliche Sicherheit ist Schein. Auch unserer Zeit erscheint der Mensch wiederum entlarvt. Die scheinbare Sicherheit, die die europäische Menschheit des 18. und 19. Jahrhunderts sich erworben hatte, ist dahin. Die Schwermut der Renaissance erscheint wieder als Ennui, der Gram der Shakespeareschen Gestalten als Verzweiflung. In Shakespeares Werken finden wir unsere eigene Welt. Nicht die Frage nach der verschiedenen Wesensart der Charaktere beschäftigt uns heute, sondern die Frage nach dem Menschen. Nicht so sehr die Gegensätzlichkeit von Caesar und Brutus, Portia und Calpurnia, Antonius und Octavius interessieren uns als ihr Gemeinsames in der Gegensätzlichkeit. Daß Caesar, Cassius, Calpurnia abergläubisch werden, daß Brutus zerstreut und schwermütig wird, daß Caesar sinkt, Antonius steigt und sinkt, Cassius sich verzehrt, das alles deutet darauf hin, daß Shakespeare nicht einfach feste Charaktertypen zeigen will, sondern den Menschen im Schicksal. Wie wir fragt er danach, was der Mensch ist, welches die wesentlichen Situationen sind, denen er sich gegenübersieht, und wie er sich mit ihnen auseinandersetzt. 31

Und wie erscheint der Mensch in Shakespeares Drama? Die Träger der Handlung: Caesar und Brutus, Cassius, Antonius, Portia — in ihnen allen ist Hinfälligkeit und Größe zugleich, Adel und Schwäche. Wiederum ist es gerade unsere Zeit, die mit besonderer Deutlichkeit erlebt, wie glaubhaft diese Shakespearesche Antwort auf die Frage nach dem Menschen ist. Auch für die Form des Shakespeareschen Dramas haben wir ein neues Verständnis gewonnen, seit uns der Zugang zur barocken Kunst und insbesondere zur Polyphonic wieder offensteht. Aber nicht nur die Vielstimmigkeit und der fugenähnliche Bau der Shakespeareschen Spiele faszinieren uns, sondern gerade auch das, was auf den ersten Blick befremdet, die ihnen eigentümliche Nüchternheit. Shakespeare eröffnet seine Tragödie mit einer fast rüpelhaften Volksszene, einfältige Spaße erfüllen sie, und nur langsam, in der pathetischen Rede des Flavius, in der die spätere des Antonius deutlich vorklingt, steigt sie zu größerer Höhe an. Das Schicksal der beiden Tribunen wird später in einem einzigen lakonischen Satze des rauhen Casca angedeutet: „Ich kann euch noch mehr Neues erzählen: dem Marullus und Flavius ist das Maul gestopft, weil sie Binden von Caesars Bildsäulen gerissen haben." Caesars erstes Gespräch bringt nichts als einfache, zweckbedingte Anordnungen, in seinem zweiten spricht er von den „fetten Männern", die er um sich haben möchte. Nach dem Tode Caesars schachern die neuen Triumvirn mit platten Worten um Leben und Vermögen ihrer Verwandten - es weht ein eisiger Hauch durch diese Szene, in der die Caesarianer sich auf Kosten ihrer Nächsten so rasch und leicht einigen, während Brutus und Cassius noch im erregten Streit viel mehr Wärme für einander zeigen. Das letzte Wort des Stückes hat nicht Antonius, der ergriffen den toten Brutus feiert, sondern der nüchterne Octavius, der ruhig die Anordnungen zur Bestattung und zum Sieges- und Beutefest erteilt. Diese nüchternen Töne, denen Anfang und Ende des Stückes gehören und die das Ganze so durchdringen, daß sie neben Pathos, Schwermut und Poesie immer wieder vernehmlich werden, haben nicht nur Kontrastsinn; sie tragen ebenso wie die vielschichtige Anlage der Individualitäten und Situationen dazu bei, der Dichtung jenen eigentümlichen Wirklichkeitscharakter zu geben, der so manchem Beurteiler aufgefallen ist. Nicht Leidenschaften, Stimmungen, die in sich selber schwingen, stellt Shakespeare dar, sondern Welt. Die ersten und die letzten Worte des Stücks werden nicht von den Hauptgestalten gesprochen. Auch das geistig entscheidende Wort ist nicht einer Hauptgestalt zugeteilt, sondern Cicero, der im ganzen nur neun Verse spricht. Nach Cascas verstörtem und phantastischem Bericht über unheildeutende Wunderzeichen sagt er nur: Gewiß, die Zeit ist wunderbar gelaunt. Doch Menschen deuten oft auf ihre Weise Die Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn 32

um dann sogleich die sachliche Frage anzuschließen: Kommt Caesar morgen auf das Capitol? Diese Tragödie, durchsetzt von Fehldeutungen aller Art - der Traum der Calpurnia, dessen falsche Deutung Caesar das Leben kostet, das Siegesgeschrei, dessen falsche Deutung Cassius den Tod bringt, die Gesamtsituation, deren Verkennung den Brutus in die Irre führt, um nur einige zentrale Beispiele zu nennen - enthält auch das durchschauende Wort: Indeed, it is a strange-disposed time: But man may construe things after their fashion, Clean from the purpose of the things themselves. (I 3) Wie das sichere Handeln nicht einer der Hauptfiguren zugewiesen ist, sondern dem erst im vierten Akt erscheinenden Octavius, so das sichere Erkennen dem Cicero, der seinerseits aus dem Handeln herausgehalten wird, nicht nur durch den Spruch des Brutus, sondern ebensosehr durch sich selber: Während der hochpolitischen Vorgänge beim Krönungsversuch, im Blick der Öffentlichkeit - des Cassius Frage: „Hat Cicero etwas gesagt?" deutet an, wieviel Gewicht seiner Stellungnahme beigemessen wird - spricht er griechisch, so daß seine Worte keine Resonanz haben können. Ähnlich gibt er hier seine Diagnose, das Urteil über die Fähigkeit des Menschen, die Dinge richtig einzuschätzen, gleichsam nebenbei. Das entscheidende Wort im Munde einer Nebenfigur beiläufig ausgesprochen: es wirkt glaubhafter, lebensechter und feiner, als wenn Shakespeare es Brutus oder Antonius in den Mund gelegt hätte. Indessen, wie verborgen das Wort auch in dem Stücke liegt, Shakespeare hat doch angedeutet, daß es in diesem Gespräch um die wesentlichen Dinge geht. Denn wenn Casca von einem Bürgerkrieg im Himmel spricht, so ist in diesem Bild ja nur das ins Kosmische erhoben, was das Grundthema des Stücke bildet: civil strife in der Welt - in der Natur, im Staat, und, zentral, im zwiespältigen Dasein des Menschen.

HAMLET O mein prophetisches Gemüt! Man befreit ein Volk nicht, indem man den Tyrannen tötet. Brutus, der in tragischer Verblendung den falschen Weg gegangen ist, hat das, was er nicht zu erkennen vermochte, erfahren müssen. Auch Hamlet will einen Herrscher töten, und damit nicht nur seinen Vater rächen, sondern eine aus den Fugen gegangene Welt wieder einrichten. Aber wenn Brutus die Entscheidung zögernd fällte, in schwerem Kampf mit sich selber, dann jedoch in der Durchführung kein Zaudern kannte und mit betonter Sicherheit agierte, so zeigen sich die Dinge bei Hamlet in genauer Umkehrung: Er fällt das Urteil rasch und unbedenklich, die Tat aber verschiebt er von Mal zu Mal, und es bleibt in mehr als einem Sinne zweifelhaft, ob er sie am Ende wirklich leistet. Hamlet, Prinz von Dänemark, dessen Vater unter geheimnisvollen Umständen plötzlich gestorben ist, muß erleben, daß seine Mutter kurz danach in hastiger Heirat sich mit des Toten Bruder verbindet, der jenem gleicht wie ein Sumpf einer schönen Weide, wie ein Satyr dem. Hyperion. Der Vater tot - und Hamlet argwöhnt einen schlimmen Tod noch bevor er den Geist angehört hat - das Bild der Mutter geschändet. Ein allgemeiner Weltekel ergreift den Sohn. Wie ekel, schal und flach und unersprießlich Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt! Pfui, pfui darüber! 's ist ein wüster Garten, Der auf in Samen schießt, verworfnes Unkraut Erfüllt ihn gänzlich. Hamlet, in echter Ergriffenheit, erlebt die universelle Bedeutung des Einzelgeschehens. So wie es Macbeth, der den schlafenden Duncan mordet, plötzlich vorkommt, er habe nicht nur einen Schlafenden, sondern den Schlaf selber gemordet, so wird Hamlet im Versagen seiner Mutter das Versagen des Weibes überhaupt offenbar - „Schwachheit, dein Name ist Weib!" - und mehr noch: die Gebrechlichkeit der Welt: gerade das, was die Gestalten des Julius Caesar sich so sorgfältig verhüllten. Das Bild, das Hamlet bisher von der Mutter, von der Frau, vom Menschen, von der Welt gehabt hat, ist zerstört und versinkt, ein neues setzt sich an seine Stelle. Das ist, so wenig wie bei Macbeth, die Reaktion eines überempfindlichen Hysterikers (wie es der König ihm und manche Ausleger uns einreden möchten), sondern die des legitim Sensiblen, der den geistigen Sinn der Vorgänge spürt. Gewiß ist Macbeth in der Stunde, da er den König mordet, in einem überreizten 34

Seelenzustand, aber gerade in diesem Zustande überfällt ihn die richtige Erkenntnis, unvermittelt erfaßt er die Tragweite seiner Tat. Und so erkennt auch Hamlet trotz oder vielleicht gerade dank der Erregung, in die ihn der plötzliche Tod des vergötterten Vaters geworfen hat, die prinzipielle Bedeutung des Geschehens. Sein Sinn ist verdüstert, seine Sinne sind geschärft. Die Intensität seines Erlebens, die Bildkraft, aber zugleich auch die Exaktheit seiner Phantasie kommen im gleichen Monolog zum Ausdruck; unmittelbar nach der Verallgemeinerung Frailty, thy name is woman folgt die ganz individuelle Prägung: bevor die Schuh verbraucht, Womit sie meines Vaters Leiche folgte. Die Betrachtung mündet in die Worte: Es ist nicht, und es wird auch nimmer gut. Doch brich, mein Herz! denn schweigen muß mein Mund. eine durchaus angemessene Reaktion, nicht die Resignation eines Trübsinnigen. Denn so wie die Situation sich Hamlet darstellt, ist weder etwas zu sagen noch etwas zu tun. Nur das stumme Gefühl weiß mit vollkommener Sicherheit, daß die Dinge nicht in Ordnung sind. In welcher Weise die Ordnung gestört ist, und wie sie wieder herzustellen wäre, ist nicht klar, und die Ratlosigkeit Hamlets — er kann nicht wissen, was zu tun ist steigert seine Verzweiflung. Hier, in der zweiten Szene des Stückes, spricht er zum erstenmal von Selbstmord. Die Lage wendet sich. Der Geist enthüllt Hamlet den Mord, und fordert Rache. „O mein prophetisches Gemüt!" ruft Hamlet aus, „Mein Oheim?" Der Geist spricht aus, was Hamlet längst geahnt hat, deshalb nimmt er es sogleich als Wahrheit an. Seinen Freunden tut er zu wissen, der Geist habe ihm eine Selbstverständlichkeit mitgeteilt. („Es lebt kein Schurk im ganzen Dänemark, der nicht ein ausgemachter Bube war." Horatio, ein wenig verletzt, antwortet mit einem ihm selber nicht bewußten, aber von Hamlet vernommenen Doppelsinn: „Es braucht kein Geist vom Grabe herzukommen, uns das zu sagen." Hamlet darauf: „Richtig! Ihr habt recht.") „Es ist ein ehrlicher Geist, das laßt euch gesagt sein." Später aber, als Hamlet die ihm aufgetragene Tat vollziehen sollte, kommen ihm plötzlich Zweifel. „Der Geist, den ich gesehen, kann ein Teufel sein" (II 2). Nun konstruiert er die „Mausefalle", die den König fangen soll: Wenn der König seine eigene Untat, nur leicht verhüllt, als Schauspiel vor sich aufgeführt sieht, muß die Art seiner Reaktion ihn verraten, sie soll erweisen, ob er schuldig ist oder nicht. Der König, kein abgebrühter Bösewicht wie Richard III., sondern ähnlich wie Hamlet - nur in geringerem Grade - empfindlich und verletzlich, fährt auf und stürzt, außerstande, dem Spiele länger zuzusehen, ver35

störten Gesichtes — „Wie geht es meinem Gemahl?" fragt die Königin - aus dem Saal. Give me some light, stößt er heraus - Away! Und auch im Saale ertönt nun der Ruf: Lights, lights, lights! Hamlet aber hat jetzt wirklich volles Licht — er läßt sich das, was er selber gesehen, durch Horatio bestätigen - und nun dürfte die Musik einsetzen: Come, some music! Aber immer noch handelt Hamlet nicht. Er steht hinter dem in verzweifeltem Gebet knienden König. „Jetzt könnt ich's tun, bequem: er ist im Beten. Jetzt will ich's tun -" doch das gleichsam schon erhobene Schwert bleibt, wie das des Pyrrhus, dessen Bild kurz vorher die Schauspieler Hamlet und uns vor Augen gebracht haben, in der Luft gehemmt. Aber während Pyrrhus' Waffe einen Augenblick später doch niedersaust, tut Hamlet wirklich nichts. Er findet einen neuen Grund, die Tat hinauszuschieben: Den König während des Gebetes töten, hieße ihn zum Himmel schicken. Das wäre Belohnung, nicht Rache. Er soll im Stande der Sünde sterben - später - und zur Hölle fahren. Aber statt nun die Gelegenheit abzuwarten, läßt sich Hamlet, ohne sich selber einen rechten Grund dafür zu nennen, nach England verschicken. Zwar kehrt er bald zurück, aber statt auf den König, dessen frisch aufgedeckte neue Schandtat ihn, so dünkt es ihn selber, zur Rache spornen müßte, statt auf diesen König loszugehen, läßt er sich in das Geplänkel mit Laertes ein, das ihm den eigenen Untergang bereitet. Im letzten Augenblick endlich führt er den Stoß gegen den König, nicht als kühler Richter, sondern gleichsam im Handgemenge, in der Erregung, aus der Empörung über neue Untaten des Verbrechers auf dem Throne. Ob das noch als der Vollzug der dem toten Vater versprochenen Rache gelten kann, ist zweifelhaft. Hamlet, der die ihm aufgetragene Tat immer wieder hinausschiebt, gibt sich selber wechselnde Begründungen, und zuletzt verzichtet er überhaupt auf eigentliche Begründungen. Beides Zeichen dafür, daß keine dieser Begründungen gültig ist. Die Hemmung muß tiefer liegen, seinem eigenen Bewußtsein nicht zugänglich. Hamlet ist noch schärfer und weit nervöser gespalten als Brutus. Sein begründender Verstand muß ihm das eine Mal helfen, die Tat hinauszuschieben, das andere Mal tritt er in den Dienst der gegenteiligen Strebung: Hamlet versucht, sich bewußt aufzuhetzen zur Tat. So, nachdem er die Schauspieler hat deklamieren hören. O welch ein Schurk und niedrer Sklav bin ich! Ist 's nicht erstaunlich, daß der Spieler hier, Bei einer bloßen Dichtung, einem Traum Der Leidenschaft, vermochte seine Seele Nach eignen Vorstellungen so zu zwingen, Daß sein Gesicht von ihrer Regung blaßte, Sein Auge naß, Bestürzung in den Mienen, Gebrochne Stimm, und seine ganze Haltung 36

Gefügt nadi seinem Sinn. Und alles das um nichts! Um Hekuba! Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, Daß er um sie soll weinen? Hätte er Das Merkwort und den Ruf zur Leidenschaft Wie ich: was würd er tun? Die Bühn in Tränen Ertränken und das allgemeine Ohr Mit grauser Red erschüttern; bis zum Wahnwitz Den Schuldgen treiben... Und ich, Ein blöder, schwachgemuter Schurke, schleiche, Wie Hans der Träumer, meiner Sache fremd, Und kann nichts sagen ... So, nachdem er vernommen hat, daß Fortinbras „für eine Nußschal", „für eine Grille, ein Phantom des Ruhms" sein Leben und das von 20 000 Mann aufs Spiel setzt. Es gilt ein Fleckchen, Worauf die Zahl den Streit nicht führen kann: Nicht Gruft genug und Raum, um die Erschlagnen Nur zu bergen... Wie steh denn ich, Den seines Vaters Mord, der Mutter Schande, Antriebe der Vernunft und des Geblüts, Den nichts erweckt?... O von Stund an trachtet Nach Blut, Gedanken, oder seid verachtet! So auch, als er von der Englandfahrt zurückgekehrt. Er sagt zu Horatio: Was dünkt dir, liegt's mir jetzo nah genug? Der meinen König totschlug, meine Mutter Zur Hure machte; zwischen die Erwählung Und meine Hoffnungen sich eingedrängt, Die Angel warf nach meinem eignen Leben Mit solcher Hinterlist: ist 's nicht vollkommen billig, Mit diesem Arme dem den Lohn zu geben? Und ist es nicht Verdammnis, diesen Krebs An unserm Fleisch noch länger nagen lassen? Hamlet sucht sich ständig zu überreden, nun endlich zur Rache zu schreiten, und der Intellekt liefert ihm dienstfertig und bereitwillig die Argumente dafür. Im nächsten Augenblick freilich ist derselbe Intellekt ebenso rasch 37

bereit, Argumente zur Verfügung zu stellen, die die Radietat hinauszuschieben gestatten. Hamlet weiß nicht, was er will. Aber nicht, weil er ein Grübler wäre, der so genau die beiden Seiten, das Für und Wider jeder Stellungnahme sähe, daß er deswegen nicht handeln könnte. Diesem Typus des modernen Europäers, von Nietzsche, Galsworthy, Thomas Mann geschildert, gleicht Hamlet nicht. Wenn er Gründe aufruft für die Verschiebung der Rache - die Berechtigung der Rache selbst bezweifelt er nicht. Er glaubt sich zur Rachetat verpflichtet. Aber nicht nur die Pflicht, auch alles andere scheint ihm für Handeln zu sprechen: Liebe und Anhänglichkeit an den Vater, Haß und Ekel gegen den Mörder, der zugleich Verführer und Schänder der Mutter, dazu das Verantwortungsgefühl für das Reich, das Rechtsgefühl, der eigene Vorteil, der Anspruch auf den Thron, seine bloße Sicherheit: all das treibt Hamlet zur Tat, und er ist sich völlig klar darüber. Was hält ihn dennoch von der Tat zurück? Hamlet weiß es nicht. Wenn der Zuschauer, der Leser einiges Licht gewinnen will, dann gilt es, sehr genau darauf zu achten, wie Hamlet sich verhält. Von dem Augenblick an, wo Hamlet durch den Geist Gewißheit bekommt, daß sein Vater ermordet worden ist, spielt er am Hofe den Wahnsinnigen. Schon unmittelbar nach der Begegnung mit dem Geist scheint es Horatio, daß Wahnsinn in Hamlet aufflackern wolle: „Dies sind nur wirblichte und irre Worte, Herr", und Hamlet selber kündigt an, da'ß „mir's vielleicht in Zukunft dienlich scheint, ein wunderliches Wesen anzunehmen", ein fremdes, seltsames Benehmen. In der dem Hamlet zugrundeliegenden Erzählung des Franzosen Belieferest (Paris 1570/1582), die ihrerseits auf Saxos Historia Danica (Ende des 12. Jahrhunderts) zurückgeht, ist die Wahnsinnsmaske Selbstschutz des Prinzen: der Mord an seinem Vater ist offenbar, und er muß den Tollen spielen, damit er dem Mörder als harmlos erscheint und nicht auch selbst beseitigt wird. Shakespeare behält das Wahnsinnsspiel bei, aber es hat bei ihm einen völlig anderen Sinn. Der Gedanke, den Wahnsinnigen zu spielen, steigt in Hamlet schlagartig, unvermittelt auf und erfaßt ihn sofort mit ganzer Gewalt. Mit einer verzweifelten Wollust scheint er sich in dieses Spiel zu stürzen, das mehr als einmal der Wirklichkeit gefährlich nahe kommt. Das Wahnsinnsspiel entspringt offensichtlich zunächst einem unmittelbaren Bedürfnis Hamlets, einer Art innerem Zwang. Die Welt ist aus den Fugen - in einer solchen Welt geht auch der Mensch aus den Fugen, muß aus den Fugen gehen. Der Vater vom eigenen Bruder gemordet, die Mutter in blutschänderischer Ehe mit dem Mörder - das Bild der Welt, wie es bisher gültig war, bricht auseinander, die Dinge ver-rücken sich, verfallen dem Chaos. Auch das Denken ver-rückt sich, das Fühlen, Glauben, die Sprache. Ein schwächerer Geist, wie Ophelia, verfällt in ähnlicher Situation dem wirklichen Wahnsinn. Bei Hamlet bleibt 38

es ein Spiel - aber der Eintritt in dieses Spiel hat etwas Reaktionsartiges, es ist, als ob er seine Züge sich zur Wahnsinnsfratze verzerren lassen müßte; wer in einer verrückten Welt lebt, muß den Verrückten spielen. Ein zorniges und verzweifeltes Spiel ist Hamlets Wahnsinn, von ihm mit wahrem Zynismus ausgekostet. Aber es ist nicht nur ein Spiel, das er für sich selber spielt, es ist zugleich ein Schauspiel für die ändern. „Und dein Wahnwitz, Hamlet?" fragt Ulrich Bräker, in seinem sicheren Gefühl für menschliche Beziehungen, „Und dein Wahnwitz, Hamlet — nein, man sollte glauben, die ändern, nicht du, seien wahnwitzig — Polonius, Rosenkranz, Güldenstern, Osric - o die sind wahnwitzig" - weil sie sich einspannen lassen in das Getriebe des schurkischen Königs, weil sie nichts merken oder nichts merken wollen, obschon sie sich allesamt für Klüglinge halten. Aber auch Ophelia läßt sich einspannen, und die Königin, und Laertes: ihnen allen hält Hamlet den Spiegel vor, so wie, laut Hamlets eigenem Wort, jeder Schauspieler seinem Publikum den Spiegel vorhält: Seht, das was ich euch vorspiele, das seid ihr. Nach eben diesem Grundsatz spielt in Der Widerspenstigen Zähmung Petruchio eine Zeitlang den Keifer, um der Keiferin ihr Bild entgegenzustellen und sie „in ihrer eigenen Manier totzumachen" (vgl. unten S. 209). Hamlet trifft vor allem den König. Seine Tat, die den ältesten der Flüche trägt, den des Brudermords, ist nicht nur im übertragenen Sinne eine Wahnsinnstat, die die Welt aus dem Gelenke rückt und das Chaos heraufführt, sie müßte ihn, wenn er ihre Bedeutung voll empfände, in den wirklichen Wahnsinn jagen, ähnlich wie Lady Macbeth wahnsinnig wird. Hamlet, ohne sich klar darüber Rechenschaft zu geben, fühlt, daß es darum ginge, bis zum Wahnwitz den Schuldigen zu treiben (make mad the guilty, II 2), und er spielt ihm mit grausamer Schärfe das vor, was er, der König, eigentlich sein müßte. In der vom König geschändeten Welt muß Hamlet die Wahnsinnsrolle spielen - eigentlich, wenn die Dinge richtig wären, müßte der Verbrecher dem Wahnsinn verfallen. Und der König versteht, was Hamlet will. Auch die Königin fühlt sich getroffen. Selbst Polonius, der Oberflächliche, merkt etwas: Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode. Aber er deutet es dann willkürlich und daher falsch auf Liebeswahnsinn. Die Königin jedoch fühlt, worum es sich in Wirklichkeit handelt: Ich furcht, es ist nichts anders als das eine: Des Vaters Tod und unsre hastge Heirat Sie hält es für wirklichen Wahnsinn. Nur der König sieht ganz klar: Und was er sprach, obwohl ein wenig wüst, War nicht wie Wahnsinn.

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Er spürt den Vorwurf und die Gefahr und beschließt, Hamlet zu entfernen, ihn nach England zu schicken, in den Tod. Ophelia steht arglos und ahnungslos vor Hamlets Wahnsinnsspiel. O welch ein edler Geist ist hier zerstört! Des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge, Des Krieges Arm, des Staates Blum und Hoffnung, Der Sitte Spiegel und der Bildung Muster, Das Merkziel der Betrachter: ganz, ganz hin! Und ich, der Fraun elendeste und ärmste, Die seiner Schwüre Honig sog, ich sehe Die edle hochgebietende Vernunft Mißtönend wie verstimmte Glocken jetzt: Dies hohe Bild, die Züge blühnder Jugend Durch Schwärmerei zerrüttet, weh mir, wehe! Daß ich sah, was ich sah, und sehe, was ich sehe. So ergibt sich eine vierfache Stufung des immer schärferen Erkennens von Ophelia zu Polonius zur Königin und zum König, von der Unschuldigsten also bis zu dem am schwersten Schuldigen. Aber gerade Ophelia, deren einfaches und ungeschultes Bewußtsein die Bedeutung von Hamlets Wahnsinnsspiel nicht erfaßt, läßt sich in ihrem Gefühl am stärksten von ihm ergreifen. Nicht den König treibt Hamlet in den Wahnsinn, aber die arme Ophelia, und ihr späteres Irresein ist wie eine Imitation von Hamlets Wahnsinnsspiel auf der Ebene der Wirklichkeit. Hamlets Sprung in den Wahnsinn ist keine bloße Flucht, er ist wesentlich schon Tat und wirkt als Tat. Die Mutter fühlt sich getroffen, der König fühlt sich getroffen. Nur reagiert er krampfhaft, nach der falschen Richtung: statt tätiger Reue erfolgt Abwehr, statt sich selber zu richten, will er den Ankläger unschädlich machen. Nun setzt Hamlet mit dem Schauspiel ein, der „Mausefalle", die noch weit krasser und aufdringlicher Anklage ist als die Wahnsinnsfratze. Hamlet selber freilich inszeniert sie nicht als Anklage, sondern eben nur als „Falle": Er will, so lautet seine Oberflächenbegründung, den Oheim prüfen, entlarven, durchschauen, ein sicheres Zeichen haben für des Königs Schuld. In Wirklichkeit ist er -dieser Schuld längst sicher, er hat den König längst durchschaut. Und was er mit dem vor dem König aufgeführten Mordspiele erreicht, ist denn auch weit mehr, als was er bewußt beabsichtigt hat: Der König verrät sich nicht nur, sondern wird bis an die Schwelle des Selbstgerichts getrieben: O meine Tat ist faul, sie stinkt zum Himmel, Sie trägt den ersten, ältesten der Flüche,

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Mord eines Bruders!... O Jammerstand! O Busen, schwarz wie Tod! O Seele, die, sich freizumachen ringend, Noch mehr verstrickt wird! - Engel, helft! versucht! Beugt euch, ihr starren Knie! gestähltes Herz, Sei weich wie Sehnen neugeborner Kinder! Vielleicht wird alles gut. Aber die Bewegung hin zur wirklichen Reue wird auch diesmal abgebogen, der König will auf den Preis seiner Untat nicht verzichten, auf die Krone nicht und auf die Königin nicht, und er ist scharfblickend genug, um zu erkennen, daß er dann also auch nicht um Vergebung bitten darf. Die Worte fliegen auf, der Sinn hat keine Schwingen. Wort ohne Sinn kann nie zum Himmel dringen. Von nun an verhärtet er sich vollends und ist nur noch auf den Untergang Hamlets bedacht. Dieser aber, der auch nach dem Schauspiel die Gelegenheit, den König zu richten, ungenützt hat vorbeigehen lassen, setzt nun zu neuer Tat an und ruft jene andere mit schwerer Schuld Beladene, die Mutter, zur Umkehr auf. Schon hinter der Szene, ihrem Zimmer sich nähernd, bricht er in den beschwörenden Ruf aus: Mutter! Mutter! Mutter! Und dann setzt er ein und redet ihr, nun jede Maske von sich werfend, direkt ins Gewissen, ruft sie zur Umkehr auf, zur Reue, zur freiwilligen Buße. Wie der König erweicht sich auch die Königin. O Hamlet, sprich nicht mehr! Du kehrst die Augen recht ins Innre mir. Da seh ich Flecke, tief und schwarz gefärbt, Die nicht von Farbe lassen. „Was soll ich tun?" fragt sie zuletzt. Sie ist bereit zur Umkehr. Aber wie dem König fehlt ihr der starke Wille dazu; ihrer schwachen und passiven Wesensart entsprechend erliegt sie zunächst dem Anrufe Hamlets, um nachher wieder dem König zu verfallen. „Was soll ich tun?" Hamlet antwortet auf die Frage der Mutter: „Durchaus nicht das, was ich Euch heiße tun." Und nun empfiehlt er ihr das Gegenteil, und malt ihr das Gegenteil so abscheulich aus, daß seine Unmöglichkeit der Mutter weit schärfer sichtbar wird, als wenn Hamlet weiter bitten, flehen, fordern würde. Dem beschwörenden Anruf, der seine Wirkung getan hat, folgt, diese Wirkung vollendend, die ironische, alles umkehrende Rede, in so harter Wendung, daß es fast an Hamlets Wahnsinnsspiel erinnert. Aber in ihrer Wirkung auf die Mutter erschöpft sich die Bedeutung dieser Ant41

wort nicht. „Was soll ich tun?" - das ist ja Hamlets eigene Frage. Darf er, der selber nicht handelt, der Mutter sagen, was sie tun soll? Darf er, der selber nicht gehorcht, von der Mutter Gehorsam fordern? Muß er, da er sich vorwirft, dem Geiste seines Vaters ungehorsam zu sein, nicht auch von der Mutter Ungehorsam erwarten? Ungehorsam, der den seinen nachahmt, in dem der seine sich spiegelt. Und so empfiehlt er ihr denn, mit einem Sarkasmus, der sich viel schärfer gegen ihn als gegen sie richtet: Macht es wie ich, tut nicht, was man Euch heißt. „Was soll ich tun?" Hamlet ist nicht der tatenscheue Grübler, als den man ihn gewöhnlich sieht. Nach der Unterredung mit dem Geist entschließt er sich sofort und höchst zielbewußt, den Wahnsinnigen zu spielen, und das ist in vollerem Sinne Tat als der rasche Stoß nach dem verborgenen Lauscher und, am Ende, nach dem mörderischen König, in vollerem Sinne Tat auch als die reaktive Notwehr im Kampf mit den Seeräubern und die schlaue Ablenkung des ihm zugedachten Unheils auf Rosenkranz und Güldenstern. In der Rolle des Wahnsinnigen weist Hamlet den ändern eine Fratze, die ihnen einen Stoß geben soll und einen Stoß gibt. Er hält den anderen den Spiegel vor, in dem sie sich selber erkennen sollen. Als dann die Schauspieler auftauchen, benützt er sie sogleich, um die Wirkung zu steigern: dem König wird sein eigenes Verbrechen vorgespielt, mit einem Erfolg, der noch über das von Hamlet bewußt Beabsichtigte hinausgeht. Und unmittelbar darauf schreitet Hamlet ebenso entschlossen zu seiner dritten wesentlichen Tat: Er ruft die Mutter zum Gericht über sich selber auf. Als er, in leidenschaftlicher Wallung, in Gefahr kommt, seiner Mutter mit Worten Gewalt anzutun — wie er dem König mit dem Schwert Gewalt anzutun für seine Pflicht hält da erscheint der Geist und mahnt ihn zur Milde. Und als ihn die Mutter schließlich fragt: What shall I do?, da antwortet er: Not this, by no means, that I hid you do. Die Mutter soll als freier Mensch, nicht unter dem Drucke irgendeiner äußeren Gewalt, die Umkehr selber vollziehen. Die Frage stellt sich, ob Hamlet nicht, ohne sich dessen bewußt zu sein, bei seinem Oheim dasselbe beabsichtigt. Die Spaltung der Persönlichkeit, ein in der Barockdichtung häufiges Motiv, war von Shakespeare schon im Julius Ceasar dargestellt worden. Brutus tut das, was er eigentlich nicht möchte; Caesar spielt den, der er einst war und nun nicht mehr ist; Sein und Schein scheiden sich auch in dem großen Schauspieler Antonius. Im Hamlet vollends geht das Motiv der Gespaltenheit, des Widerstreits durch das Gewebe der ganzen Dichtung. König Claudius hat die Witwe seines Bruders „mit einem heitern, einem nassen Äug, mit Leichenjubel und mit Hochzeitsklage zur Eh genommen." „So weit hat Urteil die Natur bekämpft", sagt er. Und Hamlet zu Horatio: „Nicht sollt Ihr meinem Ohr den Zwang antun, daß Euer eignes Zeugnis gegen Euch

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ihm gültig war" (I 2). Laertes zu Ophelia: „Jugend hat innern Streit" Youth to itself rebels. Polonius zu Laertes: „Gib den Gedanken, die du hegst, nicht Zunge." Und zu Ophelia: „Daß Ihr Euch selber nicht so klar versteht, als meiner Tochter ziemt und Eurer Ehre" (I 3). Die Beispiele wären leicht zu vermehren (vgl. unten S. 56 ff.). Der König sagt von sich: „Mir ist die Seele voll von Zwist" (IV 1), und von der wahnsinnigen Ophelia: Arme Ophelia, getrennt von sich und ihrem edlen Urteil" (IV5), von Hamlet, daß „etwas ihn sich selbst entzieht" (III 1). Hamlet selber nennt den König einen lächelnden Schurken (I 5) und spricht vom Gegensatz von natürlicher Anlage und Vernunft (I 4). Im Wahnsinn, der in Shakespeares Dramen, im barocken Drama überhaupt, in so vielen Formen vorkommt, ist der „Selbstverlust", das Auseinanderfallen der Seele, besonders augenfällig. Mit Recht nennt König Claudius Ophelia „getrennt von sich und ihrem Urteil" - nur daß dies Urteil nicht, wie der König es will, ein richtiges war: vielmehr kommt erst im Wahnsinn ihre Seele, bisher durch den bewußten Willen unterjocht, zu sich selber. Wenn Hamlet den Wahnsinnigen spielt, so bringt er damit zum Ausdruck, daß auch bei ihm das unbewußte Wollen und das bewußte Urteil (judgment) sich getrennt haben. Aber auch bei ihm hat die Seele recht und nicht, wie er meint, das Bewußtsein. Er gleicht in mehr als einer Hinsicht der Ophelia. Für ihn gilt, was Polonius von seiner Tochter sagt: Er versteht sich selber nicht so klar als er eigentlich müßte. Hamlet will unbewußt etwas anderes als bewußt. Wir wenden mit dieser Feststellung nicht in ungehöriger Weise moderne psychologische Erkenntnisse auf eine Shakespearesdie Gestalt an. Die Spaltung der Seele ist ein zentrales Motiv des Barocks, des Shakespeareschen Dramas, und des Hamlet insbesondere. Shakespeare hat in Hamlet den Menschen dargestellt, in dem eine neue Welt, eine neue Daseinshaltung sich gebären will; aber sie liegt noch im Dunkel, langsam und mühsam ringt sie sich empor, dem Licht entgegen. „O mein prophetisches Gemüt!" ruft Hamlet aus, O my prophetic soul! Und wieder sagt er damit mehr als er eigentlich meint. Das Wissen seiner Seele ist sicherer als das Wissen seines Bewußtseins. Es ist prophetisch. Aber immer wieder glaubt Hamlet seinem bewußten Urteil gehorchen zu müssen, das noch der Vergangenheit verhaftet ist, das seine Richtlinien von einem Totengeist empfängt. Wie Caesar und der Poet Cinna in Äußerlichem, wie Brutus im Zentralen, so handelt auch Hamlet gegen sein Gefühl. Als Horatio zu ihm sagt: „Wenn Eurem Gemüt (mind) irgend etwas widersteht, so gehorcht ihm", da antwortet Hamlet: „Nicht im geringsten" (V 2). Es handelt sich hier um den Zweikampf mit Laertes, um eine Einzelepisode. Aber die Haltung Hamlets in der entscheidenden Frage ist, Shakespeares Kompositionsprinzip durchaus gemäß, genau dieselbe. 43

Das Thema der Vaterrache, handlungsmäßig das Hauptmotiv des Stückes, tritt in vierfach verschiedener Gestalt auf. Dem zögernden, differenzierenden, zwiespältigen Helden steht in machtvollem Kontrast Laertes gegenüber, einfältig, unbedenklich und ungestüm handelnd. Wie viel Sympathisches sein frisches Draufgängertum, die Verbundenheit mit den Seinen, die Offenheit und Bitte um Vergebung nach seiner „Rachetat" auch haben, gerade diese Tat selber stellt der Dichter in ein übles Licht. Laertes gehorcht seiner Rachepflicht, und wird dadurch zum Schurken, nimmt teil an dem falschen Spiel des Königs, beschmutzt seine Ehre und seine ehrliche Seele. Er selber verneint am Ende seine Tat, möchte sie vergessen und vergeben wissen und ihre Wirkung ausgelöscht. Laß uns Vergebung wechseln, edler Hamlet! Mein Tod und meines Vaters komm nicht über dich, Noch deiner über mich! Exchange forgiveness with me, noble Hamlet; Mine and my father's death come not upon thee, Nor thine on me! Laertes, auch hier einfältiger, einfacher und rascher ajs Hamlet, taucht, unmittelbar vor seinem Tode, in die volle Klarheit und spricht in gültigen Worten die Aufhebung des Rache-Ethos aus. Zwei andere Figuren sind in verhüllterer Weise Träger des Rache-Themas: Fortinbras und Pyrrhus. Fortinbras, der Nachfolger Hamlets, dem dieser sterbend seine Stimme gibt, erscheint als einer, der eine neue Zeit einleitet. Auch er hätte einen Vater zu rächen. Statt dessen trauert er um Hamlets Tod. Pyrrhus, dessen Bild nicht auf der Bühne erscheint, sondern nur in. der Vorstellung der Zuhörer - im Stück und im Theater - heraufgerufen wird, hat keine Handlungsfunktion, sondern reine Kontrastbedeutung. Gerade deshalb ist diese Figur besonders aufschlußreich. Pyrrhus, Sohn des Achill, erschlägt in Priamus den Vater des Paris, der seinerseits Achill tötete. Auch Pyrrhus also rächt seinen Vater. Der Stoff war aus Vergil, Ovid und Seneca vertraut und von den Elisabethanern in mehreren Dramen behandelt, Shakespeare durfte die Kenntnis der Zusammenhänge voraussetzen. Nun läßt Seneca den Pyrrhus, der Priamus' Tochter Polyxena tötet, wie es der Schatten seines toten Vaters Achilleus von ihm fordert, beim Vollzug der Tat einen Augenblick zaudern: Er ist ad caedem piger, „träge zum Morden". Shakespeare, von dem angenommen wird, daß er die „Troerinnen", Senecas berühmtestes Stück, gekannt hat (seine Dramen, wie die seiner Zeitgenossen, sind voll von Seneca-Reminiszenzen), läßt dasselbe Zögern vor der Tötung des Priamus eintreten. 44

Ungleich gepaart Stürzt Pyrrhus auf den Priam, holt wild aus. Doch bloß vom Sausen seines grimmen Schwertes Fällt der entnervte Vater. Ilium Schien, leblos, dennoch diesen Streich zu fühlen. Es bückt sein Flammengipfel sich hinab Bis auf den Grund und nimmt mit furchtbarm Krachen Gefangen Pyrrhus' Ohr: denn seht, sein Schwert, Das schon sich senkt auf des ehrwürdgen Priam Milchweißes Haupt, schien in der Luft gehemmt. So stand er, ein gemalter Wüterich, da Und, wie parteilos zwischen Kraft und Willen, Tat nichts. And like a neutral to his will and matter, Did nothing. Auch in Pyrrhus also Widerstreit des bewußten Willens und der unbewußten Regung. Und hier läßt Shakespeare wie Seneca eindeutig die Tat als eine Schandtat erscheinen. Bei Seneca hält Agamemnon Pyrrhus vor, er ziehe Haß und Fluch auf seinen Vater herab, wenn er ihn durch Rache (poena) ehren wolle! Hier also wird der Rächer ausdrücklich, und im Sinne eines anderen und höheren Ethos, zum Ungehorsam gegen den Geist des Vaters aufgefordert. „So wird den Manen des Achilles denn kein Preis?" fragt Pyrrhus. Und Agamemnon: „Er soll ihm werden. In Preisliedern wird er von allen besungen werden, und unbekannte Welten werden seinen großen Namen hören."*) Shakespeares Pyrrhus, deutliches Gegenbild zu Hamlet, kennt keine Skrupel (remorse). Die fühllose Stadt scheint die Untat schärfer zu spüren als er, und nur ihr gewaltiger Aufschrei läßt Pyrrhus einen Augenblick erstarren: er realisiert nur indirekt. Dann, als der äußere Bann weicht, läßt er sein Schwert auf Priam niedersausen. Hamlet aber gleicht nicht nur in der Szene mit dem betenden König, sondern überhaupt dem von dem Schauspieler auf Hamlets ausdrückliches Geheiß gezeichneten Bild: Sein zur Rache schon aufgehobenes Schwert bleibt in der Luft gehemmt - so steht er, ein gemalter Wütrich, da, ein nur mit Worten wütender, unvermögend, die Rache zu vollziehen: weil er fühlt, daß sie nicht die Tat sein kann, welche die aus den Fugen geratene Welt heilt. Hamlet steht freilich nicht wie Pyrrhus einem schwachen Greis gegenüber und auch nicht wie Laertes einem „edlen Hamlet" (der immerhin mit der Leiche des erschlagenen Polonius pietätlos genug umsprang), sondern einem *) Troades Vers 292 ff. Die oben Seite 23 zitierte Prophezeiung des Cassius ist offensichtlich nach dem Muster dieser Seneca-Stelle geprägt.

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Sdiurken. Aber Hamlet, der die Welt wieder ins Gelenke bringen muß, scheint zu fühlen, daß das nicht einfach durch die Tötung des Unmenschen geschehen kann, daß damit grundsätzlich gar nichts geleistet wäre. Daß es vielmehr gälte, bis zum Wahnwitz den Schuldigen zu treiben - ihn zu verwandeln, ihn selber zur Umkehr zu bewegen. Unbewußt steuert Hamlet auf dieses Ziel zu, durch die Aufführung erreicht er es beinahe. Aber er weiß, im eigentlichen Sinn der Worte, nicht, was er will; er kennt sein eigenes Wollen nicht, Wollen und Erkennen klaffen auseinander. Die Gestalt des Hamlet, aus der alten Dänenchronik aufgestiegen, gehört halb noch dem Mittelalter an, das Gespenst der Vergangenheit spricht zu ihm und nimmt ihn in Pflicht. Aber Hamlet hat auch in Wittenberg studiert, und der Geist der Neuerung lebt in ihm. „Meines Dünkens ist's ein Gebrauch, wovon der Bruch mehr ehrt als die Befolgung", sagt er von dem „schwindelköpfigen Zechen" der Dänen (I 4). Es ist die Verkleinerung des Grundthemas. Auch im großen, wenn er dem Racheschrei seines toten Vaters nicht gehorcht, bricht Hamlet einen alten Brauch, der anderen selbstverständlich ist, den der Blutrache: einen Brauch, wovon, für das Empfinden einer neu heraufsteigenden Zeit, „der Bruch mehr ehrt als die Befolgung". Nur durchschaut er hier, intellektuell noch der Vergangenheit verhaftet, den Sinn seines Tuns nicht. Aber er weiß doch, daß oft unser Tappen den sichereren Schritt geht als unsere klugen Überlegungen: Laßt uns einsehn, Daß Unbesonnenheit uns manchmal dient, Wenn tiefe Plane scheitern; und das lehr' uns, Daß eine Gottheit unsre Zwecke formt, Wie roh wir sie entwerfen (V 2). Hamlet weiß also um die Spaltung in bewußtes und unbewußtes Wollen, und er fühlt die geheimnisvolle Zielsicherheit dieses unbewußten Wollens. Auch hier freilich ist es eine Einzelepisode, von der Hamlet spricht; daß es im Zentralen entsprechend sich verhält, bleibt ihm verborgen. Beide Worte, jenes vom ehrenden Bruch übler Bräuche und das von der Gottheit, die gegen unsere Überlegungen unsre Zwecke formt, spricht Hamlet zu Horatio. Dieser selber tut einmal eine bedeutsame Frage an Hamlet. Als der ihm erzählt, wie er auf der Fahrt nach England den Uriasbrief des Königs umgeschrieben hat, da wirft Horatio ein: „Und Güldenstern und Rosenkranz gehn drauf." Hamlet spürt sehr wohl den Vorwurf, der in diesen Worten liegt, aber er gleitet leicht darüber hinweg: „Ei, Freund, sie buhlten ja um dies Geschäft. Sie rühren mein Gewissen nicht..." Hamlets Gewissen spricht eindeutig dort, wo es um seine Mutter geht: sie darf er nicht töten, sie ist seine Mutter. Polonius, Rosenkranz, Güldenstern belasten sein Gewissen nicht, wenn er auch nicht ohne Mitleid gegen sie ist; sie haben sich 46

ihm vor die Klinge gedrängt, die nicht gegen sie gerichtet war. Gegen den König aber sollte er sein Schwert ziehen als zorniger Rächer oder als kühler Richter, und das vermag er nicht; er läßt seinen Verstand das Urteil sprechen, er heizt sein Gefühl auf gegen den Mörder seines Vaters: aber der innere Widerstand ist stärker. Als er sich in seinem Zwiegespräch mit der Mutter von dem Oheim belauscht glaubt, da nützt er gierig, gleichsam ängstlich bedacht, daß sie nicht verflackere, die Empörung aus, die ihn in diesem Augenblick ergreift. (Macbeth sagt einmal: „Eh der Entschluß erkaltet, will ich's tun" IV 1). Und auch seinen letzten Streich führt er aus der unmittelbaren Aufwallung heraus, nicht als gehorsamer Rächer und nicht als kalter Richter. Shakespeares Hamlet ist nicht mehr, wie noch die Spanische Tragödie Thomas Kyds und sein eigener Titus Andronicus, ein problemloses Rachedrama. Für Kyds Hieronymo ist die Rache selbstverständlich, flackernde Rachsucht erfüllt ihn. Für Hamlet ist die Rache nur noch intellektuell selbstverständlich, sein Gefühl hält ihn von ihr zurück. Er ist alles andere als rachsüchtig: Es ist der Geist — der Geist eines Toten — der die Rache von ihm fordert, und sein eigener Geist stellt sich in den Dienst des Toten, beschimpft seine Trägheit, sein Zaudern, die doch, wie des Brutus „Schlaf, seine eigentliche, seine echte Tat sind. Den gefälschten Zetteln des Cassius, die Brutus aus dem Schlaf reißen in die falsche Tat hinein, entsprechen der Anruf des Gespensts und die Selbstvorwürfe, mit denen Hamlet sich „wecken" möchte: Er schilt sich „Hans den Träumer", John-a-dreams (II 2), und versteht nicht, daß nichts ihn aus seinem Schlafe aufzustören die Kraft habe: Wie steh denn ich, Den seines Vaters Mord, der Mutter Schande, Antriebe der Vernunft und des Geblüts, Den nichts erweckt? ... And let all sleep? . . . (IV 4) Goethe, in seinen Hamletbetrachtungen im „Wilhelm Meister", sieht mit Recht „den Schlüssel zu Hamlets ganzem Betragen" in dessen Worten: „Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten." Dies ist die eigentliche Tat, die Hamlet auferlegt ist, von seiner eigenen Seele, von dem Gott in ihm, nicht von dem TotenGeist. Und wenn es bei Goethe weiter heißt: „Mir ist deutlich, daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist", so kann diese „große Tat" nicht die vom Vater geforderte primitive Rachehandlung sein, sondern eben nur die Heilung der Welt.

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The time is out of joint; cursed spite, That ever I was born to set it right! Dieser Tat, eine neue Welt heraufzuführen, ist Hamlet nicht gewachsen, denn er steht zwischen den Zeiten, das Gefühl der neuen Zeit ist in ihm schon lebendig, der Geist der alten Zeit ist in ihm noch mächtig. Wie sehr er sich, im Gespräch mit Güldenstern, verbittet, daß man ihn wie ein Ding behandle, auf ihm wie auf einer Flöte zu spielen versuche, er selber achtet später Rosenkranz und Güldenstern nicht höher als Dinge, die man zu seinen Zwecken gebrauchen darf, wie es einem paßt. Den Oheim ähnlich zu behandeln, zaudert er (sich mit Verwandtenblut zu beflecken, war schon der alten Zeit schrecklich - „Er war nicht schuldig an Verwandtenblut. Nur blutig gegen Feinde seines Stammes", heißt es in Shakespeares Richard II. [II 1]) - aber erst der Mutter gegenüber, wo auch der „Geist" in diesem Sinne spricht, ist es ihm ohne Einschränkung klar, daß sie selber als freier Mensch die eigene Bahn bestimmen müsse. Selbstbestimmung des freien Menschen, auch dort wo es gilt, sich selber zu richten, das ist die Forderung einer neu heraufkommenden Zeit, und in Hamlet, der den verabscheuten König, den er töten sollte, bis an den Rand des Selbstgerichts, der Buße stößt, ist die Kampfstätte, auf der die alte und die neue Zeit miteinander ringen. In großartigem Spiele, in einem großartigen Bilde bringt Hamlet Rosenkranz und Güldenstern zu Bewußtsein, daß es nicht angeht, ihn wie ein Ding zu behandeln. „Nun, seht Ihr, welch ein nichtswürdiges Ding Ihr aus mir macht?" Why, look you now, how unworthy a thing you make of me! (Ill 2, Flötenszene). Ein anderes Mal stellt er, ebenfalls im Bilde, sich selber dar, die Art, wie er seinen Weg geht. Diesmal aber, ohne selber das Bild zu deuten. Ophelia erzählt: Er griff mich bei der Hand und hielt mich fest, Trat dann zurück die volle Armeslänge, Und mit der ändern Hand so überm Auge Betrachtet' er so prüfend mein Gesicht, Als wollt' er 's zeichnen. Lange stand er so. Zuletzt ein schwaches Schütteln meines Arms, Und dreimal hin und her den Kopf so wägend, Holt' er solch einen bangen, tiefen Seufzer, Als sollt* er seinen ganzen Bau zertrümmern Und endigen sein Dasein. Dies getan, Läßt er mich los, und über seine Schultern, Den Kopf zurückgedreht, schien er den Weg Zu finden ohne seine Augen; denn Er ging zur Tür hinaus ohn' ihre Hilfe Und wandte bis zuletzt ihr Licht auf mich. (II, 1) 48

Diese Szene erscheint nicht auf der Bühne, Ophelia erzählt sie nur. Doch unvergeßlich ersteht das Bild des langsam zur Türe hinausgehenden Hamlet in der Vorstellung des Hörers. He seemed to find his way without his eyes. Ohne seine Augen findet Hamlet seinen Weg: das ist das genaue Bild seiner Situation. Ohne von dem Licht seines Bewußtseins geführt zu sein, schreitet er seine Bahn. Der Blick ist rückwärts gewandt, ein unbewußtes Wissen aber führt ihn vorwärts. Es ist seine prophetische Seele, die ihn leitet. Er selber deutet uns dieses Bild nicht, kann es uns nicht deuten. Und daß es nicht szenisch auf der Bühne erscheint, daß es von uns selber durch die Kraft unserer Vorstellung geschaffen werden muß, ist wie ein Hinweis, daß hier nicht Vordergründiges ausgesagt wird. In der Tiefe, auf einer geistigen Bühne, erscheint das geistige Bild Hamlets, seiner Gestalt und seines Wandeins. Unbewußt geht Hamlet seinen Weg mit weit größerer Sicherheit als Brutus. Sein Bewußtsein aber ist voller Unsicherheit, und voll von Wissen um diese Unsicherheit. Von Caesar zum Hamlet treten wir aus der klar geformten Römerwelt in eine zerrissenere nordische. Alles scheint verwickelter, nebelhafter, chaotischer. Aber diese Verworrenheit umwölkt nur eine fortschreitende Entwicklung. Im Caesar gestehen sich die Menschen ihre Unsicherheit nicht ein, sie verbergen sie sich und spielen die Sicheren. Solche Einbildung der Sicherheit aber, so heißt es im Macbeth, war stets des Menschen Erbfeind. Im Hamlet nichts von dieser Scheinsicherheit, es sei denn als negatives Gegenbild etwa in Laertes oder Pyrrhus. Hamlet aber, und ebenso der König, die Königin, alle Hauptgestalten des Stückes also, sind ihrer Unsicherheit sicher. Die wesenhafte Unsicherheit des Menschen ist sich in ihnen ihrer selbst bewußt geworden. Aber gleiazeitig sind sie auf dem Wege zu wesentlicherer und wahrerer Tat, als es die des Brutus und Cassius, des Caesar und Antonius war. Der Gram des Brutus erscheint in Hamlet zur Verzweiflung gesteigert. Aber gleichzeitig erscheint auch die Lebendigkeit des Erfassens, die Hellsicht des inneren Gefühls in gesteigerter Kraft, eine neue Haltung bildet sich, neue Wege werden begangen, eine neue Welt entsteht. Einige Wesenszüge des Shakespeareschen Dramas sollen von der den Hamlet eröffnenden Szene abgelesen werden. Sie beginnt mit soldatischem Paroleauswechseln, mit knapper Hin- und Widerrede: „Wer da? - Nein, mir antwortet: steht und gebt euch kund. - Lang lebe der König! -Bernardo? - Er selbst. - Ihr kommt gewissenhaft auf Eure Stunde. - Es schlug schon 49

zwölf; mach dich zu Bett, Francisco. - Dank für die Ablösung! 's ist bitter kalt, und mir ist schlimm zumut. - War Eure Wache ruhig? - Alles mausestill. - Nun, gute Nacht! Wenn Ihr auf meine Waditgefährten stoßt, Horatio und Marcellus, heißt sie eilen. - Ich denk, ich höre sie ... He! halt! wer da? Freund dieses Bodens. - Und Vasall des Dänen. -..." Keine poetische Aufhöhung, kein Deklamieren, sondern kurze Rufe, nüchterne Fragen, Antworten, Anweisungen, die den Gestalten und dem Geschehen sogleich jenen Anschein des Realen geben, von dem so viele Kenner Shakespeares sprechen. Aber zugleich, schon in den ersten Worten, dramatischer Widerstreit: »Wer da? — Nein, mir antwortet: steht und gebt Euch kund!" Dem Hin und Wider der Anrufe entspricht das Antreten und Abtreten der Wachen, scharf auf den bestimmten Zeitpunkt ausgerichtet: „Ihr kommt gewissenhaft auf Eure Stunde. - Es schlug schon zwölf; mach dich zu Bett, Francisco." Und so ist denn von Anfang an zugleich mit dem Widerstreit auch jener andere Wesenszug alles Dramatischen da, die scharfe Bezogenheit: hier zunächst auf einen Zeitpunkt, dann aber sogleich auch auf ein Phänomen und damit gleichzeitig auf ein Problem. Wird der Geist auch diese Nacht wieder erscheinen? lautet die Frage. Ist er Wirklichkeit oder Einbildung? Und wie diese Fragen sich lösen, stellt sich sogleich die andere: Was hat sein Erscheinen zu bedeuten? Und: Können wir den Geist zum Sprechen bringen? Ihn zur Antwort nötigen? Ihm Ruhe bringen, seine stumme Forderung verstehen und ihr genugtun? Und all die so sich folgenden Fragen leben nicht in bloßen Gesprächen, sondern in der Auseinandersetzung mit der Erscheinung selbst. Alle Kräfte des Geistes und der Seele sind scharf auf einen Punkt gerichtet. Und nun löst sich - nachdem, in äußerem Bereich vorausklingend, Spannung und Entspannung schon in der Wachtablösung sich vollzogen hatte - die erste wesentliche Spannung: das Gespenst erscheint. „Jede einzelne Szene hat ihre eigene kleine Katastrophe", sagt Otto Ludwig. Mehr als das: sie ist ein Drama im kleinen. Anspannung, Höhepunkt, relative Entspannung. Denn eine relative Spannung bleibt oder stellt sogleich neu sich ein, über die Szene hinausweisend. Der Geist ist erschienen, aber was will er? Der Versuch, ihn zum Sprechen zu bringen, scheitert - nun muß Hamlet benachrichtigt werden, ihm wird er vielleicht reden. So strebt die Szene über sich selbst hinaus, ähnlich wie im dritten Akt das Schauspiel im Schauspiel auch nur eine relative Lösung der Spannung bringt, ja wie in gewissem Sinne das ganze Stück „offen" schließt: Hamlet stirbt, ohne zur Klarheit über die Bedeutung seines Zögerns gekommen zu sein, und reicht das Szepter an Fortinbras weiter. Die Figuren der Szene gehen voll in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen auf. Ansätze zu epischem Bericht oder zu allgemeiner Spekulation werden jedesmal durch das unvermittelte Erscheinen des Geistes jäh ge-

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brechen, und dieses Abbrechen macht die dramatische Spannung, das dramatische Leben der Szene noch fühlbarer. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers, des Lesers ist ganz auf die Situation gerichtet, keiner wird sich sagen: Was für interessante Charaktere, dieser Zweifler Horatio, der beharrliche, scharf beobachtende Bernardo... Es sind gewiß nicht redende Puppen, die da agieren, sondern Menschen von Fleisch und Blut; jeder einzelne charakteristisch sich äußernd; in dem was er sagt, in der Art, wie er reagiert, vom ändern sich abhebend. Das gibt ihnen Plastik, Körper, Leben, aber es interessiert uns nicht an sich. Wir sind wie sie ganz auf das Geschehen ausgerichtet. Und wenn die Szene dramatisch schon auf die Hauptgestalt hinweist, so tut sie es eben in rein dramatischer Weise: Hamlet wird nicht geschildert, es wird an ihn appelliert. Während Goethe etwa im Egmont, einem lyrischen, aber nicht dramatischen Meisterwerk, in der ersten Szene ein breites Gemälde des Volkes gibt, voll Atmosphäre, voll von Spiegelungen der Hauptgestalt: „Er schießt wie sein Herr, er schießt wie Egmont." „Das ist auch seines Herrn Art, splendid zu sein und es laufen zu lassen, wo es gedeiht." „Warum ist alle Welt dem Grafen Egmont so hold? Warum trügen wir ihn alle auf den Händen? Weil man ihm ansieht, daß er uns wohl will; weil ihm die Fröhlichkeit, das freie Leben, die gute Meinung aus den Augen sieht; weil er nichts besitzt, das er dem Dürftigen nicht mitteilte, auch dem, der's nicht bedarf. Laßt den Grafen Egmont leben!" Hier geht das Interesse auf die Person Egmonts, es wird über ihn geredet, über seine Eigenarten, seinen Charakter. Dem echten Dramatiker aber geht es um das Geschehen, um die Situation, in die der Mensch hineingestellt ist, um die Entscheidung, die er zu fällen hat, nicht um Charakterschilderung. Shakespeares Drama ist hierin durchaus im Einklang mit Aristoteles' Lehre, daß es in der Tragödie zuletzt nicht um Charaktere, sondern um den Mythos gehe, um das große Geschehen also, um die Begegnung von Gott und Mensch. Die erste Szene des Hamlet ist ein kleines Drama für sich, in dem das große Drama keimhaft schon enthalten ist: sein Geschehen, seine Lebensktft, seine Probleme. Das angestrengte Hinstarren auf den Geist, das Spähen, Deuten, Zwingenwollen entspricht genau der Haltung Hamlets den Phänomenen gegenüber, eine Haltung, die sich in anderen Gestalten des Stücks variiert. Hamlet setzt sich mit den Vorgängen in der eigenen Seele, die ihm ebenso rätselhaft sind wie seinen Freunden das Erscheinen des Geistes in der Nacht, auf ebendieselbe Weise auseinander wie jene mit dem stummen Geist. Wie sie ihn, so befragt er sich; gequält, verzweifelt sucht er sich selber zu deuten, und er ist darin ebenso unsicher wie Horatio in der Deutung des Geistes. Und wie Horatio, Bernardo, Marcellus dem Geist Gewalt antun wollen und es doch nicht können, so möchte auch Hamlet seine Seele zwingen, und vermag es ebenso wenig. 51

„O von Stund an trachtet Nach Blut, Gedanken, oder seid verachtet! (IV 4) Er beneidet den Schauspieler, der seine Seele nach seinem Sinn zwingen kann (force his soul to his own conceit II 2) Und möchte es ihm gleichtun. Er verkennt, daß solche Willensunterjochung - ein Grundmotiv barocker Dichtung, das bei Shakespeare immer wieder auftaucht - gerade das Verkehrte wäre, daß seine prophetische Seele sich nicht von seinen bewußten Vorstellungen vergewaltigen lassen darf. Marcellus schlägt, als der Geist nicht reden will, mit der Hellebarde nach ihm. Aber es wird ihm klar, daß man einem Geist nicht mit der Waffe beikommen kann. We do it wrong... Wir tun ihm Schmach, da es so majestätisch, Wenn wir den Anblick der Gewalt ihm bieten; Denn es ist unverwundbar wie die Luft Und unsre Streiche nur boshafter Hohn. Sinnlos und frevelhaft ist es, Gewalt gegen den Geist zu brauchen. Hamlet, in dessen Seele es weit machtvoller arbeitet, kommt, eben deshalb, nicht zu solcher Klarheit. Er schlägt den Rat des Horatio, seinem Gemüt zu gehorchen, wenn ihm etwas widerstehe, in den Wind. Er will es zwingen. Wenn, falls wir recht gesehen haben, im Hamlet das Heraufkommen einer neuen Zeit, einer neuen Haltung dargestellt ist: auch dieses klingt schon in der ersten Szene vor. Bernardo: Es war am Reden, als der Hahn just krähte. Horatio: Und da fuhr's auf gleich einem sündgen Wesen Auf einen Schreckensruf... Marcellus: Es schwand erblassend mit des Hahnes Krähn. Sie sagen, immer, wann die Jahrszeit naht, Wo man des Heilands Ankunft feiert, singe Die ganze Nacht durch dieser frühe Vogel; Dann darf kein Geist umhergehn, sagen sie, Die Nächte sind gesund, dann trifft kein Stern, Kein Elfe faht, noch mögen Hexen zaubern: So gnadenvoll und heilig ist die Zeit. Horatio: So hört" auch ich und glaube dran zum Teil. Des Marcellus Rede erhebt sich fast zur Höhe der Verkündigung, der Verkündigung einer heilen Zeit. „Die Nächte sind gesund", und „gnadenvoll und heilig ist die Zeit." Durch die nüchterne Antwort des Horatio wird diese Linie, wie häufig bei Shakespeare, abgebogen, die Stimmung der Gegenwart stellt sich wieder her. Anordnungen, Ratschläge, Entschließungen. Horatio, die Hauptgestalt der Szene, ist Vorläufer der Hauptgestalt des Stückes. Er ist zweiflerisch, subtil bis zur Spitzfindigkeit, in sich gespalten, 52

und dodi zugleich mutig, entschlossen, tatkräftig. Gespaltenheit und sorgfältiges Abwägen äußern sich schon in seinen Wortgebärden: „So hört' auch ich und glaube dran zum Teil." Als Bernardo fragt: „Ist Horatio da?" da antwortet er: „Ein Stück von ihm." Er möchte eigentlich nicht gekommen sein und ist doch gekommen, ein Teil seines Wesens schämt sich, daß er jene Einbildung der ändern so ernst nimmt, er ist nur mit halber Seele hier. Was aber sollen seine Kameraden mit einer solchen Antwort: „Ein Stück von ihm" anfangen - sie ist schon fast so verblüffend, versteckt subtil und hintergründig wie später gewisse Sprüche des wahnsinnspielenden Hamlet. Horatio sagt, es sei nur Einbildung, Und will dem Glauben keinen Raum gestatten An dieses Schreckbild, das wir zweimal sahn. Aber sein überlegen hingeworfenes „Pah, pah! Es wird nicht kommen" zerflattert vor der Erscheinung. Wie nun, Horatio? Ihr zittert und seht bleich: Ist dies nicht etwas mehr als Einbildung? Und wenn er, obwohl mit sich selber uneins, am Anfang noch den Überlegenen und Sicheren zu spielen versuchte, jetzt läßt er diese Maske sogleich fallen — während die Gestalten des Julius Caesar sie bis zum Schluß beibehalten - und geht daran, sich streng, ohne sich oder ändern etwas vorzumachen, mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Wie dies bestimmt zu deuten, weiß ich nicht. Horatio ist sich, wie die entscheidenden Gestalten dieses Stückes überhaupt, seiner Unsicherheit bewußt und gesteht sie sich und ändern ein. Seine Redeweise, zum Teil auch die seiner Kameraden, liebt die bedingende Form. „Allein soviel ich insgesamt erachte." „Zum mindsten raunt man so." „Ich hab gehört..." „Sie sagen" ... Als Horatio den alten Hamlet „tapfer" nennt, fügt er sogleich hinzu: „Denn diese Seite der bekannten Welt hielt ihn dafür." So ist der abwägende, prüfende, bedingende Geist Hamlets (und anderer Hauptfiguren) schon in der ersten Szene gegenwärtig. In dem schaurigen Wachen aber in der Nacht, in der Kälte der Luft - 's ist bitter kalt und mir ist schlimm zumut —, in dem angespannten Warten, dem erregten Handeln weht uns das Klima des ganzen Stücks entgegen. Handlung ist die Seele des Dramas. Wenn epische Dichtung Vorgänge erzählt: dramatische stellt sie dar. Um den Vorgang, um die Handlung geht es beiden, nicht, oder erst in zweiter Linie, um Charaktere. Zwar haben gerade die barocken Spiele eine Vorliebe für Einzeleffekte gehabt, für die 53

Einzelszene und für die einzelne Gestalt. Aber: Was man den Charakteren gibt, nimmt man der Handlung. Einem Marlowe, einem Kyd, in Deutschland dann einem Gryphius oder Lohenstein geht es wirklich in erster Linie darum, große Gestalten und große Szenen auf die Bühne zu stellen. Die Gesamtkomposition zerflattert. Shakespeare aber ist viel zu sehr Dramatiker, als daß er sich an die einzelne Gestalt, an die einzelne Szene verlöre. Was für die erste Hamletszene gilt: daß sie nicht für sich steht, sondern mannigfach über sich hinausweist und so im Dienst des Ganzen steht, gilt grundsätzlich für jede andere. Und wie es ihr, bei allem Leben, das sie ihren Figuren leiht, nicht zentral um Charakteristik von Personen zu tun ist, sondern um die Charakteristik der Situation, so auch dem ganzen Drama. Der Hamlet ist nicht die Darstellung eines Melancholikers, eines Todsüchtigen oder eines Egozentrikers (um nur drei neuere Interpretationen - Schücking, Flatter, Madariaga — zu nennen), sondern, wie jedes wirkliche Drama, die Darstellung einer Auseinandersetzung. Hamlet ist nicht melancholisch, er wird es. Seine Verzweiflung ist echte Reaktion auf die Vorgänge, die äußeren und die in der eignen Seele - das unberührte, frischfröhliche Draufgängertum des Laertes dagegen ist gar keine eigentliche Reaktion. Reagieren kann nur der Sensible, heiße er nun Caesar, Antonius, Othello oder Hamlet, der Stumpfe bleibt in den alten Geleisen, wird durch nichts aus den Angeln gehoben und hebt nichts aus den Angeln. In diesem Sinne ist Hamlet freilich, wie Brutus, Macbeth, Othello, Lear, ein „Tiefsinniger", ein „Melancholiker": Er erlebt die kosmische Bedeutung des Einzelgeschehens. Gerade das aber macht ihn zum Repräsentanten vielleicht nicht der Menschen, aber des Menschen, wie er seinem Wesen nach ist. In Hamlet, nicht in Laertes, ist der wesentliche Mensch verkörpert. Auch in diesem Drama geht es Shakespeare nicht in erster Linie um die Darstellung eines ganz bestimmten Charaktertyps, einer individuellen, extrem, bis ins Krankhafte extrem ausgeprägten Spielart des Menschen, sondern um die Darstellung des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit dem Geschehen, mit der Welt. Alle Vorgänge, alle Szenen leben von ihrer Beziehung zum Grundthema und zu den zentralen Motiven des Stücks. Die Totengräberszene etwa, die den 5. Akt eröffnet und zunächst als grotesk komisches Zwischenspiel erscheint, ist in Wirklichkeit vom ersten Wort an voll von solcher Bezogenheit. Wohl sorgen die Clowns - so bezeichnet der Text die Totengräber - durch ihr Erscheinen und durch ihre Spaße für Entspannung und für eine makabre Erheiterung des Publikums. Zugleich aber spielen sie in ihrer neuen und befremdenden Tonart das Thema des Stückes weiter und verleihen ihm eine seltsame Resonanz. „Soll die ein christlich Begräbnis erhalten, die vorsätzlich ihre eigene Seligkeit sucht?" Der Totengräber tritt als Richter auf. „Wollt Ihr die Wahrheit wissen? Wenn's kein Fräulein gewesen wäre,

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so würde sie auch nicht auf geweihtem Boden begraben." Aber sein humorvoller Kollege und Vorgesetzter macht sich über dieses Richtertum lustig: „Ja, da haben wir's. Und es ist doch ein Jammer, daß die großen Leute in dieser Welt mehr Aufmunterung haben, sich zu hängen und zu ersäufen als ihre Mitchristen. Komm, den Spaten her!" In derselben Szene richtet Hamlet über die Totengräber („Hat dieser Kerl kein Gefühl von seinem Geschäft? Er gräbt ein Grab und singt dazu"), der Priester über Ophelia, Laertes über den Priester („Ich sag dir, harter Priester, ein Engel am Thron wird meine Schwester sein, derweil du heulend liegst"), Hamlet über Laertes („Wer ist der, des Gram so voll Emphase tönt?" „Dem Teufel deine Seele!"), und dieses ganze Gerichthalten der Figuren über einander steht im Lichte jener ironischen Bemerkung des Totengräbers: „Ja, da haben wir's..." Hinter dem Richtertum aber, das diese Gräberszene durchgeistert, steht das die ganze Tragödie bestimmende Richtertum Hamlets, der sich zum Richter auf wirft über den König; ihm steht freilich kein Clown zur Seite, der, wie es etwa der Narr im Lear tut, seine Haltung ironisch beleuchtet; aber eine unverstandene tiefere Hemmung hält ihn davon zurück, das Gericht zu vollziehen. Das spitzfindige Denken, das die Figuren des Hamlet, von Horatio über Polonius bis zu Hamlet selber, beherrscht, es spiegelt sich auch in den Gesprächen der Totengräber. „Wir müssen nach der Schnur sprechen", sagt Hamlet, als er ihre silbenstechenden Antworten hört, „sonst wird der Doppelsinn uns erledigen." Sogar den Syllogismus handhaben sie, aber in so unsinniger Weise, daß von da aus ein schauerliches Licht auf alle Denkanstrengungen des Menschen fällt. „Denn dies ist der Punkt: wenn ich mich wissentlich ertränke, so beweist es eine Handlung, und eine Handlung hat drei Stücke: sie besteht in Handeln, Tun und Verrichten. Ergel, hat sie sich wissentlich ertränkt." Eine groteske Schlußfolgerung. Sie klingt wie das Hohngelächter der Hölle zu den Bemühungen des Menschen, zu denken, sich selber zu verstehen, seine eigenen Handlungen zu beurteilen. Alles was der Mensch schließlich von seinen Handlungen sagen kann, ist, daß sie aus Handeln, Tun und Verrichten bestehen - mehr versteht er nicht davon. So wenig wie Hamlet sein eigenes Handeln und Nichthandeln versteht. Wie spitzfindig sich der Totengräber aber auch gibt, im Grunde macht er sich weder Skrupel noch Illusionen. Den Spaten her - und ein Lied gesungen! Er besorgt seine Totengräberarbeit mit der gleichen sportlichen Freude wie Laertes sein Rachegeschäft - Hamlet fühlt bei beiden den Gegensatz zum eigenen Wesen. Und doch ist es nicht von ungefähr, daß sein Weg ihn, der den Auftrag eines Toten vollziehen zu müssen meint, im letzten Akt in die Welt der Gräber führt. Die Verklammerung seines Geistes mit dieser Welt wird szenisch sichtbar. 55

We must speak by the card, or equivocation will undo us. „Wir müssen nach der Schnur sprechen, sonst wird der Doppelsinn uns erledigen": Zweideutigkeit, Zwiespalt, Masken geben dem ganzen Stück das Gepräge. Zwiespalt: Hamlet will den König töten und kann es doch nicht. Er versteht sich selber nicht, hetzt sich gegen sich selber auf, seine prophetische Seele und sein bewußtes Denken klaffen auseinander, das unbewußte Wollen strebt nach anderem als der bewußte Wille. Die Königin, gespalten zwischen Begierde und Reue, ist dem Gatten verfallen und möchte doch zugleich dem geliebten Sohn treu sein. „O Hamlet, du zerspaltest mir mein Herz." O Hamlet, thott hast cleft my heart in twain. Und Hamlet geht sogleich auf dieses Bild ein und akzentuiert es in leicht barocker Weise: O, throw away the worser part of it And live the purer with the other half. O werft den schlechtem Teil davon hinweg Und lebt so reiner mit der ändern Hälfte (III 4). Auch der König spricht selber von. der eigenen Zerrissenheit: My soul is full of discord and dismay. Entsetzen ist In meiner Seel und innerlicher Streit (IV 1). Scharf erkennt er, wie unvereinbar sein Wille zur Reue und seine Entschlossenheit, die Früchte des Verbrechens zu genießen, einander entgegenstehen. Wie er zwischen Reue und Genuß, so steht Ophelia zwischen Liebe und Gehorsam, und wie er die Reue, so unterdrückt sie die Liebe, entscheidet sich für die Familie und gegen Hamlet. Aber sie erträgt die Spannung nicht, und als der Geliebte den Vater erschlagen hat, da werden die Schranken zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein hinweggeschwemmt, das Unbewußte überflutet alles. Wie Hamlet seine prophetische Seele, sein dumpfes Ahnen und Wollen mit Gewalt unterdrückt, so unterjocht ihr Wille ihre Neigung. Aber der vergewaltigte Teil ihrer Seele sprengt die Fesseln, im Wahnsinn kehrt sie zur Natur zurück, sie schmückt sich mit Blumen und singt unzüchtige Liedchen, und so steht auch ihr verwandeltes Bild in seltsamem Zwielicht, blumenhafte Reinheit und sinnliche Begierde stehen in scharfer Spaltung dicht nebeneinander. Der in den Hauptfiguren flackernde Zwiespalt spiegelt sich in manchen Nebenpersonen und im großen Geschehen („die Welt ist aus den Fugen!"), und gleichzeitig in vielen Sprachgebärden. Erste Szene: „He, ist Horatio da?" Horatio: „Ein Stück von ihm" (vgl. oben S. 53). Die allererste Rede 56

des Königs ist voll von Prägungen des Zwiespalts und der Willensunterjochung: Yet so forth hath discretion fought with nature ... So weit hat Urteil die Natur bekämpft ... ... Have we, as 'twere with a defeated joy, With an auspicious and a dropping eye, With mirth in funeral and with dirge in marriage ... ... Mit unterdrückter Freude, sozusagen, Mit einem heitern, einem nassen Äug, Mit Leichenjubel und mit Hochzeitsklage ... Und wenn der König gleich darauf, in seiner zweiten Rede, dem Laertes versichert: Der Kopf ist nicht dem Herzen mehr verwandt, Die Hand dem Munde dienstgef ällger nicht ... so bestätigt er per negationem, daß sein Denken wie sein Sprechen dem Teufelskreis des inneren Widerstreits sich nicht entziehen kann. In derselben Szene sagt Horatio: „Ich kam zu Eures Vaters Leichenfeier", Hamlet versetzt sogleich: Ich bitte, spotte meiner nicht, mein Schulfreund, Du kamst gewiß zu meiner Mutter Hochzeit. Die dissonierenden Kontraste beherrschen das ganze Stück. Neben den vulgären Wortspielen des Totengräbers (er nimmt das Wort in einer ändern Bedeutung als es gemeint ist, zwingt ihm eine grell von seinem Sinn abstechende Maske auf) steht die Klage Hamlets über die Verwandlung des lebenswarmen und geistvollen Yorick in einen grinsenden Knochenschädel und die bittere Bemerkung, daß der edle Staub Alexanders schließlich dazu dienen könnte, ein Spundloch zu verstopfen. Der große Caesar, tot und Lehm geworden, Verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden. Polonius formuliert einmal: „Eu'r Lügenköder fängt den Wahrheitskarpfen" (II 1), und zu seiner Tochter Ophelia sagt er: Ich muß Euch sagen, Daß Ihr Euch selber nicht so klar versteht, Als meiner Tochter ziemt und Eurer Ehre. 57

You do not understand yourself so clearly As it behoves my daughter and your honour (I 3). Laertes ermahnt Ophelia (das Stück enthält das Ermahnungs- und Belehrungsmotiv, ähnlich wie jenes des Beobachtens, Ausspähens, Durdischauenwollens, in vielen Spielarten): Be wary then; best safety lies in fear: Youth to itself rebels, though none else near. Sei denn behutsam! Furcht gibt Sicherheit, Auch ohne Feind hat Jugend innern Streit (I 3). Und Hamlets Abscheu vor dem König bricht empört in die Worte aus: O Schurke! lächelnder, verdammter Schurke! — Sdireibtafel her! Ich muß mir's niederschreiben, Daß einer lächeln kann und lächeln und Ein Schurke sein ... (I 5). Schärfer an seinen eigenen Zwiespalt und den Ophelias rührt er, wenn er davon spricht, wie die angeborene Natur in uns „die Dämm und Schanzen der Vernunft oft einbricht", oder daß „Angewöhnung den Schein gefällger Sitten überrostet" (I 4). Maskierung ist der unmittelbare Ausdruck der Gespaltenheit. Es sind wiederum nicht nur die Protagonisten, welche die Masken tragen: das ganze Gewebe der Dichtung ist vom Motiv der Maske durchwirkt. In den Wortspielen des Totengräbers, der den Worten gewaltsam ein anderes Gesicht gibt, haben wir es getroffen, und in dem soeben zitierten Hamletwort von der Angewöhnung, die den Schein gefällger Sitten überrostet, war es ebenfalls gegenwärtig, in einer Art Verdoppelung sogar. „Gib den Gedanken, die du hegst, nicht Zunge", ist der erste der Ratschläge, die Polonius seinem Sohne mitgibt. Seiner Tochter sucht er Hamlets Schwüre als Maskierung hinzustellen: Traut seinen Schwüren nicht, denn sie sind Kuppler, Nicht von der Farbe ihrer äußern Tracht, Fürsprecher sündlicher Gesuche bloß, Gleich frommen, heiligen Gelübden atmend, Um besser zu berücken. Hamlet selber spricht mit Bitterkeit von den Larven des Schurken und den Larven der Frau. „Ich weiß auch von euren Malereien Bescheid, recht gut. Gott hat euch ein Gesicht gegeben, und ihr macht euch ein anderes" (III l, zu Ophelia). Und bei Betrachtung des Totenschädels: „Nun begib dich in die Kammer der gnädigen Frau, und sag ihr, wenn sie auch einen Finger dick 58

auflegt: so'n Gesicht muß sie endlich bekommen; mach sie damit zu lachen!" (V 1). Und doch rät er seiner Mutter selber zur Maske. „Nehmt eine Tugend an, die Ihr nicht habt." Hier sieht er die Maske nicht als Lügenfratze, er hofft, daß sie auf die Trägerin zurückzuwirken die Kraft habe, sie soll die Mutter wirklich verwandeln und so die Spaltung aufheben: Was zuerst nur Maske ist, soll schließlich Natur werden. „Denn die Übung kann fast das Gepräge der Natur verändern; sie zähmt den Teufel oder stößt ihn aus mit wunderbarer Macht" (III 4). Wieder stoßen wir auf Hamlets tiefste Sehnsucht: den sündigen Menschen zu verwandeln. Und er weiß auch um die Wege, die zur Verwandlung führen. Auf dem Hintergrunde solcher Reden stehen die tragischen Masken der Hauptfiguren: die Wahnsinnsmaske Hamlets, die Unschuldsmaske des Königs, und Ophelias Maske des Nichtliebens. Aber auch die zweiten und dritten Rollen nehmen an der Maskerade teil: Laertes mit der Aufhöhung seiner Gefühle, die sowohl der König („Was ist der Grund, Laertes, daß dein Aufstand so riesenmäßig aussieht?" IV 5) als Hamlet ihm vorwerfen: „Wer ist der, der auf seinen Gram solch eine Emphase legt?" (V 1). „Seines Schmerzes Prahlerei empörte mich mit wilder Leidenschaft" (V 2). Polonius, Osric, Rosenkranz und Güldenstern sind Schauspieler der Ergebenheit. Der König, wie Hamlet sich selber beobachtend, beurteilend und, in den Gedanken wenigstens, sich selber richtend, redet von der „vergoldeten Hand der Missetat" (III 3), und, ähnlich wie Hamlet, mit einem Seitenblick auf die buhlerische Frau: Der Metze Wange, schön durch falsche Kunst, Ist häßlicher bei dem nicht, was ihr hilft, Als meine Tat bei meinem glattsten Wort. O schwere Last! (III 1). Aber er spielt weiter den Unschuldigen - und wie kostet er es aus, als er einmal den Unschuldigen nicht nur spielen, sondern sich als solchen fühlen darf: dort, wo Laertes ihn des Mordes an Polonius beschuldigt. Laßt ihn nur satt sich fragen, so hält er die Königin von der raschen Selbstverteidigung zurück, und auch sie sehen wir aufleben in diesem neuen Spiel, wo die Maskerade einmal umgekehrt ist: sonst erscheinen sie als die Unschuldigen, sind aber schuldig hier nun scheinen sie schuldig, sind aber unschuldig. Sie schlagen lustig an auf falscher Fährte. Verkehrt gespürt, ihr falschen Dänenhunde! (IV 5) Zugleich mit dem Zwang zur Maske herrscht im Hamlet der Zwang zur Schauspielerei überhaupt. Wenn alle die Maskenträger, von Rosenkranz und 59

Güldenstern bis Polonius, von Ophelia, welche dem Geliebten Unbefangenheit vortäuscht, während sie sich als Lockspitzel verwenden läßt, bis zum König und zu Hamlet selbst, uns als Schauspieler erscheinen, so sind, ähnlich wie im Julius Caesar, auch andere Arten des Schauspielerns vertreten. Im Wahnsinnspiel Hamlets lebt neben dem Element Maske das des Spiels, des sich Aufspielens und sich Zurschaustellens. Hamlet kann nicht mehr er selber sein, in einer wahnsinnigen Welt muß er die Rolle des Wahnsinnigen spielen - zornig und schmerzvoll, gleichsam sich selber zum Leid, spielt er diese Rolle bis an ihre äußersten Grenzen aus und spielt damit gleichzeitig ändern ihr eigenes Bild vor. Auch Laertes, der seinen Gram und seine Rachbegier aufhöht und aufpeitscht, spielt sich auf und stellt sich zur Schau. Schaustellung und Zuschauersein, diese beiden sich bedingenden Pole allen Theaters, durchstrahlen das Drama. In der ersten Szene schon erscheint der Geist, als Schauspieler seiner selbst gleichsam, von den ändern angstvoll angestarrt. Und die letzte Szene stellt den toten Hamlet zur Schau. Where is the sight? fragt Fortinbras. „Wo ist dies Schauspiel?" Und dann: Laßt vier Hauptleute Hamlet auf die Bühne Gleich einem Krieger tragen ... Wenn aus der Situation der ersten Szene heraus Marcellus seine Freunde fragt: „Warum dies aufmerksame, strenge Wachen den Untertan des Landes nächtlich plagt?", so stellt sich dieselbe Frage im Angesicht der Hauptfiguren wieder, die sich dieses selbe scharfe und angestrengte Spähen (this same strict and most observant watch) selber auflegen. Polonius bespäht und bespitzelt nicht nur Hamlet, sondern auch die eigene Tochter, den eigenen Sohn. Rosenkranz und Güldenstern wurden vom König eigens dazu angestellt, Hamlet zu beobachten, und dieser kennzeichnet sie trefflich, wenn er, in anderem Zusammenhang, höhnend zu ihnen sagt: „Hört, Güldenstern! — und Ihr auch - an jedem Ohr ein Hörer..." Hamlet selber will seinen Oheim „bis ins Leben prüfen" (II 2), und der König seinerseits verbirgt sich, um ihn „sehend, doch ungesehn" zu beobachten (III 1) — so belauschen und belauern sich die Personen gegenseitig, und unversehens wird der, der ungesehener Zuschauer zu sein meint, zum Angeschauten: denn Hamlet läßt sich auch hier nicht als bloße Marionette bewegen, sondern durchschaut die Situation und erschaut die verborgenen Lauscher — diesmal noch werden sie bloß verjagt, später aber, als selbst seine intime Unterredung mit der Mutter noch zum Hörspiel für andere gemacht wird, stößt er zu und tötet den unseligen Polonius, der, ein willenloses Werkzeug des Königs, sich als Lauscher hergab. Hamlet, „das Merkziel der Betrachter", ist selber der schärfste Beobachter. Als königlicher Prinz, als Träger königlicher Tugenden, zog er die Blicke aller auf sich, und jetzt, wo er, sein eigenes Gegenbild, als Wahnwitziger blind wütend um sich schlägt, sind wieder aller Blicke auf ihn gerichtet. Er 60

ist auch jetzt, nach jenem Worte der Ophelia, „the observed of all observers* (III 1), alle sehen ihn, nur er scheint blind weder die ändern noch sich selber zu sehen; in Wirklichkeit ist er gerade jetzt der große Durchschauer, und die ändern sind die Durchschauten. Was eben in jener Szene, wo König und Königin ihn ausspähen wollen, während sie von ihm erspäht werden, konkret zur Anschauung gebracht wird. Neben den Elementen der Maske, des Sichaufspielens, des Zuschauens und Zurschaugestelltwerdens ist im Hamlet noch ein weiteres Ingrediens des Schauspielerischen wirksam: die Imitation. Die Schauspieler, welche in das Spiel eingeführt werden, imitieren die Personen, die sie darstellen, bis an die Grenze der Identifikation. Sie erblassen, vergießen Tränen, ihre Stimme bricht, als ob das Leid, das sie darstellen, ihnen selbst geschähe. Sie sind der völlige Gegensatz zu den fühllosen Totengräbern, und Hamlet möchte sie sich zum Vorbild nehmen - er möchte seinerseits sie imitieren. Hamlet selber aber wird von Ophelia, zuerst im Spiel, dann in Wirklichkeit, imitiert. Sie schauspielert ihn ihrem Vater vor; wie er sie bei der Hand ergriff und sie festhielt, sich dann zurücklehnte, prüfend ihr Gesicht betrachtete, „als wollt er's zeichnen" ... (II l, vgl. oben S. 48 f.). Später wenden sich die Dinge. Wenn Ophelia hier die trotz der Wahnsinnsmaske ernst gemeinten Gebärden Hamlets im Spiel nachahmt, so muß sie später den Wahnsinn, den Hamlet nur spielt, auf dem Plane der Wirklichkeit imitieren. Daß Shakespeare in diesem Stück, dessen Personen in so manchem Betracht Schauspieler sind, auch eigentliche Berufsschauspieler auftreten läßt, entspricht seiner Tendenz, geistige Vorgänge optisch sichtbar zu machen. Das in den handelnden Figuren steckende Schauspielertum wird gleichsam verleiblicht und tritt vor unsere Augen. Aber wiederum wird das Thema bedeutsam variiert, ja es erscheint gewissermaßen in der Umkehrung. Das Menschentum der Schauspieler ist so echt, sie sind mit ihrer Rolle so eins, daß sie seltsam von den in sich gespaltenen, maskierten, der Unechtheit verfallenen Figuren abstechen. Der Schauspieler erscheint hier als der echte, volle Mensch, die handelnden Menschen aber nur als falsche Schauspieler. Und während die Figuren der Haupthandlung im Dunkeln tappen, sich und die ändern nicht verstehen: in dem Spiel im Spiel ist alles überdeutlich. Hamlet ist Shakespeares rätselvollstes Drama. Die Rolle der Königin bei ihres Gatten Ermordung, das Verhältnis Ophelias zu Hamlet und Hamlets zu Ophelia, der Grund von Hamlets Zögern, die Bedeutung seiner Ausbrüche, der Sinn seiner letzten Tat - all dies und vieles andere bleibt im Halbdunkel, wird nicht eindeutig geklärt. Das Spiel im Spiel aber ist nicht nur selber klar und eindeutig, es wird durch die vorausgehende Pantomime und die Kommentare Hamlets sogar überbelichtet. Das Leben verhüllt, die Kunst offenbart. 61

Innerhalb des Hamlet ist das Spiel im Spiel „Kunst", alles andere „Leben". Von außen betrachtet aber ist das Ganze ein Kunstwerk. Was offenbart es uns? Shakespeares Hamlet gibt uns das Bild des Menschen unter dem Zugriff der von ihm selber nicht verstandenen Forderung. Das Motiv der Maske, das flackernd und in vielen Gestalten durch das Stück geht, gibt die Atmosphäre der Doppeldeutigkeit; sie gehört zu dem Helden, der sich ein Geheimnis ist und sich mißversteht. Angerufen wie Brutus, antwortet Hamlet nicht wie jener falsch, aber zwiespältig. Dumpf wehrt er sich gegen das Verlangen des Gespenstes, und wehrt sich zugleich verzweifelt gegen den eigenen dumpfen Widerstand. Die grausamen Ausfälle gegen Ophelia, die Mutter, den toten Polonius, gegen Laertes an Ophelias Grabe zeugen von der kaum erträglichen Spannung in ihm; die Grausamkeit richtet sich nicht nur gegen die ändern, sondern gleichzeitig gegen ihn selber. Mit verzweifeltem Wahnsinnsgrinsen schleift er den toten Polonius, die alberne Ersatzfigur für den immer und immer noch nicht getöteten König, über den Boden und verhöhnt damit weniger ihn als sich, der wie ein Kind an der Puppe sich Genüge tut, statt wie ein Mann an dem wirklich Schuldigen. Daß sich seine ironische Antwort auf die Frage der Mutter: „Was soll ich tun?" schließlich auch gegen ihn richtet, haben wir gesehen (oben S. 41 f.). Die Worte, mit denen er Ophelia beschimpft, gelten eigentlich der Mutter, sie gehen gleichsam durch Ophelia hindurch und treffen die, zu der er direkt nie so sprechen dürfte; am bittersten aber verletzt er mit ihnen sich selber; das reine Bild der Frau, das er in sich trug, ist geschändet, mit selbstquälerischer Grausamkeit rückt er sich die Fratze, die an des Bildes Stelle getreten ist, immer neu ins Bewußtsein. Und auch mit seiner Wahnsinnsmaske quält er nicht nur die ändern, sondern letztlich sich selbst. Nicht nur die ändern sind ja wahnwitzig, er ist es selber, da er dem Rufe einer versunkenen Welt gehorchen will statt der eigenen prophetischen Seele. Und im tiefsten weiß er, daß dies wahnwitzig ist, fast reflexartig nimmt er die symptomatische Wahnsinnsmaske an, als ein Schauspieler seiner selbst. So tut sich hinter einer ersten, einer zweiten Bedeutung der Maske schließlich eine letzte auf, ähnlich wie im barocken Bauwerk ein erster, zweiter, dritter Durchblick sich hintereinander staffeln. Brutus, der vor sich selber den Sicheren spielt, bewegt sprachlich sich in Syllogismen, Hamlet, der nicht nur die Welt, sondern sich selber zerrissen und verwirrt weiß, muß die Sprache eines Verrückten sprechen. Die Forderung, die in Hamlet machtvoll, aber noch dunkel aufsteigt und die er mißhört, ist die Forderung einer neu entstehenden Zeit; sie geht nach Freiheit. Wenn Brutus in einem mehr äußeren Sinne die Römer zu freien Menschen machen wollte, so sieht Hamlet nicht nur in der Mutter, sondern letztlich eben auch im König den Menschen, der frei über sich selber richten muß. Er, Hamlet, darf nur Anstöße geben, aufrütteln, „bis zum 62

Wahnwitz den Schuldigen treiben": um ihn eben dadurch - das ist barockes Paradox, wie es dann auch im Lear in Erscheinung tritt - zu „heilen" (ein Wort, das umgekehrt der König heuchlerisch auf Hamlet selber anwendet, II 2). Nur so, nicht durch Tötung des Königs, würde auch die Welt wieder heil. Shakespeares Drama ist gewiß nicht ein Traktat gegen die Blutrache. Aber es ist die grandiose Darstellung des Menschen, in dem Vergangenheit und Zukunft gewaltig miteinander ringen, und der so, im Konflikt mit sich selber, zugrunde geht. Der Zuschauer aber läßt sich durch diese Darstellung nicht nur aufwühlen, er vernimmt sie zugleich als Anruf. Hamlet steht in der Reihe der großen Tragödien zeitlich zwischen Caesar und Othello. In allen drei Stücken steht die Gestalt des Richters oder Rächers im Zentrum. Daß Othellos Richten Verblendung und Anmaßung ist, ist offenbar. Aber auch Brutus versinkt mit seiner richterlichen Tat in Irrtum und Schuld. Wenn Hamlet davor zurückscheut, die Rachetat zu vollziehen, so ist es nicht, wie die Psychoanalyse glaubte, weil er sich desselben Verbrechens wie Claudius fähig und schuldig fühlt (Ödipuskomplex), sondern weil er spürt, daß die Welt nicht durch Rächen und Richten zu heilen ist. Ohne es bewußt zu wollen, erreicht er mit dem „Spiel im Spiel" eine Läuterung des Königs. Wir haben keinen Anlaß zu glauben, daß Shakespeare eine solche Wirkung nur von dem Drama der Schauspieler ausgehen lassen wollte; auch im Spiegel seines eigenen großen Spiels erkennen sich die Menschen und fühlen sich machtvoll angerufen.

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OTHELLO Idj bin nicht, was ich bin. „Nie sah idi so verderblichen Tumult des zornigen Meers." Wenn Shakespeare in seinem Drama das Bild einer Landschaft emporzaubert, geschieht es nicht durch Kulisse und Bühnenmaschinerie, sondern durch die Magie des Worts. So gibt im Othello zu Beginn des zweiten Aufzugs das Hin- und Widerreden der cyprischen Edelleute dem Hörer den Anblick der „hochgeschwellten Flut", der chaotisch tobenden See. Die Woge schwillt bis an die Wolken, nichts - nothing at all — läßt sich mehr unterscheiden; „welch eichner Kiel, wenn Berge niederfluten, bleibt festgefügt?" „Was wird aus Othello in diesem Sturm?" „Mög ihn der Himmel schützen vor den Elementen", sagt Cassio, „denn ich verlor ihn auf gefährlicher See." Und noch einmal: „O Herr (Great Jove), beschütz Othello!" Von Jago aber wird berichtet: „Der hat höchst schnelle, günstge Fahrt gehabt." Cassio meint nur die augenblickliche Lage. In Wirklichkeit ist die Gesamtsituation sichtbar geworden. Nicht mehr das Bild des Stromes, wie im Julius Caesar, vermag das Geschehen zu spiegeln, sondern nur noch das der gestaltlos wogenden See. „Nie sah ich so verderblichen Tumult des zorngen Meeres." Nie vorher hat Shakespeare die Seele in so rasend gestaltloser Bewegung gezeigt, von solch zerstörerischer Leidenschaft ergriffen wie im Othello. Es geht um mehr als um die Eifersucht in diesem Drama. Shakespeare hat wie seine Zeitgenossen ein hohes Interesse für die Verschiedenartigkeit der Temperamente gehabt; aber Othello ist weit mehr als das Gemälde eines Cholerikers, ebenso wie Hamlet mehr ist als die Darstellung eines Melancholikers; beide Dramen sind Tragödien des Menschen, nicht nur eines bestimmten Menschentyps. Die besondere Leidenschaft, die Eifersucht, ist das geeignete movens des Geschehens, der besondere Menschentyp, der Choleriker, ist der berufene Träger, das Geschehen selber aber ist von übergreifender Gültigkeit. Im Othello wird uns zunächst die Geschichte einer Liebe erzählt. Was in Caesar und in Hamlet höchstens Randmotiv war und in keiner Weise zur Entwicklung kam, ist hier zum zentralen Thema geworden: das Sichfinden und Sichverlieren zweier Menschen. Othello ist ein Einsamer, wie Brutus, wie Hamlet, ja, er ist es mehr noch als sie. Er ist der Mohr unter den Weißen. Brabantio und Jago scheint es unmöglich, daß Desdemona den häßlichen Mohren, den „Teufel" wirklich liebt, und auch der Doge, der ohne Vorurteil ist, sagt „schwarz" für häßlich, schlecht, und „weiß" für edel, schön, gut. Othello selber fragt sich, warum 64

Desdemona ihn verraten habe: „Vielleicht wohl, weil ich schwarz bin, und mir des leichten Umgangs Gabe fehlt..." (III 3). Die schwarze Hautfarbe ist Signum für die äußere Beziehungslosigkeit dieses Menschen. Und nun ereignet es sich, daß wie von selber die herrlichste Beziehung sich herstellt; absichtslos erzählt Othello die Abenteuer seines Lebens, und diese Entfaltung seines unsichtbaren Selbst ist so voller Wunder, daß sie ihm die Liebe der holden Desdemona gewinnt. Brabantio, der Vater, argwöhnt Magie, so unglaublich scheint es ihm, daß seine lichte Tochter den dunklen Mohren lieben kann - es ist auch Magie, aber nicht schwarze, sondern weiße Magie, und in ihrer schönsten Form. Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand, Ich liebte sie um ihres Mitleids willen. Das ist der ganze Zauber, den ich brauchte (I 3). Othello ist nicht wie Brutus und noch Hamlet - der doch auch schon in die Ferne reiste nach Wittenberg, nach England - beheimatet in einem bestimmten Land und Haus und einem bestimmten Stand. Er ist der Fremde, der die Welt durchstreift; geraubt, aus seiner Heimat herausgerissen, versklavt und dann befreit - aber nicht zur Rückkehr, sondern zur Abenteuerfahrt in unbekannte Weiten. Und Desdemona läßt sich seine ganze Pilgerschaft erzählen und wiedererzählen, sie erlebt in ihr den Vorgang einer Selbstverwirklichung und nimmt an dieser teil. Shakespeare liebt es, gerade wesentliche Vorgänge und Geschehnisse nicht auf der Bühne, sondern in der reinen Phantasie des Zuhörers zu entfalten - Caesars mißglückte Krönung, sein Versinken im Strom, Hamlets seltsames Spiel mit Ophelia, von ihr erzählt - und wie die Personen des Spiels, hier Desdemona, so lauscht auch das Theaterpublikum den Worten des Erzählers; die mit dem inneren Auge geschauten Bilder stehen den äußeren an Intensität nicht nach, ja, sie übertreffen sie an lebendiger Kraft; sie entstehen und wachsen in uns, während wir die anderen passiv hinnehmen. Für Desdemona ist das innere Bild Othellos stärker als das äußere, das Sein überstrahlt den Schein, schwarz wird weiß. „Ich nahm Othellos Gemüt für sein Gesicht", I saw Othellos visage in his mind. Das Wunder der Liebe ist eingetreten. Und es strahlt auf die ändern über, der Doge sagt zu Brabantio, sein Schwiegersohn sei durch Tugend weit eher licht als schwarz: // virtue no delighted beauty lack, your son-in-law is far more fair than black (I 3). Othello selber spricht von Wunder. Eia Wunder dünkt's mich, groß wie meine Freude, Dich hier zu sehn vor mir. Lust meiner Seele! Galt es jetzt zu sterben, Jetzt war mir's höchste Wonne; denn ich fürchte, 65

So volles Maß der Freude füllt mein Herz, Daß nie ein andres Glück mir, diesem gleich, Im Sdioß der Zukunft harrt (II 1). Jago aber macht sich daran, dieses Glück zu zerstören. Jetzt seid ihr wohlgestimmt, Doch dieses Einklangs Wirbel spann ich ab, So wahr ich ehrlich bin. Öl you, are well tun'd now, But I'll set down the pegs that make this music, As honest as I am. Damit spricht Jago das eigentliche Motiv seines Treibens aus: Er erträgt, Unhold der er ist, den Anblick des Vollkommenen nicht. Das Schöne ist ihm schrecklich. Als er die Ermordung Cassios erwägt, kommen ihm ähnliche Worte. Wenn Cassio übrig bleibt, So zeigt sein Leben täglich eine Schönheit, Die mich verhäßlicht (V 1). Beleidigte Geltungssucht schürt Jagos Haß - Othello hat statt seiner den jungen Cassio zu seinem Leutnant gemacht - das andere aber, der Verdacht, Othello habe ihm sein Bett entehrt, scheint für Jago im wesentlichen nur Vorwand. Ich haß den Mohren; Auch geht die Red, er hab in meinem Bett Mein Amt versehn. Obs wahr ist, weiß ich nicht. Doch ich, auf bloßen Argwohn von der Art Will tun, als war's gewiß (I 3). Wie Hamlet alles heranzieht, was seinen Rachewillen aufheizt, so greift auch Jago begierig nach dem Gerücht, das seinen Haß, der aus ganz anderer Wurzel stammt, zu schüren geeignet ist. Jago trägt die Züge des absoluten Bösewichts, der das Böse aus„Lust am Bösen tut, der, ähnlich wie Goethes Mephisto, nur in der Zerstörung Befriedigung findet. For I am nothing if not critical, „denn ich bin nichts, wenn ich nicht lästern darf" (II1), „In uns selber liegt's, ob wir so sind oder anders": 'tis in ourselves that we are thus, or thus (I 3). Alle äußeren Begründungen - gekränkter Ehrgeiz, Eifersucht, Furcht vor Entlarvung - sind nur Vorwände, die es Jago erlauben, bös zu sein — denn auch er noch, so kraß und eindeutig er gezeichnet ist, scheint der Selbstrechtfertigung zu bedürfen, er benötigt Vorwände, um uneingeschränkt böse sein zu dürfen. In Wirklichkeit aber gilt für ihn, was 66

Egmont von Alba sagt: „Da stand er grimmig, log Gelassenheit (- „Geduld" ist ein Wort, das Jago ständig im Munde führt -), und innerlich verzehrt ihn die Ärgernis, mehr über mein Glück als über seinen Verlust." Jago erträgt das Glück der ändern nicht, und ruht nicht, bis er es zerstört hat. Einklang des einander Fernen, Fremden, darin scheint Shakespeare das eigentliche Wunder der Liebe zu sehen. In Romeo und Julia finden sich die auf den Tod verfeindeten Geschlechter, in Antonius und Cleopatra die westliche und die östliche Welt, in Othello und Desdemona das behütete Kind und der heimatlose Abenteurer, helle Schöne und dunkle Häßlichkeit. Was ist die Zuwendung der lichten Desdemona zu dem Mohren anderes als eine Verheißung, daß in der Welt das Wunder möglich ist, daß keiner ausgestoßen, keiner rettungslos einsam ist. Eine Weile lang steht das Bild da, und alle dürfen es beseligt schauen: die zauberhaft reine und schöne Einheit, zu der zwei isolierte Menschen, einander fremd und fern wie kaum zwei andere, sich gefunden haben. Othello selber fühlt: „Wenn ich dich nicht mehr liebe, dann kehrt das Chaos wieder" (III 3). Wer aber selber dem Chaos verfallen ist, der muß bestrebt sein, es auch in den ändern und für die ändern herauf zuführen; den Anblick des Gegenbildes erträgt er nicht, er will sich und der Welt offenbar machen, daß es keine Wirklichkeit hat und geht daran, es zu zerstören. Schon Brabantio, in seiner ichbesessenen Verständnislosigkeit ein Vorläufer Jagos, von diesem als Werkzeug benützt, versucht die Möglichkeit des freien Zusammenklangs zu leugnen, und wie er das nicht mehr kann, ist er „am Ende" (l have done); nichts von der übergreifenden Bedeutung des Bundes zwischen Desdemona und Othello vermag er zu erfassen, er fühlt nur den eigenen Verlust, er sieht sich persönlich betrogen und beraubt. Daß die Liebe seines Kindes zum Mohren den Vater zugrunde richtet, wirft, obwohl es die Selbstzerstörung eines Ichgebundenen ist, einen ersten Schatten auf diese Liebe, für den modernen Leser jedenfalls. Und nun beginnt Jagos eigentliches Spiel; er hat „höchst schnelle, günst'ge Fahrt". Mit primitivem Raffinement hetzt er einen kindlich arglosen Menschen in immer leidenschaftlichere und qualvollere Eifersucht. Desdemona nennt Othello frei von Eifersucht, Jago aber erreicht durch eine vorzüglich klappende Regie, daß Othello glauben muß, Desdemona sei ihm untreu. Und gerade weil ihm damit das Unmögliche wirklich geworden scheint, fällt er in Raserei. „Ist diese falsch, so spottet sein der Himmel" (III 3). Othellos Bild der Welt ist zerstört, als er das, was ihm das Reinste schien, als falsch und unrein erkennen muß. Wie Hamlet glaubt er die Welt geschändet, und seine Reaktion ist, wenn auch naturhaft primitiv, nicht unähnlich der Hamlets: Raserei. Sie steigert sich bei ihm bis zur körperlichen Ohnmacht. Und wie Hamlet, wie Brutus glaubt er sich zum Mord verpflichtet, er glaubt die Welt nur reinigen zu können durch Tötung der Schuldigen. Auch er sagt von sich, daß er Opferer sein wollte, nicht Schlächter (V 2). „Die Sache 67

will's." It is the cause, it is the cause, my heart. Auch er also meint vom Geist aus sein Herz, das anders spricht und anderes verlangt, vergewaltigen zu müssen. Aber er tauscht sich noch gräßlicher als Brutus und Hamlet. Er tötet eine Unschuldige, er zerstört sein eigenes Glück, und er schändet die Welt, die er zu reinigen glaubte. Sein Werk ist Zerstörung, Selbstzerstörung und Raub an der Menschheit in einem; so ist es im Effekt dem Jagos gleich geworden. Jago, selber ein hämischer, in einem allgemeinen Sinne eifersüchtiger und auf Zerstörung gerichteter Mensch, gelingt es, Othello in die Rolle des Eifersüchtigen hineinzuzwingen, so wie Cassius den Brutus, wie der Geist den Hamlet oder, um ein Beispiel aus einer Komödie zu nehmen, Olivias Hausgesinde den Malvolio eine Rolle spielen lassen, die ihnen allen nicht entspricht. Dieses bittere Spiel, in dem zwei Grundmotive des Barocks sich ausleben: das des Scheins, der Maske, und das der Vergewaltigung, der Willensunterjochung, findet sich an vielen Stellen des Shakespeareschen Werkes. Jago macht Othello zu seiner Marionette und läßt ihn nach seinem Willen tanzen. Der Mohr hat eine freie, offne Seele, Die alle ehrlich glaubt, die nur so scheinen, Und läßt sich sänftlich an der Nase führen, Wie Esel tun (I 3). Was der Sommernachtstraum in übermütiger Burleske vor unsere Augen stellt: die Verwandlung des Menschen in ein Tier, das ist uns im Othello als Tragödie gegeben. So mach ich, daß der Mohr mir dankt, mich liebt, belohnt, Weil ich so stattlich ihn zum Esel machte, Um Fried und Ruh ihn brachte bis. zum Rand Des Wahnsinns (II 1). Wenn die Komödie, als Phantasmagoric, den zum Esel Gewordenen leibhaftig vorführt, so zieht die vergleichsweise realistische Tragödie den Vergleich nur in der Wortsphäre. Jago, für den die Verwandlung Othellos ein Lustspiel ist, an dem er sich mit grauenhaftem Behagen weidet, braucht zweimal den an den Sommernachtstraum gemahnenden Ausdruck »Esel". Othello aber, der die Verwandlung an sich selber erlebt, greift nach dumpferen, gräßlicheren Namen: Kröte, Schmeißfliege, Hund, Vieh. Lieber Kröte sein Und von den Dünsten eines Kerkers leben Als daß ein Winkel des geliebten Wesens Für andre sei (III 3). Gehörnter Mann ist nur ein Vieh, ein Untier (IV 1). 68

Jago vergleicht er mit einem Hund (III 3), Desdemona mit den Fliegen auf der Fleischbank (IV 2) - es ist, als ob er spürte, die Tierverwandlung liegt in der Luft: aber er bezieht es falsch, sie bedroht nicht Desdemona, sondern einzig ihn, und nicht sie, nicht ihr Verhalten erniedrigt ihn zum Tier, er tut es selber; der Gedanke, betrogen zu sein, verändert ihn so sehr, daß er Desdemona viehisch behandelt und gegen seinen Freund Cassio einen gemeinen Mordanschlag richtet. Nicht das was ist, macht ihn zum Tier, sondern das, was nicht ist; nicht die Wirklichkeit, sondern seine irregeleitete Phantasie, sein irregehendes Denken. Parallelen in anderen Shakespearespielen sind, wie es bei ihrer Zugehörigkeit zum Barock nicht anders zu erwarten, häufig. Für Shakespeares Zeitgenossen Sir John Hayward ist der Mensch ein Proteus, der, kraft freien Willens, als einziges Geschöpf Gottes seine natürliche Würde, sein natürliches Sein (being) verlieren und sich selber zum Tier verwandeln kann. 'So man transformed himself into that beast to whose sensuality he principally declines.' Die ständig drohende Gefahr, uns selber zu verlieren, einer entstellenden Daseinsform zu verfallen, die unser eigentliches Sein zerstört, unser eigentliches Wollen in sein Gegenteil verkehrt, ist wie im Sommernachtstraum so auch im Othello in mehreren Variationen vergegenwärtigt. Der Tiervergleich begegnet im Munde verschiedener Figuren und wird auf verschiedene Figuren angewendet. Cassio widerfährt auf niedriger Ebene dasselbe wie Othello: Er wird sich selbst entfremdet, Jago macht ihn wie Othello zu einem Rasenden, hier genügt die gewöhnliche Berauschung. Nüchtern geworden, erkennt und bezeichnet Cassio den Vorgang vollkommen klar: „O daß wir einen bösen Feind in den Mund nehmen, damit er unser Gehirn stehle. Daß wir durch Freude, Schwärmen, Lustbarkeit und Jubel uns in Vieh verwandeln!" „O ich habe meinen guten Namen verloren! Ich habe das unsterbliche Teil von mir verloren, und was übrig bleibt, ist viehisch." „Eben noch ein vernünftiger Mensch sein, danach ein Narr und gleich darauf ein Vieh! O fürchterlich!" (II 3). Auch Othello wird am Schluß, sehend geworden, von sich selber sagen: „O Narr! Narr! Narr!" (V 2). Damit bestätigt er, nachdem er eben noch sich „einen ehrenvollen Mörder" genannt hat, der „nichts aus Haß, alles aus Ehre" tat, das Wort Emilias, die, den Tiervergleich noch tiefer herunterstimmend, ihn Tropf und Tölpel geheißen hat, „so dumm wie Kot". Othello wie Cassio gelangen schärfer als Brutus und Hamlet zur Selbsterkenntnis; sie erkennen ihr Verhalten als Raserei, während Hamlet und Brutus, deren Probleme freilich weniger einfach sind, die Dinge nicht im Erkennen, nur im Fühlen realisieren: daher ihr Gram, ihre Melancholie, ihre Schlaf- und Todeswünsche. Brutus stürzt sich in sein Schwert, um nicht entehrt zu werden, Othello aber, noch einmal mittelbar sich selber Hund schimpfend, durch-

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bohrt sich, um sich zu richten. Aus dem tragischen Mißverstehen ist ein tragisches Verstehen geworden. Wie immer in Shakespeares Drama werden die Hauptthemen nicht nur in einer Stimme durchgeführt, sondern in vielen, die Luft des Stückes vibriert von Gleichklängen, Anklängen, Variationen, die Atmosphäre ist gesättigt, durchdrungen von den mannigfaltigen Ausstrahlungen der Grundmotive. Im chaotischen Aufruhr des Meeres hallt das in den Menschen ausbrechende Chaos vor, in den Tiervergleichen, die ihnen immer wieder über die Lippen gleiten, äußert sich die eigene Tierwerdung, und das Spiel in der Nacht mit dem verzweifelten Schrei nach Licht, der, in Brabantios Munde, schon in der ersten Szene des Stückes ertönt, spiegelt die innere Situation der Agierenden. Was hat ein Narr in dieser Tragödie des Mißverstehens zu suchen? Er macht, in einem kurzen Gespräch mit Desdemona, eben dieses Mißverstehen offenbar. Ohne es selber zu wissen und ohne daß es den Hörern unmittelbar bewußt wird, parodiert er das ganze Geschehen, indem er jedes Wort Desdemonas in läppischer Weise mißversteht, es ihr im Munde verdreht. Othello tut, auf der Ebene der Wirklichkeit, dasselbe. Denn er, einst in traumhafter Sicherheit seinen Weg gehend, ist von Jago vergiftet und sich selber entfremdet worden, so daß er nun mißtraut statt vertraut. Nicht er hat, wie Brabantio meinte, bösen Zauber an Desdemona geübt, sondern Jago an ihm.

Work on, My medecine, work ... Wirk fort, Mein Gift, wirk fort. So fängt man gläubige Narrn. Jago ist es, der wirkliche schwarze Magie übt. Als ein großer Hexenmeister bemächigt er sich der Menschen und zwingt ihnen eine Rolle auf, die ihrer Natur widerspricht und von der sie oft nichts wissen. Nicht nur Othello und Cassio lenkt dieser große Regisseur nach seinem Willen; Brabantio, Rodrigo, Emilia, besonders aber Desdemona läßt er auftreten in seinem Spiel und genau den Part spielen, den er für sie ausgedacht hat; sie glauben ihr eigenes Leben zu leben, ihre eigene Sache zu vertreten und merken nicht, daß sie nur Jagos Schauspieler sind. Das Motiv der Unsicherheit, das im Caesar und im Hamlet dominierte, erscheint im Othello in der besonderen Form des Mißverstehens. In Untertönen aber ist es, wie nicht anders zu erwarten, auch in anderen Gestalten gegenwärtig. „Ich will noch mehr Gründe hören", sagt Rodrigo zu Jago (IV 2), und Othello: Ich glaub, mein Weib ist treu und glaub es nicht, Ich glaube, du bist grad und glaub es nicht.

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Ich will Beweis. O war ich überzeugt! Gib mir die Augenprobe! Sehn laß mich's, oder mindestens beweis es so, Daß der Beweis nicht Haken hat noch Schleife, Wo Zweifel einhängt. Sonst weh deinem Leben! (III 3). Cassio will sich und den ändern beweisen, daß er nicht betrunken sei, und er verfällt dabei, wie der Totengräber im Hamlet und wie Brutus, auf so etwas wie einen Syllogismus - eine Form, die Shakespeare offenbar als Inbegriff der verblendeten Bemühungen des Menschen, sich selber Sicherheit zu geben, erschien. „Das ist meine rechte Hand - und das ist meine linke Hand: ich bin noch nicht betrunken" (II 3). Am prallsten aber tritt die Unsicherheit der Menschen und ihr Wahn, sicher zu sein, zutage in ihrem unbedingten Vertrauen zu Jago. Nicht nur er selber, auch alle ändern nennen ihn, in geradezu aufdringlicher Art, immer wieder den ehrlichen Jago. Desdemona jedoch, die Vertrauenswerte, erscheint als vertrauensunwürdig. Sie ist darin das Gegenbild Jagos. Sie scheut nicht den falschen Schein. Sie macht Othello Avancen, weil sie spürt, daß er, der Schwarze, sonst nicht um sie werben dürfte. Sie verläßt ihren Vater, weil sie weiß, daß es so richtig ist. Daß sie ihn dadurch tötet wie Parzival seine Mutter, ist wohl ein übles Omen, aber Shakespeare scheint es ihr nicht als Schuld anzurechnen. Denn es ist ein tyrannischer, selbstsüchtiger Vater, der seine Tochter nicht nur Othello, sondern vorher auch jedem ändern mißgönnte - im Kaufmann von Venedig und im Sommernachtstraum zeichnet Shakespeare Ähnliches, jedesmal mit deutlicher Mißbilligung des Vaters, der den freien Willen der Tochter zu unterjochen bemüht ist. Das ganze Brabantiogeschehen wirkt wie ein Vorspiel. Der Vater eifert wider Desdemona wie später Othello, ja er möchte sein Mißtrauen geradezu auf diesen übertragen: Sei wachsam, Mohr, hast Augen du zu sehn: Den Vater trog sie, so mag's dir geschehn. Look to her, Moor, if thou hast eyes to see: She has deceiv'd her father, and may thee (I 3). Und Jago erinnert seinen Herrn daran: Den Vater trog sie, da sie euch geehlicht... (III 3). Othello aber zerstört, indem er gegen Desdemona sich wendet, wie Brabantio sich selber. Wie Brabantio spricht er sein „Ich bin zu Ende", Othello's occupation's gone (III 3). Wie Brabantio wünscht er, daß Desdemona nicht wäre, Brabantios „Besser ein Kind annehmen als eins zeugen" (I 3) entspricht sein verzweifeltes „O wärst du nie geboren!" (IV 2). Dieser Todeswunsch richtet 71

sich gegen das Scheinbild Desdemonas; er trifft aber, wenn auch nicht ihr eigentliches Sein, so doch ihr irdisches Dasein. Desdemona, die ihrer Liebe zu Othello und auch seiner Liebe zu ihr ganz sicher ist, kann es sich erlauben, auch zu ändern freundlich zu sein. Im Gespräch mit Cassio prahlt sie mit ihrem Einfluß auf ihren Mann, übermütig übertreibt sie, fast leichtfertig redet sie von der Art, wie sie den Gatten behandeln, mürbe machen wolle. Ich mach ihn zahm, schwätz ihn aus der Geduld, Sein Bett soll Schulbank sein, sein Tisch ein Beichtstuhl, In alles, was er vornimmt, meng ich ihm Des Cassio Gesuch: deshalb sei fröhlich, Cassio! Denn deine Mittlerin wird lieber sterben Als dich versäumen. So unbekümmert läßt sie sich gehen, verbürgt Cassio sein Amt, wiegt sich im Gefühl ihrer Zauberfähigkeiten. Sie belügt Othello, als er sie - an dieser Stelle taucht wiederum das Motiv Magie auf — nach dem verlorenen Tuch fragt, und ihre Seele trübt sich nicht im Lügen. Noch sterbend lügt sie, ohne Zögern des Selbstmords sich bezichtigend — denn es geht ihr um den ändern, nicht um sich. Sie ist nicht moralische Rigorisrin, sie lebt nicht aus einer Idee wie Iphigenie; rührend kindlich, fern von grundsätzlichem Denken und Empfinden ist ihre Bitte: „Töte midi morgen, laß mich heut noch leben." Sie will leben, aber sie lebt den anderen zum Heil, und noch in ihren letzten Atemzügen will sie Othello Gutes tun, unbekümmert darum, ob sie sich selber damit beflecke oder nicht. Und doch hatte Othello, dem es, nach Art des Mannes, um die „Sache" geht, um die Idee, ihr die Sünde des Meineids im Tode eben noch hart genug vor Augen gerückt. „Ich bin nicht, was ich bin." Jagos Wort, in der ersten Szene des Stückes gesprochen, ist von weit umfassenderer Bedeutung als er selber es meint. Schon für ihn selber. Er will nur sagen, daß sein äußeres Tun „des Herzens angeborne Art und Neigung" nicht offenbare, sondern maskiere; er meint also: Ich bin nicht, was ich scheine. Aber was Jago später von Othello sagt: „Er ist nicht, was er sein könnte" (IV 1), das gilt auch für Jago. „Ich diene nur mir selbst", / follow but myself (I 1) - damit schändet Jago die Möglichkeiten, die Gott in ihm, auch in ihm, angelegt hat. Cassio sagt von sich, er habe sein unsterbliches Teil verloren, Jago aber hat das Unsterbliche in sich überhaupt nicht keimen, nicht wachsen lassen. Er ist nicht, was er ist, er vergewaltigt nicht nur die ändern, sondern letztlich auch sich selbst; und so geht er denn auch, statt sich zu verwirklichen, zugrunde - das äußere Scheitern ist hier Abbild und Siegel des inneren. Daß Jagos Wort für Othello gilt, ist offensichtlich. „Mein Herr ist nicht mein Herr", sagt Desdemona von ihm. Der, dem Eifersucht, und, nach Jagos Zeugnis, auch Zorn fremd waren, er 72

wird zu einem vor Eifersucht und Zorn Tobenden: Er verliert sich selber. Ebenso Cassio in der Trunkenheit. Für Desdemona gilt Jagos Wort in einem eingeschränkten Sinne. Sie, als einzige, ist, was sie ist; so sehr, daß sie ihre Handlungen und Worte nicht kontrolliert, sie lebt sich frei und anmutig aus und beschenkt eben damit die ändern; nur Jagos Regie bringt es zustande, daß sie in Othellos Augen eine andere scheinen muß, als sie ist. Im Othello nimmt das Motiv des Scheins eine neue Gestalt an. In Caesar und in Hamlet trat es vor allem in der Form der Schauspielerei auf, des Schauspielerns vor sich und anderen. Dieses Element tritt im Othello zurück, wenn es auch, als ein barockes Urelement, keineswegs völlig fehlt. Die eigentliche Gestalt aber des Schein-Motivs ist im Othello die der täuschenden Erscheinung. Othello ist schwarz von Angesicht, aber er hat eine lichte Seele. Das Verhalten der Desdemona scheint Othello schwarz und schmutzig, in Wirklichkeit ist es rein und licht. Jago aber scheint ehrlich und treu und ist falsch und untreu. - Othello müßte eigentlich wissen, daß Schein und Sein sich nicht decken. Er hat ja selber die schwarze Haut eines Teufels und die Seele eines unschuldigen Kindes. Wenn einer, so sollte er allem Schein mißtrauen und nur dem lebendigen Gefühl seines Herzens vertrauen. Aber ebenso wie Hamlet und Brutus unterdrückt er dieses lebendige Gefühl des Herzens, das ihm je und je zurufen will: Es kann nicht sein — und liefert sich ganz den trügerischen Beobachtungen und Schlüssen seiner Sinne und seines Verstandes aus. Während Desdemona hinter Othellos dunkler Haut ein helles Gemüt entdeckt und liebt, meint er hinter ihrer schönen Erscheinung eine schändliche Seele zu gewahren und verfällt in Haß: das schöne Motiv ertönt in erschreckender Umkehrung. Auge und Ohr und Verstand sehen in Desdemona eine Metze - und Othello mißtraut diesem Schein nicht, wie er auch dem Schein der Ehrlichkeit, die Jago zur Schau trägt, nicht mißtraut; er mißtraut in fürchterlicher Verblendung nur an einer einzigen Stelle: gerade dort, wo wie durch ein Wunder Schein und Sein eins geworden sind: in der Schönheit Desdemonas. Ihre Erscheinung ist licht und hell und rein wie ihr Wesen. Othello weiß es im Grunde, sein Gefühl sagt es ihm. Aber gerade hier läßt er sich durch den irregeleiteten Verstand so weit verhetzen, daß er weder dem schönen Schein noch dem eigenen Gefühl mehr glaubt, sondern, entsetzlich in die Irre gehend, das zerstört, was er leidenschaftlich sucht: die Einheit von Schein und Sein, die in seiner „holden Kriegrin Desdemona" für einmal Wirklichkeit geworden war.

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CORIOLAN Er lohnt sein Tun, indem er's tut. He rewards his doings with doing them. Schärfer als Brutus und selbst als Hamlet ragen Othello und Coriolan aus den Stücken heraus, deren tragische Helden sie sind. Das Erinnerungsbild von Caesar wie von Hamlet gibt uns ein vielgliedriges und vielschichtiges Ganzes, eine Vielzahl von agierenden Gestalten bildet ein Spannungsgefüge, das sich auf irgendeine Weise in einem schwebenden Gleichgewicht hält. Die Partner und zugleich, nach zwei verschiedenen Richtungen hin, Gegenbilder Othellos sind Jago und Desdemona; aber Desdemonas zart-blumenhaftes Dasein, ihr fassungslos-gefaßtes Hinnehmen und Dulden macht nicht den Effekt wie etwa der Wahnsinn einer Ophelia; und auch Jagos cholerische Mechanik hält Othellos rasenden Ausbrüchen nicht eigentlich das Gegengewicht. Coriolan vollends steht im absoluten Mittelpunkt des Stückes, ohne wirkliche Partner; Aufidius, Volumnia, Virgilia sind wie das Volk und die Aristokraten kaum mehr als Folie und Anlaß. Und wenn die Eifersucht, oder eigentlich: die Verzweiflung an Mensch und Welt und Himmel, den Mohren rasend sich am Boden wälzen ließ, so läßt' der gereizte Stolz, und das heißt wiederum: die Enttäuschung, der Zorn über die Erbärmlichkeit der Welt, den Römer auffahren; er verliert nicht das Bewußtsein, sondern gibt bewußt und willentlich jede Selbstkontrolle auf. Verglichen mit der Fieberhitze, welcher der arme Othello verfällt, haftet den Ausfällen des Römers eine gewisse Kälte an. Aber sie sind in ihrer hochmütigen Wut so kraß, so ohne Maß, daß sie alles andere im Drama überblenden. Und doch ist auch der Coriolan nicht eine bloße Leidenschaftsstudie. Es geht wie in Othello um mehr als um die Darstellung eines Cholerikers. Eifersucht und Hochmut sind die Vordergrundsthemen der beiden Stücke. Wenn in Hamlet nicht ein problemloser, rasch zugreifender Choleriker wie Laertes, sondern nur ein subtiler „Melancholiker", der im persönlichen das universelle Schicksal spürt, Träger des eigentlichen Geschehens sein kann, und im Othello entsprechend nur ein „Eifersüchtiger" von höchster Sensibilität, dem die Verletzung seines hohen Glücks persönlich und kosmisch den Ausbruch des Chaos bedeutet, so muß im Coriolan der Held ein „unkluger", selbstbewußter Täter sein, ein „Hochmütiger", der, frei von jeder Selbstbezweiflung, das Gewicht seiner Leistung kennt und verlangt, daß die ändern - die Gesellschaft, der Staat - die Folgerungen ziehen. Coriolan, ein Feldherr und Held der römischen Frühzeit, der den Erbfeind, die Volsker, besiegt und sozusagen allein deren Hauptstadt Corioli erobert hat, kann es nicht ertragen, daß Leistung nicht für sich allein gilt, daß sie 74

noch geschminkt werden soll. Daß Tat nicht nur geschehen, sondern auch noch gerühmt werden muß, und gar durch ihn selber. Das Amt des Konsuls, das ihm als dem Besten zukommt, nach dem Gefühl des Volks und der Vornehmen so gut wie nach seinem eigenen, soll er sich nach altem Brauch demütig erbitten, beim Volk um die Stimme jedes einzelnen betteln und ihm die Wunden zeigen, die er im Dienst des Vaterlands empfangen. Für Coriolan ist das nicht wie für seine diplomatischen Vorgänger eine bloße Förmlichkeit, er spürt darin die Beleidigung der Leistung. Empfangen soll man die Wunden, nicht zeigen; der Aufputz der geleisteten Tat entwürdigt diese. Coriolan nimmt so wenig wie Hamlet die bestehenden Sitten unbesehen hin. Der Geist der Neuerung, der Empörung steckt in ihm, wie Hamlet möchte er Brecher unwürdigen Brauches sein (II 2). Er will „stehen als war der Mensch sein eigner Schöpfer" (V 3) - um wie viel mehr also soll er Schöpfer seiner Welt, Gestalter der Sitten, der Gesellschaft, des Staates sein. Aber Coriolan läßt sich überreden, er versucht sich unter das Joch des Brauches zu beugen - der innere Widerstand ist so stark, daß er es nicht kann; der Versuch zu schauspielern, wider sein Gefühl unwillig unternommen, muß scheitern, weil er Coriolans eigentlicher Wesensart widerspricht. Sein Wesen ist zu adlig für die Welt. Er kann Neptun nicht um den Dreizack schmeicheln, Nicht Zeus um seinen Donner. Mund und Herz ist eins. Was seine Brust geschmiedet, spricht die Zunge, Und ist er zornig, so vergißt er, Daß er je den Namen Tod gehört (Menenius III 1). His heart's his mouth. Coriolan ist in seiner Art ein Wunder wie Desdemona. In ihr sind Wesen und Erscheinung eins, in ihm Gesinnung und Äußerung: es ist die männliche Spielart eben derselben Einheit von Sein und Schein. Seine Natur ist es, eins mit sich selbst zu sein, not to be other than one thing, wie es sein Neider Aufidius formuliert (IV 6). Er ist, was er ist. Diese höchste Wirklichkeit aber scheint in der Welt nicht dauernd bestehen zu können; in Coriolan verkrampft und verzerrt sie sich und wird .schließlich von außen zerstört. Zunächst also versucht man, Coriolan eine Rolle aufzuzwingen, die ihm nicht angemessen ist. Ein erstes Mal sind es seine Freunde, dann ist es die eigene Mutter, die ihn überreden, in Demutspose vor das Volk zu treten. Die Mutter, stolz und großartig wie er selber, aber zugleich ruhmredig und ehrgeizig für ihren Sohn, schauspielert ihm vor, wie er auftreten soll: Ich bitte dich, mein Sohn, Geh hin mit dieser Mütze in der Hand, So streck sie aus, tritt nah an sie heran, Es küß dein Knie die Steine ...

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Und auch die Worte, die er zum Volke sprechen soll, spricht sie ihm vor. Weil jetzt dir obliegt, zu dem Volk zu reden, Nicht nach des eignen Sinnes Unterweisung, Noch nach der Sache, die das Herz dir eingibt. Nein, nur mit Worten, die der Zung entwachsen, Als Bastardlaute, Silben ohne Geltung, Die nicht des Herzens Wahrheit sind verpflichtet. Zweimal schickt Coriolan sich an, den gelehrigen Schüler zu machen, zweimal ist es ihm völlig unmöglich, sich selbst zu verleugnen. Ihr zwingt mir eine Roll auf, die ich nie Natürlich spiele ... Mit einem Ausbruch, der die innere Unmöglichkeit dieser Selbstvergewaltigung schon offenbart, nimmt er schließlich die Rolle entgegen. Ich muß es tun. Fort, meine Sinnesart! Komm über mich, Geist einer Metze.

Und nun spielt er sich das, was ihm die Mutter vorgespielt hat, selber vor, in erbärmlicher Tonart - um endlich abzubrechen: Ich will's nicht tun. Sonst hör ich auf, die eigne Treu zu ehren, Und meines Leibes Tun lehrt meinen Sinn Ganz eingefleischte Schnödheit (III 2). Aber die Mutter überredet ihn doch, willig-unwillig wie ein Schulbube nimmt er die schnöde Maske - um sie bei der ersten Beleidigung, die ihm widerfährt, sogleich wütend von sich zu schleudern und einen Katarakt von Verwünschungen gegen das Volk und seine Tribunen loszulassen, denen er doch schmeicheln sollte. Der tiefsten Hölle Feur verschling das Volk! Die Flammen seines Zornes verschlingen die eigene Verstellung, und er fühlt sich befreit. Denn daß er sich Gewalt antun wollte, daß er sich von seinen Freunden, seiner Mutter bereden ließ und der Stimme der „Klugheit" folgte, war ebenso fragwürdig wie Hamlets Versuch, dem Geist zu gehorchen. Coriolan folgt seiner Mutter wie Brutus Cassius und wie Othello Jago jeder von ihnen gegen das Gefühl des eigenen Herzens. Daß dieses jedesmal im Recht ist, daß es die Wirklichkeit, das Wesen vertritt gegenüber einem jedesmal anderen Scheinwert, entspricht dem Empfinden des Barocks, von dem Shakespeares Spiele durchdrungen sind. So setzen wir denn den Akzent 76

weder willkürlich noch allzu modern, wenn wir Coriolan recht geben gegen seine Mutter. Er weiß, daß die Leistung für sich selber steht und daß sie um ihrer selbst willen vollbracht sein will. Die Beute stieß er weg, Kostbare Dinge sah er an, als war's Gemeiner Kot, und weniger begehrt er, Als selbst die Dürftigkeit ihm gäbe; er lohnt Sein Tun, indem er's t u t . . . (Cominius, II 2). He rewards his deeds with doing them. Coriolan sieht die Welt das Falsche tun, sie leistet die Dinge um des Lohnes willen; deshalb seine überreizte Reaktion: Er stößt mit dem Fuß nach der Beute, die ändern alles ist; ihm ist sie Kot, die Gier nach ihr beschmutzt die Tat. Er höhnt die Welt und sich selber, wenn er den Bürgern versichert, er habe alle Wunden nur empfangen, alle Taten nur getan, um ihre Stimmen zu gewinnen (II 3). Sein Sarkasmus ist durchaus berechtigt und die Überreiztheit verständlich; Coriolan sieht sich als einzigen gegen eine verrenkte Welt, die mit allen Mitteln danach trachtet, ihn zu verschlingen, ihn so zu machen, wie sie ist. Selbst seine stolze Mutter rät ihm Anpassung. Hättst deine Macht du doch erst angelegt, Eh du sie abgenützt. Sie meint, es gelte sich zu verstellen, bis man die Macht errungen hat, die einem dann erlaubt zu sein wie man ist. Er aber weiß, daß es nicht darum geht, die Macht zu erraffen, um dann erst wirklich zu sein; es gilt von Anfang an zu sein, und das heißt der zu sein, der man ist. Wenn die Macht so nicht zu erlangen ist, so fahre sie hin: Let go, laß sie, sagt er ganz ruhig. Would you have me False to my nature? Rather say I play The man I am. Wollt Ihr mich Untreu dem eignen Wesen? Lieber heißt Mich den spielen, der ich bin (III 2). Wenn Coriolan sich dann doch überreden läßt, so ist es nur ein unwilliges Sichfügen, aus dem er sich, als er vom Tribunen Verräter genannt wird, sogleich wieder aufreißt. Nun geht Coriolan in die Verbannung. „Ich verbanne euch!* ruft er großartig, aber mit Berechtigung aus. Er ist es, der sich selber isoliert, der sich nicht anpassen will. Gemeines Hundepack! des Hauch ich hasse Wie fauler Sümpfe Stank, des Gunst mir teuer 77

Wie unbegrabner Männer totes Aas, Das mir die Luft vergift't: Ich banne euch! Diese barocke Wendung — sie paßt ebenso ins 17. wie ins 20. Jahrhundert, Georg Kaiser hat sie im Soldat Tanaka glanzvoll variiert - ist Höhepunkt, zugleich Wendepunkt des Stücks. Coriolan bringt das, was er seinem Wesen nach schon immer war, nun auch äußerlich zur Anschauung: er geht als Isolierter, als Vaterlandsloser in die Fremde. „Weib, Mutter, Kind, ich kenn sie nicht" (V 2). Nimmer soll, Wie unflügge Brut, Instinkt mich führen, Ich steh, als war der Mensch sein eigner Schöpfer Und kennte nicht Verwandtschaft (V 3). Wo wohnst du? fragt ihn ein Diener. Und er: Unter dem Himmel. Under the canopy (IV 5). Seinen alten Freund Cominius will er nicht kennen; er selber verbittet sich jeden Namen, er hat sie alle abgestreift. „Er war eine Art von nichts, namenlos, bis er sich einen Namen selbst geschmiedet — im Brande Roms" (V 1). Aber auch der Isolierte steht nicht grundsätzlich allein. Im Gegenteil, er allein ist fähig, sich auch mit dem Entgegengesetzten zu verbinden. Das Märchen aller europäischen Völker zeichnet diese Gestalt des Isolierten, der gerade kraft seiner Isolation die Möglichkeit des Kontaktes mit ganz Fremdem hat. Der Isolierte ist universal beziehungsfähig. Shakespeare läßt Coriolan die Verbindung mit dem Feinde suchen. Ich hasse den Gejburtsort, liebe hier Die Feindesstadt (IV 4). Wenn er früher Aufidius als den ihm bestimmten Widerpart bezeichnet hatte, mit dem sich zu messen er in der Welt sei (I 1), so sucht er jetzt diesen Gegenpol, das Entzweite schickt sich an, sich zu einen. Aufidius läßt von dem Geist der Stunde sich ergreifen und reicht, in großer Art die Forderung des Augenblicks erfüllend, Coriolan die Hand. Aber auch diese Verbindung ist nur eine Verbindung des Augenblicks. Coriolan bleibt innerlich einsam und nach außen hochfahrend. Aufidius, der in der großen Stunde ohne das leiseste Mißtrauen war, läßt der Mißgunst Eingang. Als dann Coriolan, frei wie er ist, mit neuer Wendung sich der Stadt Rom wieder öffnet, ohne indessen Corioli preiszugeben, da holt Aufidius zum Gegenstoß aus und fällt den Titanen. Coriolans Sichmessen mit Aufidius steht im Dienste echter Selbstverwirklichung. Aufidius ist ihm der einzige, mit dem sich auseinanderzusetzen Sinn hat. Wäre ich nicht ich selber - das Thema der Identität wird angeschlagen - so wünschte ich einzig er zu sein. 78

And were I anything but what I am, I would wish me only him. Als nun Cominius einwirft: „Ihr fochtet miteinander", da möchte Coriolan klar machen, daß ihrer beider Existenz ja gerade auf solche Begegnung im Kampf hinziele. Wenn, halb und halb geteilt, die Welt sich raufte, Und er auf meiner Seit, ich fiele ab, Nur daß ich ihn bekämpft" (11). Damit gibt Coriolan dem Kampf, und zugleich auch schon dem „Verrat", seine geistige Rechtfertigung. Kampf und Verrat, bei Coriolan sind sie beide echte Tat, echtes Dasein, reine Selbstverwirklichung. Er verrät die Römer nicht, er „verbannt" sie, weil sie versagt haben. Seine Verachtung des Volkes gründet darin, daß er im Volk, in der Masse am krassesten eine unechte Lebensform, ein uneigentliches Dasein vor Augen sieht. Der Plebejer ist nicht er selbst. Er läßt sich von den Aristokraten schützen, füttern, von den Tribunen lenken. Der Plebejer ist nicht, was er ist, er tut nicht, was er will. Coriolan nennt das Volk „die wankelmütigen, ranzig riechenden Vielen" (III 1), „das Tier mit den vielen Köpfen" (IV 1) - die Tribunen haben nicht unrecht, wenn sie sagen, daß er, hätte er die Macht, die „Bürger" zu Mauleseln machen würde ähnlich wie Oberen dem biederen Handwerker Zettel einen Eselskopf aufstülpt und damit boshaft sein Wesen bloßstellt. Coriolan aber kann nur sein stereotypes „Hängt sie!" sprechen. Er sagt, das Volk könne nicht herrschen und wolle sich nicht beherrschen lassen (III1). Hängt euch! Ihr ändert jeden Augenblick den Sinn Und nennt den edel, der erst euer Haß war, Gemein, der eure Zier war (11). Menenius sagt zu den Volkstribunen: „Ihr kennt weder mich, euch selbst, noch irgend etwas. Ihr seid ganz Gier nach armer Wichte Mützenwerfen und Kratzfüßen" (II 1). Und das Volk sagt von sich selber: „Obgleich wir freiwillig in seine Verbannung willigten, so war es doch gegen unseren Willen" (IV 6). Dieses unwesentliche Dasein des Volkes, beutelüstern und ohne eigene Gerichtetheit, lehnt Coriolan ab und sucht es zu bannen. Er verwechselt dabei, weit naiver als Brutus, Geist und Person, indem er seine Abneigung gegen jene falsche Daseinsweise auf die Personen überträgt, in denen sie sich ausprägt. Aber an sich hat er gegenüber Freunden und Mutter recht, daß er seine eigene Art festhalten will; er steht vor den Göttern, nicht vor dem Volk, ihnen, nicht dem Volk ist er Rechenschaft schuldig (III 2). 79

Er selber erscheint den ändern als ein Gott und wird, immer wieder, von Freund und Feind, dem höchsten Gotte, Jupiter, verglichen. Sein Mörder Aufidius spricht, ähnlich wie Antonius für Brutus, einen warmen Nachruf für ihn. Sein Leben enthielt wirklich Göttliches: Identität mit sich selbst. Er blieb sich selber treu, weder Rom noch Corioli hat er verraten. Ja, seine letzte Tat war seine höchste: die Versöhnung von Rom und Corioli. Jetzt erst darf er in vollem Sinne Coriolan heißen, und nicht hat er sich, wie er und die. ändern es glauben, im Brande Roms einen neuen Namen geschmiedet, sondern den alten erst jetzt in wahrer Weise sich erworben. Diesmal durfte er, ohne sich selber verleugnen zu müssen, der Mutter folgen; und wenn er damals, als er den Demütigen spielen sollte, es nur mit halber Seele tat und die verhaßte Maske schnell wieder abwarf, diesmal ist es eine echte und bleibende Verwandlung, die ihn ergreift. Damals war er willig, der Mutter zu gehorchen, und konnte es doch nicht, diesmal will er ihr nicht gehorchen und muß es doch: denn es ist sein Weg. Er tut auch hier letztlich die Tat um ihrer selbst willen, nicht aus schwächlicher Mutterhörigkeit - wie ein Bürger sie ihm schon in der ersten Szene vorgeworfen hat. Freilich hat er wie Hamlet eine starke Beziehung zur Mutter, aber stärkere Impulse vermögen die Mutterbindung zu sprengen, er steht letztlich auf sich selber. Mutter und Frau sind nur das Medium der Götter, die ihn durch sie am Ende auf seinen eigentlichen Weg weisen, den er nun erhobenen Hauptes, ohne Gram und ohne mit sich selber im Zwiespalt zu sein, antritt und zu Ende geht. Die Welt aber, der gerade diese letzte Großtat Coriolans das Heil bringen könnte, reißt ihn mißgünstig, neidisch zu Boden. Coriolan sieht, wiewohl in naiver Art, die Dinge schärfer als Brutus, Hamlet, Othello. Es geht darum, zu sein, und nicht zu scheinen. Coriolan achtet alle äußeren Bindungen, auch die an die Familie, ans Vaterland, gering, das innere Gesetz ist ihm wichtig. Es macht ihm nichts aus, ein Verräter zu scheinen, zuerst an Rom, dann an Corioli - genug, daß er keiner ist. Alle relativen Werte mögen preisgegeben werden, nur eines nicht: die wirkliche Leistung. An ihr ist Coriolan niemals zum Verräter geworden. Gegen die falsche Setzung der Werte aber reagiert er krampfhaft übersteigert: weil er wie kein anderer daran leidet, daß in der Welt die Scheinwerte mehr gelten als die wirklichen, und weil er wie kein anderer fühlt, daß eine solche Welt nicht in Ordnung ist. Die Welt ist es, die dieses Leben zum Scheitern bringt. Sie war es auch, die schon vorher es nicht vollkommen sich entfalten ließ. Coriolans Ausfälle und Ausbrüche, die Verkrampfung und Maßlosigkeit, denen er verfällt, der Autismus, in den er gerät, sind keineswegs ausschließlich durch sein cholerisches Temperament zu erklären. Aus ihnen schreit die Gereiztheit und Gequältheit des Adligen, den eine wesenlosen Scheinwerten nachjagende Welt zu sich herunter haben will. So kommt es, daß er, der Tattrunkene, schließ80

lieh als ein Ichsüchtiger erscheint, weil er immer stärker auf das Recht, so zu sein wie er ist, pochen muß. Er, der seine Taten nicht rühmen hören konnte, der seine Wunden nicht zeigen mochte, erscheint schließlich - barocke Dissonanz - als der Lobredner seiner selbst. Die Selbstverrenkung, die maßlose Selbstübersteigerung sind durch die menschliche Gebrechlichkeit dieses Gottes ebensowohl wie durch die Gebrechlichkeit der Welt bedingt. Coriolan, ein Naiver wie Othello, mochte dreinschlagen statt heilen. Er vergißt, daß es nicht darum geht, die Verirrten zu hängen, sondern sie zu verwandeln. Er selber steht am Schluß als ein Verwandelter da, eins mit sich selbst - aber in seiner Haltung der Welt gegenüber nun freilich hilflos und unsicher: Er spricht den Volskern, um sie zu begütigen, von der Beute, die er ihnen gebracht... Das Gegenbild Coriolans ist sein Weib Virgilia. „Mein lieblich Schweigen" nennt er sie. Sie ist still und zart, lebt nicht aus Grundsätzen, sondern, wie Desdemona, aus der sanften Sicherheit ihres natürlichen Wesens. Sie liebt das Leben als Leben - auf die Wunden ihres Mannes kann sie nicht stolz sein wie Volumnia, sie beweint sie. Während von ihrem Gatten gesagt wird, er wage, als ein Fühlender, mehr als sein fühllos Schwert (I 4), meint Virgilias Freundin, diese würde, wäre ihr Linnen so empfindlich wie ihre Finger, das Sticken aus Mitleid sein lassen (I 3). Und doch hat, das erweist sich in eben derselben Szene, die stille und feine Virgilia den festeren, sichereren Willen als ihr aufbrausender Gatte. Der läßt mehr als einmal sich bereden, sich aus seinem eigenen Willen herausschwatzen - als Virgilias Freundin bei ihr dasselbe versucht, scheitert sie. Einmal scheint Coriolan von der stillen Sicherheit seines Weibes angeweht, sie scheint leise in ihn eingetreten zu sein: Da wo er, nach der großen Katastrophe des dritten Akts, von ihr und Volumnia Abschied nimmt. Bin ich draußen, Sagt: Lebe wohl, und lächelt. So nehmen auch Brutus und Cassius voneinander Abschied. — When I am forth, Bid me farewell and smile. Seinen Freund und weiland Feldherrn bittet Coriolan: Sag den bangen Frauen, Beweinen Unvermeidliches sei Torheit, Sowohl, als drüber lachen (IV 1). So schöne und ruhige Worte findet der Gelassene, sonst so Unbeherrschte, in der Stunde seiner äußerlich tiefsten Erniedrigung. Auch dieses Drama Shakespeares ist voll von Kontrasten, Zwischentönen, 81

reidi an verschiedenartigen Figuren, und doch kreisen alle um denselben geheimen Mittelpunkt. Und wenn das jubelnde Mützenwerfen der römischen Bürger eher zu den Engländern der Shakespearezeit als zu Römern paßt, so weht in diesem Stück doch zugleich die herbe und klare Luft römischer Frühzeit. Coriolan ist die höchste Huldigung der englischen Renaissance an den mediterranen Geist genannt worden. Man hat festgestellt, daß er zu den am straffsten gebauten Stücken Shakespeares gehört, daß er einem klassischen Stil zuneigt, die „Mittellinie des Renaissancestils", den Höhepunkt am Schluß des dritten Akts deutlich ausprägend — und doch ist er zugleich voll barocker Elemente. Der Wortbarock der Reden, die scharfen Wendungen und Dissonanzen, die Motive der barocken Erlebniswelt und Denkgewohnheit: Willensbrechung, Konflikt von Sein und Erscheinung, Wesentlichkeit und Leere, Selbstverwirklichung und Selbstverlust, sie geben dem Stück das Gepräge. Ferner dominiert gerade im Coriolan stärker als in ändern eine Einzelfigur, ähnlich wie in manchen Dramen auch des deutschsprachigen Barocks, die nur um der Hauptfigur willen geschrieben scheinen. So gehört denn auch dieses Stück, wie Shakespeare überhaupt, der Renaissance und dem Barock an, und ragt zugleich über beide hinaus in die Sphäre reinen Menschentums, an der unsere Zeit ebenso starken Anteil hat wie jene Shakespeares.

MACBETH Nichts ist, als was nicht ist. Nothing is but what is not. Die Welt nicht in Ordnung: dies ist Grunderlebnis Hamlets sowohl wie Othellos, Brutus', Coriolans und Lears. In Macbeth aber sehen wir eine Gestalt am Werk, die als Stifter solcher Unordnung zu erkennen ist. Der Stifter des Bösen in die Mitte des Werks gerückt, nicht mehr handfest und eindeutig, fast Käsperlfigur wie in der Erscheinungsform Jagos, sondern zu voller Menschlichkeit ausgewachsen, tiefdimensioniert, in sich widersprüchlich, atmosphärisch von stärkster Ausstrahlung. Die Gegenkräfte aber, rings um ihn von den verschiedensten Nebenfiguren getragen, treten umso umfassender in Tätigkeit und überwinden in konzentrischem Gegenstoß den Tyrannen, der, anders als Caesar, wirklich zum Ungeheuer aufgeschwollen ist. Macbeth, Bezwinger der Empörungen, wird selber zum Empörer, schreitet nun, ein Gehetzter, „das Gemüt voll Skorpionen", von Verbrechen zu Verbrechen, und statt der erstrebten Sicherheit errafft er sich Vernichtung. Wenn Julius Caesar die Tragödie der Unsicherheit ist, wenn im Hamlet Vieldeutigkeit, im Othello Mißverstehen und im Coriolan scharfer Zwiespalt herrschen, so waltet im Macbeth elementares Chaos. Statt der strengen, klaren Luft, die das Römerdrama durchweht, haben wir im Macbeth den fiebrigen Wirbel. „Nimmer soll Instinkt mich führen", sagt Coriolan von sich, „Ich steh, als war ein Mensch sein eigner Schöpfer", und auch der Mutter, Volumnia, gegen deren Andringen Coriolan mit solchen Worten sich schützen möchte, ist der Staat wichtiger als das persönliche Geschick; Virgilia, die Gattin, in der andere, weichere Gefühle leben, hat eine innere Sicherheit und Ruhe des Wollens, um die Brutus' Weib Portia sie beneiden könnte. Im Macbeth aber sind die Dämonen mächtig. Dämonen, das sind die Süchte, die verborgenen Instinkte des menschlichen Innern, und das was im Spannungsgefüge der zwischenmenschlichen Beziehungen ihnen entspricht, was als unheilvolle Gelegenheit ihnen von außen entgegenkommt. In den Hexen hat Shakespeare diesen Dämonen sichtbare Gestalt gegeben. Es sind Weiber mit Barten, und ihre Rede lautet: „Schön ist wüst und wüst ist schön" — Töchter des Chaos. Chaos ist das Leitmotiv des Stücks, in den verschiedensten Sprachgebärden immer wieder neu ausgeprägt. Fair is foul, and foul is fair, sagen die Hexen in der Eingangsszene, und Macbeth, als er sich, noch ohne sie zu sehen, den Unheilsschwestern naht: So foul and fair a day I have not seen. „So wüst und schön sah ich noch keinen Tag" (I 3). Später hört man: „Die Uhr zeigt Tag, doch dunkle Nacht erstickt die Wanderlampe." „Ich weiß, es 83

ist *ne Müh, die Euch erfreut" (II 3). „Bevatert ist er und doch vaterlos." „Ich bin in dieser irdschen Welt, wo Schlimmes tun oft löblich ist und Gutes tun bisweilen gefährliche Tollheit heißt" (IV 2). Von Macbeth heißt es schließlich: „Doch ist's gewiß, es läßt sich seine zerfallene Sache (his distempered cause) nicht mehr schnallen in den Gurt der Ordnung" (V 2). In der erhitzten Bildersprache, die nicht nur der fieberwunde Krieger der zweiten Szene oder Macbeth selber spricht, die vielmehr diesem Stück überhaupt eignet, spürt man das Brodeln der dämonischen Kräfte, und wenn der verwundete Sergeant vom grimmigen Macdonwald, dem von Macbeth überwundenen Rebellen, sagt, daß der Natur Bosheiten, stets sich mehrend, um ihn schwärmten - The multiplying villanies of nature do swarm upon him so glaubt man den Ursprung der Hexengestalten im sprachlichen Bild mit Händen zu greifen. Chaotisch ist die Empörung des Anfangs, ist der Wahnsinn der Lady, ist vor allem Macbeths ganzes Tun. Schon Macbeths Süchte sind doppeldeutig. Groß möchtst du sein, Bist ohne Ehrgeiz nicht; doch fehlt die Bosheit, Die ihn begleiten muß. Was recht du möchtest, Das möchtst du rechtlich (holily), willst kein falsches Spiel Und willst doch unrecht Gut... (I 5). Aber die Zweideutigkeit von Macbeths Wollen ist noch tiefer angelegt, als sein Weib es sieht. Sie besteht nicht nur im Schwanken zwischen Zweck und Mitteln. Der Titanendrang des Menschen über sich selber hinaus, wie er in Prometheus, Macbeth, Faust, Wallenstein in Erscheinung tritt, ist an sich zweideutig: heilig und böse zugleich. „Nichts ist als was nicht ist." Der Mensch ist wesensmäßig ein solcher, der über sich selbst hinauswachsen, das Bestehende, sich selber und die Welt, überwinden will. Die Angleichung an Gott ist ein christliches Ideal (Matthäus 5, Vers 48). „König werden" heißt es bei Macbeth wie bei seiner Frau. Aber in diesem Wachsenwollen, das eigentlich ein Sichentfernen von sich selbst bedeutet, steckt doch zugleich auch ein Verabsolutieren seiner selbst. Macbeth und Wallenstein werden sich zum Selbstzweck, alles andere wird Ding, Werkzeug, Mittel. Der unstillbare Drang nach oben ist legitim und läßt einen Macbeth, einen Faust, einen Wallenstein in einem volleren und höheren Sinne Mensch sein als trägere Gemüter es sind, aber dieselbe Intensität, die in dem Streben der Titanen lebendig ist, läßt sie nicht von sich loskommen, fesselt sie an sich selber, der Drang wird zur Gier, an die Stelle der Vergöttlichung tritt die Vergötzung, der Erzengel wird Satan. Die Mythen lassen die von den Göttern am höchsten Erhobenen zugleich auch die von ihnen am härtesten Verstoßenen sein. Macbeth gehört zu den Auserwähhen; aber sein Höhendrang überschlägt sich vaulting ambition, which o'erleaps itself (I 7) - Macbeth verfällt der Ich84

Besessenheit und tritt damit in die Reihe der großen Unheiligen, wie Marlowes Faustus, der zu sich selber spricht: „Der Gott, dem du dienst, ist deine eigene Begier, in der die Liebe des Teufels wurzelt." The god thott serv'st is thine own appetite, Wherein is fix'd the love of Beelzebub. Göttliches und Teuflisches dumpf miteinander vermengt in Macbeths Streben nach Größe; und dazu nun Macbeths Wissen um seine Verantwortung, sein empfindliches Gefühl für das Prinzipielle, das kosmisch Gültige, sein Grauen vor dem Bösen mitten in der Verfallenheit an das Böse. Man hat behauptet, Macbeths Gewissensängste kämen nicht eigentlich aus dem Gewissen, sie seien mehr nur Angst vor den Folgen seines Tuns, Angst vor Rache. Solche Deutung verkennt, daß in der dumpfen Seele Macbeths beides, das Grauen vor der Sünde und die Angst vor der Strafe aufs innigste verknüpft sind. Auch hat dieser Duncan so mild Die Macht getragen, war im großen Amt So rein, daß seine Tugenden, wie Engel Posaunenzüngig, werden Rache schrein Dem tiefen Höllengreuel seines Mords, Und Mitleid, wie ein nacktes, neugebornes Kind Auf Sturmwind reitend, oder Himmels Cherubim, Zu Roß auf unsichtbaren Lüfterennern, Blasen die Schreckenstat in jedes Äug, Daß Tränenflut ertränkt den Wind (I 7). Solche Vision steigt nicht aus der bloßen Schulbubenangst vor Strafe, sie zeugt von dem Wissen um die geistige Tragweite des Verbrechens, um seine Verworfenheit vor Gott. Dieselbe primitive Verbindung von Grauen vor der Sünde an sich und Angst vor den Folgen für sich — und in welchem Menschen steckten nicht Reste solcher Primitivität? — spricht aus Macbeths Worten nach der Tat. Mir war als rief es: „Schlaft nicht mehr! Macbeth Mordet den Schlaf!" Ihn, den unschuldgen Schlaf; Schlaf, der des Grams verworrn Gespinst entwirrt, Den Tod von jedem Lebenstag, das Bad Der wunden Müh, den Balsam kranker Seelen, Den zweiten Gang im Gastmahl der Natur, Das nährendste Gericht beim Fest des Lebens. Stets rief es: „Schlaft nicht mehr!" durchs ganze Haus, „Glamis mordet den Schlaf!" und drum wird Cawdor Nicht schlafen mehr, Macbeth nicht schlafen mehr. (II 2) 85

Alle Titel, die Macbeth zuteil geworden sind, sind geschändet. Macbeths Heulen und Zähneklappern stammt aus dem Gefühl, Todsünde begangen zu haben, nicht aus der Furcht vor Strafe. Wie Hamlet, wie die Gestalten des barocken Dramas überhaupt spürt er im individuellen Geschehen die kosmische Tragweite. Der Schlaf der Welt ist gemordet. Wie Brutus, Hamlet, Othello läßt Macbeth sich durch Anstöße von außen verführen, die Tat zu tun, gegen die sein eigenes Gefühl sich sträubt. Schon daß er Empörer zu bekämpfen hat, ist geeignet, ihn zu vergiften. Die Atmosphäre der Verschwörung steckt ihn an, der Natur Bosheiten umschwärmen auch ihn, und wie so oft, ist der Besiegte geistig der Sieger: sein Uberwinder tritt in seine Fußstapfen. Dann kommt dazu die rasche Erfüllung der Wunschträume - „das Glück schien des Rebellen Hure" (12): auch dieses gilt für Macbeth - so daß der Gedanke, der Verwirklichung des letzten, höchsten Traums nachzuhelfen, Gewalt gewinnt in ihm - und das Gift, das sein Weib ihm einträufelt (immer wieder dieses Bild, im Hamlet, im Othello, im Macbeth), hilft die letzten Widerstände zerfressen. Auch die Lady selber, obschon bedeutend einfacher veranlagt als Macbeth, ist nicht ohne innere Widerstände. Frevlerisch und in unheimlicher Weise ahnungslos ruft sie die bösen Geister gegen sich selber zu Hilfe. Kommt, Geister, die ihr lauert Auf Mordgedanken, und entweibt mich hier, Füllt mich vom Wirbel bis zur Zeh, randvoll, Mit wilder Grausamkeit. Verdickt mein Blut, Sperrt jeden Weg und Eingang dem Gewissen, Daß kein zerknirschtes Pochen der Natur Den grausen Plan erschüttert, Rast macht zwischen Ihm und der Tat! Kommt an die Weibesbrust, Trinkt meine Milch als Galle, ihr Mordhelfer, Wo ihr auch harrt als körperlose Kräfte Auf Unheil der Natur! Komm, dicke Nacht, Verhüll dich mit dem trübsten Qualm der Hölle, Daß nicht mein scharfes Messer sieht die Wunde, Die es geschlagen; noch der Himmel, Durchspähend durch des Dunkels Vorhang, rufe: Halt! Halt! (15) Willensunterjochung, Vergewaltigung des Selbst auch hier, wie so oft im barocken Leben und in der barocken Kunst. Und wieder ist es nature, das innere Gefühl, das unterjocht wird, ganz wie bei Brutus, Hamlet, Othello, und Geister werden zu Hilfe gerufen gegen das eigene Gefühl, so wie auch Brutus, Hamlet, Othello im Namen des Geistes - „die Sache will's" - die Stimme des natürlichen Empfindens schweigen heißen. Bei Marlowe gerinnt 86

Fausts Blut, als er den Teufelspakt unterschreiben will, und Mephostophilis muß eine Feuerpfanne herbeischleppen, um es aufzutauen. Auch da also ist es die Natur, die dem Frevelwillen des Geistes Widerstand leistet und die künstlich gefügig gemacht werden muß. Für Shakespeare wie für Marlowe ist der Mensch nicht von Natur aus schlecht. Er geht nur in die Irre; der Geist, gefährliches, doppelwertiges Geschenk, stellt seine Forderungen, frevlerische ebenso wie göttliche, mit schneidender Schärfe und vergewaltigt das abmahnende Gemüt. Wenn die Lady das abmahnende Gefühl, so muß Macbeth umgekehrt den abmahnenden Geist unterdrücken. „Sieh, Auge, nicht die Hand" (I 4). Er, in dessen Sucht nach dem Königtum Geist und Trieb chaotisch sich durchdringen, fühlt, daß sein Werk aus dem Chaos geboren ist und Chaos schafft. Er glaubt aber im letzten selber nicht an das Chaos. Er glaubt nicht, daß ein Wald sich in Bewegung setzt, nicht, daß ein Mensch anders als vom Weib geboren sein kann, er weiß, daß Grün sich nicht in Rot verwandeln läßt (II 2). Er glaubt an eine feste, gültige Ordnung. Deshalb wird er irre an sich selber, als er das Werk der Unordnung schafft, und sucht nun krampfhaft sich zu sichern, durch Taten, durch Selbstüberredung - er befragt von neuem die Hexen, und sie geben ihm durch ihre trügerischen Orakel eine äußere Scheinsicherheit, die das Grab jeder echten Sicherheit ist. Hekate, der Hexen Göttin, spricht es deutlich aus: And you all know security h mortals chiefest enemy (III 5). Sicherheit ist des Menschen Erbfeind: Denn der Mensch ist seinem Wesen nach ein Unsicherer, und wenn er sich einbildet, sicher zu sein, verfällt er einer letzten Selbsttäuschung. Macbeth, in dem der an sich legitime Drang nach Größe, nach Macht lebendig ist, geht grauenhaft in die Irre. Das Bild der Macht und Größe erscheint ihm nur im Gewand äußerer Macht und äußerer Größe, gierig greift er nach beiden, um sie zu genießen. Seine unbewußte Imitatio Dei ist verstümmelt: er imitiert nur das Moment Gewalthaben, nicht das Moment Liebe, wo doch in der christlichen Vorstellung des allmächtigen und alliebenden Gottes beides untrennbar verbunden ist. So wird denn Macbeth auch nicht, wie der aus echter Verantwortung schaffende christliche Gott, zum Schöpfer, sondern zum Zerstörer. Er will höher hinauf, und reißt zuerst die ändern, dann sich selber in die Tiefe. Er will königliche Macht und bringt dem König und vielen ändern, Trägern und Schutzbefohlenen des Königreichs, den Tod, zuletzt seiner Gattin und sich selber. Er will Sicherheit, und führt das Chaos herauf, in der eigenen Brust, in der Seele seines Weibes, im ganzen schottischen Reich. Sein armes Land erschrickt vor sich selbst (IV 3), so wie er vor sich selber erschrickt. Er, der Sicherheit wollte, hat zuletzt gar nichts mehr 87

in der Hand, nicht einmal mehr einen Glauben; Macbeth landet beim Nihilismus, Ein wandelnd Schattenbild nur ist das Leben, Ein armer Komödiant, der auf der Bühn sich spreizt Sein Stündchen, und dann nicht mehr Vernommen wird: ein Märchen ist's, erzählt Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, Das nichts bedeutet. Er wollte das Höchste, er wollte alles, aber das All schlug um ins Nichts. Der Machtsüchtige wird zum Todsüchtigen. Das Sonnenlicht will schon verhaßt mir werden; OJ fiel in Trümmer jetzt der Bau der Erden! Auf! läutet Sturm! Wind blas! heran Verderben: Den Harnisch auf dem Rücken will ich sterben. Von Natur ein tapferer Kämpfer, bleibt er es bis zuletzt; aber der Gedanke des eigenen Untergangs bleibt ihm bis zuletzt peinlich, er möchte die Welt mit sich in den Abgrund reißen. Er hat nicht, wie er selber glaubt, den Sinn der Furcht verloren. Vergessen hab ich fast, wie Fürchten schmeckt. Es gab die Zeit, wo kalter Schaur mich faßte, Bei nächtigem Gekreisch; das ganze Haupthaar Bei einer schrecklichen Geschieht empor Sich richtete, als wäre Leben drin. Ich habe mit dem Graun zur Nacht gespeist; Entsetzen, meines Mordsinns Hausgenoß, Schreckt nun mich nimmermehr (V 5). Und wirklich bleibt er ruhig, als er die Nachricht vom Tode der Königin empfängt. Als aber einen Augenblick später ein Bote ihm meldet, daß der Wald von Birnam heranrücke, da fährt er auf: „Schuft und Lügner!" Und mit Macduff, der nicht vom Weib geboren, sondern aus dem Mutterleib herausgeschnitten ist, will er nicht kämpfen. Die metaphysische Furcht bleibt bei ihm bis zuletzt mit der persönlichen Todesfurcht verknüpft. Aber die Orakel, die ihm den Wahn der Sicherheit gegeben haben, geben ihm am Ende nur die Sicherheit des Untergangs. Da findet er sich mit einer letzten Wendung zu seiner eigentlichen Natur zurück, und geht, wie Richard III., tapfer kämpfend in den Tod. Sieger sind diesmal die Gegenkräfte. Freilich werden auch sie - gleich Fortinbras - erst zu zeigen haben, wie sie die Macht verwalten. Malcolm, Sohn

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des ermordeten Königs Duncan, sagt: „Wahrheit ist mir wie mein Leben lieb" (IV 3), nachdem er eben noch, mit Lügen üppig um sich werfend, sich selber verleumdet hatte: weil das von Macbeth heraufgeführte Chaos auch ihn in seinen Wirbel gezwungen. Macbeth selber hatte einst, als er doch schon den Keim des Aufruhrs und Verrats in sich trug, zu Duncan ein an sich sehr berechtigtes, an Coriolan gemahnendes Wort gesprochen: „Der Dienst, die Treue, die ich schulde, lohnt sich selbst im Tun." The service and the loyalty I owe, in doing it, pays itself (14). Auch Macbeth war zu reinem Erkennen durchaus fähig - ja seine Einsichten übertreffen an Tiefe und Kraft die aller ändern im Stück. Aber Höllenqualm hat ihn verdunkelt, Gift, Dämonen haben sein reines Erkennen entkräftet. Wer bürgt uns, daß es bei den ändern nicht ebenso sein wird? Niemand. Shakespeare gibt uns auch hier keine Sicherheit, kann sie nicht geben. Aber er darf doch das Gegenbild zu Macbeths falschem Königtum mitten in dem chaotischen Geschehen aufleuchten lassen. Nicht Duncan ist sein Träger - er war nur mild und gnädig, ihm mangelte die echte königliche Kraft, deshalb auch die nicht abbrechende Reihe von Empörungen gegen ihn. Duncans Königtum war defizient wie das Macbeths, nur nach der entgegengesetzten Richtung. Das Bild des echten Herrschers erscheint vielmehr im englischen König, von dem Malcolm und ein Arzt erzählen. Malcolm: Sagt, geht der König aus? Arzt: Ja, Herr. Ein Schwärm von armen Leuten harrt Auf seine Hilfe; ihre Krankheit trotzt Der großen Müh der Kunst. Doch seine Hand - Solch eine Segnung hat der Himmel ihr verliehn Heilt gleich, wen sie berührt. Malcolm: Ich dank Euch, Doktor. Macduff: Was für ein Leiden ist's? Malcolm: Es heißt das Übel. Ein wundertätig Werk vom guten König, Das ich ihn oft, seit ich in England bin, Verrichten sah. Wie er's von Gott erfleht, Weiß nur er selber. Seltsam Heimgesuchte, Voll Schwulst und Schwären, kläglich anzuschaun, An denen alle Kunst verzweifelt, heilt er, Ein Goldstück ihnen um den Nacken hängend Mit heiligem Gebet. Und nach Verheißung Wird er vererben auf die künftgen Herrscher Die Wundergabe. Zu der heiigen Kraft Hat er auch himmlischen Prophetengeist... (IV 3) 89

Die Sanctity, die der Himmel dem echten König verleiht, ist die Heilkraft und die Gabe der Prophetic. Denn er ist der Vater seines Volkes, soll Gebrechen heilen und den Weg ins Morgen weisen. Wirklich mächtig ist der, der dem ändern etwas zu schenken, der den ändern zu fördern vermag. Wer vergewaltigen muß, tut damit dar, daß er keine wirkliche Macht über den Menschen hat. Vergewaltigung ist die Fratze echter Macht. In Macbeth ist sie in ihrer ganzen grausen Zerstörungssucht zur Erscheinung gebracht. Das lichte Gegenbild bleibt jenseits der Bühnenwirklichkeit, es nimmt, gleichsam als Verheißung, nur in der Vorstellung des Hörers Gestalt an. Aber daß es nicht um Zufälliges, sondern um Prinzipielles geht, deutet Shakespeare an: die Kraft zu heilen soll auf die nachfolgenden Könige vererbt werden. Nichts ist, als was nicht ist. Der Traum ist stärker als die Realität. Macbeth erfährt es in grauenhafter Weise. Erlebte Greuel Sind schwächer als das Graun der Einbildung. Mein Denken, drin der Mord doch nur erst Spuk ist, Erschüttert meine innre Mannheit so, Daß jede Lebenskraft im Wahne schwindet Und nichts ist, als was nicht ist. Present fears Are less than horrible imaginings; My thought, whose murder yet is but fantastical, Shakes so my single state of man that function Is smother'd in surmise, and nothing is But what is not (I 3). So hat Banquos erst kommendes Königtum mehr innere Wirklichkeit als Macbeths unfruchtbar gegenwärtiges Herrschen. Und das nur in unserer Phantasie stehende Bild des heilenden Königs überwindet den Schrecken des auf der Bühne Sichtbaren. Nicht nur der Theaterbesucher, auch Malcolm, der Macbeth auf dem Throne ablöst und dem das letzte Wort des Spiels gehört, trägt dieses Bild in sich. Nichts ist, als was nicht ist. Nicht die Wirklichkeit ist das wahrhaft Gültige, sondern das was werden will. Macbeth weiß es recht wohl. Der unwirkliche Traum, König zu sein, bestimmt all sein Handeln. Aber er hat, anders als die Lady, Gewissen und Phantasie genug, nicht nur den Erfolg, sondern auch das Grauen, das mit ihm verbunden ist, vorwegzunehmen. Die Königsgabe der Prophetic ist ihm nicht fremd. Er ist so wenig wie Hamlet ein bloßer Nervenkranker und Willenskrüppel, dessen Wollen unermeßlich und dessen Wille schwach ist. In echt barocker Weise sind Machtgier und religiöse Ergriffenheit dissonierend in ihm lebendig. Wenn Macbeth sich selber 90

Schwächling schilt, so ist es, wie bei Hamlet, der Geist, der das widerstrebende Gemüt aufhetzen will. Wenn sein Weib ihn „Willenslahmer" nennt, infirm of purpose, so ist es das Unverständnis der anders Gearteten. Für sie sind „Schlafende und Tote nur wie Bilder", von der Wirkkraft dieser Bilder ahnt sie nichts: „nur ein kindisch Auge scheut den gemalten Teufel" (II 2). Lady Macbeth hat, wie mit Recht betont worden ist, wenig Phantasie, und prinzipielles Denken ist ihr, der Frau, ferner als dem Mann. Sie traut sich die Fähigkeit zum Mord ohne weiteres zu - als sie dann aber vor dem schlafenden König steht, da kann sie nicht; sie glaubt eine Ähnlichkeit mit ihrem Vater zu sehen: sie, die Macbeth the eye of childhood, „das Auge der Kindheit" vorwarf. Erst die Gegenwart der lebendig atmenden Wirklichkeit und die Beziehung zum eigenen Lebens- und Liebesbereich ergreifen sie, ihre Vorstellungskraft reichte nicht hin. Sie reicht auch nicht, die Rückwirkung des Mords auf Macbeth vorauszusehen — vor der schaurigen Wirklichkeit aber bricht dann die Lady zusammen. Während Macbeth diesseitige und jenseitige Welt in heftigem Widerstreit in sich trägt, verschreibt sich die Lady zu Anfang ganz dem Diesseits, dichtet fest sich ab gegen Grauen, Mitleid, Gewissensbisse — nachher, im Umschlag, verliert sie sich ganz an das Jenseits, die Schranken werden durchbrochen, überflutet, das Unbewußte überschwillt das Bewußtsein, sie endet im Wahnsinn, im Selbstmord. Das Bild der nachtwandelnden Lady prägt sich unverlierbar ein; sie sucht umsonst die Blutflecken wegzuwaschen; immer, auch beim Schlafen, muß ein Licht neben ihr brennen, denn sie erträgt die Finsternis nicht, der sie sich doch ausgeliefert hat und der sie unentrinnbar verfallen ist. Macbeth aber, der das Grauen voraussah, erträgt es nun, da es da ist, und geht seinen Weg weiter. Eine reizbare Phantasie macht ihn zum Visionär, aber er gestattet dem Jenseits nicht, seine ganze Persönlichkeit zu ergreifen. Weder dem Wahnsinn noch dem Selbstmord gibt er ein Recht über sich, er will, nachdem er einmal die Gewissensrufe abgewürgt hat, nicht „den römischen Narren spielen". Macbeth, ebenso empfindlich für Gewissensanrufe wie König Claudius, wird wie dieser bis an die Schwelle der Einkehr geführt. An die Stelle des von Hamlet veranstalteten Schauspiels tritt bei diesem noch mehr im Ursprünglichen wurzelnden Menschen die eigene Vision. Schon der vor der Tat halluzinierte blutige Dolch erschreckt ihn, will ihn warnen. Nach der Tat hört er den Ruf vom gemordeten Schlaf, und nach Banquos Ermordung erscheint ihm der Gemordete mit all seinen Todeswunden. Blut ward auch sonst vergossen, schon vor alters, Eh menschlich Recht den milden Staat geschaffen, Ja, und auch später mancher Mord vollbracht, Zu gräßlich für das Ohr. Da war's noch so, 91

Daß, war das Hirn heraus, der Mann auch starb, Und damit gut. Doch heutzutage stehn sie wieder auf Mit zwanzig Todeswunden an den Köpfen. Und stoßen uns von unsern Stühlen: das Ist seltsamer noch als solch ein Mord (III 4). And push us from our stools - aber Macbeth läßt sich nicht von seinem Stuhle stoßen. Anders als in der alten heidnischen Zeit, wo der Totschläger mit ruhigem Gewissen weiter leben durfte, stehen jetzt die Toten auf und treten als ein blutiger Vorwurf vor unser Auge. Es ist ein Aufruf zum Selbstgericht, zur Reue, zur Umkehr - von Claudius klar, von Macbeth dumpf als solcher aufgefaßt - aber beide reagieren in der falschen Richtung, sie fliehen aus der Erweichung in die Verhärtung. Macbeth gerät in ein immer weiter fressendes Morden, das auch Frauen und kleine Kinder erfaßt, und in dem Wahnsinn dieser „Schutzmorde" scheint, wie bei Meyers Richterin, zugleich krampfhaft abgeleiteter Selbstbestrafungsdrang am Werk zu sein. Zuletzt führt Macbeths Wüten auch real seinen Untergang herauf, es ist statt Selbstsicherung, wie es sollte, in Wirklichkeit fortschreitende Selbstzerstörung. „Ihr entfremdet mich meinem eignen Selbst", sagt Macbeth zu den an seine Tafel geladenen Gästen, die den Geist des toten Banquo nicht sehen. In Wirklichkeit hat er sich selber sich entfremdet, indem er, anders als der ruhig prüfende Banquo, sich „des Dunkels Schergen" überlieferte. Wie im Othello, wo der Held sich zum Tiere macht, ist auch im Macbeth immer wieder von der Tierwelt die Rede; das Flattern, Krächzen und Kreischen nächtiger Vögel wird vernommen. Wie in Hamlet und Othello ertönt der Schrei nach „Licht", und Macbeths Wort, er beginne schon des Sonnenlichtes müd zu werden, steht in gespenstischem Kontrast zu der hilflos flackernden Kerze der Lady. An vielen Stellen taucht, wie im Julius Caesar, das Motiv des Schlafes auf. Lähmend fällt er über die Unschuldigen (II l, 2), die Schuldigen aber, die ihn morden, können nicht mehr schlafen; „Dir fehlt die Würze aller Wesen, Schlaf", sagt die Lady zu ihrem Gatten (III 4), und umsonst will Macbeth auch den Schlaf noch zwingen: „Ich will die Sichrung doppelt sicher machen ... Dann sag ich zu der bleichen Furcht: du lügst! und schlafe trotz dem Donner" (IV 1); die Lady muß im Schlaf noch umgehen. „Eine große Zerrüttung der Natur, die Wohltat des Schlafes genießen und zugleich die Geschäfte des Wachens verrichten", sagt der Arzt (V 1). Die Natur ist zerrüttet, die „sichere und festgegründete Erde" (II 1) fiebert, und ein Scheinwunder - der wandelnde Wald, der ungeborene Mensch - muß die äußere Ordnung wiederherstellen. Die wahre Überwindung des Chaos aber, die Wiederaufrichtung der wirklichen Ordnung ist nur durch das eigentliche Wunder möglich: daß der König - und das Bild 92

des Königs steht im großen Drama, wie im Märdien, für den Mensdien überhaupt - aus einem Gewalttäter zu einem wahrhaft Mächtigen wird, wie jener Eduard von England, der die Krankheit, das Chaos zu heilen die Kraft und die Gnade hat.

KÖNIG LEAR Wer kann mir sagen, wer ich bin? Im König Lear geschieht zunächst das Umgekehrte wie im Macbeth: Der Mächtige legt die Macht freiwillig nieder. Was Macbeth, trotz heftiger Angst- und Schreckensgefühle·, verbrecherisch sich zu erraffen sucht und wonach auch im König Lear Edmund, Goneril, Regan gierig streben, der alte König will es von sich tun. Warum? Er selber gibt zwei Gründe: „Von unserm Alter Sorg und Müh zu schütteln, sie jüngrer Kraft vertrauend, während wir zum Grab entbürdet wanken." Und: „Daß künftgem Streite heut begegnet werde." (I 1). Keines der beiden Ziele wird erreicht. Der König schafft sich durch die Thronentsagung tieferen Kummer und ärgere Mühen, als er sie je kannte, und sehr bald spricht man auch von einem drohenden Kriege zwischen den Thronfolgern (II 1). So trifft das Gegenteil des von Lear Erwarteten ein. Aber nicht erst dieser Ausgang zeigt den Ungrund von Lears Gründen, die Doppelmotivierung selber ist verdächtig. Auch Hamlet nennt mehr als einen Grund für sein Zögern - den eigentlichen kennt er nicht. Wer sein Tun doppelt motiviert, der spürt, daß keines der Motive für sich allein die wahre Kraft hat. Das wirkliche Motiv liegt unerkannt in der Tiefe. Dem Publikum aber bringt Shakespeare dieses wirkliche Motiv zu Gehör: Lear verbindet mit der Machtentsagung die Frage nach der Liebe. Er will seine Macht verschenken um Liebe. Aber so sehr hat die lebenslange Ausübung der Macht den König verbogen und verkehrt - er selber spricht später von der Verrenkung seines Wesens (I 4) - daß er auch die Liebe noch gewaltsam abpressen, daß er sie in Worten sich verbürgen lassen will. Die älteren Töchter, Goneril und Regan, antworten ihm mit einem Wortschwall; Goneril recht phantasievoll, während Regan in der ersten Rede schon ihre ärmlichere Natur bekundet: sie kann die Schwester nur mengenmäßig überbieten, ähnlich wie später bei der Beschneidung von Lears Gefolgschaft, wo sie von 50 auf 25 Ritter und dann von fünf auf gar keinen hinuntergeht, oder bei der Festsetzung von Kents Strafe, die sie auch nur verdoppeln und versechsfachen kann. Cordelia aber, die Jüngste-Beste wie im Märchen, darf ihm keine Antwort geben; nicht nur weil die Schwestern schamlos die Worte verbraucht und beschmutzt haben, so daß sie sie nicht mehr in den Mund nehmen kann, sondern weil sie weiß, daß Liebe überhaupt nicht aussprechbar ist. Love, and be silent. „Was soll Cordelia tun? Sie liebt und schweigt." Sie fühlt, daß unter allen Dingen die Liebe am allerwenigsten mit Gewalt erpreßt werden kann: was doch ihr Vater, kindisch, gerade jetzt zu tun versucht, indem er Schuldscheine sich unterzeichnen läßt und Preise setzt auf die Liebe seiner Töchter. Echte Liebe muß frei sich verschenken, versichern 94

kann man sich ihrer nicht, urkundlich bestätigen lassen kann man sich nur Pflichten, und so antwortet denn Cordelia, deren Liebe beleidigt ist, sie liebe ihren Vater „nach Pflicht". Lear, der, obsdion er die Gewalt von sich abzutun das Bedürfnis fühlte, auch der Liebe noch mit Gewalt sich versichern will, erträgt diese entschlossene Absage nicht und nimmt wider sein besseres Gefühl und wider den Einspruch seines besten Vasallen den Wortprunk, die Scheinliebe der älteren Töchter entgegen, Cordelia verstößt er. Die angstvolle Gier nach Sicherheit, von der Macbeth besessen ist und die sich im Macbeth-Ora.ma. in ihrer ganzen Sinnlosigkeit dartut, greift in Lear über auf den Bezirk der menschlichen Beziehung, und sie erweist sich hier, im Bereiche der Liebe, als ebenso ohnmächtig wie dort, im Bereich des Schicksals. Den letzten Dingen gegenüber gibt es keine absolute Sicherheit. Am verläßlichsten noch ist die Stimme des Herzens, sie ist es, welche die relativ größte Sicherheit gewährt. So fühlt Lear zu Cordelia sich hingezogen, sie ist seine Lieblingstochter - und er verstößt sie doch, einer Konstruktion seines verrenkten Geistes gehorchend. Hier gleicht er Hamlet, der sein unmittelbares Gefühl zu unterdrücken und der Forderung des Geistes zu genügen sich anstrengt. Cordelia aber, die Verstoßene, erlangt gerade das, was Lear ersehnt und vergeblich sich zu ertrotzen sucht, und sie erlangt es eben durch die Verstoßung: Frankreichs König schenkt ihr seine Liebe, er liebt sie um ihrer selbst willen, während der unechte Bewerber, der Fürst von Burgund, dem es um die Erbin ging, zurücktritt. Lear hat Cordelia in die Isolierung gestoßen - „Und wie ein Fremdling meiner Brust und mir sei du von jetzt auf ewig" - aber die Isolierung erst schenkt Cordelia die echte Beziehung, während jede unechte sich verflüchtigt. Sie schenkt ihr den Gatten, der ihrer wert ist, und sie läßt sie, die Freie, schließlich auch den wirklichen Weg zu Lear finden und ihn den Weg zu ihr und ihrer Liebe. In gewissem Betracht erscheint Cordelia wie eine weibliche Spielform Coriolans. Wie er könnte sie sprechen: Ihr verbannt nicht mich, ich verbanne Euch, wie er, nur weicher, gelöster, weiblicher, kann sie gerade als Verbannte ihre schönste Heiltat vollbringen, die sie selber, wie es auch Coriolan geschah, in den Untergang zieht. Der König Lear beginnt wie ein Märchen. Nicht nur die Gruppenbildung: die gute jüngste Tochter und die bösen älteren ist die des Märchens, auch die Liebesbefragung und die befremdende Antwort der Jüngsten sind Märchenzüge. Shakespeare hat sie in seinen Quellen, die sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, vorgefunden und nicht getilgt, sondern im Gegenteil kräftig ausgeformt, ohne Scheu vor der „Unwahrscheinlichkeit" und Vernunftwidrigkeit einer solchen Eingangsszene; genug, daß sie die überpersönliche Gültigkeit der mit ihr einsetzenden Handlung fühlbar werden läßt, weit stärker als eine individualisierende Gestaltung es zu tun ver95

möchte. Was hier erzählt wird, eine Mär von Gewalt und Liebe, gehört allen Zeiten und Räumen an. Die Gewohnheit des Befehlens und die Sehnsucht nach Liebe durchdringen sich in diesem König. Und was ist der König, im Märchen wie im Drama, anderes als ein Bild des Menschen? König Lear, das ist der Mensch: ein Gewalttäter und ein Liebedürstender. Ein Gewaltträger, der doch im tiefsten der Gewalt mißtraut, der sie von sich tun möchte und nicht auf sie verzichten kann. Ein Liebender und Liebebedürftiger, dem sich die schönste Regung, der richtigste Entschluß ins Gegenteil verkehren, weil er als Handelnder den Gewohnheiten der Gewalt und der Anerkennung des Scheins verfallen ist. In seinen Töchtern erscheinen die in Lears Seele vereinigten Elemente isoliert, gleichsam personifiziert. Machtweib und liebende Dulderin: das dem europäischen Barock vertraute Gegensatzpaar ist hier als eine Entfaltung von Lears Ich verankert im Gefüge des Ganzen. Manches, was in Shakespeares späten Romanzen leicht und spielend vor sich geht, klingt in den Tragödien seiner mittleren Zeit vor; aber wenn es dort im Spiel geschieht, so vollzieht es sich hier - und in diesem Sinne sind die Tragödien als realistisch zu bezeichnen - in schwerem, leidenschaftlichem Ringen. Prospero, ohne daß ein innerer Kampf uns gezeigt würde, zerbricht und vergräbt seinen Zauberstab und gibt sich ganz in die Hand seiner Nächsten. Auch Lear möchte ähnliches, auch er zerbricht seine Macht und hofft auf Liebe, auch er handelt aus der Sehnsucht, vertrauen zu dürfen. Aber - und nun verläßt Shakespeare, anders als dann im Sturm, entschlossen die Form des Märchens — Lear vermag die Tat nicht rein zu vollziehen; die Schlacken eines langen Lebens, eines Lebens des unbekümmerten Herrschens, kommen zur Wirkung. Prospero ist Figur, Lear ein von der Zeit und der Art seines eigenen Verhaltens geprägtes Individuum, die Vergangenheit hat Macht über ihn. Wenn er scheitert, so liegt es nicht nur an der Bosheit der ändern, er selber legt von vornherein den Grund dazu. Verrenkung und Verkrampfung lahmen seinen Versuch, sich zu befreien, sie lassen diesen Versuch, von außen gesehen, zur Farce sich verzerren. Ihm selber aber geht nun die Welt in Stücke. Wie Hamlet wird er wahnsinnig; bei ihm, dem Naiven, Unmittelbaren, ist es nicht, wie bei jenem, gespielter Wahn, sondern wirkliche Zerrüttung; aber die Grenzen sind bei beiden fließend: Hamlets Spiel hat Zwangscharakter, und Lears Wahn ist geistiger Art, er entwickelt sich sinnvoll aus der ungeheuerlichen geistigen Erfahrung, die Lear macht, und er ist heilbar. Nicht sein erster Befreiungsversuch bringt den König der Wirklichkeit nahe, sondern erst dessen Scheitern. Das Scheitern Lears läßt ihn nicht nur sich selber verlieren - im Wahnsinn, einer der vielen Formen des barocken Selbstverlusts - er läßt ihn zugleich sich finden. Sich und die ändern, sich und die Welt. Jetzt erst erkennt er die Menschen: Goneril und Regan, Cordelia, 96

Kent, sidi selber. Jetzt erst erkennt er den Menschen. Reason in madness! sagt Edgar: „Vernunft in Tollheit" (IV 6). Von der Frage „Bist du meine Tochter?", die Lear an die ihn beleidigende Goneril richtet, über jene andere: „Wer bin ich?" - Who is it that can tell me -who I am? (I 4) - gelangt Lear, im Angesicht des nackten Edgar, bis zu der grundsätzlichen Problemstellung: Was ist der Mensch? „Ist der Mensch nicht mehr als das? Seht ihn genau an! ... Ha, drei von uns sind Flunkerei. Du bist das Ding an sich. Ohne Aufputz ist der Mensch nichts weiter als solch ein armes, nacktes, zweizinkiges Tier wie du. Fort, fort, erborgtes Zeug! Kommt knöpft hier auf." Und nun beginnt Lear, in einer Zwangshandlung, sich die Kleider vom Leibe zu reißen: eine krampfhafte, im Kern berechtigte Reaktion gegen die Gewohnheiten seiner Vergangenheit; er möchte nur noch Mensch sein, durch nichts gezwungen und durch nichts verfälscht. Is man no more than this? Consider him well ... Ha! here's three on's are sophisticated; -thou art the thing itself; unaccommodated man is no more but such a poor, bare, forked animal as thou art. Off, off, you lending!.' Come; unbutton here. Man hat mit Recht betont, daß Lears Entwicklung nicht eigentliche Reifung ist, sondern vollkommene Wandlung (Schücking); aber der Schluß, daß Lear wesentlich nur die Geschichte einer Zerrüttung, einer Zersetzung sei und daß die neuen Einsichten und die neue Haltung die Bedeutung von bloßen Nebenerscheinungen hätten, geht doch fehl. Das Barock ist seinem Wesen nach dualistisch, alle Potenzen sind bereit, in ihren Gegensatz sich zu verkehren, und je krasser und schlagartiger der Übergang, desto wirkungsvoller. So steht auch im Lear die Gewinnung des echten Selbst unmittelbar und gleichberechtigt neben dem fortschreitenden Selbstverlust. „Vernunft in Tollheit". Wenn in Macbeth der Ausbruch des Chaos sich darstellt, so ist Verkehrung das Grundmotiv des Lear; in engem Zusammenhang mit ihr stellt sich das Problem der Identität, des Identitätsverlusts und damit auch das der Selbsterkenntnis und der Erkenntnis überhaupt. Von einer Verkehrung nimmt die Handlung ihren Ausgang: Lear tut das Gegenteil von dem, was sein Herz, sein natürliches Gefühl ihm rät; er verstößt die echte Tochter und erhöht die falschen, er will Liebe und wirkt Gewalt. Und in einer Verkehrung mündet die Handlung, nur ist sie diesmal mit positivem Vorzeichen versehen: Der Wahn birgt Vernunft, sich selber verlierend findet Lear sich selber, der Verstoßene erst, der Beziehungslose gewinnt die echten Beziehungen, ähnlich wie Cordelia. So ist Verkehrung an sich nicht gut und nicht böse, sie ist, wie auch die im Barock so bedeutungsvolle Maske, moralisch indifferent; sie kann ebenso gut Verrenkung bedeuten wie Bekehrung. Im Lear erscheint sie in beiden Gestalten, besonders machtvoll zunächst als erschreckende Verkehrung der Natur und der natürlichen Verhältnisse. Die Töchter, der Sohn richten sich gegen den Vater; nicht nur Lear, auch Gloster verstößt gerade das ihn liebende Kind. 97

Die Verstoßenen aber, und da weist uns die Verkehrung sogleich ihr anderes Gesicht, werden zu Heilenden, zu Heilbringern, Cordelia heilt Lear, Edgar heilt Gloster. Gegen die heillose Form der Verkehrung, gegen die Verrenkung der Natur schleudert Lear seine Flüche. So wie Macbeth den Schlaf der Welt getötet zu haben vermeint, so sieht Lear in der Unnatur seiner Töchter die Natur überhaupt geschändet. Der unnatürliche Zustand Edgars - eine Weile darauf glaubt Lear in ihm gerade die eigentliche Natur zu erkennen — scheint ihm durch dea Verrat von Töchtern herauf geführt: „Nichts hätte Natur zu solcher Niedrigkeit hinabstoßen können, wenn nicht seine lieblosen Töchter" (III 4). Das Weib, von engelhaftem Ansehn, erscheint ihm in seinen älteren Töchtern zum Teufel entstellt. Albanien spricht von „Teufel in Weibsgestalt" (IV 2). So soll denn auch ihr äußeres Gesicht sich entstellen, die junge Stirn soll runzelig werden (der Fluch knüpft folgerichtig an Gonerils Selbstentstellung durch ihr Stirnrunzeln an), und die Göttin „Natur" - ein häufiges Wort in Lear - wird angerufen, Gonerils Schoß auf immer unfruchtbar zu machen (I 4). In dem Rasen seines Wahnsinns wird Lear das Weib überhaupt zum Bild der Verkehrung, oben Mensch, unten Tier, oben Engel, unten Teufel. Vom Gürtel nieder sind's Zentauren, Wenn oben auch ganz Weib. Nur bis zum Gürtel sind sie Göttern eigen, Das Untre ist den Teufeln, Ist Hölle, Finsternis, ist Schwefelpfuhl ... (IV 6). Dieses entsetzliche Bild der Frau versinkt für Lear erst angesichts der Lichterscheinung Cordelias. Zweimal läßt Lear die Verkehrung Gebärde werden, und wiederum erscheint sie in ihrer doppelten Bedeutung. Der Vater kniet vor der Tochter. Im Hohn vor Regan (II 4), in echter Verehrung vor Cordelia: „Bittst du um meinen Segen, will ich knien und dein Verzeihn erflehn" (V 3). In der Wortsphäre ertönt das Motiv durch das Stück hindurch immer wieder, und in den verschiedensten Gestalten: „Das Alter kehrt zur Kindheit" (I 3, Goneril), „so arm als der König" (I 4, Kent), „eine hübsche Geschichte langweilig erzählen" (mär curious tale in telling it, I 4), „seit du deine Töchter zu deinen Müttern machtest" (I 4, Narr), „Vor rascher Freude weinten sie, und ich, ich sang vor Gram" (ebenso), „Diese Prophezeiung wird Merlin machen; denn ich lebe vor seiner Zeit" (III 2, Narr), „Am Morgen wollen wir zu Abend essen" (III 6, Lear). „Wer grausam sonst, gab nach" (III 7, Gloster). Der Narr erzählt von einem, der „aus lauter Güte seinem Pferd das Heu mit Butter bestrich" (II 4), Edgar ißt als armer Tom Kuhmist für Gemüse (III 4), der böse Feind verfolgt ihn mit der Stimme der Nachtigall (III 6). Im Spiegel des Wahnsinnsspiels läßt Edgar die Verkehrung, der die Realität 98

verfallen ist, grell sichtbar werden; und der Narr wird nicht müde, in tausend höhnischen Bildern und Vergleichen den Verrenkten und Verrenkenden ihre Verrenkung zum Bewußtsein zu bringen. Wenn Lear die Göttin Natur bittet, die junge Stirn Gonerils durch Runzeln zu entstellen (I 4), so weiß der Narr, daß der Mensch diese Selbstentstellung freiwillig besorgt: „Denn noch nie gab's eine schöne Frau, die nicht vorm Spiegel Grimassen schnitt" (III 2). In der scharfen Lust, die naturgegebene Form zu ändern, und sei es durch Verzerrung, ja durch Zerstörung, äußert sich, flackernd und entstellt, ein echtes Bedürfnis des menschlichen Daseins. Der Mensch fühlt sich berufen, sich selber zu gestalten; er fühlt sich getrieben, etwas aus sich zu machen. Nicht zu bleiben, was er von Natur aus ist, sondern sich zu wandeln, sich zu verwandeln. Die Grimasse ist die Zerrform der Verwandlung - sie erhält ihre Rechtfertigung aus der Notwendigkeit, die Verwandlung zu versuchen, selbst auf die Gefahr des Abgleitens hin. Verwandlung ist die wahre, die leuchtende Gestalt der Verkehrung. So wie, für den Barock und für alle Mystik, Selbstverlust Voraussetzung ist für den Gewinn des wahren Selbst, so wie erst der Verrückte zum Zentrum seines Wesens und des Seins überhaupt gelangt, wie erst der Blinde die Wirklichkeit zu sehen beginnt - „Ich strauchelt', als ich sah", sagt der geblendete Gloster (IV 1) - so ist Verkehrung, Möglichkeit der Verkehrung und Drang zur Verkehrung Voraussetzung und Gewähr der Fähigkeit zur Verwandlung. Die lichte Form der Verkehrung erscheint nicht nur in Edgar und Cordelia, die denen, welche sie verstoßen haben, Gutes tun und sie beweinen, statt ihnen zu grollen, sondern ebenso auch in Kent und in Cornwalls Diener. Auch sie handeln gegen Natur und Gewohnheit. Der Geist, der so oft das tiefere Empfinden vergewaltigt, erwürgt, verdunkelt - so in Brutus, Hamlet, Macbeth, Lear, Othello - er vermag hier die niedere Natur des Menschen zu erhellen, zu erhöhen: gegen seinen eigenen Vorteil tritt Cornwalls Diener aus den trägen Gewohnheiten seines Standes heraus und lehnt sich gegen seinen frevelnden Herrn auf — der fürstliche Vasall aber erniedrigt sich zum Knecht, um dem Toren, der ihn verbannt hat, nahe bleiben und ihm dienen zu dürfen. An Stelle der primitiv natürlichen Reaktion des Verbannten: Rache - in den Königsdramen so oft dargestellt - tritt die geistige Verantwortung: zum Rechten sehen. Kent, der verbannte Kent, der in Verkleidung Nachfolgte dem ihm feindgesinnten König Und Dienste tat, die keinem Sklaven ziemten (V 3). Die äußere Verkleidung ist Sinnbild für die Fähigkeit des Menschen, etwas anderes aus sich zu machen, als er von Natur aus ist. 99

Kent, der sich verkleidet und fremden Tonfall borgt, „der meine Red entstellt, um dort zu dienen, wo man mich verdammt", löscht sich aus, wechselt die Identität, zerstört die Gleichheit mit sich selber: / raz'd my likeness (I 4). Ähnlich löscht Edgar seinen Namen (My name is lost, V 3), er wirft sich das entstellende Kleid des Wahnsinns um und spannt so Schein und Sein noch schärfer auseinander als Kent. Beide aber zerstören nur das äußere Bild ihres Selbst, ihr wahres Sein hält um so fester stand. Bei Lear und Gloster ergreift der Selbstverlust die Substanz selbst. Edgars Wahnsinn bleibt ein Spiel, Lear aber verliert wirklich sich selber, seine Person geht in Brüche, verliert die Kontinuität, er wird ein anderer. Edgar und Kent wechseln nur äußerlich, Lear aber wechselt wirklich die Identität. Jedoch verliert er damit nicht, wie Goneril ihm vorwirft, sein wahres Sein - these dispositions -which of late transform you from what you rightly are (I 4) - er geht den Weg einer echten Wandlung. Die Selbstverneinung steigt bei ihm aus der Tiefe seines Wesens, sie arbeitet im Unbewußten und ergreift sein volles Dasein. Gloster, rationaler und weniger vital als der König, verfällt nicht dem Wahnsinn, sondern dem Todesentschluß. Auch bei ihm wirkt der Wille zur Selbstauslöschung auf der Ebene der Realität, nicht auf der des Spiels wie bei Edgar und Kent. Aber seine Substanz hat nicht die Tiefe und Mächtigkeit, wie wir sie bei Lear sehen, das innere Gefüge der Person wird von der Selbstverneinung nicht ergriffen, durch bewußten Entschluß will Gloster seinem Leben ein Ende machen. Einen Ansatz zu dieser Form der bewußten Selbstverneinung sehen wir auch bei Lear, da, wo er sich dem Wüten des Sturms, der Blitze preisgibt: „Versengt mein weißes Haupt!" Und, in jener bei Shakespeare und im Barock überhaupt so oft und so notwendig eintretenden Steigerung ins Allgemeine, richtet sich sein Vernichtungswunsch nicht nur gegen sich und seine Töchter, sondern gegen den Menschen überhaupt: „Zerbrich die Formen der Natur, vernicht auf einmal alle Keime, die den undankbaren Menschen machen" (III 2). Wie bei Macbeth schlägt hier der Allmachtsrausch um in Nihilismus. Aber in der tiefsten Verzweiflung und Zerrüttung bildet sich eine neue, richtige Haltung schon vor. Es geht Lear hier nicht mehr um Rache, sein Vernichtungswunsch geht nicht mehr primär gegen die Töchter, und wenn er Regen, Wind, Blitz, Donner knechtische Helfer seiner verruchten Töchter schmäht, so stellt er sich ihnen doch mit einer gewissen Wollust, es tut ihm not, sich von ihnen peitschen zu lassen. Er schreitet dann von der Selbstverneinung vor zur wirklichen Verwandlung - Gloster aber bleibt auf jener ersten Stufe stehen. Bei ihm, dem Schwächeren, will die Selbstvernichtung an die Stelle der Verwandlung treten. Das darf sie nicht, Edgar bewahrt den Vater vor dem Fehlschritt in die Tiefe: absolut genommen ist die Selbstverneinung verfehlt, an die Stelle der Verwandlung treten darf sie nicht; aber sie ist der erste und entscheidende Schritt zu ihr hin. 100

„Das ist nicht Lear! Geht Lear so? Spricht so? ... Wer kann mir sagen, wer ich bin?" Bei Lear wird die Selbstverneinung ein Glied der Selbsterkenntnis. Hier tut sich die innere Verbindung von Erkenntnis und Verkehrung auf: die grell sichtbar werdende Verkehrung des „Natürlichen", des Gewohnten, des Erwarteten entsetzt den Menschen, sie macht ihn zum Fragenden und damit virtuell zum Erkennenden. Mit einem Schlage ist alles in Frage gestellt. „Wer ist der Richter, wer ist der Dieb?" (IV 6). Daß 3ie Töchter nicht sind, wer sie sind — und das heißt bei Goneril und Regan nicht nur, daß sie nicht sind, was sie scheinen, sondern zugleich, daß das, was sie ihrer Bestimmung nach sein könnten und sein sollten, nicht Wirklichkeit geworden ist - öffnet Lear die Augen für die Fragwürdigkeit alles Seienden ebenso wie für die Fragwürdigkeit seines eigenen Daseins. Schon sehr früh wendet er sich unmerklich von der Weltkritik zur Selbstkritik. „Ich glaube, die Welt liegt im Schlaf", hieß es zunächst; aber der Zorn wandelt sich in Entsetzen: „Ha, bin ich wach?" (14). Und wenn die Bezweiflung vonGönerils Identität noch schneidender Hohn ist: „Bist du meine Tochter?" „Euer Name, schöne Frau?" (I 4), so sucht Lear, sich zuredend, Cornwalls Ungehorsam zu verstehen: Vielleicht ist er nicht wohl und deshalb nicht er selbst: „Wir sind nicht wir, wenn die Natur, im Druck, die Seele zwingt, zu leiden mit dem Körper" (II 4). Und als er dann, am Ende der Entwicklung, Cordelia begegnet, da sagt er, behutsam und vorsichtig geworden: Lacht meiner nicht; denn, so wie ich Mensch bin, die Dame halt ich für mein Kind Cordelia" (IV 7). „So wie ich Mensch bin", äs I am man: Nach der Erfahrung des Selbstverlusts im Wahnsinn scheint ihm auch das nicht mehr selbstverständlich. „Ich will nicht schwören, dies sei meine Hand. Laß sehn: Ich fühle diesen Nadelstich." Aber dicht neben dieser Selbstbezweiflung, neben der Unsicherheit erscheint die in der Verrückung neugewonnene, echt menschliche Fähigkeit: Verständnis für den ändern, Mitleid, Gefühl der Verantwortung. „Schlimm ging man mit mir um. Ich stürb vor Mitleid, einen ändern so zu sehen." / am mightily abused. I should even die with pity to see another thus (IV 7). So war denn jene Reflexhandlung, die Lear beim Anblick des nackten Edgar die eigenen Kleider abreißen ließ, nicht nur ein Aufflackern; Einfühlung, Mit-Leiden sind, im Gefolge des eigenen schweren Leidens, in das Dasein Lears eingegangen, sie sind ihm zur inneren Notwendigkeit geworden. Ihr armen Nackten, wo ihr immer seid, Die ihr des harten Sturmes Hiebe duldet, Wie soll eur dachlos Haupt und magrer Leib, Eur löcheriges Lumpentum euch schützen Vor Stürmen so wie der! O darum hab ich Zu wenig mich bekümmert. Nimm Arzenei, o Pomp! Setz dem dich aus, was Arme fühlen, fühl es, 101

Daß du dein Überflüssiges vor sie schüttest Und Gott gerechter zeigst (III 4). Am Ende seines Lebens bejammert Lear Cordelias Vernichtung weit inniger als die eigene. Vom Liebe Fordernden wird Lear zum Liebenden, der Weg zum Du ist gleichzeitig der Weg zu sich selber und der Weg zu Gott. In derselben Szene, wo Lear nach den Menschen zu fragen beginnt („Ihr armen Nackten ..."), stellt er, im Angesicht des nackten Edgar, auch die Frage nach dem Menschen: „Du bist das Ding an sich." Thott art the thing itself. Er wird ergriffen von der Verpflichtung, den wahren Menschen rein darzustellen. Er will Gott rechtfertigen, Gottes Welt als eine gerechte, richtig gefügte erweisen - er fühlt sich, wie Hamlet, berufen und verpflichtet, die Welt wieder einzurenken. Aber während Hamlet, der die Klarheit des Bewußtseins sucht, keine Wege zu sehen vermag, bricht bei Lear die Einsicht eruptiv aus der Tiefe empor, Rache wird ihm unwichtig, zum wirklichen Zentrum wird die Liebe, und sie umfaßt nicht nur Cordelia, sondern die armen mißhandelten Menschen überhaupt und den armen nackten Menschen grundsätzlich. Die Gebärde des Kleiderabreißens hat sozialen und zugleich philosophischen Sinn, ethische und religiöse Bedeutung. Bezug zum Du und Bezug zu Gott sind in ihr in der Weise verbunden, wie Christi Wort es andeutet: Was ihr einem dieser Geringsten tut, das habt ihr mir getan. „Wer kann mir sagen, wer ich bin?" Lears Streben geht nicht bewußt und nicht primär nach Erkenntnis; er erscheint nicht, wie Goethes Faust, von allem Anfang an als der Forscher, und auch nicht als ein Grübler wie Hamlet. Er ist König, er handelt, befiehlt, lebt. Nichts Intellektualistisches haftet ihm an, kein Hang zur Selbstbeobachtung; seine Tochter Regan sagt ausdrücklich, er habe sich von jeher nur obenhin gekannt (I 1). Ungefüge, urtümlich, frühzeitlich ist sein ganzes Dasein. Um so eindrücklicher das Schauspiel, wie in diesem untheoretischen Menschen die große Frage sich selber stellt. Wer ist der Mensch? Wer bin ich? Wer bist du? Was soll ich tun? Aus einem dumpfen, verkrusteten Dasein ringen sich, die gefügte Form zersprengend, die Fragen des Menschseins empor, mit unerbittlicher Gewalt, und so vollzieht sich in der Person des Königs Lear in ungeheuerlichem, todbringendem Leiden der Vorgang des Menschwerdens: ewiges Thema der Tragödie. Daß Lears Leiden stellvertretende Kraft hat, scheinen auch die Zuschauer im Spiel zu spüren. Dem Allsten war das schwerste Los gegeben, Wir Jüngern werden nie so viel erleben. So lauten, in der freien Übersetzung Baudissins, Albaniens Schlußworte. 102

The oldest bath borne most: we that are young, Shall never see so much, nor live so long. Der entscheidende Durchbruch hat sich in Lear vollzogen. Andere: Gloster, Edgar, Kent, Cordelia, Albanien, der Diener Cornwalls sind in sein Leiden hereingezogen worden, sie haben, in je verschiedenem Grade, die reale Ausstrahlung des Geschehens erfahren und auf ihre Weise an ihm teilgehabt. Lear aber, die mächtigste und dumpfste Persönlichkeit, hat am meisten getragen, am meisten gesehen, am meisten gelebt. Er allein hat die volle Wucht des Anpralls auszuhalten gehabt und ist in allen seinen Schichten erschüttert worden. Er hat stellvertretend für seine Zeit gelitten, die Jüngeren fühlen sich als Erben. Sie dürfen sagen: Reif sein ist alles; Edgar darf reif sein, Lear aber muß sich zerbrechen lassen, um reif zu werden. In ihm hat sich die alte Zeit selber überwunden. Wie Fortinbras Hamlets, so kann Edgar Lears Erbe antreten. Das Herrschertum hat ein neues Gesicht bekommen. Es ist nicht mehr, wie zu Lears Zeiten, das großartige launenhafte Gebieten einer machtvollen Persönlichkeit; die degenerierte Zerrform solchen Herrschens ist in dem gierigen und sinnlosen Wüten und Raffen Gonerils und Regans, Cornwalls und auch Edmunds offenbar geworden und hat sich in ihnen verzehrt. Lears Entwicklung aber hob das Bild des neuen Königtums herauf, das es sich zur Aufgabe macht, Gott gerecht erscheinen zu lassen. Sich zu kümmern um den Menschen, um die Menschen. So wie Kent einst den irrenden König heilen wollte - er nannte sich seinen „Arzt" (11) -, so wie Edgar seinen Vater heilen will - „so spiel ich nur mit dem Verzweifelnden, um ihn zu heilen" (IV 6) -, wie Cordelia um die Rettung Lears und Lear um die Rettung Cordelias sich müht, so soll der König des Staates Leiden heilen. Mit diesem Auftrag übergibt Albanien Edgar den Thron. Rule in this realm, and the gor'd state sustain. Die Bösen gehen in diesem reich und wild daherbrausenden Stück zugrunde wie die Guten. Aber wenn in Lears, in Cordelias Leiden und Untergang weithin leuchtend eine neue Art des Daseins sich gebiert und selbst von dem ergebenen Sterben Glosters noch ein mildes Licht ausstrahlt, so zerstört sich in Goneril und Regan das Böse selbst. Gier nach Macht und Lust hetzt die Leartöchter aus dem Leeren ins Leere. Sie haben ihre Bestimmung als Mensch und als Frau verfehlt, sie haben sich nicht verwirklicht. Edmund aber, der Bastard, der sich legitimieren möchte — vor sich, der Welt und den Göttern —, der, ein Gegenbild Lears, wachsen, herrschen möchte - / grow, l prosper: Now, gods, stand up for bastards! (I 2) - geht wohl den üblen Weg, ist aber doch erfüllt von einem echten, starken Drang nach Selbstverwirklichung, anders als die Königstöchter, die um ihn buhlen. Er stirbt nicht unedel: Tapfer sich dem unbekannten Herausforderer stellend, und zuletzt bestrebt, 103

gut zu machen, was noch gut zu machen ist: Er hat nicht Jagos Lust am Bösen um des Bösen willen. Von Edgars Rede fühlt er sich gerührt, und, treu seinem Glauben, daß der Mensch nicht blind den Gestirnen unterworfen sei, will er „entgegen seiner eigenen Natur Gutes tun" (V 3). Auch er ändert sein Gesicht, auch er tut dar, daß der Mensch nicht das zu sein braucht, was er ist. Und sein Wort, als er von Gonerils und Regans Tode hört, ist nicht nur zynisch: Edmund ward Hoch geliebt! Die eine gab um mich der ändern Gift Und dann sich selbst den Tod (V 3). Der Lear ist eine Mär von Macht und Liebe, von Gericht und Gnade, von Sein und Schein. Von der echten Sehnsucht nach Lieben und Geliebtwerden bis zu der bloßen Gier nach Lust, von der Hingabe zum würdelosen Sichhinwerfen, vom Raffen, Willkürwüten und Vergewaltigen bis zum heilenden Herrscherturh sind mannigfaltig verschiedene Spielarten menschlichen Verhaltens da. Lear ringt sich vom Schein zum Sein durch, Goneril und Regan sind in mehr als einem Sinne ganz dem Schein verfallen, Edgar ruht im Sein, mit dem Schein darf er überlegen spielen. Auch hier viele Zwischentöne. Die Motive der Verkleidung, der Maske, der Fratze, Grundmotive des Barocks und der menschlichen Daseinsform überhaupt, klingen auf. Natur zeigt sich in ihrer Wunderkraft (IV 4) wie in ihrer Verrenkung und Verkehrung. Und immer wieder geht es um Erkennen und Verkennen. „Das Äug, mit dem Ihr das gesehen, schielte" (V 3). Viel ist von Auge und Ohr, von Sehen und Hören, von Blendung und Verblendung die Rede. „Und da ging das Licht aus und wir saßen im Dunkeln" (I 4). Lear, dem man gesagt hatte, er sei alles, stürzt ins Nichts, aber im Nichts findet er das All. Er erkennt sich und die Welt. „Ja und nein zu sagen zu allem, was ich sagte! Ja und nein zugleich, das war keine gute Theologie" (IV 6). Wenn Hamlet am Hofe selber die beleidigende Kriecherei der Hofschranzen, die willfährige ScheinZustimmung durchschaut und verhöhnt, so muß Lear in die öde Heide gestoßen, dem Sturm, dem Wahnsinn preisgegeben werden, um die Leere der schmeichlerischen Bejahung und Selbstbejahung zu erfahren. Mit der Selbstverneinung aber beginnt Lears Selbstverwandlung. Statt der Eile, der ohnmächtigen Nachäffung der Allmacht („Laßt mich keinen Augenblick auf das Essen warten!" I 4) muß er Geduld lernen: „Gebt Götter, mir Geduld, Geduld tut not" (II 4). Goneril, Regan, Cornwall, Edmund ereilen sich mit ihrer hastigen und raschen Tatbereitschaft (Goneril: „Es muß etwas geschehen, und in der ersten Hitze", I 1. Edmund: „Helft mir, Glück und Raschheit!" I I I . Regan: „...in unsrer Sache, die dringend Eile heischt" II 1) nur den Tod. Die Todesungeduld Glosters aber wird durch seinen Sohn Edgar gedämpft: 104

Was? Wieder Trübsinn? Dulden muß der Mensch Sein Scheiden aus der Welt, wie seine Ankunft; Reif sein ist alles (V 2). Jedoch auch Edgar kann nicht eine reife Welt schaffen. Der Aufruhr der Elemente, die in diesem Stück ebenso mitspielen wie im Julius Caesar, läßt den Zuschauer fühlen, daß die Natur, die den Menschen und die Welt umfassende, immer wieder zu Stürmen, Ausbrüchen, zu chaotischem Rasen sich aufwühlen läßt. Wie aber die Stürme der Natur nur scheinbar auf ein Chaos hindeuten, so steht auch hinter den Verirrungen der Menschen noch der göttliche Kosmos. Der König Lear erweist den Sinn auch noch der Verkehrung: Nur wo Verkehrung möglich, kann das Wunder der Bekehrung sich ereignen.

DIE TRAGÖDIEN DER LIEBE In Shakespeares großen Tragödien erscheint, immer wieder anders, das Bild des einsamen Menschen. Caesar zwanghaft seine Rolle spielend, Brutus und Hamlet im Zwiespalt zwischen Gefühl und Geist, Othello hilflos der Vergiftung preisgegeben, sie sind ebenso allein wie Coriolan mit seinem absoluten Anspruch, wie der irre Macbeth bei dem Versuch, seinem Dasein Königsgröße und Sicherheit zu erfreveln. Auch die Frauen: Calpurnia und Portia, Ophelia und Desdemona, Lady Macbeth, Goneril und Regan sind allein in der Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selber; sie stehen in einsamem Erschrecken vor dem All und vor dem Nichts. Den König Lear treibt die Erkenntnis seiner Verlassenheit in den Wahnsinn. Erst im Durchgang durch die volle Einsamkeit findet er den Weg zum Du und zu Gott, den Weg der Liebe, den er in Dumpfheit von Anfang an gesucht. Liebe bedeutet die Aufhebung der Einsamkeit. Im Othello, wo das Bild der Liebe, wie Shakespeare sie sieht, in besonderer Reinheit und Schärfe da ist, geschieht diese Aufhebung der Einsamkeit so, daß der Mensch zu einem ihm gerade sehr fernen Menschen die Beziehung findet. Der schwarze, häßliche Mohr gewinnt die weiße, schöne Desdemona, der Abenteurer die behütete Tochter des Hauses, der Fremde die Bürgerin einer kultivierten Stadtgesellschaft, der wilde Krieger das zarte, träumerische Mädchen. Und eben deshalb gewinnt er sie, weil er der wilde Krieger, der Abenteurer, der Fremde ist. Es ist das Wunder der Liebe, daß sie Fremdes zu Fremdem führt. Sie hebt so die Einsamkeit in einem tieferen, wesentlicheren Sinne auf, als wenn sie bloß Nahes mit Nahem verbände. Nur Pole, zwischen denen eine starke Spannung besteht, finden sich zur schöpferischen Einheit. Deshalb ist die Liebe zwischen Mann und Frau. Das Volksmärchen gibt die Prinzessin dem Ziegenhirten, dem Grindkopf oder dem Dummling, der Prinz führt Aschenputtel heim oder Allerleirauh, und wenn es eine Königstochter ist, mit der er sich vermählt, so holt er sie im weltenfernen Reich, sie ist verwunschen oder gefangen und muß erlöst werden: er der freie Held, sie die Ausgesetzte, Hilfebedürftige. Das Märchen, keineswegs nur Wunschdichtung, sondern zugleich dichterische Wesensschau, zeichnet in seiner Weise eben jenes Zueinanderstreben fremdartiger Pole, wie wir es in Shakespeares Liebestragödien finden, in Othello, Romeo und Julia, Antonius und Cleopatra, und in gewisser Weise auch in Troilus und Cressida. Romeo und Julia O! Ich bin der Narr des Glücks. Romeo and Juliet, ein frühes Stück Shakespeares, ist für die Nachwelt das hohe Lied der Liebe geworden. In Antonius und Cleopatra wie in Troilus 106

und Cressida stehen Staatsgeist, Politik, Männer-Ehre und Männerfreunschaft gleichgewiditig neben der Liebe, in Othello liegt der Nachdruck auf der Verblendung des Helden, auf dem Wachsen des Mißverständnisses. Romeo und Julia ist die reine Darstellung der Liebe; alles andere im Stück erscheint nur als Kontrast oder Begleitung, Hemmnis oder Förderung. Wir schauen das Werden der Liebe zwischen dem Jüngling und dem Mädchen, zuerst das plötzliche Ergriffensein, in dem das Gefühl der höchsten Gewißheit und zugleich der höchsten Freiheit sich eint. Dann steht man die Liebenden willig und wie selbstverständlich, mit lächelndem Mund, scherzenden Worten, sich einander zuwenden, sich einander öffnen. Selig und sicher einer unbekannten und doch ganz vertrauten Macht sich überlassend, schenken sie sich einer dem ändern. Dann die Trennung, der Tod der Liebenden - die Liebe selber vergeht nicht, sie verzerrt und zerstört sich nicht wie in Troilus und Cressida, sie wird nicht vergiftet wie in Othello, sie macht die Liebenden nicht zu Narren ihrer selbst wie in Antonius und Cleopatra. Die Liebe hebt Romeo und Julia zu der reinsten, schönsten, stärksten Möglichkeit ihres Daseins empor. In ihrer Liebe erblüht und erfüllt sich ihr Leben, sie selber wissen es, spüren es, und alles, was außerhalb dieser Liebe steht, wird ihnen wesenlos. Die ändern aber, die feindliche Welt, die eigenen untereinander verfeindeten Angehörigen stehen ergriffen vor dem Wunder; wie von selber reichen sie sich die Hand zur Versöhnung, die in der Vereinigung Romeos und Julias in der Liebe und im Tod vorgebildet war. „O Bruder Montague, gib mir die Hand ..." (V 3). Shakespeare läßt seine Liebenden aus zwei einander hassenden Familien stammen; oder vielmehr: er hat nach einer Vorlage gegriffen, die ihm gerade diese Konstellation bot. Die poetische Kraft des Motivs ist deutlich. Vor dem Hintergrund sinnlosen Haders erscheint die plötzlich sich entfaltende unbegreifliche Liebe doppelt wunderbar, die Kontrastwirkung erhöht ihren Glanz. Umgekehrt wird vor dieser Liebe der Ungrund der Haßwelt, in der die Liebenden, in der alle leben müssen, offenbar. Ursprung und Anlaß des Zwistes, der weite Kreise der Stadt mit erfaßt hat, sind längst nicht mehr bekannt. Aber beide Familien rechnen es sich zur Ehre an, einander zu beleidigen und zu verfolgen, auch wenn das Gefühl, des alten Capulet etwa, sich zeitweise dagegen sträubt. Das Schicksal Romeos und Julias richtet die unsinnige Feindschaft und heilt sie zugleich. Die Starrheit löst sich, beide Parteien begraben ihren Haß, die unheilvolle Zerrissenheit des Staatswesens erlischt. Die Welt war aus den Fugen, Romeo und Julia haben sie wieder eingerenkt - aber ohne es zu wollen, ohne auch nur daran zu denken. Sie waren in sich selber selig. Eben dadurch wurden sie zu Schenkenden. Die Schönheit und die Trauer ihrer Liebe rühren die Welt an, sie fühlt sich getroffen, sie wandelt sich. Romeo und Julia sind die Begnadeten, denen das geschenkt wird, was sie gar nicht suchen. Worum der so viel differenziertere und schärfer 107

blickende, aber unbegnadete Hamlet heiß und vergeblich ringt, ihnen gelingt es, ohne daß sie es wissen: Sie heilen die Welt. O, ich bin der Narr des Glücks! ruft Romeo, als er, statt ihn zu retten, seinem Freund Mercutio den Tod gebracht, dann Julias Vetter Tybalt erschlagen und so sein eigenes Glück zerstört hat. Of I am Fortuna fool (III 1). Das Schicksal macht sich lustig über mich. „Ich dacht' es gut zu machen", ich wollte Mercutio und Tybalt trennen, ihnen und mir zum Heil; Fortuna hat es ins Gegenteil verkehrt: ich habe sie beide in den Tod gerissen und mein eigenes und Julias Glück zerstört. „Und alles wandelt sich ins Gegenteil", sagt der alte Capulet, Julias Vater, als er das Hochzeitsfest zur Leichenfeier werden sieht (IV 5). Jedoch die Verkehrung hat auch in dieser Tragödie, wie im Lear, ihr doppeltes Gesicht. Das Schicksal narrt Romeo, von jenem unseligen Streit mit Tybalt bis zu dem Scheitern aller Anstalten des Klosterbruders, die schließlich den Liebenden Tod statt Leben bringen - aber es narrt ihn auch in dem ganz ändern Sinn, daß es ihn und Julia, ohne daß sie es ahnen, zu Heilbringern werden läßt. O/ / am Fortunes fool Romeo sieht nur Fortunas hämisches Gesicht, er spürt nur ihre Tücke; aber Shakespeare läßt ihn, und darin ist auch Romeo ein Bild des Menschen überhaupt, in einer viel umfassenderen Weise Narr des Schicksals sein: Fortuna weist ihm, der ahnungslos ganz in der Liebe zu Julia aufgeht, seine Stelle im Ganzen an. Sein und Julias Tod bringt ihren Familien, der Gesellschaft, der Stadt, deren Kinder sie sind, das Leben. Das erst macht Romeo in der vollen Bedeutung zum „Narren des Glücks", daß das Schicksal sein Dasein, fern von den eigenen Plänen, einen unbekannten Sinn gewinnen läßt. Der Prolog, der dem Stück vorangeht, unterstreicht diesen Aspekt. Aus der zwei Feinde Lenden ward erzeugt Ein Liebespaar in schlimmer Sterne Bann; Von schweren Schicksals wucht'gem Schlag erreicht, Begrub ihr Tod der Eltern alten Span. Der Kontrast zu der sie umgebenden Haßwelt läßt nicht nur Macht und Schönheit der wirklich großen Liebe offenbar werden, sondern auch ihre Einsamkeit. Liebe hebt die Einsamkeit des Einzelnen auf und macht zugleich die Liebenden zu einem einsamen Paar in der Welt. „Vergessend jedes andre Heim als dies", sagt Romeo in der Gartenszene (II 2). Und später: „Die Welt ist nirgends außer diesen Mauern." „Hier ist der Himmel, wo Julia lebt." (III 3). Vor dem absoluten Wert versinkt die Welt. Auch die Welt der Ehre und der Sippenverpflichtung wird für Romeo hinfällig. Er läßt sich von Tybalt beschimpfen, denkt nicht mehr an seine Familie. Julia aber wird, wie Cordelia, von ihrem Vater in die Isolation gestoßen: „Geh, bettle, hungre, stirb am Wege! Denn nie, bei meiner Seel, erkenn ich dich, und 108

nichts, was mein, soll dir zugute kommen" (III 5). Die Mutter wendet sich von ihr ab: „Tu, was du willst, du gehst mich nichts mehr an." Und in der gleichen Stunde noch verschärft Julia selber ihre Isolierung: sie trennt sich auch von der Amme. „Hinweg, Ratgeberin! Du und mein Busen sind sich künftig fremd." Von dem Mönch erwartet sie nur äußere, technische Ratschläge, die Richtung ihres Weges bestimmt sie allein. Ja, die Isolation dringt noch tiefer; Julia trennt sich von ihrer eigenen bisherigen Art. Sie, die sonst beim bloßen Hören grauser Dinge zitterte, will „ohne Furcht und Zweifel" das Gräßlichste bestehen: „Birg in der Nacht mich in ein Totenhaus voll rasselnder Gerippe, Moderknochen und toter Schädel mit entzahnten Kiefern..." (IV 1). So wird Julia sich selber fremd, ohne sich selber zu verlieren. Der Schein versinkt, die Liebe schenkt ihr ein neues Sein, aus Schwäche wird Stärke. In mannigfacher und oft eigenartiger Abwandlung durchdringen die barocken Motive das Stück. Die Darstellung der Einsamkeit ist besonders differenziert. In der Liebe wird sie aufgehoben, in anderer Art wieder hergestellt und in gewissem Sinn noch einmal aufgehoben. Chose etrange! un contraire au contraire s'assemhle, heißt es bei dem französischen Barockdramatiker Robert Garnier, einem 20 Jahre älteren Zeitgenossen Shakespeares (Bradamante V. 944). Das Gegenteil eint sich dem Gegenteil. Romeo und Julia finden einander, werden dadurch von der Einsamkeit erlöst und zugleich auf eine neue Weise einsam, aus der Welt herausgehoben und doch, als gemeinschaftschaffende Kraft, in das innerste Zentrum eben dieser Welt gestellt. Sie sind Narren des Glücks. Das Sprachgewebe des Stücks blitzt von Polaritäten. Liebe und Haß, Liebe und Tod, Tag und Nacht, Licht und Dunkel sind die großen Gegensatzpaare, sie durchschwingen das Ganze. „Komm Romeo, komm, du Tag in Nacht!" sagt Julia (III 2), und später: „Tag, schein herein! und Leben, flieh hinaus!" Let day in, and let life out (III 5). Und Romeo: „Stets heller - und stets dunkler unser Leiden." More light and light; more dark and dark our woes. An vielen Stellen schießen ganze Strahlenbündel von Polaritäten empor. So schon in der ersten Szene, wo Romeo von der Liebe spricht. Streitsüchtge Liebe! Liebevoller Haß! Du Alles, aus dem Nichts zuerst erschaffen! Schwermütger Leichtsinn! ernste Tändelei! Mißförmges Chaos glänzender Gestalten! Bleischwinge, Lichtrausch, Eisglut, krankes Heil! Stets wacher Schlaf, du bist nicht was du bist... Und Julia, als sie hört, daß ihr Vetter Tybalt durch Romeos Hand gefallen: O Schlangenherz, verdeckt von Blumenaugen! Wohnt' in so schöner Höhl ein Drache je? Holdseiger Wütridi! engelgleicher Unhold! 109

Taubenfüßiger Rabe! Lamm mit Wolfesgier! Verworfne Art in göttlichster Gestalt! Das rechte Gegenteil gerechten Scheins; Verdammter Heilger, ehrenwerter Schurke! (III 2) Aber es ist Enttäuschung über Romeo, die aus diesen Worten spricht, Schmerz, daß er ihr solches antun konnte. Nur scheinbar trauert sie um Tybalt - auch hier das barocke Spiel: Sie scheint den Ermordeten zu beweinen, in Wirklichkeit beweint sie, gerade umgekehrt, den Mörder. Die Mutter verspricht ihr Rache für den toten Vetter, aber Rache ist ihr, und wieder klingt das Hamletthema an, unwesentlich geworden. Ihr zählt nur eines: die Liebe zu Romeo, und, ganz eins mit sich selber, schwankt sie keinen Augenblick zwischen dem Anspruch der Liebe und dem Anspruch der Familienpflicht. Sie muß wünschen, daß die Rache unvollzogen bleibt. Aussprechen darf sie dies nicht; daher sagt sie doppeldeutig zu ihrer Mutter: „O rächte niemand doch als ich den Vetter!" (III 5). Das Wort meint das Gegenteil von dem, was es zu meinen scheint. Und so fährt Julia, virtuos und preziös mit den Worten spielend, fort ihre Mutter zu täuschen, bis dann das Gebot, Paris zu heiraten, sie zum offenen Widerspruch zwingt. Voll von Polaritäten ist der Monolog des Bruders Lorenzo im Klostergarten, wo er Heil- und Giftpflanzen hegt. Ich muß dies Körbchen hier voll Krauter lesen, Giftpflanzen teils, teils Blumen zum Genesen. Die Mutter der Natur, die Erd, ist auch ihr Grab, Sie sinket in den Schoß, der sie gebar, hinab ... Die zarte Blume hier beherbergt giftge Säfte In ihrer zarten Hüll und starke Heilungskräfte. Wer's riecht, dem frischt es alle Glieder auf, Wer davon schmeckt, dem stockt des Blutes Lauf. So kämpfen auch im menschlichen Gemüte Zwei Mächte ratlos: böser Will und Güte... Was nur auf Erden lebt, da ist auch nichts so schlecht, Daß es der Erde nicht besondren Nutzen brächt. Doch ist auch nichts so gut, das, seinem Ziel entwendet, Abtrünnig seiner Art, sich nicht durch Mißbrauch schändet. Tugend wird Laster gar durch Überschwang Und Laster kommt durch Tat zu einem Rang ... (II 3) Bruder Lorenzo, gewohnt, die Kräfte der Natur den Menschen zum Heil zu nützen, meint auch das Schicksal lenken zu können. Aber er muß erleben, daß das scheintötende Gift, das er Julia reicht, um ihr das Leben zu erhalten, in Wirklichkeit ihr und Romeos Leben gerade zerstört. Das Gaukelmittel, das alles retten sollte, verdirbt alles. So sicher und überlegen fühlt sich der 110

Mönch, daß er blasphemisdi vor der scheintoten Julia den Eltern ins Gewissen redet, so, als ob sie wirklich tot, als ob sein Werk das Werk des Himmels wäre. Still! Hegt doch Scham! solch Stürmen heilet nicht Des Leidens Sturm. Ihr teiltet mit dem Himmel Dies schöne Mädchen, nun hat er sie ganz, Und umso besser ist es für das Mädchen. Ihr konntet euer Teil in ihr nicht vor dem Tod Bewahren, seins bewahrt in ewgem Leben Der Himmel. Sie erhöhn, war Euer Ziel; Eur Himmel war's, wenn sie erhoben würde: Und weint ihr nun, erhoben sie zu sehn Hoch über Wolken, wie der Himmel hoch? O wie verkehrt doch euer Lieben ist! Verzweifelt ihr, weil ihr sie glücklich wißt? Die lang vermählt lebt, ist nicht wohl vermählet; Wohl ist vermählt, die früh der Himmel wählet... Der Himmel zürnt mit euch um üble Tat, Reizt ihn nicht mehr, fügt euch dem hohen Rat (IV 5). For shame! herrscht der Mönch die Eltern an. Aber er selber ist schamlos, er selber reizt den Himmel. Bestürzt steht er am Ende vor seinem Werk, muß sich verdammen und verteidigen „als Kläger und als Anwalt seiner selbst" (V 3). Seine überklugen Eingriffe haben das Gegenteil von dem erreicht, was sie bezweckten. Auch er wollte, wie Romeo, das Gute, auch ihn hat das Schicksal genarrt. Doch er ist schuldiger als Romeo es ist: Er wollte das Gute, aber im Wahne seiner Macht, die Dinge nach Willen zu lenken, hat er sich überhoben, hat selbstgefällig in überlegener Gaukelei sich gewiegt. Was das Schicksal dann endlich fügt: die Versöhnung der Stadt, das wollte auch er. Aber er versuchte durch Schlaumeierei zu erlisten, was nur durch schmerzliches Opfer sich erfüllt. Er spielt Komödie, das Schicksal spielt Tragödie. So steht auch er, der keineswegs völlig unweise ist — er mahnt zur Geduld, warnt vor Eile, warnt vor Selbstmord: echt Shakespearesche Warnungen - schließlich als Narr des Glücks vor uns. „Geh nur, entweich!" Mit diesen Worten trennt sich Julia zuletzt auch von ihm, wie einst von der Amme. Alle Beziehungen lösen sich ihr, ohne Anklage, fast ohne Klage tut sie den Schritt vom Leben zum Tod, um mit dem Geliebten vereinigt zu sein. Die im barocken Drama so beliebten Tiraden der vom Schicksal Getroffenen, das schmelzende Selbstmitleid, die wütenden, endlos dahinrollenden Klagen und Anklagen gegen Welt und Schicksal und sich selber bei Shakespeare etwa im Lear, aber auch in Julias Weherufen nach der Ermordung Tybalts und in Romeos Ausbrüchen bei der Nachricht von der 111

Verbannung ansatzweise da, sie fehlen hier ganz. Als Julia, vom Todesschlaf erwacht, den Giftbecher in der Hand des toten Gemahls entdeckt, da nimmt sie leise und traurig von ihm Abschied, um zu ihm zu gehen. O Böser! alles Zu trinken, keinen gütgen Tropfen mir Zu gönnen, der mich zu dir brächt? - Ich will Dir deine Lippen küssen, ach vielleicht Hängt noch ein "wenig Gift daran und läßt mich An einer Labung sterben. (Sie küßt ihn.) Deine Lippen Sind warm ... Und wie sie nun Lärm von draußen hereindringen hört, da greift sie entschlossen nach dem „glücklichen Dolch". O happy dagger!... Wenn so auf schwellende Klagereden maßvoll Verzicht getan ist, so ist Romeo und Julia in anderer Weise dem barocken Stil umso mehr verpflichtet. Nicht nur in der Häufung von Kontrastworten, die das ganze Stück durchdringen, sondern auch in der Vorliebe für scharfzüngige Wortspiele, für geistvolle und befremdende Wendungen. Die „blumige Sprache" in Romeo und Julia ist, ähnlich wie in Shakespeares Epen, noch spielerischer, den Konventionen der Zeit in einer äußerlicheren Art verhaftet als die Sprache seiner späteren Stücke. Nicht in der Schwellung, aber in der Preziosität bewegen sich Julias Abschiedsworte an der Grenze des uns Heutigen Erträglichen. Nicht nur nennt sie Romeo einen Geizhals (churl, von Schlegel mildernd mit „Böser" übersetzt), weil er ihr keinen Tropfen Gift übriggelassen hat, sie spricht auch zuletzt noch - wie oft hat der Barock das getan! - den Dolch geistreich'elnd an, indem sie ihm ihren Busen als Scheide anbietet, in der er ruhen soll. Und ihr Vater, als er sie tot findet, fällt in dieselbe Redeweise. Der Dolch hat sich verirrt - sieh, sein Gehäus Liegt ledig auf dem Rücken Montagues Und er steckt fehl in unsrer Tochter Busen. Preziös ist auch Julias Zeitrechnung. Gib Nachricht jeden Tag mir in der Stunde, Denn die Minut enthält schon viele Tage. Ach! so zu rechnen, bin ich hoch in Jahren, Eh meinen Romeo ich wiederseh (III 5). Preziös und frivol, aber leicht, lieblich, elegant, nicht eigentlich blasphemisch ist Romeos und Julias geistvolles Scherzen über die Lippen des Liebenden, die wie Pilger das Heiligenbild küssen wollen (I 5). Später will Julia sich den Liebesschwur Romeos verbitten, weil nichts, das er anrufen 112

will, ihr beständig genug ist, aber sie besinnt sich dann und bittet ihn, bei seinem edlen Selbst, dem Götterbilde ihrer Anbetung, zu schwören, dann will sie ihm glauben. Do not swear at all; Or, if thou wilt, swear by thy gracious self, Which is the god of my idolatry, And I'll believe thee (II 2). Diese Vergöttlichung des Geliebten ist nur noch halb ein Spiel der Worte; halb ist sie Realität, der Geliebte wird wirklich zum absoluten Wert erhoben. Und wenn man eine „Schuld" Romeos und Julias suchen wollte, so läge sie hierin. Aber sie sind wie die Kinder, dürfen als Liebende wie Kinder sein. Liebende denken nur an sich, die Götter aber führen sie unvermerkt weit über sich hinaus. Neben den preziösen stehen zotige und geile Reden, bei Romeos Gefährten vor allem, und bei der Amme. In Romeos wie in Julias Bannkreis also erscheint die Liebe im Zerrbild. Die Amme führt eine lüsterne Sprache und kennt eigentlich nur die Begierde, nicht die Liebe. Sie ist Julias Begleiterin und Vertraute, sie ist ständig in ihrer Nähe - ohne daß ihre niedere Sinnlichkeit Julias hohe und volle Liebe auch nur zu verfärben vermag. Die Amme verkörpert in dem Stück - das hat vor allem Gundolf gesehen die primitive Form der Geschlechtersinnlichkeit, den dumpfen Grund, aus dem wirkliche Liebe erst emporsteigt. Das Wunder wirklicher Liebe, das Wunder, daß aus Niedrigem Hohes wird, steht umso reiner vor uns. Es ist das Wunder der Verwandlung schlechthin. Pralle Figuren wie die Amme oder Falstaff dienen gewiß dem Behagen und der Lachlust des elisabethanischen Publikums. Aber zugleich haben sie ihre Stelle im Ganzen und ihre Bedeutung für das Ganze. Und wenn in Romeo und Julia die Sprechweise mehr als anderswo den barocken Konventionen des Zeitalters verpflichtet ist, so ist auch das sinnvoll. Die barocke Freude an Kontrast und Antithese, an jeder Art von Polarität, sie hat hier, in der Tragödie der Liebe, ihre besondere Berechtigung. Die tausend Kontraste und Polaritäten bleiben nicht tote Konvention, sie sind lebendig, sie spiegeln und umspielen in unendlicher Variation die zentrale Polarität, die in der Liebe selber lebt. Troilus und Cressida Entwaffne dich, mein Hektar. In Troilus and Cressida kehren die Motive aus Romeo und Julia wieder, aber in verschobener Größenordnung und in anderer Qualität. Wenn dort ein Familienzwist den Hintergrund bildete, so ist in dem etwa sechs Jahre später geschriebenen Stück der trojanische Krieg breiter Vordergrund. Eine

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bewußtere, aufgehellte« Welt entfaltet sich hier. In Romeo und Julia fragte niemand nach dem Ursprung der Familienfehde, in Troilus und Cressida werden Grund und Berechtigung des Völkerkrieges oft und eingehend besprochen. Wie jene Familienfeindschaft, so ist auch der Krieg der Griechen und Trojaner - von Shakespeare weniger nach Homer als nach dichterischen Traditionen des Mittelalters dargestellt - eine Auseinandersetzung um nichtigen Grund. Alle sehen es, nur Menelaus und Paris, die unmittelbar Interessierten, streiten es ab. Nicht bloß Thersites, der alles verspottende, lacht über die Helden und Heere, „welche um einen zerrissenen Unterrock Krieg führen" (II 3). Auch Troilus, der doch selber Liebestrunkene, nennt die Kämpfer beider Seiten Narren, fools. Narrn beiderseits! Schön sein muß Helena, Wenn ihr sie täglich schminkt mit eurem Blut. Ich kann um diesen Gegenstand nicht fechten, Zu mager ist der Anlaß für mein Schwert (11). Hektor ist bereit, Helena auszuliefern, um dem Krieg ein Ende zu machen. Diomedes schmäht die unwürdige Urheberin des Völkermordens dem Paris ins Gesicht. Paris: Nun sagt mir, edler Diomed, sagt frei, Recht aus dem Herzen fester Brüderschaft, Wer würdger sei der schönen Helena, Ich oder Menelaus? Diomedes: Beide gleich! Wert ist er sie zu haben, der sie sucht, Sich gar nicht stoßend dran, daß sie besudelt, Mit solcher Welt von Qual und Höllenpein; Der wert, sie zu behalten, der sie schützt, Der stumpfen Gaums nicht ihre Schande schmeckt, Mit bitterem Verlust an Gut und Freunden. Er, weinerlicher Hahnrei, tränke willig Die Neig und Hefe abgestandnen Weins. Dich Liederlichen freut's, aus Hurenleib Dir deine künftgen Erben zu erzeugen. Drum wiegt ihr gleich, wie man die Pfunde setze: Hat einer mehr Gewicht, ist's um 'ne Metze. Paris: Zu herbe seid Ihr Eurer Landsmännin. Diomedes: Herb ist sie ihrem Lande. Hört mich, Paris: Kein falscher Tropfen ihres geilen Bluts, Drob nicht ein Griechen-Leben sank; kein Gran 114

Von ihres faulen Fleischs Gewicht, wofür nicht Ein Troer starb. Seitdem sie sprechen konnte, Sprach sie der guten Worte nicht so viel, Als griechisch Volk und troisch für sie fiel (IV 1). Ulysses sagt von Menelaus: O bittre Schmach! All unsers Zornes Born! Mit unserm Lebensblut färbt er sein Hörn! (IV 5) Aber der Geist reicht nur zur Beleuchtung, zu geistreichen Sprüchen und Sarkasmen, das Tun bleibt dem Unsinn verhaftet. Gegen ihre bessere Einsicht kämpfen doch alle um Helena: mittelalterliche Ritter, dem Phantom der „Ehre" verfallen. Die Liebe, die in dieser unsinnigen, um Nichts oder um Schlechteres als Nichts kriegführenden Welt gedeiht, ist nicht das Licht, von dem Heilkraft ausstrahlen könnte. Der Jüngling Troilus, den die Liebe in ihre Träume verspinnt, findet nicht eine Julia, sondern gerät an eine Kokette. In einem ersten Selbstgespräch klärt Cressida das Publikum über ihre Mittel auf. Aber ihre Art verrät sich auch im Ton ihres Gesprächs. Cressida: Kühnheit kommt nun zu mir und macht mir Mut. Prinz Troilus, Euch liebt ich Tag und Nacht, Seit manchem öden Mond. Troilus: Wie warst du mir so schwer denn zu gewinnen? Cressida: Schwer nur zum Schein! doch war ich schon gewonnen Vom ersten Blick, der jemals - o verzeiht, Sag ich zuviel, so spielt Ihr den Tyrannen. Ich lieb Euch nun; doch nicht bis jetzt so sehr, Daß ich's nicht zähmen kann - doch nein, ich lüge: Mein Sehnen war wie ein verzognes Kind, Der Mutter Zucht entwachsen. Toren wir! Warum hab ich geschwatzt? Wer bleibt uns treu, Wenn wir uns selbst so unverschwiegen sind? So sehr ich liebte, warb ich nicht um Euch, Und doch fürwahr wünscht' ich ein Mann zu sein, Oder daß wir der Männer Vorrecht hätten, Zuerst zu sprechen ... Süßer, heiß mich still sein, In diesem Taumel sag ich sonst gewiß, Was mich einst reut. Sieh, sieh, dein Schweigen lockt In schlauer Blödigkeit aus meiner Schwäche Mein innerstes Geheimnis. Schließ den Mund mir. Troilus: Gern, tönt er auch die süßeste Musik ... 115

Cressida: Mein Prinz, ich bitt Euch sehr, entschuldigt mich Nicht wollt* ich so mir einen Kuß erbetteln. Ich bin beschämt — o Himmel, was begann ich? Für diesmal will ich Abschied nehmen, Herr... (III 2) Was Cressida sagt, ist oft ganz ähnlich wie Julias Rede; aber die Art, wie sie es sagt, läßt den Unbefangenen sogleich spüren, welch ein Abgrund die beiden Mädchengestalten trennt. Bei Julia kommt auch das Bizarre noch aus der Innigkeit, aus dem Überschuß ihres Herzens - hier ist alles berechnet, absichtlich, ein aufreizendes Hin und Zurück, wie dann auch im Gespräch mit Diomedes, ein Kokettieren mit der eigenen Schwäche. Cressida entbehrt nicht der Feinheit; Shakespeare, behutsam abschattierend, gibt ihr Reiz und Weichheit. Und doch verkehrt sich diese Weichheit rasch in Grausamkeit; Cressida gibt leichthin, wenn auch etwas wehmütig, Troilus auf und ergibt sich Diomed. Von dem scharfäugigen Ulyss, der unmittelbar vorher in der Beurteilung von Diomeds Gang seine Kennerschaft kundgetan, wird sie sogleich durchschaut. Pfui, pfui auf sie! An ihr spricht alles, Auge, Wang und Lippe, Ja selbst ihr Fuß. Der Geist der Lüsternheit Blickt vor aus jedem Glied und Schritt un'd Tritt. O die Entgegenläufer, glatt von Zunge, Die einer Anfahrt winken, eh sie kommt Und weit auftun die Tafeln ihres Sinns Für jeden geilen Leser! Merkt sie euch Als kotige Beute der Gelegenheit Und Töchter des Gewinns (IV 5). „Wie spottet mein nun der errungne Preis!" klagt Troilus, als er, nach der ersten Liebesnacht, Cressida an die Griechen verlieren muß. Noch ahnt er nicht, daß sein Wort in einem bittereren Sinne gilt, als es gemeint ist. „Sei du nur treu", bittet er Cressida, aber sie erschrickt, es ist, als ob er durch dieses Wort die Möglichkeit, ja den Zwang zur Untreue erst eigentlich in sie hineinlegte. Stell dich in die Ecke und denk nicht an einen weißen Elefanten! Die negative Vorwegnahme verwandelt sich unentrinnbar in positive Wirklichkeit. „Und oftmals sind wir unsre eignen Teufel", sagt Troilus in der selben Szene (IV 4), wiederum ohne zu ahnen, daß sein Wort in eben diesem Augenblick auf ihn selber zutrifft. Cressida kommt zu den Griechen, sie ergibt sich sogleich dem Werben des Diomedes, ja sie drängt sich ihm auf. Nicht ohne Zwiespalt und reumütiges Zurückdenken an den Schwärmer Troilus, aber im Grunde doch entschlossen, der Lust zu frönen, wo sie sich bietet. Cressida ist das wahre Widerspiel Julias: Diese konnte nicht leben ohne den Geliebten, sie ging in den Tod um seinetwillen, wie 116

Romeo um ihretwillen. Cressida kann nicht leben ohne Liebhaber, ob er nun Troilus heiße oder Diomed. Im Laufe der dramatischen Entwicklung erwacht sie zur bewußten Buhlerin. Sie ist Variation Helenas auf tieferer Ebene, leichter, unbedeutender, von einem zum ändern wechselnd. Troilus aber lebt traumumsponnen in dieser Welt heller Bewußtheit. Wenn Thersites in allem und allen nur das Niedrige sieht, die schlechtere Möglichkeit, so sieht Troilus, traumbefangen, in Cressida nur das Gute, er schaut ihre höhere Möglichkeit. Ulysses, gleichermaßen Meister in der Illusionierung wie in der Desillusionierung der Menschen, zerstört ihm seinen Traum. Ulysses hatte Ajax ebenso wie Achilles den Schleier des Wahns übergeworfen - die bewußt ins Werk gesetzte Aufhöhung des Ajax durch die Griechen ist Variation der unbewußten Aufhöhung Cressidas durch Troilus - jetzt führt er, mitleidig und unerbittlich, Troilus zu dem Zelt, wo Cressida und Diomedes ihr Spiel miteinander spielen. Es ist eine der großartigsten Belauschungsszenen, die Shakespeare geschaffen hat. Cressida, halb sich zierend, halb wirklich schwankend, bietet sich Diomedes an und versucht zugleich, sich kostbar zu machen, wehmütig und leichtfertig verrät sie Troilus und schändet sein Andenken. Troilus, mühsam sich selber beherrschend, von Ulysses immer wieder zur Geduld ermahnt, steht im Dunkel und schaut das Spiel der beiden; er fühlt seinen Traum einstürzen, seine Welt geht in Brüche. Thersites aber, der von vornherein an keine Werte glaubt, steht ungesehen hinter beiden Gruppen und verlacht beide. Wenn Thersites das Schlechte geradezu voraussetzt - „Unzucht, Unzucht, und noch einmal, Kriege und Unzucht: das allein bleibt Mode" — so möchte Troilus auch noch im Angesicht des Verrats lieber seinen Sinnen mißtrauen als das Gesehene für wirklich nehmen. Er wäre bereit, die Forderung zu erfüllen, die zwei Jahrhunderte später Kleist im „Zerbrochenen Krug" seinem Evchen in den Mund legt: Pfui, Ruprecht, pfui, o schäme dich, daß du Mir nicht in meiner Tat vertrauen kannst... Und hättest du durchs Schlüsselloch mich mit Dem Lebrecht aus dem Kruge trinken sehen, Du hättest denken sollen: Ev ist brav, Es wird sich alles ihr zum Ruhme lösen, Und ist's im Leben nicht, so ist es jenseits, Und wenn wir auferstehn, ist auch ein Tag. Die Antwort des biederen Ruprecht aber: Mein Seel, das dauert mir zu lange, Evchen, Was ich mit Händen greife, glaub ich gern. 117

Shakespeare jedoch, bei dem die Frage nach der Verläßlichkeit der Sinne oft auftaucht, läßt seinen Troilus anders sprechen. Ohne daß Cressida ihn bittet, möchte er um der Sache willen, um seiner selbst, um seiner Mutter, um der Frauen der ganzen Welt willen das so scharf Gesehene und so deutlich Gehörte für Lüge halten. Doch wenn ich melde, was die zwei hier trieben, Werd ich, die Wahrheit kündend, dann nicht lügen? Denn immer noch wohnt mir ein Glaub im Herzen, Ein Hoffen, also fest und störrisch stark, Das leugnet, was mir Äug und Ohr bezeugt; Als wenn die Sinne, uns zum Trug erschaffen, Nur als Verleumder tätig hier gewirkt. War's Cressida? Und dann: Dies wäre sie? Nein, dies ist Diomedes* Cressida. Wenn Schönheit Seele hat, ist das nicht sie ... So ist dies Cressida und ist es nicht... Das Motiv der Identität, im Barock allgegenwärtig, ertönt auch hier wieder, der Mensch ist nicht er selbst, er verrät sich selber, Cressida ist nicht mehr Cressida, Troilus sucht den Traum, das Bild Cressidas in seiner Seele zu retten gegen die äußere Wirklichkeit. Er ist ein Gegenbild Othellos, statt wie dieser die Reine zu verdächtigen, glaubt er vertrauend an die Unwürdige, und noch als er sie entlarvt sieht, will er ihr Bild, das echter ist als sie selber, nicht preisgeben. Thersites, der in der Belauschungsszene (V 2) auch den Zuschauern noch zuschaut, sagt ein andermal: „Nun hämmern sie aufeinander los, und ich will mir's ansehen." Er ist der, der Augen und Ohren weit auf tu t. Wenn Troilus seinen Wahrnehmungen mißtraut und in seiner Seele das wahrere Bild des Individuums Cressida und des Typus Frau zu tragen glaubt, als die äußeren Sinne es ihm zeigen, so ist Thersites im Gegenteil ganz nur Auge und Ohr. Aber er ist ein unreines Organ. „Du der Natur verbrannt Gebäck", sagt Achilles zu ihm, thou crusty batch of nature, zu Beginn des fünften Aktes, nachdem Troilus den vierten mit dem Wort geschlossen: „Doch neidschem Glück ward Liebe stets zur Beute." Nicht das Schicksal, wie Troilus meint, sondern Cressidas Wesensart läßt die hohe Liebe zuschanden werden, auch Cressida ist verderbte Natur. In Thersites aber entstellt sich das Bild des Menschen überhaupt. Wenn die ändern an Scheinwerte glauben und für Scheinwerte kämpfen, so sieht er nur den Schmutz: für alles andere hat er, der so gerne die Augen weit aufsperrt, kein Organ. Den untadeligen Hektor beachtet er nicht, verkriecht sich nur vor ihm, schimpft, daß er ihn erschrecke. 118

Aber alles Trübe faßt sein trüber Blick. „Zu viel Blut und zu wenig Hirn", so stehen Achill und Patroklus vor ihm, ähnlich spricht er von Agamemnon, und für Menelaos findet er - im Schlechten ebensoviel Phantasie aufbietend wie Troilus im Guten - bei aller Anstrengung keinen Tiervergleich, der ihn genug erniedrigt. „Nichts als Unzucht! Lauter unsaubre Buben!" so beschließt er seine Schau (V 1). Torheit und Dummheit sind der allgemeine Fluch der Menschen (II 3). Achilles, den Thersites nicht ohne Recht „Du Bildnis dessen, was du scheinst" nennt — denn Achilles lebt, mehr noch als Caesar, von der Bewunderung der Dummen und agiert den, den sie in ihm anbeten, während Ajax durch die Scheinbewunderung des klugen Ulysses in eine ähnliche Rolle hineingeschoben wird - Achilles, der, wutschnaubend, den wehrlosen Hektor feig und hinterlistig niedermetzeln lassen wird, sagt vorher einmal von sich selber: Mein Geist ist trüb wie ein durchwühlter Quell, Ich schaue selber nicht auf seinen Grund (III 3). „Entwaffne dich, mein Hektor", so bittet Kassandra den Bruder, der, weil er es versprochen, in die Schlacht ziehen will. Unarm, sweet Hector. Sie und die traumgeängstete Andromache treten mit ihren Bitten an die Stelle des abmahnenden Gefühls, das bei Hamlet vor dem Zweikampf mit Laertes sich regt. Aber wie Hamlet seine Ahnung geringachtet, so Hektor die Warnungen der Gattin und der seherischen Schwester. „Die Götter hörten meinen Schwur." Umsonst sprechen Kassandra und Andromache gegen den formalen Ehren- und Pflichtstandpunkt. Kassandra: „Taub sind die Götter hitzigen, törigen Eiden..." Andromache: „Halt es nicht für heilig, aus Rechtssinn schaden. "Do not count it holy to hurt by being just (V 3). Hektor schwankt keinen Augenblick. Überzeugt vom Widersinn des ganzen Krieges, will er die Waffen doch nicht niederlegen, er dient der Ehre - dem Phantom der Ehre, wie Troilus dem Phantom der Liebe. Wenn Troilus in gewisser Weise ein Gegenbild (eine Umkehrung) Othellos ist, so sind er und Hektor und mit ihnen alle diese Helden, die Krieg um nichts führen, Gegenbilder Hamlets. Sie erkennen genau die Nichtigkeit der Sache, sie erkennen Anlaß und Preis des Krieges als krank und unwert - und kämpfen doch. Hamlet ist überzeugt, daß Rache heilige Pflicht sei - und doch zögert er, von einem unbegreiflichen Gefühl gehalten, sie zu vollziehen. Die Kämpfer um Helena wissen um den Unsinn ihres Tuns und handeln trotzdem, ohne zu zögern. Hamlets sicheres Gefühl ist seinem Erkennen weit voraus; bei Hektor und Troilus ist es umgekehrt, sie erkennen scharf die Situation, sehen den Widersinn des Kampfs, aber ihr Gefühl haftet an alten Gewohnheiten, es ist - darin sind sie mittelalterliche Ritter — vor allem die Vorstellung der Ehre, die sie fesselt. Wie gering auch Troilus Helena einschätzt, im Kriegsrat spricht er flammend für den Krieg, Pflicht und Ehre gebieten, die geraubte 119

Frau zu verteidigen. Der klare, edle Hektor folgt ihm, gegen seine bessere Einsicht. Statt, wie Schwester und Gattin ihn bitten, nicht zu den Waffen zu greifen, legt er sie erst nach dem Kampfe von sich. Nun wird er das Opfer von Achills Mordgesellen und findet ein sinnloses Ende. Hamlet ist erfüllt von Tragik, aber doch auch voll Verheißung. Wenn das Gefühl, die Ahnung dem Erkennen vorauseilen, so ist das Verheißung einer kommenden, neuen Welt. Die Tragik liegt nur in dem Schicksal dessen, der in dem Zwiespalt befangen ist und zugrunde gehen muß, indem er von der alten zu der neuen Welt hinüberführt. Wenn aber, wie in Troilus und Cressida, das Recht der neuen Haltung und der Unsinn der alten schon klar vor aller Augen steht und die Menschen doch, eingezwängt in alte Gewohnheiten und Gefühle, das tun, was sie selber für unsinnig erkennen, so ist das nicht mehr tragisch, sondern nur bitter; und Bitterkeit und Sarkasmus sind es, die das Drama von Troilus und Cressida erfüllen und es zur Tragikomödie werden lassen. Alle Tragik hat etwas Verheißungsvolles, denn es geht in ihr um wirkliche Werte. Die Bitterkeit aber ist trostlos, und so beherrschen denn in Troilus und Cressida nicht der edle Hektor und der klare Ulysses das Feld, und nicht einmal der traumtrunkene Troilus, sondern der niedrige Kuppler Pandarus und der feige Schwätzer Thersites. Antonius und Cleopatra Nicht Caesars Kraft besiegte Marc Anton, Nein, Marc Anton erlag sich selber nur (IV 13). Troilus und Cressida waren einander in einer anderen Weise fern, als wirkliche Liebende es sind. Nur äußerlich strebten sie zueinander, unterirdisch trieben stärkere Kräfte sie auseinander. Er der Schwärmer und reine Tor, sie das anfangs noch unerfahrene Mädchen, das im Erleben der Lust zur begehrlichen und wenig wählerischen Frau wird. Anderer Art ist die Fremdheit und Anziehungskraft, die zwischen Antonius und Cleopatra spielt. Es ist, echte und hohe Polarität, die Fremdheit der Sphären, aus denen sie stammen. Antonius kommt aus der Welt Roms, deren Bestes die Fähigkeit zur kraftvollen Weltgestaltung ist. Cleopatra blüht in der exotischen Welt des Orients, sie ist eine Virtuosin des Weltgenusses. Unter den Römern steht Antonius, dies war schon in Julius Caesar zu spüren, den Lockungen des Selbstgenusses und des Weltgenusses am weitesten offen. Nun, im Banne der selber leidenschaftlich brennenden Liebesvirtuosin, setzt er die Größe des Feldherrn und die sachgerichtete Macht des Weltenherrschers aufs Spiel und ergibt sich dem Rausch. Die vielen Gelage, die Nächte des selbstvergessenen Trinkens sind äußerer Widerschein der Selbstberauschung der Seele. Trink, bis alle Welten schwanken, Trink, bis alle Welten schwanken! 120

so tönt es bei dem hektisch maßlosen Fest auf dem Schiffe des Pompejus, der in eben diesem Fest die Welt sich entgleiten läßt; von Lepidus hört man später, er habe seit jenem Trinken die Bleichsucht, the green sickness, und selbst der ruhige Octavius sagt mit schwerer Zunge: „Dies wilde Treiben hat uns zu Narren fast entstellt" (II 7, III 2). Er allein spricht von Selbstentstellung, von Verkleidung (disguise), er allein bleibt schließlich er selber. Pompejus und Lepidus lassen sich täuschen; Antonius nennt den entmachteten Lepidus verzweiflungsvoll einen Toren (fool, III 5), und von Pompejus sagt, ihn schon aufgebend, sein Gefolgsmann Menas, er sei seines Vaters Art untreu geworden (II 6); er nennt sein Glück morsch (pall'd fortunes II 7), so wie später Antonius' Gefolgsmann Enobarbus dem „wunden Glück" (III 8) seines Herrn sich entziehen möchte. Cup us, till the world go round - der Verlust der Welt im Rausch ist Thema des Stücks, in dem Trinkgelage des Pompejus ertönt ein wildes, dröhnendes Echo der Grundmelodie. Antonius ist nicht, wie Romeo, ein Narr des Glücks, er ist der Narr seiner selbst. Wenn in Troilus und Cressida Ulysses behauptet, Troja stehe nicht durch seine eigene Stärke, sondern durch seiner Feinde Schwäche - Troy in our weakness lives, not in her strength (I 3) - so erkennt Antonius umgekehrt, daß nicht der Feind, nicht das Schicksal ihn zers.töre, sondern er sich selbst. Das Drama Shakespeares zeigt ihn im Zauberbann der Ägypterin - auch wenn er fern von ihr eine politische Heirat mit Octavius' Schwester eingeht, drängt es ihn, unruhig, zu ihr zurück; auch wenn er gegen sie losbricht, sie beschuldigt und beschimpft, ist er an sie gekettet, und da, wo er verzweifelt den Verlust des früheren Glücks und des früheren Selbst beklagt, bleibt er unentrinnbar „ihres Zaubers edles Wrack", wie einer seiner Getreuen ihn nennt, the noble ruin of her magic (III 8). Die Größe und der Adel seiner Natur spiegeln sich in seinem Verhältnis zu Pompejus und zu Lepidus, zu seinem Freunde Eros, der mit ihm stirbt, und zu seinem Hauptmann Enobarbus, der ihn verläßt und doch den eigenen Verrat nicht ertragen kann. Noch im Unglück erscheint der Imperator Antonius als ein „Zeus"; Enobarbus nennt ihn eine Goldgrube von Huld — thou mine of bounty — sich selber aber den Schurken par excellence, den einzigen Bösewicht auf Erden (IV 6). Selbst der kühle Octavius beklagt ihn als seinen Bruder, seinen Mitbewerber um jede hohe Tat, er nennt ihn Freund und Kriegsgefährten, Genoss im Herrschen, und betrauert, „daß unsre Sterne, nie zu versöhnen, unsre Gleichheit so getrennt" (V 1). Antonius selber aber klagt nicht das Schicksal an, auch nicht Cleopatra zuletzt, sondern sich. „Verlassen sei, was selber sich verläßt", sagt er zu seinen Dienern (III 9). Seit er Cleopatra verfiel, hatte er seine Identität verloren, die Desintegration, die er am Ende feststellt, war schon längst am Werk. Wenn er einst in übermütigem Scherz dem Lepidus das Krokodil beschrieben hatte als ein 121

Wesen, das so ist, wie es ist - „Es hat eine Gestalt, Herr, wie es selbst, und ist so breit, als seine Breite beträgt..." (II 7) - so vergleicht er sich selber jetzt einer Wolke, die niemals bleibt, was sie ist, die uns mit immer neuen Formen täuscht. Eros, siehst du mich noch? ... Oft sehn wir eine Wolke drachenhaft, Oft Dünstgestalten gleich dem Leu, dem Bär, Der hochgetürmten Burg, dem Felsenhang, Gezacktem Gipfel, blauem Vorgebirg, Mit Bäumen drauf, die nicken auf die Welt, Mit Luft die Augen täuschend... Was jetzt ein Pferd noch war, im nächsten Nu Verwischt's der Wolkenzug, unkenntlich wird's, Wie Wasser ist im Wasser... Mein guter Knab, Eros, jetzt ist dein Feldherr Grad so ein Körper: Hier bin ich Mark Anton, Doch bleibt die Form mir nicht, die jetzt du siehst... (IV 12) Antonius ist zum Proteus geworden, seit die „Zigeunerin", die selber willig ihren wechselnden Launen sich überläßt, ihn in ihren Zauberbann gezogen. Und doch hat auch diese Liebe Größe und Glanz, so wie Cleopatra selber am Schluß nicht ohne Größe vor uns steht. Für Antonius, den Imperator, kann die Welt nicht wesenlos werden wie für den Jüngling Romeo, und so teilt er sich denn, flackernd, zerrissen, zwischen seinem Amt und seiner Liebe, in verzweifeltem Widerstreben und krampfhafter Selbstverblendung die Macht des Weltenherrschers schließlich seiner Liebe opfernd. Die Liebe Antonius' und Cleopatras ist, bei aller Unbeherrschtheit, von verführerischer Leuchtkraft. Sie hat leidenschaftliche Gewalt und Tiefe - nur die Freiheit fehlt ihr. Wie Romeo und Julia geben sie sich selber den Tod — „Ist's denn Sünde, zu stürmen ins geheime Haus des Todes, eh Tod zu uns sich wagt?" Cleopatra IV 13 - aber nicht wie jene frei und gelöst nur um des ändern willen, sondern weil jeder von ihnen zu Ende ist, weil sie selber verspielt haben. Cleopatra, deren Zauber zwar noch hinreicht, den Abgesandten des Augustus zu gewinnen, aber nicht ihn selber. Antonius, den der Rausch so umfangen hielt, daß er, der geniale Feldherr, gegen das Flehen all seiner Freunde und Berater, starr an dem kindischsten Kriegsplan festhielt und dann in der Seeschlacht dem sinnlos fliehenden Admiralschiff seiner Geliebten nacheilte, steht im Zusammenbruch beschämt und verzweifelt, bald zornig oder trotzig, bald wehmütig da. Seine Welt ist nicht mehr. Der Tod Romeos und Julias ist nichts als die höchste und letzte Feier ihrer Liebe und zugleich ihres Daseins. In der Liebe erfuhr ihr Dasein seine schönste Erfüllung - in der Liebe des Antonius und der Cleopatra aber ist nicht nur Schönheit und 122

Stärke, sondern auch Gift und Betäubung. Die Liebe Romeos und Julias ist verbunden mit der höchsten inneren Freiheit, bei Antonius ist die Liebe ein zauberischer Zwang, der die eine Seite seines Wesens in Fesseln schlägt und die Einheit seines Daseins zerstört. Die leidenschaftliche Verliebtheit Antonius' und Cleopatras hat funkelnden Glanz, aber es ist nicht Freiheit in ihr. Und der Welt wird sie nicht zum Heil, wie die Liebe Romeos und Julias, sondern zum Verderb. Wie sie sich selber verzehrt, so bedroht sie auch die Welt mit Auflösung. Der klare und sachgerichtete Augustus, Repräsentant der weltordnenden Kräfte, setzt der unheilvollen Beziehung ein Ende und bringt ihren Trägern den Untergang. Er tut es nicht als Vollstrecker eines düsteren Schicksals: Antonius und Cleopatra haben sich den Untergang selbst bereitet, sie fallen als Opfer ihrer selbst.

TITUS A N D R O N I C U S - TIMON VON ATHEN Shakespeares Größe liegt nicht im Erfinden der Fabeln. Er griff im Gegenteil gerne auf vorgeformte Stoffe, schöpfte aus mittelalterlichen Chroniken, antiken Biographien, italienischen Novellen oder arbeitete ältere Dramen um. Das elisabethanische Theater brauchte Zugstücke, ein beliebtes Thema reizte zu immer neuer Formung, oft wurde ein älteres Stück neu zurechtgemacht. Mehrere Dichter fanden sich zur Gemeinschaftsarbeit, und es bleibt in manchen Fällen ungewiß, von welcher Hand die einzelnen Szenen oder Verse stammen, wieviel aus der Vorlage übernommen, was geändert, was hinzugefügt wurde. Unter Shakespeares Dramen gibt es einige, die ihm von modernen Kritikern ganz oder teilweise abgesprochen werden; auch innerhalb der anerkannten Stücke sind manche Verse strittig, so daß man von einer fortschreitenden „Desintegration" Shakespeares gesprochen und sich gegen sie zur Wehr zu setzen begonnen hat. Der frühe Titus Andronicus und der späte Timon von Athen gehören zu den umstrittenen Stücken. Beide sind den dichterischen Moden der Epoche stärker und äußerlicher verpflichtet als Shakespeares übrige Tragödien. Seine individuelle Meisterschaft prägt sich in ihnen nicht' voll aus, sei es, daß sie sich in dem frühen Stück noch nicht gefunden hat und in dem späten erlahmt ist, sei es, daß er jenes mit rascher, dieses mit nachlässiger Hand hingeworfen, sei es schließlich, daß Shakespeare nur bis zu einem gewissen Grade als Autor überhaupt verantwortlich zu machen ist. Trotzdem hat die Betrachtung der beiden Werke ein hohes Interesse. Manche wichtigen Motive erscheinen hier in besonderer Klarheit, und die Themen: Rache und Menschenhaß, gehören zu den zentralen in Shakespeares gesamtem Werk. Titus Andronicus Ich fang euch in dem selbstgestellten Garn ... And will o'er-reach them in their own devices Von Titus Andronicus -sagt sein Sohn Lucius, er sei „der jammervollste Mann, den Rom gesehn", the woefull'st man that ever liv'd in Rome (III 1). Und der Dichter scheint unmittelbar nichts anderes zu beabsichtigen als seinen auf scharfe Sensationen erpichten Zuschauern diesen Mann vorzustellen, die Greuel, die an ihm und den Seinen verübt werden, das wilde Umsichschlagen des Getroffenen, die Ausbrüche der Qual und des Hasses, die verzweifelten Griffe nach den Gegnern, das blutige Schwelgen in der Rache. Alles, Worte und Gebärden, ins Äußerste steigernd, vor keiner Geschmacklosigkeit erschreckend. Die Handlung scheint nur da zu sein, um die entsetzlichen Figuren, die gräßlichen Effekte auf die Bühne zu bringen. Es ist elisabethanisches Theater in seiner primitiven Form: das Grelle, das 124

Grausame, das Perverse soll das Publikum packen, alles andere zählt wenig. Das Bedürfnis nach dem Wesentlichen, dem Bedeutenden, das in jedem Menschen schlummert, gibt sich leicht mit dem Sensationellen, mit dem Gräßlichen zufrieden. Im Erleben des Gräßlichen versinken die feineren Ansprüche, der ganze Mensch steht im Bann einer einzigen „Sensation". Und der Mensch will im Theater sich passiv hingeben, will im Banne großer Erscheinungen stehen - das Kriminelle ist, heute im Kino genau wie einst auf der elisabethanischen Bühne, das primitivste, das am schnellsten und schärfsten wirkende Schema des Außerordentlichen. Das elisabethanische Theater richtete sich an ein teilweise rohes Publikum und wollte vor allem wirken; es hat mit den Effekten des Grausamen, des Perversen, des Überspannten nicht gespart, und moderne Forscher haben die entsprechenden Züge in Shakespeares Dramen aufgedeckt und nicht selten in den Vordergrund geschoben. Es ist wahr, auch Othello und Romeo wälzen sich am Boden, Lear und Hamlet haben ihre Anfälle, fits - aber niemals entsteht der Eindruck, daß die Dramen im wesentlichen um dieser „Höhepunkte" willen geschrieben seien. Nur vom Titus und vom Timon kann man solches sagen; mit ihnen nimmt Shakespeare an der durchschnittlichen Produktion der elisabethanischen und nachelisabethanischen Ära teil. Titus Andronicus ist ein primitives Rache-, Buhl- und Greuelstück, rasch sich folgende Intensitätsstöße halten den Zuschauer in Atem, gehäufte Greuel peitschen die Nerven auf, raffinierte Steigerungsmöglichkeiten beschäftigen die Phantasie - für uns Heutige freilich ist die Grenze vom Gräßlichen zum Lächerlichen hier überschritten. Und doch ist das Stück auch heute nicht ohne Wirkung. „Ich fang euch in dem selbstgestellten Garn", sagt Titus (V 2), und sein Bruder will verhüten, daß Rom sich selber Gift sei: Lest Rome herself be bane unto herself (V3). Das gerade aber war das Schicksal dieser Gestalten, Titus' ebenso wie Tamoras und der Ihren: sie waren sich selber Gift, und mit ihnen, in ihnen zehrte Rom sich selber auf. Sie alle fingen sich im selbstgestellten Garn und rissen andere, Unschuldige mit ins Verderben. Zwar wird beiläufig versucht, die Götter mit der Verantwortung zu belasten: als ob diese sich - das berühmte Wort Glosters aus dem Lear klingt vor — der menschlichen Tragödien erfreuten (IV l, Marcus Andronicus); und als Titus von „Jupiter" spricht, da versteht der Clown gibbet-maker, Galgenmacher, ein zynisches Wortspiel, das in Tieck-Baudissins Übertragung hübsch mit Lenker Zeus Henker Zeus wiedergegeben ist (IV 3). Aber im Lear zeihen Edgar und Edmund, der gute wie der schlimme Sohn, den Sterne und Götter beschuldigenden Gloster einmütig der Unreife. Und im Titus korrigiert Marcus Andronicus, der Bruder des Helden, sich selber, indem er die Römer schließlich daran erinnert, daß es an ihnen liege, sich nicht mit eigener Hand das Verderben zu bereiten. Nicht Zeus ist der Galgenmacher, der Mensch ist es 125

selber, er ist Stifter des eigenen Übels. Thou brought thyself in care, muß schon Jedermann, der Held des berühmten morality play (Everyman) sich sagen lassen. Im Tittts nimmt das Unheil seinen Ausgang von einem gotteslästerlichen Ritus: Titus opfert seinen gefallenen Söhnen den vornehmsten der Feinde, den ältesten Sohn der gefangenen Gotenkönigin. Eine alte Sitte will es so, „auf daß nicht ungesühnt ihr Schatten sei, noch uns bedräu auf Erden ihr Gespenst." Titus ist nicht Neuerer wie Hamlet, ihn lüstet es nicht, alte Sitten zu brechen; mitleidlos läßt er den Sohn Tamoras zum Tode führen. Umsonst fleht sie ihn an: Andronicus, beflecke nicht dein Grab mit Blut: Willst du dich der Natur der Götter nähern, Nah ihnen denn, indem du Gnade übst. Die süße Gnade ist des Adels Zeichen. Süße Gnade, sweet mercy: ein Wort erklingt, das in Shakespeares Werk eine bedeutsame Rolle spielt; und schon hier klingt es stark und echt. Aber es wird nicht vernommen. Titus erwidert, daß die Brüder der Erschlagenen das Opfer aus religiöser Pflicht verlangen, und Lucius, der älteste dieser Brüder, drängt: „Hinweg mit ihm; auf einem Holzstoß laßt uns mit dem Schwert die Glieder ihm zerhauen, bis sie verbrannt." Tamora, hier noch nicht Furie, sondern Sprecherin wahrhafter Mahnungen, nennt das eine „grause, gottverhaßte Frömmigkeit": O cruel, irreligious piety! Ein barockes Paradox, das die Situation gültig charakterisiert. Schon aber spricht ihr eigner Sohn von Rache. So nimmt die Kette der Rachehandlungen hier ihren Ursprung: in menschlicher Verkehrtheit. Titus und seine Söhne stellen sich das Netz ihres Untergangs selbst; nicht, wie später Tamora, in Zorn -und Gier, aber als willige Knechte einer unmenschlichen Sitte. Fortuna wendet sich rasch und unversehens. Die Gotenkönigin Tamora, die das Cleopatra nur drohende Schicksal, im Triumphzug mitgeführt zu werden, wirklich erleidet, besitzt nach der Absicht des Dichters auch etwas von der Reizkraft Cleopatras: Sie berückt den neugewählten Kaiser Saturnin, und er verfällt ihr so ganz, daß der Mohr Aaron, der in diesem Stück die Rolle des Teufels spielt, von ihr sagen darf, sie verzaubere Roms Saturnin und werde sein und seines Staates Schiff zu einem Wrack machen (II1) ähnlich wie in dem späteren Stück Cleopatras Zauber Antonius zum „edlen Wrack" macht. Unter dem Einfluß Tamoras wendet der Kaiser sich gegen Titus, und der eben noch Bejubelte wird von den Mächtigen fallen gelassen. Umsonst fleht der gestürzte Kaisermacher die Senatoren und Tribunen an, sie hören ihn nicht. Der eben noch Allmächtige ist ohnmächtig, Tamoras Rache nimmt ihren Gang. Seine Söhne werden unter falscher Anklage hingerichtet, seine Tochter geschändet und verstümmelt, ihr Gatte ermordet, er 126

selber höhnisch dazu verführt, sich die eigene Hand abzuschlagen... Bis sich das Rad noch einmal dreht und er seinerseits, und nicht minder grausam, Rache an Tamora, ihrem Gatten, ihrem Buhlen, ihren Söhnen nehmen kann. Und wie er sich selber seine Hand abschlagen mußte, so muß nun Tamora, in einem grausen Thyestesmahl, ahnungslos die eigenen Söhne essen - auch hier noch steht der bittere Hohn dahinter: Du verschlingst dein eigenes Blut, du selber bist dir selber Gift. Tamora ihrerseits und ihre Söhne versinnbildlichen in unwahrscheinlicher Verblendung den geheimen Leitsatz des Dramas, indem sie, einen unglaublichen Einfall unglaublich verwirklichend, vor Titus treten, um sich als Rache, Notzucht und Mord auszugeben; sie heißen, so erklären sie, deswegen Notzucht und Mord, weil sie diese Frevel rächen. Es ist ein verwegenes Spiel mit Titus' Wahnwitz, Titus aber durchschaut es, er höhnt: „Wie gleichen sie der Kaiserin Söhnen und du der Kaiserin!" Es ist bei aller Kraßheit und Plumpheit ein vielschichtiges Spiel: Die Individuen werden zu Typen, die Rächerin zur Rache, der Mörder zum Mord, der Notzüchter zur Notzucht; Mord soll Mord und Notzucht Notzucht strafen, und auch die Rache wird ihre Rache an sich selber nehmen. Die Individuen erstarren zur Allegorie und versinnbildlichen so die prinzipielle Bedeutung allen individuellen Geschehens. So wie Macbeth, wenn er einen Schlafenden mordet, den Schlaf mordet, so ist der einzelne, der mordet oder vergewaltigt, in diesem Augenblick der Mord, die Vergewaltigung, mit kosmischer Verantwortung belastet. Der Übergang von der Allegorie des Mittelalters zum neuzeitlichen Drama, wo das Individuum Repräsentant einer geistigen Haltung oder Wirklichkeit wird, ist hier mit Händen zu greifen. Und auch die barocke Vorliebe für differenziertes Theater- und Maskenspiel ist schon sichtbar: Tamora und ihre Söhne treten in der Maske von Rache, Mord und Notzucht auf, Titus durchschaut das Spiel, stellt sich aber, als ob er wähne, Rache, Mord und Notzucht hätten - begreiflicherweise, da sie keine trefflichere hätten finden können - die Maske Tamoras und ihrer beiden Söhne geborgt. In Wirklichkeit stellen Tamora und ihre Söhne, achtlos-frevlerisch, in unbewußter Selbstironie ihr eigenes Wesen bildhaft dar; diese Intrige soll sie retten, aber das Gegenteil geschieht: Die Frevler stürzen in das selbstgespannte Netz. Die Intention des Dichters, der Tamoras Verkleidungsspiel in Szene setzt, ist geistig bedeutsam; die künstlerische Durchführung ist grob und plump. Von wahrhaft packender Symbolkraft aber ist jene Szene, wo Titus' Söhne in die Grube taumeln. Während der Jagd in einem Wald bei Rom haben Tamoras Söhne des Kaisers Bruder Bassian, den Gemahl von Titus' Tochter Lavinia, ermordet, Lavinia vergewaltigt, ihr die Hände abgehauen und die Zunge ausgeschnitten. Der Leichnam Bassians wird in eine Grube geworfen, und nun lockt der Mohr Aaron die beiden Titussöhne Marcius und Quintus dahin, ihnen vorspiegelnd, es liege ein Panther schlafend in der Grube. 127

Wie Caesar vor seinem Gang in den Senat und der Poet Cinna vor seinem ebenso unheilvollen Ausgang auf die Straße, wie Hamlet vor dem Zweikampf mit Laertes sind sie erfüllt von dumpfem Ahnen; sie folgen Aaron nur mit Widerstreben, aber sie folgen ihm. Quintus: Was es auch deute, trübe ward mein Blick. Marcius: Und meiner wahrlich auch; schämt' ich mich nicht, Ich ließe gern die Jagd und schliefe hier. Im selben Augenblick fällt Marcius in die Grube, der Mohr macht sich fort, den Kaiser zu holen, um die Titussöhne als Mörder Bassians zu bezeichnen; Marcius sieht schaudernd den Toten und bittet seinen Bruder, ihm aus der entsetzlichen Gruft zu helfen. Marcius: O Bruder, hilf mir mit kraftloser HandWenn Furcht dich kraftlos machte, so wie mich Aus diesem grausen, gierigen Verließ. So gräßlich wie Cocytus' trüber Schlund. Quintus: Gib mir die Hand, daß ich empor dir helf. Und reicht die Kraft nicht aus, dir beizustehn. Fall ich wohl selbst in dieses tiefen Pfuhls Verhaßten Schoß, das Grab des Bassian. Ich bin zu schwach, zum Rand dich aufzuziehn. Marcius: Und ich erklimm ihn ohne Beistand nie. Quintus: Nochmals die Hand; ich laß dich nicht mehr los, Bis du hinaufsteigst, oder ich hinab ... Du kommst zu mir nicht: so komm ich zu dir. Er fällt in die Grube... (II 3). Wie im Zauberbann eines unausweichlichen Schicksals taumelt er dem in die Tiefe gefallenen Bruder nach; Liebe und Verbundenheit, freier Wille und eine betäubende Müdigkeit in seltsamer Durchdringung ziehen ihn nach unten. Nun sind die Brüder vereint, gemeinsam-verlassen - „O welche Einigkeit im Weh ist dies", sagt später einmal Titus, O what sympathy of woe is this (III 1). Der Mensch im Schicksalsbann, halb freiwillig dem schreckhaft Unheimlichen sich überlassend, halb gelähmt ihm verfallend - weit ergreifender als in den Greuelszenen steht dieses Bild in dem dunklen Abenteuer der todgeweihten Brüder vor uns, in ihren Worten, Gebärden und Bewegungen. Das Schicksal aber ist nicht ein von erbarmungslosen Göttern gesandtes Verhängnis, es hat seinen Ursprung in der menschlichen Welt. Es sind menschliche Gewohnheiten und Leidenschaften, menschliche Entscheidungen, die es 128

auslösen. Im gleidien Gespräch, in dem Marcus Andronicus über das Tal, wo Lavinia Gewalt erlitten hat, die verzweifelte Frage tut: Wie schuf so wilden Talgrund die Natur, Es sei, daß Götter der Tragödien sich freuen? O why should nature build so foul a den, Unless the gods delight in tragedies? blättert Lavinia in Ovids Metamorphosen die Stelle auf, wo „die tragische Mär von Philomele" und ihrer Schändung durch Tereus erzählt wird, und Titus erkennt, daß die Wirklichkeit das Abbild der Dichtung ist. Ja, solch ein Tal ist dort, wo wir gejagt O hätten wir doch nie, nie dort gejagt! — Des Abbild, das der Dichter hier beschreibt, Von der Natur geprägt zu Mord und Notzucht. Pattern'd by that the poet here describes... (IV 1) Die Natur bietet den Schauplatz, der Vorgang aber gehört dem Menschen zu, und die Wirklichkeit imitiert die Dichtung. Auf eine andere Art der Imitatio hatte Tamora ganz zu Anfang Titus Andronicus hinweisen wollen: Wilt thou draw near the nature of the gods? Draw near them then in being merciful. Sweet mercy is nobility's true badge. Willst du dich der Natur der Götter nähern? Nah ihnen denn, indem du gnädig bist. Die süße Gnade ist des Adels wahres Zeichen. Es ist das mittelalterlich-christliche Ideal der Imitatio Dei, das Tamora bei Titus voraussetzt: der Mensch soll Gott „nachahmen". Der Weg dazu ist ihm in der Nachfolge Christi gegeben, das Leben der Heiligen ist Imitatio Christi. Und daß in Christus von den göttlichen Eigenschaften wirklich die von Tamora genannte am stärksten repräsentiert ist, leidet keinen Zweifel: die aus der Liebe strömende Gnade, sweet mercy. Aber Titus verhärtet sich. Und Tamora selber wird sich später des von ihr verkündeten Ideals nicht erinnern. Statt Gott nachzuahmen wird sie dem schwarzen Teufel Aaron verfallen, statt Gnade zu üben wird sie buhlen und morden. Der Dichter zeigt keinen Übergang, zeichnet keine Entwicklung. Man kann nicht einmal von einem Charakterbruch sprechen: denn Tamora ist mehr Figur als Charakter. Sie ist Trägerin von Worten, Gebärden und Taten, die nicht lebendig aus ihr erwachsen, die ihr einfach zugeteilt sind. Sie ist zuerst Sprecherin

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richtiger, später Sprecherin schändlicher Worte und Täterin schändlicher Taten, ähnlich wie Titus' Sohn Lucius in der ersten Szene unempfindlichungestüm die Zerstückelung von Tamoras Sohn fordert und durchführt, während er am Schluß als Retter und weiser Ordner des Staates auftritt. Tamoras Rede von der Gnade hat etwas Spruchbandartiges, sie kommt nicht aus der Tiefe ihrer Persönlichkeit. Auch andere Züge des Stückes erinnern an mittelalterliche Spiele: die Neigung zur allegorischen Darstellung (Rache, Mord und Notzucht), das häufige Beiseite- oder richtiger zumPublikum-sprechen, die Selbsterklärungen. Sie fallen besonders bei dem Mohren Aaron auf, dem bösen Geist des Stücks. Wenn die Allegorien an die mittelalterlichen Moralitäten erinnern, so ist er ein Abkömmling des Teufels im alten Misterienspiel. Wie die mittelalterlichen, so sind auch die Renaissance- und Barockelemente im Tittts mit Händen zu greifen. Sie stehen gleichsam nackt da, während in den späteren Tragödien Shakespeares Genie sie alle zu einer einzigartigen Einheit verschmelzt. Die Anklänge an Seneca sind überdeutlich: Blutige Greuel (Thyestesmahl), Vorahnungen und Träume, Reminiszenzen an Troja, an Hekuba, das Pathos der Klage, des Zorns, des Wahnsinns. Die barocken Züge geben sich in einer Direktheit, die man manieristisch nennen kann. So etwa die heftigen Wendungen: der unvermittelte Wechsel des Glücks in den Schicksalen Titus' und Tamoras und ihrer Familien, aber auch die ruckartigen Reaktionen Titus': In der ersten Szene ersticht er zornig, wie aus heiterem Himmel, seinen Sohn Mucius; das hindert ihn nicht, gleich darauf für den morgigen Tag eine fröhliche Jagd anzuordnen. In der letzten Szene, wo er Tamora das Thyestesmahl kredenzt, tritt er, ein groteskes Bild, als Koch gekleidet auf, um so seine Urheberschaft zu dokumentieren. In dieser Tracht ersticht er, unvermittelt an „den raschen Virginius" erinnernd, seine Tochter Lavinia, nachher die Kaiserin Tamora, worauf er selber durch des Kaisers Hand fällt, der nun seinerseits sofort von Titus' Sohn Lucius erstochen wird. Ebenso plötzlich ermordeten Tamoras Söhne Lavinias Gemahl Bassian und der Mohr die Amme, die ihm das schwarze Kind der Kaiserin gebracht. Kaiser Saturninus nennt selber seine Verlobung mit Tamora in der ersten Stunde, da er sie sieht, eine plötzliche Wahl, a sudden choice (11). Leid und Lust, Mord und Vollere! stehen grell nebeneinander. Nach Bassians Ermordung büßen die Tamora-Söhne ihre Lust an Lavinia, und Tamora buhlt mit dem Mohren, „indes die Knaben jene Dirne schänden" (II 3). Das Wehgeschrei der sterbenden Amme äfft der Neger nach: „Quiek, quiek, so schreit das Ferkel, das man spießt! (IV 2)", und aus dem Versteck beobachtet er den verzweifelnden Titus, den er dazu verführt hat, sich die Hand abzuhauen: Ich spielte falsch um deines Vaters Hand 130

Und als ich sie erlangt, trat ich beiseit Und platzte vor unbändgem Lachen fast. Ich guckt durch einen Mauerspalt, als er Der Söhne Häupter für die Hand erhielt; Sah, wie er weint', und lachte dann so herzlich, Daß mir die Augen tränten, so wie ihm. Und als ich Tamora den Spaß erzählt, Fiel vor Vergnügen sie in Ohnmacht fast Und gab mir zwanzig Küsse für die Zeitung. „Erhitzte Brunst" und „Rach-Lust" sind die Hauptübel der Menschen, sie gehen allen ändern Lastern - Geiz, Hochmut, Angst, Einbildung, Wahn und Pracht - weit voran. So heißt es in einem Chor („Reyen") von Andreas Grypiims'Cardenio und Gelinde. Wenn der Dichter des Titus Andronicus beide, Brunst und Rachgier, so eng, so manieristisch kraß verschwistert, so hebt er damit einen verborgenen Zusammenhang in grelles Licht. Es ist kein Zufall, daß die rachelüsterne Tamora zugleich verbuhlt ist, während der unter der Rachepflicht leidende Hamlet in heftigen Ausfällen alle Buhlsucht geißelt. Im Titus ist Rache Selbstverständlichkeit, nicht nur für den Helden selber und Tamora, auch noch für den am Schluß die Situation herstellenden Lucius. Alle Personen des Stückes bejahen sich selbst, im Gegensatz zu Hamlet, der an sich verzweifelt. Während Hamlet zögert, den Schuldigen zu töten, werden hier unbedenklich Unschuldige vernichtet. Der Mohr ist ein zynisch-selbstbewußter Teufel, ähnlich wie Jago, aber primitiver, kindlicher, nackter. Er rühmt sich seiner Verbrechen, bedauert, daß er nicht zehntausend schlimmere begehen kann - wenn es Teufel gäbe, möchte er ein Teufel sein. // there be devils, -would I were a devil (V 1,3). Ähnlich stolz bejaht Titus seinen Wahnsinn: Nur ich, kein anderer dürfte wahnsinnig sein, No man should be mad but I (III 2). Titus' Wahnsinn erinnert nicht nur an das ältere Vorbild, Hieronymo in Kyds Spanischer Tragödie, sondern weist auch schon auf Hamlet. Wie Hamlets, so ist auch Titus' Wahn halb echt, halb gespielt - bei Hamlet barock gelöst, bei Titus manieristisch starr - und wie Hamlet vom König durchschaut wird, so Titus vom Kaiser, er nennt ihn „verstellt-wahnsinniger Hund", sly frantic wretch (IV 4). An Hamlet erinnert auch die Parteinahme des Volkes für den des Thrones Würdigen. Das Volk, das im Shakespeareschen Drama so oft eine verächtliche Rolle spielt, hat in beiden Stücken das richtige Gefühl und Urteil. Harte Wendungen, scharfe Kontraste, Umkehrungen - Geist des Manierismus. Neben Tamoras Buhlerei steht Lavinias Keuschheit. Die Königin muß knien - aber die Gefangene wird erhöht. „Ihr seht, ich gab ihr Arznei", sagt Aaron und deutet auf die Amme, der er den Tod gegeben. Daß der seine Rache betreibende Titus dreimal von „Grazie" redet, erinnert an Calderons 131

Richter von Zalamea, der die Radie an dem Schänder seiner Tochter „mit Respekt" vollzielt. Gespenstisch wandelt das Kind, der kleine Sohn des Lucius, durch all die Greuel. Der rasende Großvater erzählt ihm Märchen, „für deine Kindheit passend ausgewählt" ... Die Zärtlichkeit des Mohren für den eigenen braunen Bastard hat beinahe etwas Rührendes und steht in seltsamem Kontrast zu seiner sonstigen Unempfindlichkeit. Titus hat Mitleid mit einer Fliege - bis er sich einreden läßt, sie sei mit dem Mohren identisch: nun will er sie wütend zerhacken. Willensunterjochung (Titus ist ein tyrannischer Vater wie so viele andere Väter in Shakespeares Spielen), Selbstentfremdung, Verkleidung, Selbstverlust, Identifizierungen, Belauschungen und andere manieristische und barocke Lieblingsmotive durchspielen das Stück. Wie Harun al Raschid geht Kaiser Saturnin als Bürgersmann verkleidet durch die Stadt, um das Volk auszuhorchen - aber er vernimmt nur Anklagen gegen sich und den Wunsch nach einem anderen Kaiser. Tamora will Titus mit allen ihren Künsten „zähmen" - sie liefert ihm nur die Mittel, sie zu vernichten. Nicht die Götter vernichten die Menschen, nicht die unfaßbare Fortuna wird ihnen zum Unheil, wie etwa bei Garnier, wo Fortune selbst Vertu überwindet. Bei Shakespeare sind, schon im Titus, die Menschen sich selber und einander gegenseitig Fortuna. Nur Teufel dürfen den Göttern nicht vertrauen — Aaron vertraut nicht einmal der Luft. Lucius aber, der unerbittlich und gnadenlos mit den Bösewichtern abrechnet, darf vertrauensvoll an die Neuordnung, den Neuaufbau von Staat und Gesellschaft gehen, denn die Stifter des Bösen sind ausgemerzt. Von den Göttern - ist nichts zu fürchten. Timon von Athen Lichter! Mehr Lichter! Noch ausschließlicher als im Titus Anäronicus ist im Timon of Athens alles Interesse der Hauptgestalt zugewendet. Hatte im Titus die Handlung bei aller Primitivität doch eine eindringliche eigene Bedeutungskraft, so ist sie im Timon nur noch Mittel, sie führt dem Publikum einen edlen und gütigen Menschen vor, der jäh zum wütenden Menschenfeind wird. Seine Anfälle und Ausbrüche, seine Wut- und Schmähreden scheinen das Ziel der Darstellung zu sein. Auch dieses Stück hat etwas Manieristisches. Handlung und Gestalten sind nicht, wie in den großen Tragödien aus Shakespeares reifer Zeit, zu einer natürlichen Einheit verschmolzen; den einzelnen Figuren ist das Geschehen gleichsam von außen zugeteilt. In scharfem Bruch ist Timon zuerst der gütige und überlegene Spender von Wohltaten, nachher der verzweiflungsvoll und entfesselt gegen Mensch, Erde, Kosmos Wütende. In manieristischer Weise sind beide Haltungen ins Extrem getrieben. Ein allmählicher Übergang, ein Werden, eine Wandlung wird nicht gezeigt. Die Verkehrung ist

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viel nackter als etwa im Lear, wo das Werden des Wahnsinns faszinierend dargestellt ist. „Hinab, aufsteigend Weh!" heißt es im Lear. „O Narr, ich werde rasend!" „O auf dem Weg ist Wahnsinn." „Mein Geist beginnt zu schwindeln." Im Titus Andronicus ist das Wahnsinnswüten einfach plötzlich da, und es prägt sich nicht wie bei Lear in einer zerrissenen Sprache lebendig aus. Timon wird im zweiten Teil des Stückes zu einem ekstatischen Sprecher von Schmähungen, aber der Anlaß zu seinen Reden wird jeweils künstlich herbeigeführt, sie entwachsen nicht einer aus eigenem Gewicht abrollenden Handlung. Die beiden Teile des Stückes stehen sich schroff gegenüber, etwa so, wie die geistlichen und die weltlichen Poemata in gewissen Gedichtsammlungen des deutschen Barocks (das im ganzen viel stärker die Züge des Manierismus trägt als Shakespeares Gesamtwerk). Nicht einmal das Wort Verwandlung ist angemessen; die Verkehrung Timons hat etwas Mechanisches an sich. In dieser grellen Stilisierung ist Timon ein unheimliches und packendes Bild des verzweifelnden Menschen. Die Handlung, sorglos hingeworfen, zählt kaum. Um so mehr die Reaktionen der Menschen, Timons besonders, aber auch der Schmarotzer, der Diener, des Freundes. Timons großer Reichtum, der nicht, wie Dorothea Tieck glättend übersetzt, seinen adlig gütgen Sinn umkleidet, sondern seiner guten und gnadenvollen Natur als etwas Äußeres übergeworfen ist (his large fortune, upon his good and gracious nature hanging, I I ) , unterwirft und kauft ihm jedes Herz. Der Ernste, Strenge, Rauhe dient ihm ebenso willig wie der Glatte und Geschmeidige. Sie gießen - das aus Hamlet und Othello vertraute und dem Elisabethaner ohnehin geläufige Gift-Bild klingt an - vergötternd Flüstern in sein Ohr (rain sacrificial wispering in his ear, make sacred even his stirrup). Aber das Gift scheint wirkungslos, Timon läßt sich nicht verderben, er verfällt weder der Eitelkeit noch der Prahlsucht. Sein verschwenderisches Schenken kommt aus dem Überfluß einer gnadenvollen Natur, die in der Verkehrung ebenso verschwenderisch im Schmähen sein wird wie sie es einst im Schenken war. Timon schließt den ihn verhöhnenden Menschenverächter Apemantus nicht von seinen Gaben aus. Mit Recht darf er von sich sagen: „Unweis und nicht unedel gab ich weg" (II 2). Er hat, Gegenpol des Apemantus, zu den Menschen Vertrauen. Er ist gewiß, daß in der Not alle seine Freunde ihm zur Verfügung ständen. Wollt ich anzapfen die Gefäße meiner Liebe, Durch Borg der Herzen Inhalt mir erprüfen, Ich könnt der Männer Reichtum frei gebrauchen, Wie ich dich reden heißen kann. Seinem Verwalter Flavius wirft Titus Mangel an Vertrauen vor. Ja, er freut sich fast, daß der Fall der Not eintritt: denn nun darf er die Freunde 133

„erproben". Nicht als ein mißtrauischer Prüfer, der es aus niedriger Vorsicht täte - ihm ist es ein Geschenk der Stunde, die ihm den vollen Anblick der Freundestreue gestatten wird, und er empfindet eine herzliche Vorfreude. Selbst die ersten Absagen erschüttern sein Vertrauen kaum; er schreibt die Haltung des Lucius und Lukulles ihrem Alter zu, das Geizhälse aus ihnen gemacht hat. Dann aber, als auch die Jungen, als alle sich weigern, da verändert sich ihm mit einem Schlage das Gesicht der Welt. Und mit seiner Welt wird er selber ein völlig anderer. „Es nahmen Luft und Atem mir die Wichte." They have e'en put my breath from me, the slaves (III 4). Timon wird erstickt, er verliert sich selber. „Tot ist der edle Timon", sagt Alcibiades zu Ende des Stückes, als er Timons selbstverfaßte Grabschrift liest. Dead is noble Timon. Im Grunde gilt das schon für den Moment, wo Timon mit dem Vertrauen zu den Menschen und den Göttern sich selber verliert. Der edle Timon stirbt, ein anderer, gräßlich verzweifelter tritt an seine Stelle, der nun seine Flüche zu schleudern beginnt gegen Mensch und Menschlichkeit, gegen Erde und Wasser und Sonne, gegen Natur und Leben. Den falschen Freunden, die er noch einmal zum Gastmahl lädt, setzt er statt der Speisen warmes Wasser vor und wirft es ihnen ins Gesicht: Stets lächelnde, abscheuliche Schmarotzer, Höfliche Mörder, sanfte Wölfe, freundliche Bären ... (III, 6). Hamlet nennt den Mörder seines Vaters einen stets lächelnden Schurken; auch ihm ging seine Welt in Brüche, auch er verallgemeinert den einzelnen Fall. „Wer darf", fragt Timon, „wer darf in reiner Mannheit aufrechtstehn und sagen: ,Der ist ein Schmeichler?' Wenn's einer ist, so sind es all; denn jeder höhern Staffel des Glücks schmiegt sich die untre ... Schief ist alles ..." (IV 3). Aber Timon fühlt sich nicht wie Hamlet aufgerufen, die Welt wieder in die Angeln zu heben. Hamlet weiß, es gälte die Welt zu heilen, Timon möchte sie vernichten. „Versenge", so ruft er der Natur, der allgemeinen Mutter, zu, „versenge deinen fruchtbarn Zeugungsschoß, laß ihn nicht weiter undankbare Menschen bringen" (IV 3). „Du Sonne, tröstende, verbrenne ..." ( V I bzw. V 2). Timon verfällt einem alles erfassenden Nihilismus, er haßt und verachtet alle Geschöpfe und auch sich selbst. „Vernichtung dem Geschlecht der Menschen!" (IV 3). Er häuft die Worte, um alle Tugenden aufzuzählen, und ruft ihnen zu: „Stürzt euch verwirrend in eur Gegenteil und laßt das Chaos werden!" (IV 1). Und doch ist Timons Nihilismus nicht total; dicht unter der Oberfläche spürt man das andere: das verzweifelte Suchen und Fordern. Timon ist auch im zweiten Teil des Stückes kein Thersites, der freudig im Schmutz wühlt und sich jeder Erbärmlichkeit freut; er ist auch kein Apemantus, der, bitter von Natur, gerne die Masken durchdringt und das Übel beim Namen nennt. Ihn schmerzen seine Schmähungen am stärksten. In gewissem Sinne hält auch 134

er, wie Hamlet mit seinem Wahnsinnsspiel, den ändern den Spiegel vor. Er reißt sich die Kleider ab, gräbt nach Wurzeln und stellt so dem ihm Begegnenden das Bild des Menschen vor die Augen: der Mensch ist ein Tier. ,,Wer bist du, sprich!" fragt ihn Alcibiades, als er im Walde auf ihn stößt. „Ein Vieh wie du", antwortet Timon (IV 3). Gleich wie Hamlet reaktionsartig nach der Wahnsinnsmaske greift, reißen Lear und Timon zwanghaft sich das Gewand vom Leibe. Und man spürt, daß sie eigentlich nicht die Welt als Welt, sondern die Verkehrung aller Dinge geißeln wollen. Der Undank der Freunde wird für Timon, wie für Lear der Undank der Töchter, zur Zwangsidee, die alles überschattet und die ihnen - Doppelpoligkeit aller Phänomene im Barock - die Dinge nicht einfach nur verzerrt, sondern ihnen zugleich eine ganz neue Sicht aufreißt. Weil sie die Verkehrung im Undank der Töchter und Freunde erkennen müssen, vermögen sie nun mit einemmal auch die anderen Formen der Verkehrung zu sehen, vor allem im Bereich des Gesellschaftlichen. „Nimm Arzenei, o Pomp", ruft Lear aus; Timon erkennt im Gold den Stifter aller Verkehrung. „So viel hiervon macht schwarz weiß, häßlich schön, falsch richtig, niedrig edel, alt jung, feige tapfer." „Goldnem Dummkopf duckt der gelehrte Schädel" (IV 3). O welch ein Gott ist Gold, Daß man ihm dient im schlechtem Tempel Als wo das Schwein haust. Du bist es, der das Schiff auftakelt und Den Schaum des Meers durchpflügt, Bewundernde Verehrung auf den Schlechtsten lenkt. Anbetung dir! Den Heiligen zum Lohne, Die dir allein gedient, die Pest als Krone! (V 1). „Von deinem Elend hört ich einges schon", sagt Alcibiades zu dem in sein Gegenteil verkehrten Timon; aber der antwortet: „Du sahst es damals, als das Glück mir lachte" (IV 3). Wie Hamlet und Lear richtet Timon seine Angriffe auch gegen die Frauen, deren Anmut er einst gespriesen (I 2). Jetzt sieht er in der Matrone die Kupplerin, in dem Mädchen mit dem Engelsblick die verderbenbringende Hure. Und wie er Kriegern und Räubern Gold gibt, mit dem Beding, daß sie ihr zerstörerisches Werk schärfer weiter treiben, so auch den Huren. Verpestet alles, Und eure Tätigkeit erstick und dörre Die Quelle aller Zeugung. - Nehmt mehr Gold! Verderbt die ändern, und verderb euch dies, Und Schlamm begrab euch alle! (IV 3). Selbst die Tiere sind viehisch. Der Fuchs betrügt den Löwen und frißt das 135

Lamm, den Esel plagt seine Dummheit, den Wolf die Gefräßigkeit, die Wut das Einhorn, und jedes Vieh ist einem ändern Vieh unterworfen. Der Mensch aber verzehrt nicht nur Vieh, Vögel, Fische und saugt, sich selber zum Verderben, das zarte Blut der Traube, er ißt auch Menschen. Und Sonne, Mond, Erde und Meer: auch sie sind diebisch. Die Sonn ist Dieb, beraubt durch ziehnde Kraft Die weite See; ein Erzdieb ist der Mond, Sein blasses Licht schnappt er der Sonne weg; Das Meer ist Dieb, des nasse Woge auflöst Den Mond in salzge Tränen; Erd ist Dieb, Sie zehrt und zeugt aus Schlamm nur, weggestohlen Von allgemeinem Auswurf. Dieb ist alles (IV 3). Es ist die Idee der absoluten Tragik, die hier ersteht. Jedes Wesen ist schlecht, und es kann nicht anders als schlecht sein. Jedes Wesen lebt auf Kosten eines ändern. Schuld ist unvermeidlich, und doch nicht zu verzeihen. Der Mensch, er mag so oder so sich verhalten, wird schuldig. Seine Existenz ist tragisch an sich, die Götter hassen ihn. Sie strafen und vernichten dich, weil du Mensch bist (IV 3). Alcibiades soll die Schurken töten und wird sich eben dadurch doch schuldig machen: weil er das Vaterland bekriegt. So Timon. Sein Hausverwalter Flavius aber, der im Unglück treu zu ihm steht, schreibt das Übel nur den Menschen, nicht den Göttern zu. Alle Freunde Timons haben ihn verlassen, die Götter nicht. Now all are fled, save only the gods (III 4). Und tatsächlich ist es ja nicht Fortuna, die Timon zugrunde richtet, sondern die Schändlichkeit der Freunde und seine eigene Torheit. Fortuna läßt ihn im Gegenteil erneut einen reichen Schatz finden - aber die Verzweiflung bleibt, denn sie betrifft die Menschen. Timon selber scheint in einem lichten Augenblick seinen allgemeinen Fluch, seinen Fluch gegen die Götter zu mißbilligen. Als er die Treue des Flavius gewahr wird und ihn als einen Menschen, einen vom Weib Geborenen anerkennen muß, da ruft er: Verzeiht den raschen allgemeinen Fluch, Ihr ewig mäßgen Götter! Forgive my general and exceptless rashness, You perpetual sober gods (IV 3). Und durch den Mund eines zusammenhanglos in das Stück hineingestellten »Fremden" spricht Shakespeare deutlich dem Menschen die Verantwortung zu. Nicht Fortune überwindet Vertu wie bei Garnier, sondern menschliche Pfiffigkeit. „Denn Klugheit thront höher als Gewissen." For policy sits above conscience (III 2). Ein Diener sagt: „Der Teufel wußte nicht, was er 136

tat, als er den Menschen politisch machte" (III 3). Das Stück ist voll trefflicher Satiren gegen die Menschen; eine Satire gegen die Götter ist es nicht. Timons Verzweiflung ist so ungerecht wie jene Glosters im Lear. Und wenn Gloster direkt durch Edgar zurechtgewiesen wird, so wird Timons Sehweise indirekt korrigiert durch die Denkart eines Flavius und Alcibiades. In Timon hat das scheinbar wirkungslose Gift der Schmeichelei doch gewirkt - das bei Shakespeare so gewichtige Bild des ins Ohr eindringenden Giftes schon ließ es den Hörer ahnen. Die Schmeichelei der Freunde hat Timon zwar nicht zur Eitelkeit, zur Überhöhung seiner selbst geführt, aber er überhöht die Freunde. Sein Vertrauen ist ein falsches Vertrauen: Er meint, die Freunde können nicht versagen. Sicherheit aber, d. h. der Wahn, Sicherheit haben zu können, war, nach dem Worte im Macbeth, noch stets des Menschen Erbfeind. Echtes Vertrauen besteht nicht darin, daß man dem Menschen nichts Schlechtes zutraut, sondern darin, daß man ihm immer wieder auch die Möglichkeit zum Guten zutraut. Timon aber vertraut dem Menschen zuerst total, nachher mißtraut er ihm total. Er ist ferne von der Weisheit eines Edgar, der um die Schwäche des Menschen weiß und ihn doch liebt und achtet. Wer nicht weiß, daß der Mensch zum Schlechten fähig ist, der ist ebenso unreif wie jener, der nicht glauben kann, daß er zum Guten fähig ist. Timon verfällt nacheinander beiden Torheiten und Apemantus sagt ihm ins Gesicht, daß er so lang ein Wahnwitziger war und jetzt ein Tor ist: A madman so long, now a fool. Die Schuld liegt in Timon selbst: „Du warfst dich weg, da du so bist, wie du bist." Thou hast cast away thyself, being like thyself (IV 3). Die echte Weisheit aber hat in diesem Stück Flavius, der Hausverwalter. Er sieht in Timon den Toren und liebt und ehrt ihn doch. Und er verallgemeinert diese Haltung und erweitert sie: Wie seltsam wohl ziemt das Gebot für unsre Zeit, Das auch den Feind zu lieben uns gebeut! How rarely does it meet with this time's guise, When man was wish'd to love his enemies! (IV 3). Vom Menschen wird erwartet, daß er seine Feinde liebe. In dieser hohen Erwartung liegt die Korrektur der pantragischen Weltansicht, wie Timon sie vertritt. So wie das Übel des Menschen nicht von Fortuna stammt, sondern aus ihm selber, so muß dieses Übel durch seine eigene Aktivität aufgehoben werden. Nicht von Fortuna darf der Mensch Rettung erwarten, er muß selber Heiland sein. Es kommt nicht von ungefähr, daß Flavius ein Christuswort zitiert; Christus ist der Heiland; Ziel jedes Menschen aber ist es, ihn zu imitieren. Daß Mitleid höchste Tugend ist, weiß Timon ebenso wie Alcibiades. Dieser nennt in seiner Rede vor den Senatoren Mitleid „die Tugend des Gesetzes". For pity is the virtue of the law (III 5). Und Timon 137

schmäht die Jungfrau, weil nicht, wie der äußere Schein es vermuten ließe, Mitleid, pity, Zentrum ihres Wesens sei, sondern Gier (IV 3). Selbst Apemantus weiß, daß Liebe die eigentliche Tugend des Menschen ist, er verwünscht Timons freundlich glatte Freunde, weil sie statt echter Liebe nur Höflichkeit, courtesy, kennen. Gicht lahm und dörr euch die geschmeidgen Glieder! Daß doch von Liebe nichts in all den süßen Schuften Und lauter Höflichkeit! (I 1). Wenn Timon die viehische, diebische, schiefe Wesensart nicht nur des Menschen, sondern aller Geschöpfe geißelt, so vergißt er, daß dem Menschen die selbstlose Liebe als Gegenkraft gegeben ist; Flavius aber nennt als höchste Steigerung der menschlichen Liebesfähigkeit die Feindesliebe. In ihr verkehrt der Mensch das Natürliche ins Göttliche, in ihr vermag er stellvertretend die Welt zu erlösen. Im Menschen überwindet die Natur sich selber. So schimmert auch hier, wie im König Lear, der andere, der heilige Aspekt der Verkehrung durch. Die natürliche Reaktion, der Feindeshaß, wird zu seinem Gegenteil, zur Feindesliebe, die Verkehrung ist Bekehrung. Der Fuchs frißt unschuldige Lämmer, dem Menschen aber ist es gegeben und aufgegeben, auch noch seine Feinde zu lieben. Timon jedoch tappt im Dunkeln. Auch er wird, wie so viele andere in Shakespeares barockem Theater, als Spähender und Lauschender dargestellt. Er belauscht in seiner Höhle das Gespräch des Malers und Dichters und erkennt ihre ganze Erbärmlichkeit. Er kommt sich vor als einer, der alles durchschaut und ist doch nur — wie es ihm selber einmal aufdämmert, ohne daß er die Konsequenzen zu ziehen vermag - ein rascher Verallgemeinerer. „Lichter, mehr Lichter!" ruft er im Verlaufe eines seiner Feste. Dieser Ruf, der in so manchem Drama Shakespeares ertönt, gewinnt symbolische Kraft. Lights, more lights! Timon schreit im zweiten Teil des Stückes verzweifelt nach Licht, nach Erhellung seiner finster gewordenen Welt. Er tut sich nicht, wie Apemantus, etwas darauf zugute, die Welt entlarvt zu haben, er ist verzweifelt, daß sie so sich ihm entlarvt hat, und in seinen Ausbrüchen, in den wütenden Schmähungen, die er gegen alle und alles richtet, spürt man den wahnwitzigen Schmerz dessen, dem schließlich nichts anderes mehr möglich scheint als allem Leben den Tod zu wünschen und sich selber zu begraben. Kein Edgar ist da, ihn vor dem Selbstmord zu bewahren. Flavius und Alcibiades vermögen ihn nicht zu heilen. Aber sie sind doch die Garanten einer anderen Welt; Alcibiades spricht das letzte Wort, er spielt, wie Lucius im Titus, die Rolle der vorwärts, der aufwärts weisenden Gestalt, der Shakespeare so gerne den Schluß seiner Spiele zu tragen gibt und die die Tragik auffängt. Shakespeares Timon ist nicht ein im letzten verzweifeltes und bitteres Stück. Nur Timon selber wandelt ganz im Finsteren. Nicht ihm aber 138

teilt Shakespeare das gültige Wort zu, sondern Flavius und Alcibiades. Und auch Timon und Apemantus unterscheiden sich deutlich von Thersites und Pandarus. Diese beiden weiden sich mit Behagen am Schmutz, an Torheit und Geilheit, Timon aber leidet auf den Tod, und selbst des Apemantus Kritik ist nicht bloß zynisch, sondern zugleich echter Hinweis. Apemantus kennt echte Werte und beklagt ihren Verfall. Höflichkeit tritt an die Stelle der Liebe, und so verrenkt der Mensch sich selber zum Pavian, zum Affen. The strain of man's bred out into baboon and monkey (I 1); Apemantus kommt als Kritiker und kündigt sich klar als solchen an. „Ich komm, um aufzumerken; sei gewarnt", sagt er zu Timon, dessen blindes Vertrauen in falsche Freunde ihn quält. Mich schmerzt es, daß so viel ihr Brot eintauchen In eines Mannes Blut. Und größrer Wahnwitz: Er muntert sie noch auf. Mich wundert, wie doch Mensch dem Menschen traut... (I 2). Aber Apemantus' Mißtrauen verneint nicht wie das spätere des Timon, alles, sondern nur die Torheit. Heisa, ein Schwärm von Eitelkeit bricht ein! sagt er auf Timons Fest beim Auftritt der als Amazonen Verkleideten Damen, Ganz solcher Wahnwitz ist die Pracht des Lebens, Wie dieser Pomp ... Wir machen uns zu Narrn, uns zu ergötzen ... Timon aber dankt denselben Damen für die Schönheit und den Glanz, den sie dem Fest verliehn (I 2). Als er dann selber enttäuscht und bitter ist, da findet sich Apemantus bei ihm ein, und es hebt ein Duett an, das von ferne an die Szenen zwischen Lear, Edgar und dem Narren erinnert, nur daß es, statt unmittelbar aus dem Geschehen zu fließen, viel stärker in der bloßen Wortsphäre bleibt und deshalb abstrakter wirkt. Es ist breiter und platter, weit weniger genial als die Gespräche im Lear. Mit Recht wirft Apemantus Timon sein maßloses Schweifen in entgegengesetzte Extreme vor. „Den Mittelweg der Menschheit kanntest du nie, nur die beiden äußersten Enden." Dies ist bei dir nur ungesunde Art, Unmännlich arme Schwermut, die dem Wechsel Des Glücks entsprang ... This is in thee a nature but infected; A poor unmanly melancholy sprung From change of fortune ... Und doch verkennt Apemantus Timons wahre Wesensart. Nicht unter dem Druck der Fortuna hat Timon der Menschheit abgesagt, sondern aus freiem 139

Entschluß. Der Fund des Goldes ändert gar nichts. Apemantus weiß noch nicht, daß Timon schon wieder reich ist; er wirft ihm vor, er sei nur gezwungener Bettler. Und wenn er fortfährt: „Freiwillig Elend krönt sich selbst, überlebt unsichre Pracht", so bezeichnet er damit nicht, wie er meint, den Kontrast zu Timons Haltung, sondern diese selbst. Stolz kann Timon erwidern, er sei jetzt noch ein Verschwender. Hier liegt der Gegensatz zwischen Apemantus und Timon: Jener eine karge Natur, herb, tadelnd, mißtrauisch aus Gewohnheit, Timon reich und verschwenderisch, die Welt mit Liebe und Haß überschwemmend. Sein Fehler ist nicht, wie Apemantus glaubt, innere Unfreiheit, Abhängigkeit vom Schicksal (fortune), sondern maßlose Hingabe an das eine Grundgefühl, das sich in der Mitte des Stückes in sein Gegenteil verkehrt. Timon irrt wie Hamlet im Dunkeln, in der ersten Hälfte des Stückes ebenso wie in der zweiten. Und wie bei Hamlet geschieht es, daß Timon eine über seine bewußte Absicht hinausreichende Wirkung erzielt. Wenn Hamlet mit dem Spiel im Spiel den König nur prüfen will, ihn aber tatsächlich an den Rand der Umkehr bringt, so erreicht Timon eine ähnliche Einkehr bei den Dieben, denen er das Bild der Dieberei vorhält. „Er hat mich fast von meinem Gewerbe wegbeschworen, indem er mich dazu antrieb", sagt der eine Dieb. He has almost charmed me from my profession, by persuading me to it. Und der andre: „Ich will ihm, als einem Feinde, glauben und mein Handwerk aufgeben" (IV 3). Hier verrät sich der eigentliche Sinn von Timons Schmähungen. Sie sind nicht Zynismen, sondern verzweifelte Bußpredigten. Der Anruf an den Menschen ist in ihnen allen vernehmbar. Und wieder taucht die Erinnerung an Hamlet empor. So wie dieser der Mutter schließlich ihre Ehe mit dem König nicht durch Vorwürfe zu verleiden sucht, sondern durch die Aufforderung, nur lustig weiterzubuhlen, und durch ein scheinbar zustimmendes Gemälde der Wirklichkeit, so müßte, wenn die Diebe Timon fragten: „Was sollen wir tun?" auch er antworten: „Durchaus nicht das, was ich Euch heiße tun". Denn das ist der heimliche, ihm selber verborgene Sinn all seiner Schmähungen. Das Stück enthält wortmächtige Satiren gegen den Gott Gold. „Der Handel ist dein Gott", sagt Apemantus zum Kaufmann (I 1), und im zweiten Teil spricht Timon das Gold wie eine allegorische Person an. In den Ausreden der Freunde, die Timon kein Geld leihen wollen, werden die hohen Redensarten der Menschen, denen es um den Vorteil geht, herrlich persifliert. Schalkhaft und leise ist die Satire zu Beginn des Stückes, wo ein alter Athener, tyrannischer Vater wie so viele andere in Shakespeares Spielen, vor Timon tritt und ihn bittet, dem besitzlosen Diener die Liebe zu seiner Tochter zu verbieten. Timon antwortet: „Der Mann ist redlich." Darauf der Alte: Es wird sein redlich Tun sich selbst belohnen, Es muß nicht meine Tochter just gewinnen. 140

Der geldgierige Reiche spielt, um sein eigennütziges Verhalten zu rechtfertigen, frivol und spöttisch mit einer höchsten Weisheit, deren Gültigkeit Shakespeare im Coriolan eindrücklich dargetan hatte. - Später wird die Gesellschaftskritik laut und lärmend vorgetragen, die Anklagen wiederholen sich in langen Reden und werden überdeutlich ausgeformt. Der Tier-Vergleich, der in Othello unmerklich das Gewebe der Dichtung durchwirkt, wird hier mit solcher Maßlosigkeit gebraucht, daß er sich abnützt. Diskreter werden die Motive der Verkehrung, der Verwandlung, der Identität gehandhabt. So bleibt der Eindruck dieses Stückes auf den Hörer, den Leser zwiespältig. Es enthält manche kräftige Wendung und Gebärde, die Gestalt des verzweifelnden Timon bleibt unvergeßlich, und machtvoll tauchen letzte Fragen auf; aber die Konsistenz mangelt, die Handlung ist gerüstartig, es wird zuviel nur geredet. Der moderne Geschmack stößt sich an den Ubertreibungen, und auch bei Shakespeares Zeitgenossen scheint der Timon wenig Anklang gefunden zu haben. Das soll uns nicht übersehen lassen, daß im Timon entscheidende Fragen gestellt und eindrücklich beantwortet werden, vor allem die Frage nach der Schuld der Menschen und der Schuld der Götter, das aber heißt: die Frage der absoluten Tragik.

KOMÖDIEN UND ROMANZEN

KOMÖDIE Lebe noch ein wenig, stärke dich ein wenig, ermuntre dich ein wenig. Live a little, comfort a little, cheer thyself a little. In seiner Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung vertritt Schiller die Meinung, es sei leichter, eine gute Tragödie zu schreiben als eine gute Komödie. Die Tragödie behandle „das wichtigere Objekt", und eben dies verschaffe dem Tragiker einen von seiner Kunst unabhängigen Vorsprung. „In der Tragödie geschieht schon durch den Gegenstand sehr viel, in der Komödie geschieht durch den Gegenstand nichts und alles durch den Dichter ... Den tragischen Dichter trägt sein Objekt, der komische hingegen muß durch sein Subjekt das seinige in der ästhetischen Höhe erhalten. Jener darf einen Schwung nehmen, wozu so viel eben nicht gehöret; der andre muß sich gleich bleiben, er muß also schon dort sein und dort zu Hause sein, wohin der andre nicht ohne einen Anlauf gelangt." Welches aber ist diese Heimat des Komödiendichrers, in die sein Zauberstab uns, für Augenblicke wenigstens, heraufhebt? Schiller sieht sie in der Freiheit des Gemüts. „Diese Freiheit des Gemüts in uns hervorzubringen und zu nähren, ist die schöne Aufgabe der Komödie." Der erhabene Held der Tragödie sei nur „ruckweise und mit Anstrengung frei", der anmutige Held der Komödie „ist es mit Leichtigkeit und immer". „Wenn die Tragödie von einem wichtigern Punkte ausgeht, so muß man auf der ändern Seite zugestehen, daß die Komödie einem wichtigern Ziele entgegengeht, und sie würde, wenn sie es erreichte, alle Tragödie überflüssig machen. Ihr Ziel ist einerlei mit dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu lachen als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen." Diese Wesensbestimmung, wiewohl einem späteren Jahrhundert angehörig und von einem andersartigen Geiste stammend, ist gerade dem Shakespeareschen Lustspiel in besonderer Weise angemessen. Shakespeares Komödie ist weder eine bloße Posse noch eine bloße Satire. Sie ist beides auch, aber sie ist zugleich weit mehr: eine Feier des Lebens. Shakespeares Lustspiele verlachen die Welt nicht nur, sie übergolden sie auch. Sie sind nicht bitter und menschenfeindlich wie die Komödie Moires so oft; sie sind Feiern des Lebens auch dort, wo sie von dunkeim Grunde sich abheben. Sie sind froh und wehmütig, heiter und melancholisch, aber sie sind nicht bitter. Absolute Heiterkeit gibt es für Shakespeare ebensowenig 145

wie absolute Tragik. Trotz einer tiefgegründeten Bejahung der Schöpfung sieht und spürt er das Leid und stellt es in den Tragödien dar. Und trotz seines Wissens um Leid und Schuld und Frevel scheint ihm auch fröhliches Lachen möglich, es tönt hell und beglückend aus seinen Komödien. Bei all den dunklen und traurigen Klängen, die auch in ihnen vernehmlich sind, erfüllen sie doch Schillers Forderung; „Freiheit des Gemüts" herrscht in ihnen, und diese Freiheit des Gemüts auch „in uns hervorzubringen und zu nähren", ist ihre schöne Aufgabe. Eine kleine Szene aus Wie es Euch gefällt ist geeignet, die Wesensart der Shakespeareschen Komödie zu erhellen. Es ist die sechste des zweiten Aufzugs. Orlando, ein junger Edelmann, flieht in den Ardennerwald; den alten, treuen Hausdiener Adam, der mit ihm ist, verlassen die Kräfte, er kann nicht weiter, er möchte sterben. Adam:

Liebster Herr, ich kann nicht weiter gehn; ach, ich sterbe vor Hunger. Hier werfe ich mich hin und messe mir mein Grab. Lebt wohl, bester Herr. Orlando: Ei was, Adam! Hast du nicht mehr Herz? Lebe noch ein wenig, stärke dich ein wenig, ermuntre dich ein wenig. Wenn dieser rauhe Wald irgendein Gewild hegt, so will ich ihm entweder zur Speise dienen oder es dir zur Speise bringen. Deine Einbildung ist dem Tode näher als deine Kräfte. Mir zuliebe sei getrost, halte dir den Tod noch eine Weile vom Leibe. Ich will gleich wieder bei dir sein, und wenn ich dir nicht etwas zu essen bringe, so erlaube ich dir zu sterben; aber wenn du stirbst, ehe ich komme, so hast du mich mit meiner Mühe zum besten. — So ist es recht! Du siehst munter aus, und ich bin gleich wieder bei dir. Aber du liegst in der scharfen Luft: komm, ich will dich in den Windschatten tragen, und du sollst nicht aus Mangel an einer Mahlzeit sterben, wenn es irgend was Lebendiges in dieser Einöde gibt. Mut gefaßt, guter Adam! „Lebe noch ein wenig! Stärke dich ein wenig! Ermuntre dich ein wenig!" Das ist es, was Shakespeares Komödien uns zurufen. Live a little, comfort a little, cheer thyself a little ... Auch in den düstersten Tragödien liebt Shakespeare uns daran zu erinnern, daß es unsere Pflicht ist zu leben. Der von Schwermut und Weltekel ergriffene Hamlet faßt es religiös: „O hätte nicht der Ewge sein Gebot gerichtet gegen Selbstmord!" Edgar verweist seinem Vater die Todesgedanken: „Was? Wieder Schwermut? Dulden muß der Mensch sein Scheiden aus der Welt, wie seine Ankunft. Reifsein ist alles." What! in ill thoughts again? Men must endure their going hence, even as their coming hither: Ripeness is all. Aber in der Tragödie ist die Rede von einer Pflicht zu leben; es ist ein Muß, ein Dulden. Die Komödie stellt sich die weit schwerere Aufgabe darzutun, daß es trotz allem und allem auch schön ist, daß es in gewisser Weise ein Fest ist zu leben, zu handeln,

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zu sein. Edgar muß mit Verstellung, Täusdiung, Suggestion arbeiten, um seinen Vater von dem Todeswunsdi zu heilen. Denn Gloster ist nicht bloß müde wie Adam, sondern zerstört. Zerstört nicht so sehr durch das Schicksal als durch eigene Schuld, die er erst jetzt klar erkennt: die leichtfertige Zeugung des einen, die Verstoßung des anderen Sohnes. Gloster hat selber falsch gehandelt und erleidet die frevlen Taten anderer: er sieht die Welt aus den Fugen. Ihn dem Dasein zurückzugewinnen, muß Egdar ein eigentliches psychotherapeutisches Verfahren durchführen. Adam aber ist nur müde, nur niedergeschlagen: Orlando kann ihn mit einem Scherzwort heilen. Und wer wäre nicht wie Adam zuweilen müde und niedergeschlagen, der Hilfe heiteren Scherzes bedürftig? Orlandos Scherzen ist von besonderer Bedeutung. „... aber wenn du stirbst, ehe ich komme, so hast du mich mit meiner Mühe zum besten". Als ob es in unserem Belieben stünde, zu sterben oder nicht zu sterben, als ob es bloß eine Laune von uns wäre, sterben zu wollen ... Schicksal verwandelt sich in der Komödie zur Freiheit. Und die Komödie versucht, den heiteren Glauben an die Möglichkeit solcher Freiheit in das Publikum hinüberzuspielen. Orlando hat zur Partnerin die junge Rosalinde; von ihr hören wir das Wort: „Ich möchte lieber einen Narren haben, der mich fröhlich machte, als Erfahrung, die mich traurig machte" (IV 1). Die Komödie übernimmt die Aufgabe des Narren. Indessen, sie ist kein frivoler Narr, der uns gegen alle Erfahrung, gegen alle Wirklichkeit lustig stimmen möchte. Die echte Komödie ist vielmehr, wie das Märchen, überzeugt, daß sie selber wahrer ist als alle äußere Erfahrung. „Deine Einbildung ist dem Tode näher als deine Kräfte", sagt Orlando. „Mir zuliebe sei getrost! Halte dir den Tod noch eine Weile vom Leibe." So verwandelt sich das, was zunächst ein bloßer Spaß schien, unversehens in Ernst. Orlando glaubt an die Gewalt des Gemütes über den Körper. Die Einbildung, conceit, breitet einen düsteren Schleier über die Dinge, und an uns ist es, diesen Schleier zu heben. Die Kräfte des Menschen reichen weiter, als er glaubt, seine Einbildung ist dem Tode näher als seine Kräfte. Die Komödie soll nicht die Dinge schönfärben und so in falsches Licht tauchen. Sie hat dies nicht nötig; sie braucht nur lähmende Einbildungen mit Heiterkeit aufzulösen, dann werden die Kräfte frei. Farcenhafte und satirische Züge fehlen in Shakespeares Komödie so wenig wie in seiner Tragödie. Neben der Komödienfigur steht die komische Figur: der Narr, Dickwanst, Trunkenbold oder Rüpel, die Keiferin, die kupplerische Alte. Die Komödienfiguren leben von Gnaden des Spiels; sie sind leicht und leicht beweglich, scheinen oft wie aus lauter Luft gewebt. Die komischen Figuren, in den Tragödien und Historien ebenso beheimatet wie in den Komödien, haben eigenen Körper, sie tragen die vis comica in sich und strahlen sie aus. Sie leben auch losgelöst vom Spiel in unserer Phantasie 147

weiter, einige von ihnen sind im Laufe der Zeiten zu Mythen geworden. So vor allem Falstaff. Er ist ein Geschöpf des Historiendichters, erst später wurde er auch in die Komödie herübergenommen. Seine eigentliche Art läßt sich im Königsdrama, wo gleich gewichtige Figuren ihm die Waage halten, am besten erkennen. Er ist in dem großen Doppeldrama von Heinrich IV. Kumpan des jungen Thronerben Prinz Heinrich, der es liebt, sich in zweifelhaften Schenken mit zweifelhafter Gesellschaft aufzuhalten. Falstaff, an dessen Spaßen der Prinz sich ergötzt, ist ein heruntergekommener Ritter, ein Säufer, Fresser und Hurer von Profession, dazu Dieb und Räuber, Lügner, Prahler und Feigling. Jedes Verantwortungsgefühl, jede Rücksicht auf andere scheint ihm abzugehen. Der einzige Wert, den er anerkennt, ist sein eigenes Leben, plastisch symbolisiert in dem ungeheuren Wanst, den er sich angefressen hat. Das Leben anderer gilt ihm wenig, er schickt sie fröhlich in den Tod, wenn dies nur ihm selber dienlich ist. Das Heil des Staates kümmert ihn nicht, am Eigentum anderer vergreift er sich, über die Ehre, die eigentliche Tugend seines Standes, macht er sich lustig. Sein Spott aber, seine Einfalle wuchern so üppig und natürlich, sind so übervoll von Geist und Witz, daß sie ihm nicht nur Heinzens, sondern selbst gewisser Geschädigter Zuneigung eintragen. Man kann ihm nicht böse sein. Eine humorvolle Selbstrechtfertigung gibt Falstaff da, wo er, zuerst in der Rolle des Königs, dann in der Rolle des Prinzen sich über die Person des Ritters Falstaff ausläßt. Es ist in einer Stube der Schenke zum wilden Schweinskopf in Eastcheap; Falstaff und Prinz Heinz agieren, Falstaffs Spießgesellen und die Wirtin bilden das Publikum (König Heinrich IV., 1. Teil II 4). Falstaff: Du wirst morgen entsetzlich ausgesdimält werden, wenn du zu deinem Vater kommst; hast du midi lieb, so sinne eine Antwort aus. Prinz: Stelle du meinen Vater vor und befrage mich über meinen Lebenswandel. Falstaff: Soll ich? Topp! Dieser Stuhl soll mein Thron sein, dieser Doldi mein Zepter und dieses Trinkgefäß meine Krone. Prinz: Dein Thron wird für einen Schemel genommen, dein goldenes Zepter für einen bleiernen Doldi und deine kostbare reiche Krone für eine armselige kahle Krone. — Falstaff ist sogleich freudig bereit, auf das Spiel einzugehen, in der Lust des Improvisierens greift er nach den Requisiten — man glaubt des Schauspielers Shakespeare eigene rasche Freude am phantasievollen Inszenieren zu spüren. Aber wenn Falstaff den Wirtshausstuhl in einen Thron und gar den Saufbecher in eine Krone verwandelt, so ist das nicht Poetisierung des Unscheinbaren, sondern Hohn auf die Königsinsignien; die Repräsentation des Zepters durch einen Dolch ist von boshafter Symbolik: Heinrich IV. ist ein schuldbeladener Herrscher. Aber auch Heinz muß sich getroffen fühlen, denn Falstaff gibt ihm zu verstehen: Ich achte deine Krone nicht höher als ein

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Trinkgefäß, deinen Thron nicht höher als einen dreckigen Wirtshausstuhl usw. Des Prinzen Antwort ist, wenn man die barocke Freude an mannigfacher Spiegelung und Rückspiegelung bedenkt, nicht gar so platt, wie sie dem modernen Leser scheinen mag, von dem Wortspiel mit crown in der Doppelbedeutung von Krone und Schädel ganz abgesehen. Doch nötigt sie Falstaff zu keiner Replik, er wirft sich nun lustig ins Spiel. Falstaff: Gut; wenn anders das Feuer der Gnade nicht ganz in dir erloschen ist, so sollst du nun gerührt werden. Gebt mir ein Glas Sekt, damit meine Augen rot aussehen; man muß denken, daß ich geweint habe, denn ich muß es mit bewegtem Gemüt sprechen, und ich will es in des Königs Kambyses Weise tun. Prinz: Gut, so mache ich meine Reverenz. Falstaff: Und so halte ich meine Rede. Tretet beiseit, ihr Großen.

Während die Schauspieler im Hamlet sich in ihre Rollen so lebendig einfühlen, daß sie Tränen vergießen, macht Falstaff sich über solche Selbstentäußerung lustig. Er will nicht wirkliche Menschen, sondern Schauspieler imitieren, was natürlich nicht zur echten Identifikation, sondern zur Parodie führt. (Prestons Camblses ist ein noch halb mittelalterliches Spektakelspiel der vorshakespeareschen Zeit, gedruckt 1569); gleichzeitig bleibt Falstaff ganz sich selber treu, indem er sich kraft seiner Rolle ein Glas Sekt spendieren läßt; so wird er aoif seine Weise zu roten Augen kommen und die hohe Täuschung des Theaters auf eine sehr behagliche Art erreichen. Nun aber beginnt Prinz Heinrich das Spiel: Well, here is my leg. Falstaff reagiert sofort: And here is my speed). Er hat seine Rede bereit wie ein anderer sein Bein. Mühelos aus der natürlichen Fülle seines Witzes schöpfend, ist er um Einfalle nie verlegen. Die Anwesenden bezieht er großartig in das Spiel ein. Stand aside, nobility. Und schon platzt die Wirtin heraus. Wirtin: O Jesus! Das ist ein prächtiger Spaß, mein Seel! Falstaff: Weint, holde Fürstin, nicht, vergeblich träufeln Tränen. Wirtin: O Jemine, was er sich für ein Ansehn gibt! Falstaff: Um Gott, Herrn, bringt mein bang Gemahl hinaus, Denn Tränen stopfen ihrer Augen SAleusen. Wirtin: O Jesus! Er macht es den Lumpenkomödianten so natürlich nach, wie man was sehen kann. —

Dreimal stört die Wirtin die Illusion und prustet applaudierend ihr Vergnügen heraus, zweimal nimmt Falstaff, eine Stelle im Cambises imitierend, sie mit feierlichem Ernst wieder in das Spiel herein, beim drittenmal aber biegt er, nun selber die Illusion durchbrechend, entschlossen ab; Shakespeare wälzt seine Einfalle nicht aus. Falstaff: Still, gute Bierkanne! Still, Frau Schnaps! Heinz, ich wundere mich nicht bloß darüber, wo du deine Zeit hinbringest, sondern auch in welcher Gesellschaft du lebest. Denn wiewohl die Kamille, je mehr sie getreten 149

Prinz:

wird, um so schneller wächst, so wird doch die Jugend, je mehr man sie verschwendet, um so schneller abgenutzt. Daß du mein Sohn bist, dafür habe ich teils deiner Mutter Wort, teils meine eigene Meinung; hauptsächlich aber einen schurkischen Zug in deinem Auge und ein albernes Hängen deiner Unterlippe, das mir Gewähr dafür leistet. Wofern du denn mein Sohn bist — dahin zielt dies eigentlich — warum, da du mein Sohn bist, wirst du das Ziel des Gespöttes? Sollte die glorreiche Sonne des Himmels sich als Schulschwänzer erweisen und Brombeeren naschen? Eine nicht aufzuwerfende Frage. Sollte der Sohn Englands sich als Dieb erweisen und Beutel schneiden? Eine wohl aufzuwerfende Frage. Es gibt ein Ding, Heinz, wovon du oftmals gehört hast, und es ist vielen in unserem Lande unter dem Namen Pech bekannt. Dieses Pech, wie alte Schriftsteller berichten, pflegt zu besudeln; so auch die Gesellschaft, die du hältst. Denn, Heinz, jetzt rede ich nicht im Trunke zu dir, sondern in Tränen; nicht im Scherz, sondern von Herzen; nicht bloß in Worten, sondern auch in Sorgen. Und doch gibt es einen tugendhaften Mann, den ich oft in deiner Gesellschaft bemerkt habe, aber ich weiß seinen Namen nicht. Was für eine Art von Mann, wenn es Euer Majestät gefällig ist? —

Mit den geschwollenen Sätzen macht Falstaff den König lächerlich und gleichzeitig persifliert Shakespeare Lylys berühmten Euphues, der einst nicht ohne Einfluß auf ihn selber gewesen; nicht nur die gespreizte, antithetischsymmetrische Redeweise, sondern auch die Motive der Kamille und des Pechs finden sich bei Lyly. In der Erwägung, ob der ungeratene Sohn am Ende ein Bastard sein könnte — eine bei Shakespeare und im Barock überhaupt häufig auftauchende Frage: Man weiß nicht sicher, wer man ist — spielt Falstaff mit der doppelten Beziehungsmöglichkeit: als der König, den er vorstellt, ist er wirklich des Prinzen Vater, und Vater wie Sohn werden kräftig mit Spott begossen — als Falstaff jedoch ist er ja keineswegs der Vater des vor ihm stehenden Prinzen; Falstaff tummelt und wiegt sich nach Herzenslust in dieser ihm durch die Rolle vorgeschriebenen Beziehung. Unverschämt schiebt er dem König das zu, was nur auf ihn selber paßt: daß er nur ausnahmsweise nicht im Trunke spreche — wobei zu bedenken ist, daß bei Falstaff diese Ausnahme überhaupt kaum je eintritt, jetzt jedenfalls hat er, wie er mit Freude betonte, rote Augen vom Sekt. Falstaff stellt den König nicht nur als Trottel hin, dieser muß sich dazu noch selber als Trottel und Schurken bezeichnen: das schurkische Auge und die alberne Lippe des Prinzen lassen ihn gewiß sein, daß er seinen legitimen Sohn vor sich hat. Schließlich aber wendet Falstaff des Königs Rede auf sich selbst; daß der von Falstaff gespielte König Falstaffs Namen nicht weiß, ist wiederum barockes Spiel mit der hinter allem stehenden Frage der Selbstgewißheit. Zugleich aber gibt es Falstaff die Möglichkeit, nun nach Herzenslust sich selber zu schildern. 150

Falstaff:

Ein wackrer stattlicher Mann, in der Tat, und: wohlbeleibt. Er hat einen heitern Blick, einnehmende Augen und ein edles Wesen, und ich denke, er ist so in den Fünfzigern oder wenn's hoch kommt, gegen sechzig; und jetzt fällt es mir ein: sein Name ist Falstaff. Sollte der Mann ausschweifend sein, so hintergeht er mich; denn, Heinz, ich sehe Tugend in seinen Blicken. Wenn denn der Baum an den Früchten erkannt wird, wie die Frucht an dem Baume, so muß - das behaupte ich zuversichtlich — Tugend in diesem Falstaff sein. Zu ihm halte dich, die ändern verbanne. Und nun sage mir, du ungezogener Schlingel, sage, wo hast du diesen Monat gesteckt? Prinz: Sprichst du wie ein König? Stell du mich vor, und ich will meinen Vater spielen. Falstaff: Mich absetzen? Wenn du es halb so gravitätisch und majestätisch machst, so sollst du mich bei den Beinen aufhängen wie ein Kaninchen oder einen Hasen beim Wifdhändler. Prinz: Also, hier sitze ich. Falstaff: Und hier steh ich: nun urteilt, meine Herren. -

Während Falstaff mit seinen Worten sich selber liebevoll streichelt, gibt er im Vorbeigehen seinen Kumpanen lustig einen Hieb: „Die ändern verbanne!" Er sagt es im Scherz — aber es wird sich im Laufe des Stücks erweisen, daß er tatsächlich auf Kosten anderer sein Leben zu schonen versucht, und so bekommt auch dieses Wort einen doppelten Boden. Dann nützt er seine Rolle aus, um den Prinzen einen ungezogenen Schlingel (naughty varlet) zu schimpfen. Statt zu parieren, statt aus seiner eigenen Rolle nun auch ein kleines Kunstwerk zu machen, bricht der Prinz das Spiel ab und will die Rollen tauschen; er hofft es in der Rolle des Königs, die ihm Falstaff so herrlich vorgespielt, leichter zu haben. Falstaff aber nimmt das Wort des Prinzen, wie vorher das der Wirtin, in das Spiel herein; er vermag blitzschnell auf das im Augenblick Gesprochene einzugehen und ihm ein neues Gesicht zu geben: „Midi absetzen!" (An dieser Stelle klingen geheim die Gefühle des wirklichen Königs vor, als er den Sohn Prinz Heinz ihm die Krone nehmen sieht.) Nun geht es mit vertauschten Rollen weiter, der Prinz spielt den König, Falstaff den vor ihm stehenden Prinzen. Prinz: Falstaff: Prinz: Falstaff: Prinz:

Nun, Heinz? Von woher kommt Ihr? Von Eastcheap, mein gnädiger Herr. Es werden arge Beschwerden über dich geführt. Gotts Blut, Herr, sie sind falsch! (Ja, ich will Euch den jungen Prinzen schon eintränken, meiner Treu). Fluchest du, ruchloser Knabe? Hinfort komm mir nicht mehr vor die Augen. Du wirst der Gnade gewaltsam abwendig gemacht; ein Teufel sucht dich heim in Gestalt eines alten fetten Mannes; eine Tonne von einem Mann ist deine Gesellschaft. Warum verkehrst du mit dem Kasten voll wüster Launen, dem Beuteltrog der Vieherei, dem aufgedunsenen 151

Ballen Wassersucht, dem ungeheuren Fasse Sekt, dem vollgestopften Kaidaunensack, dem gebratenen Krönungsochsen mit dem Pudding im Bauche, dem ehrwürdigen Laster, der grauen Bosheit, dem Vater Raufbold, der Eitelkeit bei Jahren? Worin ist er gut als im Sekt kosten und trinken? Worin sauber und reinlich, als im Kapaunen zerlegen und essen? Worin geschickt als in Schlauigkeit? Worin schlau als in Schurkerei? Worin schurkisch als in aüen Dingen? Worin etwas wert als in gar nichts? Falstaff: Ich wollte, Euer Gnaden machten sich verständlich. Wen meinen Euer Gnaden? Prinz: Jenen schurkischen abscheulichen Verführer der Jugend, Falstaff, den alten weißbärtigen Satan. Falstaff: Gnädiger Herr, den Mann kenne ich. Prinz: Ich weiß, daß du ihn kennst. Falstaff: Aber zu sagen, ich wüßte mehr Schlimmes von ihm als von mir selbst, das hieße mehr sagen, als ich weiß. Daß er leider Gottes alt ist, das bezeugen seine weißen Haare; aber daß er, mit Respekt zu melden, ein Hurenjäger ist, das leugne ich ganz und gar. Wenn Sekt und Zucker ein Fehler ist, so helfe Gott den Lasterhaften! Wenn alt und lustig sein eine Sünde ist, so muß mancher alte Schenkwirt, den ich kenne, verdammt werden. Wenn es Haß verdient, daß man fett ist, so müssen Pharaos magere Kühe geliebt werden. Nein, gnädigster Herr, verbannt Peto, verbannt Bardolph, verbannt Poins; aber den süßen Hans Falstaff, den lieben Hans Falstaff, den treuen Hans Falstaff, den tapfern Hans Falstaff, um so tapferer, da er der alte Hans Falstaff ist: den verbanne nicht aus deines Heinrichs Gesellschaft — den verbanne nicht aus deines Heinrichs Gesellschaft: Den dicken Hans verbannen, heißt alle Welt verbannen. Prinz: Das tu ich, das will ich. —

Prinz Heinrich fühlt sich offensichtlich wohler in der Rolle des Königs als vorhin in seiner eigenen; so, scheint es, kann jeder besser einen anderen spielen als sich selber. Der Mund geht ihm auf, und er fängt nicht übel an: „Hinfort komm mir nicht mehr vor die Augen" kann Falstaff auf sich beziehen, das Wort ist doppeldeutig, es hat seinen Sinn innerhalb wie außerhalb der Mummerei. Dann aber greift er Falstaff so plump an („Ein Teufel in Gestalt eines fetten Mannes" etc.), er trägt so dick auf, daß gewiß nur der gröbere Teil des elisabethanischen Publikums unmittelbares Vergnügen daran gehabt hat. Falstaffs Antwort jedoch ist sogleich wieder Kaviar, und zwar von der Sorte, die allen mundet. Er fragt in verständnislosem Tone: „Ich wollte, Euer Gnaden machten sich verständlich. Wen meinen Euer Gnaden?" Und damit ist Prinz Heinrich, der doch, das sei nicht vergessen, zu den Lieblingsfiguren Shakespeares gehört, schon wieder das Heft aus der Hand genommen. Er ist überspielt, er kann nur noch einmal ein paar grobe Anwürfe von sich geben, Falstaff noch einmal einen Satan nennen, dann gehört das Wort dem Virtuosen. Er spielt, behaglich die Sätze auskostend, mit der augenblicklichen Doppelbedeurung seiner Person - als Prinz und 152

als Falstaff („wenn ich sagte, ich wüßte mehr Schlimmes von ihm als von mir selbst ...") — und bewegt sich dann in seiner Selbstverteidigung auf des Messers Schneide zwischen Scherz und Ernst. Wie die tragischen Helden die Situationen, so verabsolutiert er, als komische Figur, sich selber: „Den dicken Hans verbannen, heißt alle Welt verbannen." Und wieder sucht er die Verbannung, von der er nicht im Ernste glauben kann, daß sie ihm wirklich droht, auf die ändern abzulenken, und spricht sich so, nicht unähnlich den Bösewichtern im Märchen, selber das Urteil. Daß der Prinz, nun seinerseits Scherz und Ernst geheimnisvoll in der Schwebe lassend, ihm die Verbannung, die er ja später tatsächlich aussprechen wird, bedeutsam androht, mildert ein wenig die Härte jener späteren grausamen Distanzierung. „Das Stück zu Ende gespielt!" ruft FalstafF, als ein äußeres Geschehen das Spiel unterbricht. „Ich habe viel zugunsten des FalstafF zu sagen." Doch nicht nur hier, auch später, als das große Spiel zwischen Falstaff und Heinz ebenso abbricht wie jetzt das kleine, verhallt sein Schrei nach Fortsetzung ungehört. Heinrich, einmal König geworden, will und darf nicht mehr hören, was der alte Falstaff zu seinen Gunsten zu sagen hat. Von sich selber zu reden, sich selber zu rühmen, Leib und Geist wuchern zu lassen, ist aber Falstaffs Eigentlichstes. Er repräsentiert die trunkene, die betrunkene, geile Form des „Lebe noch ein wenig" — das jedoch ist der Punkt, wo Leben in Tod umschlägt; „Lebe ausgelassen" bedeutet schon Lebensschwächung. Falstaff bejaht und beglänzt liebevoll seine Dickwanstigkeit und spricht gerne von dem Bauch, der ihn so vorteilhaft von ändern unterscheidet. „Still, du Dickwanst!" sagt Prinz Heinrich einmal zu ihm. „Leg dich nieder, leg dein Ohr dicht an die Erde und horch, ob du keine Tritte von Reisenden hörst." Falstaff darauf: „Habt ihr Hebebäume, mich wieder aufzurichten, wenn ich einmal liege?" (II, 2). Es macht ihm ehrlich Kummer, zu denken, daß er magerer werden könnte. „Bardolph, bin ich seit der letzten Affäre nicht jämmerlich abgefallen? verzehr ich mich nicht? schrumpfe ich nicht ein? Wahrhaftig, meine Haut hängt um mich herum wie das lose Kleid einer alten Dame; ich bin so welk wie ein gebratener Apfel. Ach ja, ich will mich bekehren, und das geschwind, so lange ich noch einigermaßen bei Fleische bin." Handkehrum aber ist er imstande, seine Fleischesfülle gerade auf Kummer und Sorgen zurückzuführen. „Hol die Pest Seufzen und Kummer! Es bläst einen Menschen auf wie einen Schlauch." (II, 4). Aber häufiger als daß er ihn entschuldigt, tätschelt und besingt er seinen Bauch. Seine Sünden verteidigt er mit dem Hinweis auf sein Fleisch: „Du siehst, ich habe mehr Fleisch als andere Menschen, und also auch mehr Schwachheit." Seine Leibesfülle scheint nicht nur ihm selber, sondern auch ändern sympathisch zu sein. Prinz Heinrich, als er Falstaff scheinbar tot am Boden liegen sieht, sagt wehmütig: 153

Wie, alter Freund? Könnt all dies Fleisdi denn nidit Ein bißchen Leben halten? Armer Hans, leb wohl! Ich könnte besser einen Bessern missen... Heut hat der Tod manch edles Wild umstellt, Doch kein so feistes Wild als dies gefällt (V 4). Falstaffs Wanst, das Wuchern seines Leibes ist ein Sinnbild der Lebensüppigkeit, der überschäumenden Lebenslust, die aber, gerade weil sie im Übermaß da ist, in Lebensschwäche umschlägt. Falstaff glaubt, das Leben selber zu sein. In der Schlacht stellt er sich tot, um sein Leben zu retten (ähnlich wie Thersites zum selben Zwecke sich ehrlos erklärt) und philosophiert: „Die Maske des Todes annehmen, wenn man dadurch sein Leben erhält, heißt das wahre und vollkommene Bild des Lebens sein." To counterfeit dying, when a man thereby liveth, is to be no counterfeit, but the true and perfect image of life indeed (V 4). Aber wenn Falstaff noch in der Maske des Todes der Lebendige ist, so schleicht sich in dieses Bild des Lebens unvermerkt der Tod ein, statt Leben in Tod bedeutet die Gestalt Falstaffs schließlich Tod in Leben. Schon im Physischen wirkt sich die Polarität zweideutig aus. Im Dickbauch ist die strotzende Fülle aufs engste verbunden mit kraftloser, hängender Schlaffheit — die antike Komödie, die den Dickbauch zur komischen Figur machte, hat um das Zusammenspiel der beiden Komponenten gewußt. Falstaff ist ein Allesgenießer und Allesverschlinger, das aber bedeutet Versprühen der Lebenskraft, Fruchtbarkeit am falschen Orte (Falstaff scheint schwanger, ohne es zu sein), Tod in der Maske des Lebens. So liegt ein Hauch des Tragischen über dieser Figur. Trotz größter Lebensintensität richtet Falstaff sein Leben zugrunde und verfehlt sein Dasein. Auch gesellschaftlich schaufelt er sich das Grab. Seine genialen Ausreden, Lügen, Prahlereien und feigen Streiche, die doch alle im Dienste des Lebens, seines Lebens stehen sollen, machen ihn unmöglich; die Gesellschaft, vertreten durch König Heinrich V., stößt ihn aus. Und doch sagte Heinz einmal: „Ich könnte besser einen Bessern missen." Und gar die Nachwelt — Frank Harris hat bekannt, er möchte lieber mit Falstaff einen Abend verbringen als etwa mit Carlyle oder mit Verlaine. Es ist nicht nur der komische Kontrast zwischen dem schwerfälligen Körper und dem beweglichen Geist, der Falstaff so beliebt macht, es ist der übermütige, ungebunden sich verströmende Reichtum dieses Geistes selbst. Falstaffs Witz weiß jeder Situation sich anzupassen oder sie für sich zurechtzubiegen, bald verblüffend ungezwungen, bald herrlich unverschämt. Seine Ausreden und Lügen, die ursprünglich erfunden werden, um ihm zu dienen, werden schließlich Selbstzweck; er genießt seine Lügengeschichten und läßt sie ins Kraut schießen, gleichgültig ob sie ihm noch nützen oder nicht, ob sie geglaubt werden oder nicht. Und doch kann er bisweilen mittendrin, wie verschämt, abbrechen: 154

„Adi, davon nichts weiter, Heinz, wenn du mich lieb hast!" (II4). So bleibt bei Falstaff manches in der Schwebe: Ernst und Scherz, Kraft und Schwäche, freie, reiche Bewegung und maßlose Selbstbezogenheit. Die Lebenslust überschlägt sich in ihm, und beides, die strotzende Üppigkeit und der Verfall, wird in der Deformation seines Leibes äußerlich sichtbar. Faletaff ist der Nachwelt zu einer Art Mythus geworden. Nicht nur in den Opern von Nicolai und Verdi ist er auferstanden, auch der Dorfrichter Adam in Kleists Zerbrochenem Krug ist ein Abkömmling Falstaffs, so wie umgekehrt die Dickbäuche der alten Komödien seine Vorfahren sind. Schon bei Shakespeare selber hat die Figur mehrere Wandlungen durchgemacht. Ursprünglich wohl als bloßer Hanswurst angelegt, ist sie unter den Händen ihres Schöpfers gewachsen, Falstaff wird zum geist- und phantasiesprühenden Kritiker und Genießer aller Dinge. Die Zeitgenossen haben solchen Spaß an ihm gehabt, daß sie sein Wiederauftreten forderten, nachdem Shakespeare ihn hatte untergehen lassen; Königin Elisabeth selbst, so will es die Legende, soll sein Wiedererscheinen gewünscht haben; jedenfalls machte Shakespeare ihn schließlich zum Helden einer eigenen Komödie, in den Lustigen Weibern von Windsor feiert Fallstaff fröhliche Urständ. Es ist ein köstlich geratenes Lustspiel — und doch muß Fallstaff sich beim Übergang von der Historic in die Komödie einen gewissen inneren Gewichtsverlust gefallen lassen. In König Heinrich IV. sagte Falstaff einmal von sich, er sei nicht bloß selbst witzig, sondern Ursache, daß andere Witz haben. / am not only witty in myself, but the cause that wit is in other men. Denn nicht nur was er erfinde, reize zum Lachen, sondern auch, was über ihn erfunden werde (2. Teil I 2). In den Lustigen Weibern ist es mit dem Selbsterfinden nicht mehr weit her. Falstaff ist hier wirklich in erster Linie Zielscheibe für den Witz der ändern geworden. Shakespeares Komödie erträgt die eigenkräftige Gestalt nicht, sie ist ein leichtes Spiel mit Figuren. Shylocks Charakter und Schicksal zerreißen das feine Gewebe des Lustspiels, der dicke Falstaff aber schreitet schließlich mit komischer Eleganz in dem luftigen Reigen der echten Lustspielfiguren mit.

EIN SOMMERNACHTSTRAUM l never heard So musical a discord, such sweet thunder. A Midsummer-Night's Dream ist die erste Komödie, in der Shakespeares Genie sich voll entfaltet. Die ^Starrheit und Schulmäßigkeit der vorangegangenen Jugendkomödien ist gewichen, frei und gelöst schaltet der Dichter mit seinen Elementen. Personen und Motive stammen aus der literarischen Tradition (Ovid, Montemayor, mittelalterliche Spiele, Chaucer, Lyly...), und das Ganze, für eine Hochzeitsfeier in vornehmem Hause gedichtet, nährt sich von der Atmosphäre der Maskenspiele. Aber alles ist mit leichter Hand zur festlichen Einheit gefügt — and grows to something of great constancy (V 1, Hippolyta) — die kontrastierenden und in sich selber dissonanten Welten der Gesellschaft, des Volkes und der Elfen vermählen sich in traumverworrenem Zusammenklang. Sommernachtstollheit, midsummer-madness, wie sie am Johannisabend (24. Juni) die festberauschten Londoner ergriff, beherrscht in Shakespeares Stück die Menschen ebenso wie die Natur. Elfen, Adlige, Handwerker werden von phantastischen Liebesträumen verwirrt, ja die Liebe, von der Shakespeare in Was ihr wollt sagt, sie sei so voll von Phantasien, daß das Wort „phantastisch" nur ihr allein zukomme, scheint hier selbst zu träumen, Menschen und Elfen sind die Marionetten ihres Traums. Sich selbst entfremdet irren sie in Nacht und Wald umher, einander suchend und fliehend, liebend und hassend, sich selber und einander mehr und mehr verlierend, bis ein gütiger Komödiengott die Verworrenheit löst, alle feindliche Verzauberung aufhebt und nur die freundliche bestehen läßt. Hermia und Lysander, ein Mädchen und ein Jüngling aus vornehmer Athener Gesellschaft, lieben einander. Demetrius, ein anderer junger Edelmann, hat sich von seiner Liebsten Helena abgewandt und umwirbt nun ebenfalls Hermia, die aber, dem Lysander treu, von ihm nichts wissen will; Demetrius jedoch gewinnt die Unterstützung von Hermias Vater. In einer prachtvollen ersten Szene stellt Shakespeare beide Parteien einander gegenüber. Zuerst betreten Theseus, Herzog von Athen, und seine Braut Hippolyta samt Gefolge den Schauplatz. Von der ändern Seite kommt dann Egeus mit seiner Tochter Hermia und deren beiden Liebhabern. Das kurze höfische Liebesgespräch zwischen Theseus und Hippolyta — höfisch im wörtlichen Sinn: es wird im Angesichte des Hofes gesprochen - bildet die Ouvertüre zum ganzen Stück. Es ist voller Antithesen und Polaritäten: Tag und Nacht, Eile und Zögern, Lustbarkeit und Melancholie, liebende Jugend und dürres Witwenalter, Hochzeitspomp und fahler Leichenzug. Mit dem Schwert hat The-

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seus um die Amazonenkönigin geworben, er hat ihre Liebe gewonnen, indem er ihr Leid antat. l woo' d thee with my sword, and won thy love, doing thee injuries. Nun aber darf der Krieg im Fest untergehen. So klingt der feindliche Widerstreit des Stückes vor, seine geheimnisvollen Wirrnisse, aber auch schon die glückliche Lösung. Die Natur, im Geschehen des Sommernachtstraums aktive und Person gewordene Mitspielerin, ist hier in Worten gegenwärtig: Tag und Nacht und Mond und Himmel. Aber auch die dunkeln menschlichen Schicksale, Krieg, Alter, Tod sind da. Seltsam unvermittelt muß Theseus von der dürren Witwe und von der bleichen Melancholie der Leichenzüge sprechen. Die tragische Möglichkeit bringt sich in Erinnerung. Nach dieser lyrischen Einstimmung zieht, Verdrusses voll, Egeus mit seiner Gruppe auf und beginnt sogleich seine Tochter und ihren Liebhaber vor dem Herzog zu verklagen. Wenn dort Streit und Not nur in den Worten, als ferne oder überwundene Möglichkeiten auftauchten, so treten sie hier in die Gegenwart; wenn dort die fein aber bestimmt von einander unterschiedenen Stimmen von Mann und Weib harmonisch zusammenklangen, so stehen hier Vater und Tochter verbissen gegeneinander, und wie so oft in Kunst und Wirklichkeit des Barockzeitalters sucht ein Wille den ändern zu unterjochen, ihn sich selber zu entfremden. Egeus wirft Lysander (ähnlich wie Desdemonas Vater dem Mohren Othello) vor, er habe seine Tochter behext, ihr also den eigenen Willen geraubt und ihren kindlichen Gehorsam in eigensinnigen Trotz verkehrt. Egeus aber scheut sich nicht, seinerseits den Willen der Tochter zu unterjochen und ihn einem ungeliebten Manne zu unterwerfen; doch Hermia will lieber Jungfrau bleiben als sich „der Herrschaft dessen unterwerfen, des unwillkommnem Joche meine Seele die Huldigung versagt". Der Herzog, hier Vertreter des Staates, dessen Gewaltherrschaft auf das Vaterrecht aufgebaut ist, empfiehlt ihr Selbstverleugnung: Der Vater sollte wie ein Gott Euch sein, Der Euren Reiz geformt hat, und wie einer, Von dem Ihr ein Gebild nur seid, in Wachs Von seiner Hand geprägt, und der die Macht hat, Es stehn zu lassen oder auszulöschen. Hermia müßte, meint der Herzog, mit des Vaters Augen schauen; sie aber wünscht das Umgekehrte: „O sah mein Vater nur mit meinen Augen!" So verlangt jeder vom ändern Einfühlung, Unterwerfung, Selbstentfremdung. „Sie ist mein", ruft Egeus, „und alle meine Rechte an sie verschreib ich dem Demetrius." Der Herzog, ein freiheitlicher Träger der Staatsgewalt, vertagt die Entscheidung, das heißt er überläßt die Dinge zunächst der eigenen Entwicklung und wendet sich, Egeus und Demetrius mit sich führend, gelassen anderen Geschäften zu. 157

Recht unwahrscheinlich ist es, daß nun Hermia und Lysander allein zurückbleiben dürfen, um ihr Los zu beklagen und Pläne zu schmieden. Sie tun es in einem an Polaritäten und Bildern reichen Wortgeplänkel und beschließen, aus der Stadt hinaus in den Wald, aus der Gesellschaft in die Natur zu fliehen; Hermia schwört dem Liebsten in paradox-preziöser Priamel, sie werde sich einfmden: „bei jedem Schwur, den Männer je gebrochen." Auf dieses Stichwort erscheint prompt die von ihrem Geliebten verlassene Helena. Wenn Hermia sich soeben kräftig gegen Selbstentfremdung gewehrt hat, so wünscht sich Helena in einem bizarren Bilde solche Selbstentfremdung gerade herbei: Sie wünschte, um nur ihrem Demetrius wieder zu gefallen, das Wesen Hermias anzunehmen. Wie von einer Krankheit möchte sie sich von Hermia anstecken lassen, Stimme, Auge, Tonfall sich von ihr ausleihen. Hermia eröffnet der Freundin, daß sie sich dem Anblick des Demetrius zu entziehen gesonnen sei, die Liebenden vertrauen der Einsamen ihre Fluchtpläne an und gehen dann ab. Helena bleibt, ihre Situation wird zum Bild, am Schluß der Szene allein auf dem Platz und spricht den einzigen Monolog des Aktes. Sie beklagt die Irrungen der Liebe, die, blind, mit dem Gemüt (mind) statt mit den Augen schaue. Das Urteil der Augen nämlich brauchte sie, die sich für ebenso schön halten darf wie Hermia, nicht zu scheuen. Wahnwitzige aber, Poeten und Verliebte bestehen aus Einbildung, sagt Theuseus später (V 1), und Helena weiß: Dem schlechtsten Ding, ohn jeglichen Gehalt Leiht Liebe dennoch Ansehn und Gestalt. Von solcher Art ist auch ihre eigene Liebe zu Demetrius, und so sehr wird sie sich selber untreu, daß sie, um nur ihm angenehm zu sein, davoneilt, ihm den Fluchtplan der Freundin zu verraten. Sinnlos tut sie das Sinnlose, treulos das Treulose, obschon sie, klardenkend, voraussieht, daß es ihr selber zum Schaden gereichen muß. Die anschließende Szene gehört den Handwerkern, die zu des Herzogs Hochzeit ein Festspiel aufführen wollen. Manche Motive erscheinen in komischer Verzerrung wieder, so gleich zu Beginn das Tag-Nacht-Motiv Hippolytas: sie wollen ihr Spiel „vor dem Herzog und der Herzogin agieren, an seinem Hochzeitstag zu Nacht." Auch sie entschließen sich, wie die Liebenden, die Stadt zu verlassen und draußen im Wald zu proben: beide Gruppen wollen in der freien Natur, ungestört von der Gesellschaft (company), eine höhere Welt verwirklichen. Und wie die Liebenden, so entfremden sich auch die Handwerker sich selbst: sie zwingen sich eine ganz unangemessene Aufgabe auf. Das Chaos und die Zwangsordnung, die in den Beziehungen der Vornehmen sich andeuten, kehren hier in grotesker Gestalt wieder. Das Chaos: Als passende Darbietung auf einem Hochzeitsfest wird eine blutige Tragödie 158

ausersehen, die von den Handwerkern freilich, und damit wird sie selber chaotisch, als höchst klägliche Komödie bezeichnet wird. Nick Bottom (Zettel) will als Thisbe mit einer monströs feinen Stimme reden, er will als Löwe „so sanft brüllen wie ein saugendes Täubchen", er will „brüllen, als war es ne Nachtigall". Chaotisch ist Bottoms Lust, jede Rolle spielen und gleich zum Besten geben zu wollen, chaotisch das ganze Unternehmen der Handwerker, sich in Gestalten zu verwandeln, die ihnen unerreichbar bleiben. Dafür — der den Julius Caesar bestimmende Grundklang UnsicherheitScheinsicherheit wird vernehmbar — klammern sie sich um so eifriger an eine äußere Ordnung, die ihnen Garant dafür ist, daß alles zum Besten steht. Es wird Appell gemacht, Mann für Mann nach der Liste aufgerufen. Das erkorene Spiel ist ein „gutes Stück Arbeit", die Rollen sollen sorgfältig gelernt werden, von allen Requisiten, die zum Stück gehören, wird ein Verzeichnis gemacht. Nun kann es nicht fehlen. In einer späteren Szene suchen die Gesellen den Mondschein im Kalender. „Einen Kalender! Einen Kalender! Seht in den Almanach! Suchet Mondschein! Suchet Mondschein!" (III1) Die Lust alle Rollen zu spielen, die beim echten Schauspieler der Sehnsucht entspringt, viele Möglichkeiten wirklich werden, schlummernde Keime sich entfalten zu lassen, ist bei Bottom nur chaotisches Herumhüpfen in Gefilden, die ihm fremd sind. Und doch wirken der Eifer und die Ahnungslosigkeit dieser Handwerker, die sich bieder an das Höchste wagen, nicht nur grotesk, sondern auch rührend. Auf tieferer Ebene wird hier, breit instrumentiert, die Melodie des Stückes abgewandelt, die Verblendung der Handwerker entspricht der der Liebenden, auch sie sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gemüt, auch für sie bekommt das schlechteste, gehaltlose Ding herrlich Ansehn und Gestalt. Sie tun den Dingen und sich selber Gewalt an und sie sind, auf ihre Weise, traumbefangen wie die Liebenden. Der zweite Akt gehört den Naturgeistern, den Elfen. Sie hausen im Wald, in den die Menschen vor der Gesellschaft fliehen. Aber auch bei ihnen herrscht Zwiespalt, und die Liebenden wie die Handwerker werden von ihnen statt Hilfe zunächst nur Störung erfahren. Der Elfenkönig Oberen und seine Gemahlin Titania sind entzweit. Er plagt sie mit Eifersucht, sie wendet sich beleidigt von ihm ab. Das Chaos in der menschlichen Welt erscheint ins Kosmische transponiert. Der Streit der Elfen macht die Natur krank, Wasser verwüstet das Land, die Jahreszeiten werden sich selber untreu. Durch eben die Zerrüttung ändern sich Die Jahreszeiten: silberhaarger Frost Fällt in den zarten Schoß der Purpurrose, Indessen ein Duftkranz von Sommerknospen Auf Hyems kahlem und beeistem Scheitel, Als wie zum Spotte, prangt. Der Lenz, der Sommer, 159

Der zeitigende Herbst, der grimme Winter, Sie alle tauschen die gewohnte Tracht, Und die erstaunte Welt Merkt an den Gaben nicht mehr welches welches ist. ... now knows not which is which: Identitätsverlust, Selbstentfremdung der Jahreszeiten, der Natur. Und diese ganze Brut von Plagen kommt Von unserm Streit, von unserm Zwiespalt her: Wir sind davon die Stifter und Erzeuger. Oberen aber geht nun daran, den Willen Titanias durch Zauber sich Untertan zu machen. Kosmisches Chaos, kosmischer Konflikt, Willensunterjochung, Selbstentfremdung: die Luft ist gesättigt von eben den Motiven, die im menschlichen Bereich des ersten Aktes erklangen. Die Verwandlungslust Bottoms variiert sich in der Verwandlungskunst Pucks (Drolls), der nun wirklich alle Rollen spielen kann und Menschen und Tiere damit zu necken und zu verwirren liebt. Oberon, der selber mit Titania entzweit ist, beobachtet Demetrius und Helena, die auf der Suche nach dem anderen Paar den Wald betreten. Er, von dem Titania sich abgewandt hat, sieht nun Demetrius sich von Helena abwenden, und Mitleid ergreift ihn. Helena aber, die entgegen der weiblichen Art als Werbende um des Mannes Liebe bettelt, spricht das Stichwort des Stückes aus: Die Fabel kehrt sich um, The story shall be changed. Die in klassischen Erzählungen und Fabeln vorgebildeten Ur-Verhältnisse verkehren sich. Apollo flieht, und Daphne setzt ihm nach, Die Taube jagt den Greif, die sanfte Hindin Stürzt auf den Tiger sich: Vergebne Eil, Wenn Zagheit stürmt und Tapferkeit entflieht. Vergebne Eil... In der ersten Szene hat Hermia von Geduld gesprochen, der Herzog hat Aufschub und Geduld verfügt; auch Helena weiß, daß nichts sich erjagen und erhasten läßt — und muß es doch versuchen. Speed beherrscht die Menschen, zur milden Patience sind sie nicht reif. Helena spürt, daß nicht nur sie, daß in ihr zugleich ihr ganzes Geschlecht sich untreu wird. Aber sie fühlt sich nicht frei, Demetrius zieht sie mit der gleichen Macht an wie der Magnet edlen Stahl, sie muß ihm folgen, auch wenn die Hoffnung, ihn zu gewinnen, ihn sich Untertan zu machen wie sie ihm Untertan ist, sich nie erfüllen -kann. Ich folge dir und mache Lust aus Pein, Der Tod von deiner Hand soll süß mir sein. 160

Schon aber ist, ohne daß sie es ahnt, von den Naturgeistern eine Wendung eingeleitet. Oberon, der nun, in der folgenden Szene, die Zauberblume über den Augenlidern Titanias ausdrückt, um sie zu quälen, gibt Puck den Auftrag, Demetrius zu bezaubern, um sein und Helenas Leid zu heilen. Denn zum Heilen sind die Elfen eigentlich da, wie es Titanias Worte zu Beginn dieser zweiten Szene des zweiten Aktes bezeugen: „Ihr, tötet Raupen in den Rosenknospen..." Aber die Natur, in sich selber verwirrt, verwirrt nun auch die menschlichen Verhältnisse noch mehr, als sie es an sich schon sind. Puck, der sonst so gerne absichtlich Schabernack treibt, tut es diesmal unabsichtlich, er preßt seinen Saft versehentlich über den Augen des schlafenden Lysander aus, und da dieser erwachend zuerst Helena erblickt, muß er nun sie lieben und Hermia verlassen. Es ist wie in wirrem Traumgeschehen, wo man plötzlich etwas ganz Fremdem, bisher nie Begehrtem nachjagen muß. Helena, durch ihre bittere Erfahrung selbstkritisch geworden, nimmt Lysanders Werben für Hohn und wendet sich von ihm ab. Er aber muß ihr folgen. Die große Umkehrung, die in dem Stücke vor sich geht, ist eingeleitet, und zur Bestätigung sehen wir zuletzt Hermia allein und verlassen auf der Bühne. Sie weiß noch nicht um ihr Schicksal, aber im Traum schon hat Angst sie überfallen, und als sie erwachend Lysander, den sie am Abend vorher in einem anmutigen Geplänkel, einem gespielten Konflikt eine Strecke von ihr entfernt sich hatte betten lassen, nicht mehr sieht, ist es nunmehr an ihr, den Akt mit einem schmerzlich bewegten einsamen Monolog zu schließen. Der dritte Aufzug bringt sofort die Spiegelung des Geschehenen auf der ändern Ebene. Auch Titania wird durch Zauber gezwungen, einem Ziele nachzujagen, das sie vorher nie auch nur im Traum erstrebt hat. Sie muß einen Rüpel mit Eselskopf lieben — denn Puck hat inzwischen dem munteren Bottom mutwillig einen solchen angezaubert, und ihn erblickt die aus dem Zauberschlaf erwachende Elfenkönigin als ersten. Bottom seinerseits ist keineswegs in sie verliebt — so wenig wie Heleoa in Lysander — läßt sich aber ihrer Elfen Bemühungen um ihn behaglich gefallen. Titania, die sich durch Zaubermacht an Bottom gefesselt fühlt, möchte ihn ebenso an sich fesseln, der nüchterne Bottom aber, dessen Eselskopf kaum als Maske, eher als Demaskierung erscheint - Puck nennt ihn den schalsten von den Gesellen — ist unfähig, sich von der Liebe verzaubern zu lassen, so wie er und seine Kumpane sich auch von ihren Rollen nicht verzaubern lassen. Sie bleiben in jedem Kleide hausbacken und bieder, kein Zauber vermag sie zu verwandeln. Was Titania betrifft, so scheinen ihre Ohren nicht gar so irregeführt wie ihre Augen, der Anblick des Eselskopfes zwar versetzt sie in Verzückung, seine Sprüche aber scheinen sie einigermaßen zu ernüchtern: als ob auch die Sinne noch im Widerstreit wären, als ob das Gehör der unbewußten Ahnung näher stünde als das tageshelle Gesicht. 161

In der folgenden Szene endlich wird das Motiv fruchtlos angetragener Liebe beinah zu Tode gehetzt. Demetrius bedrängt Hermia, sie aber glaubt in ihm den Mörder Lysanders zu sehen, tragische Töne wollen aufklingen. Erschlugst du mir Lysander, weil er ruhte, So bad, einmal befleckt, dich ganz im Blute Und tot auch mich! Die Beziehung zu Pyramus und Thisbe stellt sich ein, aber wie das Stück der Rüpel, so wird auch Hermias vermeintliche Tragödie sich schließlich zur Komödie wenden. Noch freilich ist es nicht so weit, noch soll ihre Not sich steigern; wenn sie jetzt einsam ist, weil sie Lysander verloren hat und Demetrius nicht erhören will, so wird auch dieser sogleich sich von ihr abwenden. Denn Oberon hat Pucks Irrtum bemerkt und träufelt nun den Saft der Zauberblume auch dem schlummernden Demetrius auf die Augen. Im Erwachen sieht er Helena bei sich, fährt auf und beginnt sofort, beredt wie ein Automat, sie anzuschwärmen. O Helen! goddess, nymphe, perfect, divine! O Huldin, Schönste, Göttin meiner Wähl! Womit vergleich ich deiner Augen Strahl... Die jetzt plötzlich übersteigerte Liebessprache muß der selbstkritischen Helena als reiner Hohn erscheinen, sie weist nun ihrerseits den Liebenden zurück — ebenso wie Lysander, der sie seinerseits bestürmt, während Hermia von beiden verlassen dasteht: die Umdrehung hat sich vollendet. Hermia will es nicht glauben: Ist sie denn nicht noch dieselbe wie eben? Ist Lysander, der sie Mohrin, Katze, Klette, Schlange, Mißgeschöpf schilt, nicht mehr Lysander? Bin ich nicht Hermia? Seid Ihr nicht Lysander? Ich bin so schön noch wie ich eben war. Sie will nicht glauben, daß der Mensch sich selber fremd werden kann. Helena aber, die ihre Sache verloren gibt in dem Augenblick, da die Naturgeister daran sind, alles in die richtigen Bahnen zu lenken, hat kein Vertrauen mehr zu sich und auch keines zu ändern. Sie hat äußerlich unrecht, wenn sie das Werben des Demetrius wie des Lysander für Hohn nimmt, denn beide lieben sie jetzt, in einer tieferen Schicht aber hat sie doch recht, denn beide lieben sie ja nur, weil sie sich selbst entfremdet sind. Wieder will das Tragische durchdringen, Puck spricht von irren Totengeistern, die angsterfüllt umherhasten, äußerlich vollendet sich das Chaos, die beiden Mädchen wenden sich gegeneinander und ebenso die beiden Jünglinge, fast wird das Stück auf seinem Höhepunkt durch eine Prügelei gekrönt, wie so manche

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ältere Komödie, aber Shakespeare dämpft ab, läßt die verwirrten Menschenkinder einschlummern, Puck macht sein Versehen gut und bezaubert Lysander von neuem — beim Erwachen werden die Paare sich finden. Während die Liebespaare der Genesung entgegenschlafen, sehen wir, im 4. Akt, ein letztesmal Titania mit dem Eselskopf kosen; die Szene wirkt wie der sichtbar gewordene Traum der Schlafenden, in dem sie noch einmal in grellen Bildern ihre eigene Verwirrung sich spiegeln sehen. Nicht nur wir, auch Oberon ist Zuschauer. Und wie er recht hinsieht, sieht er alles auf einmal mit anderen Augen. Zorn wird zu Mitleid. Eben noch hat er Titania angefahren, weil sie um solchen Tropf sich bemühte. Denn wenn er auch selber den Zauber gewirkt hat, so mußte es ja doch sein heimlicher Wunsch sein, daß Titania sich nicht verwandeln lasse, daß sie trotz aller Magie sich selber treu bleibe. Im Gespräch mit ihr ist er heftig geworden. Jetzt aber, wo er als ruhiger Zuschauer vor dem grotesken Schauspiel steht, ergreift ihn Trauer und Mitleid. Die Rolle des Theaters, wie Shakespeare sie sah, wird sichtbar. Es hebt einen Ausschnitt des Seins vor unsere Augen und läßt uns ruhig schauen, wir werden der Welt und unserer selbst inne. — Oberon entzaubert Titania und führt sie in zarter Weise, durch Musik und ein „aufräumendes Gespräch", zu sich selbst zurück. Und nun, da all die Nebenspannungen glücklich gelöst sind (auch Bottom findet sich in der nächsten Szene in der alten Gestalt bei seinen Freunden ein), taucht plötzlich die fast vergessene „Hauptspannung", die eigentlich nur eine Rahmenspannung ist, wieder auf: Wird Hermias Vater Ja und Amen sagen? Nein, er verlangt den Bann, aber da die Paare sich gefunden haben und Theseus ihnen den Segen gibt, muß er sich fügen. „Egeus, ich will Euren Willen überwinden." So endet das Stück auch hier mit einer Umkehrung der Dinge: Zu Beginn schien Egeus seinen Willen ändern aufzwingen zu können, jetzt muß er sich dem Willen anderer unterwerfen. Er tut es, ohne ein Wort zu sprechen. Das Stück ist zu Ende, für den letzten Aufzug bleibt nur noch der Mummenschanz: Die Handwerker führen „Pyramus und Thisbe" auf und machen unfreiwillig eine Tragödie zu einer Komödie. Am Ende tanzen sie ihren Rüpeltanz, der Tanz der Elfen schließt sich an, Musik tönt — das Stück geht aus wie ein Maskenspiel. Was die Ouvertüre vom Krieg des Theseus gegen Hippolyta erzählte, das ist im Sommernachtstraum vor unseren Augen geschehen: die feindliche Verwirrung hat sich zum frohen Fest gewandelt. Ungeschickte Rüpel bereiten gerade durch ihr Ungeschick Vergnügen, ihre blutige Tragödie wird zur lustigen Posse. Den im Zauberwalde Jagenden scheint selbst das Hundegebell melodisch, narmonisch klingt es mit dem Echo zusammen. Theseus' Jagdhunde sind langsam in der Verfolgung, aber ihre Stimmen sind auf einander abgestimmt. „Melodischer scholl niemals ein Gebell", sagt der Herzog, und die Braut muß zugeben, so melodischen Mißklang und so süßen 163

Donner habe sie nie gehört. / never heard so musical a discord, such sweet thunder (IV 1). Das gilt für den Sommernaditstraum im ganzen, es gilt für Shakespeares Komödie überhaupt. Sie zeigt uns eine Welt voll wirren Widerstreits und Mißklangs, freundliche Götter fügen alles zur Harmonie. Im Sommernachtstraum treten sie als Elfen sichtbar in Erscheinung, in anderen Spielen bleiben sie unsichtbar und halten doch die Schicksalsfäden in der Hand. Je toller und stürmischer die Verwicklungen, um so beglückender die unversehens geschenkte Rettung. Aber schon die Verwicklungen selbst sind, wie die Tragödie der Rüpel, von komischer Art: Häufung und Übertreibung, marionettenhafte Automatismen und Symmetrien lassen den Zuschauer das Unwirkliche der widrigen Schicksale erkennen, nur die Figuren selber irren traumbeschwert, im Zauberbann befangen im Kreise. Und doch fällt ein Abglanz ihrer Verzweiflung auch auf den Zuschauer. Wohl entwirrt Oberon die Fäden mit dem Zauberwort: „Sei, als wäre nichts geschehn!" Be as thou wast wont to be. Aber ist denn wirklich alles wie vorher? Können wir vergessen, daß Titania mit einem Esel gekost hat, kann Oberon, kann sie selber es vergessen? Lysanders scheinbar so tiefe Liebe zu Hermia ließ sich einfach wegblasen. Und Demetrius' neue Liebe zu Helena, ist sie denn echt? Auch sie ist ja wie jene Lysanders durch Verzauberung entstanden - ist nicht auch sie nur Selbstentfremdung? Auf welches Gefühl kann man sich denn verlassen? Alles ist am Ende Einbildung. Fast will es uns ein Trost sein, daß wenigstens die Rüpel sich nicht verwandeln lassen. Bottom ist auch mit dem Eselskopf noch ganz er selbst; er wenigstens läßt sich nicht verwirren. Und die Handwerker strengen sich umsonst an, sich in Löwe, Wand, Mond oder auch nur in Pyramus und Thisbe zu verwandeln — sie können nicht aus ihrer Haut. Sie selber zwar glauben sich ganz mit ihren Rollen eins, und die Macht der Täuschung, die sie erreichen, scheint ihnen so gefährlich, daß sie die zarten Damen im Publikum, die vor dem brüllenden Löwen erschrecken könnten, vorsichtig aufklären: So wisset denn, daß ich Hans Schnock, der Schreiner bin, Kein böser Löw fürwahr, noch eines Löwen Weib ... Die Einbildung, deren grenzenlose Macht in der Liebe uns vor Augen geführt wird, hier erscheint sie entthront. Aber das ist freilich ein schlechter Trost. Es zeigt uns unsere Beschränkung nur von der ändern Seite. Da, wo wir es nicht ahnen und nicht wollen, da werden wir verwandelt und ganz uns selber fremd — wo wir uns aber freiwillig verwandeln wollen, da geht es nicht; wir mögen uns mühen und anstrengen und selber uns verwandelt vorkommen — wir bleiben die platten Burschen, die wir sind. Ganz leise nur, als eine ferne Hoffnung, taucht hinter den Handwerkern, in denen Shakespeare vielleicht Laienspieler verspotten wollte, das Gegenbild auf: der echte Schauspieler, der, wie es im Hamlet gezeigt ist, frei und sicher sich 164

zu verwandeln, seinen Willen nach den eigenen Vorstellungen zu lenken vermag und wie Puck tausend Gestalten annehmen, tausend Möglichkeiten verwirklichen kann. Im Sommernachtstraum jedoch wird das Gegenteil gezeigt, nur als Ahnung mag im Publikum das unsichtbare — und doch unmittelbar präsente — Gegenbild aufsteigen. Im Hamlet ist es leibhaftig da, Shakespeares Tragödie enthält mitten im Dunkel das Licht, seine Komödie aber ist, bei all ihrer spielenden Heiterkeit, von einer geheimen Trauer erfüllt. Irrnis und Wirrung im niederen Volk, in der vornehmen Gesellschaft, und auch in der Natur, bei den Elfen. Die drei Welten gemahnen an Himmel, Erde und Hölle des spätmittelalterlichen und barocken Misterienspiels. Da mochte es vorkommen, daß spaßige Teufel das Geschehen auf der Erde, etwa den Handel des Judas mit den Juden, grotesk parodierten, so wie hier die Rüpel (Clowns) unwissentlich die Vorgänge in der Elfen- und Menschenwelt parodieren. Aber im Misterienspiel vollzogen sich die parallelen Handlungen auf drei sauber voneinander getrennten Bühnen, hier durchdringen sich die Schichten, und überdies ist jede von ihnen mit sich selbst im Streit. Die geordnete Stufenwelt des Mittelalters hat sich aufgelöst, Wirrnis ist eingetreten, anstelle des Übereinander ein kompliziertes und differenziertes Ineinander: die Welt scheint aus den Fugen. Die Handwerker sind nur deshalb nicht verwirrbar, weil sie schon an sich chaotisch sind. „Mir war, als war ich — kein Menschenkind kann sagen, was. Mir war, als war ich, und mir war, als hätt ich — aber der Mensch ist nur ein buntscheckiger Hanswurst, wenn er sich unterfängt zu sagen, was mir war, als hätt ich's. Des Menschen Auge hat nicht gehört, des Menschen Ohr hat nicht gesehen, des Menschen Hand kann nicht schmecken, seine Zunge kann nicht begreifen und sein Herz nicht wieder sagen, was mein Traum war" (Bottom IV 1). Die Rüpel sind nicht, wie es zeitweise scheinen möchte, wirklich sie selber, sie sind vielmehr überhaupt noch kaum Person geworden. Bottom, der sich einbildet, alle Rollen spielen zu können, vermag in Wirklichkeit keine einzige richtig zu spielen. Er kommt nicht über sich selbst hinaus und ist doch nicht er selbst, sondern dem Chaos verhaftet. Er spielt ohne alle Täuschungskraft und ohne sich zu verwandeln, hat aber eine chimärische Einbildung von der Macht der Täuschung, glaubt das Publikum aufklären und wohl gar sich selber vor Identitätsverlust schützen zu müssen. „Zu mehr besserer Sicherheit sagt ihnen, daß ich, Pyramus, nicht Pyramus bin, sondern Bottom, der Weber" (III 1). „Wer kann mir sagen, wer ich bin?" Lear stellt die Frage, als er sich des Chaos in sich und um sich herum bewußt zu werden beginnt. Bottom aber hat das Chaos erlebt, ohne es erkennen zu können, er kann nur in chaotischer Weise vom Chaos sprechen. Die Ordnung der Sinne ist gestört, die Art, wie er die Learfrage stellt, verworren: Me thought I was — There is no man can tell what. Wenn bei 165

Lear die Formulierung der Frage schon ein Schritt zur Beantwortung ist, so bleibt Bottom hoffnungslos der Wirrnis preisgegeben. Als Pyramus sieht er eine Stimme, will Thisbes Antlitz hören und erklärt sich treu wie — Leander will er sagen, aber die Sprache verwirrt sich ihm wie alles andere, er entstellt das Wort zu Limander. Thisbe ihrerseits, dargestellt vom Bälgeflicker Flute (Flaut), beteuert, sie sei treu wie Helena. Shakespeare wechselt von der Artikulationskomik zur Bedeutungskomik — statt der treuen Hero vergleicht Thisbe sich der Metze Helena. Für die Zuhörer freilich gewinnt der Widersinn einen unerwarteten Sinn: die Flute unbekannte Helena des Sommernachtstraums ist ja wirklich die Treue selber! In der höheren Gesellschaft ähnliche Verwirrung wie beim Volk, und nicht nur im Handlungsgeschehen. Das Motiv der Sinne, bei Shakespeare so bedeutsam, taucht auch hier auf. Hermia sollte mit den Augen ihres Vaters sehen statt mit den eigenen. Helena beklagt, daß die Liebe mit dem Gemüt schaue statt mit den Augen. Für die beiden Mädchen, die im Grund, wie Shakespeares Frauen überhaupt, ihres Gefühls und ihrer selbst weit sicherer sind als die Männer (die Verwirrbarkeit auch des weiblichen Geschlechts leuchtet nur im Gegenbild Titanias durch) — für die beiden Mädchen wendet sich schließlich alles zum Guten. Egeus aber, der unterjochen wollte, muß am Ende selbst unterjocht werden; wortlos, unversöhnt und unverwandelt läßt er es sich gefallen — Shakespeare verschmäht es, ihn in die frohe Harmonie des Schlusses einstimmen zu lassen. Des Egeus Schicksal rührt ans Tragische, die Komödie gleitet leicht darüber hinweg, ohne es aber zu vertuschen. Die dunklen Töne fehlen auch in der Welt der Elfen nicht. „Jetzt fängt mich doch ihr Wahnsinn an zu dauern", sagt Oberon von Titania. Her dotage now I do begin to pity (IV 1). Sein Mitleid aber müßte nicht nur Titania, es kann ebenso gut auch ihm gelten: daß die ihn. Liebende statt seiner einen Eselskopf umarmt, hilflos dem Zauberzwang ausgeliefert, ist für ihn so bitter wie für sie, und seine Enttäuschung macht sich in zornigen Anklagen Luft. Ein leiser Trost bleibt: Titania scheint nicht in ihrem ganzen Wesen affiziert. So wie in der Nacht des Waldes nicht das Auge, sondern das Ohr Hermiäs den Geliebten findet (Dark night, that from the eye his function takes, the ear more quick of apprehension makes IV 2), so scheint auch bei Titania nur das Auge verblendet, das Ohr aber fühlt sich durch Bottoms Reden beleidigt·. „Bindet meines Liebsten Zunge!" (III1). Und schließlich wird nicht nur der böse Zauber von ihr genommen, auch der Streit mit Oberon löst sich auf, die in sich selbst entzweite Natur findet sich wieder — die Erinnerung freilich an die häßliche Verwirrung (this hatefull imperfection IV 1) bleibt. Die Natur ist wankelmütig und unverläßlich wie die Menschen. Puck übt nicht nur mutwillig Schabernack, er täuscht sich auch unfreiwillig. Aber schließlich muß er, der muntere, seelenlose Kobold, doch 166

der höheren Natur, die sidi in Oberon verkörpert, dienen, und er tut es willig und mit Lust. Die Doppelwertigkeit, das Janusgesicht aller Phänomene tritt natürlicherweise in der Komödie noch stärker in Erscheinung als in der Tragödie. Chaos ist nicht nur Gefahr, es ist zugleich Notwendigkeit für das Bestehen des Lebens; es muß Gegengewicht und Korrektur aller Formerstarrung sein. Pucks Verwandlungsscherze und selbst Bottoms fahrige Spielfreude lockern die festen Bindungen, hüpfen fröhlich über die engen Schranken des Bestehenden. Nur aus dem Chaos kann neues Leben entstehen, Proteus ist unentbehrlich. Pucks naturhafte Lust am Durcheinander steht schließlich doch im Dienste neu erstehender Formen, und er freut sich der Entwirrung ebenso sehr wie vorher der Verwirrung. Der Wirbel, das Chaos bringt es zustande, daß, wie Theseus sagt, Feindschaft schließlich in milde Eintracht mündet (gentle concord), daß, fern von Argwohn, Haß beim Hasse schläft (IV 1)... Auch Selbstentfremdung ist nicht notwendig ein Unheil. Es wäre ganz gut, wenn Egeus mit den Augen seiner Tochter zu sehen vermöchte, ihm täte Selbstentfremdung not. Denn Selbstentfremdung kann auch Selbsterfüllung sein, echte Verwandlung — jede Verwandlung ist in gewissem Sinn Selbstentfremdung. Als alles schon von selber sich gefügt hat, ruft Egeus, starr, immer noch nach dem Gesetz: I beg the law, the law... Zur Bewältigung des Chaos, das Theseus weise der Selbstentwirrung überlassen hat, kennt er nur die Zwangsordnung. Sein Ruf muß ungehört verhallen. Heilsam ist Selbstverlust vor allem in der Gestalt des Schlafes. Helena ersehnt ihn: „Entziehe mich mir selbst auf kurze Zeit", steal me awhile jrom mine own company (III 2). Und wirklich kommt dem Menschen nicht nur böse Verzauberung, sondern auch Linderung und Heilung im Schlafe, Oberon und Puck üben ihre dunkeln wie ihre lichten Künste an Schlafenden. Nur Bottom braucht nicht eingeschläfert zu werden, um als Esel zu erscheinen (so wie ihm als einzigem die unsichtbaren Naturgeister zu schauen vergönnt ist: seine Eselsaoigen können das Mysterium ja doch 'nicht fassen). Selbst Willensunterjochung, das üble gewalttätige Erzwingen der Selbstentfremdung, kann einmal ihr Recht bekommen. Oberon erzählt, wie einst die rauhe See ruhig wurde ob dem süßen Singen einer Meermaid, und daß Sterne wild aus ihren Kreisen fuhren, der Maid harmonische Melodie zu hören. Auch Kampf und Streit haben Berechtigung und Notwendigkeit. Der Krieg des Theseus gegen Hippolyta führt zur Liebe, und Hermias kapriziöser Wunsch, Lysander möge sich fern von ihr betten, wiederholt im Spiel die Entfremdung, die beim ändern Paar, bei Helena und Demetrius, wirklich besteht. Spannung ist Voraussetzung der Vereinigung, Voraussetzung der Liebe. So leuchten in der Komödie die Doppelmöglichkeiten auf. Nichts ist verwerflich an sich, alles Übel ist der Verwandlung fähig, ja, das Gute ist nichts anderes als verwandeltes Übel. Derselbe Vorgang erfüllt Oberon zuerst mit 167

Zorn, dann mit Mitleid. Nur aus der starken Wallung, nicht aus dem Nichts kann Pity erstehen. Unversehens, ohne unser Zutun scheint die Verwandlung Ereignis zu werden. Gute Naturgeister fügen die Paare der Liebenden; das Wohlwollen der Zuschauer läßt die mißlungene Vorstellung der Rüpel doch gelingen; ohne Flutes Wissen gewinnt sein groteskes Fehlsprechen, die Ersetzung Heros durch Helena, einen köstlichen Sinn. Und doch ist letztlich nicht der blinde Zufall tätig, sondern die Macht des Geistes. Nicht Puck ordnet die Dinge, sondern Oberon. Die Natur selber wird in ihm und Titania Person — während die Menschenwelt in den Rüpeln die Personalität beinahe verliert — von Oberons und Titanias bewußten Entscheidungen hängt das naturhafte Geschehen im Kosmos wie im Menschen ab, nicht von einer blinden Fortuna. Des Dichters Phantasie „benennt das luftige Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz. So gaukelt die gewaltige Einbildung (imagination): Empfindet sie nur irgendeine Freude, sie ahnet einen Bringer dieser Freude" (VI, Theseus). Daß aus der schaurigen Tragödie der Handwerker eine erheiternde Posse wird, ist auch nicht Zufall, vor Handwerkern gespielt, würde sie es nicht, der Geist des vornehmen und gebildeten Publikums macht sie erst dazu. „An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu." Hamlets Wort wird in gewissem Sinne im Sommernachtstraum vorweggenommen. „Das ist das einfältigste Zeug, das ich jemals hörte", sagt Hippolyta von der Darbietung der Handwerker. Theseus aber, der weiseste Zuschauer, erwidert: „Das Beste dieser Art ist nur Schattenspiel; und das Schlechteste ist nichts Schlechteres, wenn die Einbildungskraft (imagination) nachhilft." Hippolyta: „Das muß denn Eure Einbildungskraft tun und nicht die ihre." Imagination macht die Dichtung erst zur Dichtung, das Leben erst zum Leben. Nicht der Dichter nur muß sie besitzen, sondern auch der, dem Dichtung etwas sagen soll. Imagination hat nicht nur Welt und Leben geschaffen, auch der Lebende muß sie haben, wenn er dem Leben einen Sinn abgewinnen will. Leben, Liebe, Dichtung, das Beste tun wir selbst dazu, und es ist nicht bloß eine schalkhafte Schmeichelei, wenn Shakespeare zuletzt Puck den Zuschauern sagen läßt, sie hätten schlummernd den Traum ihrer eigenen Seele geschaut. Der Geist des Menschen, der so oft die Seele vergewaltigt, ihre Regung unterdrückt, ihre Ahnung mißachtet — so bei Brutus, Hamlet, Othello, Macbeth, Lear — als Imagination schenkt er den Dingen erst ihren Sinn und erfüllt so den höchsten Anspruch der Seele. Die tragischen Helden mißachten die Mahnungen des Gemüts, die freien Träger der Komödie aber erheben sich über die Vormundschaft ihres Körpers, ihrer Sinne, ihres Verstandes. Auch Hamlet spürt, daß er seinen Weg ohne die Augen finden könnte, Edgar, Kent und Cornwalls Diener im Lear handeln herrlich gegen Natur, Gewohnheit, unmittelbaren Vorteil — aber erst in der Komödie ersteht ein freies Spiel des Geistes, das über den Ansprüchen des Körpers und der Sitte steht. In der Komödie weist uns der Geist seine 168

andere Seite. Statt die Seek zu unterjochen, überwindet er den Körper. „Lebe noch ein wenig" — nur Imagination gibt Orlando und Adam die Kraft, Müdigkeit und Hunger gering zu achten. Und selbst FalstafT, der seinen Geist in den Dienst seines Leibes stellt, wird dadurch liebenswürdig, daß er zugleich, aus dem Überschuß seines Geistes heraus, .diese seine Leiblichkeit ironisch belächelt. Hippolyta, weich, seelenvoll, aber geistig enger als Theseus, möchte die Handwerker lieber nicht spielen sehen. Ich mag nicht gern Armseligkeit bedrückt, Ergebenheit im Dienst erliegen sehn. Doch Theseus weiß, daß das nicht von der Aufführung, sondern von der Einstellung der Zuschauer abhängt: Du sollst ja, Teure, nichts dergleichen sehn. Unsere Güte wird ihnen für nichts danken: Nachsehn was sie versehn sei unsre Freude! So verklärt der Geist des Menschen, wenn er der Gnade teilhaft ist, das Sein. Er ist es, der das Leben als heitere Komödie zu sehen vermag. Das Beste in der Liebe, im Leben, im großen Welttheater überhaupt stammt aus ihm. Imagination — Shakespeares Komödie entfaltet sie, sie erahnt den Sinn auch des wirren Geschehens und tut ihn dar, sie ist als Dichtung das, was Lear im Leben sein möchte: Theodizee. But all the story of the night told over, And all their minds transfigured so together, More witnesseth than fancy's images, And grows to something of great constancy, But howsoever, strange and admirable. Doch diese ganze Nachtbegebenheit Und ihrer Aller Sinn, zugleich verwandelt, Bezeugen mehr als Spiel der Einbildung. Es wird daraus ein Ganzes voll Bestand, Doch seltsam immer noch und wundervoll. (V l, Hippolyta) Die dunkeln, traurigen Töne fehlen nicht in Shakespeares Komödie, und Bitterkeit ist nicht immer fern. Die Liebenden werden sich selber fremd und dem ändern untreu, die schauspielernden Handwerker taumeln hilflos von nacktem Realismus zu plumpem Glauben an Illusion (der Mond soll zu ihrem Stücke entweder selber scheinen oder durch einen Mann mit Laterne 169

dargestellt werden) — daß schließlich alles gut wird, ist doch mehr als dummer Zufall und blindes Glück. So wie der Geist den Körper überwindet, so wie die Einstellung der Zuschauer das Ungeschick der Darsteller auffängt und ihm einen frohen Sinn gibt, so überwinden die guten Geister des Kosmos das üble Schicksal. Das eben ist der Triumph der Komödie: Geist, Imagination, kosmische Gnade, und das alles heißt: Freiheit, erweisen sich als stärker denn starres Sosein, Materie, dumpfes Schicksal. Nicht Gewalt und Zufall triumphieren, sondern die Fähigkeit des Geistes, die Dinge so zu sehen und so zu nehmen, oder zu wenden, wie es ihm entspricht. Das freie Spiel des Dichters mit Gestalten, Vorgängen und nicht zuletzt mit der Sprache, das im Sommernachtstraum wundersam erglänzt und sich entfaltet, ist wie eine Bürgschaft für die Realität solcher Freiheit.

WAS IHR WOLLT Nothing that is so, is so. Nichts ist so, wie es ist. In Was ihr wollt, einige Jahre später entstanden, fehlen die Elfen des Sommernachtstraums. Nur die menschliche Welt erscheint auf der Bühne. Unsichtbar aber sind die Natur- und Schicksalsgeister, nun nicht nur den Augen der Mitspielenden, sondern auch denen der Zuschauer entzogen, nicht minder eifrig am Werk. Die Frage, wie weit der Mensch ein Spielzeug in ihren Händen, wie weit er eigenen Rechtes, stellt sich von neuem. Was ihr wollt ist, wie der Sommernachtstraum, ein Spiel der Irrungen, Verkleidungen, Verwechslungen. Orsinos, des Herzogs von Illyrien, Liebe gilt einer Frau, die ihm nicht bestimmt ist. Sie ihrerseits verliert sich an einen Jüngling, der in Wirklichkeit ein verkleidetes Mädchen ist und also ihre Gefühle nicht erwidern kann. Das Mädchen im Pagenkleid aber, und damit schließt sich der Kreis, liebt aus tiefem Herzen Orsino, der doch ganz jener ändern verfallen. Die Erlösung und Beglückung der in ihrer Liebe Verirrten scheint durchaus von außen zu kommen. Mutter Natur hat den verschollenen Bruder der verkleideten Viola zu deren reinem Ebenbild geformt und Fortuna bringt ihn, den Totgeglaubten, im günstigen Moment zur Stelle. Nun darf Olivia ihn statt seiner Schwester nehmen, und Orsino, der die so lange Angeschwärmte unwiderruflich verloren geben muß, kann endlich sich zu Viola wenden: die ihn schon in ihrer Jünglingstracht seltsam angezogen hatte und die, nun wieder Mädchen geworden, sich als seine eigentliche Partnerin offenbart. Ein gutgelauntes Schicksal also führt alles zum glücklichen Ende. Und doch liegen die Voraussetzungen des Gelingens in den Menschen selber; in der Freiheit und Selbstgewißheit ihres Fühlens und Handelns, wie es namentlich bei den Frauen, bei Viola und Olivia, in Erscheinung tritt. Des Herzogs Orsino sehnsüchtige Liebe glaubt in Olivia ihr Ziel zu finden, sie aber, hier ihres Gefühls ganz sicher, weiß, daß sie sich ihm versagen muß. Sie kann ihn nur achten, nicht lieben, entschlossen weist sie ihn ab. Und doch ist auch sie, ganz ebenso wie der musiktrunkene Herzog, high fantastical, versponnen in das Gespinst ihres eigenen Geistes, und muß erst durch andere daraus befreit und zu sich selber gebracht werden. Ihre Trauer um den toten Bruder ist närrisch übersteigert. „Ihn zärtlich liebend schwor sie, so sagt man, Anblick und Gesellschaft der Männer ab" (I 2). „Der Himmel selbst (the element), bis sieben Jahr verglüht, soll ihr Gesicht nicht ohne Hülle schaun. Sie will wie eine Nonn im Schleier gehen und einmals tags ihr Zimmer rings benetzen mit augensdimerzendem gesalzenem Naß ..." (I 1). Solches Gebahren hat nicht, wie die Verzweiflung Hamlets nach dem 171

Tode des Vaters, realen Grund, sondern ist durch Geisteslaune weit über jedes Maß hinausgetrieben. Aber es hat dennoch seinen geheimen Sinn und kommt aus sicherem Gefühl. Nicht nur erlaubt es Olivia, die Werbungen des Herzogs abzuweisen, ohne ihn zu beleidigen, es macht sie überhaupt zu einer Einsamen, Unerreichbaren: und dadurch Begehrenswerten. Ihr Herz, wenn es auch für Orsino nichts empfindet, sehnt sich doch nach Liebe; der Herzog selber, der von den meisten Kommentatoren allzu abfällig beurteilt wird, spürt es. O sie mit diesem zartgeformten Herzen, Die schon dem Bruder so viel Liebe zahlt, Wie wird sie lieben, wenn der goldne Pfeil Die ganze Schar von Neigungen erlegt, So in ihr leben ... Olivia entzieht sich sogar den Augen des Publikums eine gute Weile. Dieses sieht zuerst den Herzog in seinem Palast, dann die eben dem Meer entronnene Viola an der Küste; in der dritten Szene erst dringt der Blick in Olivias Haus; aber immer noch bekommt man sie nicht zu Gesicht, es ist nur eine Vorhalle, in der sich ihre Sippschaft, ihr Gesinde tummelt; der Schauplatz wechselt noch einmal ins Herzogsschloß. Dann öffnet sich zum zweitenmal das Haus Olivias, man sieht und hört ihren Troß, und endlich erscheint sie selbst. Durch des Herzogs Sehnsucht, durch das Bild, das sein Bote von ihr entwarf, durch alles andere, was über sie gesprochen ward, ist sie zum Mythus geworden, ehe sie vor unser Auge tritt. Uns und auch den Personen des Spiels. Olivias schlaues Gefühl (Viola spricht einmal von der „Schlauheit ihrer Neigung", the cunning of her passion II 2) macht sie, ihr selber unbewußt, zur Sichversagenden und eben dadurch begehrenswert. Daß zuerst der Falsche sich angezogen fühlt, ist nicht ihre Schuld. Wer sich isoliert, wird frei für jede Beziehung; sobald die rechte sich einstellt, tritt Olivia aus der selbstgeschaffenen Einsamkeit heraus. Die phantastische Verabsolutierung der Isolation beginnt sie schon im Gespräch mit ihrem Hausnarren aufzugeben. Dieser ist äußerlich die leibhaftige Verbildlichung und das heißt der Spiegel ihrer Narrheit (so wie auch im Timon jeder Reiche seinen Narren hat); aber sein Sinn ist weise. Seines Amtes ist es, sie von ihrer Narrheit zu heilen. „Schafft mir das Narrengesicht weg", sagt Olivia, als sie den Narren erblickt, take the fool away. Es ist ihr erstes Wort im Stück. Die Antwort des Narren: „Hört ihr nicht, Leute? Schafft das Fräulein weg!" Das ist nicht, wie Olivia meint, plumpe Frechheit; der Narr erfaßt den ihr selber unbewußten, aber in ihren Worten sich äußernden Wunsch, ihre närrische Maske, die Nonnenmaske, fallen zu lassen. „Gute Madonna, erlaubt mir, Eure Narrheit zu beweisen", give me leave to prove you a fool. Und nun legt er, taktvoll, nicht etwa den Kern von Olivias Verhalten bloß,

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sondern richtet, die Narrenmaske des Syllogisten benutzend, seine Kritik gegen ihre Oberflächenbegründung. Du trauerst um den Bruder, den du doch im Himmel glaubst; also trauerst du darüber, daß dein Bruder im Himmel ist: also bist du eine Närrin. Olivias Reaktion: „Was denkt Ihr von diesem Narren, Malvolio? Wird er nicht besser?" Does he not mend? (I 5). Sie spendet Beifall, statt zurückzuschlagen. Des Narren Schlußkette ist logische Narretei, aber Olivia läßt sie sich gefallen: die Heilung ist eingeleitet. In der anschließenden Begegnung mit Viola wird Olivia den Schleier, den ihre Laune ihr übergeworfen, vollends fallen lassen. „Mir ist am wohlsten, wenn am wenigsten Gesellschaft um mich ist", sagt der in seine Liebe versunkene Herzog (14): auch er ein Isolierter, der die Beziehung sucht. Und Viola taucht aus dem Meere auf, aus Todesnot gerettet, eine Fremde in fremdem Land. Daß auch sie eine sehnsuchtsvoll gesellige Natur, erweist sich in ihren bangen Fragen nach dem Bruder, in ihrem Interesse für den Herzog des Landes („damals war er unvermählt") und für Olivia, und in der Freundschaft, die sie mit dem Kapitän verbindet. Aber wie Olivia versteckt sie sich, nur auf andere Weise. Sie verkleidet sich, wird zum Jüngling — und damit als Frau weit entschiedener unerreichbar als jene. Was ihr wollt ist, wie die Komödien des Barocks überhaupt, erfüllt von Maskeraden und Verkleidungen. Olivia, im Grunde zur Liebe bereit, maskiert sich als Nonne. Im Kleide ihres Narren steckt ein Weiser (cucttllus non facit monachum. „Besser ein weiser Tor als ein törichter Weiser." I 5). Und Viola legt das Jünglingskleid an; es ist, als ob sie spürte, Olivia ist maskiert, und nun unvermittelt, fast zwanghaft das Erfaßte in einer äußeren Gebärde verbildlichen müßte. Sie gleicht darin, in einer milden weiblichen Weise, Lear und Timon, die sich die Kleider vom Leibe reißen. Sie gleicht aber auch Hamlet. So wie er nach der Offenbarung des Geistes reaktionsartig sich zum Wahnsinnsspiel entschließt, das den wahnwitzigen Mördern ein Spiegel sein wird, so kommt ihr im selben Augenblick, da sie von Olivias Haltung hört, der Gedanke, sich zu verkleiden — auch sie wird als ein Spiegel vor Olivia treten. Und wie Hamlet tut sie ihren sonderbaren Entschluß, so sicher ist sie seiner, sogleich ihrem Vertrauten kund, ohne ihn ihm oder auch nur sich selber verständlich zu machen. In der wundervollen fünften Szene des ersten Aktes begegnen sich die beiden Maskierten. Violas Verkleidung ist nicht mehr nur Imitation, sie ist jetzt zugleich Ausdruck ihrer eigenen Situation. Sie muß werben und hofft doch Absage, denn sie selber liebt den Herzog — und muß gerade deshalb doch auch Zusage wünschen, denn ihre reine Liebe will des Herzogs Glück. Während Viola ihre eigene Maske bis zum Schluß behält, fordert sie von Olivien Demaskierung: „Liebes Fräulein, laßt mich Euer Gesicht sehen." Willig entschleiert sich Olivia, dann nennt sie ohne Umschweif den wahren Grund, warum sie 173

den Herzog abweisen muß; indes Viola auch noch mit Worten sich verkleidet und bukolisch ausmalt, wie sie, wenn sie der Herzog wäre, Olivia lieben wollte, geht diese, die nun von der echten Liebe sich ergriffen fühlt, immer stärker aus sich heraus, in rührender Reinheit des Begehrens. Fast gesteht sie der als Cesario vor ihr stehenden Viola ihre Liebe, diese aber wendet sich mit bitterem Vorwurf von ihr: Die Liebe härte dessen Herz zu Stein, Den Ihr einst liebt, und der Verachtung nur Sei Eure Glut, wie meines Herrn, geweiht! Gehabt Euch wohl denn, schöne Grausamkeit. Viola merkt nicht, daß die Rollen schon vertauscht sind, daß das Wort fair cruelty jetzt auf sie selber zutrifft und daß ihr Fluch im gleichen Augenblicke, da sie ihn ausspricht, schon erfüllt ist: „Cesario" kann Olivia nicht lieben. Diese aber demütigt sich so weit, daß sie ihm einen Ring nachschickt, den er nicht verloren hat und an dem er ihr Begehren erkennen muß. So löst Violas Verkleidung die ganze Entwicklung eigentlich erst aus. In der Durchführung ihres Auftrages ist sie dem Herzog, den sie doch selber liebt, ein höchst loyaler Werber; aber ohne es zu wissen und zu wollen — oder gilt am Ende ihr Wort von der Schlauheit des unbewußten Wollens auch für sie? — zieht sie die Neigung Olivias auf sich und entzieht sie so dem Herzog erst recht. Indem nun Olivia einem für sie noch unmöglicheren Partner, als es schon der Herzog war, nachjagt, werden Schwierigkeiten und Verwirrung zunächst nur gesteigert, ähnlich wie im Sommernachtstraum Pucks Liebeszauber, am falschen Orte wirkend, zuerst die Situation nur ärger verwirrte. Jedoch, wie dort durch einen zweiten Eingriff die Dinge zum Guten gewandt wurden, so hier durch das Auftreten Sebastians, der nun für seine Schwester eintritt, die für sie erblühte Liebe erntet und zugleich, den Herzog von Olivia trennend, ihm Viola zuführt. Die Entwicklung ist nicht so sehr durch willkürlichen Schabernack bestimmt wie im Sommernachtstraum, sie hat ihren inneren Sinn. Es ist, wie wenn die spröde Olivia erst durch den zarten Cesario für den männlicheren Sebastian gewonnen werden müßte, es ist, wie wenn sie ihre Neigung zunächst leichter dem mädchenhaften Jüngling schenken könnte und so erst den Weg zum wahren Manne fände. Viola warnt sie scherzhaft: „Ich bin nicht, was ich bin" (III 1) und meint: Ich scheine ein Jüngling und bin doch ein Mädchen. Aber das Wort gilt auch umgekehrt: Sie ist zwar ein Mädchen, aber jetzt weit über das beabsichtigte Maß hinaus Jüngling geworden: nicht nur verkleidet, sondern wirklich Platzhalter des Mannes, auf Sebastian hindeutend und ihn vertretend. „Denn ihn nur ahm ich nach", sagt sie selber. For him r imitate (III 4). / am not what I am. Viola ist ein Mädchen, scheint ein Junge, als solcher 174

aber gleicht sie wieder einem Mädchen (and all is semblative a womans part, sagt der Herzog I 4) — wenn man noch hinzunimmt, daß sie, wie in der Shakespearezeit alle Frauenrollen, von einem Jungen dargestellt wurde, so wird offenbar, in welch hoher Potenz das Spiel mit Schein und Sein hier gespielt wird. Das Barock liebt vielschichtige und vieldeutige Beziehungen und Zeichen über alles. Den religiösen Sinn des Masken- und Verkleidungsmotivs spricht in unserem Stück Sebastian recht deutlich aus: Der Mensch ist seinem Wesen nach ein Verkleideter; ein Geist, dem der Leib nur plumpe Verkleidung ist. A spirit l am indeed; but am in that dimension grossly clad which from the womb I did participate (V 1). Es ist grundsätzlich dieselbe Auffassung, die sich anderwärts — auch bei Shakespeare mehr als einmal — des Bildes vom Welttheater bedient: der Mensch als Schauspieler, der auf Erden eine ihm zugewiesene Rolle zu spielen hat. Doch erleuchtet diese religiöse Begründung nur die eine Seite der barocken Verliebtheit in das Motiv der Maske und der Verkleidung. Eine andere wird ebenfalls von Sebastian angedeutet. Als er die ihm gestaltgleiche Viola erblickt, fragt er: Steh ich auch dort? Nie hatt' ich einen Bruder, Noch trag ich solche Göttlichkeit in mir, Daß von mir gölte: hier und überall. Nor can there be that deity in my nature, of here and everywhere. In gewissem Sinne doch. Der Mensch ist nicht nur, was er ist. Viele Möglichkeiten sind in ihm angelegt, und die göttliche Fähigkeit, alles zu sein, ist keimhaft auch im Menschen da. Das gerade ist ja eine der Wurzeln allen Schauspielertums, die Lust, sich in tausend Formen zu ergehen, die Selbstentfaltung, die in der Wirklichkeit nur angestrebt werden kann, im Spiel frei zu genießen. Plotinische Gedankengänge, im Verlaufe des Mittelalters und der Renaissance durch mannigfache Kanäle sich ausbreitend, äußern sich in Sebastians Wort. Die Götter können gleichzeitig an vielen Orten erscheinen, der Mensch aber ist in gewissem Grade ihr Abbild. Er ist, wiewohl auf tieferer Stufe, dem Einen wesensgleich, und die Erscheinung des Doppelgängers ist andeutende Verbildlichung des Hier und überall, das grundsätzlich auch für den Menschen gilt. / am not what I am. In der Verkleidung durchbricht der Mensch jubelnd die Schranken seines Soseins, tritt froh aus der Enge der starr bestimmten Gestalt heraus. Aber es liegt zugleich Trauer in diesem Tun. Der Mummenschanz, die äußere Zweideutigkeit ist ein Bild der inneren Zweideutigkeit. Der Mensch weiß nicht, wer er ist, kennt unter seinen vielen Möglichkeiten die eigentliche, die zentrale nicht genau. Als Proteus zerflattert er in tausend Formen. Zwanghaft greift er nach der Maske. Viola und Olivia verbergen ihr wahres Gefühl, Viola vor den ändern, Olivia zum Teil auch vor sich selber. Wie um anzudeuten: Ich bin nicht, was ich bin, werfen sie sich auch 175

äußerlich in eine Maske — Olivia, die den Werber des Herzogs verschleiert empfängt, zeigt ihm im Bilde: Ich bin maskiert, mein eigentliches Wesen ist verhüllt. — Daß es vor allem Frauen sind, die sich als Männer zu kleiden lieben — FalstafF erscheint einmal als Frau verkleidet: groteskes Bild dies Selbstverlusts! - mag seinen Grund darin haben, daß sie, von Natur enger, aber auch sicherer als der Mann, dankbar nach der äußeren Form greifen, die sie über sich selbst hinausführt, ohne daß ihnen die dem Manne nähere Gefahr droht, sich selber zu verlieren. Die Frau ist, der Herzog und Viola sprechen davon, dem Selbstverlust in anderer Art unterworfen: Sie verblüht und ist dem Wankelmut, der Untreue des Mannes ausgesetzt. Denn, Knabe, wie wir uns auch preisen mögen, Sind unsre Neigungen doch wankelmütiger, Unsichrer, schwanken leichter her und hin Als die der Frauen ... Denn Frauen sind wie Rosen: kaum entfaltet, Ist ihre Blüte schon veraltet. Nothing that is so, is so, dies ist das Grundmotiv des Stücks. Der Narr, hier einmal nicht Weiser, sondern wirklich Narr, spricht es im Hohn aus, als ob es unmöglich wäre, daß Cesario nicht Cesario sei (IV 1). In Wirklichkeit, und damit demonstriert der Narr unfreiwillig die Richtigkeit seines Hohnwortes, ist der, den er für Cesario hält, Sebastian, und Cesario seinerseits ist ja auch nicht Cesario, sondern Viola. Nichts ist so, wie es ist. Dieser Satz erhebt Violas „Ich bin nicht, was ich bin" zur allgemeinen Gültigkeit. Und weil das zugleich eine herrliche und eine bittere Wahrheit ist, ist Shakespeares Komödie, in der sie in leichtem und übermütigem Spiel aufleuchtet, fröhlich und wehmütig in einem. Ein schlimmes Maskenspiel wird mit Malvolio, Olivias Haushofmeister, getrieben. Er ist, darin dem Egeus des Sommernachtstraums ähnlich, der einzige, der am Ende verbittert abgeht, unversöhnt, ungeheilt, unverwandelt. Das ausgelassene Hausgesindel Olivias mag ihn nicht leiden, weil er es in Zucht halten will, selber puritanische Sitten zur Schau trägt und eine hohe Meinung von sich hat. Unter Führung der munteren Kammermaid Maria spielen ihm die Schmarotzer einen lustigen und bitteren Streich. Sie machen ihn zum Narren seiner selbst. Ohne daß er es merkt, muß er eine Rolle spielen, die sie ihm geschrieben haben und die ihn vernichtet. Nacheinander schieben sie ihn, und er läßt sich, ahnungslos, wie eine Marionette von ihnen bewegen, in die Rolle des Liebhabers und des Verrückten. Auch Malvolio verkleidet sich — aber nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf den Wink der ändern. Während der betrunkene Kesselflicker in Der Widerspenstigen Zähmung im Schlaf umgekleidet wird, bringen die Schalksgesellen in Olivias Hause es fertig, daß der von seiner Herrin geschätzte Haushofmeister sich 176

freiwillig in ein närrisches Kleid wirft, das ihn lächerlich macht, und zudem binden sie ihm die Maske der Tollheit auf — er führt sich, Von den unsichtbaren Fäden seiner Widersacher gelenkt, so auf, daß Olivia ihn für wahnsinnig halten muß. Und doch — wiederum erscheint die Mehrdeutigkeit der Phänomene — ist Malvolios Maskierung weitgehend Demaskierung, wie die Ausstattung Bottoms mit dem Eselskopf. Denn alle Anweisungen, die Maria dem armen Malvolio in die Hände spielt, laufen auf eine Steigerung der Angewohnheiten hinaus, die er ohnehin schon hat. „Wirf deine demütige Hülle ab, sei widerwärtig gegen einen Verwandten, mürrisch mit den Bedienten; laß Staatsgespräche von deinen Lippen schallen; lege dich auf ein Sonderlingsbetragen..." (III 4). Maria spielt Schicksal. Aber nur weil der Mensch dem Schicksal Handhaben bietet, kann es ihn anfassen. Und der Hauptspaß für die boshaften Zuschauer in diesem Theater im Theater liegt eben darin, daß der verblendete Malvolio solche Handhaben mit ahnungslosem Eifer darbietet. Freudig drängt er sich zu seinem Verderben — etwas mehr Selbstkritik, etwas weniger Eitelkeit hätte ihn davor bewahrt. So spiegelt sich, noch bevor das große Spiel sich entscheidet, in der kleinen Tragikomödie Malvolios, die ins Zentrum des Stückes gestellt ist, das Verhältnis von menschlichem Schicksal und menschlicher Freiheit. Es wird Malvolio übel mitgespielt, aber es lag in seiner Freiheit, nicht auf dieses Spiel einzugehen. In ähnlich virtuosem Spiel wirft Olivias versoffener Onkel, Sir Toby Belch (Tobias Rülp), eine Falstaffnatur, seinem trotteligen Freunde Andrew Aguecheek (Christoph von Bleichenwang) und Viola Masken über, indem er jeden in den Augen des ändern zu einem martialischen Raufbold macht. Er läßt beide, ohne daß sie selber darum wissen, in der Maske der Tapferkeit und Grausamkeit einander entgegentreten. Und hier ist es nun Fortuna allein, die Viola aus der Klemme hilft: Sie läßt das einemal den mit Sebastian befreundeten Kapitän dazwischentreten, das anderemal geraten Aguecheek und Belch an Sebastian statt an Viola. Das Stück wimmelt von Masken und Verkleidungen. Der Narr tritt im Mantel eines Pfarrers zu dem als toll eingesperrten Malvolio, nicht ohne anzumerken, daß der Priestermantel leider oft nur Maske sei. Den tollbehandelten Malvolio, der ihm beteuert, er sei „so gut bei Verstande als irgendeiner in Illyrien", fragt er schließlich: „Seid Ihr wirklich nicht toll, oder tut Ihr nur so?" (IV 2). Als ob ein Toller sich die Maske der Verständigkeit vorbinden könnte. Sebastian und Viola tragen, ohne es zu wissen, je die Maske des ändern. Das gibt Anlaß zu den seltsamsten Verwechslungen, und so wird die Liebeskomödie am Schluß zu einer Verwechslungskomödie. Aber wiederum ist das nur eine Verbildlichung: Auch die Liebeskomödie war schon eine Komödie der Irrungen. Orsino und Olivia lieben beide in falscher Richtung, Malvolio wird künstlich dazu gebracht, in falscher 177

Richtung zu lieben. Sir Toby Belchs Neigung für die kleine, zierliche Maria hat auch etwas Groteskes; von Aguecheeks unangemessener Werbung nicht zu sprechen. So sind denn die am Schluß alles andere überblendenden äußeren Verwechslungen Spiegelung der inneren. Schon ganz zu Anfang deutet Viola, ohne eigentlichen Anlaß, die Neigung des Menschen zur Maskierung an. Du hast ein fein Betragen an dir, Kapitän. Und wenngleich die Natur mit prächtger Decke Oft Schmutz verhüllt, bin ich dir doch Zu traun geneigt, du habest ein Gemüt, Das wohl zu diesem feinen Anschein paßt. Spater variiert der mit Sebastian befreundete Kapitän, der sich von seinem Freunde verraten glaubt, das Motiv. Sebastian, du entehrtest edle Züge. Gesinnung einzig schändet die Natur, Und häßlich heißt mit Recht der Böse nur. Tugend ist Schönheit: doch der Reizend-Arge Gleicht einem glänzend übertünchten Sarge. In nature there's no blemish but the mind; None can be call'd deform'd but the unkind: Virtue is beauty, but the beauteous evil Are empty trunks o'erflourish'd by the devil (III 4 bzw. 5). So lebt das Thema Maske auch in der Wortsphäre. Sir Andrew Aguecheek sagt einmal, er liebe Maskeraden. Tobias Belch höhnt ihn, er hänge einen Vorhang vor seine Gaben (die er in Wirklichkeit gar nicht besitzt I 3). Viola wird sich der Gefährlichkeit ihrer Verkleidung bewußt. Verkleidung! Du bist eine Schalkheit, seh ich, Worin der listge Feind gar mächtig ist. Daß aber auch in der Maskenlosigkeit Gefahr liegt, im völligen Sichgehenlassen, im Verzicht auf Selbstformung, wird an Sir Toby, dem Saufbold, offenbar, der von sich bekennt, er wolle nichts anderes aus sich machen als er sei: /'// confine myself no finer than I am. Neben der Überformung, der Verbiegung der Natur durch den Geist, wie sie in Olivias Nonnen-Gebaren erscheint, tritt hier die polare Unechtheitsform zutage, das Fehlen der geistigen Gestaltung, das bloße Wuchernlassen der Natur. Maskenlos scheint auch der Herzog. Offenherzig bekennt er seine Liebe, vertraut Cesario-Viola seine innigsten Gefühle an und bekennt die Schwächen des männlichen Geschlechts. Aber er kennt sich selber nicht, er trägt vor sich selber eine Maske, 178

er meint Olivien zu lieben und liebt doch nur die unerreichbar Ferne, weshalb er sich denn auch sogleich zu Viola wenden kann, die ihm in ihrer Verkleidung als Cesario die Nächste urd zugleich die Fernste war, vertraut und unerreichbar, befreundet und geheimnisvoll. „Ihr versteht mich falsch", sagt Belch einmal zum tölpelhaften Aguecheek. You mistake (I 3). Dies ist Grundmotiv. Der Herzog und Olivia verstehen sich selber falsch und müssen erst geheilt werden, Malvolio versteht sich und die ändern falsch und wird nicht geheilt, nur verhöhnt. Einzig die Geschwister, beide mißtrauisch gegen sich selber, verstehen sich nicht falsch. Sebastian zwar glaubt sich von dunklem Schicksal verfolgt, während Fortuna gerade Gutes mit ihm im Sinn hat — die Rettung beider Geschwister aus Sturmesnot ist ein Bild, fast eine Bürgschaft ihrer Rettung aus Schicksalsstürmen überhaupt. Aber als er sich dann von Olivia geliebt sieht, da läßt er Schwermut und Skepsis fahren und vertraut, er will sein Glück umarmen, gleichgültig, ob es Wirklichkeit oder Traum. Ich bin im Wahnsinn, oder 's ist ein Traum: Tauch meinen Sinn in Lethe, Phantasie; Soll so ich träumen, gern erwach ich nie (IV 1). Er macht sich nichts vor, nicht Olivia hält er für toll, sondern sich — aber er bejaht seinen Wahnsinn, aus freiem Willen entscheidet er sich, den Traum als Wirklichkeit zu nehmen. Viola ist ebenso frei wie ihr Bruder und die Klarsichtigste von allen. Sie verkleidet sich vor den ändern, nicht vor sich. „Sie sagte ihre Liebe nie", sagt sie, als wie von einer ändern sprechend, zum Herzog, der seine Liebe immerzu sagt (II 4). Sie schweigt freiwillig, sie verkleidet sich freiwillig, und sie bricht das Schweigen und gibt die Verkleidung auf, sowie es ihr gut scheint. Ihre Phantasie, imagination, darf sich zu der höchsten Hoffnung aufschwingen, nüchterne Prüfung und Selbstkritik behalten gleichzeitig ihr Recht. Er glaubt sich selbst; ich glaube mir noch nicht (III 4 bzw. 5). Viola weiß um die Gewalt der Selbsttäuschung und auch um die Verlogenheit der Welt, sie wagt es trotzdem, an den anderen zu glauben. Während Timon sich durch üble Erfahrung verbittern läßt und endgültig den Stab über die Menschen bricht, vermag Viola bei vollem Bewußtsein des Wagnisses, das sie eingeht, an den ändern zu glauben (vgl. oben S. 178). Shakespeares Komödien sind heimliche Mysterien. Ein ganzes Weltbild leuchtet in ihnen auf. Der Mensch erscheint, ähnlich wie in den Volksmärchen, in seiner Isolation und universalen Beziehungsfähigkeit. Die äußeren Masken sind die sichtbaren Zeichen der inneren Maskierung und Vieldeutigkeit, äußere Irrungen die sichtbare Entsprechung inneren Irrens. Zugleich gibt uns Shakespeares Komödie auf ihrem Höhepunkt wirkliche Menschen, die doch zugleich die leicht beweglichen Figuren der Phantasie bleiben. Die Ge179

stalten von Was Ihr wollt haben mehr Körper und Atmosphäre, mehr individuelles Leben als jene des Sommernachtstraums. Olivia und Viola besitzen weit mehr Wirklichkeit als Helena und Hermia. Aber sie fügen sich mit derselben Leichtigkeit in das Spiel des Ganzen. Wundersam zart und fein abgetönt ist das Verhältnis der beiden Mädchen zu sich selber und zueinander. Und wie im Sommernachtstraum die handfeste Gesellschaft der Rüpel den Kontrast zur Elfenwelt bildet, so treibt hier in Olivias eigenem Haus die derbe Kumpanei um Sir Toby Belch und Maria ihr Unwesen. Die Vorgänge der Oberwelt erscheinen hier gleichsam auf dem Meeresgrunde — Olivia sagt einmal von ihrem Onkel, er sei nicht bloß betrunken, sondern ertrunken (I 5) —, wie in einem Zerrspiegel grotesk verbogen und verbeult. Aber nicht nur in diesen farcenhaften Partien, sondern als Ganzes ist Shakespeares Komödie natürlich nicht nur Mysterium, sondern zugleich köstliche Unterhaltung, die der Zuschauer unbeschwert genießt. Er, der Zuschauer, ist der Überlegene, wie ein Gott schaut er den tollen Wirrungen zu und belacht sie aus sicherer Entfernung. Nicht umsonst verschaffen sich Shakespeares Komödienfiguren selber so oft das Vergnügen des Zuschauens, indem sie sich verstecken und einen ändern für sich Komödie spielen lassen, die sie oft selber inszeniert haben — so wie Shakespeare am Ende des Sommernachtstraums seinem Publikum rät, das Spiel als einen Traum zu nehmen, den es selber geträumt. Der Wirbel des Geschehens, aber auch die hurtigen Wechselreden, wo jedes Wort flink auf das andere Bezug nimmt, wo die Partner fein und behutsam oder schlau und frech aufeinander eingehen und dem Gesagten ein neues Gesicht geben, ermuntern den Geist und erheitern die Seele des Zuschauers, der an den hellen und raschen Wendungen im Spiele teilnimmt und so geistig angeregt und doch zugleich in seiner eigenen glücklichen Ruhe befestigt wird. Shakespeare zeigt auch in diesem Spiele Fortuna bei günstiger Laune. Sie hilft die Fäden entwirren, aber sie entwirrt sie nicht allein. Wenn August Wilhelm Schlegel einmal sagt: „Die Stimmung zum Scherz ist ein Vergessen aller jener trüben Betrachtungen über der behaglichen Empfindung gegenwärtigen Wohlseins", so gilt dies nicht für Shakespeare. Dieser läßt uns gerade nicht vergessen, daß das Schicksal auch anders kann: Malvolio wird mißhandelt. Aber eben diese Episode zeigt ein feines Zusammenspiel von Schicksal und Freiheit. Und ebenso das Ganze. So wie Malvolio schließlich nur deshalb zum Narren wird, weil er sich selber dazu macht, so läßt sich Sebastian nur deshalb so willig zum Traualtar schleppen, weil er freudig ja sagt zu dieser Schicksalsfügung. Und er gibt Olivia zu verstehen, daß auch ihr Irren sinnvoll war. So kam es, Fräulein, daß Ihr Euch geirrt; Doch die Natur folgt' ihrem Zug hierin. 180

Ihr wolltet einer Jungfrau Euch verbinden Und seid darin, beim Himmel! nicht betrogen: Jungfräulich ist der Euch vermählte Mann. So comes it, lady, you have been mistook: But nature to her bias drew in that. You would have been contracted to a maid; Nor are you therein, by my life, deceived, You are betroth'd both to a maid and man (V 1). Nicht ein blindes Schicksal, sondern Natur, in uns selber wirkend, lenkt uns, und wenn wir ihr nur folgen, ihre Stimme nicht verdrängen und verleugnen, wie es Brutus, Hamlet, Othello, Macbeth tun, dann wird auch Fortuna uns unversehens mit Freundlichkeit begegnen. Fate, show thy force, sagt Olivia, nachdem sie, frei ihrer Neigung gehorchend, Cesario/Viola das Liebeszeichen geschickt hat. Nun walte, Schicksal! Niemand ist sein eigen. Was sein soll, muß geschehn: Mag sich's ereignen! Fate, show thy force: ourselves we do not owe; What is decreed must be, and be this so! (I 5). Es besteht eine geheime Anziehungskraft zwischen Neigung und äußerem Geschick, zwischen Nature und Fortune, der kosmische Geist kommt dem menschlichen, wenn dieser nur seinen eigentlichen Weg findet, entgegen: prästabilierte Harmonie. Der Mensch ist nicht, wie der alte Gloster es meint, ein völlig Preisgegebener. Die Natur- und Schicksalsgeister, im Sommernachtstraum von den Elfen verkörpert, sind in ihren höchsten und herrschenden Formen dem Menschen freundlich, und die üblen Mächte können ihm nur etwas anhaben, wenn er ihnen selber entgegenkommt. Die Hexen haben nur über Macbeth, nicht über Banquo Macht. So wie Shakespeare das wahre menschliche Sein als eine Einheit von Natur und Geist sieht, in Was ihr wollt in der herrlichen Viola verkörpert, die gleich weit von der anfänglichen Geistestyrannei Olivias und der formlos wuchernden Natur Sir Toby Belchs entfernt ist, so sieht er auch im großen einen Zusammenklang von Schicksal und Freiheit, der sich in seinen besten Komödien wie von selber herstellt. Daß auch in ihnen noch Trauer ist, rührt nicht aus dem Bangen vor einem unsinnig launischen Schicksal, sondern stammt aus dem Wissen um die Gebrechlichkeit des Menschen, der ständig in Gefahr ist, sich selber zu verlieren. Der Gram des Herzogs, Violas, Sebastians und so vieler anderer Lustspielgestalten, als grief, sorrow, care ins Wort gefaßt, spiegelt die Furcht vor Selbstverlust - der Herzog spricht von dem Wankelmut

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der Neigungen des Mannes und von dem Verblühen der Frau, und Täusdiung, mistake, über uns selber und über die ändern, geistert auch durch diese Komödie. So ist Shakespeares Heiterkeit mit Melancholie gemischt, ähnlich wie in den Tragödien dicht neben Grauen, Verzweiflung, Untergang die Zuversicht steht, das Vertrauen zu Mensch und Gott.

DIE

JUGENDKOMÖDIEN

Shakespeares erste Komödien, nach Form und Motivik stark unter dem Einfluß von Lylys Lustspielen stehend, enthalten die Elemente, die sich dann in Was ihr wollt zur reichen und lebendigen Einheit finden, einzeln und präsentieren sie mit einer gewissen Nacktheit. Das Verwechslungsthema beherrscht die Komödie der Irrungen, die Verkleidung spielt in den beiden Veronesern eine bedeutsame Rolle, und die Geistestyrannei über sich selber samt ihrer Überwindung, das Olivia-Motiv also, ist Zentrum der Verlorenen Liebesmüh.

Die Komödie der Irrungen Bin ich im Himmel, in der H oll, auf Erden? Schlaf oder wach ich? Bin ich bei Verstand? Mir selbst ein Rätsel, bin ich hier bekannt. Bestätgen will ich alles, was sie sagen, Im Nebel mich in alle Abenteuer wagen. (II 2). In diesem Stück spielt, weit ausschließlicher als dann im Sommernachtstraum, das Schicksal selber Komödie. „Dies ist das Feenland", sagt ratlos Dromio, „mit Kobold, Kauz und Elfen red ich" (II 2). Das Geschehen wird nicht durch den Willen oder die Eigenart der Charaktere bestimmt, sondern durch die Launen Fortunas; The Comedy of errors ist weder Intrigen- noch Charakterkomödie, sondern eine eigentliche Schicksalskomödie, der Zufall scheint zu herrschen. Eine Laune der Natur fügt es, daß einem Syrakuser Kaufmann von seinem Weib Zwillinge geschenkt werden, die sich gleichen wie ein Ei dem ändern. Die Laune Fortunas tritt dazu: Zur selben Stunde und im selben Wirtshaus Kam eine arme Frau ins Wochenbett Mit Zwillingssöhnen, die sich völlig glichen. Diese werden den Kaufmannsbuben zu Gespielen gegeben, und nun greift wieder das Schicksal ein, auf einer Seereise treibt Sturm und Schiffbruch die Familie auseinander, so, daß der Vater mit dem jüngeren Zwilling und dessen Gespanen zurück nach Syrakus gelangt und ihnen nun die Namen ihrer verlorenen Brüder gibt, während diese selber nach Ephesus verschlagen werden — ebenso wie die Mutter, die dort in ein Kloster tritt und Äbtissin wird, ohne von der Anwesenheit der Kinder in derselben Stadt zu wissen. 183

Mit 18 Jahren zieht der jüngere Zwilling, Antipholus von Syrakus, samt seinem Sklaven Dromio aus, den Bruder und die Mutter zu suchen, und gelangt nadi weiteren sieben Jahren schließlich nach Ephesus — ebenso wie sein Vater, der unterdessen seinerseits fünf Jahre lang die halbe Welt abgesucht hat, um wenigstens seinen jüngeren Sohn wiederzufinden. Und Fortuna spielt weiter: Die Beteiligten wissen nicht, daß sie alle in derselben Stadt weilen, zufällig kreuzen sich ihre Wege nicht, dagegen werden sie nun von allen ändern Personen fortwährend miteinander verwechselt und als der andere angesprochen, beschenkt, bedroht, bepredigt, dazu gerät Antipholus von Syrakus zuweilen an Dromio von Ephesus und vice versa, so daß Herr und Diener aneinander irre werden und die beiden Syrakusaner nicht nur an den ändern, sondern auch an sich selber entsetzt zu zweifeln beginnen. Zugleich werden sie, ohne es zu wissen und zu wollen, zur Keilpartei zwischen Antipholus von Ephesus und dessen Frau, zwischen Dromio von Ephesus und dessen dicker Küchenfreundin. Der Strudel der Irrungen und Verwechslungen, des Sichbegegnens und Sichverfehlens, der ebenso zornigen als unwirksamen Reaktionen steigert sich zu tollstem Wirbel; man wird des Scherzes nicht müde, denn das Tempo ist rasch, läßt einen kaum zu Atem kommen, die Beziehungen komplizieren und steigern sich, immer neue Situationen treten zutage, das Phänomen präsentiert sich in überraschend verschiedenen Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten. Und vor allem: Ein Irrtum folgt nicht nur dem ändern, sondern bedingt ihn zum Teil auch — kaum beginnt sich eine Spannung zu lösen, weil der Richtige an die Stelle des Falschen tritt, entsteht eben deswegen gleichzeitig wieder eine neue. Mehr als einmal entlädt sich die Spannung in Prügeln. Der innere Höhepunkt des Geschehens und der Spannung jedoch liegt im dritten Akt, wo Antipholus von Ephesus mit seinem Dromio vor dem eigenen Hause ausgesperrt dasteht und tobend Einlaß begehrt, aber von der Dienerschaft und von der eigenen Gattin, die hinter der verschlossenen Türe stehen, nur geschmäht und verhöhnt wird: denn im Hause speisen unterdessen die Syrakuser, sie werden von Frau und Gesinde für die in das Haus Gehörenden genommen und wissen nicht, wie ihnen geschieht, aber lassen sich das Spiel gefallen. Hier ereignet sich der Zusammenstoß zweier Parteien, die ohne gegenseitig eine Ahnung von der Existenz und dem Willen der ändern Partei zu haben, rein durch die Situationen, die sie sich, ahnungslos, gegenseitig bereiten, zu unsichtbaren Gegnern werden und einander überall in die Quere kommen — obschon sie eigentlich einander suchen und sich miteinander verbinden möchten. Nun sind sie nur durch eine Hausmauer getrennt, das Zusammentreffen und damit der vorzeitige Abbruch der Komödie droht, aber zum Vergnügen der Zuschauer berennt Antipholus von Ephesus umsonst das Tor; sein Weib, das doch so sehr darauf ausgeht, ihn an sich zu ziehen, weist ihn von sich und bestreitet sein Weib zu sein. Nun geht er, verärgert, wirklich zur Kurti184

sane, auf die sie grundlos eifersüchtig war. Unterdessen predigt ihre Schwester dem vermeintlichen Schwager im Hause drin Besserung, tut es aber auf eine so anmutige Weise, daß sie Antipholus von Syrakus nicht der Schwester, sondern sich selber gewinnt — ohne es beabsichtigt zu haben, aber nicht ganz abgeneigt, sich damit abzufinden. Sie hat das, was sie wollte, nicht erreicht, also eine Niederlage erlitten, zugleich aber einen persönlichen Sieg errungen; auch für ihre Schwester bedeutet diese Entscheidung des Antipholus in Wirklichkeit nicht Niederlage, sondern Rettung: denn es ist ja der von Syrakus, der sich nun in die schöne Bußpredigerin verliebt — wie müßte es kommen, wenn er statt dessen wirklich seines Bruders Weib begehrte! So meinen es Natur und Fortuna auch hier besser als die Menschen glauben, sie lenken die Neigung der Syrakuser — auch Dromio läßt sich durch seines Bruders Liebste nicht einfangen, sie stößt ihn vielmehr ab — so, daß schließlich alles sich zum Guten wenden kann. Und doch sind Natur und Fortuna nicht allein verantwortlich weder für den guten noch für den bösen Gang der Dinge. Der alte Vater glaubt zwar die Götter als mitleidlos bezeichnen zu müssen, merciless to us — in Wirklichkeit sind es nicht die Götter, sondern die Menschen. Das Schiffsvolk sucht' im Boote sich zu bergen, Uns ließen sie das Schiff, zum Sinken reif. Die Götter dagegen lassen Kinder und Eltern gerettet werden und verlangen nur Geduld von ihnen. Aber keineswegs eine passive Geduld — es ist des Syrakusers Entschluß, auf die Suche nach den Seinen zu gehen, der schließlich zur Wiedervereinigung der Familie führt. So spielen freier Wille und Schicksalsgunst, entschlossenes Suchen und geduldiges Warten zusammen. Auch sonst wird das Moment der Freiheit gebührend betont. Es sind nicht grausame oder gutmütige Götter, die willkürlich alles fügen, wie es ihnen gefällt, es ist des Menschen eigener Geist, der Böses und Gutes schafft. Das Schiffsvolk gibt die Passagiere preis. Der Zwist zwischen Ephesus und Syrakus hat ein grausames Gesetz gezeitigt, das dem Vater der Zwillinge den Tod brächte, wenn nicht Fortuna hülfe: Die Menschen, nicht die Götter sind grausam. Das Wort law, von Egeus im Sommernachtstraum mit Unerbittlichkeit hervorgestoßen, ertönt schon in den ersten Versen dieses frühen Spiels, und genau wie dort glaubt der milde Herzog sich zunächst gebunden — harte Gesetze, laws, rigourous statutes, nicht wilde Meere stören und zerstören die menschliche Gemeinschaft. Aber auch das Wort Pity erklingt in diesen ersten Versen, der Herzog spricht es zweimal aus. Beides jedoch, Gesetz und Gnade, stammt nicht aus Natur oder Schicksal, sondern aus dem Willen des Menschen. Der Mensch schafft sich seine eigene Hölle und seinen eigenen Himmel. Nicht Antipholus' Wankelmut, nicht Anlage, sondern seiner Gattin Eifersucht, also Geistesphantastik, treibt ihn von ihr. Wahn185

witzige Eifersucht versklavt verliebte Narren, sagt Luciana, ihre milde Schwester (II1). In der Abwendung des Antipholus selber liegt ein Moment der Freiheit — zugleich freilich sind, ihm unbewußt, Kobolde am Werk, die sein Weib und ihn Dinge sprechen und tun lassen, die sie gar nicht meinen. Derselbe Schwebezustand zwischen Freiheit und Gezwungensein liegt in der Gattin Wort: Bursch, wenn dich jemand fragt nach deinem Herrn, Sag, er sei auswärts, laß mir niemand ein (II 2). Sie trägt ihm, wie sie meint, eine Lüge auf, die doch eine halbe Wahrheit ist: denn zwar nicht sein, aber ihr Herr, den sie ja meint, Antipholus von Ephesus, ist wirklich auswärts; bei ihr im Hause sitzt nur Antipholus von Syrakus. Die beiden Sklaven tragen ihre Unfreiheit mit heiterer Freiheit, als ob sie selbst sie gewählt hätten. Während der Diener Speed in den Veronesern übermütig den Eulenspiegel spielt und der Tölpel Aguecheek in Was ihr wollt ohne es zu merken zum Eulenspiegel wird, indem er die Worte anders versteht als sie gemeint sind, verzichtet Dromio von Syrakus freiwillig auf Eulenspiegelei: Als ihn sein Herr mit einem Beutel Geld wegschickt, bemerkt er lächelnd: „Wohl mancher möcht Euch jetzt beim Worte nehmen und wandern mit so hübschem Reisegeld" (I 2). Luciana stellt ihrer verheirateten Schwester die Willensunterwerfung des Weibes als etwas Natürliches dar, das frei und freudig zu leisten wäre (II1). Die schönste Freiheit aber dem Schicksal, der Außenwelt gegenüber bekundet Antipholus von Syrakus. Anfänglich glaubt er wie sein Diener in einer Stadt von Betrügern, dann von Zauberern zu weilen, doch bleibt er dabei nicht stehen, er gelangt dazu, sich selbst in Frage zu stellen, sich als Träumenden oder Tollen zu nehmen. Aber mehr als das: Er will das Spiel spielen, er entschließt sich, auf alles einzugehen, was das seltsame Schicksal ihm bereitet, und, ohne klar zu sehen, doch alle Abenteuer zu bestehen. Im Nebel wandelnd alle Begebnisse entgegennehmen und ihnen antworten — das ist die Freiheit, die dem Menschen möglich ist. Auch Hamlet müßte seinen Weg ohne die Augen finden. Er fühlt es, aber er versteht sich nicht. Shakespeare, der weiß, daß es für den Menschen keine Sicherheit gibt, hat schon in dieser Jugendkomödie eine unvergeßlich schöne Wendung geprägt. In ihr ist ihm, und, wenn wir sie aufnehmen, uns, das Wesen menschlichen Daseins aufgegangen: Am I in earth, in heaven or in hell? Sleeping or waking? mad or well advis'd? Known unto these, and to myself disguis'd! I'll say as they say, and persever so, And in this mist at all adventures go. 186

Bin ich im Himmel, in der Höll, auf Erden? Schlaf oder wach ich? Bin ich bei Verstand? Mir selbst ein Rätsel, bin ich hier bekannt. Bestätgen will ich alles, was sie sagen, Im Nebel mich in alle Abenteuer wagen. (II 2). * Wenn der Syrakuser, in glücklichem Wechselspiel alles was ihm von außen kommt aufnehmend und aus eigenem freiem Geiste beantwortend, mehr als einmal zum Nutznießer der Verwechslungen wird, so ist der Epheser eindeutig der Leidtragende. Nicht nur wird er aus dem eigenen Hause ausgesperrt, er wird in Schuldhaft genommen und nachher gar, hier liegt der äußere Höhepunkt der Farce, als Wahnsinniger in Bande geschlagen und von der Gattin eingesperrt. Aber grundsätzlich werden nicht nur er und sein Diener, sondern auch die beiden ändern und auch die übrigen Personen aus ihrer Sicherheit herausgejagt. Nur sind Antipholus und Dromio von Syrakus weit besser vorbereitet, die Schläge aufzufangen: Denn sie sind als Seefahrer, als die Welt Durchstreifende, Suchende schon längst freiwillig aus der trügerischen Sicherheit, die der Mensch sich aufzubauen pflegt, herausgetreten, während die Epheser in ihren Häusern sitzen und auf ihren Besitz vertrauen. Auch in Was ihr wollt sind die Seefahrer, Viola und Sebastian, die Überlegenen. Sie haben gelernt, sich zu mißtrauen, während die ändern nur den ändern mißtrauen. Sebastian gibt sich darüber Rechenschaft, daß Olivia keine Wahnwitzige sein kann. Ähnlich sucht hier der Syrakuser die Täuschung bei sich. To me she speaks; she moves me for her theme! What! was I married to her in my dream? Or sleep I now and think I hear all this? What error drives our eyes and ears amiss? Until I know this sure uncertainty, I'll entertain the offered fallacy. The sure uncertainty — das Erlebnis des Syrakusers hat symbolische Kraft. Nur eines ist sicher in menschlichen Dingen: di« Unsicherheit. Macbeth muß das auf eine entsetzliche Weise langsam erkennen — der Komödienheld, der Seefahrer weiß es von Anfang an. Er vermutet den Grund der Täuschung, the error, in sich selber. Sie spricht zu mir, ich bin ihr Gegenstand — War es im Traum, daß ich mich ihr verband? Hab jetzt im Schlaf ich alles nur gehört? Welch Wahn hat Ohr und Auge uns betört? Bis ich das sichre Rätsel klar erkannt, Biet ich dem dargebotnen Trug die Hand. 187

Aber trotz dieser überlegenen und heiteren Reaktion ist ihm die Welt und in ihr er sich selber in Frage gestellt. Am I in earth, in heaven or in hell? Sleeping or waking? mad or well advis'd? Known unto these, and to myself disguis'd? „Bin ich auf der Erde, im Himmel oder in der Hölle? Schlaf oder wach ich? Bin ich wahnwitzig oder bei Verstand?" Wiederum sind es Fragen, die nicht nur Antipholus in dieser Situation, sondern die der Mensch als solcher sich zu stellen hat. Den anderen bekannt, mir selber verkleidet: als Partner in der Gesellschaft ist der Mensch eingeordnet und wird als ein Bekannter behandelt, sich selber aber ist jeder einzelne ein Rätsel. So erhebt sich der Syrakuser zu den wesentlichen Fragen des Menschseins. Die ändern aber, statt an sich zu zweifeln, halten nur die ändern für verrückt, lügnerisch oder untreu. So wie Adriana, eifersüchtig, an der Liebe ihres Gatten zweifelt, so zweifelt sie dann auch an seinem Verstand und läßt ihn als einen Wahnwitzigen gewaltsam binden. „Ihr alle seid verschworen oder toll!" sagt der Herzog (V 1). Unfreiwillig freilich stellen auch die sich sicher Fühlenden und Gebärdenden mitunter die Frage nach der Identität. Do you know me, Sir? fragt Dromio von Syrakus, am I Dromio? am ·! your man? am l myself? „Kennt Ihr mich, Herr? bin ich Dromio? bin ich Euer Diener? bin ich ich?" Und als ihm der Herr brav die Indentität bestätigt, platzt er heraus: „Ich bin ein Esel, ich bin eines Weibes Diener, ich bin außer mir" (besides myself, III 2). Daß er ein Esel sei, hat er sich, ebenso wie sein Bruder, der andere Dromio, mehrmals sagen lassen müssen. Adriana sagt zu Antipholus von Syrakus, den sie für den von Ephesus hält: „Ich bin nicht Adriana, noch dein Weib!" (II 2). Nothing that is so is so — der Narr in Was ihr wollt sagt es mit eben der entrüsteten Ironie wie hier die Epheserin, und doch ist das, was sie im Hohn aussprechen, Wahrheit. Nicht nur einzelne Wendungen deuten auf das allgemein Menschliche, sondern das Ganze. Der Mensch bewegt sich in einer Komödie der Irrungen. Er irrt sich über sich und die ändern, er kennt sie nicht und sich nicht. Der Herr wird am Diener irre, der Diener am Herrn, die Gattin am Gatten und er an ihr. Man kann sich weder auf den Verstand noch auf die Sinne verlassen, alle Zeugenschaft wird illusorisch. Der Mensch ist ein Traumwandler, weiß nicht um seine Identität. Und doch gilt es, wie der Syrakuser es vermag, das Vertrauen zu bewahren: die Möglichkeit eines sinnvollen Kosmos bei dem äußeren Anschein eines entsetzlichen Chaos erweist sich, im Spiel der Komödie, einmal mehr. Das Spiel der Natur, daß sie zur gleichen Zeit und am selben Ort zwei Zwillingspaare in die Welt setzt, scheint darauf hinzudeuten: Von Natur aus kann ein Mensch gleich sein wie der andere. Was ihn zu einer Persönlichkeit 188

macht, ist erst der Name, und das heißt der Geist. Sein Verhalten und seine Träume machen den Menschen zu dem, was er ist — auch die Welt machen erst sie zu dem, was sie ist: zu einem Tollhaus, wie es Adriana tut, die die Dinge erzwingen will, oder zu einem schönen Traum, wie für den Syrakuser. „Bist du ein Gott? Willst du mich neu erschaffen?" So fragt er Luciana, seines Bruders Schwägerin. „Verwandle mich, ich übergeb mich deiner Macht" (III 2). Das Thema Heilung klingt schon an. Nicht Adriana besitzt ihr Geheimnis, die Liebe und Treue erzwingen will und den Tollen oder für toll Gehaltenen fesselt und einsperrt. Sondern der Herzog und die Äbtissin, die um Mitleid und Gnade wissen, um Milde, Geduld, Vertrauen. „Sie weckt mir des Gewissens eigne Stimme", sagt Adriana, als die Äbtissin zu ihr gesprochen (V 1). Diese hat, indem sie getreulich des Polonius Rezept, mit dem Lügenköder den Wahrheitskarpfen zu fangen, anwandte, aus Adriana herausgelockt und ihr bewußt gemacht, daß sie ihren Gatten mit Eifersucht geplagt und so sich ihm entfremdet hat. Die Äbtissin besitzt, wie auch Luciana, die Imagination des liebenden Herzens, das sich in andere einzufühlen vermag und auch Fehler zu verzeihen und zu ertragen weiß: Fehler der Menschen ebenso wie Launen des Schicksals. Wieso bereitet diese Komödie Vergnügen? Schon die Lebhaftigkeit des Geschehens und des Gesprächs ermuntert den Geist des Zuhörers. Schlag folgt auf Schlag, Wort auf Wort, die Antworten knüpfen sich ebenso treffend an das Gesprochene an wie die Episoden an die Episoden. Rein technisch gesehen gehört die Komödie der Irrungen, von ihrer umständlichen Eröffnung abgesehen, zu den am vollkommensten gelungenen Spielen Shakespeares. Und dem Zuschauer muß es scheinen, als ob er an der Präzision und dem Tempo des Ablaufes teilhätte, er fühlt sich aktiviert und es mag ihm, wie Shakespeare es im Epilog zum Sommernachtstraum andeutet, vorkommen, als sähe er seinen eigenen Traum. Dazu kommt das wohlige Sicherheitsgefühl des Zuschauenden im Kontrast zu den Irrungen der Personen im Spiel. Während für diese jedes Augenzeugnis illusorisch, wertlos wird, ist er echter Zeuge. Wie es ohnehin im Wesen des Theaters liegt, hat das Publikum einen gottähnlichen Überblick. Wo die Beteiligten auf der Bühne Opfer der mit ihnen spielenden Fälle und Zufälle sind, kann es überblicken und durchschauen ·— und je größer die Verwirrung auf der Bühne, desto herzlicher die Heiterkeit des Publikums. Denn es erkennt den Widerspruch zwischen der wirklichen Harmlosigkeit der Situationen und ihrem fürchterlichen Schein, es kann lachen, wo die ändern verzweifelt umherrennen. Doch muß sich, damit die Stimmung reiner Heiterkeit umfassend werde, jener Widerspruch auch innerhalb des Spieles lösen. Denn nur eine Weile amüsiert es uns, Irrende zu sehen, schließlich wünschen wir ihnen das Glück, das wir uns selber gönnen. Wir möchten nicht mehr über sie, sondern mit ihnen lachen. Jede Lösung 189

bringt Erlösung. Schon das Lösen einer Spannung, eines Konflikts an sich wirkt befreiend, weil wir das Paradigmatische des Vorgangs erleben: So wie diese Spannung gelöst werden konnte, kann grundsätzlich jede Spannung gelöst werden. Je schlimmer die Verwicklung schien, desto größer das Vergnügen: weil wir ja auf diese Weise erleben, daß auch der äußerste Widersinn, die verfahrenste Situation sich auflösen, daß ihr schreckliches Gesicht nur Maske war. Es sind die Vorgänge und Situationen, die das Stück zu dem machen, was es ist. Die Personen sind notwendigerweise flach gezeichnet: nur so lassen sie sich willig in den tollen Wirbel werfen. Und doch sind sie, wie ihre Reaktionen es zeigen, keineswegs ohne persönliche Eigenart. In der Auseinandersetzung mit dem Schicksal kommt ihr Charakter zur Wirkung, und das heißt im Theater: zum Aufleuchten. Ärger, Zorn, Staunen, Zartheit, Grobheit und Übermut, Dulden und Sehnen, Mitleid, Gram, Härte und Milde, Eifersucht, Kleinlichkeit, Edelmut — das alles und noch vieles mehr kommt zum Spielen, die Charaktere treten nach außen, die verschiedensten Töne beginnen zu schwingen, und von daher erhält auch diese streng stilisierte und nach der Art Lylys symmetrisierende Komödie ihre Wärme und ihren Glanz.

Die beiden Veroneser Ich wollte ich wäre taub; In der Komödie der Irrungen schimmern zuweilen die Züge des uralten Zweibrüdermärchens durch. Dieses erzählt, wie der eine Bruder den ändern, weil er wähnt, er habe ihn bei seiner Gemahlin vertreten, tötet; ein Zauber vermag dann die rasche Tat ungeschehen, den unschuldig Getöteten wieder lebendig zu machen. Shakespeare aber weicht der Tragödie, die sich auch bei ihm leise andeutet, von vornherein aus; die Liebe des jüngeren Zwillings wendet sich — obschon beide Frauen ihn gerade dazu treiben möchten! — nicht zur Gattin seines Bruders, sondern zu deren Schwester. Er darf sich der glückhaften Neigung hingeben, in der Ferne sieht man den Schatten der tragischen Möglichkeit vorbeihuschen. Der Beziehung zum Märchen gesellt sich die zum Mythus. Die Freiheit und Überlegenheit der aus der Weite der Welt in die Stadt kommenden Fremdlinge spiegelt irgendwie die göttliche Wesenheit der fremden Besucher im Plautinischen Amphitruo, aus dem einzelne Anregungen zur Comedy of errors zu stammen scheinen. Die beiden Reisenden selber glauben sich in einer Stadt von Zauberern, Kobolden oder Göttern. 190

In den Beiden Edelleuten von Verona ist die Luft des Märchens und des Mythus verflogen, sie bewegen sich im menschlich-gesellschaftlichen Bereich. An die Stelle der Schicksalskomödie tritt die Intrigenkomödie. Die Parteien tappen nicht mehr im Dunkeln, einen unsichtbaren und gar nicht vermuteten Gegner mit erregtem Fuchteln abwehrend, sie führen die Schläge und Gegenschläge bewußt und willentlich; wo der Gegner verborgen bleibt, geschieht es deshalb, weil er den ändern zu täuschen versteht. Aber gerade der Intrigant handelt selber nicht aus voller Freiheit. Es sind nicht die Launen des Schicksals, denen er unterworfen ist und die ihn äffen, es sind die Launen des eigenen Herzens. Alas, how love can trifle with itself, klagt Julia. „Wie treibt doch Liebe mit sich selbst ein Spiel!" (IV4). Proteus, der Julia verlassen und vergessen hat, ist der Typus des Verliebten, nicht des Liebenden: dieser wird vielmehr, ganz entgegen dem ersten Anschein, durch seinen Freund Valentin repräsentiert. »Er jagt der Ehre nach und ich der Liebe", meint Proteus. Aber es ist keineswegs äußere Ehre, nach der Valentin sich sehnt, sondern das Abenteuer, das Wunder. „Die Wunder fremder Länder zu erleben", zieht er in die Ferne. Er wird, wie Othello, auch das Wunder der Liebe erleben, gerade weil er es nicht sucht. Proteus aber, der der Liebe nachjagt, vermag sie nicht zu finden, ja, er verliert mehr und mehr sich selber, und nur die Hilfe der ändern bringt ihn schließlich wieder zu sich zurück. Formal weist dieses Jugendstück Shakespeares deutliche Mängel auf. Symmetrie und Parallelismus in Personal (zwei Freunde, zwei Diener, zwei Geliebte), Handlung und Rede sind nicht wie in der Komödie der Irrungen durch ein munteres Tempo in fröhlicher Bewegung gehalten und auch noch nicht, wie später im Sommernachtstraum, durch feine Verschlingung der Handlungen aufgelockert und mannigfach überwuchert, sondern recht nackt sichtbar, ohne daß sie, wie in der Comedy of errors, einen Reiz in sich selber bildeten und wie dort schon thematisch notwendig wären. Die Spaße der Diener, die sich in abgetrennten Szenen unterhalten, sind nicht ohne Beziehung zu dem Hauptgeschehen, aber doch zu breit ausgewalzt, ohne wirkliche Notwendigkeit — es sei denn die der Unterbrechung der in sich zu wenig komischen Szenen durch farcenhafte — eingeschoben. „Ei, immer dein alter Spaß: die Worte zu verdrehen", sagt einmal der eine zum ändern (III 1). In der Tat tobt sich des jungen Shakespeare Freude an „einer hübschen Artillerie von Worten" (II 4, Silvia) streckenweise gar zu üppig aus. Unbefriedigend ist auch die Schlußszene mit der raschen Verzeihung Valentins, seinem unvermittelten Angebot des Verzichts auf Silvia und die ebenso plötzliche Bekehrung des Proteus. Später bereitet Shakespeare derartige Wendungen sorgsam vor: so in Was Ihr wollt die Heilung Olivias und die Neigung Violas zum Herzog, oder dann benützt er ihre Mechanik zu komischen Wirkungen, so im Sommernachtstraum. Hier aber ist es nur ein hastiges 191

zu-Ende-kommen. Da die Personen der Veroneser im übrigen weniger marionettenhaft sind als die der Irrungen, mehr eigene Individualität und Atmosphäre haben, wirkt dieser Schluß besonders stoßend. Trotz solcher offenkundigen Mängel hat das Stück, das die Menschen im Zauberzwang der Liebe zeigt, seinen eigenen Reiz. Die Gestalten haben Körper und Leben, und ihre Entwicklung, wenn auch allzu hastig zu Ende geführt, spiegelt wesentliche Erfahrungen der barocken Zeit, die für unsere Gegenwart von neuem Interesse sind. Wie es der Name Proteus andeutet, ist Verwandlung das Thema des Stückes. Valentin, der nichts von Liebe wußte, wird von der Neigung zu Silvia, der Herzogstochter von Mailand, so ergriffen, daß er nur noch von Liebe sprechen mag (II 4). „Und jetzt seid Ihr von Eurer Dame so verwandelt", sagt sein Diener zu ihm, „daß, wenn ich Euch ansehe, ich Euch kaum für meinen Herrn halten kann." Silvia selber, welche bisher alle Freier abwies, muß Valentin lieben. Während aber sie beide durch die Verwandlung sich erst eigentlich verwirklichen, in der Liebe zum ändern auch sich selber erst wirklich finden, rührt die Verwandlung des Proteus ans Tragische: Er verliert sich selber. „Du, süße Julia, du hast mich verwandelt", bekennt Proteus schon in der ersten Szene; „du läßt mich meine Studien vernachlässigen, meine Zeit verlieren, guten Rat ausschlagen, die Welt für nichts achten..." Doch das ist erst Vorspiel. Willenlos unterwirft sich Proteus dem Gebot seines Vaters und verläßt Verona — nicht nur Julia Capulet und Desdemona, auch die Hermia des Sommernachtstraums werden um der Liebe willen ihren Vätern mit ganz anderer Festigkeit widerstehen. Und doch ist Proteus' Vater selber der echte Vorfahr seines Sohnes: „Denn was ich will, das will ich", sagt er zum Sohn, obschon er sich diesen Willen soeben von seinem Diener hat aufschwatzen lassen. Proteus fügt sich also, er trennt sich von Julia, nicht ohne ihr ewige Treue zu versprechen. Als er dann in Mailand seinen Freund Valentin Silvien preisen hört, da entflammt er sich für diese, noch eh er sie gesehen hat. „Ihr Bildnis nur hab ich bis jetzt geschaut", erklärt er, und schon ist darob das Gedächtnis der früheren Liebe völlig ausgelöscht (II 4). Ebenso wie dem Willen seines Vaters unterwirft Proteus sich der Laune seiner Einbildungskraft: hier ist die plötzliche Wendung durchaus glaubhaft. Proteus wird der Braut, dem Freund und damit sich selber untreu - macht sich aber durch syllogistische Vernebelungskünste das Gegenteil weis. Julia verlier ich, und den Freund verlier ich: Behalt ich sie, muß ich mich selbst verlieren. Verlier ich sie, find ich durch den Verlust Für Valentin mich selbst, für Julia Silvia. Ich bin mir selber näher als der Freund, 192

Denn Lieb ist in sich selbst am köstlichsten... Ich kann die Treu mir selber nicht bewahren, Begeh ich nicht Verrat an Valentin (II 6). Shakespeare, der die Scheinsicherheit des Syllogismus gehaßt hat, hat es nicht versäumt, diesen vorher in einem Gespräch zwischen Proteus und dem Diener Valentins der Lächerlichkeit preiszugeben. Proteus: Speed: Proteus: Speed: Proteus:

Eine einfältige Antwort, so ziemt sie den Schafen. Dies macht mich alles zu einem Schaf. Sicherlich, und deinen Herrn zum Schäfer. Nein, das kann ich durch einen Beweis widerlegen. Es müßte mit seltsamen Dingen zugehen, wenn ich nicht das Gegenteil beweise. Speed: Der Schäfer sucht das Schaf, und nicht das Schaf den Schäfer; aber ich suche meinen Herrn, und mein Herr nicht mich: deswegen bin ich kein Schaf. Proteus: Das Schaf folgt des Futters halb dem Schäfer, der Schäfer nicht des Futters halb dem Schaf; du folgst des Lohnes halb deinem Herrn, dein Herr nicht des Lohnes halb dir: deswegen bist du ein Schaf. Speed: Noch einen solchen Beweis, und ich muß schreien: Bäh! (I 1). So tut Proteus dar, daß der Intellekt alles zu beweisen bereit ist, was der Wille bewiesen haben will — einem Brutus und einem Hamlet wird der Verstand ein ähnlich gefügiger Diener sein; das hindert nicht, daß Proteus selber später mit ebenso unsinnigen Verstandesschlüssen sich einredet, er müsse Freund und Braut verraten, wenn er sich selber nicht verlieren wolle. In Wirklichkeit sinkt er so tief, verliert er sein besseres Selbst so ganz, daß er zuletzt Silvia, die ihn nicht lieben kann, Gewalt antun will. So bringt er es fertig, auch noch die Liebe sich selber zu entfremden: Ich will dich lieben gegen die Art der Liebe: dich zwingen (V 4). Auch Julia behauptet, sie habe sich selbst verloren, als sie des Proteus Liebe verlor. Einst sei sie schön gewesen, jetzt nicht mehr, einst lilienfarben, jetzt „schwarz". Und sie legt das Mädchenkleid ab, wird zum Jüngling, um Proteus aufzusuchen. Doch das ist nur Spiel, sie darf das Kleid wechseln gerade weil sie gewiß ist, daß sie sich selber gleich bleibt. Sie weiß es und spricht es aus: Mag Sitt entscheiden, wer am schwersten fehle: Vertauscht ein Weib das Kleid, ein Mann die Seele (V 4). Und doch wünscht Julia einmal, ähnlich wie die Helena des Sommernachtstraums, sich anders als sie ist: Sie möchte gerne Silvien gleichen, wenn dies ihr Proteus' Liebe gewinnen könnte. Aber das wäre nur äußere Selbstentfremdung:

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Ihr Haar ist bräunlich, meins vollkommen blond: Wenn das den Ausschlag gibt in seiner Liebe, So trag ich falsches Haar von dieser Farbe (IV 4). Überhaupt spiegelt sich die innere Zwiespältigkeit des Proteus in ihrem äußeren Verhalten. Wie er in Zwiespalt zwischen Verliebtheit und Freundschaft, zwischen Treue und Untreue steht, so ist sie, die in ihrer Liebe ganz sicher ist, im Zweifel, wie sie sich geben soll. Zuerst weiß sie nicht, ob sie seiner Liebe entgegenkommen oder sich kostbar machen soll - Julia Capulets und Cressidas Worte klingen vor. ,Nein' sagt ein Mädchen, weil's die Sitte will Und wünscht, daß es der Frager deut als ,Ja'. Pfui! wie verkehrt ist diese törge Liebe (I 2). Später, als sie in ihrer Verkleidung sein Page ist und für ihn werben soll, schwankt sie, wie sie den Auftrag durchführe. Wie wenge Frauen brächten solche Botschaft! Ach! Armer Proteus! du erwählst den Fuchs, Um dir als Hirt die Lämmer zu behüten. Ach, arme Törin! was beklag ich den, Der mich von ganzem Herzen jetzt verachtet? Weil er sie liebt, verachtet er mich nun; Weil ich ihn lieb, muß ich ihm Mitleid schenken ... Nun schickt man mich - o unglückseiger Bote! — Zu fordern, was ich nicht gewinnen möchte, Zu bringen, was ich abgeschlagen wünschte; Des Treu zu loben, den ich untreu schelte. Ich bin die wahr Verlobte meines Herrn, Doch kann ich nicht sein treuer Diener sein, Will ich nicht an mir selbst Verräter werden. Zwar will ich für ihn werben; doch so kalt, Wie ich, beim Himmel! die Erwidrung wünschte (IV 4). Die Situation Violas aus Was ihr wollt ist vorweggenommen. Aber Julia hat nicht den Überschwang, die Grazie, die Heiterkeit, auch nicht die innere Freiheit und Differenziertheit, selbst da voll zu werben, wo sie Absage hofft. Dafür besitzt sie die Entschlossenheit zum Dulden. Wenn im mittelalterlichen Roman Erec seine Frau zwingt, Knappenkleider anzulegen und ihm zu folgen, so tut Julia dies freiwillig und unerkannt. Die Unwahrscheinlichkeit der Situation wird nicht nur einfach hingenommen, weil die Komödienstimmung herrscht, sie gewinnt im Lichte des Gesamtgeschehens ihren Sinn: Die Menschen kennen sich nicht. Valentin kennt sich selber nicht - er glaubt 194

nur Abenteuer und Ehre zu suchen und weiß nicht, daß er auch für die Liebe bereit ist. Er kennt auch Proteus nicht, den er für treu und wahr hält. Proteus verkennt sich selber und zugleich Silvia, die er verführbar wähnt und Julia, mit deren entschlossener Ausdauer er nicht rechnet. Es ist — wir behaupten nicht, daß Shakespeare solches bewußt gewollt habe, obschon er als barocker Dichter ohne Zweifel mit hoher Bewußheit, auch in den Einzelzügen, komponiert hat — es ist, wie wenn solches Nichterkennen optisch sichtbar würde: Proteus erkennt Julia, als sie in ihrer Jünglingstracht vor ihm erscheint, nun auch äußerlich nicht. Das ist an sich nicht unwahrscheinlicher als jenes, was die Gesamtvorgänge dieser Komödie uns zurufen und was doch bittere Wahrheit ist: Wir kennen uns selber nicht, und wir kennen auch einander nicht. Als Valentin den für treu gehaltenen Freund als falsch erkennt, da verschattet sich ihm, wie es in ähnlicher Lage Hamlet geschieht, die ganze Welt. „So sind Freunde jetzt ..." Wem ist zu trauen, wenn unsre rechte Hand Sich gegen unsre Brust empört? O Proteus, Ich kann dir, leider, niemals wieder trauen, Und muß um dich die Welt als Fremdling achten. O fluchbeladne Zeit! O schmerzliches Verwunden, Daß ich den Freund als schlimmsten Feind gefunden! Aber Valentin bleibt bei dieser Weltsicht nicht, wie dann Timon, stehen. Er weiß, wenn die Welt besser werden soll, muß er ihr dazu helfen. Shakespeares Darstellung ist freilich hier zu hastig. Später läßt er Timon gar nicht und Hamlet nur in schwerem Ringen und halb unbewußt zu solcher Einsicht gelangen. Was König Claudius sich nicht abringen kann, das leistet Proteus mit einem leichten Ruck: Er bereut. Auch wenn man Proteus einen seinem Namen entsprechenden Charakter zuerkennt: hier geht wenigstens der heutige Zuschauer nicht mehr willig mit. Wenn aber Shakespeare künstlerische Leichtfertigkeit zum Vorwurf zu machen ist, so erweist das um so mehr, wie wichtig ihm diese Wendung geistig sein mußte. Proteus bereut — und nun verzeiht ihm Valentin so vollständig, daß er selbst auf Silvia zu verzichten bereit ist. König Claudius im Hamlet ergeht sich in trefflichen Reflexionen über die tätige Reue. Ebenso rigoros erweist sich Valentin in der tätigen Verzeihung: daß sie vollkommen sei, „geb ich dir alles, was in Silvien mein." Zum Glück wird Julia, als sie solches hört, ohnmächtig — und nun kann die Erkennung erfolgen, Proteus' Reue hält Stich, er findet sich selber und damit seine erste Liebe zu Julia wieder, Valentin darf eine Doppelhochzeit in Aussicht stellen ... Hier wird der junge Shakespeare unfreiwillig komisch. Aber nur durch künstlerisches Versagen — die Haltung, die er in dieser frühen Komödie zur Darstellung bringt, wird sich später differenzieren, aber nicht wesentlich verändern. 195

Neben Valentin ist Julia an Proteus' Rettung beteiligt. Sie hat ihn in der tiefsten Enttäuschung nicht aufgegeben. Sie folgt ihrem Herzen, das ihn liebt und an ihn glaubt, nicht ihren Augen, ihren Ohren, die seine Untreue sehen und hören. „Ich wollte ich wäre taub", sagt sie (IV 2) - und sie macht sich taub, sie will diesen Proteus nicht für den eigentlichen, nur für den verirrten Proteus halten — und wirklich findet schließlich Proteus mit der Hilfe derer, die er betrogen hat, zu sich selber zurück. Hier feiert der Geist, die Freiheit des Geistes einen legitimen Triumph. Julia lehnt es ab, sich mit den Tatsachen abzufinden, und sie vermag sie zu überwinden. Einst hatte sie über die Tyrannei des Geistes, der geistgeformten Sitte geklagt, die das Herz nicht frei sich äußern lassen. Wie zornig lehrt ich meine Stirn sich falten, Da innre Lust mein Herz zum Lächeln zwang! (I 2, vgl. oben S. 194) Herz, Seele — das ist für Shakespeare Zentrum des Menschen, und sie sollen sich nicht durch den Geist vergewaltigen lassen. Aber der Geist kann, wie in Troilus und Cressida, die Seele richtiger verstehen als sie sich selber, er kann ihren heimlichen Tendenzen ebenso vorauseilen, wie er in anderen Fällen, so in Hamlet, hinter ihnen zurückbleibt. Er ist, wie so vieles im Barock, höchste Gefahr un>d höchste Möglichkeit zugleich. Schon in den Veronesern zeigt er sich in seinen verzerrenden und in seinen die Welt erst vollendenden Zügen. So ist Julias Verzweiflungsruf „Ich wollte, ich wäre taub" zugleich, ihr unbewußt, voll Verheißung: Sie hat die Kraft, nicht an die Wahrheit des Wirklichen zu glauben und seine Verwandlung nicht nur zu erhoffen, sondern herbeiführen zu helfen. Denn am Menschen liegt es, dem Menschen zu helfen. Valentin meint, das Glück habe ihm widerstrebt — nein, es ist ein Mensch gewesen. Nicht das Glück war schief (Valentin spricht von crooked fortune IV 1), die Seele eines Menschen war es. Und so muß auch die Heilung von Menschen ausgehen. Neigungen zwar entstehen im Menschen von selber. Aber so wie die Phantasie des Proteus seine Liebe zu Silvia erst eigentlich erzeugt, so steht auch der entfalteten Leidenschaft der Mensch nicht ohnmächtig gegenüber. Valentin, den Silvia in einem hübschen Spiel zur Marionette (puppet) macht, indem sie ihn, ohne daß er es merkt, einen Liebesbrief an sich selber schreiben läßt (II 1), ist in Wirklichkeit so wenig Marionette, sei es die eines anderen oder seiner selbst, daß er frei seinen Anspruch auf Silvia aufzugeben vermag, getreu seinem Wort aus der ersten Szene, daß Liebe eine Närrin, von der ein Weiser sich nicht meistern lassen dürfe. Selbst Proteus vermag es am Ende, sich von der Tyrannei des verliebten Wahnsinns freizumachen. So siegt denn auch in diesem Spiel die menschliche Freiheit. Und wo die Menschen sich selber finden, da lächeln ihnen auch die Götter. Die innre Lust des Herzens braucht 196

sidi nicht mehr zu maskieren, sie darf freudig jubeln, denn freie und überlegene Menschen haben Unnatur und Verkehrung überwunden und die Welt sich selber wieder geschenkt. Der dunkle Grundklang ist in den Veronesern stärker hörbar als in der Komödie der Irrungen. Proteus wird bis zum verbrecherischen Anschlag fortgerissen. In dem ändern Spiel war es nur die Sorge, daß der Mensch einem unberechenbaren, bald gütigen, bald bösen Schicksal ausgeliefert sein könnte, die im Zuschauer aufsteigen mochte. Hier aber erschrickt er darüber, daß der Mensch sich selber ausgeliefert ist und sich so wenig auf sich verlassen kann: ein weit bittererer Gedanke. Und wenn auch der Irrgang des Proteus in den Veronesern nicht das letzte bleibt, so ist er doch künstlerisch eindrücklicher dargestellt als die Heilung. Wenn ihm etwas die Waage zu halten vermag, so ist es nicht Valentins Überlegenheit, sondern Julias treues Dienen, das seinerseits Silvias stolze Selbstbestimmung zum Gegenklang hat: Silvias, die wie Julia sich verkleidet und doch, wie diese, ihrer selber völlig sicher ist.

Verlorne Liebesmüh Their conceits have wings, Fleeter than arrows, bullets, -wind, thought, swifter things. Fast möchte man Love's labour's lost eine Charakterkomödie nennen, denn nicht Schicksal oder Intrige bestimmen den Gang der Geschehnisse, sondern die Wesensart der Beteiligten: die geistige Verstiegenheit und hilflose Liebesanfälligkeit der Herren, die muntere, selbstsichere Lebensfreude und geistige Beweglichkeit der Damen. Nicht daß die Einzelcharaktere stark individualisiert wären. Einzig Biron (Berowne) hebt sich als eigenkräftige Persönlichkeit von seiner Gruppe ab; aber sein Eigenleben manifestiert sich nicht in Taten oder Entscheidungen, sondern nur in Worten, Reflexionen, in seiner Art da zu sein. Leise Nuancen der Tonart, der Reaktionsweise unterscheiden auch die übrigen Personen voneinander, und wer mit der elisabethanischen Temperaments- und Humour-Lehre vertraut ist, vermag die Zugehörigkeit zu verschiedenen Typen und zu einzelnen Spielarten der Grundtypen zu erkennen. „Der König und Dumaine sind von Natur sanguinisch, Biron und Longaville cholerisch, aber unter dem milden Einfluß der Sonne — und alle vier scheitern in ihren Bestrebungen, das melancholische Leben der Studien zu führen; später jedoch wird Biron - das ist feine Ironie — Liebesmelancholiker." (John W. Draper in The humors and Shakespeare's characters). Solche Differenzierung bewahrt auch dieses Stück Shakespeares, trotz 197

der streng durchgeführten Parallelisierungen, Antithesen, Symmetrien vor Leblosigkeit und Starre, der Gefahr Lylys, den Shakespeare hier gleichzeitig nachahmt und lustig belächelt. Die formelhafte Pluralität der Personen wird von den individuellen Farben, Schatten, Tönungen anmutig umspielt und verkleidet, aber nicht völlig verdeckt. Sie behält letztlich die Vorhand, die Aktionen gehen von den Gruppen» aus. Die Verwicklungen und Kämpfe, Versöhnungen und Lösungen sind nicht durch die Verschiedenartigkeit der Einzeldiaraktere bedingt, sondern durch die Grundveranlagung des Menschen überhaupt und durch die unterschiedliche Daseinsweise von Mann und Frau. Der König von Navarra, der sich und seinen Gefährten strenge Askese auferlegt, ist eine Art Don Quichote der Freiheit. Er möchte den Geist vom Zwang der Begierden freihalten und legt dafür den natürlichen Neigungen Fesseln an. Seine drei Lords begrüßt er als „tapfere Eroberer": „denn solche seid ihr, die ihr die eignen Neigungen bekämpft, zusamt der irdischen Lüste mächtgem Heer." Geist ist Freiheit, er darf den affections und desires nicht unterworfen sein, und Navarra soll, als ein Bezirk, in welchem Geist über Naturzwang herrscht, „das Wunder der Welt werden." Aber schon im Ansatz verfehlen die Verbündeten das Ziel. Statt freier Geistigkeit errichten sie Geistestyrannei und binden sich gegenseitig durch einen Eid. Shakespeare scheint alle Eidesbindung mit hartnäckigem Argwohn betrachtet zu haben. Olivias Gelöbnis wird als überspannt entlarvt, Brutus lehnt den Schwur ab. In der Verlernen Liebesmüh, von manchen für Shakespeares erstes Lustspiel gehalten, wird der Eid von Anfang bis zu Ende lächerlich gemacht. Offenbar sieht Shakespeare im Schwur ebenso wie im syllogistischen Beweis und im Augenzeugnis, die alle drei schon in diesen frühen Spielen verspottet werden, illegitime Behelfe, die dem Menschen die fehlende Sicherheit schenken sollen, ihn aber nur äffen. Daß puritanische Prediger gerne den Syllogismus handhabten, mag Shakespeares Abneigung verstärkt haben; Mißtrauen gegen das Zeugnis der Sinne gehört zu den Wesenszügen des Barockzeitalters. Biron durchschaut den Unsinn des Gelöbnisses und des ganzen Weisheitsbundes von Anfang an. „Notwendigkeit wird uns meineidig machen." Ironisch deutet er an, daß der Geist selber wendig genug sein werde, das eigene tyrannische Gesetz in sein Gegenteil zu verkehren. Biron: König: Biron: König: Biron:

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Was ist der Zweck des Studiums? Laßt mich's wissen. Nun, das zu lernen, was wir sonst nicht wissen könnten. Was unergründlich ist gemeinem Sinn? Das ist des Studiums göttlicher Gewinn. Dann, schwör ich Euch, studier ich andachtsvoll Zu lernen das, was ich nicht wissen soll, Als: wo ich mag ein leckres Mahl erspähn,

Da uns zum Fasten unser Eid verpflichtet. Und wo ich kann ein hübsches Mädchen sehn, Seit auf der Schönen Anblick wir verzichtet. Oder wie man zu harten Eid umgehe, Daß man ihn brech, und doch die Treu bestehe... ( I I ) Und tatsächlich werden die Verschworenen später alle Listen ihres Witzes aufwenden, sich den selbstgelegten Schlingen zu entziehen. Longaville drechselt ein kunstgerechtes Sonett, um sich selber zu beweisen, daß sein Eidbruch kein Eidbruch sei. So lautet sein Syllogismus: Dem Weib entsagt ich, doch beweis ich klar: Da Göttin du, niemals entsagt ich dir. Himmlisch bist du, mein Eid. nur irdisch war, Und deine Huld heilt alle Schuld in mir (IV 3). Das Sonett ist voll solcher Geistesakrobatik, und Maria, die Angebetete, wird mit Recht spotten: Denn alle Kraft des Geistes muß ihm nützen, Auf Scharfsinn seine Albernheit zu stützen. Schon hier tut Shakespeare dar, was später an Hamlet, in tragischer Weise offenbar werden wird: der Geist ist bereit, alle Arbeit zu verrichten, die wir von ihm verlangen. Seiner Bestimmung nach frei, wird er das eine Mal zum Sklaven unserer Gelüste, das andere Mal zu dem der Pietät, der Sitte, Ehre oder einer ändern Macht, deren Forderung wir uns verpflichtet halten. Longaville ruft nach Tricks und Spitzfindigkeiten (quillets), den Teufel zu prellen, Dumaine nach einer Tinktur für Meineid. Biron aber, der längst bekannt hat, daß „junges Blut einer alten Satzung nicht gehorchen mag", daß wir „was Grund unserer eigenen Geburt ist, nicht bekämpfen können", liefert diese Tinktur in langer und wohlgesetzter Rede. Laßt uns den Eid verlieren, uns zu finden, Sonst retten wir den Eid, verlieren uns. 's ist Frömmigkeit, meineidig so zu werden: Barmherzigkeit schreibt das Gesetz uns vor, Und wer trennt Liebe von Barmherzigkeit? (IV 3). Wenn Biron hier den Eidbruch aus Treue zu sich selbst verlangt, so hat er kurz vorher seiner Rosaline beteuert, er werde sich selber meineidig, um ihr treu zu sein — wohl wissend, daß der Selbstverlust um des Du willen zum Selbstgewinn wird. Aber ein boshaft-schalkhafter Zufall oder vielmehr die Dummheit des Überbringers hat den Brief in falsche Hände gespielt, in die des derben Bauernmädchens Jaquenetta. So halten nicht nur die Prinzessin von Frankreich und ihre drei Ladies - sie können nicht genug über die 199

rasch zu neuem Schwur Bereiten spotten — die armen Lords zum Besten, sondern auch ein zur Verwechslungskomödie aufgelegtes Geschick: Birons Gedicht beteuert nun einem Frauenwesen Treue, dem sie zu schenken er keineswegs gesonnen ist; so daß er gegen seine Absicht und ohne sein Wissen ein zweites Mal meineidig wird. Daß auch das Augenzeugnis zuschanden wird, dafür sorgen die mutwilligen Damen, die sich maskieren und ihre Kleinodien, Geschenke der Verliebten, an denen diese ihre Mädchen zu erkennen meinen, vertauschen, so daß nun in einem reizvollen Auf- und Abwandeln der Gruppen, das das Vorbild zu der entsprechenden Szene in Goethes Faust sein könnte, Biron der Prinzessin Treue schwört, der König dafür Rosalinen und Dumaine Longavilles Maria, Longaville aber Dumaines Katharina: neue Meineide . „Verlarvt euch, die Verlarvten nahn", lautet die Parole im Lager der Prinzessin, wie die verliebten Navarresen, als Moskowiter verkleidet, aber belauscht und verraten, ihnen den Hof machen kommen. Die Maskierung provoziert im Spiel, was die Wirklichkeit so oft uns zeigt und was Shakespeare dann in Was ihr wollt zur Darstellung bringt, das Irregehen der Liebe. Doch erhalten hier Verkleidung und Verlarvung noch eine weitere Bedeutung. Maskierte Fraun sind Rosen, unierschlossen, Doch ohne Maske gleich Damaskus-Rosen, Entwölkte Engel, die mit Blüten kosen (V 2). Die Maske als Reiz, als Verhüllung und Verheißung einer höheren und schöneren Wirklichkeit. Die läppischen Moskowiterlarven der Herren dagegen seien, erklären höhnend die Damen, wohl nur Hülle für noch Läppischeres. In dem mißglückten Moskowiterspiel der Navarresen spiegelt sich ihr Versagen auch in jenem ändern Spiel, dem des Geistes, der Askese; und das tölpelhafte Nichtspielenkönnen der Rüpel (der Bauer tritt als Pompe jus auf, der Dorfpfarrer als Alexander!) ist, auf noch einmal tieferer Ebene, Widerhall und dumpfer Abglanz des Nichtspielenkönnens der Herren. Diese jedoch, noch ohne die milde Überlegenheit des Theseus, üben unbarmherzig Witz und Spott an den verwirrten Laienspielern. Die Prinzessin aber sagt: „Spaß wird erst hübsch, wenn er um sich nicht weiß." That sport best pleases that does least know how. Die munteren französischen Damen sind es, die das wirkliche Spiel des Geistes entfalten in diesem Stück, nicht die navarresischen Ritter vom Geist. Diese sehen am Ende ihre Torheit ein, aus Asketen werden drängende Liebhaber. „Ins Gegenteil schlug unser Streben um", sagt Biron, „Eure Schönheit, Ladies, hat uns umgemodelt." Your beauty, ladles, Has mud) deform'd us, fashioning our humours Ever to the opposed end of our intents.

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Doch wird der Selbstverlust als Selbstgewinn erklärt, die Sünde erweist sich als Tugend, die Falschheit wird begnadet. And even that Falshood, in itself a sin, Thus purifies itself and turns to grace (V 2). Biron ist am ehesten legitimiert, so zu sprechen, denn er hat die Torheit des Gelübdes zwar mitgemacht, aber von Anfang an durchschaut. Das Wort Grace, das hier einen weltlichen Klang hat — es ist gnadenvolle Verklärung des Menschlichen — hat er schon früh ausgesprochen. Notwendigkeit wird unsern Eid zerbrechen Dreitausendmal, noch eh drei Jahre schwinden. Denn jeder Mensch hat angeborne Schwächen, Die Gnade nur, nicht Kraft kann überwinden. For every man with his affects is born, Not by might mastered, but by special grace. Nicht unterdrückt, sondern gnadenreich erlöst sollen die Begierden werden. Auch gegen die Methoden des Studiums richtete Biron damals seine Kritik. Er brandmarkte die starre Heteronomie, die auch sie kennzeichnete. Was hat solch armer Grübler je gewonnen Als Satzung, die im fremden Buch zu finden? ... save base authority from other's book. Doch empfahl Biron keineswegs Rückzug auf das eigene Ich, sondern, statt sklavischer Unterwerfung unter einen fremden Geist, den freien Weg zum lebendigen Du: Studiert vielmehr, was Euer Äug entzücke, Indem Ihr's auf ein schöner Auge wendet. Die ändern mögen spotten: „Ei, wie belesen er aufs Lesen wütet" — »Wie rasch fortschreitend er das Gehn verbietet". Biron, der den Widersinn des Gelübdes schärfer durchschaut als sie, darf mit einem gewissen Recht vermuten: „Von allen brech ich wohl den Eid zuletzt" (I 1). Und in der Tat wird er wenigstens als letzter ertappt werden. In einer seiner unvergeßlichen Belauschungsszenen läßt Shakespeare ihn des Königs Liebesgedicht mit anhören. Dann kommt Longaville heran, der König versteckt sich seinerseits und hört den gereimten Liebesunsinn in dessen Sonett. Biron, von beiden ungesehen, glossiert: O brünstige Liebesglut! Das nenn ich Ketzerei! Ein unreif Gänschen verehren, als ob's eine Göttin sei! 201

Und, in der Torheit des ändern die eigene erkennend, fügt er hinzu: „Gott helfe uns, Gott helfe, wir haben uns sehr weit verirrt." Aber schon naht Dumaine, der für seine Liebesklage nun drei Lauscher hat. Biron überblickt die ganze Gesellschaft, die Wesenssituation jedes Zuschauers im Theater geht ihm auf. Es ist ein Spiel aus Kinderzeit. Versteckte, die sich wie Halbgötter vorkommen, beobachten angespannt den auf der Bühne Stehenden, der sein Geheimnis preisgibt — während sie, im gleichen Spittel krank, die selben Säcke zur Mühle tragend, sich fein unbeobachtet glauben. All hid, all hid; an old infant play. Like a demi-god here sit I in the sky, And wretched fool's secrets headfully o'ereye. More sacks to the mill! heavens! I have my wish. Nachdem auch Dumaine sein Gedicht vorgetragen, tritt Longaville hervor und beschämt ihn, darauf beschämt der König Longaville, und schließlich entlarvt Biron auch den König als Verräter, der sich selber verloren: Ein hoher Fürst zu einer Mücke umgewandelt! Biron selber ist nicht belauscht worden — aber sein Liebesbrief wird, durch die Tücke des Geschicks, in eben diesem Augenblick, wo er die ändern Heuchler schilt, herbeigebracht, und er, der Richter der ändern, steht nun auch als Sünder da (IV 3). Noch über Biron thronen die vier Mädchen, welche die vier verliebten Asketen durchschauen und richten — aber nur im Spiel. „Wir sind durchschaut, sie werden uns zu Tode spotten", klagt der König (V 2). Aber ihr Spott ist nicht boshaft, sondern heilsam. Denn sie haben von Anfang an ihre eigene Philosophie des Scherzes. An Longaville tadelte Maria, er habe, bei vielen Vorzügen, zu kecken Witz und allzu dreisten Willen. Von Dumaine aber rühmte Katharina, er habe „Witz, selbst Unform zu verschönern." Und Rosaline sang das Loblied Birons. Mit einem lustgern Mann, Doch in den Grenzen wohlanständigen Scherzes, Hab ich noch nie ein Stündchen weggeschwatzt. Sein Äug schafft seinem Witz Gelegenheit, Denn jedes Ding, das jenes nur erspäht, Verwandelt dieser gleich in heitern Scherz, Den die gewandte Zunge, seines Einfalls Auslegerin, so fein und artig formt, Daß selbst das Alter seinen Reden lauscht Und Jugend ganz von ihm bezaubert wird: So süß und leicht beschwingt ist sein Gespräch (II 1). 202

Damit ist die Funktion echten Scherzes gekennzeichnet: Verzauberung der Wirklichkeit durch das freie Spiel des Geistes. Das ganze Stück sprüht von solch verwandelndem und erlösendem Witz, seine Wechselreden sind weit geistvoller als jene in den weniger sorgfältig gearbeiteten Veronesern. „Recht hübsch gespielt, der Ball flog hin und her", sagt die Prinzessin nach einem Wortgeplänkel Katharinas und Rosalines. Well bandied both; a set of wit well play'd (V 2). Im Auffangen und Zurückwerfen der Worte manifestiert sich die Freiheit des Geistes im Spiel. Mit Recht rühmt Boyet die scharfen Zungen der schalkhaften Mädchen. „Ihre Einfalle sind beschwingt, Süchtiger als Pfeile, Kugeln, Wind, Gedanke und noch Schnelleres." Their conceits have wings, Fleeter than arrows, bullets, wind, thought, swifter things (V 2). Der Gedanke des Menschen vermag frei die Welt zu durchdringen, alle Dinge öffnen sich ihm, er sieht die Beziehungen zwischen Fernstem und Fernstem, die Welt wird erschlossen. Es ist dieselbe Freiheit, welche die Mädchen zur Maske, zur Verkleidung greifen läßt: der Mensch bleibt nicht in den Schranken seiner Natur gefangen, sein Geist befähigt und beschwingt ihn, spielend sich andre Formen zu geben, selbstgewählte und selbstgeschaffene. Gerade weil die vier Französinnen den Geist nicht zum Tyrannen machen, braucht er auch nicht Sklave zu sein wie bei den Navarresen, wo er sich in grotesken Verrenkungen windet. Bei den Mädchen ist der Geist, der Witz, die Phantasie mit Eros im Bunde, der seinerseits weder Tyrann noch Sklave ist. Sie sind, ihre Reden, noch eh sie mit den Herren zusammentreffen, tun es dar, zur Liebe bereit, ähnlich wie Viola in Was ihr wollt. Aber sie brauchen nicht zu drängen. Sie setzen den verliebten Lords, deren sie sicher sind, ein Jahr Frist: auch dies ein Akt der Freiheit. Es scheint ihnen Spaß zu machen, die bekehrten Misogynen eine Weile hinzuhalten und damit weniger zu bestrafen als ihnen Gelegenheit zur Reifung zu geben. Biron, der, ein Vorläufer Benedicks, sonst „der Verliebtheit Geißel gewesen" (III 1), erhält seine besondere Strafe. Er soll Kranke zum Lachen bringen. Rosaline spricht: Oft, Lord Biron, hab ich von Euch gehört, Eh ich Euch sah. Der Welt vielzüngig Urteil Bezeichnet Euch als einen dreisten Spötter Voller Vergleich' und Hohn, die scharf verwunden, Womit Ihr feindlich ringsum jeden zwickt, Der Eures Witzes Gnad anheimfällt. Den Wermut nun aus Eurem Hirn zu reuten Und, wenn Ihr's wollt, zugleich mich zu gewinnen — Denn ohne dies ist kein Gewinnen möglich Sollt Ihr dies ganze Jahr von Tag zu Tag Sprachlose Kranke sehn, sollt stets verkehren 203

Mit siechem Elend. Eur Bemühen sei es, Mit Eures Witzes ausgelassner Laune Zum Lädieln Ohnmacht selbst und Schmerz zu zwingen. Biron unterbricht: Den Mund des Sterbenden zu wildem Lachen? Das kann nicht sein, es ist nicht möglich. Scherz rührt die Seele nicht im Todeskampf. Aber Rosaline fährt fort: Das ist der Weg, den spöttschen Geist zu dämpfen, Der nur von jenem eitlen Beifall zehrt, Den schale Lacher stets dem Narren zollen. Des Scherzes Anerkennung ruht im Ohr Des Hörenden allein, nicht in der Zunge Des, der ihn spricht. Drum, wenn des Kranken Ohr, Betäubt vom Schall der eignen schweren Seufzer Anhört den leichten Spaß, dann fahret fort: Ich will Euch nehmen und den Fehl dazu. Doch wenn's Euch abweist, zügelt Eure Laune, Und Eures Fehlers frei find ich Euch wieder, Durch solche Sinnesändrung hoch erfreut. Und Biron: Zwölf Monde? Nun, wenn's sein muß, Not bricht Stahl! Zwölf Monde treib ich Spaß im Hospital. Komik im Dienste des Lebens — auch hier. Live a little, comfort a little, cheer thyself a little. Was Orlando in Wie es Euch gefällt überlegen und gelöst demonstriert, Rosaline stellt es als exzentrische Forderung auf. Komödie hat, wenn sie echt, heilende Funktion. Sie soll Kranke lachen machen. Wer die Qualen des Körpers für einen Augenblick vergessen kann, weil die Heiterkeit des Geistes Macht über ihn gewinnt, der ist für diese kurze Spanne wirklich frei. Auch Shakespeares Komödien spielen vor Kranken und Krüppeln. Sie wollen diese nicht quälen, sondern befreien und beglücken. Scherz täuscht über Leiden und Kümmernisse hinweg — es ist eine legitime Täuschung, sie stammt aus der Freiheit der Seele. Echter Scherz ist nicht Spott, der den ändern erledigt, sondern Begnadung, die ihn erlöst; ist gnadenvolle Überwindung des Körpers durch den Geist, des Bedingten durch das Unbedingte. Deshalb muß Biron sein Meisterstück in einem Spital ablegen — Shakespeare das seine in dem großen Hospital, das sich Welt nennt. Was die Damen in heiterem Spiel verwirklichen, den Triumph des Geistes, das suchen die Herren in sturem Ernst zu erzwingen. Die Doppelpoligkeit aller Dinge bewahrheitet sich auch hier. Wenn bei den Damen Eros und

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Geist anmutig vereint sind, so daß sie in heiterer Freiheit sich bewegen, ja die menschliche Freiheit selber zu verbildlichen scheinen, ist bei den Herren der Geist bald Tyrann, bald Sklave, und ganz ebenso, im Wechsel dazu, die Liebe. Wenn dort die Synthese von Natur und Freiheit zur Erscheinung kommt, so herrschen hier Widerstreit und Verrenkung. Geist, seinem Wesen nach Befreier, ist Unterjocher, und Liebe, die jede Kraft verdoppeln sollte (and gives to every power a double power), führt vielmehr zur Verdummung (Once more I'll mark how love can vary wit IV 3). Scharfsinn muß Albernheit stützen. Und doch geht auch das Bestreben der Navarresen letztlich von einem legitimen Bedürfnis aus; die Spannung zwischen Geist und Natur ist bei ihnen, als bei Männern, stärker und schärfer, ihre Reaktion daher verkrampft. So study evermore is overshot, sagt Biron. „So schießt Studium je und je übers Ziel" (I 1). Was der Mann mit harter Überspannung erstrebt: Freiheit des Geistes, die Frau verwirklicht es leichter, fast spielerisch, und von ihr her kommt nun auch ihm Hilfe. „Gesellschaft — sagt die Schrift — ist die Glückseligkeit des Lebens", verkündet der Dorfpfarrer Nathanael (IV 2). Love's labour's lost ist eine Feier der Gesellschaft, des Gesprächs, des freispielenden Geistes. Biron weist seine Gefährten von Anfang an auf das Du hin, und wenn die vier Herren dann auch recht unbeholfen den Kontakt mit ihren Erkorenen suchen, so sind die Damen dafür um so gewandter. In den Wortkaskaden des Pfarrers, Pedanten der Beredsamkeit, des Schulmeisters, Pedanten der Gelehrsamkeit, und in den Schnörkelreden des verliebten Spaniers Armado karikiert sich die Geistesüberspanntheit der Navarresen, sie sind der Zerrspiegel für die Akademie der Adligen. (Auch diese Rüpelszenen sind vollkommener gearbeitet als die Dienergespräche in den Veronesern). Und doch wird nicht nur das Lächerliche, sondern zugleich auch das tiefere Recht der Geistesanspannung, die natürlicherweise leicht der Gefahr der Überspannung verfällt, spürbar. Sollte es Birons Spaßen wirklich gelingen, die Kranken zum Lächeln zu bringen, so daß für Augenblicke ihre Abhängigkeit vom Körper und vom Schicksal aufgehoben wäre, dann wäre seine Leistung größer als jene Rosalines, die nur ihm, nicht aber sich selber solch hochgespannte Aufgabe stellt. Männliche Anspannung ist an sich ebenso notwendig und ebenso wertvoll wie weibliche Gelöstheit und Grazie, ganz ähnlich wie der herbe Vers sein Recht neben der weichen Prosa durchaus behauptet. Als Longaville, weil er die Starrheit seiner Verse spürt, den Vers ganz und gar aufgeben will, da scherzt Biron: „Reime sind Schleifen an Cupidos Hose, verdirb ihm den Besatz nicht!" (IV 3). Verlerne Liebesmüh zeigt die Überwindung männlicher Starrheit durch weibliche Anmut — nicht durch Zerstörung, sondern eben durch Begnadung. Aus dem Vers soll keineswegs Prosa werden, aber der Vers soll sich mit Musik erfüllen. Biron darf weiter scherzen, wenn sein Scherz sich wirklich zu bewähren weiß. 205

KRITIK UND PREIS DES LEBENS Den drei frühen Komödien, in denen Shakespeare noch ein Lernender ist, schließt sich wenige Jahre später der Sommernachtstraum an, ein Spiel der Liebesirrungen, der Verwirrung der Gefühle und der Sphären, wo die Reiche der Götter, der Menschen und der Esel phantastisch durcheinanderblitzen — es ist die Traumwelt eines frei und überlegen spielenden Dichters. Er steht nicht mehr im Banne erlernter Formen und überkommener Motive, aber er verfügt über sie. Starrheit und Schulmäßigkeit sind, bis auf geringe Reste, verflogen, Musik, Poesie, Humor durchdringen das Ganze, das Hochzeitsfestspiel wird zu einer Feier der dichterischen Phantasie, und die Elfen weihen nicht nur das Haus der Neuvermählten, sie läuten Shakespeares eigentliche Lustspieldichtung segnend ein, so wie sie später, im Sturm, froh und traurig von ihm Abschied nehmen. Dem Sommernachtstraum (s. oben S. 156 ff.) folgen eine Reihe von Komödien, die sämtlich die Überwindung von Widerspenstigen oder Exzentrikern zum Thema haben. In Der Widerspenstigen Zähmung ist es eine wilde Keiferin, im Kaufmann ein quälerischer Wucherer, in den Lustigen Weibern ein geiler und üppiger Liebhaber aller Lüste, die überwunden oder genasführt werden, und in Viel Lärm um nichts keh'rt das Lieblingsthema von d«r Verwandlung der Spröden wieder, Biron und Rosaline, Petruchio und Katharina erfahren in Benedick und Beatrice ihre Auferstehung, ihre Verklärung. Überwindung kann Überwältigung oder Verwandlung sein. Jene bedeutet für den Besiegten nur Niederlage, diese zugleich Beglückung: Ziel der hohen Komödie. Katharina wird geheilt, Beatrice und Benedick ebenso, Falstaff aber wird nur geäfft, und Shylock wird vernichtet. Shakespeares Komödie ist niemals nur Satire, sie ist immer zugleich auch Feier des Lebens, gerade im Kaufmann und in den Lustigen Weihern. Aber nur dort, wo die „Zähmung" zugleich Befreiung bedeutet, Befreiung des Verrenkten zu sich selber, ist das eigentliche Ziel der Komödie voll erreicht. Das war in der Verlornen Liebesmüh der Fall, in gewisser Art auch in den Veronesern. Jetzt aber wird es nur gerade noch in der Posse verwirklicht, die ändern Spiele scheiden zwischen Beglückten und Besiegten, die unversöhnt, unverwandelt, vielleicht sogar zerstört beiseite gehen, so wie schon Egeus im Sommernachtstraum. Gefühle der Resignation, der Trauer oder gar der Bitternis fließen in die Komödie ein, ein ferner und leiser Vorklang der dark comedies.

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Der Widerspenstigen Zähmung O, that once more you knew but what you arel O daß Ihr endlich einsäht wer Ihr seid! The Taming of the Shrew scheint auf den ersten Blick nichts weiter als eine groteske Posse. „Eine böse Sieben, die als ein rechtes Hauskreuz die Ihren plagt", soll gebändigt werden. „Ein roher Kumpan", der „nur eine Frau mit viel Geld sucht", kuriert sie durch seine groben Methoden so gründlich, daß sie nach der Kur an Unterwürfigkeit alle ändern Frauen übertrifft. „Nun kann sie wie ein wohl abgerichteter Pudel den Ihrigen vorgeführt werden." Und, „Triumph der Dressur: das gezähmte Raubtier apportiert die Peitsche seines Herrn", Katharina predigt den ändern Damen Gehorsam gegen den Ehemann. So sieht Levin L. Schücking die Dinge. Für ihn ist Der Widerspenstigen Zähmung eine mit genialem Schmiß hingeworfene Posse. Es wäre in der Tat verfehlt, hier nach der psychologischen Entwicklung zu fragen. Realistisch gesehen ist das Stück ein toller Unsinn; schon die äußeren Vorgänge sind völlig unglaubhaft; die Reaktion Katharinas, ihre Bekehrung von der teuflischen Keiferin zur fröhlichen Dienerin ihres Gatten, und gar durch solche Methoden, erhebt gewiß keinen Anspruch auf psychologische Wahrscheinlichkeit. Das Stück geht motivisch auf ein beliebtes Schwankmärchen zurück, und wie das Märchen, so ist auch die dramatische Posse grotesk stilisiert. Sie ist in sich selber nicht psychologisch-realistisch, ebensowenig wie das Märchen, und des Verfassers Absicht war kaum, mit diesem Stück sein Frauen-, sein Gatti.nnenideal darzustellen. Und doch darf man mit Tranio sagen: He hath some meaning in his mad attire, „der närrische Aufzug hat gewiß Bedeutung" (III 2), und mit Grumio: The conceit is deeper than you think for, „die Meinung geht tiefer als Ihr denkt" (IV 3). Es geht keineswegs darum, psychologischen Tiefsinn in das Stück hineinzuschmuggeln; wer das barocke Theater, wer die barocken Züge in Shakespeares Werk kennt, dem ordnet sich die ausgelassene Posse ganz von selber in die großen Zusammenhänge, und die geistige Bedeutung und Wirkungskraft der Vorgänge tritt zutage. Das Grundmotiv wird, das ist die Aufgabe des Rahmenspiels, von allem Anfang an sichtbar gemacht. Es ist das der Verkleidung. Wenn in den Veronesern und in der Verlernen Liebesmüh Verkleidungen sporadisch vorkamen und mit leichter Hand ins Spiel eingefügt waren, so wird die Verkleidung hier zum zentralen Thema, das in der eröffnenden Rahmenhandlung mit umständlicher Bedeutsamkeit eingeführt und nachher in schwindelerregender Vielfalt entwickelt wird. Eine heimkehrende Jagdgesellschaft stößt auf einen schlafenden Betrunkenen. Der Jagdherr, in dem das Leben rasch und heiß pulsiert, stutzt. 207

O scheußlich Tier! Da liegt er wie ein Schwein! Graunvoller Tod, wio ekel ist dein Abbild! Der leblos Daliegende scheint nicht mehr Mensch, er hat sich selbst verloren, ist zum Tier geworden und zum Toten. Blitzartig leuchtet es dem Betrachter auf — in dem Betrunkenen hat er das Bild des tierischen, dem Tod verfallenen Menschen vor sich. Da kommt ihm der rasche Einfall, das, was der Rausch bewirkt hat, auf anderer Ebene und in anderer Richtung weiter zu treiben, der Kesselflicker soll auch im Wachen sich selber verlieren. Er wird in vornehme Kleider gesteckt, man redet ihm ein, er sei ein großer Lord, nur im Wahn habe er sich eingebildet, ein Bettler zu sein... So soll die Wirklichkeit ihm Traum und Wahn erscheinen, das Blendwerk Wirklichkeit. Es ist das große Thema der Verwirrung von Schein und Sein, von dem der Barock fasziniert war, das sein religiöses Denken, seine Kunst, all seine Spiele beherrschte. „Würde der Bettler nicht sein selbst vergessen?" fragt der jagdlustige Lord, nachdem er seinen Plan entwickelt. Der sich zum Tier gemacht hatte, soll nun, im Spiel, zum großen Herrn befördert werden — vielleicht wird er vergessen, daß er Bettler war. Vielleicht kann Verkleidung verwandeln. Der Mensch kann, indem er sich verliert, in erschreckende Tiefen sinken — vielleicht kann er sich auch über sich erheben, das niedere Ich verlieren und ein höheres finden. Gerade das ist es, was nun dem Kesselflicker - zur guten Stunde sind, wie dann im Hamlet, Schauspieler in das Haus des reichen Lords gekommen — als Spiel im Spiel vorgeführt wird. Er, der selber der Beobachtete, der Angeschaute, der Zeitvertreib der ändern ist — „Es wird ein schön ausbündger Zeitvertreib", sagt der Lord - wird seinerseits zum Zuschauer gemacht, er soll durch eine pleasant comedy ergötzt werden: Denn also halten's Eure Ärzte dienlich, Weil zu viel Trübsinn Euer Blut verdickt Und Melancholie des Wahnsinns Amme ist. Deshalb schien's ihnen gut, Ihr säht dies Spiel Und lenktet Euren Sinn auf muntren Scherz: Dadurch wird Leid verbannt, verlängt das Leben. Diesmal sind es Berufsschauspieler, nicht Handwerker wie im Sommernachtstraum. Wenn dort die Rüpel unsinnig spielen und die Gebildeten lächelnd zuschauen, so spielen hier Künstler, und der Rüpel sitzt verständnislos davor. Ihr Spiel aber handelt gerade von dem, was ihn dringend angehen müßte, von Verkleidung, Verstellung, Maske, Verwandlung, Wahn. Wenn der Kesselflicker durch die Laune des Lords in prächtige Kleider gesteckt und zum vornehmen Schloßherrn gemacht wird, so ist das nicht nur Posse; die Vorstellung des Welttheaters steckt dahinter, in märchenhaftem 208

Spiel ahmt der Lord für einen Augenblick das Tun Gottes nach. So wie Gott im Welttheater die göttliche Seele des Bettlers schließlich von ihrer niederen Rolle erlöst und in ihr eigentliches Sein treten läßt, so wie das Märchen Aschenputtel zur Prinzessin, den Schweinejungen zum Prinzen macht, so erhebt der Lord den Bettler zum hohen Herrn. Jedesmal ist Schmutz das Erscheinungsbild der niederen, Glanz und Pracht das der höheren Daseinsform. Was im göttlichen Welttheater und im einfachen Volksmärchen im Ernst, das geschieht freilich hier im Hohn: denn der Regisseur weiß zum voraus, daß der Trunkenbold sich nicht verwandeln lassen wird. Darin liegt bittere Ironie gegen den Menschen überhaupt: Statt an sein höheres Selbst zu glauben und es zu verwirklichen, erniedrigt er sich lieber zum Tier und schändet sein Leben. In die Rolle des Lords kann der Bettler sich nicht finden, wohl aber in die des Schweins; im Trunke, besinnungslos an der Erde liegend, nimmt er seinen Tod voraus. Das Thema der Haupthandlung jedoch, die nun vor des Bettlers trüben Augen vor sich geht, ist gerade das der Verwandlung. Die böse Katharina legt all ihre Bosheit ab und wird zur sanften Taube — ohne die Schärfe ihres Geistes zu opfern. Im nur leicht angedeuteten Gegenspiel gewinnt ihre allzu sanfte Schwester stärkere Eigenkraft. Keine der beiden Entwicklungen wird psychologisch glaubhaft gemacht, es ging dem Dichter offensichtlich nur darum, ein grell sichtbares Schema der Verwandlung zu geben. So wie der Mensch in der schmutzigen Bettler- oder gar Tierrolle sich selber entstellt und verkennt, so entstellt und verkennt sich die Frau als Keiferin. Petruchio ist es, der sie aus dieser Entstellung erlöst. Er nimmt, um Katharina zu heilen, selber die Maske des rücksichtslosen Cholerikers an und erreicht so zweierlei: Er hält Katharina den Spiegel vor und läßt zugleich dieses Spiegelbild scharf auf sie zurückwirken. Ihre eigene Bosheit tritt ihr von außen entgegen, greift nach ihr, mißhandelt sie, so wie sie bis dahin die ändern mißhandelt hatte. „Er macht sie tot in ihrer eigenen Manier", he kills her in her own humour (IV 1), das heißt: Sie ist es schließlich selber, die sich bekämpfen muß und überwinden darf. Beim ersten Anprall, als Petruchio die Keiferin ganz gegen ihren Willen für seine Braut erklärt, ist sie nach allem was vorgegangen so perplex, daß es ihr das Wort verschlägt. Petruchios Verstellung aber ist mit der Bezeichnung „Maske des Cholerikers" noch nicht in ihrem ganzen Umfang erfaßt. Sie ist, wie die so mancher anderen Figuren in Shakespeares Werk, differenziert, mehrfach gebrochen. Er skizziert seine Methode selber. Schmält sie, so sag ich ihr ins Angesicht, Sie singe lieblich gleich der Nachtigall. Er stellt sich entzückt statt empört und tut ihr gerade damit Gewalt an, zwingt ihr eine Maske auf, die sie gar nicht will — und die doch wohl ihrem 209

innersten, ihr selber unbekannten Wesen entspricht, das dann am Schluß des Stückes in Erscheinung tritt. Petruchio stellt sich entzückt statt empört - in einer tieferen Schicht seines Wesens ist er wirklich irgendwie entzückt und bezaubert durch die Ungebärdigkeit des Mädchens. Nun, meiner Seel, es ist ein muntres Kind, Nun lieb ich zehnmal mehr sie als vorher, Wie sehn ich mich, ein Stück mit ihr zu plaudern! (II 1). Das ist ironisch gemeint, aber man spürt, das Spiel macht Petruchio Spaß, das wilde Mädchen hat seinen Reiz für ihn. Wirkliches Entzücken, höhnisches Entzückensgaukelspiel, wahrer und gespielter Zorn gehen in Petruchios Gehaben vielfältig durcheinander. Nach der Hochzeit spielt er den Rücksichtsvollen, wo er in Wirklichkeit seine Frau rücksichtslos roh behandelt. Aber auch diese Roheit ist ja Maske, Pädagogik. Er ist zwar übermütig und frech, aber nicht roh und lieblos, wie es Katharina scheinen muß. Ich sterb aus Hunger, bin vom Wachen schwindelnd, Durch Fluchen wach, durch Zanken satt gemacht. Und was mich mehr noch kränkt als dies, Er tut es unterm Schein der zartsten Liebe; Als könnt's nicht fehlen, wenn ich schliefe, äße, Würd ich gefährlich krank und stürbe gleich (IV 3). In Wahrheit fühlt der vollblütige Petruchio wirklich so etwas wie Liebe für die, die zu bändigen er unternommen hat. Er spielt nur den Lieblosen, kleidet aber diesen Schein der Lieblosigkeit in virtuosem Spiel in den Schein liebender Fürsorge — so daß, wie öfters in Shakespeares Spielen, die äußerste Maske wiederum dem Kern entspricht: Es ist ja wirklich nicht nur eigenes Interesse, sondern zugleich Fürsorge für Katharina, daß er sie von ihrer sie entstellenden Bosheit zu kurieren bemüht ist. Katharina glaubt, sie sei die einzige, die keine Maske trage. Mein Mund soll meines Herzens Ärger sagen, Sonst wird mein Herz, verschweig ich ihn, zerspringen (IV 3). Petruchio dagegen setzt sich mit voller Bewußtheit Masken auf, er stülpt gar deren mehrere übereinander und läßt die eine durch die andere hindurchschimmern. Im Grunde ist gerade der so vielfach Maskierte der Offene, der, als er nach Padua kommt, sich und ändern eingesteht: Ich komm zur reichen Heirat her nach Padua... Wißt Ihr also nur Ein Mädchen, reich genug, mein Weib zu werden, — Denn Gold muß klingen zu dem Hochzeitstanz — Sei sie... so zänkisch und erbost 210

Wie Sokrates" Xanthippe, ja noch schlimmer: Ich kehre mich nicht dran ... (12). Damit soll Petrudiio nicht als besonders materialistisch gebrandmarkt werden, auch Hortensio will ja reich heiraten, Baptista gibt seine Tochter dem Meistbietenden, und in den Lustigen Weibern ist der Reichtum des Vaters der erste Anlaß für Fentons Werbung um Anne. Handfeste Lebensfreude, humorvolle Kraftmeierei und frische Offenheit sprechen aus Petruchios Rede. Katharina aber, die sich maskenlos glaubt, versteht sich selber nicht; nicht nur vor ändern, auch vor sich trägt sie die Maske der Zänkerin. „O daß Ihr endlich einsäht, wer Ihr seid": dieses im Vorspiel spaßig ernsthaft zum Kesselflicker gesprochene Wort gilt auch für Katharina, es gilt, in der barocken Weltauffassung, für alle Menschen. Es gilt für den Bettler, der seine göttliche Seele, es gilt für Katharina, die ihre Liebesfähigkeit entdecken sollte. Der Vergleich mit Brynhild, den man gezogen hat, scheint stillos, ist aber der Sache nach nicht abwegig. Olivia in Was Ihr wollt zieht sich in die Isolation zurück und lenkt, ohne es zu wollen, gerade dadurch die Liebe des Herzogs auf sich, Katharina führt sich kratzbürstig und abweisend auf, schreckt so alle, die ihr nicht gewachsen sind, ab, und zieht, ohne es zu ahnen, den ihr bestimmten Freier herbei. Sie spielt, unwissend, daß es nur ein Spiel ist, die Ungebärdige, Asoziale, und Petruchio kuriert sie, indem er ihr gegenüber seinerseits, und nun bewußt, den Asozialen — dazu noch mit der höhnischen Larve des Rücksichtsvollen - spielt. Er erlöst sie aus der Verrenkung zu ihrem eigentlichen Wesen, aus der Zänkerin wird ein liebevolles Weib. Dies alles nicht realistisch, sondern in grellen Farben dargestellt, mit der Übertreibung der Groteske — es ist das König-Drosselbart-Motiv. Wie das Märchen, gibt der Komödiendichter nicht Wirklichkeit, aber Wahrheit. Wie das Märchen liebt er das Wunder, und hier, in der ausgelassenen Posse, ist es ein Groteskwunder. Hinter dem grellen Bild aber steht die geistige Wirklichkeit. Die Nebenhandlung untermalt das Hauptgeschehen mit einer wahren Symphonie von Verkleidungen, Maskierungen und Demaskierungen — äußeren Verwandlungen also, die die geistige Verwandlung imitieren und verbildlichen. Lucentio aus Pisa, der sich in die sanfte Bianca, Katharinas Schwester, vergafft, tauscht mit seinem Diener Tranio die Kleider. Er will in dieser Vermummung als Hauslehrer der Gelehrsamkeit und der Poesie sich seiner Angebeteten nahen, mit ihr die Ars amandi „studieren" und sie für sich gewinnen. „Ich werd ein Knecht, dies Mädchen zu erobern" - Umkehrung des Hauptmotivs im Rahmenspiel, wo ein Knecht (slave) zum Lord verkleidet wird. Der Diener Tranio aber soll indessen den Lucentio spielen. Du sollst an meiner Statt als Herr gebieten, Haushalten, Studien treiben, Freunde sehn... 211

Tranio spielt gehorsam den Herrn, nicht ohne auf die bizarre Selbstverkehrung des Gehorchens ins Befehlen aufmerksam zu machen. In summa, Herr, da es Euch so gefällt Und meine Pflicht es ist, Euch zu gehorchen, Denn das gebot Eur Vater mir beim Abschied: „Sei meinem Sohne stets zu Dienst", so sprach er — Wiewohl ich glaube, daß er's so nicht meinte — Geb ich Euch nach und will Lucentio sein (I 1). Dem ändern Diener aber wird eingeredet, Lucentio müsse sich zu seinem Schutz verkleiden, da er, das Romeo-Motiv klingt an, im Zank einen Mann getötet habe. Zum Überfluß wirbt nun ein anderer Verehrer Biancas, Gremio, den als Lehrer auftretenden Lucentio noch an, bei Bianca heimlich für seine Zwecke tätig zu sein, und Lucentio sagt fröhlich zu: Was ich auch les, ich führe Eure Sache, Als meines Gönners, dessen seid gewiß, So treu, als ob Ihr selbst zugegen w ä r t . . . (I 2). Aber anders als Viola, die gegen ihr eigenes Interesse mit vollem Einsatz für den Herzog wirbt, ist Lucentio vielmehr entschlossen, dem, dem er Treue verspricht, sein Püppchen wegzustehlen. So trägt er eine verwirrende Vielzahl von Masken. Er spielt zunächst seinen eigenen Diener, dann den gelehrten Pädagogen, für seinen zweiten Diener trägt er die Maske eines verfolgten Totschlägers und für Gremio die des treuen Werbers. Hortensie aber, ein dritter Liebhaber Biancas, verkleidet sich, in derselben Absicht wie Lucentio, als Musiklehrer, und nun treten beide samt Tranio, alle drei in falscher Gestalt, Lucentio mehrfach maskiert, in Biancas Haus. Der als Lucentio auftretende Tranio hält um Biancas Hand an (für Lucentio) - und schafft, um eine reiche Morgengabe versprechen zu können, einen falschen Vater, einen falschen Vincentio herbei - auch der Akteur dieser Rolle wird noch durch eine Gaukelei, die Maske wird durch eine Maskerade gewonnen: einem mantuanischen Magister wird eingeredet, er müsse sich verkleiden, um sein Leben zu retten, denn — was in der Komödie der Irrungen Wahrheit, ist hier Farce — Tod sei verhängt für jeden, der von Mantua nach Padua komme. So ist denn der „Pedant" hochdankbar, Lucentios Vater Vincentio spielen zu dürfen, wird dann freilich unsanft mit dem unversehens auftauchenden echten Vincentio zusammenstoßen ... Den Wirbel der Verkleidungen voll zu machen, stürzt sich in der Haupthandlung Petruchio in ein bettelhaftes Hochzeitsgewand — Umkehrung des Rahmenmotivs, Parallele zum Kleidertausch des Lucentio - und im Rahmenspiel wird ein junger Page in Damenkleider gesteckt, um des getäuschten Kesselflickers Scheingemahlin vorzustellen: 212

Ich weiß, der Knabe wird den feinen Anstand, Gang, Stimm und Wesen einer Dam entwenden ... Geistig aber macht Petrudiio die Sonne zum Mond, einen alten Mann zu einem jungen Mädchen, und Katharina, die alle die verrückten Sprünge ihres Gemahls mitmachen soll, ruft entrüstet: „Ihr wollt mich wohl zur Marionette (puppet) machen!" (IV 3). Und wirklich, es gelingt ihm. Als er den Greis für eine schöne Dame erklärt, da überfällt sie wie ein Automat „den Mann, den er zur Frau gemacht" mit einem Schwall von Worten: Aufblühnde Schöne! frische Mädchenknospe, Wohin des Weges? Wo ist deine Heimat? Glücklich die Eltern von so schönem Kind! Glückseiger noch der Mann, dem günstge Sterne Zur holden Bettgenossin dich bestimmen! Sie gehorcht — aber mit feinem Hohn in ihrer Anrede weit über das von Petruchio Verlangte hinausgehend. Sie begrüßt den verblüfften Alten wie weiland Odysseus Nausikaa - es scheint ihr Spaß zu machen, geistesgegenwärtig in den Schatz ihrer Bildung hineinzugreifen und mit spöttischer Überlegenheit das passende Zitat anzuwenden. Und als dann Petruchio, um sie in der Gefügigkeit zu üben, dementiert: Was! Käthchen! Ei, ich hoff, du bist nicht toll. Das ist ein Mann, alt, runzlig, welk und grau, Und nicht ein Mädchen, wie du es behauptest — da ist sie gar nicht verlegen, geht zwar, wie die Hofschranzen bei Hamlet, willig auf seine neue Schwenkung ein, weiß die Wendung aber anmutig zu begründen: Verzeiht dem Wahn der Augen, alter Vater; Die Sonne traf mir blendend das Gesicht, Und was ich sah, erschien mir jung und grün. Nun merk ich erst, Ihr seid ein würdger Greis.; Verzeiht, bitt ich, dies törichte (mad) Verkennen (IV 5). Katharina verliert mit ihrer Bosheit keineswegs zugleich auch den Geist. Liebedienerische Wendigkeit, in Shakespeares Werk sonst negativ gesehen, erhält hier den Glanz der Ironie. So wie der Kesselflicker künstlich in die Rolle eines Lords geschoben ward, so schiebt Petruchio künstlich die Sonne in die Rolle des Mondes, den alten Vincentio in die eines jungen Mädchens, und Katharina in die Rolle der Sanften und Jasagenden. Und siehe, sie läßt es sich schließlich ebenso gefallen, wie der Kesselflicker es sich gefallen läßt, den Lord zu spielen. Daß der so gar nicht merkt, wie sehr ihn das ihm vorgespielte Stück angeht, wie 213

es, nur in Verkleidung, das Thema seines eigenen Ergehens ist — daß er vor einem solchen Stück, wo seine Sache abgehandelt wird, sich langweilt und einschläft, mutet wie ein versteckter Hohn Shakespeares auf sein Publikum an. „Ich wollte, das Stück war aus" (11). Der Rahmen ist aus irgendwelchen Gründen (schlechte Überlieferung?) nicht vollständig, er wird, anders als in Shakespeares Vorlage, am Ende nicht geschlossen. Trotzdem dürfte er bei Aufführungen nicht einfach weggelassen werden, er ist als Stilelement, als Parallele, Kontrast, Spiegelung ein wichtiger Bestandteil dieser barocken Posse, in der, wie so oft, Schauen und Angeschautwerden sich vielfältig durchdringen. Schon das Spiel im innersten Raum, die Zähmung der Widerspenstigen und Gewinnung der von ihrem Vater bewachten Sanften macht seine Personen gegenseitig zu Belauschenden und Belauschten. Diesem Spiele guckt der Kesselflicker zu, ohne es, trotz seiner Stellung als Überschauender, im geringsten zu verstehen. Die Vornehmen überschauen das Stück der Schauspieler und zugleich das des Kesselflickers, den sie zu ihrer Marionette gemacht haben — das Publikum schließlich überblickt das Ganze - es mag zusehen, daß es ihm nicht geht wie dem Kesselflicker. Der Widerspenstigen Zähmung ist die ausgelassene und zugleich schalkhaft bedeutungsvolle Komödie der Verkehrung, so wie Lear die bittere Tragödie der Verkehrung ist. Das Hauptmotiv taucht arabeskenhaft in manchen Spiegelungen auf, etwa in Grumios Eulenspiegeleien oder in seiner Auskunft „Der Haber hat die Pferde schon gefressen" (III 2). Und wenn im Lear der Narr höhnt, der König habe seine Töchter zu seinen Müttern gemacht (14), so will hier Tranio in seiner Rolle als Lucentio sich einen Vater zeugen. Mein Plan ist fertig, meinem Herrn zu dienen. Lucentio der falsche Zeugt einen Vater, Vincentio den falschen. Und das ist Wunders gnug. Sonst sind's die Väter, Die sich die Kinder zeugen, allein für unser Frein hier Erzeugt das Kind den Vater, will nur die List gedeihn mir (II1) In der Komödie aber löst sich, anders als in der Tragödie, alle Verkehrung ohne Schaden, oder sie wird den Betroffenen zum Heil. Sie finden, durch alle Verkleidungen und Maskierungen hindurch, dank ihnen oder trotz ihnen, sich selber und den ändern, den ihnen gemäßen Partner, und Lucentio darf füglich von Wunder sprechen. „Zwar spät, doch endlich stimmt, was Mißklang schien", our jarring notes agree — der eingeschlafene Kesselflicker aber, der sich nicht zu finden, nicht zu wandeln vermag, es sei denn zum Tier, wird einfach vergessen. „Was! wollt Ihr mich verrückt machen?" ruft der Kesselflicker denen, die ihr Spiel mit ihm treiben, zu. Und darauf gehen jene wirklich aus, ähnlich 214

wie Olivias Hausgesinde Malvolio künstlich zum Verrückten macht. Der jagdfreudige Lord will keineswegs den Bettler in eine höhere Existenz erheben, das ist nur der geheime, ihm selber verborgene Sinn seines Tuns, der freilich rein bildhaft deutlich genug offenbar wird. Was der einfallsfrohe Lord wirklich will, was ihm Spaß macht, ist den Bettler verwirren, ihn an sich selber irr machen, ihn einem Wahn ausliefern. Es ist eine eigene Lust des Menschen, das spielerisch selber zu bewirken, was sein eigentliches tragisches Schicksal ist: Unkenntnis seiner selbst, Verwirrung, Wahn. Ja es ist das Wesen der Komödie, daß sie Schicksal als Freiheit darstellt, Schicksal zu Freiheit werden läßt: als ob wir das freiwillig auch täten, was wir gezwungen tun müssen. Bei Coriolan ist es nur eine große, schmerzgeborene Gebärde, wenn er erklärt: Ihr verbannt nicht mich, ich verbanne euch! Die Verbannten in Wie es euch gefällt aber vermögen wirklich die Verbannung als Befreiung aufzufassen. Die Not zwingt Rosalind, Jünglingskleider anzulegen, sie aber läßt es sich zum Vorteil werden. Freiwillig spielt sie die Rolle der sich Versagenden, um so die Liebe des Bewerbers und ihre eigene nur zu steigern. Und Katharina, die Widerspenstige, vermag schließlich ihre Niederlage als Beglückung zu empfinden. Im Rahmenspiel aber wird das, was des Menschen unentrinnbares Schicksal ist: Wandeln im Wahn, im Schein, in der Täuschung, als freies, übermütiges Spiel eigens in Szene gesetzt.. Die Freiheit liegt hier nicht beim Betroffenen, sondern bei den Veranstaltern und Zuschauern: Nie fühlt man sich selber so frei, wie wenn man überlegen — scheinbar überlegen - die Verwirrung und Verstrickung eines anderen erkennt und sich daran weidet. Das freilich ist nicht die Freiheit der echten Komödie, sondern nur die der Posse. Echte Komödienfreiheit hingegen kommt, nicht psychologisch, aber symbolisch, in Katharinas Jasagen zu ihrer neuen Daseinsform zum Sieg. In der Komödie steht der Geist im Dienste des Lebens, aber zugleich das Leben im Dienste des Geistes. Das lustige Spiel vertreibt den Trübsinn: „Dadurch wird Leid verbannt, verlängt das Leben" (vgl. oben S. 208). Aber dieses Leben ist nur lebenswert, wenn es das Wunder verwirklicht — ein im Verlaufe des Stückes mehr als einmal ausgesprochenes Wort — das Wunder der Verwandlung und damit der Selbstverwirklichung des Menschen. „Und nichts als sitzen, sitzen, essen, essen", sagt Petruchio einmal, wohl wissend, daß darin der Sinn des Lebens nicht bestehen kann (V 2). „Gesundheit jedem, der da schoß und fehlte!" Er aber schießt und trifft. „Ich ward geboren, dich zu zähmen, Käthchen" (II 1). Bei der Lösung dieser ihm gestellten Aufgabe - sie ist ihm vom Geschick zugeteilt und er übernimmt sie freiwillig - scheut er sich nicht, aus voller Freiheit des Geistes die entstellendste Maske anzunehmen. „Sich selbst so gar nicht ähnlich" nennt ihn Tranio, als er im schäbigen Hochzeitsgewand erscheint. Während der Kesselflicker unentrinnbar ein niedriger Bettler bleibt, erniedrigen Lucentio und 215

Petruchio sich freiwillig. Sie verfolgen damit ihre bestimmten Absichten, gleichzeitig aber tun sie es mit so viel fröhlichem Übermut, daß uns die Freude des Menschen, sich zu verkleiden, und das heißt die Freude, das aus sich zu machen, was man sein will, hell entgegenklingt. Diese Freiheit des menschlichen Geistes spricht auch aus den Eulenspiegeleien — wenn Grumio seinen Herrn mutwillig mißversteht, was ihm freilich körperlich schlecht bekommt: er wird durch Schläge sogleich wieder sehr deutlich an seine Unfreiheit erinnert —,aus der spielerischen Zeugung des Vaters durch den Sohn (oben S. 214), aus Petruchios freiem Umspringen mit den äußeren Gegebenheiten. „Ei, selbst die Sonne will der Herr regieren", sagt Hortensio von ihm (IV 3), und wirklich macht er kurz darauf die Sonne zum Mond ebenso wie den alten Vincentio zum frischen Mädchen. Katharina aber vermag sich hier, einem Zuspruch Hortensios folgend, endlich aufzufangen, sie beginnt ihre neue Rolle zu spielen, und das nicht zähneknirschend, sondern sogleich mit vollendeter Grazie, als ob sie es aus lauter Lust täte. Mit souveränem Automatengeplapper preist sie Vincentios mädchenhafte Schönheit, um gleich darauf, mit beglückender Schmiegsamkeit des Geistes, ihr „Versehen" zu entschuldigen (oben S. 213). Äußerer Zwang und innere Freiheit, Marionettenstarre und lebendige Schmiegsamkeit des Geistes einen sich an dieser Stelle. Und dies ist der Sinn des ganzen Stücks. Es feiert den Sieg des Geistes über das unsinnige und formlose Leben und gleichzeitig den Triumph des Lebens über den eigensinnigen, verbohrten, verrenkten Geist. Das aber erhebt die einfache, mit rohen Mitteln munter ihrem Ziele zustrebende Posse zur eigentlichen Komödie im vollen, hohen Sinne des Wortes.

Der K a u f m a n n von Venedig Weil nichts so stöckisch, hart und voll von Wut, Das nicht Musik auf eine Zeit verwandelt. Lautes und lebhaftes Getriebe, stoßkräftiges Handeln bestimmen die Dramatik der Widerspenstigen. Während in der feineren, kunstvolleren Komödie der Irrungen ein Geschehen das andere bedingte, so daß die einzelnen Ringe sich zur Kette fügten, führt Petruchio seine Schläge in primitiver Aneinanderreihung, ohne daß der eine den ändern nach sich zöge; die Reihe der Bosheiten könnte sich noch weiter fortsetzen oder auch schon früher abgebrochen werden. Doch verwischt Shakespeare den Eindruck der bloßen Häufung, nicht nur durch Tempo, Farbigkeit und Drastik, sondern vor allem durch Abwechslung zwischen direkter Darstellung und Spiegelung im Bericht, wobei er die einen Episoden nur erzählen läßt, die ändern nur darstellt, an 216

einer Stelle aber beides gibt, zuerst den Vorbericht, die Planung, und dann die Ausführung; Petruchio skizziert seine Methode, wie er die Widerspenstige zähmen wolle, fällt aber bei der Durchführung, als Käthe es gar zu arg treibt, mehrmals aus der Rolle. So bekommt selbst in der Posse die mittelalterliche Selbstankündigung und Selbsterklärung eine neue, differenzierende Funktion, sie tritt in den Dienst barocker Spiegelungs- und Variationstendenzen. Im Merchant of Venice ist die Lautstärke gedämpft, das Tempo fast schleppend. Die Handlung w'll nicht recht in Gang kommen, erlahmt immer wieder, ist im vierten Akt völlig abgeschlossen, so daß für den fünften nur die hochzeitliche Feier übrig bleibt; dramatisch ist der Schlußakt mit dem vorangegangenen durch einen technischen Kniff — es ist das an sich hübsche und beziehungsreiche Spiel mit den Ringen, von Shakespeare aus der Quelle übernommen - verbunden. Dazu kommt ein weiteres. Die Gestalt Shylocks ist so grell gezeichnet und hat so viel inneres Gewicht, daß sie sich nicht ins leichte Spiel fügt, das luftige Netz der Lustspielfäden trägt und erträgt sie kaum. Wenn trotz solcher Mängel der Kaufmann von Venedig zu den bebedeutsamsten, meistaufgeführten und meistzitierten Stücken Shakespeares gehört, so verdankt er dies der Strahlkraft seiner Figuren, dem Stimmungszauber, der von ihnen, ihrer Begegnung, ihrer Rede ausgeht, und der geistigen Problematik, die das Ganze durchdringt. Der Kaufmann von Venedig ist ein Spiel von der Gnade und vom Gericht. Eine Welt des Zwangs und der Bedingung, des Urteils, der Entscheidung, zugleich aber der Freiheit, der Musik, der Liebe tut sich auf, und keineswegs sind beide Sphären streng getrennt, sie vermischen sich, möchten zur Einheit kommen und brechen schließlich doch hart auseinander. Der Unhold wird nicht verwandelt, sondern nur überwältigt. Er vermag zwar seinen Gegner nicht zu vernichten, wird aber selber vernichtet statt erlöst wie Katharina. „Ich bin nicht wohl", sagt Shylock am Schluß, und es ist kaum möglich, darüber zu lachen, in ihm nur den geprellten Teufel zu sehen. Mehr als eine Person im Stück nennt ihn Teufel, und er spielt diese ihm zugewiesene Rolle drastisch genug. Das elisabethanische Publikum mochte in ihm weitgehend den Clown sehen; im Spiele selbst setzt sich die eigene Tochter leichtfertig über seine Kümmernisse hinweg, ohne daß ein Tadel des Dichters auf sie fällt, und die Sieger feiern, nachdem sie ihn ausgeschaltet, mit unbeschwerter Renaissancefröhlichkeit ein heiteres Fest, das voll Musik und Schönheit ist. Shylodc aber ist häßlich; er ist „der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst", von dem Lorenzo spricht; und Lorenzos Braut, Shylocks Tochter, muß bekennen: „Nie macht die liebliche Musik mich lustig". / am never merry when I hear sweet music. Lorenzo sieht „süße Harmonie" am Sternen-Himmel, hört sie in der Musik und ahnt sie in der unsichtbaren, unhörbaren Welt. 217

Such harmony is in immortal souls; But, whilst this muddy vesture of decay Doth grossly close it in, we cannot hear it. So voller Harmonie sind ewige Geister, Nur wir, weil dies hinfällige Kleid von Staub Sie grob umschließt, wir können sie nicht hören (V 1). Die Menschen vernehmen die unsichtbare Harmonie nicht, auch nicht die in ihrer eigenen ewigen Seele angelegte, sie lassen sie in der menschlichen Welt nicht wirklich werden. Musik ist in sich selber selig, an Shylock aber wird ihre Macht zuschanden. Solange er unverwandelt bleibt, entbehrt die Gesellschaft, mag sie sich noch so unbeschwert gebärden, der Harmonie. Daß es vollkommene Musik gibt und die Welt doch gebrechlich bleibt, stimmt den Hörer traurig. / am never merry when I hear sweet music. Der erste Vers des ganzen Spiels: „Fürwahr, ich weiß nicht, was mich traurig macht." Es ist Antonio, „der königliche Kaufmann" selbst, der ihn spricht. In sooth, I know not why I am so sad. Die Eröffnung der zweiten Szene bringt, komödienhaft, die genaue Parallele. „Auf mein Wort, Nerissa", sagt Portia zu ihrer Gesellschafterin, „meine kleine Person ist dieser großen Welt überdrüssig". By my troth, Nerissa, my little body is aweary of this great world. Zwar erklärt die Gespielin diesen Überdruß sogleich als grundlos, aber Portia, die reiche Erbin von Belmont, vermag immerhin namhaft zu machen, daß ihres Vaters Testament sie in eine unleidliche Lage versetzt hat. „O über das Wort ,wählen'! Ich kann weder wählen, wen ich will, noch ausschlagen, wen ich nicht mag: so wird der Wille einer lebendigen Tochter durch den Willen (Wortspiel mit ,will' in der BeJeutung von Willen und von Testament) eines toten Vaters gefesselt." Es ist, ins Harmlos-Komische gewendet, Hamlets Situation. Portia aber, glücklich veranlagt und vom Schicksalsgott der Komödie begünstigt, darf den Willen des Vaters zugleich mit dem eigenen Wunsch in Erfüllung gehen lassen; sie fühlt es vor, und so tönt denn ihre Klage von allem Anfang an schalkhaft. Antonios Trauer gründet tiefer. Er weiß nicht, woher sie stammt. Weder ist er von Natur ein Melancholiker: seine Schwermut hat ihn sich selber fremd gemacht, er kennt sich kaum mehr und kommt sich töricht vor. And such a want-wit sadness makes of me, That I have much ado to know myself. Noch sind es, wie die Freunde meinen, geschäftliche Sorgen, die ihn quälen. „Glaubt mir, das ist es nicht." Ist es Vorgefühl kommenden Unheils? Ist es das heimliche Wissen um die Gebrechlichkeit der Welt? Die mehrfache Variation des Motivs läßt es vermuten. Shakespeares Figuren erfahren, ähnlich 218

wie die anderer Dramatiker seiner Zeit, im persönlichen zugleich ein allgemeines Schicksal. Audi in diesem Stück sagt der von seiner Tochter verratene Jude: „Der Fluch ist erst jetzt auf unser Volk gefallen" (III1). Antonios Gram, der ihn wie aus dem Nichts anweht, so, daß seine Freunde ihn so wenig mehr kennen wie er sich selber, ist mehr denn Vorbote eines nur ihn betreffenden Schicksals. Antonios sadness stammt aus der Ahnung, daß die menschliche Welt, die doch für ihn und seine Freunde solch schönen Glanz hat, in Wirklichkeit nicht im Stande der Gnade lebt; daß sie die Harmonie der Musik, die an ihren Festen ertönt, nicht besitzt oder doch nur sehr bedingt an ihr teilhat. Der Riß geht mitten durch Antonio hindurch. Als wahrhaft königlicher Kaufmann — nicht nur sein Freund Graziano, auch der Doge nennt ihn a royal merchant (III 2, IV 1) — treibt er weitausgreifenden Handel, ohne Ängstlichkeit, ohne die sattsam bekannten „Sorgen des Reichen". Den gewonnenen Reichtum verwaltet er mit segensreicher Hand; zinslos leiht er Geld aus, den Freunden stellt er sein Gut zur Verfügung, dem jungen Bassanio, der sich selber freimütig als verschwenderisch bezeichnet, hilft er, ohne ihn zu schulmeistern; ja er ist weit und frei genug, um des Freundes willen seine eigenen Grundsätze zu brechen. Wiewohl ich weder leih noch borge, Um Überschuß zu nehmen oder geben, Doch will ich, weil mein Freund es dringend braucht, Die Sitte brechen (I 3). Den liebenswürdigen Verschwender zur Freite prächtig auszustatten, ist er bereit, ein Pfund seines Fleisches zum Pfände zu setzen, und als es verfällt, da möchte er, weit entfernt von jeder Anklage, den Freund nur noch einmal sehen. „Jedoch handelt nach Belieben; wenn Eure Liebe Euch nicht überredet zu kommen, so muß es mein Brief nicht" (III 2). Bassanio, Jessica, die jungen Venezianer überhaupt, gehen mit dem Geld verschwenderisch um, Antonio ist ein Verschwender an Güte. Portia, in ihrer großen Rede vor Gericht, nennt Gnade die schönste Tugend des Monarchen und ein Attribut Gottes selbst. Von Antonio strömt solche Gnade reichen Maßes aus, königlich, in echter Nachahmung Gottes — aber sie erreicht nur seine Freunde, nicht die Welt der Zöllner und Sünder. Die Juden, welche Geld gegen Zins leihen, verachtet, haßt, beschimpft, bespeit er, und merkt nicht, daß er sie, statt sie zu ändern, nur verhärtet. Wohl kommt sein Eifer aus gerechter Empörung über wucherisches Treiben, aber er unterscheidet nicht zwischen Tun und Täter, er vermag, wiewohl Christ, nicht die Sünde zu hassen und doch den Sünder zu lieben. Lorenzo spricht davon, daß durch Musik, by the sweet power of music, selbst wilde Tiere gezähmt werden. 219

Zu zahmem Staunen wird ihr wilder Blick Durch süße Macht der Töne. Drum sagt der Dichter, Gelenkt hab Orpheus Bäume, Felsen, Fluten, Weil nichts so stöckisch, hart und voll von Wut, Das nicht Musik auf eine Zeit verwandelt. Since nought so stockisch, hard, and full of rage, But music for the time doth change his nature. Wenn Lorenzo gleich darauf den „Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst" aus der Gesellschaft ausschließt, so verzichtet er damit leichtfertig auf die soeben von ihm selber geschilderte Möglichkeit. Wer selbst Tiere durch Musik bezaubern will, muß auch beim Menschen an das Wunder der Verwandlung glauben, darf einen Shylock nicht einfach als „Teufel" abschreiben. Antonio scheint dumpf zu fühlen, daß es gälte, den Juden zum Guten zu lenken, statt ihn anzuspucken. Als Shylock dem Bassanio zinslos Geld leiht und nur „zum Spaß", in a merry sport, sich ein Pfund Menschenfleisch verschreiben läßt, da nennt ihn Antonio gentle Jew, sagt ohne Ironie: „Dieser Hebräer wird noch ein Christ werden: er wendet sich zur Güte" (I 3). Und am Ende will er ihn zum Christentum gleichsam zwingen, ebenso wie zur Gnade gegen „den Mann, der kürzlich seine Tochter stahl". Noch zweierlei beding ich: daß er gleich Für diese Gunst das Christentum bekenne. Zum ändern stell er eine Schenkung aus Hier vor Gericht, von allem was er nachläßt, An seinen Schwiegersohn und seine Tochter (IV 1). This Hebrew will turn Christian: he grows kind am Ende des ersten Aktes, that, for this favour, he presently become a Christian am Ende des vierten — beide Wendungen sind befremdlich. Daß Antonio die Tücke in Shylocks Vorschlag nicht richtig einschätzt, ist psychologisch ganz unglaubhaft. Und daß er zum Schluß den Juden äußerlich zum Christen machen will - ein Zug, der in Shakespeares Quelle fehlt — ist nicht minder seltsam; es erinnert an die rasche Wandlung des Proteus am Schluß der Veroneser. Dort freilich ist es eine, wenn auch unglaubhafte, innere Wandlung, und Ähnliches mag Antonio hier erwarten. Jedenfalls preßt er den Juden nicht zum Christen, um ihn zu quälen, sondern um ihn auf den rechten Weg zu führen. Sein unbewußtes Gefühl, man müßte Shylock heilen, führt ihn zu seinem Schritt; und er scheint kaum zu merken, daß erzwungene Gnade und äußerliches Christentum das Zerrbild wirklicher Gnade und wirklichen Christentums sind. Shakespeare verzichtet nicht nur um des Bühneneffektes willen gerne auf psychologisch-realistische Wahrscheinlichkeit, wie in der Wider220

spenstlgen, sondern zuweilen auch, wie hier und in den Veronesern, um der geistigen Aussage willen. Shylock ist das Gegenbild des gnadenvollen Menschen. Er rafft, raubt, häuft auf - und alles geht ihm verloren. Er verschließt nicht nur seine Schätze, er verschließt auch seine Tochter vor den ändern, weil er beides nur für sich haben möchte — beides geht ihm verloren. Seine Tochter verliert er nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich; sie sagt sich von ihm los, und ihm ist sie weiter nichts als ein Besitztum, ein Ding. Den Juwelen, die sie ihm entführt, trauert er mehr nach als ihr selber. „Ich wollte, meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren! Wollte, sie läge eingesargt zu meinen Füßen und die Dukaten im Sarge!" (III 1). Mit solchen Worten tötet er geistig seine Tochter und sein Verhältnis zu ihr. „Verschließ die Tür, verstopfe meines Hauses Ohren", das sind die Worte, die sein Wesen kennzeichnen (II 5). Er will sich alle Werte durch krampfhaftes Festhalten bewahren, er hält sich streng „rein" im Sinne der kultischen Vorschriften: er ißt kein Schweinefleisch, nimmt an den ausgelassenen Festlichkeiten nicht teil — und verliert sich gerade, indem er sich zu bewahren glaubt. Wie ihm die sorgsam gehüteten Schätze, die Tochter entzogen werden, so gibt er bei aller religiösen Gesetzlichkeit - auch den Wucher rechtfertigt er noch mit Bibelzitaten — seine Seele preis, er wird zum „Teufel". Wie religiös, so pocht er auch juristisch auf das formale Recht. „Ich stehe hier um Recht" sagt er in der großen Gerichtsverhandlung. 7 stand here for the law. Unerbittlich beharrt er bei seinem „Ich will meinen Schuldschein", 7 will my bond (III 3, IV 1). Gnade, zu der ihn zuerst der Doge, dann Portia bewegen will, lehnt er ausdrücklich ab. Wie hoffst du Gnade, wenn du keine übst? fragt der Doge. Shylock antwortet: Welch Urteil soll ich scheuen, tu ich kein Unrecht? Ihr habt hier unter euch viel feile Sklaven, Die ihr wie eure Maultier, Esel, Hunde Zu niedrigem, verworfnem Dienst gebraucht, Weil ihr sie kauftet. Soll ich nun sagen: Laßt sie doch frei, vermählt sie euren Erben! Was schwitzen sie mit Lasten? laßt ihr Bett So weich als eures sein, labt ihren Gaurn Mit ebensolcher Kost! Dann sagtet ihr: „Die Sklaven sind ja unser." Und so sag ich: „Das Pfund von seinem Fleisch, das ich verlange, Ist teur gekauft, ist mein, und ich will's haben." 221

Shylock, der in seinem Leben und Verhalten nichts von Güte, Liebe, Gnade weiß, vermag wenigstens intellektuell zu sehen, daß Güte geübt werden müßte in der Welt. Wenn Portia, die schenkende und beglückende, doch auch richten, wählen und versagen muß, so kann Shylock seinerseits wenigstens verstandesmäßig erkennen, daß Wohltun, Liebe, Gnade üben dem Menschen aufgegeben wäre. Er spricht dies freilich nur als Vorwurf und im Hohn aus: Ihr übt ja auch keine Gnade, ihr drückt ja die, die in eurer Hand sind, ebenfalls! Es ist weniger eine Beschuldigung der ändern als eine Rechtfertigung seiner selbst. Shylock möchte sein Unrecht auf dem Unrecht der ändern aufbauen und beides Recht nennen. In Wirklichkeit aber sind seine Worte eine ungeheuerliche Anklage gegen ihn selber und gegen die menschliche Gesellschaft. Daß selbst der Hartherzigste und Geizigste das soziale Unrecht als Unrecht, obwohl in die Formen äußeren Rechts gekleidet, zu durchschauen vermag, erweist, daß in ihm Möglichkeiten angelegt sind, die er verscherzt, und brandmarkt erst recht den edler Gearteten, der sich zum Nutznießer solchen Unrechts macht. Shakespeare hat - die Verdoppelung zeigt das Gewicht des Motivs in diesem Stücke an - schon Portias Freier Arragon sozialkritische Worte sprechen lassen. O, würden Güter, Rang und Ämter nicht Verderbterweis erlangt, und würde Ehre Durch das Verdienst des Eigners rein erkauft, Wie mancher deckte dann sein bloßes Haupt! Wie mancher, der befiehlt, gehorchte dann! Wie viel des Pöbels würde ausgesondert Aus reiner Ehre Saat! und wie viel Ehre Gelesen aus Verfall und Spreu der 7eit, Um neu zu glänzen... Aber auch Arragon weiß noch nicht um wirkliche Gnade. „Ich halt es mit Verdienst" (II9). Shylock vollends klammert sich an sein formales Recht — und wird dann schließlich durch das formale Recht gerichtet und vernichtet. So wie seine Besitzgier ihm den Besitz gerade entzieht, so wendet sich sein Schrei nach Recht schließlich gegen ihn. Vor dem Forum der Jurisprudenz vermag Portias Rechtskniff nicht standzuhalten, innerhalb des Spiels aber weiß selbst der Jude nichts gegen ihn einzuwenden. Doch mag Shakespeare um seine Unhaltbarkeit ebensowohl gewußt haben wie um die psychologische Unmöglichkeit der Heilung Katharinas in der Widerspenstigen. Er schrieb eine Komödie, und daß er diesen Rechtsentscheid nicht durch einen wirklichen Richter, sondern, im Anschluß an seine Quelle, durch ein verkleidetes Mädchen fällen läßt, zeigt zur Genüge, daß er den Vorgang schalkhaft aufzieht. Es macht ihm wie Portia Spaß, den Rechtsformalismus auf die Spitze zu treiben und so den Juden mit seiner eigenen Waffe zu schlagen, 222

ganz ähnlich wie Petrudiio die Keiferin in ihrem eigenen humour totmacht. Schon Giovanni Fiorentinos Novelle, Shakespeares Vorlage für den Kaufmann, spricht von dem Vogelfänger, der selbst auf den Leim geht: Tale si crede uccellare, ch'e uccellato. Shylock wird von seinem Diener als Verkörperung des Teufels bezeichnet The Jew is the very devil incarnal (II 2). Portia aber erscheint als die menschgewordene Gnade. Sie will nichts für sich erraffen, Maroccos und Arragons Reichtümer sagen ihr nichts, sie möchte schenken, nichts als schenken. Ihr seht mich, Lord Bassanio, wo ich stehe, So wie ich bin; obschon, für mich allein, Ich nicht ehrgeizig war in meinem Wunsch, Viel besser mich zu wünschen; doch, für Euch, Wollt ich verdreifacht zwanzigmal ich selbst sein, Noch tausendmal so schön, zehntausendmal So reich... (III 2). Selbstpotenzierung ist das Korrelat des Selbstverlustes. Wenn andere sich nur wirklich finden können, indem sie sich verlieren, die anmutige Portia hat diesen Umweg nicht nötig, sie darf unbefangen und ohne Anmaßung eine reine Steigerung ihres Seins erflehen, um den Geliebten doppelt zu beglücken, in ihm sich selber zu verlieren und zu finden. „Noch eben war ich Königin über mich selbst, doch jetzt ist eben dies mein Selbst das Eure" (III 2). Im Gerichtssaal bringt sie Antonio die Gnade, ganz zuletzt darf sie ihm auch noch die Botschaft von der glücklichen Rettung seiner Schifte sagen. Ich sag Euch nicht, was für ein eigner Zufall Den Brief mir zugespielt hat (VI). Sie ist selber die Begnadete, das Schicksal schenkt ihr die guten Einfalle, die günstigen Beziehungen, es spielt ihr frohe Zeitung in die Hände und es läßt die ungeliebten Bewerber falsch, den ersehnten Freier richtig wählen. Sie möchte die Gnade nicht nur Antonio, sondern auch Shylock bringen. Aber er ist nicht imstande, sie aufzufangen. Sie spricht ihm von Gnade, sie gibt ihm die Möglichkeit, sich menschlich zu erweisen - er weist sie ab, er versagt. Nun freilich läßt auch Portia ihn fallen und - hier geht Shakespeare wieder über seine Quelle hinaus - verweigert ihm nicht nur die Rückzahlung seines Darlehns, sondern entzieht ihm auch sein übriges Vermögen. Nur der kann, so stellt es Shakespeare dar, begnadet werden, der selber der Gnade entgegenkommt. Es ist ein ungreifbares Zusammenspiel von Mensch und Schicksal, die Haltung des Menschen und die Gunst des Glücks stehen in geheimnisvoller Beziehung. Shylock scheint, wie Caliban, ein nicht zu verwandelnder, nicht zu veredelnder Mensch - daß es solches gibt, ist freilich 223

Grund genug zum Gram. Und dodi scheint der Zwang zur Bekehrung, den Antonio dem Juden auferlegt, ein letzter verzweifelter Versuch, ihn doch zu retten. Der Dichter möchte an die Verwandlungsfähigkeit des Menschen, jedes Menschen glauben. Es ist Shylock, der sich auf ein Nichtanderskönnen beruft, der blinde Anlage, Neigung, Reiz (affection) zu Beherrschern unseres Seins machen will. Denn der Affekt, Der unsre Stimmungen beherrscht, lenkt sie Nach Lust und Abneigung (IV 1). Bitter klingt auch das Wort, das der Prinz von Arragon sich erlost: „Ich — gemeint ist die Narrheit - bleib ewig Euch gesellt" (I will ever be your head II 9). Aber im festlichen Schlußakt preist Lorenzo die allverwandelnde Macht der Musik: nicht eine Wirklichkeit, aber eine Verheißung. Als Portia Bassanio, den Mann, von dem sie sagt, daß sie ihn nicht verlieren möchte, vor die drei Kästchen treten sieht, da läßt sie, während er wählt, Musik ertönen und sagt zuversichtlich: „Wenn Ihr mich liebt, so findet Ihr mich aus." Nicht ein dummer Zufall läßt Bassanio richtig raten, seine Art, seine Liebe, Portias Liebe, die Gnade, die aus der menschgeschaifenen Musik strömt, und die Gnade des Schicksals wirken zusammen. „Wer mich erwählt, wagt alles, was er hat." Shakespeare hat die derbe Liebesprobe der überlieferten Erzählungen durch diese echt barocke Kästchenwahl ersetzt: Der trügende Schein von Gold und Silber muß durchschaut, das unscheinbare Bleikästchen gewählt werden, und der Spruch besagt: Nur wer sich preiszugeben bereit ist, wird begnadet werden, der Weg zur Erfüllung geht durch das Nichts. Wie manches wird durch Zeit gezeitigt Zu echtem Preis und zur Vollkommenheit, darf Portia am Ende sagen. Selbst dem Kaufmann Antonio, den es eine Zeit im Stich zu lassen schien, schenkt das Geschick schließlich seine Gunst wieder. Es vereint die Liebenden, die einander bestimmt sind, nicht nur Portia und Bassanio, auch Lorenzo und Jessica. Jessica, Shylocks Tochter, richtet über ihren Vater wie alle ändern. „Unser Haus ist Hölle" sagt sie (II 3) und flieht. Aber die Wehmut, die sie beim Anhören von Musik ergreift, ist auch hier da, sie beklagt es als eine häßliche Sünde, daß sie sich ihres Vaters schämt. Alack, what heinous sin it is in me To be asham'd to be my father's child! Nicht eigentlich um ihn zu richten wendet sie sich von ihm, sondern um die menschliche Freiheit zu gewinnen. Sie stellt das Bild des Menschen, das durch 224

ihn geschändet ist, gleichsam wieder her. In ihm ist Haß und Häßlichkeit, in seinem Kind Liebe und Anmut, er schließt sie ein, sie schenkt sich weg, er rafft zusammen, sie muß verschwenden, er haßt die Masken, sie verkleidet sich. In diesem Zusammenhang ist schon ihr Verrat am Vater ein Akt der Freiheit. Doch bin ich auch die Tochter seines Bluts, Bin ich doch nicht die Tochter seiner Sitten. Wenn Jessica, um zu fliehen, ihr Mädchengewand ablegt und sich als Jüngling verkleidet, so ist das wie ein Bild für die geistige Eroberung der Freiheit. Sie setzt sich über die natürlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen hinweg und gibt sich, spielend, selber die Gestalt. Portia aber macht sie zur Statthalterin von Belmont. Wenn Shylock der Unbegnadete ist, Jessica, sein Kind, ist die Begnadete. Bei ihm ist selbst die Rechtlichkeit - er glaubt wirklich sich nichts vorzuwerfen zu haben: „Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt" - noch gnadenlose Enge und eigentlich nur ein Laster mehr, an ihr ist selbst ihr Leichtsinn, ihre Verschwendungssucht, ihre Untreue noch Anmut und liebliche Freiheit, die sie nicht beschmutzt, sondern verklärt. Auch Portia und Nerissa kosten das Vergnügen der Verkleidung tüchtig aus. Shylock aber ruft entsetzt: „Was? gibt es Masken?" Verschließ die Türen! Stopfe meines Hauses Ohren, Die Fenster mein ich, zu und laß den Schall Der albern Narretei nicht dringen in mein ehrbar Haus (II 5). Vor solcher Enge erscheint die Maskenfreude der Ausgelassenen und die Verkleidungsfreude Shakespeares, des Barocks, des Theaters überhaupt im hellsten Licht. Wer sich eine Maske vors Gesicht spannt, wer sich verkleidet, der verbirgt sich nicht nur, er verwandelt sich auch, er erlöst sich von sich selber. Er verliert sich und gewinnt sich, verwirklicht im Spiel eine verborgene Sehnsucht, das Mädchen darf eine Zeitlang Jüngling sein, der König ein unbekannter Soldat, der Trunkenbold ein König, die begnadete und Gnade spendende Portia tritt als Richterin auf - so wird die Verkleidung, die Maskerade zu einem Fest menschlicher Freiheit. In diesem Stück, in dem Freiheit und Gnade so reich strömen, haben zugleich, in vielen Formen, Gericht und Entscheidung statt. In ihrer ersten Szene schon sitzt Portia zu Gericht über die Freier. Sie hat, wie die Prinzessin im Drosselbart-Märchen, an jedem etwas auszusetzen, sie verspottet alle, keiner ist ihr recht. Und doch weiß sie, daß es sündlich ist, auf der Bank der Spötter zu sitzen. In truth, I know it is a sin to be a mocker (I 2). Und der Mohr, der Prinz von Marocco, sagt zu ihr: „Verschmäht mich um meiner Farbe willen nicht" (II1). Portia aber, die eigentlich nur schenken und begnaden möchte, weiß, daß der Mensch auch ausschließen und ab-

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lehnen muß, ja daß er erst dadurch im vollen Sinne Mensch wird, wenn auch Schmerz und Schuld unweigerlich damit verbunden sind - sie macht Marocco und Arragon unglücklich. Shylock kennt nur das Sichabschließen, die Ablehnung, Portia trägt beides in sich, die Fülle der Gnade und die Kraft zur Entscheidung, zum Urteil. Das Gewand des Richters, das sie im vierten Akt trägt, macht diese Seite Portias äußerlich sichtbar. Aber auch als Richter noch bringt sie die Gnade, wirkliche Gnade dem Kaufmann Antonio und die Möglichkeit, Gnade zu üben, dem Juden Shylock nicht nur, sondern auch dem Dogen und wiederum Antonio. Und wenn sie Spott als sündig erkennt und doch spottet, so gleicht sie Antonio, der seine Grundsätze aufzuheben vermag, gleicht auch sich selber, da sie sich darauf freut, zwanzig kleine Lügen zu sagen (III 4), oder Bassanio, der den Dogen bittet, das Recht für einmal zu beugen: To do a great right, do a little wrong, „tut kleines Unrecht um ein großes Recht" (IV 1). In allem diesem liegt Freiheit, Lösung und Erlösung, Gnade. Wenn Shylock seine Tochter Türen und Fenster des Hauses ebenso wie die eigenen Augen und Ohren verschließen heißt, so lassen sich die jungen Venezianer, das Movtiv kehrt mehrmals wieder, gerne durch die Augen zur Liebe verführen. Fancy, Liebesphantasie hat in den Augen ihren Ursprung. Schauen ernährt sie, und in ihrer Wiege vergeht sie auch. It is engendered in the eyes, With gazing fed; and fancy dies In the cradle where it lies (III 2). Shylock, der die Gnade ablehnt, schließt sich selber von der Gnade aus. Aber in gewissem Sinne fällt die Schuld auf die Christen zurück, auch sie sind unbarmherzig Richtende, sie behandeln die Juden „wie Hunde", treten sie, spucken sie an, statt ernsthaft zu versuchen, sie zu verwandeln. Shylock schlägt noch härter zurück, kennt nur Richten und Rächen und glaubt dabei sich selber gerecht. Doch fällen nicht nur die Christen, von Antonio und Portia bis hinunter zum clownhaften Diener Lancelot Gobbo das Urteil über ihn, sondern auch die eigene Tochter. Er ist der Ausgestoßene und stößt zugleich sich selber aus, ähnlich wie Portia oder Antonio zugleich Gnade üben und die Begnadeten sind. Wie das Motiv der Verwandlung sich durch das ganze Stück zieht - Lancelot Gobbo ist verändert (Lord! how art thou changed! ruft sein Vater II 2), Graziano verspricht Besserung, und Portia nennt sich beglückt, daß sie noch nicht zu alt zum Lernen ist (III2) — so auch das des Richtens. Nicht nur Portia richtet über ihre Freier, das Testament ihres Vaters stellt sie selber zugleich mit ihnen auf die Probe, und die Freier wiederum müssen ihr Urteil über die Kästchen fällen: sie sind Richter über Metalle und Worte und damit über die Dinge und Wesenheiten der Welt. Nicht nur Shylock, auch Portias Vater weiß harte Bedingungen zu stellen: Wer um Portia wirbt und falsch 226

wählt, darf niemals eine andere freien. So trifft er eine strenge Wahl unter den Liebhabern seiner Tochter, seine Bedingung schreckt, wie die Enterbung Cordelias durch König Lear, alle Unwürdigen ab, und Portia, welche das Testament ihres Vaters als lästigen Zwang empfinden mag, wird vielmehr von dem Zudrang der vielen, die für sie nicht alles wagen wollen, befreit. Sie besteht denn auch die Probe glänzend, indem sie die Vorschrift ihres Vaters treu befolgt. Und wie Bassanio das schlichteste Kästchen wählt, so ist er selber der ärmste und niedrigste der drei Bewerber - und doch der reichste und legitimste. Shakespeare treibt das barocke Spiel so weit, daß er den armen Venezianer im Schein des Reichtums auftreten läßt, der doppelt scheinhaft ist, weil auch der Spender, Antonio, ihn nur erborgt-hat: so schieben sich, wie so oft im Barock, mehrere Kulissen hintereinander. Der glückliche Freier aber behandelt den Schein freimütig als Schein, er gesteht seine Armut oder vielmehr seine Verschuldung ebenso offen ein wie vorher vor Antonio seine Verschwendungssucht, und Portia ist überglücklich, ihm und seinem Freund mit ihrem Reichtum helfen zu können - das FJuidum der freischenkenden Gnade erfüllt das ganze Stück. Das polare Element aber schiebt sich bis in die Sprache der Liebenden vor: Bassanio erbittet sich Portias Ja in den Formeln der Rechtssprache. Noch zweifelnd, ob kein Trug mein Auge blend't, Bis Ihr bestätigt, zeichnet, anerkennt. Until confirm'd, sign'd, ratified by you. Nicht nur über einzelne Menschen wird geurteilt, sondern auch über die Gesellschaft (in der Sozialkritik Arragons und Shylocks), über bestimmte menschliche Haltungen (Enge des Geizes, Pharisäertum, Rachgier). Dagegen richtet sich das Stück nicht gegen ganze Rassen, es hat mit Antisemitismus nichts zu tun; der Mohr darf nicht grotesk gespielt werden, und dem „Teufel" Shylock, der auf der Bühne nicht allzu sehr veredelt werden sollte, steht seine liebenswerte, elfenhaft helle Tochter Jessica gegenüber. Die Gebrechlichkeit der Welt wird in diesem Stück offenbar. Verstocktheit, Nötigung zu Ablehnung und Verurteilung, Unfähigkeit zu heilen, und auch, wie immer bei Shakespeare, die fehlende Sicherheit des Menschen. Der „Teufel" kann sich auf die Schrift berufen; Bassanio ist sicher, daß er den Schuldschein nicht verfallen lassen muß (I 3); der Vater Lancelot Gobbos sagt zu seinem Sohn, er sei gewiß (I am sure), daß er nicht sein Sohn sei ( 2); Bassanio ist sicher, daß er Portias Ring nie weggeben wird, und als er wie Graziano ihn dann dem verkleideten Mädchen überlassen hat, da schwören beide, sie hätten ihre Ringe an Männer weggegeben... Aber nicht nur weil hier mit der menschlichen Unsicherheit komödienhaft heiter gespielt wird, ist dem Motiv die Schärfe genommen, die es im Caesar und Hamlet hat, sondern weil es in sich zweigesichtig ist: Eben weil es keine absolute Sicherheit gibt, ist Raum für das Wunder; das unmöglich Schei227

nende kann wirklich werden, so wie in dieser lustigen Ringgeschichte; und daß die Gnade, die menschliche und die göttliche, die aus dem Sein und Handeln und die aus dem Schicksal fließende, das Wunder immer wieder möglich macht, davon kündet dieses Spiel. Daß Shylock sich nicht verwandeln, nicht begnaden läßt, daß er versagt und daß die ändern vor ihm versagen, ist, schärfer fühlbar als im Sommernachtstraum, aber grundsätzlich nicht anders, ein bitteres Mahnmal, daß der Mensch, wie es in den Tragödien so oft gezeigt ist, sein Leben auch verfehlen kann. Von der Tragik, die der Gestalt Shylocks innewohnt, mag für manchen modernen Leser das ganze Stück in den Schatten des Tragischen sinken. Ein Hauch des Tragischen, Trauer und Schwermut liegt wirklich in ihm, wie in den meisten Komödien Shakespeares, aber der Glanz der schönen, der herrlichen Möglichkeiten überstrahlt doch alles, und das Licht der Gnade leuchtet zauberhaft in der Naturstimmung des letzten Akts, in der die Welt sich uns verklärt, und in der Musik, die das ganze Spiel durchströmt.

Die l u s t i g e n Weiber von Windsor Is there not a double excellency in this? Leicht und harmlos, aber von entzückender Treffsicherheit und Munterkeit und zudem von bedeutender Symbolkraft ist das Spiel der Merry wives of Windsor. Ein unersättlicher Dickwanst, der Geld zum Saufen und Fressen braucht, glaubt, so sehr ist er von sich eingenommen, zwei wackere Bürgersfrauen ohne weiteres verführen zu können. Die aber, statt ihn einfach nach Hause zu schicken, halten ihn so gründlich zum Narren, daß er sich selber ad absurdum führt. Nicht die Ehemänner stehen schließlich mit Hörnern da, sondern er, und mit den eigenen Händen hat er sie sich aufgesetzt. „Ich fange an zu merken, daß ich zum Esel gemacht bin", sagt Falstaff am Ende (V 5). Aber es sind nicht die ändern, die ihn zum Esel machen, er ist es selbst. Nur wer sich selber zum Narren macht, kann von den ändern zum Narren gehalten werden. Falstaff ist nicht der einzige in diesem Spiel, der das erfährt. O wicked, wicked world! ruft Frau Page aus, als sie Falstaffs unverschämten Liebesbrief gelesen. „O verderbte Welt!" Und es macht ihr Spaß, die aus den Fugen geratene Welt wieder einzurenken. „Wie soll ich mich an ihm rächen?" fragt sie - das Motiv der Rache geht durch das ganze Stück — und ihre Freundin Frau Ford, die, mit Auswechslung der Anrede, von Falstaff einen gleichen Brief bekommen hat, reagiert -wörtlich gleich: How shall I be revenged on him? Ihre Antwort: „Ich denke, das beste wäre, ihn mit Hoffnung hinzuhalten, bis das gottlose Feuer der Lust ihn in seinem 228

eigenen Fett zerschmolzen hat" (II 1). Um die Überwindung eines Monstrums - so wird FaJstaff von Ford und seiner Kumpanei genannt (III 2) - geht es auch hier, wie in der Widerspenstigen, im Kaufmann und im Hamlet. Wenn sie gelänge, dann wäre auch die Welt wieder heil. Und sie gelingt reiner als im Hamlet oder im Kaufmann. Falstaff wird nicht vernichtet, sondern nur beschämt. Ob auch kuriert, ist eine andere Frage. Wer wäre für immer kuriert? Immerhin ist Frau Page überzeugt, daß der Geist der Lüsternheit aus ihm herausgebrannt ist (IV 2). Sie wie Frau Ford will nicht den Menschen zerstören, sondern die Sünde in ihm, und Falstaff selber soll die Rolle des Zerstörers spielen: Till the wicked fire of lust have melted him in his own grease. So steht auch dieses fröhliche Spiel in den großen Zusammenhängen des Gesamtwerks. In dem heiteren Geschehen spiegeln sich die menschlichen Möglichkeiten und Gefahren: Erfüllung und Entartung, Selbstverwirklichung und Selbstverlust, Chaos, Kosmos und der Kampf beider. Die Motive der barocken Welt sind gegenwärtig, manche von ihnen in eindrücklicher und eigenartiger Gestalt, und wir glauben Shakespeares eigene Lebensschau durchschimmern zu sehen. „Ehefrauen können lustig und doch redlich sein," sagt Frau Page, die lebhaftere, unternehmungslustigere der beiden Bürgersfrauen (IV 2). Merry, das heißt hier frei und vergnügt in einem wenngleich recht hausbackenen Genuß des Lebens, es heißt aber auch frei und fähig, einen wendigen, einfallsreichen Geist zum Spielen zu bringen. Und honest weist auf das polare Element: Anerkennung eines gültigen Maßstabes, einer überpersönlichen Gesetzlichkeit. Beides, Freiheit und Form, im Bereiche des Lebens ebenso wie in dem des Geistes, ist im Dasein der beiden Freundinnen schön vereint: Abglanz des hohen Traums der Renaissance in einer harmlos bürgerlichen Welt. Diese kleine Welt ist, trotz einiger Schwächen, im ganzen in Ordnung, im Gleichgewicht. An ihrem Rande erscheint der verlotterte Ritter, aufgedunsen, „ein großer wäßriger Kürbis", „eine ungesunde Feuchtigkeit", wie Frau Ford ihn nennt (III 3), lüstern, sich in der kräftig gedeihenden Bürgerwelt einzunisten und sie schmarotzend zu infizieren. Doch sie erweist sich als immun, ja sie trägt, im Gegenschlag, den Angriff gegen Falstaff und hält ihn zum Besten. Die kleinstädtisch wohlhabende Welt der Familien Page und Ford ist gesund. Falstaff aber, grotesk, deformiert, ist ungesund, formlos wucherndes Leben, das sich selber beschmutzt und schwächt. Das Korrelat, dürftiges, verkümmerndes Leben, erscheint in der Gestalt des schmächtigen Slender, der seine Verwandten für sich handeln und reden läßt. Zu seiner Empfehlung kann er nicht eigene Heldenstücklein vorbringen, sondern muß seinen Onkel bitten, die seines Vaters - der einmal zwei Gänse stahl zu erzählen (III 4). Hübsche barocke Staffelung: Falstaff prahlt von Heldentaten, statt sie zu tun, Slender aber will den Onkel die Heldentaten des 229

Vaters, die erst noch keine sind, rühmen lassen, um die Braut, die man ihm zuweist, zu gewinnen. Slender steht neben FalstafF wie Aguecheek neben Sir Toby Belch: zwei polare Degenerationsformen, krankhafte Extreme, Wucherung und Schrumpfung des Lebens, das in den bürgerlichen Gegenfiguren, den jungen wie den älteren, sich blühend und lieblich entfaltet, in der Mitte zwischen Üppigkeit und Strenge. O wicked, wicked world! Frau Page wird des chaotischen Elements im Kosmos gewahr, als sie den Buhlbrief des alten Verführers erhält. „Einer, der vor Alter fast in Fetzen zerfällt, gebärdet sich wie ein junger Liebhaber!" „Was, war ich in den Feiertagen meiner Schönheit Liebesbriefen entgangen, und bin ich jetzt ein Inhalt für sie?" (II1). Aber nicht in Falstaff allein sind Verkehrung, Chaos, Zerrüttung gegenwärtig. Der an Leib und Kopf gleichermaßen schwache Slender faselt schon in der ersten Szene von den Nachfolgern, die seinem Onkel vorangegangen und von den Ahnen, die ihm nachfolgen werden. Sprachverwirrung, Verschandelung des guten Englisch durchdringt das Stück in vielen Spielarten. „Er wird Gottes Geduld und des Königs Englisch wieder schön verschandeln", sagt die Wirtin Quickly (Frau Hurtig) von dem französischen Doktor (I 4). Sie selber aber mißversteht die fremden Wörter, die sie hört und deutet sie nach dem Klang, indem sie, ihrer eigenen kupplerischen Phantasie gemäß, den lateinischen Silben obszöne Bedeutungen gibt (IV 1). Zum Überfluß leistet neben dem radebrechenden Franzosen auch ein walisischer Pfarrer seinen Beitrag zur Sprachverwirrung, die, als Schema der menschlichen Verwirrbarkeit überhaupt, in der Barockkomödie eine bedeutende Rolle spielt — die deutschen Sprachreiniger des 17. Jahrhunderts bekämpften das Chaos der menschlichen Belange auf dem sprachlichen Feld. Der französische Doktor und der walisische Pfa'rrer geraten in Streit, fordern einander zum Zweikampf; selbst der alte Shallow (Schaal) erkennt den Widersinn: „Er ist ein Arzt' der Leiber, und Ihr ein Arzt der Seelen. Wenn Ihr Euch schlagen wolltet, so strichet Ihr gegen das Haar Eurer Vokation" (II 3). Und der Wirt zum Hosenband weiß diese Verkehrung durch eine andere Verkehrung abzuwenden, indem er die beiden, den „Seelendoktor" und den „Leibesdoktor", zum Duell je an einen anderen Platz bestellt. So verhindert der Wirt durch Irreführung ein weit ärgeres Irregehen der beiden Ehrenmänner. „Sie sollen ihre Glieder ganz behalten und lieber unser Englisch zerhacken" (III1): die Komödie zeigt das Chaos in peripheren Bereichen, nicht, wie die Tragödie, in den zentralen. Falstaff aber möchte, schmatzend und prassend, das universale Chaos heraufführen. „Er wirbt um hoch und tief, um reich und arm, um jung und alt, um ein und alle..." (II 1). Als er selber betrogen ist, da wünscht er, mit einer an Macbeth gemahnenden Grundsätzlichkeit, die ganze Welt wäre es: „Ich wollte, die ganze Welt würde geprellt, denn ich bin geprellt und geprügelt dazu" (IV 5). Ähnlich prinzipiell reagiert Frau Page, als sie in Fal230

staff das Zerrbild des Mannes erblickt: „Ich will auf eine Akte im Parlament antragen, um die Männer abzuschaffen" (II1). Ford aber, der sich betrogen wähnt, „verflucht alle Evastöchter" (IV 2), und zu den beiden Frauen Ford und Page sagt er einmal, in humorvoller Verschnörkelung des Chaosmotivs: „Ich glaube, wenn Eure Männer tot wären, würdet ihr beide euch heiraten" (III 2). Innerhalb der im ganzen wohlgefügten bürgerlichen Welt deutet sich das Chaos zwiefach an: in der Eifersucht Fords und in Herrn und Frau Pages Absichten mit ihrer Tochter. Fords Eifersucht wird von den ändern als humour bezeichnet, als Einbildung (imagination) seines Herzens, als figures in seinem Gehirn, als Wahnsinn (lunatics). „Man muß Euch in Ketten legen" (IV 2). This is fery fantastical humours. „Ihr tut Euch selber unrecht", you wrong yourself, und noch einmal: JO« do yourself mighty wrong, M aster Ford (III 3). Ford aber will es nicht wahr haben, daß er mit seiner Eifersucht nicht nur seine Frau beleidigt, sondern auch sich selber verliert. „Gott sei gelobt für meine Eifersucht!" ruft er aus, und hält Page, der keine Eifersucht kennt, für einen Esel, einen sorglosen (secure) Esel. „Ein Mann kann auch zu vertrauensvoll (confident) sein." „Page ist ein sorgloser Narr", a secure fool, „und baut fest auf seiner Frauen Schwachheit", and Stands so firmly on bis wife's frailty (II1). Shakespeare, der so oft die falsche Sicherheit des Menschen, den Wahn der Sicherheit brandmarkt, legt hier, übermütig die Dinge umstülpend, wie es der barocken Komödie entspricht, eben diese an sich legitime Kritik dem Irrenden in den Mund. Pages ruhiges Vertrauen in seine Frau ist echtes Zutrauen, nicht falsche Sicherheit. Fords eifersüchtiges Mißtrauen aber ist die Karikatur des demütigen Wissens um die Gebrechlichkeit (frailty) des Menschen — von der auch Falstaff spricht. „Laß sie bedenken, was ein Mensch ist, laß sie seine Schwachheit erwägen..." Bid her think wat a man is: let her consider his frailty... Auch hier wird die an sich richtige Aussage zur Frivolität. Denn Falstaff fügt sogleich hinzu: ...and then judge of my merit, „... und dann mein Verdienst beurteilen". Ford nennt seinen Freund Page Narr und Esel und merkt nicht, daß er sich, ähnlich wie Falstaff, selber zum Narren und Esel macht und machen läßt. Wie die Frauen Falstaffs Wahn künstlich nähren, indem sie ihm Hoffnung geben (hope, comfort II1), so regt Falstaffs verräterischer Kumpan Pistol (die Motive Verrat und Hoffnung ziehen sich durch das ganze Stück ebenso wie das der Rache) den Herrn Ford zur Eifersucht auf. Er kommt als Warner zu ihm wie Cassius zu Brutus; selbst die Formulierungen erinnern an jene der Römer. Prevent sagt Pistol, „wehr's!" „Hab acht! die Augen auf! denn Diebe schleichen nachts, hab acht! eh Sommer kommt und Kukkucksvögel singen." Take heed, have open eye... (II 1). Das verzweifelte Ausspähen, alles Durchschauenwollen ist das unselige Korrelat der falschen Sicherheit. Pages ruhiges Vertrauen steht mitten inne. Ford aber ruft: „Hat 231

Page kein Gehirn? hat er keine Augen? hat er keine Gedanken? Wahrhaftig, das alles sdiläft bei ihm", sure they sleep (III 2). Und später zu sich selber: »Schlaf ich? Meister Ford, wach auf! wach auf, Meister Ford!" (III 5). Nicht nur Cassius' antreibendes Wort klingt auf, auch Hamlets Hetzreden gegen sich selber. Immer wieder treibt die Phantastik des Geistes, Degenerationsform echter Phantasie, wirklicher Imagination, den Menschen gegen sein tieferes Gefühl zu falscher Tat. „Es ist ein Loch in deinen besten Rock gebrannt, Meister Ford." Ford aber wird schließlich geheilt, nicht durch das predigende Wort des Pfarrers, das anfänglich wirkungslos und nachher überflüssig ist, sondern durch die praktische Demonstration, welche die beiden Frauen vornehmen. Vergib mir, Frau. Hinfort tu, was du willst. Die Sonne werd ich eh der Kälte zeihn*) Als dich des Leichtsinns. Deine Ehre wurzelt Bei dem, der eben noch ein Ketzer war, So fest als Glaube. Ford ist der gezähmte Eifersüchtige - nicht nur besiegt wie Shylock, sondern wirklich verwandelt wie Katharina — wobei Shakespeare wiederum nicht die psychische, aber die geistige Realität der Verwandlung zeigt. Während jedoch der groteske Schwank Kate grell ins Gegenteil umschlagen läßt, ohne jede Korrektur und Abdämpfung, tritt hier, in dem feineren Spiel, sogleich der Warner auf. „Gut, sehr gut," sagt Herr Page; „nicht weiter. Treibt nicht die Unterwerfung jetzt so weit als die Beleidigung." Der Elisabethaner preist die Goldene Mitte des Aristoteles und warnt, auch hier, vor den Extremen. Be not as extreme in submission as in offence... (IV 4). Der überlegene Freund, Page, hat aber doch auch seine Schwäche, und ebenso seine muntere Frau. Beide wollen die Tochter Anne einem reichen Freier zuführen, jeder dem ihm gut scheinenden, ohne aufeinander Rücksicht zu nehmen. So fügen schließlich auch sie sich, in freilich nur zeitweiliger Verirrung, in die Reihe der tyrannischen Eltern. Falstaff macht sich an die Bürgersfrauen heran, weil er von ihnen Geld zu bekommen hofft. Fenton nähert sich Anne anfänglich mit dem Gedanken an die Mitgift, und die Eltern Page werden durch eine übertriebene Hochschätzung des Reichtums verleitet, ihre Tochter zwei lächerlichen Anwärtern zuzusprechen. „Wenn Geld vorangeht, sind alle Wege offen" sagt Ford in seiner Verkleidung als Master Brook (Herr Bach II 2). Beim Ehepaar Page aber blockiert die wenn auch sanfte Bindung an das Geld den richtigen Weg. Anne prellt sie, so wie sie selber Ford und Falstaff prellen — insofern geht Falstaffs Wunsch unverhofft in Erfüllung, und nun erhält Ford, der von dem verständigen Page immer be*) Suspect the sun with cold. 232

lehrt, beraten, beruhigt wurde, selber Gelegenheit, ein begütigendes Wort zu sprechen. Und wirklich, Herr und Frau Page sind, anders als Egeus im Sommernachtstraum, bald versöhnt und geben dem jungen Paar ihren Segen. So haben am Ende alle, die es nötig hatten, ihre Lektion bekommen, und alle, selbst Falstaff, sind irgendwie auf ihre Rechnung gekommen. Der festliche Ausklang steht nicht, wie im Kaufmann, in hartem Kontrast zum Schicksal eines Oberwältigten. Gegen Ende des Stückes tritt das junge Paar immer stärker, immer leuchtender hervor. Auch Anne und Fenton sind nicht ideale Schemen, sondern realistisch auf das Mögliche bedacht. Anne heißt zwar ihren Liebhaber des Vaters Zuneigung suchen. Wenn aber demütiges Betragen im Verein mit der günstigen Stunde (opportunity and humblest suit III 4) ihn nicht gewinnen, dann weiß sie einen Ausweg. Sie belügt - eine Goethesche Iphigenie ist sie so wenig wie Portia — ihre beiden Eltern, willigt in beider Pläne scheinbar ein, ganz so wie die Frauen Page und Ford auf Falstaffs, der Wirt auf des Pfarrers und Doktors Vorschläge scheinbar eingingen. Und sie betrügt beide Eltern, so wie diese Falstaff betrügen. Fenton aber weiß sie zu rechtfertigen: Die Sund ist heilig, die sie heut begangen, Und ihre List verliert des Truges Namen, Verletzter Pflicht und unerlaubten Trotzes, Weil sie dadurch entfloh und vorgebeugt Viel tausend gottesfernen und verwünschten Stunden, Die ein erzwungnes Band ihr auferlegt (V 5). The offence is holy, this deceit loses the name of craft - es ist eine Art Selbstverlust, Selbstvernichtung, Selbstüberwindung der Sünde, wovon Fenton spricht. Audi der Pfarrer redete einmal von „braven Schelmenstücklein" (honest knaveries IV 4), und Frau Page meinte, der Betrug an Falstaff sei kein Verrat (V 3). Es geht tiefer als das geläufige „Der Zweck heiligt die Mittel." In dem Stück, das die Verwandlung des Betrügers zum Betrogenen, des Eifersüchtigen zum Vertrauenden, der Verräter zu Verratenen zeigt, wird auch der Umschlag des Vergehens in Verdienst glaubhaft. Why, than must be thyself, „du mußt du selber sein," das war das entscheidende Wort, das Fenton zu Anne sprach. Herr Ford verliert seine Person, wenn er sich, in seiner Eifersucht, als Herr Brook verkleidet, Falstaff ebenso, wenn er sich, in Feigheit und Angst, als Weib maskiert, Anne aber gewinnt erst sich selber, als sie der Tyrannei der Eltern sich entzieht und ihrem Herzen folgt. Sie muß, wie Portia, sich entscheiden, und wenn diese dem Willen ihres Vaters gehorchen darf, so fühlt Anne, daß sie es nicht darf. „Du mußt du selber sein." Die Ablehnung des Geliebten durch den Vater, die bei Shakespeare so oft erscheint (bei Julia, Hermia, Jessica, Desdemona...) nötigt das Kind, die Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen und so es selbst zu 233

werden. In unserem Stück willigen die Eltern schließlich gutmütig ein und gewinnen so ihrerseits sich selber wieder. Sie hatten, wie Falstaff, sich selber zu Narren gemacht und waren dann von der eigenen Tochter zum Narren gehalten worden. Falstaffs: I do begin to perceive that I am made an ass galt auch für sie. Falstaff, mit dem Hirschgeweih auf dem Kopf, hält eine satirische Rede auf die Macht der Liebe, „die auf gewisse Weise das Vieh zum Menschen macht, und auf andre den Menschen zum Vieh!" „So wardst auch du, Jupiter, ein Schwan aus Liebe zur Leda. O allgewaltige Liebe! Wie nah streifte der Gott an die Gestalt einer Gans!" Falstaff, der selber vom Menschen zum Tier niedersteigt, spricht nur von Verwandlungen nach unten — daß das Vieh in der Brunst zum Menschen werde, ist blasphemischer Hohn. Weit angemessener klingt es, wenn er in ein Stück Käse verwandelt zu werden fürchtet (V 5). Fenton aber, und in ihm Anne, wandelt sich empor. Wohl will ich beichten, deines Vaters Reichtum War erster Anlaß, daß ich, Anne, um dich warb. Doch um dich werbend fand ich dich von höherm Wert Als Goldg«präg und Geld in Siegelbeuteln. Nun ist's allein der Reichtum deiner selbst, Nach dem ich trachte (III 4). Anne gewinnt für ihn höhere Gestalt, und in der Fähigkeit, diese zu erschauen, verliert Fenton selber sein primitives Selbst, sein Streben geht nicht mehr nach der Materie, sondern nach dem Menschen, Fenton gewinnt Anne und zugleich sein eigentliches Selbst. „Er hat die Augen der Jugend — er wird's davontragen!" (III 2). Fentons unwillkürliche Veredlung ist zugleich Gnade, beide rufen einander, die Begnadung ist Verwandlung und Beglückung in einem. In Fenton ereignet sich die glückhafte Selbstveredlung des Geringen. „Dient Gott und entsagt Euren Gelüsten", sagt der Pfarrer am Ende zu Falstaif, „so werden Feen Euch nicht kneipen". Natur und Fortuna sind verbündet, anders als Falstaff meint, der Natur für die Freundin, Fortuna aber, die scheinbar jedes Stelldichein stört, für die Feindin Frau Fords hält. Frau Ford hat Fortuna ganz ebenso wie Natur zur Freundin. Doch die Frauen machen sich einen „doppelt königlichen Spaß", a double excellency daraus, die Verwirrung, die in der Tragödie düster hereinbricht, in der Komödie aber sich nur andeutet oder in harmlosen Sphären sich entfaltet, künstlich heraufzuführen. Auch Jago erregt die Eifersucht Othellos zu seinem eigenen Spaß, aber er ist ein Geist der Hölle, der sein Opfer in den Untergang jagt. Wenn Frau Ford ihren Mann künstlich eifersüchtig macht — ganz ohne ursprünglich darauf ausgegangen zu sein - so ist es ein heiteres Spiel, in dem ihr Geist frei und erfinderisch sich tummelt und das schließlich auch ihm zur Befreiung gereicht. Ähnlich muß Falstaff zum Spaß Angst, 234

Erniedrigung, Schmerzen ausstehen. „Ich weiß nicht, was mir besser gefällt, daß mein Mann angeführt ist, oder Sir John" (III 3). Der Geist der Komödie liebt es, alles was als tragisches Schicksal uns bedroht, freiwillig selber zu verwirklichen und dann auch selber, aus eigener Kraft, zum guten Ende zu führen. Mit tierischem Ernst machen sich die beiden von den Eltern Page Erwählten an die Entführung der falschen Braut - auch dieses Fest des letzten Aktes ein doppelt, dreifach königlicher Spaß. Slender, der Kandidat des Vaters Page, glaubt sich doppelt sicher: Er will Anne nicht nur am weißen Kleid erkennen, er hat auch eine Parole mit ihr verabredet: Er sagt mum und sie budget. Aber er hat falsch budgetiert: er entführt sich, ebenso wie der mütterliche Günstling, nur einen verkleideten Knaben. Anne jedoch hatte die Rolle der Feenkönigin, die das ganze Spiel lenkte. Man spürt die Symbolik der Verkleidungen. Als Falstaff im Wäschekorb mit schmutziger Wäsche überhäuft und als Wäsche fortgetragen worden ist, enthüllt sein Wort selber die symbolische Bedeutung. „Fort ging ich als schmutzige Wäsche" (III 5). Was ist er denn anderes? Das Absinken, der Selbstverlust, die Verwandlung Falstaffs in schmutzige Wäsche ist zugleich Sichtbarwerden dessen, was er aus sich gemacht hat, was er aus sich hat werden lassen. Das nächste Mal wird er als Weib verkleidet, und Ford schimpft ihn Hexe, Lump, Vettel, Iltis, krätziges Mensch. Und wieder: Was ist er anderes? Ford selber erniedrigt sich, wenn er als Brook verkleidet Falstaff aushorchen geht. Seine Verkleidung deutet den Verlust der Identität, den er im Wahnsinn der Eifersucht erleidet, äußerlich an. FaJstaff versteht noch einmal gute Miene zum bösen Spiel zu machen, eine Verlegenheit in einen Vorteil zu verwandeln: die Vermummung soll seine Feigheit entschuldigen. Er erzählt Herrn Brook, Ford habe ihn „jämmerlich durchgeprügelt in der Gestalt eines Weibes. Denn in der Gestalt eines Mannes, Master Brook, fürchte ich mich nicht vor dem Goliath." Spiel mit dem Phänomen der Identität, der Vertauschung, Verkleidung, des Verlusts des Selbst. Zuletzt verkleidet sich Falstaff selber. Wie Malvolio gehorcht er willig den Fäden derer, die ihn als Marionette bewegen. Er tritt als Jäger Herne auf, der ein böser und schädlicher Naturgeist ist. Und was ist er anderes? Nicht die Natur ist böse und schädlich — das wird von Frau Page als ein Märchen bezeichnet, an old tale - der Mensch ist es, wenn er zu einem Falstaff entartet. Aber als Jäger Herne wird er gar bald zum Gejagten. Das Schicksal, das er anderen bereiten wollte, bereitet er sich selbst. Nicht ein wirklicher Herne tritt auf, und nicht wirkliche Elfen erscheinen. Falstaff muß Herne, Anne darf Elfenkönigin sein. Nicht Naturgeister lenken, irren, beglücken die Menschen - das war ein Sommernachtstraum. Die Menschen bereiten sich ihr Schicksal selbst, sie entstellen sich zu wüstem 235

Spuk oder verklären sich zu Feen und Elfen. Die Komödie aber erlöst selbst Falstaff schließlich von seinen Irrgängen und Tiermasken und nimmt ihn in die allgemeine Versöhnung mit auf.

Viel Lärm um nichts Man is a giddy thing. Much ado about nothing ist, wie der Titel es verspricht, von geschäftiger Betriebsamkeit erfüllt. Verkleidungen und Maskeraden, Belauschungs-, Behorchungsaktionen, Mißverständnisse und Tölpelszenen reihen sich in rascher Folge, die Figuren spielen freiwillig und unfreiwillig Theater, nehmen sich gegenseitig ans Gängelband. Intrigen und Gegenintrigen entwickeln und paralysieren sich - und alles um nichts? Die Schurkerei Don Johns, Bastardbruders des Prinzen, und seines Gesellen Borachio, welche die Liebenden Claudio und Hero auseinandertreiben soll, führt in der Tat nur zu einem Theatercoup, zum erschreckenden Scheinbild einer wirklichen Katastrophe, und richtet sich schließlich gegen die eigenen Urheber. Die Parallelaktion des Prinzen von Arragon aber, die umgekehrt zwei widerstrebende Spröde, Benedick und Beatrice zueinanderführen will, hat den schönsten Erfolg, leitet zwei bizarre Menschen zu ihrem eigentlichen Wesen und zu gegenseitiger Beglückung. Die Villany des teuflischen Bastards scheitert, dem wirklichen Fürsten aber gelingt das Unmögliche: die Widerspenstigen zu zähmen und zu erlösen. Er darf es füglich „eine von Herkules' Arbeiten" nennen (II 1). Die Methoden Don Pedros von Arragon sind feiner als jene Petruchios. Während dieser seiner wilden Kate die Maske der Zahmen und Liebenden mit brutaler Direktheit aufzwingt und sie ihr so lange aufs Gesicht preßt, bis sie sie schließlich, mit manieristischer Plötzlichkeit des Entschlusses, akzeptiert und sich mit ihrer Rolle identifiziert, während also in der Widerspenstigen eine nur nach einer Richtung wirkende extreme Willensunterjochung statt hat, läßt Don Pedro den beiden Ungebärdigen mehr innere Freiheit, er führt sie nur indirekt zur Umkehr, überträgt den letzten Entscheid ihnen und läßt jeden von ihnen nicht so sehr den ändern als sich selber besiegen. Schein, Maske, Verkleidung geben diesem höchst barocken Spiel das Gepräge. Help to dress me, sagt Hero einmal zu Margarete, „hilf mich ankleiden" (III 4). Es tönt wie das Stichwort für diese ganze Komödie, deren Akteure dauernd bemüht sind, andere zu kleiden und zu verkleiden, mit passenden und unpassenden, schönen und häßlichen Gewändern. Heros Kammerfräulein Margarete wird in ihrer Herrin Kleider gesteckt und muß so, ohne

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daß sie selber um ihre Rolle weiß, die Verräterin an Hero machen; der schurkische Bastard - er nennt sich selber einen aufrichtigen Schurken (I 3) und wird von seinem Spießgesellen als „Teufel" bezeichnet (III 3) - stülpt zuerst dem Prinzen, dann, mit mehr Erfolg, der ebenso unschuldigen Hero die Maske der Treulosen auf; ein Mönch beredet die Verwandten der Verleumdeten, diese als tot auszugeben; durch das Maskenfest des zweiten Aufzuges, in dem Don Pedro als Claudio verkleidet für diesen um Hero wirbt, wird die Maske als Grundmotiv betont. Wenn Benedick und Beatrice vor sich und den ändern die Spröden spielen, so ist dies deutlich — deutlicher als bei Katharina - eine Maskierung ihres eigentlichen Wesens. „Stets war's ein Merkmal der Vortrefflichkeit, durch fremd Gesicht die eigene Vollendung zu verstecken", sagt Pedro von Arragon, nur scheinbar in anderem Zusammenhang. It is the witness still of excellency, to put a strange face on his own perfection (II 3). Wenn er und seine Helfer nun den beiden Spröden die Maske von heimlich Liebenden aufsetzen, so ist diese Maskierung, wie so oft bei Shakespeare und im Barock, zugleich Demaskierung: Benedick und Beatrice sind in Wirklichkeit zu Mitleid, Liebe, Nächstenhilfe rasch bereit und werden vom Fürsten nur zu ihrem eigenen Sein befreit. Beatrice, die so heiteren Wesens ist, daß sie oft im Traume lachen muß und davon aufwacht (II 1), Beatrice, die als erste ihre verleumdete Kusine in Schutz nimmt („Bei meiner Seele, man hat sie verleumdet!" IV 1) und ihr eigenes Glück dran setzt, um Heros Ehre wiederherzustellen, erscheint als die Böszüngige, wird von Benedick „Fräulein Verachtung" genannt (I 1), „höllische Ate in schmuckem Gewand" ( H l ) und spricht selber von ihrer Kälte ( I I ) . Don Pedro aber spielt ein fürstliches Spiel. So wie in Was ihr wollt den beiden Duellgegnern, Viola und Aguecheek, ohne daß sie selber darum wissen, für die Augen des anderen die Maske der Tapferkeit vors Gesicht gehängt wird, so erhalten hier die beiden Spröden, ohne daß sie es ahnen, jeder für den ändern die Maske der Verliebtheit, und flugs entzünden sie sich an der Scheinliebe des ändern, empfinden Mitleid für ihn, beginnen sich wechselseitig zu lieben: aus Schein wird Sein. Die Julia der Veroneser wußte, daß Sprödigkeit Maskierung ist, sie sagte, wenn sie Ja meinte, Nein, und wollte es doch für ein Ja genommen wissen. Benedick und Beatrice aber kennen den Sinn ihrer Sprödigkedt nicht, ihre Liebesbereitschaft, in der Tiefe da, ist ihnen verborgen, und es ist der geniale Einfall Don Pedros, diese verborgene Liebesfähigkeit freizusetzen, indem er der Maske Sprödigkeit eine zweite überwirft, die der Verliebtheit. In ihr, in der äußersten Maske, tritt das Innerste nach außen. Don Pedros freche Fälschung ist in Wirklichkeit fröhliche Enthüllung des wahren Sachverhalts. Die Maske täuscht, die Maske der Maske ist Darstellung des eigentlichen Kerns der Persönlichkeit; minus mal minus gibt plus. Damit ist das Meisterstück der Komödie geleistet, die spielende Befreiung des Menschen zu sich selber. 237

Es ist bei aller Primitivität der Mittel ein übermütiges und zugleich sublimes Spiel. Benedick wird verleitet, ein Gespräch zu belauschen, in dem von Beatrices angeblicher Leidenschaft und von seiner eigenen Hartherzigkeit die Rede ist; dabei lauern die Sprechenden verschmitzt auf die Reaktion des Horchenden. In gleicher Weise - die Symmetrie gehört zu den Effekten der Komödie, die sich nicht an die Realität bindet, sondern überlegenen Geistes stilisiert - wird mit Beatrice verfahren. Die scheinbar Belauschten, Don Pedro und seine Verbündeten, sind in Wirklichkeit die Lauschenden, und Benedick und Beatrice, die Lauseher zu sein wähnen, sind Belauschte: barocke Freude an der Umkehrung aller Dinge. Die beiden Spröden, die sich selber nicht verstehen, trauen dem Ohr, das ihnen doch eine Lüge vermittelt, wenn auch, lustspielgerecht, eine glückhafte, Wahrheit kündende Lüge. Die ehrlichen Betrüger selber aber, Don Pedro und sein Freund Claudio, trauen dann ihren Augen, die ihnen bösen Trug zeigen: die Komödie streift die Tragödie. „Ich habe selbst Eure Augen richtig getäuscht", sagt der Regisseur der Trugszene später zum Prinzen. Der Mensch, ein schwindliges Geschöpf, kann seinen Sinnen nicht trauen, sie täuschen ihn, und gerade wer sich, wie so viele Figuren Shakespeares, als überlegener Lauscher und Durchschauer vorkommt, wird betrogen. Das christlich-barocke Mißtrauen gegen das Zeugnis der Sinne durchdringt seine Spiele. Die Sicherheit, die der Mensch entbehrt, kommt ihm von den Sinnen am allerwenigsten. Sein Bestes ist das unmittelbare Innewerden. Beatrice weiß sofort, Hero ist unschuldig, und auch Leonato, der Vater der Geschmähten, sagt schließlich: „Meine Seele sagt mir, Hero ist verleumdet" (V 1). Benedick mißtraut lieber seines Prinzen und Claudios, des Freundes, Augenzeugnis als Beatrices innerem Wissen: „Seid Ihr in Eurer Seele überzeugt, daß Graf Claudio Hero unrecht getan hat?" Beatrice antwortet: „Ja, so gewiß ich Gedanken oder Seele habe." Die Seele des Menschen ist prophetisch, seine Sinne sind es nicht. Aber sie können freilich, wie in diesem Stück die des Mönchs, im Kaufmann jene des liebenden Bassanio, erleuchtet und begnadet werden. Als Beatrice, in die Stellung der Lauschenden geschoben, ihre Freundinnen Benedick preisen hört, ruft sie: „Welch Feuer ist in meinen Ohren! Kann es denn wahr sein?" Und dann: „Ich glaub es wohl, und sichrer als vom Hören." Sie glaubt dem trügerischen Bericht nur, weil sie seine innere Wahrheit spürt. Ihr unmittelbares Gefühl ist die entscheidende Instanz. / believe it better than reportlngly (III 1). So bleibt Beatrice, wiewohl genasführt, in ihrer Entscheidung frei und sicher. Benedick und Beatrice werden erleuchtet, indem sie belogen werden. Ihre Niederlage ist gleichzeitig ihr Sieg, sie werden aus ihrer Gestalt, ihrem humour herausgeschreckt und gewinnen dadurch erst ihre eigentliche Gestalt, ihre wahre Gestimmtheit. Don John jedoch, der Bösewicht, sagt: „Laß mich sein, was ich bin, und such mich nicht zu ändern." Let me be that I am 238

( 3). So verliert er die Möglichkeit, zu werden, was er ist, was er, seiner ewigen Bestimmung nach, sein sollte. In der Wandlung erst ist Erfüllung. „Du hast das Wort aus seinem richtigen Sinn herausgeschreckt, so gewaltreich (forcible) ist dein Witz", sagt Benedick am Schluß zu Beatrice (V 2). Noch in der Wortchaotik der Tölpel, in ihren Verdrehungen und Mißverständnissen liegt latent - von ihnen selber nicht verwirklicht — die Möglichkeit zu einem höheren, eigentlichen Verständnis, zur Sinngebung vom Geiste her. Die Maske kann Wahrheit künden, im Schein Sein sich bergen, der Tod kann Leben bringen. In vielen Formen entfaltet sich in dem Stück die barocke Ambivalenz der Phänomene, die Fähigkeit des Umschlags ins Entgegengesetzte. Ist das Erröten Zeichen der Sittsamkeit oder der Schuld? Schuld und Sittsamkeit haben die gleiche Erscheinungsform, Tugend erscheint als Sünde, Sünde als Tugend (IV 1). Schale Toren, trottelhafte, ahnungslose Polizisten bringen ans Licht, was der Weisheit der Klugen verborgen blieb (V 1). Der milde Leonato, Heros Vater, ist rasch dabei, seine Tochter zu schmähen und zu richten, so wie der Fisch „den Silberstrom mit goldnen Rudern teilt, den tückschen Köder gierig zu verschlingen" (III 1). Die bösen Scharfzüngigen aber, Benedick und Beatrice, ahnen und glauben die milde Wahrheit. Claudio, der betrogene Bräutigam (in anderm Sinn betrogen als er meint) spricht, wie die Hexen im Macbeth, von der Häßlichkeit des Schönen, von der Ruchlosigkeit des scheinbar Reinen, und Argwohn (conjecture) soll ihm künftig alle Schönheit verkehren. So fahr denn hin, höchst Häßliche, höchst Schöne, fahre hin, Du reine Sündlichkeit, sündhafte Reinheit! Um deinethalb schließ ich der Liebe Tore Und häng als Decke Argwohn vor mein Auge, Sie wandle jede Schönheit mir zum Unheilszeichen (IV 1). Most foul, most fair! Pure impiety, and impious purity! Aber das Chaos, das Claudio zu sehen glaubt, liegt nicht in der Realität, sondern in ihm selber; ein Teufel, aber ein Teufel in Menschengestalt, hat ihn verblendet. Er spielt Othellos Rolle, Don John die Jagos. Die Menschen selber sind es, die das Chaos heraufführen. Margareta spricht davon, daß schlimme Gedanken gute Reden verdrehen (III 4). Don John, sobald er von Liebe hört, nimmt sie als Fundament, um Unheil darauf zu bauen (I 3). Most foul, most fair! Claudio glaubt, echt barock, im Schönen die Verderbnis zu entdecken, Shakespeare aber, nicht minder barock, entlarvt nicht nur Sicherheit als Trug, Beweis als Blendwerk, Klugheit als Torheit, er verzaubert auch umgekehrt Willensunterjochung in Selbstbefreiung, Selbstverlust in Selbstgewinn; in der Preisgabe 'der individuellen Temperamentsfärbung, des humour, wird die eigentliche Persönlichkeit geboren. 239

Die Zähmung der zwei Widerspenstigen, die Entzauberung und Verzauberung der Spröden bleibt als das wesentliche Geschehen des Stücks in Erinnerung. Äußerlich gesehen jedoch ist diese Herkulesarbeit nur Nebenhandlung, das eigentliche plot ist die Gewinnung Heros durch Claudio, die dank der Fürsprache des Prinzen zunächst kräftig gefördert, durch Don Johns Intrigen aber zuerst verwirrt und dann, in einem zweiten Vorstoß, so gefährlich torpediert wird, daß eine eigentliche Katastrophe eintritt. Dabei kann Don John, nachdem er sein Geschoß abgefeuert, die Hände müßig in den Schoß legen: der geblendete Liebhaber, Claudio, übernimmt seine Rolle, wird an seiner Statt zum Widersacher Heros und damit auch seiner selbst. Während in der grobschlächtigeren, primitiveren Taming of the shrew die Heldin direkt, obschon auch noch mit Hilfe einer Reihe von Maskeraden, zur Umkehr gezwungen wurde, werden in Viel Lärm um nichts die Figuren so weit gebracht, daß sie sich selber zu ihren eigenen Gegnern oder Erlösern machen. Es ist ein differenziertes Zusammenspiel zwischen Anstößen von außen und innen, zwischen Hilfe und Schädigung durch Freunde oder Gegner und eigenem erlösendem oder zerstörerischem Tun. Wie es Euch gefällt, aber zugleich wie es mir gefällt, sagt Beatrice einmal, as it please you - as it please me (II 1). In derselben Szene nimmt sie, im Maskengespräch mit Benedick, das Thema noch einmal auf. „Wir müssen den Führern folgen." We must follow the leaders. Sie meint die Leiter des Festreigens. Aber Benedick nimmt es allgemein und versetzt: „In allem, was gut ist." Beatrice darauf: „Freilich, wenn sie zu etwas Bösem führen, so fall ich bei der nächsten Schwenkung von ihnen ab." Bei aller barocken Maskenfreude verkündet das Stück das Golden Mean der Renaissance, der Mensch läßt sich lenken und lenkt sich selber, Autonomie und Heteronomie finden sich zur Einheit. Echt barock ist der Glaube an die Wirksamkeit des Indirekten. Ein belauschtes Gespräch macht tieferen Eindruck als bare Mitteilung. Als die verlarvte Beatrice wie zu einem Unbekannten über Benedicks Fehler spricht, trifft es ihn schärfer, denn da sie ihn direkt verspottete. Was sie unmaskiert, als Gesellschaftsdame, zu ihm redet, das braucht er nicht ernst zu nehmen. Unter der Maske aber taucht sie in tiefere Schichten, sie darf jetzt sie selber sein, was sie im Schütze der Maske spricht, gewinnt höhere Bedeutsamkeit. „Sie spricht Dolche", sagt Benedick nachher, und wenn er sie auch jetzt gerade „die höllische Ate" nennt und einen Gelehrten herbeiwünscht, der sie beschwören könnte (er selber wird wiederum indirekt, ohne sein Wissen und seinen Willen dieser scholar sein!), so empfängt er doch hier den ersten Stoß, der seine eigene Umkehr vorbereitet: „Sie hätte den Herkules gezwungen, den Bratspieß zu wenden" (II 1). So wird sie, ohne es selber zu ahnen, wirklich auch Benedikt dahinbringen, seinen Spieß zu wenden. In der Schlacht hat Claudio in der Gestalt eines Lamms die Taten eines Löwen getan (I 1) - Benedick und Beatrice aber, die sich in der Gesellschaft bissig 240

wie Wölfe gebärden, lassen sich in Wirklichkeit wie Lämmer lenken. Sie scheinen in sich selbst vergafft (self-endear'd III 1) und sind doch in diesem Stück, wo die Menschen freigebig und anmutsvoll einander zu Hilfe eilen — noch der Übeltäter Borachio bemüht sich, als er selber gefangen, Margarete zu entschuldigen, zu retten (V 1) - die, welche am stärksten, unbedingtesten für andere sich einzusetzen vermögen. Die Wandlung holt nur aus ihnen heraus, was von Anfang an in ihnen steckte. Wer bist du? Die Frage nach der Identität tönt in hundert Spielformen durch das Stück. Am reinsten stellt und beantwortet sie sich bei Benedick und Beatrice. „Was sein Herz denkt, spricht seine Zunge", heißt es von Benedick. Er aber antwortet: „Ich bin nicht mehr, der ich gewesen" (III 2). Einst schwor er, daß Liebe ihn eher in eine Auster verwandeln als einen verliebten Narren aus ihm machen könnte. „Sollte ich jemals so umgewendet (converted) werden, solange ich aus diesen Augen sehe?" Da ereignet sich die Verwandlung, und er räumt räsonnierend ein: „Ändert nicht der Geschmack sich? Es liebt einer in seiner Jugend ein Gesicht, das er im Alter nicht ausstehen kann" (II 3). Er parfümiert und schminkt sich jetzt, ist, als ob er die Möglichkeiten des Identitätswechsels augenfällig demonitrieren möchte, in fremde Moden verliebt: „Heut ein Holländer, morgen ein Franzos, oder in der Tracht zweier Länder zugleich, ein Deutscher vom Gürtel abwärts, lauter Pluderhose, und ein Spanier von der Hüfte aufwärts, ohne Wams" (III 2). Beatrice aber ruft dreimal: „O daß ich ein Mann wäre!" „Ich bin fort, obgleich ich hier bin" (IV 1). „Und wollt Ihr mir nicht sagen, wer Ihr seid?" fragt sie den maskierten Benedick. „Jetzt nicht", antwortet der. Sie aber sagt ihm darauf gründlich, wer er ist, oder vielmehr, wie sie ihn sieht (II 1). In Wirklichkeit müssen sie sich beide von Fremden sagen lassen, wer sie sind. „Kommt, Nichte, glaubt mir's nur, Ihr liebt den Herrn", sagt Leonato zu ihr; „die Augen lieh ihr wahrlich meine Tochter." Und zu ihm: „Den Liebesblick habt Ihr von mir erhalten" (V 4). Hero aber behauptet, Beatrice wäre imstande, sie aus sich heraus zu spotten (she would laugh me out of myself III 1), der Konstabler unterstreicht immer wieder, daß er, nach Borachios Aussage, ein Esel sei, Antonio, den man auf dem Maskenball an seinem Kopfwackeln kennt („Ihr könntet ihn unmöglich so vortrefflich schlecht, ill-well, nachmachen, wenn Ihr nicht der Mann selber wäret"), beteuert beharrlich: „Ich bin es nicht" (II 1). „Steh ich hier?" schreit Claudio in der Hochzeitsszene, „Ist dies der Prinz?" Sie sind es nicht, sie sind außer sich, sie haben sich selber verloren. Als Leonato an seiner Stelle antworten will — auch dies eine Identitätsvertauschung - sagt Claudio: „O was sich die Menschen, nicht alles getrauen! Was sie nicht alles tun können! Was sie täglich tun, und wissen nicht, was sie tun!" Er aber weiß in eben dem Augenblick nicht, was er tut und was er ist. Wenn er weiter fragt: „Ist dies des Prinzen Bruder? Ist dies Heros Antlitz?" so müßte man ihm antworten, daß 241

er weder des einen noch der ändern Wesenheit richtig erfaßt. „Sind unsre Augen unser eigen?" Are our eyes our own? Daß sie es nicht sind, wird in diesem Stücke klar genug. „Der Mensch ist ein schwindliges Geschöpf, man is a giddy thing (V 4). Wo er sich am sichersten wähnt, geht er am ärgsten in die Irre. Und doch gibt es, auch dies tritt in diesem selben Spiel in Erscheinung, eine innere Gewißheit, ein echtes Vertrauen, die nicht Lügen gestraft werden, die in der Gnade stehen. Much ado about nothing ist voll barocker Wendungen und Schwenkungen. Nicht mehr so grell und schreiend wie Der Widerspenstigen Zähmung; Benedick und Beatrice sind mildere, feinere Charaktere als Katharina, und wenn Don Pedro, nachdem er einige Proben von Beatrices Zungenfertigkeit erhalten, zu ihrem Onkel sagt: „Wahrhaftig, eine frohgemute Dame" (pleasantspirited II1), so klingt das keineswegs so grotesk wie Petruchios „Es ist ein muntres Kind" (a lusty wench II1), unmittelbar nachdem er vernommen, wie sie ihrem Musiklehrer die Laute auf dem Kopf zerschlagen. Die Wandlung Beatrices und Benedicks ist psychologisch weit glaubhafter als jene der Katharina. Die grobe Gehorsamsprobe am Schluß der Widerspenstigen klingt hier in einer feinen und rasch vorüberhuschenden ironischen Wendung nach: „Süße Beatrice, kamst du wirklich, weil ich dich rief?" „Ja, Signor, und ich werde gehen, wenn Ihr mir's sagt." (V 2). Und doch steht auch dieses Werk seinem Wesen nach nicht unter dem Gesetz realistischer Psychologie und darf nicht vor deren Richterstuhl gezerrt werden. Es gehorcht den Gesetzen des barocken Spiels und erfüllt schmiegsam und anmutig dessen geistgeprägte Regeln. Es lebt von den scharfen Wendungen, den Umkehrungen und Verwandlungen, den Variationen und Wiederholungen, Symmetrien, Antithesen und Scheinwirkungen, von den Maskeraden und Offenbarungen. Es ist ein Spiel, das nicht realistische, aber geistige Wirklichkeit hat. Die raschen Schwenkungen und Drehungen besitzen jenseits aller Psychologie eine unmittelbare Glaubhaftigkeit. Die Wirklichkeit des Seelischen aber tritt leise und unvermerkt hinzu - auch hierin wirkt sich die Sehnsucht nach dem Golden Mean, dem gnadenvollen Zusammenspiel aller Dinge aus. Es ist von einer fast rührenden Überzeugungskraft, wenn Don Pedro und Claudio ihrem Freunde erzählen, wie Beatrice „eine volle Stunde lang alle deine Tugenden travestierte (trans-shape), bis sie zuletzt mit einem Seufzer schloß, du seist der artigste Mann in Italien. Wobei sie bitterlich weinte und hinzufügte, sie kümmere sich nicht darum" (VI). Von dramatischer Wirkung aber ist der unvermittelte Übergang von preziösen Geistesspielen zum vollen Ernst des Lebens. Claudios „Nein" auf der Hochzeit wird zunächst heiter als Scherz genommen, bis er, noch einmal das Gewand geistvollen Spaßes anlegend und dann plötzlich fallen lassend, den Ahnungslosen seine törichte Anklage in die Ohren schreit. Das Motiv der gestörten Hochzeit, das schon in der Widerspenstigen anklang, ist hier zur vollen 242

Theaterwirkung entfaltet. Mit gleicher Schlagkraft geht Beatrice später von preziösen Spaßen zum nackten Ernst über, und ihre Forderung wirkt um so stärker. Beatrice: „Ich liebe Euch mit so viel von meinem Herzen, daß nichts mehr übrig bleibt, um dabei zu schwören." Benedick: „Heiß mich für dich tun, was du willst." Beatrice: „Töte Claudio." Hier wird Benedick nicht zum Scherz erprobt wie Katharina in der Widerspenstigen, nur Beatrices Worte gehören der Welt des Spiels an, ihre Forderung kommt aus tiefer Notwendigkeit, keineswegs aus mutwilliger Lust, den Geliebten zu prüfen. Der aber besteht die Probe, vor die ihn das Schicksal stellt, ihn wie seine Liebste, und nun werden beide von eben dem Schicksal begnadet. Loving goes by haps, Liebe gedeiht durch die Gunst des Glücks (III1). „Man glaubt nicht, wie leicht ein böses Wort die Zuneigung vergiftet", sagt Hero in ihrem Gaukelgespräch vor der lauschenden Beatrice (III 1). Diese aber, die sich ihres guten Auges rühmte („ich kann bei hellem Tage eine Kirche sehen" II l - später ist, im Zusammenhang mit Borachios Teufelei III 3, von der täuschenden Nacht die Red«), war stolz auf ihre scharfe Zunge, ihre bösen Worte — in ihr und Benedick hat Shakespeare die Satiriker satirisch dargestellt. „Ich sah noch keinen Mann, so klug, so jung und brav, so schön gebildet, sie münzt ihn um ins Gegenteil", sagt ihre Kusine Hero. „So kehrt sie stets die falsche Seit hervor", so turns she every man the wrong side out. Beatrice erhält hier das satirische Porträt ihrer selbst, während Benedick das seine schon aus ihrem Munde empfing. „Wollt ihr mir Spott und Hohn so scharf verweisen?" fragt sie. „Fahr hin denn Sprödigkeit!" (contempt III 1). Und Benedick: „Glücklich sind, die erfahren, was man an ihnen aussetzt, und sich danach bessern können." Happy are they that hear their detractions, and can put them to mending. Beiden hält man den Spiegel vor, und beide gehen in sich. So kann auch Shakespeares Komödie Satire sein, ebenso wie seine Tragödie, mit besonderer Lust aber ist sie, wie hier, Satire der Satire. Sie verspottet die Spötter — mehr, sie verzaubert, erlöst, verwandelt sie. Wenn die satirische Beatrice alle Tugenden zu Fehlern travestiert und stets die falsche Seite hervorkehrt - Shakespeares Komödie liebt es, gerade die liebenswerte Seite, des Menschen wie des Schicksals, hervorzukehren. Beatrice lacht die ändern aus sich selbst heraus, die Komödie bringt ihre Figuren, und, im Widerglanz, auch ihr Publikum, zu sich selbst. Selbst noch durch das Scheinbild des Todes fördert sie das Leben, der Mönch wirkt wie eine nachträgliche Rechtfertigung des armen Bruders Lorenzo aus Romeo und Julia. Des Lustspiels höchste Lust ist es, das Leben im Geist aufzuheben und zu verklären, Notwendigkeit zu geistiger Freiheit zu verzaubern. „Der Spaß (sport) wird sein, wenn jeder von ihnen sich von der Leidenschaft des ändern überzeugt hält, und ohne realen Grund" (and no such matter. II 3). Das übermäßige Spiel mit 243

Parallelen und Symmetrien, die überlegene Stilisierung der Komödie strömt aus dieser Lust des Geistes, der sich für einmal frei weiß. Daß aber stets und überall auch Unheil und Versagen nahe sind, daran werden wir auch in diesem Lustspiel nachdrücklich genug erinnert. Hero und Claudio werden durch einen glücklichen Zufall gerettet, Don John aber, der eigentliche Bösewicht, wird nicht gezähmt und nicht verwandelt. „Ich bin überwältigt'', sagt er, / am subdued (I 3). Aber er ist nicht geheilt, er will sich nicht heilen lassen, spinnt neue Ränke und wird schließlich gefangen. Shylock war voller und menschlicher gezeichnet, so daß sein Schicksal schärfer ergriff; aber im letzten Akt war von ihm nicht mehr die Rede, es ist nur noch ein großes Fest. Auch hier steht am Schluß Erlösung und Versöhnung, und Musik darf erklingen — aber mit fühlbarer Härte werden die Gedanken zu allerletzt auf Don John gelenkt. Er ist gefangen, er muß bestraft werden, und Benedicks „Denkt nicht eher als morgen an ihn" klingt wie Hohn — stell dich in die Ecke und denk nicht an einen weißen Elefanten! Wenn Shakespeare wollte, daß Spielfiguren und Publikum den finsteren Don John vergessen sollten, dann würde er ihm nicht die letzten Verse des ganzen Stückes widmen. Das Ende seiner Tragödien wird oft von einer verheißungsvoll aufwärts weisenden Gestalt getragen, hier aber, am Ende der Komödie, steht das Bild des Bösen. Unaufdringlich, mit wenigen Worten wird es beschworen; aber der dunkle Klang, auf den das Stück schließt, ist von seltsamer Unerbittlichkeit.

HELLE UND DUNKLE SPIELE In der Blüte seiner Schaffenszeit schreibt Shakespeare die festlichen Lustspiele Was ihr wollt und Wie es euch gefällt. Die Satire ist an den Rand gerückt, die Hauptgestalten sind nicht mehr, wie bis dahin so oft, Exzentriker, sondern wundervoll ausgewogene Figuren, in denen sich Himmel und Erde zu vermählen scheinen. Sie haben mehr Körper als die Gestalten der früheren Komödien, sind nuancenreicher, farbiger, wirklicher gezeichnet und besitzen doch die Leichtigkeit, das Lichte, Durchscheinende der echten Komödienfigur, so daß man vor dem Wort „Charaktere" auch hier zurückscheut, aber doch nicht mehr von „Marionette" sprechen mag. Das Mechanistische, ein dominierendes Moment in manchen frühen Spielen Shakespeares, tritt zurück, nur noch zum Spaß werden einzelne Figuren zum Puppentanz befohlen: was früher die Komödie als Ganzes charakterisierte, tritt jetzt auf den inneren Plan, wird zum Spiel im Spiel (ähnlich wie im Hamlet die Schauspieler des Theaters im Theater einen älteren Stil als den im Stück selber herrschenden demonstrieren). Der Manierismus ist einem lebensnäheren gedämpften Barock gewichen, der die Gegensätze auswiegt. Leben und Geist, Natur und Hof, Schönheit und Freiheit, Außen und Innen fügen sich zum Zusammenspiel, die Elemente durchdringen sich, finden sich zu klingender Einheit, ohne ihre eigene Art und Wesenheit im geringsten zu verlieren. Die Thematik von Ende gut alles gut und Maß für Maß bringt dunklere Töne. Man spricht von Dark comedies und deutet damit die geheimnisvolle Doppelheit von Licht und Dunkel an, die diese Spiele kennzeichnet. Wenn Erde und Himmel in den hellen Spielen sich fanden und sich in beseligender Zweiheit offenbarten, so tritt in den dunklen Komödien das Böse als dritte Dominante ins Spiel. Aber es ordnet sich, wie immer in der Komödie, ins Spiel ein, ohne es zu sprengen. Ein Stück Mittelalter, in dieser Übergangszeit noch so nah, scheint wieder in die Renaissancewelt emporzutauchen. Mirakelspiel, Allegorie, theologische Spekulation und Terminologie schimmern durch. In den reinen Lustspielen triumphiert die Imagination des menschlichen Herzens über alle Widerwärtigkeiten. In den dunklen Komödien bringen düstere Mächte sich in Erinnerung, nicht nur andeutungsweise wie in Wie es euch gefällt, sondern mit bedrohlicher Aktion. Die Spiele, in sich ungleich gearbeitet, werden schillernd und hintergründig, sie bekommen von daher ihren.eigenen Reiz, eine religiöse Bedeutsamkeit durchdringt sie. Doch bleiben sie Komödien, die Führung der Begebenheiten, äußerlich gewaltsam und unwahrscheinlich, den barocken Vorlieben entsprechend, ist von starker innerer Notwendigkeit. Die Handlung ist auch hier kein bloßes Gerüst, sondern Schema wesentlichen Geschehens. 245

Wie es euch g e f ä l l t Ich zeige mehr Fröhlichkeit als ich eigentlich besitze. As you like it ist ein Spiel vom goldenen Überfluß des Geistes. Die Imagination des Herzens, nicht fhysis und Fortuna schaffen die gültige Welt. Ein böser Usurpator vertreibt seinen leiblichen Bruder, den echten Herzog. Der aber bezeugt eben jetzt die Legitimität seines Herrschertums, er wird nicht Knecht, er bleibt Herr des Schicksals. Lächelnd begrüßt er es, das Unheil bringt ihn näher zu sich selber, näher auch zu den Freunden, deren Treue nun sich bewähren darf, näher zur Wirklichkeit. Er fängt die üble Laune des Schicksals auf wie das böse Schelten des scharfen Winterwinds, gleichmütig nicht nur, sondern froh, daß seine Schärfe ihn zu einem realeren Existenzbewußtsein bringt. Selbst wenn er beißt und durch den Leib mir bläst, Bis ich vor Kälte schaudre, sag ich lächelnd: Dies ist nicht Schmeichelei — Ratgeber sind's, Die fühlbar mir bezeugen, wer ich bin. Was Lear erst in der Zerrüttung mühsam lernt, das Vermag der Herzog - er trägt keinen Namen, er ist Herrscher schlechthin, auch im Exil - aus der Freiheit, der Überlegenheit seines Geistes und seines ganzen Wesens, er saugt Süße aus bitterer Frucht. / smile and say: These are councellors, that feelingly persuade me what I am. Süß ist die Frucht der Widerwärtigkeit, Die gleich der Kröte, häßlich und voll Gift, Ein köstliches Juwel im Haupte trägt. Die Verbannung gibt den Herzog sich und den Freunden, sie erschließt ihm die Natur — aber eben nur, weil sein herrscherlicher Geist die Härte des Schicksals zu „übersetzen" vermag. Happy is your Grace That can translate the stubborness of fortune Into so quiet and so sweet a style (II1). Statt sich als Opfer seines Loses zu fühlen, verwandelt der Herzog mit einem Lächeln dessen bösen Schein. Seine Tochter Rosalind ist eine ähnliche Zauberin. Sie vergißt ihr Unglück und erfreut sich an dem Glück ihrer Freundin, sie zeigt mehr Fröhlichkeit als sie besitzt (I 2), sie macht das Unmögliche möglich, wird vom Mädchen zum Jüngling und vom Jüngling zum Mädchen, benützt und hätschelt den Wahn derer, die ihre Verkleidung nicht erkennen, und beglückt, befreit, leitet sie auch durch die Demaskierunig. Sie 246

liebt das Leben zärtlich und wagt es doch, sich Zauberer zu nennen, magician — es ist die Zauberei des liebenden Herzens, der kein Scheiterhaufen bestimmt ist (V 2). Auch Rosalinds Freundin Celia, die Tochter des Usurpators, beugt sich Fortuna nicht, sie handelt, wie es ihr gefällt; freiwillig folgt sie Rosalind in die Verbannung — to liberty and not to banishment (II1). Des echten Herzogs Freunde teilen aus freien Stücken dessen Exil. „Natur hat uns Witz gegeben, der Fortuna zu spotten", sagt Celia (I 2), und wo immer in diesem Stück Fortuna den Menschen bedroht, die Freiheit des menschlichen Geistes trägt den Sieg davon. Orlando, Rosalinds Liebster, weiß um die Macht der Einbildung, wenn er dem alten Diener Adam scherzend verbietet zu sterben: Thy conceit is nearer death than thy powers (II6, vgl. oben S. 146 f.) Aber auch dort, wo die Natur über den Willen des Menschen zu siegen scheint, vermag sein Geist das Ereignis einzubauen in die eigene Welt, ihm den Sinn zu geben, den es in ihrem Gefüge haben muß. Als Rosalind beim Anblick von Orlandos Blut in Ohnmacht fällt, trotz ihrer Männerkleidung, da deutet sie, kaum wieder zu sich gekommen, die echte Schwäche flugs in eine gespielte um: denn sie, die doch den ändern als der Jüngling Gany'med erscheint und erscheinen will, hat es ja auf sich genommen, ein Mädchen /u spielen: je echter die Ohnmacht, desto größer der Triumph des Schauspielers. Hier ist die frohe Wendigkeit eines Falstaff {oben S. 235) oder einer Katharina (oben S. 213, 216) beglaubigt und verklärt. Wie es euch gefällt! Die Imagination siegt über die Materie, der Schäfer Silvius verliebt sich in die Häßlichkeit Phoebes, diese in den Zorn Rosalind/Ganymeds. O süßer Jüngling, schilt ein Jahr lang so! Dich hör ich lieber schelten als ihn werben (III 5). Liebe, so sagt Silvius, ist lauter Phantasie. What 'tis to love: It is to be all made of fantasy (V2). Sie vermag, wie die Komödie, alles Letzte und Höchste. Daß Liebe das ärgste Gebrechen sei, behauptet der melancholische Jaques, Rosalind aber nennt sie in übermütiger Lustigkeit puren Wahnsinn, gerade weil sie so sicher fühlt, daß Liebe im Gegenteil herrlichste Wirklichkeit. Love is merely a madness, sagt sie, als Ganymed unerkannt vor ihrem Liebsten Orlando stehend, zu diesem, und möchte es auskosten, wie er sich ebensowenig zu dieser Ansicht wenden mag wie sie selber (III 2). Liebe ist, so sieht es auch Celia, die eigentliche Realität — Aussehen und Tat des Jünglings sind Versprechen, die sich erst in der Liebe erfüllen. Und Orlando beeilt sich, dieses sein unausgesprochenes Versprechen einzulösen, wir hören ihn sein ,But heavenly Rosalind!' noch in derselben Szene sprechen, es sind die Worte, die sie beschließen (12). O Engel Rosalind! Später 247

hängt er die Gedichte, die sie preisen, an die Bäume des Waldes, daß der Geliebten Vollkommenheit allen verkündet, allen offenbar werde. That every eye, which in this forest looks Shall see thy virtue witness'd everywhere (III 2). Liebe zwingt uns, den Menschen zu rühmen, Liebe erst erschaut die volle Herrlichkeit des Menschen. Silvius vermag die Schönheit selbst Phoebes zu sehen, Phoebe läßt sich — und hier blickt von fernher zugleich die Gefährdung durch, die in der Liebesphantasie liegt — vom Reiz Rosalinds ebenso ergreifen wie Olivia vom Zauber Violas — und wenn auch beide im Äußeren sich täuschen, so haben sie doch, durch eine leichte Verkleidung mehr geführt als verführt, das wahre Wesen des ändern Mädchens für einen Augenblick vor Augen gehabt, echter und strahlender als wenn es, ohne Verkleidung, ihnen nur als Schwester hätte erscheinen können. Rosalind freilich und Celia brauchen solche äußere Hilfe nicht. Die Freundschaft der Frauen Page und Ford kehrt in ihnen gesteigert und verfeinert wieder, sie lieben einander, vermögen jeder im ändern das Wunder zu schauen, ohne daß eine Maskerade, die die eine der ändern fernrückt und so erst sichtbar macht, nötig wäre. Celia verläßt um Rosalinds willen den Vater wie Jessica um ihres Liebsten willen Shylock. Rosalind aber ist so liebevoll zu der auf der Flucht ermattenden Freundin wie Orlando zu seinem Diener Adam. Rosalind kleidet sich als Jüngling, um den Gefahren der einsamen Wanderung besser begegnen und allenfalls auch der Freundin ihren Schein-Schutz gewähren zu können — aber wie könnte es anders sein, als daß ihre heitere Phantasie das, -was zunächst bloß Schutz sein sollte, sich auch sonst zum Vorteil macht und überall, wo es sich fügt, ins Spiel wirft. Sie kann sich nun an Orlando weiden, ohne daß er sie erkennt — die Situationen des Belauschenden und des Verkleideten sind hier gleichsam kombiniert, Rosalind ist die Zuschauerin, tritt aber zugleich selber in das Bild, das sie anschaut, und wird, ohne die Vorteile des Zuschauers zu verlieren, zur mitspielenden Figur. Sie kann Orlando über seine Geliebte sprechen hören, so wie er zu Fremden über sie spricht — und er spricht kaum etwas anderes als nur von ihr — sie kann ihn durch Widerspruch zu stets höheren Beteurungen reizen und so in lustigem Wirbel seine und ihre Verliebtheit immer höher treiben. Mit graziöser Virtuosität übernimmt sie innerhalb ihrer ersten Rolle eine zweite, die nun, ohne daß der mit ins Spiel gezogene Jüngling es ahnt, die Aufhebung des Scheins bedeutet, so wie so oft im barocken Maskenspiel eine zweite Larve die erste aufhebt und das eigentliche Sein zur Erscheinung bringt. Als Ganymed, der sie nicht ist, spielt sie Rosalind, die sie ist, und darf nun Orlandos Huldigungen im Spiel entgegennehmen, die ihr doch eigentlich im Ernst gelten und die im Ernste zu empfangen sie sich sehnt. In ihrer ersten Rolle tut sie fremd, im eigent-

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liehen Sinne des Worts, als Fremde aber tut sie, und hier erst ist die Komödie auf ihrem Höhepunkt, nun doch wieder bekannt und vertraut — die höchste und schönste Rolle des Menschen, des ewigen Schauspielers, ist es, sich selber zu spielen. Ein sublimes Spiel mit der Identität, sie wird verflüchtigt und intensiviert zugleich. Im Spiel darf Rosalind mehr sie selber sein als in der Wirklichkeit, sie darf Orlando ihre Liebe gestehen, sie darf ihm, dem Manne, vorsprechen, was er sagen soll: „Ich nehme dich Rosalind, zum Weibe" (IV 1). Der Schein ist hier, wie so oft im Barock, nur reineres Sein. „Wie es Witz und Glück verleihen", sagt Rosalind, ganz ohne konkreten Bezug, zu Beginn des Stückes. As wit and fortune will. Der Narr Touchstone (Probstein) aber antwortet: Or as the Destinies decree, „Oder wie das Schicksal es verhängt" (I 2). Die tragische Möglichkeit wird, so will es Shakespeare, auch in der Komödie emporgerufen. Ein fühlloses Geschick kann die menschliche Welt zerbrechen. Celia erinnert lächelnd daran, als Touchstones Eintritt dem akademischen Gespräch der beiden Freundinnen ein Ende bereitet. „Wiewohl Natur uns Witz genug verliehen hat, um Fortunas zu spotten, schickt uns nicht Fortuna diesen Narren herein, unserm Argumentieren ein Ende zu bereiten?" (I 2). Wie diesem Gespräch, so kann das Schicksal allem Menschlichen ein Ende setzen: Thema der Tragödie. Solange indessen das Leben währt, steht es in der Macht des Menschen, sich über das Schicksal zu erheben, die Komödie feiert das Gelingen solchen Spiels. Sie macht offenbar, daß es nicht Bestimmung der Phantasie ist, den Menschen zu verführen und zu vernichten, wie es Macbeth und Othello geschieht, deren Imagination sich von den tieferen Ahnungen des Herzens gelöst hat. In der Tragödie verliert die Phantasie ihr eigentliches Wesen, der Wille des Menschen wird zum Irrwillen und tritt in ein düsteres Zusammenspiel mit den Zufällen des Schicksals. Die Komödie zeigt die Phantasie in ihrer echten Rolle: sie erhöht und vollendet die Wirklichkeit. Mit geschäftiger Fröhlichkeit bastelt Rosalind Schranken zwischen sich und dem Geliebten: die künstliche Schranke wirkt in der Komödie Steigerung statt Störung, in Orlando schwillt die Sehnsucht nach der scheinbar fernen Geliebten unermeßlich an, und Rosalinds überströmendes Glücksgefühl ergießt sich, kaum hat Orlando sich hinwegbegeben, in ihre Worte zu Celia. „O Mühmchen, Mühmchen, Mühmchen! mein artiges kleines Mühmchen! wüßtest du, wieviel Klafter tief ich in Liebe versenkt bin! Aber es kann nicht ergründet werden: meine Zuneigung ist grundlos wie die Bucht von Portugal." (IV 1). In der Liebe verliert und findet sich der Mensch, zwanghafte Bindung an die eigene Person und an andere, Narzißmus und Versklavung lösen und verklären sich in ihr — der verliebte Orlando kommt Rosalind vor wie einer, der sich selber liebt. Der wahre Liebende ist keineswegs ein Melancholiker. Orlando braucht weder eingefallene Wangen und blaugeränderte Augen vor-

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zuweisen, um seine Liebe zu bekräftigen, noch einen wirren Bart, vernachlässigte Kleidung und ein mürrisches Betragen (III 2). Rosalind nimmt für gewiß, sie illustriert es mit mutwillig gewählten Beispielen aus der Weltliteratur, daß, seit die Welt besteht, noch kein Mensch an der Liebe gestorben (IV 1). Wirkliche Liebe schwächt und zerstört das Leben nicht, sie stärkt und steigert es, bringt es zum Leuchten, zum Vibrieren, bei Rosalind ebenso wie bei Orlando. Neben dieser höchsten Verwirklichung der Liebe fehlen auch hier niedrigere, unvollkommenere Formen nicht. Phoebe muß sich wohl oder übel an den guten Silvius halten, nachdem ihr Traumbild sich verflüchtigt, Touchstone versucht es auf gut Glück mit der Bauerndirne Audrey, die er obendrein erst einem ändern entwenden muß. Jaques schmäht Verliebtheit als ärgsten Makel (the worst fault, III 2) — er war aber, nach des Herzogs Worten, früher voll liederlicher Sinnlichkeit, ein libertine (II 7), sein jetziges Lästern ist das ebenso illegitime Abirren nach der ändern Seite, Rosalind schließlich erzählt, wie sie einst einen Verliebten von seinem Wahn geheilt, indem sie ihm alle Launen seiner Angebeteten vorgespielt (III 2) — ihrem Orlando aber spielt sie dann ihre mutwillige Anmut und ihre Liebe vor (IV 1), um ihre und seine Liebe nur höher zu steigern, und zu ebendemselben Zwecke will sie sich ansehen, wie der verliebte Silvius um seine Schäferin wirbt: „Verliebte sehen nährt Verliebter Sinn" (III 4). Oliver aber, der üble Bruder Orlandos, spricht, bekehrt, die Worte aus: „Ich liebe Aliena" (V 2). Er, der einst den eigenen Bruder Schurken genannt und damit ihn und sich selbst gelästert, er, der einst, ohne zu wissen warum, den Bruder mehr als alles gehaßt (11), darf nun, da ihm süße Bekehrung widerfahren, da er sich selber verloren und gefunden, die „Fremde" lieben. Der Krampf hat sich gelöst, Jago ist nicht mehr, und die Liebe, deren schwindelerregende Plötzlichkeit dem Bruder verständlich zu machen Oliver sich müht (its giddiness, her sudden contentment V 2), stellt sich von selber ein zum Zeugnis gleichsam und als Siegel der völligen Verwandlung des Hassers. Eine ebenso scharfe Wendung, nur in anderer Richtung und nicht auf der gleichen Ebene, hat in der Vergangenheit Jaques vollzogen. Er war, nach der Andeutung des Herzogs, ausschweifend in Sinnlichkeit, jetzt schmäht er die Sünden der Welt und will mit seinen satirischen Reden ihren angesteckten Körper heilen, cleanse the foul body of th'infected world (II 7). Nicht nur der Herzog, auch Rosalind verweist ihm die Bitterkeit und die Absolutheit seiner Satire. „Die eins von beiden (Lachen »der Melancholie) aufs Äußerste treiben, sind abscheuliche Bursche u n d . . . ärger als Trunkenbolde" (IV 1). Jaques hat sich offenbar beider Fehler schuldig gemacht, früher des einen, jetzt des ändern. Und doch darf man auch bei ihm von Bekehrung sprechen. Seine Trauer und Bitterkeit ist ein Akt der Selbstheilung, ähnlich der des schlimmen Herzogs, der, bekehrt von einem alten Einsiedler (an old religious

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man), sich von der Welt wendet und sich einem religiösen Leben ergibt. Orlando, Rosalind, Celia, der echte Herzog, mit sich selbst und mit der Welt, mit Nature und Fortune im Einklang, bedürfen solcher harter Wendungen nicht, und selbst Oliver, den des Bruders Liebe (kindness), die Rachsucht überwindend, von Schlange und Löwin befreit, bleiben sie erspart. Und doch, wenn auch Shakespeares Sympathie fühlbar bei den weltfrohen und weltfrommen Figuren ruht, bei Rosalind und Orlando insonderheit, die Bekehrung des Usurpators, seine Entsagung und Absage an die Welt, hat ebenso ihr Recht. Jaques, dem so viele Verse gewidmet sind, ist eine zwielichtige Figur. Seine Wendung von einem Extrem zum ändern ist eine Trunkenheit, die ihn nicht nur zu schiefer Verallgemeinerung leitet und so der Lächerlichkeit preisgibt, sie schenkt ihm zugleich wirklichen Tiefenblick. „Ich lasse gern in diesen düstern Launen mich mit ihm ein", sagt der Herzog, „er ist dann voller Sinn" (full of matter II 1). Des Herzogs eigenes Mitleid mit dem von den Menschen gejagten Wild rechtfertigt zum voraus Jaques' Betrachtungsweise, der einen verwundeten Hirsch betrauert, die Teilnahmslosigkeit des fröhlichen Rudels beklagt und dem verbannten Herzog und dessen Freunden ärgere Tyrannei vorwirft, afs er sie von seinem Bruder erfährt. Hier tauchen die Schatten einer absoluten Tragik auf, die dann im Timon übermächtig werden: Der Mensch wird schuldig schon durch sein bloßes Dasein, er lebt auf Kosten anderer. Aber wenn im Timon das Gegenbild in der Treue des Haushofmeisters Flavius erscheint, so ist es hier noch kräftiger da in der Liebe des alten Dieners Adam, der sein Erspartes dem jungen Orlando darbietet und der später selber von diesem mit ebensolcher Liebe bedacht wird. Und wenn Orlando der Gesellschaft des Herzogs mit Gewalt eine Gabe abnötigen zu müssen glaubt, so erweist es sich, daß nur Freundlichkeit sie ihm verschaffen kann. Beide, Orlando und die herzogliche Tafelrunde, halten einander gegenseitig für Räuber — in Wirklichkeit lebt Liebe und Milde in beiden. Die düstere Schau wird Lügen gestraft, ohne daß das Dunkel verwischt würde. Jaques' Rede, die um so eindrücklicher wird, als wir sie nicht aus seinem eigenen Munde, sondern von einem ändern überliefert hören, bleibt unvergessen. Aber neben dem Dunkel steht das Licht, um seinetwillen ist der Mensch gerechtfertigt. Die Frage: Wer ist der Mensch? wird deutlich gestellt. „Wißt Ihr, wo Ihr seid, Herr?" fragt Oliver seinen Bruder in der ersten Szene des Stückes. „Wißt Ihr, vor wem Ihr steht?" Und Orlando antwortet: „Ja, besser als der mich kennt, vor dem ich stehe." Er kennt ihn als Bruder, und „nach den sanften Banden des Blutes" (in the gentle condition of blood) sollte auch der andere in ihm den Bruder erkennen. Aber er verkennt ihn als Schurken und verkennt damit auch sich, verkennt den Bruder in sich und macht sich zum Schurken (vgl. oben S. 250). Orlando aber, statt sich zu rächen, befreit den Bruder. Zweimal schon hat er sich zum Gehen gewandt, um den Schla251

fenden der hungrigen Löwin preiszugeben, aber die Güte in ihm ist stärker als die Rachgier, und seine edle Natur verfällt nicht, wie Macbeth, der Lockung der Gelegenheit: Er wendet sich, die Löwin zu bekämpfen. But kindness, nobler ever than revenge, And nature, stronger than his just occasion, Made him give battle to the lioness... Hamlet schont den betenden König, Orlando geht weiter, er wagt toddrohenden Kampf, um den Schlafenden, der ihm schurkisch nach dem Leben getrachtet, zu retten. Und er rettet ihn durch solche Opfertat zugleich von der Selbstverkehrung, er schenkt ihn sich selber. „Ich bin kein Schurke", hatte er einst zu ihm gesagt - auch der Bruder ist keiner, er hat sich nur, in Selbstverkennung, dazu gemacht. Jetzt wird der Bann von ihm genommen, die Bestien lassen ihn los, Oliver sieht sich nun mit seinen Augen underkennt sich mit seinem Urteil (wie Celia sich früher einmal Orlando gegenüber ausdrückte I 2) und kann das Wort von der süßen Bekehrung sprechen: Since my conversion so sweetly tastes. Er ist nicht mehr der er war, er ist erst jetzt er selbst: 'Twas I; but 'tis not I..., being the thing I am (IV 3). In der Komödie wird in leichtem Spiel erreicht, worum Hamlet schwer und dunkel ringt. Güte, edler stets als Rache, verwandelt den Menschen, führt ihn zu sich selber. As you like it! Ihr verfügt über euch, könnt leben wie es euch gefällt und sein was euch gut dünkt. Angeborner Adel der Natur, Imaginationskraft des Herzens undFreiheit desGeistes machen denMenschen zumHerrn über stumpfe Physis und tyrannische Fortuna. Der Sieg des f eingliedrigen Orlando über den massigen Ringer Charles faßt, mirakelhaft, die Uberwindbarkeit der materiellen Gewalten ins Bild, und die ebenso wunderbare Vertreibung der Schlange und Überwältigung der Löwin deutet allegorisch auf den Sieg des brüderlichen Geistes über die Dämonen. „O welche Welt ist dies!" ruft Adam aus, nachdem er den Adel und die Tugend seines jungen Herrn, Orlandos, gepriesen, „wenn das, was herrlich ist, den, der es hat, vergiftet" (II 3). Orlando aber hat, wie der Herzog, die Kraft, das Übel zu überwinden, das Juwel im Haupt des bösen Schicksals zu gewinnen und leuchten zu lassen. Die schlimme Welt vergiftet ihn nicht, er verwandelt die schlimme Welt und erlöst den verlorenen Bruder. Jaques klagt und klagt an, Orlando aber und Adam, Rosalind, Celia, der Herzog heilen die „angesteckte" Welt. Nur im Scherz erzählt Rosalind, wie sie einen Liebenden von der Liebe geheilt, ihn ins Kloster gewiesen, in Wirklichkeit ist es die Heilung von Haß und Neid, die sich ereignet. Satire und Rühmen prägen das Gesicht dieser Komödie — der Komödie überhaupt. Kritik der Verirrung - Jaques betont nachdrücklich, daß er die Laster, nicht die Lasterhaften schmähe (II 7) - und Preis des hohen 252

Menschen: aber der Preis übertönt die Kritik. Der Kritiker selber wird kritisiert, die Satire richtet sich auch gegen den Satiriker (so wie, auch in diesem Stück, der Schurke sich selber die Grube gräbt, der Schurke den Schurken richtet III 1); Jaques will die ganze Welt, Orlando aber, den er einlädt mitzuhalten, nur sich selber kritisieren. „Ich will kein lebendiges Geschöpf in der Welt schelten als mich selber, an dem ich am meisten Fehler weiß" (III 3). Seine Sendung ist der Preis des Menschen, dessen eigentliche Schönheit ihm in der Gestalt Rosalinds sichtbar wird. Das frohe Lob, das die-Komödie dem Menschen spendet, hat nichts Leichtfertiges, nichts Zynisches an sich. Sie färbt nicht eine häßliche und gebrechliche Wirklichkeit in eine schöne und vollkommene um, sie zeigt nicht Wirklichkeit, sondern Möglichkeit; und den Glauben, daß der Mensch auf diese Möglichkeit hin angelegt. Sie kann nicht Sicherheit geben - auch in diesem Spiel macht Shakespeare sich über die Versuche, Beweise zu drechseln, lustig (III 2): nicht die Logik, die Phantasie des Geistes setzt die Werte und baut die Welt. „Euer Wenn ist der einzige Friedensstifter; ungemeine Kraft (virtue) in dem Wenn" (V 4). Die Beweglichkeit eines hellen und gläubigen Geistes, der goldene Überfluß der Imagination sind die Zauberkräfte des Menschen. Vor ihnen wird künstlicher Pomp schal, die rauhe Natur zum süßen Märchen (II1), erst im Schein kommt das Sein zu sich. As you like it. Der Mensch kann sein Leben verspielen oder sich erfüllen lassen. Er kann die Botschaft der Komödie annehmen oder sich ihr verschließen, wie es ihm beliebt. Sie gibt, im Spiel, das Bild menschlicher Erfüllung. Daß das Wunder wirklich werde, dafür ist sie nicht Garantie, aber, wie die Musik, Verheißung.

Ende gut, alles gut Our remedies oft in ourselves do lie. Oft ist's der eigne Geist, der Rettung

schafft.

All's well that ends well ist weit ab von der Welt jener Liebenden, die sich mit dem Partner so tief eins wissen, daß sie künstliche Schranken zwischen sich und den Geliebten stellen, um den Reiz und die Macht ihrer Liebe ganz zu empfinden, um das Glück der Spannung zu genießen. Die Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit, Erfüllung und Entbehrung, Nähe und Ferne, Seligkeit und Verzweiflung wird hier nicht durch ein Spiel des Geistes herauf geführt; Helena, die Heldin des Stücks, hat sie in der Realität auszuhalten. Sie darf nicht wie ihre Landsmänninnen in der Verlernen Liebesmüh, wie Hermia im Sommernachtstraum oder Rosalind in Wie es euch gefällt willkürlich Trennungen schaffen, um so die ferne Tra253

gödie anzudeuten, sie muß gerade umgekehrt ihre volle Kraft einsetzen, die tragische Bedrohung abzuwenden. Helena, die „Tochter eines armen Arztes", liebt den Grafensohn, und er verschmäht sie. Unerbittlich gibt sie sich über das Mißverhältnis Rechenschaft. Gleichviel ja war's Liebt ich am Himmel einen hellen Stern Und wünscht" ihn zum Gemahl... Und doch trägt sie in ihrer Phantasie (imagination) nur und nur sein Bild, sie „ist verloren", ihr Dasein ist ohne Sinn, wenn die Liebe zu Bertram sich nicht erfüllen darf. l am undone: There is no living, none, If Bertram be away. Aber das Unmögliche ist ihr nicht unmöglich. So scharf und schonungslos sie den Stand der Dinge erkennt und sich eingesteht, sie weiß auch um die Wahrheit des Märchens. Das Fernste kann zum Nächsten werden, der Raum wird überwunden, Liebe erringt sich ihr Ziel. Helena ist ejne Realistin, die an das Wunder glaubt. Nicht von den Göttern, nicht vom -Schicksal erwartet sie es, sie will es selber wirken. Der Himmel handelt nicht für uns, wohl aber, so glaubt Helena, begünstigt er den zuversichtlich Wirkenden, er gibt ihm freien Spielraum, er hemmt nur den, der selber stumpf und träge ist. Our remedies oft in ourselves do lie Which we ascribe to heaven: The fated sky Gives us free scope; only does backward pull Our slow designs when we ourselves are dull. Oft ist's der eigne Geist, der Rettung schafft, Die wir beim Himmel suchen. Unsrer Kraft Verleiht er freien Raum, und nur dem Trägen, Dem Willenlosen stellt er sich entgegen. In der Komödie der Irrungen, im Sommernachtstraum, noch in Was ihr wollt war es ein gutgelauntes Schicksal, das die Wunder wirkte und alles zum guten Ende führte. Helena steht auf sich selbst, und sie glaubt, anders als ihre Namensschwester im Sommernachtstraum, an sich selbst, an ihre Kraft, Bertram zu bekehren und zu gewinnen. Sie glaubt an die Überlegenheit von Nature über Fortune, an die Kraft also ihres Wesens und ihrer Liebe, Standesgegensätze wesenlos und Ungleiches ebenbürtig werden zu lassen. 254

The mightiest space in fortune nature brings To join like likes, and kiss like native things. Des Glückes weitsten Abstand tilgt Natur, Daß sich das Fernste küßt wie Gleiches nur. Die ihren Wert Zu zeigen rang, hat sie je Lieb entbehrt? (II). Helena greift, ihr Ziel zu erreichen, zunächst zu einem scheinbar rein äußeren Mittel. Sie will den von den Ärzten aufgegebenen kranken König heilen und als Lohn sich Bertram zum Gemahl erbitten. Das Unternehmen gelingt, der König gibt ihr den Grafen zum Gatten. „Also, junger Bertram, nimm sie, sie ist dein Weib." Aber Bertram revoltiert. „Ich kann sie nicht lieben und will nicht danach streben, es zu können." Denn sie ist unter seinem Stand. „Eines armen Arztes Kind mein Weib? Lieber duld ich ewige Schmach!" (II 3). „Sie ward mir aufgedrungen", sagt er später, I was compell'd to her (IV 2). So tritt neben Helenas tiefe und leidenschaftliche Liebe, die ohne Erwiderung bleibt, das freiheitliche Empfinden Bertrams, der sich nicht zur Liebe zwingen lassen will. Moderne Kritiker haben glaubhaft machen wollen, daß die Weigerung Bertrams nur dem modernen Leser legitim erscheint; nach elisabethanischem Urteil hätte er als Mündel des Königs diesem dankbar gehorchen müssen; Liebe sei keineswegs die Voraussetzung zur Ehe gewesen (so M. C.Bradbrook). Doch scheint das natürliche Gefühl des unbefangenen Lesers hier zuverlässiger als die Bedenken der Kenner elisabethanischer Sitte und Denkweise. Der König verlangt ausdrücklich love. Und wenn er auch die Standesargumente des jungen Grafen mit Recht geißelt, so läßt er es nicht bei der Überredung bewenden, sondern übt Befehlsgewalt. Er unterjocht den Willen Bertrams und verlängt doch echte Liebe. As thou lov'st her, thy love's to me religious (II 3). Wenn man sich die Bedeutung der Willensunterjochung im barocken Weltbild vergegenwärtigt — sie ist für den Betroffenen eine Form des Selbstverlusts — wenn man daran denkt, in welchem Lichte sie in anderen Shakespearedramen erscheint, in denen ja die Figur des tyrannischen Vaters so oft auftaucht, wird man den unmittelbaren Eindruck des heutigen Lesers nicht mehr für nur zeitbedingt halten; er dürfte Shakespeares eigener Auffassung und vielleicht sogar der seines Publikums nicht allzu fern stehen. Bertrams Freiheitsanspruch hält grundsätzlich Helenas Liebesverlangen das Gleichgewicht, es ist der zweite Pol des Dramas. Seine Argumentation freilich bleibt, nicht unähnlich jener Hamlets, an der Oberfläche. Das soziale Argument ist nicht legitim und wird vom König mit Leichtigkeit entkräftet. Und doch wird Bertram nicht überzeugt, er beugt sich nur dem Zwang. So echt und leidenschaftlich aber ist sein Protest, daß er nun, nachdem er äußerlich gehorcht, mit schneidenden Worten, mit zwangsneurotischer Heftigkeit sich von seiner 255

Gattin wendet, zu Mars flieht, „die Kriegstrommel liebend und die Liebe hassend" (III 2). Für Helena aber war die Heilung des Königs nicht nur ein Mittel zum Zweck, das sie gewandt handhabte, sie ist ihr ein Zeichen, daß das Unmögliche möglich. Der König selber hält wie seine Ärzte die Krankheit für unheilbar (I 3). „Die vereinte Fakultät entschied, Kunst könne nie aus unheilbarem Zustand Natur erlösen", that labouring art can never ransom nature from her inaldable estate (II 1). Aber Helena, die an die Überlegenheit der „Natur" über das Glück glaubt (oben S. 254), gibt auch die kranke Natur nicht verloren, sie glaubt an die Heilkraft der menschlichen Kunst, art steht nature nicht machtlos gegenüber. „Mein Vater ließ Vorschriften mir von seltner und erprobter Kraft." Der König, der sie erst abweisen will, vertraut ihr, das Wunder vollzieht sich. „Er, der die größten Taten läßt vollbringen, legt oft in schwache Hände das Gelingen" (II 1). Und so zieht Helena getrost aus, auch das zweite Wunder zu wirken: Bertram zu bekehren und zu erobern. Sein Absagebrief stellt ihr Aufgaben, die er selber als unlösbar bezeichnet. „Wenn du den Ring an meinem Finger erlangen kannst, der niemals davon kommen soll, und mir ein Kind zeigen, von deinem Schoß geboren, zu dem ich Vater bin, dann ne.ine mich Gemahl - aber dieses Dann ist so viel als Nie" (III 2). Sie jedoch macht sich, wie die Helden des Märchens, auf, die Aufgabe zu lösen, ohne noch zu wissen, wie es geschehen kann. Ihr Glaube täuscht sie nicht, das Glück, der Himmel, der Zufall kommen ihr, der Wagemutigen, zu Hilfe (vgl. oben S. 254). „Sitz, meine Retterin, bei deinem Kranken", hatte der König einst zu ihr gesagt (II 3); nun geht sie daran, auch dem Geliebten Arzt zu sein. Sie heilt ihn durch ein ebenso drastisches und gewagtes Verfahren wie der verstoßene Edgar seinen todsuchenden Vater. Die Ähnlichkeit mit dem Vorgang im Lear macht fühlbar, wie nahe wir der Tragödie stehen — der Diener Adam in Wie es Euch gefällt konnte durch ein bloßes Wort Orlandos „bekehrt" werden. Helena muß Bertram eine eigentliche Lektion erteilen. Denn wiederum geht es nicht nur um die äußer« Erfüllung einer Bedingung; Bertram muß durch den Schock, den er empfängt, zugleich in seiner inneren Haltung umgewendet werden. Bertram hat ja nicht nur die Majestät des Königs, er hat zugleich sich selbst beleidigt. „Du tust dir selber Unrecht", sagt der König (113). Und Lafeu: Der junge Graf Verging sich schwer an seinem Könige, An seiner Mutter und an seiner Gattin, Am meisten doch an sich (V 3). Es gilt, ihn sich selber wieder zu schenken. Sein Protest gegen den Liebeszwang riß ihn zu krampfhaft übersteigerter Reaktion hin, er hat dabei 256

Helena und sich mißkannt. Er, der so entschieden und mit so viel Redit den Anspruch, frei den Gatten wählen zu dürfen, verfocht, ist nun, weil er den äußeren Widerstand nicht brechen konnte, einer Verrenkung, einer inneren Unfreiheit verfallen, aus der er recht eigentlich erlöst werden muß. Der letzte Ruck dieser Erlösung geschieht in der überladenen letzten Szene des Stücks mit manieristischer Abgerissenheit - unterirdisch aber ist die Befreiung längst vorbereitet. Sie setzt dort ein, wo Bertram durch Helenas Intrige dazu vermocht wird, den alten Familienring wegzugeben. Er weigert sich zunächst. Es ist ein Ehrenkleinod unsres Hauses, Von vielen alten Ahnen mir vererbt, Und mir der größte Makel auf der Welt, Verlor ich's. Als aber Diana, deren Liebe er genießen möchte, ihre Keuschheit als ein ebensolches Ehrenkleid bezeichnet, das sie nur hingeben will, wenn er ihr den Ring zum Pfände setzt, da überläßt er ihn ihr, unvermittelt — wieder macht der manieristisch-barocke Stil sich geltend — jeden Widerstand aufgebend. Da, nimm den Ring: Stamm, Ehre, ja mein Leben selbst sei dein Und ich dein Untertan (IV 2). Den beiden französischen Lords, die eine chorähnliche Funktion ausüben, ist diese Preisgabe des Ahnenrings Inbegriff des Selbstverrats, sie sprechen von ihr wie vom Sündenfall. „Gott verzeihe uns unsere Auflehnung: Wenn wir wir selbst sind, was sind wir da für Geschöpfe! Nur unsre eigenen Verräter" (IV 3). Aber dieser offensichtliche Tiefpunkt in der Linie von Bertrams Verhalten ist gleichzeitig der unsichtbare Wendepunkt. Mit dem Ahnenring begibt er sich des Fetischs, den er selbst zum Garanten seines Widerstands gegen Helena eingesetzt. Auf der Ebene der realen Vorgänge ermöglicht er dadurch wider Willen die Erfüllung seiner ersten Bedingung. Auf jener des grundsätzlichen Geschehens gibt er gerade das preis, was ihm die Verbindung mit Helena unmöglich zu machen schien: den Ahnenstolz. Er entlarvt ihn selber als unwesentlich. Here, take my ring. Nun muß Helena nur noch der zweiten Bedingung gerecht werden und damit gleichzeitig dartun, daß sein Wahn, sie nicht lieben zu können, pure Einbildung war. Sie schiebt sich an Dianas Stelle, und er umarmt Helena statt jener. Damit ist für die Augen des Publikums und schließlich auch für Bertram selber beides hinfällig geworden, die Berufung auf die Abkunft und die Verneinung der Liebesmöglichkeit. In beidem hat Bertram sich getäuscht. Sein Weib zu wählen wollte er „die eignen Augen brauchen" (II 3). Der Bett-Trick Helenas überführt ihn, daß das Zeugnis der Augen nicht ent-

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scheidet. Die Sinne lassen sich täuschen. Orsino glaubte Olivia, Olivia meinte Viola lieben zu müssen,· beide täuschten sich über sich und den Partner; Bertram wähnt Helena nicht lieben zu können, auch er täuscht sich und vergeht sich dabei, wie der große Durschschauer Lafeu es sagt, nicht nur an ihr, sondern an sich selber am allermeisten. Ohne es zu wissen, hat Bertram seine Gemahlin, die er zu hassen meinte, mit höchstem Glücksempfinden umfangen. O seltsame Männer! So süß könnt ihr behandeln, was ihr haßt, Wenn des betrognen Geistes lüstern Wähnen Die schwarze Nacht befleckt. So spielt die Lust Mit dem, was sie verabscheut, unbewußt. Der Schmerz, daß der Mensch sich so sehr täuschen kann, klingt in Helenas Worten auf — man denkt an Alkmenes „Ach!" in Kleists Amphitryon — aber das Geschehene kündigt zugleich die Überwindung der eigentlichen Selbsttäuschung Bertrams an. Er ist, weil er vergewaltigt wurde, in die Irre gegangen, Helenas Unternehmen führt ihn zu sich selber zurück, gibt ihn sich wie ihr. In der letzten Szene des Stücks, wo es Bertram kund wird, daß „die Gestorbnen leben", daß er selber „schuldig ist und nicht schuldig", offenbart sich seine Befreiung - /'// love her dearly, ever, ever dearly. „Ich kenn sie wohl", hatte Bertram in der großen Szene vor dem König behauptet. Daß er sie nicht kannte, hat Helena ihm handgreiflich dargetan. Die Ferne, die in Shakespeares Darstellung der Liebe zwischen den Liebenden ist, sie besteht auch hier, sie ist nur verhüllt, langsam wird sie sichtbar. Wenn Othello als ein Fremder in das Leben Desdemonas tritt und sie gerade deshalb gewinnt, weil er so anders ist als sie, so ist es bei Bertram und Helena umgekehrt: sie scheint ihm zu geheimnislos, als daß er sie begehren könnte. Die soziale Spannung („Ich bin von niederem, er von hohem Rang" sagt Helena I 3, „mein Stamm gering, der seine hodiberühmt") ist ihm kein Anreiz, sie schreckt ihn ab; da er Helena von niederer Geburt weiß, auf Kosten seines Vaters erzogen, glaubt er sie nur um so besser zu kennen: sie ist gewöhnlich. Daß sich in dem scheinbar Bekannten das Ungeahnte birgt, im Gewöhnlichen das Wunder, das faßt er nicht, noch als sie den König heilt, will er es nicht erkennen, und erst als er sie als Unbekannte liebkost, fühlt er sich überführt. „Kann sie, mein König, des mich überführen, will ich sie ewig, ewig zärtlich lieben" (V 3). Parallel und gleichzeitig mit dieser Zurechtweisung vollzieht sich eine andere, der Bertram sich ebensowenig entziehen kann: die Entlarvung seines üblen Gefährten Parolles. Ihn hat er ebenso überschätzt wie er Helena unterschätzt hat. Der alte Lafeu hat den Burschen längst durchschaut, Helena nennt ihn schon in der ersten Szene Lügner, Narr, Memme, alle ändern finden ihn allmählich auch aus und 258

demonstrieren ihn nun seinem Herrn Bertram als Feigling und Verräter. Auch hier muß Bertram die Dinge mit Augen sehen, mit Händen greifen können, erst die vollendete Tatsache überzeugt ihn. „Er hat mich getäuscht", he has deceived me (IV 3; vgl. Ill 6: Do you think I am so far deceived in him?). Das Theater, das zu seiner Entlarvung aufgezogen wird — in einer unvergeßlichen Gaukelszene wird der zuvor schon Durchschaute dazu gebracht, genau das zu tun, was man von ihm erwartet - entspricht dem Spiel Helenas mit Bertram. Parolles muß ahnungslos die Marionette seiner Kriegskameraden sein, Bertram wird für eine Stunde zur Marionette Helenas. Die Entlarvung seines Spießgesellen und Verführers Parolles wird zum Bild seiner eigenen Entlarvung. Bertram wird sich rascher inne, daß er sich in Parolles als daß er sich in Helena getäuscht hat. Indem er sich von dem Lügner und Verräter trennt^ beginnt er sich von Lüge und Verrat überhaupt zu scheiden. In Was ihr wollt heilt der Narr Olivia von der Narrheit. Hier wird im Narren Parolles symbolisch die Narrheit seines Herrn überwunden. Das hindert nicht, daß Bertram, ein gehetztes Wild, später — in der letzten Szene des Stücks — noch einmal zu schäbigen Lügen seine Zuflucht nimmt. Der barocke Stil liebt die scharfen Schwenkungen, volle Befreiung bricht sich faktisch erst ganz am Ende ihre Bahn. Grundsätzlich ist sie längst eingeleitet, und das ausgelassene Theater mit Parolles ist ihre symbolische Darstellung. Diese Entlarvung des falschen Freundes wird von Bertram, den sie betrifft, mit Bitterkeit aufgenommen, sie beklemmt ihn. Allen ändern aber bereitet das Spiel mit Parolles unbändiges Vergnügen. „O, um der Liebe zur Lachlust willen, hindert es nicht!" (III 6). Die übermütige Entlarvung falschen Scheins, die Bloßstellung des Unwerts ist echte Komödie. Der Träger des Unwerts aber wird nicht ganz verworfen. „Obgleich du ein Narr und ein Schelm dazu bist, sollst du doch nicht verhungern", sagt der weise Lafeu zu ihm (V 2). Und am Ende nennt er ihn gar, mit gutmütiger Anspielung auf das Vehikel seiner größten Blamage, good Tom Drum. „Meine Augen riechen Zwiebeln, ich werde gleich weinen. Lieber Trommelhans, leih mir dein Schnupftuch — so, ich danke dir" (V 3). Diese Sprache erweist, daß der schärfste Durchschauer zugleich der mildeste Richter ist. Die Verzeihung ist ihm nicht ein bloßes Prinzip, sie durchdringt ihn, sie prägt auch seine Sprache. Nicht der gute Ausgang allein macht Ende gut alles gut zur Komödie. Die schweren Schatten, die auf ihr lasten, werden von dem Licht menschlicher Geistesfreiheit überstrahlt. „Die dunkle Wolke weicht den hellsten Strahlen", sagt der König (V 3). Und gegen das düstere Wort des Lords: As we are ourselves, what things are we (IV 3, oben S. 257) steht Helenas Our remedies oft in ourselves do lie (I l, oben S. 254). Helenas Hoffnung trägt über den Pessimismus der Lords den Sieg davon. Bertram ist dort, wo er niedrig handelt, gerade nicht „er selbst", sondern verrenkt und verkrampft, Helena 259

befreit ihn zu sich selber, und sein schlimmstes Versagen wird zum Vehikel seiner Rettung. Im Verschenken des Rings und in der Liebkosung Helenas, die er für Diana hält, schlägt, ihm selber noch unbewußt, das Nein ins Ja um. Das barocke Phänomen des Umschlags wird in manchen begleitenden Bemerkungen ins Wort gehoben. So schon in Parolles' Reden über Virginity. „Verlust der Jungfräulichkeit bedeutet Zunahme, und nie ward eine Jungfrau geboren, daß nicht vorher Jungfräulichkeit verloren ward. Der Verlust einer einzigen Jungfrauschaft kann den Gewinn von zehn bedeuten. Wollt ihr sie auf ewig behalten, geht sie auf ewig verloren..." (11). Die Lords sagen: „Wie machtvoll machen wir uns zuweilen einen Trost aus unserem Verlust. Und wie mächtig ertränken wir zu anderen Zeiten unseren Gewinn in Tränen" (IV 3). Helena spricht von süßem Leben im Sterben (I 3), von demütigem Ehrgeiz und stolzer Demut, von mißtönender Harmonie und süßem Mißklang( (I 1). Der Name Phoenix, Symbol des Lebens im Tode, des Selbstgewinns im Selbstverlust, kommt mehr als einmal vor. Bertram nennt Diana „heilig-grausam" (IV 2). „O, welch scharfe Stacheln in ihren mildesten Worten!" sagt die Gräfin von Helenas Abschiedsbrief (III 4). Im Umschlag aber vollzieht sich das Wunder, in der Möglichkeit des Umschlags bezeugt sich die menschliche Freiheit. „Man sagt, es gebe keine Wunder mehr," äußert Lafeu, they say miracles are past (II 3). Daß das Wunder nicht einer vergangenen Zeit, daß es allen Zeiten gehört, Helena erweist es. Es ist die schlagartige Offenbarung des eigentlichen Seins gegen allen täuschenden Schein. „Er, der alle Dinge weiß, ist nicht wie wir, die unsere Vermutung nach dem Anschein (show) richten" (II1). Helenas Wunder, ihr von Gott eingegeben (inspired merit II 1) heißt Heilung; es übt nicht Gewalt, sondern befreit, den König ebenso wie den Geliebten. Und es ist das Wunder der menschlichen Freiheit, das das ganze Stück durchdringt. Nicht Helena allein vertraut den „Heilmitteln, die in uns selber liegen", nicht sie allein glaubt an die Kraft der „Natur" gegen den Zwang des „Geschicks" und an die Macht der „Kunst" über den Zwang der „Natur". Die Haltung menschlicher Geistesfreiheit erzeigt sich im Handeln, im Wort und in der Gebärde aller Hauptfiguren dieser Komödie, die eben deshalb diesen Namen zu Recht trägt. Bertrams Mutter verurteilt in reiner Freiheit des Geistes, der Zuneigung des Blutes entgegen, den Sohn und nimmt die Partei der Pflegetochter: „Er war mein Sohn, allein ich wasch ihn weg aus meinem Blut und nenne dich mein einzig Kind" (III 2). „Wer von beiden mir der Liebste sei, vermag ich nicht zu unterscheiden" (III 4). „Ich wollte, ich hätte ihn nie gekannt; er gab den Tod dem tugendvollsten Mädchen, mit deren Erschaffung sich die Natur je Preis erwarb. Wäre sie aus meinem Blut und kostete mir die tiefsten Seufzer einer Mutter, meine Liebe zu ihr könnte nicht tiefer gewurzelt sein" (IV 5). Der König eifert gegen das Standesvorurteil. Good alone is good without a name, das Gute ist für sich allein gut, bedarf keines 260

Namens. In ihrer Jugend, Weisheit, Schönheit ist Helena „unmittelbare Erbin der Natur", ihre Gaben „zeugen Ehre". „Ehren gedeihen durdi unsere Taten eher als durch unsere Vorfahren." Und der König ist frei, die gering Geborene zu adeln. Er kann ihr Reichtum und Ehre verleihen. „Der du nicht träumst, daß wir, gelegt in ihre leichte Schale, dich schnellen bis zum Balken" (II 3). Der König, Bild des königlichen Menschen überhaupt, vermag Wert und Bedeutung der Dinge umzuprägen. Am Ende des Spiels, als er Helena tot glaubt, wird er mit gleicher Freiheit der neuen Situation gerecht und ist bereit, Bertram zu verzeihen und ihm neu zu vertrauen. „Das Wesen seiner Kränkung starb, und tiefer als Vergessen begraben wir die noch glimmenden Trümmer" (V 3). Die freie Überlegenheit des König variiert und spiegelt sich in der ähnlichen Lafeus, der Parolles nicht nur begnadigt, sondern betreut. Das ganze Spiel ist durchflochten von Wortspielen aller Art, Verdrehungen, Geistreicheleien, Spitzfindigkeiten: auch das Manifestation des frei spielenden Geistes. Im Munde des Narren (der, Gegenbild Bertrams, um jeden Preis heiraten will) wird selbst der Syllogismus, sonst Sinnbild falscher Sicherheit, zum heiteren Spiel, das die innere Freiheit des närrischen Syllogisten zum Ausdruck bringt (I 3). Zur Geistesfreiheit gehört die Fähigkeit zu durchschauen und die Fähigkeit zu begnaden. Den höchsten Grad beider Potenzen besitzt Gott, „der alle Dinge weiß": Die Sprache von Ende gut alles gut ist oft theologisch getönt (das in Helenas und der Lords Worten gegensätzlich formulierte Menschenbild — siehe oben S. 254, 257, 259 - nimmt nicht zufällig Bezug auf Gott, auf den Himmel). Der alte Lafeu verwaltet beide Gaben in menschlich einfacher Art, Helena in einer schon überirdisch anmutenden Weise, bei gleichzeitig voll und stark wirksamer Erdgebundenheit. „Durchschaut ihn einmal, so habt Ihr ihn für immer", heißt es von Parolles (III 6), und die Gräfin sagt zu Helena: My fear has catch'd your fondness, „meine Besorgnis hat deine Liebe aufgefunden" (I 3). Der König, dunkler, dumpfer, beschwerter als die anderen Personen, leidend am Ich und an der Welt, stellt sich nicht auf 'die Lauer, due ändern Menschen zu erforschen. Tiefer als andere weiß er um die Herrlichkeit der Begnadung und des Begnadens, und noch seine Art des Erkennens ist von ihr durchdrungen: Sein Erkenntnisorgan ist das Vertrauen. „Mehr Wissen könnte mir kein stärkeres Vertrauen geben", sagt er zu Helena, der er sich ohne Schranke anvertraut, nachdem sie schon bereit war, ihr Unternehmen verloren zu geben. More to know could not be more to trust. Audi Bertram bringt er immer neu Vertrauen entgegen: der freilich enttäuscht ihn immer neu und wirft ihn in die Düsternis zurück. „Du weckst Argwohn und Furcht mir, der ich gern den Zugang wehrte." Bertram macht ihn gegen seinen Willen zum Prüfer. „Wir wollen das genauer erforschen." „Töricht habe ich zu wenig mißtraut." „Ein düstrer Argwohn quält mich", / am wrapp'd in dismal thinkings (V 3). So will die Gebrechlichkeit der Welt, 261

das Versagen des jungen Edelmanns den alten König, der ohnehin bei sich und in seiner Zeit Verfall und Niedergang spürt, in die Verzweiflung -werfen. Aber die Gestorbenen leben, one that's dead is quick, Helena, die dem König Arzt sein durfte, ist eine Verheißung, daß auch der Welt, wie oft diese auch Gott und sich selber verrät, immer wieder Heilung wird. Man hat davon gesprochen, daß Ende gut alles gut etwas vom Charakter einer mittelalterlichen „Moralität" habe: Bertram der zwischen Versucher (Parolles) und gutem Engel (Helena) stehende Mensch. Obschon Parolles' Einfluß als Verführer nicht überschätzt werden sollte - Bertram fällt seine Entscheidungen letztlich aus eigener Not und aus eigener Kraft — ist eine ferne Verwandtschaft unseres Spiels mit der Morality nicht zu verkennen; um so stärker fällt der entscheidende Unterschied ins Gewicht: Helena ist gerade keine jenseitige Gestalt, nicht ein .Mora/z'f;y-Engel, sondern eine durchaus menschliche Garantin der Gotteswelt, die selber den vollen Druck des Schick .cals, die ganze Schärfe der menschlichen Situation auszuhalten hat. Kleinmut, Zweifel, ja Verzweiflung sind ihr nicht fremd. Das göttliche Heil aber kommt nicht mehr, wie im Mittelalter, von außen, sondern aus dem Menschen selbst. Helena lebt nicht in der Gewißheit und Sicherheit des Engels, sondern im Vertrauen — zum Himmel, zur Erde, zu sich selber — und in der Hoffnung. „Bist du so zuversichtlich?" fragt der König sie, art thou so confident? „Wenn mir die höchste Gnade Gnade leiht", ist ihre Antwort, und noch einmal spricht der König von ihrer Sicherheit und Zuversicht (thy certainty and confidence II1). Es ist die Sicherheit und Zuversicht des Herzens, von der Helena erfüllt ist — nicht jene trügerische, die sich auf den Verstand und die Sinne verläßt: das lüsterne Vertrauen der betrogenen Gedanken (saucy trusting of the cozen'd thoughts, IV 4, vgl. oben S. 257 f.) wird von ihr gerade abgelehnt, entlarvt, bloßgestellt. Ihre Sicherheit ist nicht die des Beweisens oder des Betastens, sondern die der Hoffnung. Helena ist die Realistin, die das Wunder glaubt, und dieser Haltung ist die Verbindung realistischer Menschendarstellung mit märchenhafter Motivik, die das Stück charakterisiert, herrlich angemessen. Den bloß aus Irdischem lebenden Menschen repräsentiert Parolles, der eindeutig satirisch gezeichnet ist. „Laßt mich leben, Herr, in einem Kerker, im Block, wo es auch sei, wenn ich nur lebe" (IV 3). Solche Worte lassen uns inne werden, daß Orlandos Live a little! (oben S. 146 f.) ein geistvolles Leben meint, kein bloßes Vegetieren, wie es einem Parolles genug scheint. Dieser, der doch zu denen gehört, die sich in der eigenen Grube fangen, spricht von der Ungnade und üblen Laune der Fortuna, in der er schmutzig geworden sei. Zu unrecht, er hat sich selber beschmutzt. Der alte Lafeu leuchtet ihm heim. „Was habt Ihr der Fortuna für Streiche gespielt, daß sie Euch kratzen mußte? An sich ist sie eine edle Dame (a good lady), sie kann nicht leiden, daß es unter ihrem Schutz den Schelmen zu lange wohl gehe" (V 2). 262

Ende gut alles gut zählt nicht zu Shakespeares unbestrittenen Werken. Mehrere Forscher glauben Spuren einer fremden Hand zu entdecken. Die Überlastung der letzten Szene mag das Empfinden der Shakespearezeit weniger gestört haben als das moderne; die scharfen Schwenkungen, das letzte stoßende Absinken und die rasche Wiedererhebung Bertrams, die an den Schluß der Veroneser erinnern, entsprechen barockem Bedürfnis und Geschmack. Daneben sind feine Schwankungen, nuanciertes Hin und Wider da. Und das Stück ist groß angelegt, in Motivik, Dramatik, Entwicklung. In eigenartiger Weise halten Trauer, Furcht, Daseinssorge und Glaube, Liebe, Hoffnung sich die Waage. Das Dunkel läßt das Licht heller leuchten. Keineswegs ist Ende gut alles gut, wie Gundolf meint, eine „Tragödie mit Spaßen und gutem Ausgang." Es ist vielmehr die eigentliche Gegentragödie. Vom Tod ist schon in Helenas Gespräch mit Parolles über das Jungfrauentum die Rede. Später ist sie zum Verzicht bereit und scheint schließlich dem Tod zu verfallen. Aber die Toten leben. Phoenix geht — anders als in Shakespeares Gedicht über Phoenix und Taube — verjüngt aus dem Feuer hervor. Die alternde Welt, die mit dem König den Verfall einer großen Vergangenheit beklagt, erfährt das Wunder der Heilung, und sie kommt von der Jugend. Wenn die tragischen Spiele wie Othello im Licht beginnen können, aber im Dunkel enden müssen, so führt hier die Handlung vom Trüben ins Helle; sie ist vom Geist Helenas geprägt, nicht von jenem Bertrams oder gar Parolles', mit dessen Überwindung Bertrams eigene Verirrung sich zu lösen beginnt. Anders als das mittelalterliche Nibelungenlied, das alle Freude in Leid zergehen sah, endet unser Spiel mit den: Worten „Gut ist jetzt alles" und stellt einem bitteren Gestern ein hoffnungsvolles Morgen entgegen.

Maß für Maß

Du bist nicht du selbst Thou art not thyself Measure for Measure steht, wie All's well that ends well, im Schatten der Tragödie. Hamlet ist geschrieben, Othello und Lear stehen bevor, ihre Thematik und Atmosphäre wehen herüber. Der Mensch wird in Frage gestellt, entlarvt, beinahe vernichtet. Angelo, eine hohe, strenge Gestalt, Herrscher, Richter, Heiliger, wird durch den Herzog zu den Ämtern berufen, auf die seine Anlage hinweist. Aber der Herrscher wird zum Sklaven, der Asket, durch seine Vergangenheit von vornherein in Frage gestellt, zum Lüstling, der Richter zum Verbrecher. Wie der Büttel des Gesetzes, Elbow, sich fortwährend verspricht, gerät auch Angelo, der Priester des Gesetzes, aus der Bahn. Do you hear how he misplaces? fragt ihn der alte Lord Escalus, 263

auf Elbow hindeutend, der sich soeben auf das Recht (justice) berufen, und dabei den Schuft einen Ehrenmann und den Ehrenmann einen Schuft genannt hat (II 1). „Hört Ihr, wie er sich verspricht?" Aber Angelo mißkennt den Bezug und hat nicht die Geduld zu Ende zu hören, er überläßt die Untersuchung EscaLus: „Ich hoff, Ihr findet Grund, sie all zu stäupen." Noch ahnt niemand, daß er sich damit, wie gewisse Figuren des Volksmärchens, selber das Urteil spricht, daß das „all" ihn mitumfaßt, ja daß es für den Menschen überhaupt gilt: er versagt, stürzt wie Luzifer, wie Adam - es ist die ewig sich wiederholende Tragödie - von seiner Höhe in die Tiefe, und nur die Gnade Gottes vermag ihn aufzufangen. In Measure for Measure spielt der alles inszenierende Herzog Gottes Rolle. Und nicht die Spaße machen das Stück zur Komödie, auch nicht der gute Ausgang allein, sondern vorab dies, daß alles ein Spiel ist, von einem Menschen inszeniert, gelenkt und zu Ende geführt. Das Ganze ist ein Experiment des Geistes, die Bedingungen der Tragödie werden vor den Augen des Zuschauers künstlich hergestellt; der Herzog prüft Angelo, läßt dessen Inneres nach außen treten, ohne ihm volle Wirklichkeit zu verleihen: es bleibt bei der Gebärde, kommt nicht zur Tat. Die menschliche Tragödie wird nicht direkt gegeben, sondern, barocker Neigung gemäß, auf eine Bühne geschoben und damit zur menschlichen Komödie gemacht. Rahmen- und Hauptspiel durchdringen sich. Der Herzog begnügt sich nicht, das Spiel in Gang zu setzen und dann wieder aufzulösen. Wenn er Angelo den Mantel des Herrschers und Richters leiht, so hüllt er sich selber in die Kutte des Mönchs und greift als solcher gottähnlich in das von ihm veranstaltete Spiel ein, er gehört, zum Rahmen ebensosehr wie zum Bild. In privatem Gespräch gibt er eine seltsam knifflige Begründung für sein Vorgehen: Er hat die Satzungen zu wenig streng gehandhabt, sein Volk ist übermütig geworden, die Ordnung des menschlichen Daseins — immer wieder auftauchendes Motiv — ist aus den Fugen geraten. „Die Rute wird verhöhnt mehr als gescheut..., Keckheit (liberty) zieht den Richter an der Nase; der Säugling schlägt die Amme, und ganz verloren geht aller Anstand" (I 3). Wollte er selber nun plötzlich das bestrafen, was er bisher duldete und also ermunterte, es wäre Tyrannei; daher habe er Angelo mit dem Amt bekleidet, das Gesetz nach seiner eigenen Einsicht zu handhaben. Doch bleibt diese skrupulöse Überlegung des Herzogs Theorie; nicht sein Bestreben sich zu entlasten gibt dem Stück das Gepräge, sondern im Gegenteil seine Kraft zu prüfen und zu handeln. Er ist Regisseur und Zuschauer zugleich, er bleibt da, indem er fortgeht, er durchdringt die Wirklichkeit, indem er sich entzieht, er gibt den Staat preis, um ihn zu retten. Unsichtbarer Beobachter, Helfer, schließlich wie ein deux ex machina sich offenbarend als Retter, Richter, Gnadenbringer. 264

Wie das Große Welttheater vor den Augen Gottes, so spielen hier „Fürst und Volk" vor den Augen des unsichtbaren Souveräns. Er erscheint als der große Prüfer. Sein besonderes Streben, allem anderen vorangestellt, geht danach, sich selber zu erkennen, to know himself (III 2, Escalus). Gleich Harun als Rasdiid schreitet er durch die Gassen, sieht, was die Leute treiben, hört, was sie über ihn und über seinen Stellvertreter sagen. Wie so viele andere Figuren Shakespeares verkleidet er sich nicht nur, er versteckt sich auch und macht den Lauscher (III l, Gespräch zwischen Claudio und Isabella). Die Macht, die er Angelo verleiht, soll dessen Wesensart in Erscheinun treten lassen (I 3). Aber auch Angelo selber ist ein scharfer Prüfer und Scheider. Er versucht Isabella und läßt sich, ein frevler Spieler, durch sie versuchen. Seine kalte Leidenschaft ist nicht bloße Naturgewalt, er ist nie voll von ihr ergriffen, beobachtet sich ebenso wie den Gegenstand seines Begehrens. Vom Herzog möchte er sich genauer prüfen lassen, „bevor ein so erhabnes, edles Bild auf mein Metall geprägt wird" (I 1). Er untersucht genau, ob Isabella Versucherin oder nicht, ob Gerechtigkeit Strenge oder Milde (pity) zu nennen sei (II 2), er unterscheidet Anfälligkeit und Versagen („Ein andres ist versucht sein, Escalus, ein andres fallen"), Person und Funktion: »Was kümmert's das Gesetz, daß Dieb den Dieb verurteilt" (II 1). Und doch glaubt er, als Richter Tat und Täter identifizieren zu müssen, während Isabella ihn anfleht, zwischen Sünde und Sünder zu unterscheiden (II 2); später entschuldigt sie Angelo beim Herzog: „Gedanken sind nicht Taten." Angelo aber sieht sich durchschaut. I perceive your Grace, like power divine, bath look'd upon my passes. „Ich werde inne, Eure Hoheit hat wie die göttliche Macht meinem Wandel zugeschaut" (V 1). Entlarven aber heißt nicht nur Bloßstellen, es heißt auch Befreien. „Du bist nicht du selbst", sagt der Herzog einmal zu dem von Angelo zum Tod verurteilten Claudio (III 1), und er meint damit nicht nur Claudio, sondern den Menschen ganz allgemein. Auch Angelo war nicht er selbst, er kannte sich nicht, eh er durch den Herzog zum Handeln, durch Isabella zum Begehren aufgerufen ward. „Bis heut begriff ich nie, daß man verliebt sein kann", gesteht er (II 2). Er saß zu Gericht über solche Verliebte und merkt jetzt, daß er damit, wie Oedipus, über sich selbst Gericht gehalten hat. „Wenn ich, der ihn verurteilt, solch Verbrechen übe, dann präge mir der eigne Spruch den Tod", hatte er gesagt (II1), so sicher fühlte er sich - da tritt Isabella zu ihm, die für ihren Bruder Claudio um Gnade bitten kommt: und schon reißt es ihn, als ob das gefährliche Wort, das er gesprochen, magische Gewalt an ihm übte, mit allen Fasern seines Wesens, Claudios Vergehen zu imitieren. Er steht in der Situation Olivias. Wie sie glaubte er sich gegen Liebe gefeit, wie sie verliebt er sich in den Boten, der für einen ändern bitten kommt, beide zieht es zu einem unmöglichen Partner hin, beide verkennen sich und den ändern, den Menschen und die Welt. Der 265

Narr, Viola, Sebastian bringen, in holdem Vereine wirkend, Olivia zu sich selber, der Herzog und Isabella tun, schärfer zupackend, Angelo denselben Dienst. Für Oliva bedeutete das Sidifinden herrliche Erfüllung, für Angelo bittere Bescheidung: aber damit eben doch die Überwindung falschen Scheins, trügerischen Blendwerks. Der Herzog gab ihm die Möglichkeit, sich zu entfalten. Die Mahnung der Sonette klingt an, sich nicht in sich selber zu verkapseln, nicht ohne Werk, nicht ohne Kind die Welt zu verlassen. Du selbst und dein Talent Sind nicht dein eigen, daß du dich verzehrst Für deinen eignen Wert, den Wert für dich. Der Himmel braucht uns so wie wir die Fackeln, Sie leuchten nicht für sich. Wenn unsre Tugend Nicht aus uns tritt, dann war es grad so gut, Als hätten wir sie nicht (I 1). Statt der Tugend ist nun die Sünde aus Angelo, der virtuell beides in sich trug, hervorgetreten. Der Richter hat sich als Dieb erwiesen, der Heilige - Angelo nennt sich selber saint (II 2) — ist ein Sünder. Aber der falsche Schein ist zerstört, der Sünder darf die Gnade empfangen. Deutlicher noch als andere Shakespearestücke kreist Maß für Maß um das Problem der Identität. Wer ist der Mensch? Angelo, hier der zentrale Repräsentant der Menschheit, wird vom Herzog, der die Rolle Gottes spielt, eingekleidet. „Was für ein Bild von Uns wird er wohl weisen?" So fragt der Herzog von Angelo, so fragt Gott vom Menschen. What figure of us think you he will bear? Angelo - 'der Name, „Bote Gottes", ist weder zufällig noch rein ironisch — wird als Statthalter des Herrschers eingesetzt, und die fürstlich-göttlichen Eigenschaften, terror und love, Schrecken und Huld, werden ihm zuteil. Angelo Stellvertreter des Herzogs in Wien, der Mensch Statthalter und Bote Gottes auf Erden — wird er sich bewähren, wird er versagen? For, you must know, we have with special soul Elected him our absence to supply, Lent him our terror, dress'd him with our love, And given his deputation all the organs Of our power. What think you of it? Denn wißt, wir haben ihn besondern Sinns Erwählt uns zu ersetzen, ihn belehnt Mit unserm Schrecken, unsrer Gnade, Und jedes Mittel unsrer eignen Macht Ihm übergeben. Sagt, wie dünkt euch dies? 266

Damit ist das Thema des Spiels gestellt, eines Spiels, hinter dessen realistischem Gewand die Züge der allegorisierenden Moralität deutlich genug zu erkennen sind. Shakespeare steht, wie seine ganze Zeit, zwischen Mittelalter und Moderne, der Realismus der Renaissance vermählt sich mit spätmittelalterlicher Allegorik, sein Publikum besaß das Sensorium für die reale wie auch für die mitschwingende allegorische Bedeutung eines Stücks. Der Herrscher ist, den zu Shakespeares Zeit vorgetragenen Staatstheorien zufolge, Bild Gottes. „Der Fürst", heißt es bei Henry Smith 1590, „ist wie ein großes Bild von Gott, die Magistraten sind wie kleine Bilder von Gott" (zitiert nach E. M. Pope in Shakespeare Survey 1949). Das aber ist Auszeichnung und Aufgabe zugleich. „Wie dünkt euch dies?" fragt der Herzog seinen Hof und damit auch das Publikum, als er, wie Gott es im Welttheater tut, Angelo die Rolle zugewiesen hat, die er spielen soll und ihm, ähnlich wie der Gott des Welttheaters den Seelen, das zu der Rolle gehörige Kleid verliehen. What think you of it? Der Mensch ist aufgerufen, sich zu verwirklichen, seine Möglichkeiten zu entfalten — werden sie die göttlichen Eigenschaften spiegeln? Dies ist die Frage, vor die der Herzog seinen Hof, vor die Shakespeare seine Hörer, seine Leser stellt. Imitatio, Stellvertretung, Identitätswechsel ist der Königsweg des Menschen, seine Identität zu erwahren und sie erst eigentlich kennenzulernen. Auf das Metall des Asketen Angelo, das selber schon eine Umprägung ist, wird das Bild des Fürsten geprägt, nun mag es sich erweisen, ob er dem hohen Bild (so noble and so great a figure I 1) Wirklichkeit zu geben vermag. Der Herzog selber nimmt diie Mönchskutte — auch er vertauscht die Identität, und auch seine Wahl ist nicht zufällig, sie entspricht seinem Priestertum, und sie deutet seine Göttlichkeit an. Der wahre Herrscher ist zugleich Priester, der Wechsel des Gewandes offenbart die andere Seite seiner Person. Auf tieferer Ebene wiederholt sich dieser Rollentausch im Gefängnis: Der Kuppler muß den Henker spielen, und er tut es mit Behagen — auch hier enthüllt der l dentitäts Wechsel das eigentliche Wesen der Figur; der Kuppler dient ebenso 'dem Tode wie der Henker, er fördert nicht wirklich das Leben, sondern die Ausschweifung, und das bedeutet, Shakespeare hat es mehr als einmal, am kräftigsten an Falstaff, dargetan, die Zerstörung des Lebens. Im Gefängnis wird ferner erwogen, den Mörder Barnardine an Claudios Stelle enthaupten zu lassen, doch läßt der Herzog diesen Plan fahren, als er den animalisch stumpfen Mörder ganz unvorbereitet, „unfertig für den Tod" rindet. Nicht sein Haupt, aber das eines eben verstorbenen Piraten tritt nun an die Stelle dessen von Claudio: ein Identitätstausch, der Angelo täuscht, statt ihm, wie er es meinte, Gewißheit zu geben. Angelo selber glaubt Claudio zu töten und Isabella zu schänden, aber es ist nicht Wirklichkeit, er spielt, ohne es zu wissen, nur die Rolle des Schänders und Mörders, so wie Isabella ihrerseits wieder nur in seiner Vorstellung die Rolle der Dirne spielt. Statt Gott nach267

zuahmen, muß Angelo, ein in den Abgrund stürzender Engel, das von ihm selber gebramdmarkte Verbrechen nachahmen und das begehrte Mädchen zu derselben Nachahmung zwingen - nur die Regie des Fürsten bewirkt, daß beides bloß in seiner Vorstellung geschieht, daß die Imitatio diaboli ebenso mißlingt wie die Imitatio del, daß der nach beiden Extremen ausschweifende Angelo sich schließlich als schwachen und der Gnade bedürftigen Menschen erkennt. Was wir in früheren Stücken als „Umschlag" bezeichnet haben, was ist es anderes als ein jäher Identitätswechsel auch der geistigen Wesenheiten? So tritt hier ein Übermaß von Tyrannei an die Stelle zu weiter Freiheit, Überfüllung ist der Vater des Fastens (I 2), Tugend tritt als Versucherin auf, Heiligkeit als Köder; natürliche Sünde, meint Claudio, wird Tugend (III1), und die empörte Gnade (mercy) möchte sich zur Tyrannin wandeln (III 2). Umgekehrt zeugen, sagt Mariana, die Angelo zum Gatten begehrt, Fehler erst die höchsten Tugenden (V 1). „Wie schwarze Masken verdeckte Schönheit zehnmal mehr verkünden als die entblößte Schönheit könnte" (II 4). Erst der Umschlag erweist die volle Wesenheit der Personen und Potenzen; Maske und Verkleidung offenbaren; der Identitätsverlust oder Identitätstausch stellt die Identität erst her. Nur die polare Existenz umspannt die menschlichen Möglichkeiten. Der Herzog, dem die Fürstentugenden der Selbsterkenntnis und der Temperantia zuerkannt werden (III 2), ist darüber hinaus, und dies vor allem wird dramatisch sichtbar gemacht, dadurch ausgezeichnet, daß er, wie Gott, gleichzeitig durchschaut und verzeiht. Er überführt und begnadet, prüft und spricht frei. Alle Lauscher und Späher der Shakespearedramen verdichten sich zu «einer Gestalt - aber er belauscht nicht, wie so manche anderen, um zu verderben, sondern um zu helfen. Eine milde Neigung zu verzeihen ergreift den großen Prüfer, und die Strafen, die er ausspricht, stehen in keinem Verhältnis zu den Vergehen; selbst Lucio, der in der Person des Fürsten das Bild Gottes geschmäht und sich deshalb schärfer schuldig gemacht hat, als es heute scheinen mag, kommt glimpflich davon. Der Herzog, der, ähnlich Rosalind in Wie es euch gefällt, alles einrenkt, was schon unheilbar verrenkt, verfallen, verloren schien, ist mehr Arzt als Richter. Seine Verfügungen heilen und formen die individuellen und damit — symbolisch und wirklich - auch 'die staatlichen Mißstände. Seine milde Hand, nicht die des düsteren Eiferers, des falschen Angelo, tut der Gemeinde not. Wenn er sich zu Beginn des Stückes anklagt, die Zügel zu locker gehandhabt, zu große Freiheit gewährt zu haben (I 3), so imitierte er auch darin nur Gott, der den Menschen unbegreifliche Freiheit läßt. Das Zwischenspiel Angelo erweist die Verderblichkeit der entgegengesetzten Haltung, die den Herrscher zum Erpresser, den Asketen zum Verführer, den Richter zum Verbrecher werden ließ. Der Herzog eröffnet die neue Aera mit Verzeihen. Doch ist es nicht schwächliches Mitleid (pity), sondern echte Gnade (mercy). 268

Seine Beziehung zu den Menschen ist dadurch gekennzeichnet, daß er jedem die letzten Möglichkeiten gibt. Angelo setzt er in die Lage, höchste Macht, Isabella, höchste Verzeihung zu üben. Auch Lucio, dem Gefängniswärter, selbst Barnardine will er Gelegenheit zu echtem, vollem Dasein geben. Am herrlichsten gelingt es ihm bei Isabella. Schon vor Angelo muß sie, die Reine, dem meistgehaßten Laster Gnade flehen - und sie überwindet sich, es zu tun: das erst ist echtes Flehn um Gnade. There is a vice, that most I do abhor, And most desire should meet the blow of justice, For which I would not plead, but that I must; For wich I must not plead, but that I am At war 'twixt will and will not (II 2). Anders als Caesar, Brutus, Hamlet, die dem Prinzip statt der Stimme des Herzens gehorchen, vermag sie die Starrheit zu lösen und sich selber überwindend ihre höchsten Kräfte freizusetzen in der Fürbitte für den Bruder. Ein Laster, dem mein größter Abscheu gilt, Dem ich den Schlag des Rechts am meisten gönne, Ich mag dafür nicht flehen, doch ich muß; Ich muß dafür nicht flehen, doch ich steh Im Kampf von Wollen und Nichtwollen. Von Lucio, der sich hier von der guten Seite zeigt, zuerst angestachelt - wie Helena in Ende gut alles gut wollte sie nach der ersten Ablehnung Angelos ihre Sache aufgeben — dann angefeuert, applaudiert, bewundert, entfaltet sie in machtvoll sich steigerndem Anruf die ganze Gewalt ihrer Persönlichkeit, so daß der Machthaber ihr unterliegt, die Rollen sich vertauschen und er, in einem diabolischen Sinne freilich, vom Umworbenen zum Werber, vom Herrscher zum Beherrschten wird. Sie selber deutete in anderem Sinne die Möglichkeit des Identitätstauschs - beherrschendes Motiv in diesem Stück - an. Wärt Ihr wie er gewesen, er wie Ihr, Ihr straucheltet gleich ihm. Doch er, gleich Euch, Er wäre nicht so streng. Bei Gott, ich wollt, ich hätte Eure Macht, Und Ihr wärt Isabella. Ihr entscheidendes Wort aber, das nur weil sie in Angelo sich täuscht den Schimmer des Doppeldeutigen bekommt, lautet: „Man kann den Nächsten nicht nach sich bemessen." Absolut genommen bleibt ihr Wort gültig, auch wenn sie bald erkennen muß, daß Angelo ihren Bruder nur mit demselben 269

Maß zu messen brauchte wie sich selbst, um ihn zu begnadigen. Nun aber, da Angelo den Angriff gegen ihre Person richtet, gilt es nicht mehr, Prinzipien zu erweichen, sondern ganz im Gegenteil standhaft die Heiligkeit der Person zu verteidigen. Sie darf für den Sünder flehen, sie darf nicht selber zur Sünderin werden. Moderne Interpreten haben Isabella deswegen Starrheit, Enge, Verwandtschaft mit Angelo vorgeworfen. Aber es ist eine Verwandtschaft mit dem legitimen, streng nach dem Göttlichen strebenden Angelo, nicht mit dem gestürzten. Mit vollem Vertrauen wendet sie sich an den Bruder, überzeugt, daß er lieber den Tod als ihre Schändung wolle. Sie wird von ihm ebenso enttäuscht wie von Angelo. In beiden versagt die Menschheit, in Isabella aber richtet sie sich wieder auf, und sie, die Nonne, darf Fürstin werden, so wie der Fürst das Priestergewand anlegen durfte. Vor dieser Erhöhung verschärft der Herzog ihren Konflikt noch, er führt sie prüfend in eine letzte Grenzsituation. Er verheimlicht ihr wie Angelo die Rettung Claudios, läßt beide im Glauben, die Hinrichtung sei vollzogen worden. Man hat von grausamem, dem modernen Geschmack unerträglichem Katzmausspiel gesprochen, das des Herzogs unwürdig sei. Aber der Herzog, in profaner Sicht reale Person, spielt zugleich die Rolle des Herrschers, der Gott vertritt. Nicht um Isabella zu quälen, „wie böse Buben es mit Fliegen tun", läßt er sie glauben, Angelos Gebot habe ihren Bruder getötet, sondern um ihr die Möglichkeit zu höchster Bewährung zu geben. Und wirklich, sie, die ihren Bruder außer sich vor Zorn anfuhr, als sein Wille um jeden Preis zu leben sie beleidigte, sie, die Angelo verdammte und ihm die Augen ausreißen wollte, als man ihr sagte, des Bruders Haupt sei gefallen, sie läßt sich jetzt durch Marianas edles Flehen bewegen, für eben diesen Angelo Fürbitte einzulegen. Durch einen Kniff ist Angelo davor bewahrt worden, ein Mörder und Schänder zu sein, durch eigenen Entschluß, den sie durch knifflig scholastisches Unterscheiden nur leicht stützen, sich und den ändern verständlich machen muß, wendet sich Isabella von der Rachlust zur Verzeihung, statt zu strafen vermag sie zu helfen, aus der Rächerin wird die Retterin. Und damit adelt sie sich; ihre Beziehung zum Fürsten war leise schon angedeutet: sie nahm an eben demselben Tag den Schleier, da er die Mönchskutte anlegte. Nun darf er sie als Fürstin an seine Seite heben. Der Herzog als Mönch, die Nonne als Herzogin, Vereinigung der königlichen und der priesterlichen Sendung also, das bedeutet Erfüllung höchster menschlicher Möglichkeit, wie sie von Angelo angestrebt, aber verfehlt ward. In ihm entstellt sich das Bild des Heiligen zu dem des Sünders, das des Richters zu dem des Rechtsbrechers. Isabella aber wandelt sich von der Rächerin zur Helferin, von der Anklägerin zur Fürbitterin, nachdem sie schon vorher vermocht hatte, das Recht der Person über die Unbarmherzigkeit des Gebots und dann wieder die Heiligkeit des Gebots über die Schwäche der Person zu stellen. „Schwach sind wir alle", sagt Angelo einmal zu Isabella, 270

We are all frail (II -i). Aber es ist nicht ein in Demut gesprochenes Wort, sondern, ähnlich wie bei Shylock, frevles Sichberufen auf die Schwäche, um Rechte daraus abzuleiten, Erlaubnis zur Sünde. Der Herzog jedoch entwirft zu ganz anderem Zwecke das Bild menschlicher Schwäche vor den Augen des gefangenen, todgeweihten Claudio: die Erkenntnis der dem Menschen innewohnenden Schwäche soll ihm helfen, sich über diese Schwäche zu erheben. „Du bist, derweil du lebst, der Narr des Todes." „Dein bestes Ruhn ist Schlaf." „Glücklich bist du nicht." „Sicher bist du nicht" (thou art not certain). „Freund* hast du keine." Es ist eine aus barocker Wesensschau fließende Anthropologie, die der Herzog hier entwickelt. Sprich zum Leben so: Verlier ich dich, so geb ich hin, was nur Ein Tor festhielte. Ein Hauch bist du, Abhängig jedem Wechsel in der Luft, Der diese Wohnung, die dir angewiesen, Stündlich bedroht. Du bist der Narr des Todes, Denn durch die Flucht strebst du ihm zu entgehn Und rennst ihm ewig zu. Du bist nicht edel; Denn alles Angenehme, das dich freut, Erwuchs aus Niederm. Du bist gar nicht mutig, Du fürchtest ja die zarte, schmale Zunge Des armen Wurms. Dein bestes Ruhn ist Schlaf; Den rufst du oft, doch schreckt dich arg dein Tod, Der doch nichts weiter. Du bist nicht du selbst; Denn du bestehst aus vielen tausend Körnern, Gezeugt aus Staub. Glücklich bist du nicht; Was du nicht hast, dem jagst du ewig nach, Und was du hast, vergißt du. Du bist nicht sicher; Denn dein Gefüge schwankt vor fremdem Wirken Je nach dem Monde. Reich, bist du doch arm; Dem Esel gleich, der unter Gold sich krümmt, Trägst du den schweren Schatz nur eine Reise, Und Tod entlastet dich. Freund' hast du keine; Denn selbst dein Blut, das seinen Herrn dich nennt, Der Ausguß grade deiner eignen Lenden, Flucht deiner Gicht, dem Aussatz und dem Fluß, Daß sie nicht schneller mit dir enden. Du hast zu eigen Jugend nicht noch Alter, Nein, gleichsam nur nen Schlaf am Nachmittag, Der beides träumt; denn all dein Jugendglanz Lebt wie bejahrt und fleht vom welken Alter 271

Die Zehrung sich; und bist du alt und reich, Hast du nicht Glut noch Triebe, Mark noch Schönheit, Der Güter froh zu sein. Was bleibt nun noch, Das man ein Leben nennt? Doch birgt dies Leben Viel tausend Tode; dennoch scheuen wir Den Tod, der all dies Schiefe grad macht (III1). Aber diese Predigt soll den Zuhörer nicht entmutigen, sondern aufrichten. Sie soll ihn stärken, das Schicksal zu ertragen. „Ich hoffe Leben, bin gefaßt auf Tod", sagte Claudio schon vorher; jetzt dankt er dem Mönch: Ich seh, nach Leben strebend, such ich Sterben, Tod suchend, find ich Leben. Nun, er komme. Nicht der Wirklichkeit ist der Mensch unterworfen, sondern der Art, wie er die Wirklichkeit betrachtet. Die durch den königlichen Mönch gelenkte und gestärkte Imagination Claudios vermag hier die relative Belanglosigkeit des Lebens zu sehen und macht ihm den über ihn verhängten Tod erträglich. Sowie aber Hoffnung auf Leben sich wieder auftut, und das geschieht, in 'Scharfer Wendung, unmittelbar danach, wirft sich Claudio verzweifelt darauf und möchte sein Leben, das ihm rtun wieder in anderem Lichte erscheint, um jeden Preis retten. Er ist, zum Entsetzen Isabellas, bereit, die teuflische Gnade (devilish mercy) des Angelo anzunehmen und die Schändung der Schwester in Kauf zu nehmen. Nun bricht diese in verzweifelte Verwünschung aus, harte, wilde Worte wirft sie gegen den Bruder, in dessen Versagen sie das Versagen des Menschen überhaupt spürt. Ist der Bruder, ist der Mensch ein Bastard? War das Weib, das ihn geboren, eine Hure? Des Herzogs Dazwischentreten vermag dem Bruder wie der Sdiwester die Fassung wiederzugeben. Mit einer Notlüge, die gleichzeitig das Ansehen des Regenten wiederherstellt und Claudio die Hoffnung auf Rettung benimmt, gibt er diesem noch einmal die Kraft, sein Schicksal anzunehmen. „Laßt mich meine Schwester um Verzeihung bitten. Die Liebe zum Leben ist mir so vergangen, daß ich darum flehen will, es loszuwerden." Seltsam leicht kommt diese Wendung. Zwar ist sie nicht nur durch das Wort des Herzogs, sondern auch durch den Ausbruch der Schwester, dessen Wirkung Claudio sich nicht entzog, vorbereitet; aber sie ist realistisch allein nicht zu erklären, sie ist Element barocken Wechselspiels. Der letzte Akt ist überlastet und zeigt Spuren von Textverderbnis oder flüchtiger Arbeitsweise. Mechanik überwiegt die Poesie. Aber geistig bringt er folgerecht die Entwirrung der Fäden, die Krönung des barocken Spiels, das „Verzweiflung in Himmelstrost verwandelt" (IV 3). Noch immer will Angelo Ränke aufdecken, und der gesetzlose Lucio reißt dem Mönch, um ihn zu entlarven, die Kappe ab — da steht der Herzog vor ihm, und Lucio 272

selber ist der Entlarvte, ganz so wie Angelo, der für eine kurze Weile mit dem höchsten Kleide belehnt war und seine Rolle schlecht spielte. „Der Mensch, der stolze Mensch, in kleine, kurze Majestät (authority) gekleidet, vergessend ganz, was ihm ganz sicher ist: sein gläsern Dasein..." So spricht Isabella zu ihm, und es wird deutlich, daß der zum verantwortlichen Regenten erhobene Angelo in diesem Spiel Repräsentant des Menschen im großen Welttheater ist. Isabellas Worte setzen ihm zu, sie wuchern in ihm weiter — aber sie wuchern, statt zu wirken. Ähnlich wie König Claudius nach dem von Hamlet inszenierten Spiel im Spiel läßt er sich wohl ergreifen, reagiert aber teuflisch. „Ihr heißt Erlösung mich beim Teufel suchen", sagt Isabella schließlich zum Herzog (V 1). Der aber, der um den Verrat des Menschen an sich selber weiß, kennt zugleich seine höchsten Möglichkeiten. Er rief den Kuppler, in dem er die Selbstentwürdigung des Menschen verkörpert sah, zur Besserung auf: Go mend, go mend (III 2). Er gönnt dem stumpfen Barnardine Unterweisung (V 1). Er führt Angelo zur Einsicht und Isabella zu letzter Selbstüberwindung. Statt sie zu begütigen, wie es Agamemnon in Senecas Trojanerinnen bei Pyrrhus versucht (vgl. oben S. 45), hetzt er sie auf, um ihr die volle Freiheit der Entscheidung, selbst gegen seinen Widerstand, zu geben. Wenn sie für diese Tat um Gnade kniet, Sprengt ihres Bruders Geist sein steinig Bett Und rafft sie hin in Schrecknis. Aber Isabella glaubt nicht an Claudios Rachedräun wie der naivere Pyrrhus an das Achills, sie kniet nieder und bittet um Gnade für den vermeintlichen Mörder ihres Bruders. In ihr hat der Mensch sich selber überwunden und damit sich selber gefunden. Des Herzogs frevles Todesgaukelspiel ist gerechtfertigt. Man spürt das dunkle Recht seiner Handlungsweise und nimmt seine zweifelhaften Praktiken in Kauf, als ob sie ihm als einer göttlichen Person erlaubt wären. Measure for Measure gehört zu Shakespeares interessantesten Stücken. Es ist, trotz gelegentlicher Unstimmigkeiten und einer gewissen Zwiespältigkeit, dicht gewoben. Die scharfe Luft des Richtens, des Ergründens, des prinzipiellen Denkens, wie sie Angelo eigen sind, durchweht das ganze Stück - auch der Herzog ist Prüfer und Richter, auch Isabella - und in seiner Weise auch der zynische Lucio. Milde Gnade, Verzeihung, brüderliche Hilfe sind gegenwärtig und setzen sich immer kraftvoller durch. Aber auch die Lebenslust braust durch das Stück, in einer mittleren Tönung von Claudio und seiner Geliebten, in stiller und edlerer Art von der verlassenen Braut Angelos getragen, grell, geil und üppig in leichtfertigen Dirnen, Schürzenjägern, Kupplerinnen, Zuhältern — in heißer Glut auflodernd in Angelo, dem Asketen, dem Richter und Töter selbst. Isabella, die irdischem Lieben 273

entsagen wollte, reicht schließlich dem Herzog die Hand und adelt sich und ihn. So werden die lebensfeindlichen Extreme überwunden, der lebentötende Geist ebenso wie die lebenverzehrende Sinnesleidenschaft, das gedämpfte, aber reiche, feine und starke Leben in der Region zwischen den Polen stellt sich her, die Komödie Shakespeares führt, auch da, wo sie, wie hier, auf dunklem Grunde spielt, den Menschen zu sich selbst.

ROMANZEN Shakespeares letzte Stücke — man hat ihnen um ihrer märchenhaften Elemente und ihres märchennahen Stils willen den Namen Romanzen gegeben — kamen einem neu aufkommenden Publikumsgeschmack entgegen, sind wohl auch beeinflußt von zeitgenössischer Dichtung (Beaumont und Fletcher), entsprechen aber, darf man annehmen, gleichzeitig den veränderten Bedürfnissen ihres Schöpfers. Transparenz, Heiterkeit, überlegenes Spiel mit Motiven, die einst ein bedrängendes Eigengewicht hatten, Entleerung, Sublimation, Verklärung: Merkmale des Altersstils. Shakespeare war noch nicht 50 Jahre alt; doch ist beobachtet worden, daß Spätwerke unabhängig vom absoluten Lebensalter der Meister charakteristisch ähnliche Züge tragen (A. E. Brinckmann). Shakespeare stand als Dichter am Ende seiner Bahn. Seine Romanzen sind echter und legitimer Ausdruck der Spätzeit, kaum, wie einzelne Forscher glauben wollen, mit müder und widerwilliger Hand geschaffen, bloß um einer Modeströmung gerecht zu werden. Shakespeares Frühwerk stand weitgehend im Zeichen des Manierismus, der sich auch späterhin nicht ganz verlor; doch weicht er in der mittleren Zeit einem voll^ plastischen Barock — die späten Romanzen nähern sich innerhalb dieser Entwicklung, die als ganzes dem Barock eingeordnet bleibt, einer Art Rokoko. Die Wendungen und Schwenkungen sind so scharf und bestimmt wie je, aber sie vollziehen sich nicht mehr ruckhaft wie im Manierismus oder explosiv wie in der eigentlich barocken Periode, eine spielende Eleganz kennzeichnet sie jetzt, leicht und mühelos gehen sie vor sich. Der „Realismus" der mittleren Zeit ist nicht völlig gewichen, aber er tritt zurück vor dem eigengesetzlichen Spiel, das nun freier und vieltöniger als in den frühen Komödien das Ganze beherrscht. Auch in den mittleren Stücken Shakespeares war Abstraktion am Werk, und in den späten ist Realismus nicht verschwunden, aber das Figurale hat sich verstärkt, Körperlichkeit, Charakterzeichnung, Psychologie sind nicht mehr so wichtig. Inhaltlich widersprechen die Romanzen Shakespeares früheren Studien nicht. Einen Zusammenbruch, eine Bekehrung zwischen Timon und Pericles anzunehmen ist keineswegs nötig. Die Art der Aussage hat sich gewandelt, der persönlichen Entwicklung Shakespeares entsprechend wie auch jener seiner Zeit. Die Aussage selber spezifiziert und differenziert sich in jedem Stück, sie wird sich jedoch niemals fremd. Der Sturm zeichnet kein wesentlich anderes Bild des Menschen als Troilus und Cressida oder Timon, die Komödien kein anderes als die Tragödien. Die Romanzen, die man früher auch Tragikomödien nannte, vereinigen, wie das Märchen, Tragödie und Komödie in sich. Sie entzücken und interessieren nicht nur um ihrer Sprache und um einzelner poetischer Schönheiten willen. Sie bilden vielmehr einen wcscnt275

liehen Beitrag zu Shakespeares Aussage, nicht ganz zu Unrecht hat man sie als „die Krone des Lebens" bezeichnet. Was sie aussagen und wie sie es tun, soll wiederum in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den Dramen selber gezeigt werden.

Pericles Du siehst aus wie Geduld, Die Königsgräber anschaut und mit Lächeln Verzweiflung aus dem Spiel weist. Pericles, Fürst von Tyrus ist zu Shakespeares Lebzeiten erschienen, von den Herausgebern des Gesamtwerkes aber nicht in die sogenannte Folio-Ausgabe aufgenommen worden. Haben die zahlreichen Einzelausgaben — das Stück war erfolgreich - Shakespeares Namen fälschlich als Aushängeschild benützt, wie es für einige andere Fälle nachgewiesen ist? Wahrscheinlicher ist es, daß Shakespeare ein älteres Stück überarbeitet hat. Sprach- und Versbehandlung sind ungleichmäßig, die Szenen besonders der zwei ersten Akte scheinen primitiver, die drei letzten Akte lassen eine überlegenere Hand spüren. Durchführung und Gesamtstil rücken den Pericles in die Nähe von Shakespeares Romanzen, die Motivik berührt sich mit der seines gesamten Werks. Wo es darum geht, dessen Physiognomie zu zeichnen, darf Pericles nicht übergangen werden. Selbst wenn er, was nicht anzunehmen, ganz von fremder Hand stammen sollte, vermag er, weil aus verwandtem Geiste eingegeben, die Bedeutung des Shakespeareschen Werkes zu erhellen. G. Wilson Knight hat darauf hingewiesen, daß im Pericles Shakespeares Metaphern Bühnenwirklichkeit annehmen. „Sturm" und „Schiff", früher so oft als Bild gebraucht, werden hier dramatische Aktualität, die antike Götterwelt, sonst nur im Worte gegenwärtig, kommt in der Gestalt Dianas zur Erscheinung, Musik, anderswo Begleitung, wirkt jetzt als magische Kraft. Wenn auch an die mannigfachen Korrespondenzen zwischen Bildsprache und Bühnengeschehen in Shakespeares ganzem Werk zu erinnern ist, an die Verleiblichung etwa des inneren Sturms im Wüten des Unwetters, so ist doch zuzugeben, daß das im Sprachlichen überall lebendige Urbild hier mit besonderer Simplizität bühnenmäßig zur Anschauung gebracht wird. Moderne Regisseure lassen mit einigem Recht Pericles in einem kleinen Schiff auf Rädern sich über die Bühne bewegen: solche Regie entspricht der kindlich unbefangenen Obersetzung seelischer und sprachlicher Gegebenheit ins klar faßbare Schaubild. Umgekehrt aber und doch genau entsprechend wird im Pericles manches, was früher als Handlungssituation gegeben wurde, jetzt ins durchsichtige Wort gefaßt. Rätsel wurden je und je Shakespeares Figuren 276

zur Lösung aufgegeben: Brutus, Hamlet, Othello, Lear, Angelo... Aber es waren Rätsel, die das Schicksal formulierte, in Vorgängen, nicht in Worten. Angelo, indem er zum Regenten berufen ward, bekam das Rätsel auf, das zuletzt allen gestellt ist: Was ist der Mensch? Wer bin ich? Wer sind die ändern? Ohne es in Worte zu fassen, gab die Situation das Rätsel, gab das Geschehen die Antwort. Jetzt aber, im Pericles, tritt das eigentliche Rätsel im wörtlichen Sinne ins Spiel. Das Rätselhafte wird nun, reiner noch als im Kaufmann von Venedig, direkt im Sprachlichen gegeben, vom Menschen formuliert und vom Menschen gelöst. Der altenglische Dichter Gower, aus dem der Stoff geschöpft ist, tritt im Pericles als Prologus auf und spricht seine Einleitungen und Überleitungen in altertümlicher Sprache, als ob angedeutet werden sollte, daß hier zu einer älteren, direkteren, märchenhaften Darstellungsweise geschritten wird. Fürst Pericles, der um die schöne Tochter des Königs Antiochus wirbt, muß erst ein Rätsel lösen; rät er fehl, so büßt er, wie andere vor ihm, mit dem Leben. Aber die Antwort ist ihm nur zu deutlich: Antiochus verhüllt und offenbart in dem Rätsel seine und seiner Tochter Schande. Wer ist der Regent? so lautete in Maß für Maß die Frage für Isabella; und die Antwort, die ihr zuteil ward: nicht Herrscher, sondern Sklave der Begierden, nicht Heiliger, sondern Teufel, nicht Richter, sondern Verbrecher. Wer ist mein Bruder? Die Antwort: ein um sein Leben winselnder Bastard. Dem Fürsten Pericles gibt nicht das Leben Antwort, sondern ein Spruch. Der Mann, den er Vater, das Mädchen, das er sein Weib nennen wollte, sind blutschänderische Schurken. Wie durch inneren Zwang mußte Antiochus sein und seiner Tochter Verbrechen ins Wort bringen, verrätselnd es ausschwatzen, verhüllend es offenbaren. Ähnlichem Teufelszwang gehorchte Angelo, als es ihn trieb, sich vor sich selber und vor Isabella zu entlarven. Pericles erfährt, daß der große König und die holde Geliebte schmutzige Sünder sind. Ehrfurcht und Liebe sind mit einem Schlage ausgelöscht. Und wenn Pericles von nun an als ein Gehetzter durch die Welt flieht, so ist es nicht nur die kluge Vorsicht des Gefährdeten, die ihn dazu treibt, es ist darüber hinaus, deutlich spürbar, der Schock, den er empfangen. Er hat in den Abgrund menschlichen Wesens geblickt, Melancholie ergreift Besitz von ihm (I 2), er ist von nun an den Stürmen des wilden Meeres ausgeliefert. Und als er erfahren muß, daß nicht Menschen nur, daß auch das Schicksal ihn grausam quält, daß es ihm die Gattin, dann die Tochter raubt, da wird er ein irrer Büßer, in Verzweiflung der Welt sich entrückend. Aber die Grausamkeit des Schicksals erweist sich auch hier, wie so oft in Shakespeares Werk, als Schein; nur die Grausamkeit der Menschen besteht wirklich. Pericles durchschaut zwar bei Antiochus und seiner Tochter den trügerischen Schimmer, denn das Rätsel zerstört ihn. „Ich liebte, schönes Lichtglas, dich, und möcht es noch, war nicht der lichte Schein gefüllt mit Übel."

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Fair glass of light, I lov'd you, and could still, Were not this glorious casket stor'd with ill (11). Die Bosheit jenes anderen schlimmen Paars aber, dem er seine Tochter anvertraut, erkennt Pericles nicht. Vom Meere, von den Göttern glaubt er sich verfolgt. Und doch ist es nur die abergläubische Schiffsbesatzung, die den Leib der Gattin dem Meer preisgibt - dieses treibt seine Beute ans rettende Land. Die Hinterlist derer, denen er wohlgetan, liefert seine Tochter dem Tode aus — das Schicksal rettet sie. In beiden Fällen freilich tritt menschliche Hilfe zu der des Schicksals hinzu: der weise Arzt erweckt die Gattin zu neuem Leben, und Marinas, der Tochter, eigene Seelenkraft entreißt sie dem üblen Haus, in das sie geraten. Gnädiges Schicksal und menschlicher Adel wirken zusammen, den Sturm in Musik zu wandeln. Weder die Menschen noch die Vorgänge im Pericles haben Realität. An die Stelle der plastischen Gestalten, des schwer dahinschreitenden Geschehens in Shakespeares mittleren Tragödien sind Figuren, Bilder getreten, die mit leichter Hand bewegt, geschoben werden. Die Neigung zur abrupten Wendung, zur Verkehrung, Schwenkung, zum Umschlag, die dem Manierismus und Barock in allen ihren Phasen innewohnt, befriedigt sich hier mit einer gewissen Eleganz; die Schicksalschläge, der plötzliche Verlust einer bestimmten Daseinsweise, ihre Verkehrung ins Gegenteil erschüttert den Betroffenen nicht mehr in seinem ganzen Gefüge, ein solches Gefüge wird überhaupt nicht spürbar; denn die Gestalten sind nicht mehr reich differenzierte Individualitäten, sondern eben Figuren. Marina, die Meergeborene, findet sich in jeder neuen Situation leicht zurecht. Des Pericles innere Not wird nicht wie die Lears oder Othellos direkt gegeben, das innere Geschehen setzt sich in ein äußeres Bild um. Das Schicksal jagt ihn durch die ganze Welt, statt der inneren wird die äußere Ruhelosigkeit gezeigt, und auch die Schatten, die schließlich über sein Bild fallen und es verdüstern, haften nur an einem Bild und weichen sogleich, als die Dinge sich zum Guten wenden. Nicht zerstört wie jene tragischen Helden, sondern heiter und unberührt, im letzten unberührbar geht Pericles aus seinem Leiden hervor. Wenn noch Isabella in Maß für Maß selber sich entscheiden mußte, ob sie Gericht oder Gnade für den Mörder ihres Bruders erflehen sollte, so wird Pericles solcher Entscheidung enthoben; als er, die Verräter zu bestrafen, nach Tharsus eilen will, schickt Diana ihn statt dessen nach Ephesus, und die Verbrecher werden durch anonyme Gewalten gezüchtigt. Feuer vom Himmel vernichtet das eine Paar, der Zorn des eigenen Volkes verbrennt das andere. Wie das Volksmärchen erspart der Dichter seinem Helden, die Bösewichter selber zu vernichten, andere Mächte tun es für ihn. Wie das Volksmärchen ist hier das Drama ein Spiel mit Figuren; nicht die Kämpfe, Leiden, verzehrenden Anstrengungen ihrer Seele gelangen zur Darstellung, sondern ihre Schicksale 278

und Reaktionen, klar und scharf gezeichnet, wie von einer Laterna Magica auf die weiße Wand geworfen. Der Zuschauer läßt sich das bunte Spiel gern gefallen. Die optisch rein ausgeformten äußeren Vorgänge werden ahnungsvoll als Verwandlungsbild inneren Geschehens aufgenommen. Inhaltlich finden sich innerhalb des neuen Stils die vertrauten Motive und Gebärden wieder. Schein, Maske, Stellvertretung in der Herrschaft, damit, da und dort leise gestreift, die Frage der Identität. Melancholie und Gram (grief) des Pericles, der Marina entspringen auch hier nicht der Naturanlage, sondern sind Antwort auf harte Schicksalsschläge oder Frucht bitterer Enttäuschung. Die kosmische, die prinzipielle Bedeutung des Geschehens wird betont. „Nie tobten ärger Wind und Wellen" (IV l, Marina). „Solch ein Mordstück haben Sonne und Mond noch nie geschaut" (IV 3, Cleon). Schönheit und Tod stehen, wie in Romeo und Julia oder Antonius und Cleopatra, nahe beieinander. Geduld, patience, ist die letzte Haltung. Niedriger Gehorsam, Eidesleistung erscheinen in schlimmem Licht. „Wenn der König jemanden bittet, er solle ein Schurke sein, so ist er, kraft seines Eides, gezwungen, einer zu sein" (I 3, Thaliard). Von den Fischern, die den schiffbrüchigen Pericles aufnehmen, wird Sozialkritik geübt, humorvoller und spielerischer freilich als von Timon (II1). Pericles erkennt, ähnlich wie die troischen und griechischen Helden in Troilus und Cressida, den Zusammenhang von Wollust und Mordlust. Die eine Sünde zeugt die andre auch, Mord ist der Lust so nah wie Flammen Rauch (II). Inzest, mit dein der Mensch sich selber schändet, steht im Mittelpunkt der ersten Szene des Stückes; dasselbe Motiv klang in Maß für Maß flüchtig auf, als Isabella ihren mutlosen Bruder schmähte (Is't not a kind of incest, to take life from thine own sister's shame ? M. f. M. Ill 1). Wenn in Maß für Maß der Kuppler zum Henker wurde, so bezeichnet hier Marina diesen Schritt ausdrücklich als einen Aufstieg. Tu alles, und nur das nicht, was du tust. Trag Schutt und reinge stinkende Kloaken, Geh in den Dienst zum öffentlichen Henker, Denn jeder Stand ist besser als der deine (IV 6). Marina, das Kind des Pericles, ist Gegenfigur zu der blutschänderischen Tochter des Antiochus. Wenn diese, deren Schönheit Pericles berückte, einem „prächtigen Kästchen mit Übel ausstaffiert" verglichen ward (s. oben S. 277 f.), bückt Marina „bescheiden wie das Recht" und scheint „ein Palast, wo die gekrönte Wahrheit wohnen muß"; Falschheit kann von ihr nicht kommen.

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Falseness cannot come from thee, for than look'st Modest as justice, and thou seem'st a palace For the crown'd truth to dwell in (V 1, Pericles). Die antiochische Prinzessin ist ein Höllengeist in blendende Götterschönheit gekleidet; ein Feuerstrahl vom Himmel vernichtet ihren Glanz und Schein, verwandelt sie und ihren Vater zu eklen, stinkenden Klumpen (II 4). Marina aber ist Statthalterin der Tugend (a piece of virtue) im Pfuhl des Lasters (IV 6). In den Antiochiern ist die Sünde, in Marina die Erlösungskraft vergegenwärtigt, die das Übel in Herrlichkeit verwandelt. Schon Pericles, als das Meer ihm gütig des Vaters Harnisch wieder zuspielte, erkannte einmal: „Mein Schiffbruch ist kein Unglück", my shipwrack now's no ill (II1). Doch die Aufhebung der Tragik, die in diesem Wort sich ankündigt· - denn Sturm und Schiffbruch sind, und nicht nur im Barock, Bilder für menschliches Schicksal — vollendet sich erst in der Haltung Marinas. Pericles, der wie Lear mehr leiden muß als andere, gleitet immer tiefer in Melancholie. Aber Marina, deren Leben und Tugend noch schärfer und unmittelbarer bedroht wurden als die des Pericles, vermag nicht nur sich zu retten, sondern ihn zu heilen. Sie, die erfahren durfte, daß Räuber zu Rettern werden können, die wie Iphigenie, wenn auch in derberer Weise, durch die Gnade der Götter dem Tode entrückt ward, vermag dann aus eigener Kraft sich aus dem eklen „Stall, wo Krankheit teurer als Medizin verkauft wird", zu befreien (IV 6). Während in Maß für Maß die „Nonne" Isabella unwillentlich den Asketen verführt, bekehrt die „Dirne" Marina zielbewußt und wortgewandt ihre Kunden, die Lüstlinge, und am Ende auch ihren Wächter. Den für sie gedungenen Mörder hatte sie umsonst zu erweichen versucht - da griffen die Götter ein und ließen Piraten ihre Retter werden. Jetzt, ins Bordell verkauft, blühen die Kräfte in ihr auf, die sie rein zu erhalten und andere zu bekehren die Macht haben: so rettet sie sich und sie. Der Bekehrungstat eint sich die Heiltat; Marina heilt, wie Cordelia, ihren Vater. Aber nicht zum Tode wie jene, sondern zum Leben. „Sieh was der Himmel vermag", sagt Cleon, Gouverneur des ausgehungerten Tharsus, zu seiner Gattin, und beschreibt die Verkehrung (change), die der Hunger angerichtet. Verwöhnte Gaumen betteln um Brot; „die Mütter, welche, ihre Kinder aufzupäppeln, nichts zu raffiniert (curious) fanden, sind jetzt bereit, die zarten Lieblinge zu verzehren." (I 4). Aber Cleon selber darf sogleich erfahren, daß der Wechsel auch ein anderes Vorzeichen tragen kann. Der Fremdling, den er für einen Feind hält, naht als Helfer, er bringt der darbenden Stadt Nahrung. Es ist Pericles, der, in eigener Not, die Not anderer zu beheben eilt. Cleon freilich und sein Weib werden später an ihm zu Verrätern·, die gerettete Fürstin wird der Absicht nach, wenn auch nicht faktisch, zur Mörderin an des Retters Tochter. Räuber aber werden 280

faktisch, wenn auch nicht der Absicht nach, zu deren Rettern. Pericles, von Stürmen unausgesetzt gepeinigt, durch Marina der Gattin beraubt, hat doch noch den Sinn dafür, daß eben weil die Elemente in der Stunde von Marinas Geburt tobten, ihre Zukunft um so glücklicher sein könnte (III1). Die Gattin muß er preisgeben; gerade dadurch wird sie gerettet, sie wird an Land geschwemmt, ein edler und wissender Arzt, halb Renaissance-Zauberer, halb Heiliger (dem Heilen eine tiefe Lust, a true delight), erweckt die Tote zu neuem Leben. Aus Tod steigt Leben auf, aus Sturm Musik, das ist die Botschaft des Pericles. Geduldig heißt es das Schicksal ertragen, ohne zu verzweifeln; ausdrücklich ermahnen Pericles' Freunde ihn immer wieder zur patience; „wir müssen den Mächten über uns gehorchen", sagt er selber (III 3), und seine Melancholie löst sich am Ende in Heiterkeit auf. We cannot but obey the powers above us. Verzweiflung war im christlichen Mittelalter als eine der schlimmsten Sünden gebrandmarkt; Pericles, der ihr vorübergehend verfällt, preist Marina als die leibgewordene Geduld. Thou dost look Like Patience gazing on kings' graves, and smiling Extremity out of act (VI). Du siehst aus wie Geduld, Die Königsgräber anschaut und mit Lächeln Verzweiflung aus dem Spiel weist. Das bedeutet Überwindung der tragischen Weltschau aus dem Geiste der Religion. Das tobende Schicksal zerstört den Menschen nicht eigentlich - auch Brutus, Hamlet, Othello, Lear waren nicht bloße Opfer, sondern zugleich Auserwählte. Die Zerstörung tritt vielmehr als Selbstzerstörung ein, so bei Macbeth, hier bei Antiochus und seiner Tochter (der versengende Blitz macht nur sichtbar, was sie aus sich selber gemacht haben). Pericles aber ist auch im Bettlergewande noch Fürst, Marina im Hurenhaus keusch, ihre Mutter gar im Tode noch lebendig. Pericles gewinnt gerade als schiffbrüchiger Bettler, isoliert, im rostigen Harnisch, die Gattin; der edle König Simonides, ihr Vater, spielt nur im Scherz den Brabantio: „Du hast die Tochter mir behext, du bist ein Bösewicht!" (II 5). Marina, die Meergeborene, Einsame, wird gerade in der Dirnenrolle sich selber und ändern zur Erlöserin. Schicksal und menschlicher Adel sind nicht verfeindet. „Wer Ehre haßt, der haßt die Götter über uns" (II 3, Simonides). So wie Marinas Kunst Rosen stickt, die denen der Natur verschwistert sind (V, Prolog), dürfen sich art und nature im menschlichen Dasein überhaupt die Hand reichen. Allzu leicht aber nimmt der Mensch wie Pericles ( V I ) der Götter Gnade für der Götter Zorn und Hohn und versinkt in Gram. Die Götter jedoch, milde gestimmt, lassen es zu, daß die heilende Hand seines Nächsten ihn zum Licht führt.

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Marina ist durch die Schrecken des Todes und der Schande geschritten, ihr Lächeln läßt die Tragik versinken. Edgars Reife vermochte den alten Gloster nicht umzuschaffen, hier aber, im Märchenspiel, darf das letzte Wunschbild Erscheinung werden, Pericles erschaut in Marina, seiner eigenen Tochter, die Geduld, unter ihrem Anhauch darf er genesen. Er ist den Göttern wieder geschenkt, Diana tritt in Erscheinung, die olympische Gottheit selber, während im Sommernachtstraum nur Elfen, in Wie es euch gefällt Hymen und in Macbeth gar die Unheilsbringerin Hekate gegenwärtig waren. „Ein Mann, den beide, Wasser so wie Wind, auf ödem Ballplatz sich zum Ball erkoren, zum Spiel für sie", so nennt Pericles sich selber und bittet die Fischer um Mitleid (pity, II 1); sie aber sehen in ihm a handsome fellow, „einen hübschen Gesellen", und sein getreuer Lysimachus nennt ihn a goodly person. „Er war ein trefflicher Mann, bis das Unglück einer einzigen Verderbensnacht ihn dahin brachte" (V 1). So erscheint in Pericles die hohe Schönheit und die Gebrechlichkeit des Menschen. „So edel wie mein Sinn sind meine Taten", sagt er, fern von ruhmredigem Hochmut, mit ruhiger Selbstverständlichkeit. My actions are as noble as my thoughts (II 5). Ganz ebenso aber weiß er um die Schwäche der Kreatur, er weiß sich, als Erdenmann, den Stürmen des Schicksals ausgeliefert. Yet cease your ire, you angry stars of heaven! Wind, rain, and thunder, remember, earthly man Is but a substance that must yield to you (II 1). Und wie dem König Lear wird ihm das Unheil Lehrerin, der Mensch erscheint ihm in seiner Nacktheit und Hilfsbedürftigkeit. Was ich gewesen bin, hab ich vergessen, Doch was ich bin, lehrt Mangel mich bedenken: Ein Mensch, den friert, ganz starr in allen Adern, Nur kaum belebt, der Zunge so viel Wärme Zu leihen, euch um Hülfe anzusprechen (II1). Gnädiges Geschick und gutmütige Fischersleute retten ihn, ein edler König und dessen liebende Tochter erheben ihn, und aus neuem Sturz richtet ihn schließlich die Hand der eigenen Tochter wieder auf. O komm hierher, Du, die du den erzeugtest, der dich zeugte, Du auf dem Meer Geborne, du in Tharsus Begrabne, du mir auf dem Meer Gefundne! So redet Pericles Marina an (V 1). Der Mensch ist wohl den Schrecken der Welt und des Schicksals ausgesetzt, aber er ist nicht verlassen. Inmitten wütenden Sturms wird das Heil geboren, aus dem Tod steigt Leben, das 282

Kind rettet den Vater. In der Widerspenstigen spottete Tranio-Lucentio, er wolle seinen Vater erzeugen (oben S. 214), hier ist es der Vater selber, der fromm, in tiefer Beglückung, dieselben Worte ausspricht. Was in der Posse nur ein Gaukelwunder war, in der Romanze ist es geistige Wirklichkeit geworden. Als die Kuppler Marinas Schönheit auf dem Markt ausschrien, „da wässerte einem Spanier der Mund dergestalt, daß er sich schon mit ihrer Beschreibung zu Bette legte" (IV 2). In Cymbeline heißt es einmal: „Ich hätte ihn damals ohne die Nachhilfe der Bewunderung ansehen können, wenn auch das Verzeichnis aller seiner Gaben neben ihm aufgestellt gewesen wäre, und ich ihn so artikelweise durchgelesen hätte" (I 3). Beide Stellen deuten die neue Kunstweise an. Sie gibt nicht mehr, wie Shakespeares mittlere Dramen, komplexe Vorgänge und Gestalten und damit gleichsam die Realität selber, sondern ein von ihr abgelöstes schwereloses Bild. Die Romanzen sehen wie von einem fernen Aussichtspunkt die klaren Linien eines Geschehens, das früher in verwirrender Nähe vor unserem Auge wogte. Im Pericles, der auf altertümliche Formen zurückgreift, legt sich das Drama mehr als einmal auseinander in stummes Spiel und epischen Bericht. Die Dumb show spricht nur durch das Auge, der Bericht des Erzählers Gower nur durch das Ohr zur Phantasie. Die Neigung zur Spaltung der plastischen Komplexe, zur Darbietung des Daseins in einfachen Ebenen kommt hier zum Durchbruch. Die beiden Darstellungsweisen lösen einander ab, sie stehen nebeneinander, sich ergänzend, aber nicht durchdringend. „Seht sie", sagt Gower von den stummen Gestalten, „wie Sonnenstäubchen und wie Schatten eine Weile sich bewegen, dann will dem Ohr ich, was das Äug jetzt sieht, auslegen." Like motes and shadows see them move awhile; Your ears unto your eyes I'll reconcile (IV 4). Licht- und Schattenbilder gibt der neue Stil. Auch dort, wo Rede und Bild wieder zusammentreten zum eigentlichen dramatischen Hör- und Schauspiel, wird die frühere Fülle der Töne und Gebärden nicht hergestellt. Die Romanzen leben von der Abstraktionstendenz, die in der Trennung in stummes Spiel und epische Rede nur besonders deutlich in Erscheinung tritt. Das unplastische Bild aber spricht zur Phantasie, an die Gower immer wieder appelliert (your fine fancies, your imagination III, your supposing, your fancy V), von der er wünscht, sie möge es ergänzen und glaublich machen. In Wahrheit verwandelt die Phantasie das Dargebotene keineswegs in Realität, so wenig wie das Kind die Märchenwelt in die des Alltags übersetzt. Es ist der Phantasie eigene Sprache, die hier gesprochen wird, sie nimmt sie rein und mühelos auf und überträgt sie in keine andere. 283

Cymbeline Bastarde sind wir alle Cymbeline, ein sagenhafter britischer König aus der Römerzeit, begeht den Fehler Lears und Othellos, er verkennt die Menschen. Den Schurken vertraut er, die Vertrauenswürdigen hält er für Empörer. Einst verbannte er den wackeren Belarius, der erst, als man ihn als Verräter behandelte, wirklich zum Verräter wurde: er raubte dem König seine beiden Söhne und zieht sie nun in einsamer Berggegend als die eigenen auf. Die Tochter aber, die König Cymbeline geblieben, wird von ihrem Vater gepeinigt. Er verbannt den Gatten, den sie sich gewählt, und will sie zwingen, dem wüsten Tölpel Cloten die Hand zu reichen, dem Sohn von Cymbelines zweiter Frau, einer bösen Märchenstiefmutter, die den König beherrscht. Von Vater, Stiefmutter, Stiefbruder gequält, wird Imogen nun auch noch von Posthumus, dem fernen Gatten, verkannt und verstoßen; durch den Schurken; Jachimo getäuscht, glaubt er sie treulos und dingt einen Mörder gegen sie. Aber „oft dient ein Fall, um froher aufzustehn" (some falls are means the happier to arise, IV 2, Lucius). Imogens Persönlichkeit kommt jetzt, da sie verlassen, versucht, verfolgt ist, erst recht zum Leuchten, ihre duldende Liebe, Treue, Innigkeit durchstrahlen das Stück. Den Versucher Jachimo weist sie mit Selbstverständlichkeit zurück, der Diener Pisanio ist lieber seinem Herrn ungehorsam, als daß er an ihr zum Mörder würde; sie braucht ihn nicht um Gnade anzuflehen, im Gegenteil, das Märchenschema kehrt sich um; statt wie Schneewittchen oder Marina den Mordknecht um Schonung zu bitten, mahnt Sie ihn an seine Pflicht: „Tut's nicht deine Hand, so bist du nicht ein Diener deines Herrn." „Das Lamm ermutigt den Schlächter. Wo hast du dein Messer?" (III 4). Im Jünglingskleide erwirbt sie sich im Flug die schwärmerische Freundschaft zweier echter Jünglinge, die freilich auf andere Weise auch verkleidet sind: es sind ihre Brüder, die, ohne um die eigene Abkunft zu wissen, als Kinder der Bergeinsamkeit aufgewachsen sind. Wieder die Schneewittchenatmosphäre: Imogen kommt auf der Flucht in die Berghöhle und greift, wie Schneewittchen, nach den Speisen der abwesenden Bewohner. Halt! nicht hinein! Aß es von unsern Speisen nicht, so dächt ich, Eine Elfe war's (III6). Später gewinnt sie, immer als Jüngling, ebenso rasch und selbstverständlich die Zuneigung des römischen Eroberers Lucius. Ein Brief vom Kaiser, den mir ein Konsul brächte, Empföhle dich nicht besser als dein eigner Wert (IV 2). 284

Die Feinde, die sie verfolgt haben, gehen an sidh selbst zugrunde, so die böse Königin, die sie vergiften, und Cloten, der sie vergewaltigen wollte, oder sie bereuen und werden zu Freunden, so Posthumus, der seinen Irrtum einsieht, oder Jachimo, der seine Bosheit abschwört. Imogen trägt weder dem Vater noch dem Gatten die erlittene Unbill nach. Posthumus seinerseits, dem das Schicksal Othellos erspart blieb, verzeiht Jachimo-Jago. Knie nicht vor mir: Die Macht, die ich besitz, ist dich zu schonen, Mein Hohn auf dich, dir zu vergeben. Lebe, Sei besser gegen andre. Kneel not to me: The power that I have on you, is to spare you, The malice towards you, to forgive you. Live, And deal with others better. Der König nimmt das Wort auf. Nobly doom'd. We'll learn our freeness of a son-in-law: Pardon's the word to all. Ein edler Urteilsspruch. Es soll uns Großmut unser Eidam lehren: Verzeihung allen! Und es bleibt kein leeres Wort. In echt barocker Verkehrtmg nimmt Cymbeline, Sieger über die Römer, freiwillig die Pflichten eines Besiegten auf sich. Zwar Sieger, unterwerfen wir uns Cäsarn So wie dem römischen Reiche und versprechen, Tribut zu zahlen wie bisher, wovon Die böse Königin uns abgeraten ... (V 5). Wenn die Tragödie - Lear — die Menschen zu sich selber (und damit zugleich über sich selbst hinaus) führt, indem sie sie zerbricht, wenin in der Tragödie also das Heil gleichsam transzendent bleibt, so macht die Romanze dieses Jenseits zum Diesseits, die Versöhnung, Befreiung, Erhebung ereignet sich mühelos im Rahmen des Spiels. Ungebrochen und unverkrampft gehen Imogen, Posthumus, Cymbeline aus tiefem Leiden hervor — ein anderer Stilwille ist am Werk als einst im Lear, im Hamlet. Er schafft nicht mehr erdenwirkliche Individualitäten, die mit der Welt, mit sich selber ringen und sich verbrauchen, er zeichnet Figuren, reine Bilder, die sich nicht zersetzen, die leicht und unberührbar durch die Dämpfe des Schicksals hindurchgleiten und 285

schließlich strahlend aus ihnen hervortreten. Jupiter tritt persönlich auf, dei Glanz einer jenseitigen erfüllt die diesseitige Welt, die Romanze als ganzes ist Theophanie. Die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Geschehens ist hier illegitim, oder vielmehr: sie bekommt einen anderen Sinn. Die Romanze liebt das Unwahrscheinliche, sie will es, sie sucht es, das Ereignis des Unwahrscheinlichen ist ihr Thema. Deshalb gehen jene Kritiker fehl, die die Unglaubwürdigkeit einzelner Züge, etwa der Gestaltgleichheit Clotens mit Posthumus, belächeln. Die Romanze macht selber ausdrücklich auf Unwahrscheinlichkeit aufmerksam. Zwei Edelleute erzählen sich den Raub der Königskinder. Zweiter: Daß Königskinder so entwendet wurden! So schlecht bewacht, so schläfrig aufgesucht, Daß keine Spur sich fand! Erster: Mag's seltsam sein, Und fast zum Lachen solche Lässigkeit, So ist es dennoch wahr (I 1). Ebenso unglaublich und ebenso wahr ist die Verkehrung der Niederlage in Sieg durch drei Einzelne, die einen Paß besetzt halten und so die Flucht der Briten dämmen. „Seltsames Glück", meint der Lord, wieder das Unwahrscheinliche hervorhebend, „ein enger Paß, zwei Knaben und ein Greis!" Es sind die königlichen Jünglinge und ihr silberhaariger Ziehvater Belarius. Knaben, besser passend Zum Wiesenwettlauf als zu solchem Morden, Mit Angesichtern wie für Larven ... Die drei, dreitausend an Vertrauen und an Tat (Denn drei, die handeln, sind das Heer, wenn all Die ändern nichts tun) mit dem Wort: Steht, steht! Begünstigt durch den Platz, doch mehr noch zaubernd Durch eignen Adel — der wohl wandeln konnte Zum Speer die Kunkel, entflammten matte Blicke... (V 3). ... gilded pale looks ... Die Macht des Geistes über die Materie, des Willens über die toten Gegebenheiten, die Zauberkraft der adeligen Seele, in den Komödien im Scherze dargetan, entfaltet sich in der Romanze mit heiterem Ernst. Körper, Milieu, Geschick sind nicht die entscheidenden Mächte, die mutige Seele, der adlige Instinkt, die den Menschen eingeborene göttliche Natur vermögen die Vorzeichen der Dinge zu ändern. „Nichts macht uns wanken als unsrer Feigheit Schmach", sagt Belarius (V 2), und Posthumus berichtet, wie die Briten durch bloßen Schreck stürzten (falling merely through fear V 3). Umgekehrt bezwingt Imogens entschlossener Geist ihre Müdigkeit und Schwäche. „Ich wäre krank, hielt mein Entschluß mich auf286

recht nicht." „Teurer Gatte, du bist der Falschen einer. Jetzt da ich an dich denke, ist der Hunger weg - eben wollt" ich noch verschmachtend niedersinken" (III 6). Die rohe Behausung vermag den inneren Adel, das ritterliche Streben der geraubten Prinzen nicht zu ersticken. Wenn gleich niedrig Erwachsen in der engen Höhle, reicht Ihr Sinn doch an die Dächer der Paläste. Bei Dingen arm und schlicht lehrt sie Natur Ein fürstlich Tun, weit mehr als andre künsteln (III 3). Hohes Streben! O Adel der Natur, Geblüt der Größe! (IV 2) O du Göttin, du göttliche Natur, wie herrlich du dich selbst verkündigst In diesen Fürstenkindern! ... Es ist ein Wunder, Wie unsichtbar Instinkt in ihnen bildet Königsgesinnung ohne Unterricht, Ehr ungelehrt, Anstand gesehn von keinem, Mut, welcher wild in ihnen wächst, doch Ernte Gewährt, als war er ausgesät ... (IV 2). So rühmt Belarius. Aber die göttliche Seele ist nicht notwendig auf sich allein gestellt, muß nicht in jedem Fall gegen ungünstige Bedingungen sich durchsetzen. Die Paß-Szene zeigt, wie die äußere Gegebenheit dem mutigen Geist sich fügt: Er ist der Erzzauberer, aber die Umstände begünstigen ihn (oben S. 286). Die Götter sind nicht grausam, wie die Verblendung der Menschen, selbst noch der toten, es meint. „Ihr habt mehr Mild als gierge Menschen, weiß ich", sagt Posthumus, l know you are more clement than vile men. Und wenn gleich darauf in seinem Traum Posthumus' tote Brüder und Eltern Jupiter bei ihm selber verklagen, so verweist der unter Donner und Blitz erscheinende Gott den Klägern ihre Torheit. „Den ich am meisten lieb, den hemm ich; es wird sein Lohn, verspätet, süßer nur. Gebt euch zufrieden: mein Arm hebt auf den tief gestürzten Sohn, sein Glück erblüht, die Prüfung ist vollbracht... Sein Unglück wird ihn glücklich machen." So wird das Bild der Götter in der Seele des Menschen gerettet, der eingekerkerte Posthumus darf sie gütig, gnädig nennen, good gods, full of mercy (V 4). Er ist „durch Leid gefeit", in mine own woe charmed. Ich, im eignen Weh gefeit, Fand nicht den Tod, wo ich ihn ächzen hörte, Fühlt ihn nicht, wo er schlug ... (V 3). 287

Er wollte, in Verblendung, sein eigenes Glück ermorden, die Götter und gute Menschen (Pisanio, die Prinzen) ließen es nicht zu; er suchte den Tod, die Götter führen ihn ins Glück. Die böse Königin wollte, wie Posthumus, Imogen töten, die Götter und gute Menschen (der Arzt, der Römerfeldherr Lucius) verhindern es. Daß Posthumus mit seinem Mordanschlag auf die selbe tiefe Stufe niedersteigt, auf der die teuflische Königin steht, spiegelt sich in der Verkleidung des üblen Cloten: Posthumus' Gewand paßt ihm wie angegossen. Und Imogen, die Posthumus' schlechtestes Kleid tausend Clotens weit vorziehen wollte (II 3), läßt sich täuschen, sie nimmt, um des Kleides willen, Clotens enthaupteten Leib für den ihres Gemahls, sie glaubt seine Glieder, die sie, jedes einzeln, denen der Götter vergleicht (IV 2), genau zu erkennen - das Herrschertum des Geistes ist auch hier wieder am Werk, Imagination verzaubert ihr den verachteten Körper des zudringlichen Tölpels zum Heiligtum. Nicht die Wirklichkeit herrscht über die Menschen, sondern ihre eigene Traumkraft. Die Art, wie die Welt uns erscheint, hängt von der Wahl, dem Verhängnis oder dem Glück des Standpunkts ab. Als Posthumus den Glauben an die Geliebte verloren, da ist ihm ihr Ring, bis dahin sein Teuerstes, mit einem Mal ein Basilisk (II 4). Briten, die das Beispiel anderer feig gemacht, werden durch den Anruf der Königssöhne unversehens zy Löwen, die Römer umgekehrt, die als Adler dahergestürmt, entfliehen wie Küchlein (V 3). Dem Verbannten scheint das Treiben des Hofes töricht, Gold und Silber sind ihm nicht mehr als Kot (III 6, Anklang an das verbreitete Sagenmotiv von der Verwandlung von Gold in Kot). „Ich sehe, nichts ist ohne Rücksicht gut", hatte Portia im Kaufmann von Venedig erklärt und darauf die Nacht zum Tag gemacht; Petruchio gar ließ, freilich im Hohn, die Sonne zum Mond, einen Greis zum Mädchen werden (oben S. 213). Im König Lear werden, in der Kreideklippenszene, die Wirkungen der Perspektive (von der Renaissance eben erst richtig entdeckt!) schärfstens betont. Wie graunvoll Und schwindelnd ist's, so tief hinabzuschaun! Die Krähn und Dohlen in der Luft dazwischen Schaun kaum wie Käfer aus — halbwegs hinab Hängt einer, Fenchel sammelnd — schrecklich Handwerk! Mich dünkt, er scheint nicht größer als sein Kopf. Die Fischerleute, die am Strande gehn, Sind Mäusen gleich. Das hohe Schiff, dort ankernd, Verjüngt zu seinem Boot, das Boot zur Boje, Beinah zu klein dem Blick ... Und später, als Gloster den Scheinsturz in die Tiefe getan, behauptet Edgar in der Rolle des Fischers, der arme verrückte Bettler, der Gloster zu der 288

Klippe geführt, habe von unten groß wie ein Teufel ausgesehen: „Mir schienen von hier unten seine Augen zwei volle Monde..." (Lear IV 6). In keinem Stück aber taucht das Motiv der Perspektive, der Verschiebbarkeit des Standpunkts so beharrlich, in so vielen verschiedenen Variationen auf wie in der Romanze Cymbeline. Das ist kein bloßer Zufall. Pisanio beschreibt Imogen die Abfahrt seines verbannten Herrn, ruhig, fast aperspektivisch. Solang er's machen konnte, daß ihn mein Äug Und Ohr von ändern unterschied, blieb er Auf Deck, mit Handschuh, Hut und Taschentuch Stets winkend... Imogen, schmerzvoll den Vorgang sich ausmalend, bringt die perspektivische Sicht. Er mußte klein wie eine Kräh dir werden Und kleiner, eh du aufgabst, ihm nachzuschaun. Imogen: Zerrissen hätt' ich mir die Augennerven, Pisanio: So war es, gnädge Frau. Nur um nach ihm zu sehn, bis die Verkleinerung Des Raums ihn zugespitzt wie meine Nadel; Hätt ihn verfolgt, bis er von Mückenkleinheit In Luft verschmolzen war, und dann mein Auge Gewendet und geweint... (14). Belarius läßt, im Gespräch mit seinen Pflegesöhnen, die Perspektive zum Symbol werden. Nun an die Bergjagd. Ihr zum Hügel auf, Jung ist eur Fuß. Ich bleib im Tal. Bedenkt, Wenn ihr von dort mich klein als Krähe seht, Daß nur der Platz verkleinert und vergrößert. Dann überlegt, was ich euch viel erzählte. Von Höfen, Fürsten und des Krieges Tücken; Der Dienst ist Dienst nicht, weil man ihn getan, Nur wenn man ihn erkannt. Solch Überlegen Zieht Vorteil uns aus allem, was wir sehn, Und oft, zu unserm Tröste, finden wir In sichererer Hut den hartbeschalten Käfer Als vollbeschwingte Adler. O dies Leben Ist edler als aufwarten um ein Schmähwort, Reicher als nichts zu tun für leere Gunst, Stolzer als rauschen in geborgter Seide...

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Die Königssöhne aber möchten sich ihren Standpunkt frei wählen können. Aus Erfahrung sprecht Ihr. Jedoch wir armen Unbefiederten, Wir schwangen nie uns über den Gesichtskreis Des eignen Nests... (III 3). Als Pisanio Imogen vom Berge aus die Stadt Milford zeigt, da scheint sie nah, within a ken, „in Sehweite"; als sie sie erwandern will, scheint sie immer weiter von ihr wegzufliehn (III 6). Noch das allerletzte Gespräch bringt eine perspektivische Darstellung. Der Wahrsager schildert seine Vision. Der römische Adler, Der, hohen Flugs, von Süd nach Westen schwebte, Ward kleiner stets, bis er im Sonnenstrahl Verging... (V5). „Nur der Platz verkleinert und vergrößert." Der Romanzendichter wählt sich seinen Erzählerstandpunkt — denn die Romanze trägt die Züge der Erzählung fast ebenso wie die des Dramas - in großer Höhe. In weitem Umkreis erblickt er die Dinge, sie werden klein und schwerelos vor seinem Auge, aber sie gewinnen eine schärfere und einfachere Kontur, als sie sie in der Nahsicht hatten. Er überblickt das Zusammenspiel, in seiner Dichtung stellt er es dar. Er liebt es aber auch, seinen Standpunkt zu wechseln, die Dinge bald in dieser, bald in jener Sicht zu zeigen, in der des Menschen zum Beispiel oder in jener der Götter, das einemal als Dramatiker, ein anderes Mal als Epiker. Und er wechselt Blickpunkt und Darstellungsweise leicht und mühelos, denn alles ist ein Spiel. Auch dieses rasche Wechseln des Standpunkts wird im Gespräch der Figuren angedeutet. Posthumus hat bewundernd die Tat der drei Paßverteidiger erzählt (oben S. 286); er ärgert sich über das alberne Staunen des zuhörenden Lords und gibt nun den Dingen diese Wendung: Wollt Ihr's im Reim als Spottgedicht? So klingt's: Ein Paß, zwei Knaben und ein Alter, doppelt Knab, Das war der Briten Hort, der Römer Grab (V 3). So läßt sich derselbe Stoff als Hymnus oder als Groteske gestalten, als Tragödie oder als Romanze, je nach dem Standpunkt, je nach dem Stilwillen des Dichters. Nicht Müdigkeit oder Lässigkeit führt Shakespeare von der Individualität zur Figur, von der vergleichsweise realistischen Tragödie zur vergleichsweise abstrakten Romanze, sondern der Wille, den Blickpunkt in eine größere Höhe zu verlegen. Dieser höhere Blickpunkt gestattet eine Relativierung der Vorgänge, ohne sie zu entwerten, und zugleich die Hereinnahme der eigentlich transzendenten Versöhnung in die irdische Ebene. 290

Die Relativierung, das Spiel mit dem Standpunkt, die perspektivische Betrachtung tritt in mancherlei Formen auf. Imogen, die sich von zwei Bettlern belegen glaubt, sieht die Lüge des Armen in anderem Lichte als die des Mächtigen. Im Überfluß zu sündigen ist schlimmer Als Lüg aus Not, des Königs Lüge übler Als die des Bettlers (III 6). Sich selber gestattet Imogen die harmlose Lüge des falschen Namens. „Lüg ich und schade keinem: wenn's auch die Götter hören, hoff ich doch, verzeihn sie's" (IV 2). Auch der Arzt, der, weil er ihr Übles zutraut, der Königin statt des Todestranks nur einen Schlaftrank in die Hand gibt, spricht sich das Recht zum Betrug zu. „Ich, falsch an ihr, bin um so treuer" (I 6). Ähnliche Geistesakrobatik treibt Pisanio, als er Imogens Verfolger hintergeht. Wherein I am false, l am honest; not true, to be true. Wo falsch ich bin, da bin ich ehrlich; untreu, Um treu zu sein... (IV 3). Cloten wollte ihn anwerben: „Kerl, wenn du kein Schurke sein wolltest und mir treu dienen..., das heißt, je,de Schurkerei, die ich dir zu tun befehle, grad und treu ausführen..." (V 5). Aber Pisanio, anders als die üblen Diener übler Herren im Pericles, vollzieht nicht einmal die Schurkereien (villanies), die ihm sein wirklicher Herr aufträgt; und wenn dieser später, als er Imogen tot glaubt, die Gehorsamspflicht relativieren möchte: O Pisanio! Ein guter Diener tut nicht jeden Dienst: Nur was gerecht, ist Pflicht ( V I ) so hat Pisanio zum voraus dieser Maxime nachgelebt, während umgekehrt Belarius, weil als Verräter angesehen und behandelt, nachträglich zum Verräter wird. Der Standpunkt, die Einstellung, die Gestimmtheit prägen das Gesicht unserer Welt. Dem Müden ist das harte Lager köstlicher als dem Verwöhnten ein weiches. „Müdigkeit schnarcht auf dem Stein, und Trägheit findet hart das Daunenbett", sagt Belarius, „der Hunger (our stomachs) würzt die geringe Nahrung". Imogen in derselben Szene: „Hunger (famine), eh er die Natur ganz überwältigt, macht sie tapfer" (III 6). Verkleidung bedeutet Wechsel des Standpunkts. Posthumus kommt im Kleid des Römers, kämpft als britischer Bauer, und wechselt nochmals das Gewand, um sich als Römer gefangennehmen zu lassen. Zu Imogen sagt Pisanio: „Ihr müßt die Frau vergessen und Befehl in Dienst verkehren." Imogen: „Ich bin schon fast zum 291

Mann geworden" (III 4). Und als sie, im Jünglingskleid, die Freundschaft der Prinzen gewinnt: „Vertauschen möcht ich mein Geschlecht als ihr Genoss, da Leonatus falsch" (III 6). Im geographischen Bereich tritt die entsprechende Verschiebung ein, wie auf das Geschlecht vermöchte Imogen auch auf die Heimat zu verzichten, die sie doch, im selben Atemzug, einem Schwanennest vergleicht. Hat nur Britannien Sonne? Tag und Nacht, Sind sie nur britisch? In dem Buch der Welt Ist unser Land ein Teil, doch nicht das Ganze. Im großen Teich ein Schwanennest - auch außer Britannien leben Menschen (III 4). Ja sie legt, für eine Weile, auch das Leben ab, das Gift des Arztes versenkt Imogen-Schneewittchen in Scheintod, ihre Brüder wollen sie begraben, und sie selber sagt nachher: „Ich war tot" (V 5). Der Arzt aber rühmt seinen Trunk: „Er fesselt nur für kurze Zeit den Geist, der um so frischer dann erwacht" (I 6): Auch hier bedeutet der Durchgang durch das Nichts eine Steigerung, der Selbstverlust bringt Selbstgewinn, die Preisgabe des Standpunktes führt erst zu seiner eigentlichen Eroberung. („Der Mensch gewinnt sich Kraft im Ruhn", weiß selbst Jachimo, der den Schlaf den Affen des Todes nennt II 2). Der wirkliche Tod verschiebt die Perspektive iri anderer Weise. Thersites" Leichnam ist so gut wie Ajax", Sind beide tot (IV 2). Schließlich spielt in Cymbeline auch der Traum seine Rolle, er entführt den Träumer in eine jenseitige Welt oder holt diese in die seine herein, Ahnen und Götter sprechen unmittelbar zu ihm, der Wahrsager schaut Bilder, die er deuten muß und, nachdem das Geschehen selber sie gedeutet, unter neuem Aspekt neu darstellt. Posthumus glaubt, als er erwacht, weiter zu träumen, Imogen, vom Scheintod aufwachend, hält ihre Begegnung mit den HöhlenJünglingen für geträumt und hofft, daß sie auch jetzt, da sie den Toten ohne Haupt neben sich erblickt, noch träume. Ich träume, hoff ich. So war mir auch, ich sei ein Höhlenwächter Und Koch bei wackern Leuten; doch 's ist nichts: Es ist ein Pfeil, von nichts auf nichts geschossen ... Der Traum ist noch da. Auch im Wachen ist er Außen wie in mir, nicht gedacht, gefühlt... Es ist ein Traum, wenn sie nun Posthumus zu erkennen glaubt, aber ein Traum in anderem Sinne als sie meint. Auch Posthumus' Enttäuschung ist nur Traum und Wahn, durch Scheinbeweise zustande gebracht - und er ist frei

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und groß genug, der Gattin zu verzeihen, noch eh die Schurkerei aufgedeckt ist, so wie sie ihm verzeiht, eh sie erfährt, daß er getäuscht wurde. Othello und Jago, jeder an sich gefesselt und in seiner Welt verwurzelt, kommen nicht los von sich, die Figuren der Romanze aber vermögen über ihren eigenen Schatten zu springen. So ist denn die Allversöhnung des Schlusses nicht nur vom Inhalt her zu verstehen, sondern auch vom dichterischen Stil der neuen Form. Die großen Tragödien stellen relativ realistisch Wege und Irrwege dar, zeigen den Menschen in schwerem Ringen, die Romanzen verfolgen die Kapriolen der vielen Einzelgestalten aus freier Ferne, und die Freiheit des Betrachters transponiert sich auf die Figuren selber, die hurtig den Standort zu wechseln vermögen, Unglück und Verzweiflung wohl im Augenblick heftig empfinden, aber ungetrübt entlassen werden, zur frohen Reue oder Gnade, zu neuem Glück und neuer Liebe rasch bereit. Die unwandelbar Bösen aber, die von Grund auf Mißratenen trifft die Hand der Götter, die Menschen brauchen nicht Rächer zu spielen. Vergleiche uhd Bilder aus der Welt der Vögel und der Lüfte betonen das Leichte, Ätherische dieser Figurenwelt. Imogen, und in ihr die Frau überhaupt, wird „ein Stück zarter Luft" genannt, a piece of tender air; mollis aer bedeutet mulier (V 5). Posthumus sog alles Wissenswerte, das ihm gereicht wurde, ein „wie wir die Luft, es augenblicks begreifend". „Sein Frühling ward schon Ernte." Die Figuren der Romanze sind luftgewebte Wesen, Posthumus hat keinen Vater, ward nicht vom Weib geboren, sondern, wie Macduif, aus Mutterleib geschnitten (so daß er, was Marina nur schien, wirklich ist, unschuldiger Mörder der Mutter), seine Brüder sind tot. Er wird verbannt, betrogen, tut sich selber Unrecht. Imogen sagt von sich: Der Vater grausam, die Stiefmutter falsch, Ein törger Freier der vermählten Frau, Und deren Mann verbannt!... War ich auch geraubt Wie meine Brüder! (I 7). überall wird die Isolation betont. Es ist die Isolation der Märchengestalten, die sie zu frei beweglichen und universal beziehungsfähigen Figuren macht. „O ein geflügelt Roß!" ruft Imogen, als sie sich nach Milford wünscht. „Quält mancher sich um Nichtiges in einer Woche hin, könnt ich denn nicht in einem Tag hingleiten?" (III 2). Wenn auch dieser besondere Wunsch ihr nicht erfüllt wird und auch gar nicht erfüllenswert ist, so werden in einem geistigen Sinn die Figuren der Romanzen wirklich von Flügeln getragen, das Wort „gleiten" (glide) kennzeichnet ihre Wesensart, und wie die freie und leichte Wendung und Bewegung eignet ihnen die Gabe und das Glück der Begegnung, der Berührung, des Bezugs. 293

Mit dem Märchen teilt die Romanze auch die Neigung zum Umfassenden, Weltweiten. Im Pericles, der sich stofflich vom spätgriechischen Reiseroman nährte, äußert sie sich in der ruhelosen Bewegung des Helden, in den weitausgreifenden Fahrten und Reisen auch der übrigen Personen. In Cymbeline ist der Universalismus noch deutlicher. Großem Figurenreichtum verbindet sich ein kunstvolles Gefüge verschiedenartiger Handlungen. Römerdrama, englische Historic und Renaissance-Novellenspiel sind kombiniert und gleichzeitig - nur das ermöglicht die Kombination - sublimiert. Märchen, Legende, Novelle, ritterlicher Roman glänzen in dem Spiele auf. Imogen erinnert an Griseldis, ein wenig auch an die Dulderinnen des höfischen Epos, an Jeschute und Enite. Die königlichen Prinzen, die als Naturkinder aufwachsen und doch voll ritterlichen Wesens und ritterlicher Sehnsucht sind, haben etwas von der Art Parzivals. Auch Posthumus Leonatus, der mühelos Lernende, Fehlende und Wiedergutmachende hat einzelne Züge des Gralsfinders; sein Vater ist vor seiner Geburt im Kampf gefallen, er wird schuldlos schuldig an seiner Mutter, und Jupiters Täfelchen, zweimal vorgelesen, verkündet, er werde, sich selber unbekannt, „finden ohne zu suchen" (a lion's whelp shall, to himself unknown, without seeking find, V 4, 5). Vor allem aber klingen die Motive aus Shakespeares eigenem Werk in Cymbeline wieder auf, die lichten Schatten früherer Gestalten huschen durch das Spiel. Die böse Königin (our wicked queen V 5) und ihr Sohn, der mit plumpem Raffinement Imogens Schändung vorbereitet, erinnern an Tamora und ihre Söhn« (Titus Andronicus), der schwache und doch tyrannische König an Lear; „ich bin gefühllos Eurem Zorn", sagt Imogen zu ihm (I 2). An Romeo und Julia gemahnt nicht nur der Todesscheintrunk, sondern etwa auch die Verabsolutierung des Geliebten durch Imogen. „Nichts tröstet mein Leben, als daß die Welt das Kleinod noch bewahrt, damit ich's wiederseh" (I 2). Eine Welt ohne Posthumus wäre ohne Wert. Jachimo ist Jago; die Finte, mit der er die empörte Imogen beruhigt, ist einer Wendung Malcolms in dessen Gespräch mit Macduff nachgebildet: „Ich sprach nur so, zu sehn, ob Eur Vertrauen tief Wurzel schlug" (I 7). Posthumus ist wie Macduff aus Mutterleib geschnitten, er vertraut wie Othello dem Unwürdigen, mißtraut, durch Scheinbeweise bestochen, der Schuldlosen, deren Treue und Schönheit er vorher über alles erhoben. Das Motiv der falschen und der echten Sicherheit gibt sich in mannigfachen Variationen; inneres Empfinden wird gegen das Zeugnis der Sinne ausgespielt („Doch hab ich solch ein Herz, das meine Ohren so leicht nicht täuschen sollen" Imogen I 7), Geduld gegen Eile, Vertrauen auf die Götter, auf Fortuna gegen Verzweiflung und Melancholie. All other doubts, by time let them be clear'd; Fortune brings in some boats, that are not steer'd. 294

Was trüb nodi ist, sei durch die Zeit geklärt, Heim kommt manch Boot, das ohne Steuer fährt" (IV 3). Von Rache ist viel die Rede; Posthumus erfleht die Rache der Götter gegen sich, in seiner und Jachimos Reue erfüllt sich Hamlets Sehnsucht als wie im Spiel. Auch andere Shakespeare vertraute Motive sind da: Traum, Verkleidung, Selbstverlust, Auseinandersetzung mit Tod und Kerker... „Bastarde sind wir alle", sagt Posthumus im tiefsten Punkte seiner Verzweiflung, als der Glaube an Imogen, an die Frau, an den Menschen ihn verlassen hat. Sein Satz ist zunächst gegen die Frau gerichtet. Posthumus, der doch selber „nicht vom Weib geboren" ist und deshalb eher denn andere als Neubeginn gelten darf, beschwert sich, daß kein Mann entstehen kann, ohne daß die Hälfte des Werkes vom Weibe stammt. Is there no way for men to he, but women Must be half-workers? We are all bastards. Alle Laster, die im Manne wohnen, sind des Weibes Teil in ihm; Posthumus stellt einen langen Lasterkatalog auf, er enthält auch die Rachsucht (revenges), im gleichen Augenblick, da er selber nach Rache an Imogen, an der Frau überhaupt schreit. O, vengeance, vengeance! Wie Hamlet ist ihm das Bild der Welt verdorben, als er Imogen, die ihm „so keusch wie unbesonnter Schnee" schien, befleckt glauben muß (II 5). Entsprechend — wie denn die Neigung zum Verallgemeinern, zu prinzipiellem Urteil die Personen auch dieses Stückes kennzeichnet - ist für Imogen mit Posthumus' Versagen das Versagen des Mannes überhaupt gegeben, ja aller Wert ist entwertet, denn keiner ist so vertrauenswürdig wie Posthumus es war. „Durch deinen Abfall, o Gemahl, gilt selbst der beste Schein für Bosheit." „So, Posthumus, wirst du beflecken aller Männer Schönheit. Wacker und edel heiße falsch und treulos seit deinem großen Fall" (III 4). Aber beider Urteil geht fehl. Posthumus' Fluch ist hinfällig, denn Imogens Vergehen, auf das er sich gründet, besteht nicht. Pisanio nennt sie „mehr einer Göttin gleich als einer Frau". Aber auch der Mann, auch Posthumus ist nicht so schlimm, wie der Augenblick ihn zeigt. „O mein Herr", klagt Pisanio, „so tief steht dein Gemüt jetzt unter ihr, als sonst dein Glück" (III 2). Jedoch Posthumus erhebt sich wieder. Als er, im britischen Bauerngewand, mit Jachimo kämpft, erscheint er diesem seinerseits wie ein Gott. „Ich bin nichts, oder wenn nicht, so wäre nichts zu sein doch besser", sagt Imogen (IV 2). Ändern aber, und nicht nur Pisanio, ist sie ein Engel, fast eine Göttin (III 6, Bellarius). Posthumus bezeichnet sich als Bastard, ändern erscheint er als Musterbild, als Gott. Bastard, halbbürtig ist der Mensch in einem ändern Sinne, als Posthumus es meint. Er steht zwischen Gott und dem Nichts, Nacht und Licht sind in ihm vermischt. Und wenn er sich selber, d. h. sein besseres, sein eigentliches Selbst verlieren kann 295

wie Posthumus, so kann er auch sich selber retten wie Posthumus. Pericles wird von seiner eigenen Tochter geheilt, König Cymbeline von den eigenen Söhnen in der Schlacht befreit, beide ohne ihre Kinder zu erkennen; die rettende Kraft entspringt also - allegorische Deutung ist hier am Platz - im Menschen selber; ohne daß er sich ihrer bewußt zu sein braucht, kann sie sich erheben und entfalten, und erst der dem Leben Neugewonnene erkennt das Kind, das zu seinem Erzeuger geworden. Die Skala der Möglichkeiten, die dem Menschen offen stehen, reicht von der bösen Königin, bei der selbst die Beichte noch Unheil stiften möchte, bis zu Imogen, dem irdischen Wunderbild (earthly paragon III 6); so ist das Bild des Menschen gleichsam in seine Elemente auseinandergefaltet. Posthumus aber steht mitten inne, er repräsentiert am sichtbarsten, was der Mensch wirklich ist: göttliche Hoheit in irdischem Staub. „Edel, doch unglücklich" nennt Imogen sich (ähnlich wie Pericles): gentle, but unfortunate (IV 2). Posthumus spielt die Rolle des Gottes im Bettlergewand. Und er ist sich ihrer, in aller Bescheidenheit, bewußt; als er sich zum Bauern verkleidet, spricht er: Die Welt beschämend, will ich jetzt beginnen Den neuen Brauch: schlecht außen, besser innen (V 1). Die Welt beschämend: denn üblich ist gerade das Umgekehrte, das Gewand pflegt edler zu sein, als was es bedeckt, a garment nobler than that it covers (V 4). Das aber, höfisch und unnatürlich, bedeutet Verkehrung der eigentlichen Rolle des Menschen: in schlichtem Kleid göttliche Seele zu sein.

Das Wintermärchen Nenn sie Bastarde nicht. „Ein Mensch, so nur gemalt, ihn kennte jeder als Bildnis des Entsetzens, sprach er auch nichts." Dies Wort Imogens zu dem in Gewissensverwirrung stehenden Pisanio (Cymbeline III 4) ist eine Rechtfertigung der Pantomime (dumb show) ebenso wie der Romanze. Beide verzichten darauf, konkrete Realität vorzutäuschen, sie geben statt ihrer ein Bild, das die Merkmale des Künstlichen trägt und tragen soll. Jachimo vergleicht die schlafende Imogen einer liegenden Grabmalfigur (a monument, thus in a chapel lying, Cymbeline II 2). Im Wintermärchen preist der Schelm Autolycus seine Ware an; „Ihr würdet denken, ein Weiberhemd wäre ein weiblicher Engel, so singt er Euch über das Ärmelchen und über den Busenstreifen" (IV 3). Das Kleid ist Form, geistgeschaffen, dem abstrakten Sein näher als irdische Leiblichkeit. Der clownische junge Schäfer nennt seine vornehmen Kleider „geborene Edelleute". Als König Leontes und sein Minister sich nach jahrelanger

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Trennung wiedersehen, starren sie einander ergriffen an: „Es war Rede in ihrer Stummheit, Sprache selbst in ihrer Gebärde." Der alte Schäfer steht „wie ein verwittertes Brunnenstandbild" dabei. Während Leontes' Erzählung von Königin Hermiones Tod verharrt die Tochter, Perdita, in angestrengtem Hinhören (attentiveness wounded bis daughter), „bis, von einem Zeichen des Schmerzes zum ändern, sie endlich mit einem ,Ach!' möchte ich wohl sagen: Tränen blutete... Wer da am meisten Marmor war, veränderte seine Farbe; einige sanken in Ohnmacht..." In dieser Auflösung einer starr stehenden Gruppe in Bewegung ist das krönende Bild des ganzen Spiels vorweggenommen: Hermione, die sich zur Statue macht und dann schrittweise zurück ins Leben tritt, zuerst nur pantomimisch sich bewegend, schließlich auch sprechend (V 3). Beide Elemente, die bloße Gebärde und die bloße Rede entfalten, jedes für sich allein, eine machtvolle Wirkung. Das Nennen einer vergangenen Tat vermag diese zu beschwören, vermag sie im Bewußtsein des Hörenden zur vollen Wirklichkeit zu bringen. „Ich tat's. Doch du versehrst mich scharf (thou strik'st me sorely), da du es aussprichst, daß ich's tat", sagt Leontes; und später: „Er stirbt aufs neu mir, spricht man von ihm (V 1). Bild, Kleid, Statue, selbständig gewordene Gebärde oder Rede: Geist der Romanze. Entscheidende Szenen erstehen im Wort eines Berichterstatters. Drittpersonen preisen Schönheit und Trefflichkeit einer Imogen, Hermione oder Perdita: die Wesenheit, die sich in ihnen darstellt, wird, in reiner Konsequenz des neuen Stils, gleichsam von den Personen abgelöst. Friedrich Gundolf hat diese Erscheinung beobachtet und beklagt, als handelte es sich um ein Nachlassen von Shakespeares Schöpferkraft. „Julia gehört von vornherein zu diesem Romeo und diesen Häusern und bedarf keiner lobenden oder beklagenden Ankündigungen durch Hofgeschwätz ... die Luft worin sie gedeiht und verdirbt atmen wir frisch im sichtbaren Geschehen um sie her. Imogens Vorzüge werden uns in rednerischem Schwulst gepriesen, eh eine Geste von ihr sie verbürgt." Die Beobachtung ist richtig, die Klage geht fehl: Der Stil der Romanze verlangt die Offenbarung der Wesenheit in der Rede, im bloßen Nennen ganz ebenso wie ihr Erscheinen im bloßen Bild, in Pantomime, Statue, Kleid. Die Wirklichkeit legt sich wie im Spiel in ihre Elemente auseinander. Vielschichtige Individualitäten unmittelbar sich entfaltend wären zu schwer, zu gewichtig; die Romanze liebt Leichtigkeit, Transparenz. Prinz Florizel läßt Perditas liebliche Erscheinungsweisen einzeln aufleuchten und verabsolutiert jede von ihnen. Sprichst du, Geliebte, Wünsch ich, du tatst es immer. Wenn du singst — Wünsch ich, du kauftest, gäbst Almosen so, Sängst dein Gebet, tatst jedes Hausgeschäft Nur im Gesänge. Tanzest du, wünsch ich,

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Du wärest Meereswelle, tätest nichts Als dies, stets in Bewegung, stets dasselbe, Und ohne andre Pflichten. All dein Handeln, In jedem Einzlen so besonders, krönt Dein Tun mit dem was grad du tust: So sind All deine Taten Königinnen (IV 3). Move still, still so, and own no other junction ... All your acts are queens. Entsprechend ist Hermione im letzten Akt zuerst ganz nur Plastik, dann ganz Bewegung und Gebärde, schließlich Sprache. Thema des Spiels ist, wie schon so oft, Eifersucht, Tod und Leben. Aber die Gestalten sind die eines märchenhaften Traumreichs. Es braucht keinen Jago, um Leontes von Sizilien Verdacht gegen Gattin und Jugendfreund fassen zu lassen. Ein Wort, eine Gebärde genügt. Die Eifersucht überfällt ihn unvermittelt und besitzt ihn sogleich. Jedes Drama rafft die Zeit. Während aber Shakespeares mittlere Tragödien die Zeitverkürzung realistisch verhüllen — Othellos Leidenschaft wird von außen angefacht, wuchert in ihm, steigert sich, zerstört ihn fortschreitend — darf sie jetzt voll in Erscheinung treten. Das Traumspiel gibt die innere Welt direkt, äußere Anlässe und Begründungen haben in ihm, wie im wirklichen Traum, wenig Gewicht, Entwicklungen verkürzen sich zu leichten Wendungen, Schwenkungen, Verwandlungen. „Ich bin ein Flaum für jeden Wind der bläst", sagt Leontes von sich (II 3). Die Eifersucht ist plötzlich in ihm da, als ein Urphänomen, eigenen Rechts, des äußeren Anlasses kaum bedürftig. Ohne Bedenken plant er den Mord des Freundes, von dem er sich betrogen glaubt; die Gattin und ihr Kind, das er Bastard nennt, will er vernichten. Wozu ein Jago? Letztlich ist jeder sein eigener Jago. Leontes wird nicht, wie er meint, von ändern verraten, er verrät sich selbst. An die Stelle der äußeren Dynamik, der Auseinandersetzung zwischen Othello und Jago, tritt indessen keine innere. Wie von selber, ohne wirkliche Auseinandersetzung mit sich, verfällt Leontes der Eifersucht. Wenn Brutus, Othello, Macbeth sich verführen lassen und schließlich doch die ganze Verantwortung für ihre Tat tragen, so kommt die Einsamkeit der Entscheidung in Leontes rein zum Ausdruck. Kein Schurke, keine Dämonen hetzen oder locken ihn. „Dem eignen Mißtrauen hab ich allzusehr geglaubt" (III2). „Alles meine eigne Tollheit!" (V 1). Nicht von den Göttern, von den Menschen kommt das Unheil. Noch in Pericles und Cymbeline sind es fremde Menschen, die als Schurken agieren, Leontes aber verfällt nur sich selber. „Bastard!" Immer wieder erschallt der verzweiflungsvolle Ruf aus Leontes' Mund. „Mit eigner Hand will ich dem Bastard das Gehirn zerschmettern." „Leben soll ich, den Bastard knien sehn, mich Vater nennend?" Und so noch mehrmals (II, 3 III 2). Vor der in der Dramatik der Zeit so häufigen Frage, 298

ob der Sohn, die Tochter, der Bruder echtbürtig, ob nicht die Gattin, die Mutter eine Hure war, gewinnt Leontes' Verzweiflung erst ihre eigentliche Bedeutung. Der Mensch zweifelt an der Legitimität seines ganzen Daseins. Pericles und Cymbeline werden durch die eigenen Kinder gerettet, das Kind ist Gewähr oder Verheißung echten Seins - Leontes packt unvermittelt der entsetzliche Verdacht, sein Kind könnte ein Bastard sein. Er selber von dem Nächsten, Geliebtesten, Vertrauenwürdigsten betrogen, das Kind ihm nicht Heiland, sondern Hohn. Wenn die Rettung des Pericles durch die eigene Tochter, jene Cymbelines durch die eigenen Söhne im allegorischen Aspekt die Rettung des Menschen durch eine ihm selber entsprungene Kraft bedeutet, so hat das Hinsiechen, der Tod von Leontes' geliebtem Söhnchen Mamilius entsprechenden Sinn. Leontes ist an sich selbst erkrankt, sein Zweifel am Kind ist Zweifel an sich selber. Tyrannische Vernichtungswut packt ihn. Er kerkert die Gemahlin ein und verlangt ihren Tod; das Kind setzt er aus, der Hofdame, die es verteidigt, droht er mit dem Scheiterhaufen; den Freund, Polyxenes von Böhmen, möchte er umbringen; den übrigen „Verrätern" wünscht er den Galgen. Die Zerstörungssucht des unsicher gewordenen Menschen erinnert an Macbeth: Vernichtung der ändern soll ihn selber stärken. „Fort mit ihr zum Kerker!" (II 1). Nicht Ruhe, Tag und Nacht. Es ist nur Schwäche, Die Sache so zu nehmen, nichts als Schwäche. War nur der Grund vertilgt - des Grundes Hälfte: Die Ehebrecherin! Der verbuhlte König Ist außer meines Arms Bereich, entrückt Dem Ziel und der Schußweite meines Hirns, Sicher vor jedem Anschlag. Aber sie Kann ich mir greifen. Ja war sie nicht mehr, Verzehrt vom Feuertod, der Ruhe Hälfte Kam mir vielleicht zurück ... (II 3). Aber Leontes' Verdacht ist Wahn. Lady Paulina hält ihm das Kind entgegen. „Ich komme von Eurer guten Königin." „Die gute Königin, denn sie ist gut, gebar Euch eine Tochter... und empfiehlt sie Eurem Segen." „Sie ist Euer." Natur, die „gute Göttin", schuf sie als Abbild des Vaters. In ihr verstößt Leontes sich selber. Aber nicht nur Natur hat ein treffliches Werk geschaffen, auch Fortuna erweist sich als gnadenreich. Zwar Prinz Mamilius, der nicht nur seines Vaters Trost, sondern die Hoffnung des ganzen Landes war (I 1), siecht dahin. Die verstoßene Königin aber, Hermione, verfällt nur scheinbar dem Tod, sie darf, nachdem der Sünder Leontes durch lange Reue und Buße zum Heiligen geworden (V 1), auferstehen. Und auch die der Vernichtung anheimgegebene und damit in mehr als einem Sinne verlorene Tochter wird gerettet; der Tod erfaßt ihre Begleiter, sie aber wird dem Leben über299

antwortet;-wie eine Naturgottheit wächst sie in ländlicher Welt auf, Prinz Florizel nennt sie Flora (IV 3). In dem naturnahen Böhmen als Schäferin aufwachsend, nimmt sie die Kräfte des Frühlings in sich auf ebenso wie die des Sommers und Herbstes, das Leben blüht reiner und stärker in der durch das Tor der Todesdrohung Geschrittenen, sie darf Uberwinderin des Winters werden. Im Macbeth rückt der grüne Laubwald streitbar gegen den entsetzlichen Winterkönig, Perdita aber, Spenderin lieblicher Blumen, braucht den alten Leontes nicht zu bekämpfen, sie darf ihn beglücken. Einst hatte er sich sein Kind und damit seine Zukunft, seine Hoffnung, sein Glück verscherzt, jetzt, da er Buße getan, wird die Verlorene ihm wiedergeschenkt. Nicht Bastard ist Perdita, sondern Trägerin des Heils. Die Verzweiflung des Menschen ist Torheit, die tragische Sicht Täuschung. „Ich weine nicht so schnell, wie mein Geschlecht wohl pflegt", sagt Hermione; ähnlich wie Schillers Maria Stuart tröstet sie ihre Frauen. Weint nicht, gute Närrchen, Es ist kein Grund. Hört ihr, daß eure Herrin Die Haft verdient hat, dann laßt Tränen strömen, Wenn man midi losläßt. Dies Verhängnis jetzt Dient mir zu höherm Heil. Weep not, good fools ... Nur wer sich selber schuldig macht, ist zu beklagen, in diesem Falle Leontes. Leiden, die uns von außen kommen, sind nur Prüfungen: christliche Verneinung der Tragik. Auch Perdita braucht einmal das Wort Bastard. Sie hält gestreifte Nelken von ihrem Garten fern. Denn sie hat gehört, daß nicht die große Schöpferin Natur allein sie bildet, daß menschliche Kunst beteiligt ist. Sie will keine Bastarde. König Polyxenes, obwohl seinerseits bestrebt, sie als Unebenbürtige von seinem Sohn zu trennen, belehrt sie, daß Kunst selber aus der Natur aufsteige, selber Natur sei. Es gibt kein Mittel, die Natur zu bessern, Das die Natur nicht selbst schafft. Ob der Kunst, Die, sagst du, zur Natur hinzutritt, gibt es Kunst, Von der Natur gemacht. Sieh, holdes Kind, Wir galten edlern Sproß dem wildsten Stamm, Befruchten so die Rinde niedrer Art Mit Knospen feinrer Sorte. Diese Kunst Verbessert die Natur, vielmehr, sie ändert sie: Doch Kunst ist selbst Natur. Gestreifte Nelken, künstliche Blumenzucht sind Ausgangspunkt des Gesprächs, das sich das Verhältnis von Natur und Kunst und damit von Natur und menschlichem Geist ganz allgemein zum Thema nimmt: eines der zen300

tralen Themen des Zeitalters. Was der Mensch der Natur hinzufügt, die verwandelte Form, die er ihr verleiht, bedeutet nicht Verfälschung. Die große Schöpferin Natur, great creating nature, hat auch den menschlichen Geist hervorgebracht, die Rückwirkung des Geistes auf die Natur schändet diese nicht. Do not call them bastards, sagt Polyxenes zu Perdita, „nenn sie Bastarde nicht". Er meint die Nelken, aber das Wort klingt wie der Widerruf von Posthumus' „Bastarde sind wir alle!" Des Posthumus Verzweiflung beruhte auf Täuschung wie die des Leontes und schließlich auch des Polyxenes, der in Perdita die Prinzessin ahnt und doch nicht anerkennt. Perditas eigene Ablehnung des menschlichen Geistes wird von Polyxenes weise widerlegt. Der Geist des Menschen und seine Werke sind echtbürtige Kinder der Natur - Bastarde, so deutet Hermione es an (oben S. 300), nur dann, wenn sie sich selber dazu machen, wenn sie an sich selber und damit an der Schöpfung zu Verrätern werden. Wenn Decius Brutus, obwohl er das Gemüt Caesars zu lenken versteht, keinen Versuch macht, ihn im Zentralen zu beeinflussen, so wenig wie seine Mitverschworenen, wenn Hamlet dem Verbrecher seinen Wahnsinn nur vorspielt, so darf in der Romanze die direkte Begegnung endlich statthaben. „Verdammt des Königs blinder Wahnsinn", sagt die der Königin treu ergebene Hofdame Paulina; „er muß es hören, und er soll" (II 2). Camillo ist, um wenigstens den Mord an Polyxenes zu hindern, mit diesem geflohen, Paulina flieht nicht, sie will dem Kranken Heilung bringen. Die Höflinge möchten sie abweisen. „Er schlief nicht, gnädge Frau, und hat befohlen, daß keiner zu ihm darf." Sie aber, die ganze Bedeutung des Schlafs, wie sie an Brutus, an Macbeth offenbar ward, erfassend, antwortet: Freund, nicht so lustig: Ich komm ihm Schlaf zu bringen. Euresgleichen, Die ihn umschleichen wie die Schatten, stöhnen, So oft er grundlos seufzt, ja, Euresgleichen, Die nähren seines Wachens Ursach. Ich, Mit Worten komm ich, die so wahr als heilsam, Wie beides redlich, ihm das Gift (humour) zu nehmen, Das ihm den Schlaf benimmt (II 3). To purge him of that humour that presses him from sleep. „Ich bin Euch treue Dienerin und Arzt", sagt sie zu Leontes. Den Höflingen wirft sie Verantwortungslosigkeit vor. Ihr, die so zärtlich seine Torheit pflegt, tut ihm kein Gut, kein einzger von euch allen." „Zittert ihr mehr vor seinem grimmen Wüten als für der Königin Leben?" Fear you his tyrannous passion more, alas, than the queens life? Die Menschen zittern nicht für, sie zittern vor... Shakespeares bittere, immer wiederkehrende Ausfälle gegen Hof und Höflinge konzentrieren sich in diesem Satz Paulinas zu ihrem vollen Gewicht, 301

ihre grundsätzliche Bedeutung wird scharf sichtbar. Im Höfling verzerrt sich das Bild des Menschen. Statt der Sorge bestimmt ihn die Furcht. Hermione aber steht in ihrem ganzen Adel dem Tyrannen gegenüber. „Die Sprache, die Ihr sprecht, versteh ich nicht." Sie ist Kaiserstochter, und sie möchte, daß ihr Vater sie im Elend sähe: „doch mit Augen des Mitleids, nicht der Rache" (III2). Auch Paulinas Gaukelspiel, die nun, da nach des Mamilius Tod der Tyrann zusammenbricht - „Apollo zürnt, der Himmel selber schlägt mein ungerechtes Handeln" - ihm die in Todesohnmacht gesunkene Gattin entzieht, als ob sie wirklich tot wäre, auch dieses gauklerische Spiel, das stark an die Mönchskünste in Romeo und Julia und in Viel Lärm um nichts erinnert, ist nicht Rache, sondern Medizin; sie handelt, wie Edgar im Lear, als Arzt. Ähnlich ist Camillo der „getreue Verräter"; dreimal übt er Verrat, zuerst an Leontes, dann an Polyxenes, endlich auch an Florizel und Perdita, jedesmal zum Besten der Verratenen ebenso wie jener, um derentwillen er sie verrät, und schließlich auch zum eigenen Besten. Medecine of our house nennt ihn Prinz Florizel, Polyxenes' Sohn. „Du Retter meines Vaters, jetzt der meine, du unsres Hauses Arzt" (IV 3). In Hermione und Paulina - der „getreue Verräter" erreicht nicht ihre Größe — rechtfertigt sich der Mensch, der in Leontes und in gewissen Höflingen sich selber verrät und entstellt. Paulina nennt die Königin „eine gnadenvoll unschuldige Seele, reiner als er eifersüchtig" (II 3). In ihrer Unschuld wird seine Verirrung aufgehoben. Das „Bauwerk seiner Torheit" (the fahrte of his folly) ist nicht unerschütterlich und wird nicht, wie Camillo voreilig glaubt, so lange dauern als er lebt (I 2). „Ihr, mein Gemahl, seid nur im Irrtum", sagt Hermione zu ihm. „Wie wird Euch dieses schmerzen, wenn Ihr zu hellrer Einsicht einst gelangt" (II 1). Und Leontes wandelt sich in der Tat. Er hatte den Vertrauenden für ahnungslos gehalten, in Wahrheit war er, der Mißtrauende, ahnungslos. Er vermag es endlich einzusehen, und er fängt sich auf. Die Rettung, das Gedeihen Perditas ist Bild und Zeichen seiner Gesundung, ähnlich wie seine Krankheit zum Tode in Mamilius' Schicksal sichtbar wurde. Und wie der Arzt in Cymbeline sich rühmt, daß sein Schlaftrunk die in Todesnacht Gesunkene nachher nur um so frischer erwachen lasse (I 6), so erblüht die Preisgegebene herrlicher, als wenn sie ungefährdet hatte aufwachsen dürfen. Aus Tod steigt Leben. Shakespeare hat es in vielen Bildern dargestellt, theatralisch am deutlichsten im Erwachen der Scheintoten zu neuem Leben: Julia, Hero, Thaisa, Imogen, Hermione. Und wiederum ist das Kind Symbol der Auferstehungskraft des Menschen. Von der neugeborenen Perdita sagt Paulina: „Das Kind war ein Gefangener des Mutterleibes und ist, nach dem Gesetz und nach dem Gang der großen Natur, daraus erlöst und frei." Freiheit und Erlösung des Menschen wird in dem ländlichen Fest des vierten Akts dargestellt. Wenn Polyxenes' weises Wort den Menschen, den „Bastard" 302

legitimiert, so bedeutet der Blumenkatalog Perditas gleichsam die Aufhebung von Posthumus' Lasterkatalog (oben S. 295) und zugleich die Entwertung von Autolycus' Kramkatalog. Und wenn Florizel im letzten Akt verzagt bekennt: „Die Sterne, seh ich, werden eh die Täler küssen, als daß sich hoch und niedrig paaren", so war das Zwischenspiel des vierten Aufzugs die lebendige Widerlegung: Florizel hat, wie Pericles, wie Posthumus, sich in schlichtes Gewand gehüllt, Perdita aber hat er verklärt. „Eur hohes Selbst, des Landes gnadenvollen Stern, habt Ihr verdunkelt durch Hirtentracht - mich, arme, niedre Magd, geputzt gleich einer Göttin" (IV 3). „Das machst du möglich, was unmöglich schien", sagt Leontes, er meint die Leidenschaft, passion (I 2) - es gilt aber auch für das Schicksal, fortune. Die Schäfer, welche Perdita aufgezogen haben, werden zu „geborenen Edelleuten" erhoben, und wenn Perdita bekannte: „Dies mein Kleid verwandelt meinen Sinn" (IV 3), so behaupten sie — es ist die humorvolle Parodie auf der Ebene der Rüpel — von sich dasselbe: „Wir müssen edel sein, da wir nun Edelleute sind" (V 2). Selbst der Erzschelm Autolycus, Beutelschneider und Betrüger, wird in vornehme Kleider gesteckt, und Fortuna läßt ihn „gegen seinen Willen Gutes tun" (V 2). „Wahrhaftig, in diesem Jahre sehen die Götter uns durch die Finger", hatte er einst gesagt. „Dies ist eine Zeit, in der der Ungerechte gedeiht." „Wenn ich auch Lust hätte, ehrlich zu sein, so seh ich doch, Fortuna will es nicht, sie läßt mir die Beute in den Mund fallen" (IV 3). So spürt der muntere Dieb, unter dem Merkur geboren, auf seine Weise die Milde der Zeit und läßt sich im Strudel des Festes fröhlich treiben, um, geschickt nachhelfend, zu gedeihen. Während so viele andere sich verkleiden, gibt er sein eigenes Lumpenkleid als Verkleidung aus, die ihm widerfahren, und läßt den Rüpel den barmherzigen Samariter spielen, um ihm dabei den Geldbeutel zu klauen (IV 2). Aber Fortuna beschert ihm eine echte Verkleidung, er bekommt ein vornehmes Gewand. Auch das Wandlungs-, das Bekehrungsmotiv kehrt parodistisch wieder - und doch blickt ernstes Vertrauen durch den Humor hindurch. Der geadelte Schäfer, der den Schelm durchschaut, will als ein geborener Edelmann ihm Vertrauen schenken. Wenn Leontes sich bemühte, „die Reinheit zu beflecken" (II 2), so möchte der junge Schäfer umgekehrt in dem Luftikus einen guten Kerl sehen. „Ich will dem Prinzen schwören, daß du ein ganzer Kerl bist und dich nicht betrinken wirst; obwohl ich weiß, daß du kein ganzer Kerl bist und dich wohl betrinken wirst; aber ich will es doch beschwören; und ich wollte, du möchtest ein ganzer Kerl sein ... Ja, werde nur auf jeden Fall ein ganzer Kerl" (V 2). Das Unmögliche wird möglich: dies ist die positive Seite der Unsicherheit, in der der Mensch zu leben hat. Leontes täuscht sich, wenn er den Verrat für sicher hält, Camillo täuscht sich, wenn er die Unheilbarkeit von Leontes' Wahn für sicher hält. Auch der Wahn selber ist, wie so vieles (grundsätzlich alles) im Barock, doppelwertig. Als Eifersucht ist er Tollheit, als Liebesver303

zauberung göttliche Trunkenheit, die alle Vernunft und allen Wirklichkeitskram aussticht. No settled senses of the world can match the pleasure of that madness, sagt Leontes im Anblick von Hermiones Standbild (V 3). Florizel will sich nur von seiner fancy raten lassen, Wahnsinn scheint ihm ein besserer Freund als Vernunft (IV 3). Im „Wahn" kann die geistige Welt aufbrechen, der die irdische weichen muß. Für Hermione wiegen Leben und Gram (grief) leicht, die Ehre aber (honour) gilt es zu bewahren. „Die Ehre ist mein Nachlaß für die Meinen" (III 2). Hermiones „Auferstehung" ist das äußere, theatralisch mit einer Art Wollust ausgekostete Bild für die Möglichkeit des Unmöglichen. Die Romanze unterscheidet sich von der „realistischen" Tragödie durch ihre hohe Klarheit und Bestimmtheit. Apollos Orakel, sonst für seine Zweideutigkeit bekannt, ist, das wirkt wie ein Symbol, im Wintermärchen völlig eindeutig und klärt die ganze Situation. Antigonus, der Perdita aussetzen muß, wird von einem Bären zerrissen, alle übrigen Begleiter gehen im Seesturm unter: so schafft die Romanze, ähnlich dem Märchen, reinen Plan, Perddta ist nun voll isoliert und eben dadurch Kristallisationspunkt für neue, voraussetzungslose Beziehungen. Die Worte Wunder (miracle) und Märchen (an old tale) werden denn auch mehrmals ausgesprochen. Und doch darf man die Romanze dem Märchen nicht gleichsetzen. Sie nähert sich seinem Stil, ohne ihn in seiner ganzen Schärfe zu übernehmen. Die Romanze ist luftiger, nuancenreicher, in allem vielgestaltiger als das Volksmärchen. Mit der Zeit wird souverän gespielt, aber sie wird nicht ausgeschaltet. Dornröschen ist nach 100 Jahren noch genau so jung wie vorher, Hermione aber ist nach 16 Jahren entsprechend gealtert, und die allmähliche Belebung der Statue durch die Zauberklänge der Musik, die behutsame, stufenweise Rückkehr ins Leben unterscheidet sich von der plötzlichen Wiederbelebung versteinerter Gestalten im Volksmärchen. Wie das Märchen aber liebt die Romanze das überlegene, frohe Spiel mit ihren Bausteinen. Auch die realistischen Elemente, die sie enthält, gehen in dieses Spiel ein. Ja sie wirken, gerade weil sie in ein der extremen Stilisierung, dem Superlativ, der Idealisierung zuneigendes Gefüge hereingezogen werden, um so mehr als Spielwerk, als komische Zutaten. So etwa das täppische Wesen des jungen Schäfers, der für seine Schwester, die wundervolle Perdita, drei Pfund Zucker, fünf Pfund Korinthen, Reis und andere Spezereien (auch er liest einen ganzen Katalog herunter) einkaufen geht und es ohne Rechenpfennige nicht machen kann (IV 2). Autolycus erzählt, wie Perdita und Florizel auf der Meerfahrt mitsammen seekrank wurden (V 2). Von sich selber spricht er das hochtragische Wort: „O daß ich je geboren ward!" und wälzt sich auf der Erde: aber seine Tragik und Verzweiflung sind Theater. Er spielt es, um den Schäfer zu übertölpeln - der Gewinn ist nur der halbe Ansporn, ebenso mächtig treibt ihn die Lust am ausgelassenen Spiel. 304

Die Romanze kennt nicht die Wut- und Wahnsinnsanfälle eines Othello oder Hamlet. Nur Autolycus wälzt sich parodistisch auf der Erde, Leontes tut es nicht. Sein Zorn äußert sich nicht in direkten Ausbrüchen, sondern in Reden, Befehlen, Aktionen. Er ist rasch da, wird aber lange beredet. Höchster Affekt und leichte Traumluft gatten sich in der Romanze. Du Leidenschaft, dein Drang trifft in die Mitte. Das machst du möglich, was unmöglich schien, Verkehrst mit Träumen - wie kann dies geschehn? Mit Unleibhaftigem stehst du im Bund Und bist dem Nichts verbrüdert (I 2, Leontes). Die hohe innere Spannung bei klarerer äußerer Bildlichkeit kommt auch in dem Wiedersehen des. Leontes mit dem getreuen Verräter Camillo zum Ausdruck. »Es war Rede in ihrer Stummheit, Sprache selbst in ihrer Gebärde. Sie sahen aus, als wenn sie von einer wiedererstandenen Welt gehört hätten, oder von einer untergegangenen. Eine eindrückliche Leidenschaft des Staunens erschien an ihnen (a notable passion of wonder). Jedoch der weiseste Betrachter, der nichts weiter wußte als was er sah, hätte nicht sagen können, ob der Anlaß Freude oder Schmerz war: aber der höchste Grad des einen oder des ändern mußte es sein" (V 2). So lassen uns auch Shakespeares letzte Stücke bei all ihrer Klarheit und Helligkeit im Zweifel, wie sie zu deuten seien. Ist es höchster Schmerz oder höchste Freude, sorrow oder joy, die in ihnen verborgen liegt? Verkünden sie das Versinken oder das Wiedererstehen einer Welt? Für Leontes und Camillo gilt beides - soviel können wir, die wir mehr wissen als der bloße Betrachter der Pantomime, sehen. Ähnlich, vermuten wir, bergen sich in Shakespeares letzten Spielen Sorge und Hoffnung zugleich.

Der Sturm These are not natural events Sorge und Hoffnung sprechen auch aus Shakespeares letzter Romanze. Ihr Titel, The Tempest, ruft das Bild der tobenden Natur in Caesar, Othello, Lear empor; er erinnert zugleich an Violas und Sebastians Komödienschicksal: Der Sturm schien sie zu verschlingen, aber er spielte nur mit ihnen; frei, kraftvoll, tatenfroh tauchen sie aus dem Wirbel empor; ihren Partnern, die in der Geborgenheit des Hauses, der Gesellschaft, der Musik dahinlebten, deutlich überlegen. „Mein Schiffbruch ist kein Unglück", sagte Pericles. „Oft dient ein Fall, um froher aufzustehn", hieß es in Cymbeline; aus Jupiters Mund vernahm man: „Den ich am meisten lieb, den hemm ich, . . . sein Un-

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glück wird ihn glücklich machen", und im Wintermärchen sprach Hermione: „Dies Verhängnis dient mir zu höherm Heil" (oben S. 280, 284, 287, 300). Der Sturm ist auf denselben Ton gestimmt. Aber deutlicher als in den ändern Romanzen spürt man, daß damit nicht eine Lehre, eine gesicherte Einsicht ausgesprochen wird, sondern bang und zögernd eine Hoffnung sich gestaltet. Prospero, Herzog von Mailand, strebt über sich selbst hinaus wie Macbeth, aber in genau entgegengesetzter Weise: äußere Macht achtet er gering, er läßt sich (ein aus Maß für Maß vertrautes Motiv klingt an) im herrschaftlichen Amt vertreten, um ohne Störung sich den „freien Künsten" hingeben zu können, „verzückt und fortgerissen in geheimes Forschen" (I 2). Der Statthalter, sein eigener Bruder, versagt (wie Angelo in Maß für Maß), er identifiziert sich frevlerisch mit seiner Rolle, will das sein, was er nur darstellt, erreicht, daß die Anhänger des Herzogs diesem und damit sich selber untreu werden („er schuf Geschöpfe neu, die mir gehörten, verwandelte, sag ich, sie oder formte sonst sie neu") und unterwirft das freie Mailand schnöder Tributpflicht: der Bericht, den Prospero von all dem längst Vergangenen der Trägerin der Zukunft, seiner Tochter Miranda, gibt, ist durchdrungen von den Motiven des Seins und Scheins, der Selbstsucht, Selbstverwirklichung, des Selbstverlusts, der Selbstentfremdung, des Rollenspiels, der Weltflucht und Weltsucht, der Willensunterjochung, des Streben's nach dem Geist ... Kein Wunder, daß Miranda müde wird, in Schlaf zu fallen droht wie die Adepten von Mysterien bei der Einweihung. In der Erzählung ihres Vaters dringen die Grundmotive des menschlichen Daseins auf Miranda, die unschuldig-unwissende, ein. Neben der Erzählung, der in diesem Stück wie in den Romanzen überhaupt ein eigenartiges Gewicht zukommt (sie führt versunkene Wirklichkeit empor, sie gibt ihr erst ihren Rang, sie erweckt, erleuchtet, nährt, sie kann aber auch Lüge zu Wahrheit umfälschen I 2), steht die Tat. Prospero bekommt nach langen Jahren - hier setzt das Stück ein - die Übeltäter, die ihn vom Thron gestoßen und verbannt, in seine Gewalt. Die göttliche Vorsehung hatte Prospero und sein Kind Miranda, als sie auf leckem Boot im Meere trieben, nicht umkommen lassen; er erreichte eine einsame Insel, und dank der Milde (charity) des wohlgesinnten Ministers Gonzalo waren ihm einige Bücher geblieben, die ihm „mehr wert sind als sein Herzogtum". Er ist immer tiefer in das Reich der Geister eingedrungen und zieht aus ihm nun die Kraft, seine Widersacher zu überwinden und zu beschämen. Der Sturm, der dem Stück seinen Namen gibt, ist von Prosperos Hand entfacht: kein Werk der Natur, sondern des Geistes. These are not natural events, sagt König Alonso von Neapel, einer der Betroffenen, „dies geht nicht natürlich zu" (V i). Der Schicksalssturm, in den Menschen geraten mögen, war bei Shakespeare schon seit Tittts Andronicus kein blindes Wüten 306

sinnloser Elemente und auch nicht bloß unentrinnbares Walten einer überlegenen Gottheit; schon Titus und seine Widersacher fingen sich „im selbstgestellten Garn". Nature, Fortune und menschliches Wollen spielten je und je geheimnisvoll zusammen, jetzt, im Tempest, der Shakespeares Werk krönt, hat Art deutlich den Vorrang. Der Sturm ist Menschen werk, Geistestat geworden, Kunst hat die Funktionen der Natur übernommen; in Prospero ist der Mensch zu gottähnlicher Macht aufgestiegen, aber eh er zum Götzen wird, tut er auf die Gewalt, die er ausüben könnte, Verzicht und schenkt, wie Gott, den Menschen Vertrauen, läßt ihnen die Freiheit, selber das Gute oder das Böse zu wählen, an die Stelle der Magie tritt das Gebet (Epilog). Nicht ihren Willen zu unterjochen hat Prospero seine Gegner herbeigezogen, sondern ihren Sinn zu wandeln (V i). Das Schiff des usurpatorischen Mailänder Machthabers und seines neapolitanischen Verbündeten, durch Prospero in Seenot geworfen, geht unversehrt, ja es geht verjüngt aus der Katastrophe hervor. Unser Schiff, das vor drei Stunden Wir für gescheitert ansahn, ist so dicht, So fest und brav getakelt, als da erst In See wir stachen (V i). Den Menschen, die in Verzweiflung in die See sprangen, ist „kein Haar gekrümmt, kein Fleck an ihren Kleidern, die vielmehr frischer als zuvor", „weit saubrer als zuvor", „schier neu gefärbt" (I z, II i). So wird im Sturm die heilsame Wirkung des Unheils, die früher im Geschehen direkt gegeben oder als Weisheit ausgesprochen ward, auf mirakulöse Weise augenfällig. Die Erneuerung des Schiffs, die Auffrischung der Kleider in der Katastrophe, auch die Verklärung des angeblich versunkenen Königs im Gesang Ariels (I 2), haben symbolischen Sinn. Die Schiffbrüchigen finden erst in der Ohnmacht sich selber, und auch Prospero steigt durch seinen Fall: sein Sproß Miranda gewinnt sich den Thronfolger von Neapel zum Gemahl. Ward Mailand darum weggebannt von Mailand, Daß sein Geschlecht gelangt auf Napels Thron? O freut mit seltner Freud euch; gräbt's mit Gold In ewge Pfeiler ein: auf einer Reise Fand Claribella den Gemahl in Tunis, Und Ferdinand, ihr Bruder, fand ein Weib, Wo man ihn selbst verloren; Prospero Sein Herzogtum auf einer armen Insel; Wir all uns selbst, da niemand sein war (V i). Where he himself was lost... When no man was his own ... Im Sommernachtstraum spielten Naturgeister mit den Menschen, verwirrten oder führten 307

sie in Schlaf und Wachen, im Sturm ist es der königliche Mensch, der die Naturgeister lenkt und sie spielen läßt, um die menschliche Gesellschaft herzustellen, die schließlich dann doch auf sich selber stehen soll. In der frühen Komödie, dem Sommernachtstraum, haben Chaos und Heilung in der Natur ihren Ursprung, menschliche Verwirrung und menschliches Glück spiegeln kosmische Vorgänge. Im Sturm ist der Mensch souverän geworden, die Natur ist fast nur Abglanz oder Dienerin. Ariel, der behende und vielgestaltige Luftgeist, hat mit Puck mehr als einen Zug gemeinsam, aber er dient nicht wie dieser dem Elfenkönig Oberon, sein Herr ist Prospero, der Mensch. Ariel dient ihm mit seltsam zwiespältigem Gefühl. Er ist voll Liebe für ihn, möchte sich von ihm geliebt wissen und sehnt sich doch nach Freiheit, nach ungebundenem Dasein, nach der himmlischen Luft. Insofern ist er nicht nur Diener, sondern Spiegelbild seines Herrn, der grauses Zaubern (rough magic) üben muß und doch nichts Höheres kennt, als endlich darauf verzichten zu dürfen (V i). Mit Ariels Mühen enden auch seine eigenen. Laß brav herum sie hetzen. Diese Stunde Gibt alle meine Feinde meiner Gnade. In kurzem enden meine Mühn, und du Sollst frei die Luft genießen; auf ein Weilchen Folg noch und tu mir meinen Dienst (IV i). Aber auch Caliban ist Diener und zugleich Abglanz des Menschen. Giftiger Sklave wird er genannt, Bastard, Halbteufel, gezeugt vom Teufel und einer Hexe, Erdkloß (thou earth), „ein geborner Teufel, an dessen Art die Pflege nimmer haftet ..." (I 2, IV i, V i). Er möchte Prospero ermorden, seine Tochter schänden, die Insel mit Calibans bevölkern. Auch er muß Prospero dienen, aber er tut es nicht mit Wehmut wie Ariel, sondern mit Haß; er sehnt sich nicht nach Selbstbestimmung, sondern ruft nur, wie das Volk im Julius Caesar, nach einem ändern Herrn: einem Herrn, unter dem er Tier sein darf, das ist seine „Freiheit" (II 2). Caliban verkörpert die dumpf begehrliche, geistlose Seite im Menschen, muß aber schließlich einsehen: Welch dreifacher Esel War ich, den Säufer für einen Gott zu halten Und anzubeten diesen dummen Narrn (V 1). Nur gezwungen dient er dem Höheren. Der Versuch, ihn zu kultivieren, ihm Sprache zu geben, führt dazu, daß er fluchen lernt. Und doch ist er dem Menschen nötig. Wie der überlistete Teufel der Volkssage hilft er die menschliche Welt bauen, nur daß er nicht überlistet, sondern gepeinigt werden muß. Doch wie's nun steht, Ist er uns nötig; denn er macht uns Feuer, 308

Holt uns Holz, verrichtet mancherlei Zu unserm Nutzen (I 2). Daß er nur gezwungen seinen Dienst tut, daß er nicht zu veredeln ist, will Prospero, der seinerseits sein zeitlich Teil versäumte, um sein Gemüt zu bessern (all dedicated to ... the bettering o/ my mind I 2), zur Verzweiflung bringen. Ein Teufel, ein geborner Teufel ist's, An dessen Art die Pflege nimmer haftet, An dem die Mühe, die ich menschlich nahm, Ganz, ganz verloren ist, durchaus verloren; Und wie sein Leib durch Alter garstger wird, Verstockt sein Sinn sich. Alle will ich plagen, Bis zum Gebrüll (IV i). A devil, born devil, on whose nature nurture can never stick ... Wenn das Wintermärchen verkündete, daß Kunst (art) ein Kind der Natur sei: höchste, feinste Natur, aufsteigend aus dem mütterlichen Element, verwandelt in ein Höheres und doch seine Abkunft nicht verleugnend, so muß Prospero erfahren, daß es auch eine niedere Natur gibt, die sich nicht verwandeln läßt, die nur gezwungen werden kann. Anders als Hamlet gibt er seinen Bruder und den ebenso verräterischen Bruder des Königs von Neapel frei, obschon sie, wie König Claudius, zu neuer Schandtat sich bereiteten und in flagranti ertappt wurden: „Ich verzeih dir, bist du schon unnatürlich" (V 1). Obschon ihr Frevel tief ins Herz mir drang, Doch nehm ich gegen meine Wut Partei Mit meinem edlern Sinn (reason); der Tugend Übung Ist höher als der Rache; da sie reuig sind, Erstreckt sich meines Anschlags einzger Zweck Kein Stirnenrunzeln weiter. Geh, befrei sie, Ariel. Ich will den Zauber brechen, ihre Sinne Herstellen, und sie sollen nun sie selbst sein. Prospero verzichtet auf Rache. Aber werden die Verbrecher, und werden die Trunkenbolde Stephane und Trinculo -den Caliban in sich überwinden? Prospero kann es nur erflehen, nicht erwarten. Aber er geht das Wagnis ein, er versenkt die Werkzeuge seiner Macht und gibt Freiheit. In Caliban hat seine und Shakespeares Sorge Gestalt angenommen. Prosperos und Shakespeares Hoffnung aber ist es, daß Caliban nur ein Teil des Menschen, niemals der ganze Mensch ist. Caliban ist denn auch nicht als Person gezeichnet, sondern als Kobold. Deshalb wird er schließlich bewältigt und benützt wie ein Es, während die menschlichen Figuren .des Stückes, auch die verbrecherischen und die verlotterten, als Personen respektiert bleiben. Und ist nicht in Stephanos 309

und Trinculos wenn auch kindlichem Entzücken vor kostbaren Gewändern, die einem Caliban nur sinnloser Plunder sind (IV i), ein Rest oder besser ein Ansatz geistigen Verhaltens? Wenn Prospero schließlich allen mit Vertrauen begegnet, so läßt er im Spiel auch noch den Edelsten eine Zeitlang Calibans Arbeit verrichten. Prinz Ferdinand, den Prospero seiner Tochter zum Gemahl bestimmt, muß wie Caliban Holzklötze herbeischleppen und aufschichtein - die Fron wird ihm dank Mirandas Anteilnahme zum lieblichen Idyll. So wie Hermia im Sommernachtstraum und Rosalind in Wie es euch gefällt spielerisch eine Schranke zwischen sich und den Geliebten setzen, um die glückliche Spannung noch zu erhöhen, so überlegt Prospero: Eins ist des ändern ganz: den schnellen Handel Muß ich erschweren, daß nicht leichter Sieg Den Preis verringre (I 2). Er spielt den Egeus, den Brabantio, und rechtfertigt so, ähnlich wie Simonides im Pericles, die tyrannischen Väter der früheren Spiele: in den hohen Komödien und in den Romanzen Shakespeares wird Freiheit, was in den Tragödien und teilweise auch in den frühen Komödien Schicksal war. Die Hindernisse, die dort das Geschick den Liebenden bereitete, werden hier künstlich geschaffen, denn sie sind notwendig; der Sturm, den sonst die Götter oder die Natur heraufbeschwören, wird hier künstlich in Szene gesetzt, denn er ist heilsam; die Sklaverei, die niedrige Fron, die den Menschen bedrücken können, hier werden sie ihm wohlwollend von menschlicher Hand auferlegt, und sie werden ihm Labsal. Was in den Tragödien Schicksal war, in den Romanzen wird es Freiheit. Was dort nur dunkel als sinnvoll empfunden wurde, hier ist es vom Menschen gewollt u,id gewirkt. Wenn Caliban nacht Mensch werden kann, so muß doch der Mensch die Funktionen Calibans übernehmen können. Aus der Freiheit seines Geistes läßt Prospero den Prinzen, der sein Sohn und Nachfolger werden soll, niederes Werk tun, und Ferdinand, von ebensolcher Freiheit, von Liebe und Imagination beseelt, läßt sich die Fron zur Wonne werden. In der Schönheit und Liebe der Kinder verklärt und rechtfertigt sich hier wie in den ändern Romanzen das Dasein der Väter; die Kinder repräsentieren ihre Zukunft, sie sind ihre höhere Möglichkeit: Miranda ist für Prospero das, wofür er lebt (V i). Der Bund Ferdinands und Mirandas beendigt den Zwist der Väter; das Leben in seinem schönsten Blühen leistet hier, was einst, in Romeo und Julia, nur der Tod vermochte, die Transzendenz der Tragödie ist der Immanenz der Romanze gewidien. Den Liebenden offenbart sich je im ändern die Schönheit des Menschen überhaupt. Ferdinand - wieder scheint, wie einst in der Widerspenstigen, die Erinnerung an Odysseus und Nausikaa gegenwärtig - naht sich dem Mädchen, das die 310

Insel ihm entgegenführt, als ob sie eine Göttin wäre. „Gewiß die Göttin, der diese Klänge dienen". Mit feinster Höflichkeit, die hier nicht Unnatur, sondern hohe Natur ist, will er sein Benehmen ihrem Reich anpassen: „Wollt Anleitung mir geben, wie ich hier mich muß betragen", und fragt sie dann: „Schönes Wunder, seid Ihr ein Mädchen oder nicht?" Sie antwortet: „Kein Wunder, doch sicherlich ein Mädchen" (I 2). In Miranda offenbart sich Ferdinand das Mädchen, die Frau, der Mensch als Wunder. „Bewunderte Miranda! Wahrlich das Höchste zu Bewundernde! Wert was am teuersten der Welt!" ... (III 1). Miranda ihrerseits glaubt in der herrlichen Gestalt Ferdinands einen Geist (spirit) zu erblicken. „Nichts Böses kann in solchem Tempel wohnen" (I 2). Die äußere Schönheit wird Garantin der inneren. Auch die ändern Menschen erscheinen dem ungetrübten Auge Mirandas - die Schiffbrüchigen sind außer ihrem Vater die ersten Menschen, die sie sieht — in diesem Licht. O Wunder! Was gibt's für herrliche Geschöpfe hier! Wie schön der Mensch ist! Wackre neue Welt, Die solche Bürger hat! So ist die Schönheit der menschlichen Gestalt ein Versprechen. Sie dementiert auch noch häßliches Handeln, das nach dem Ausweis des Wintermärchens ein bloßes Abirren ist (vgl. oben S. 302). In der äußersten Maske, der Erscheinung, kommt, wie so oft bei Shakespeare, das eigentliche Sein treuer zum Ausdruck als im Verhalten, das das wahre Sein entstellend verhüllen kann. So bemüht sich denn auch der Sturm, die äußeren Vorgänge als ScheinWirklichkeit zu entlarven. „Droht gleich die See, ist sie doch gnädig, ich habe sie ohne Grund verflucht", sagt Ferdinand. Though the seas threaten, they are mercyful: I have curs'd them without cause (V i). Als Miranda beklagt, wie sie als hilfloses Kind dem verbannten Vater zur Last sein mußte, gesteht er ihr, daß sie seine Rettung war. „Ach, welche Not macht' ich Buch damals!" - „O, ein Cherubim warst du, der mich erhielt!" (I 2) Not bringt Heil, Schicksalssturm ist Gnade - nichts ist so, wie es ist. „Ihr erprobt", sagt Prospero, „Kunststücke dieser Insel noch, die Euch an das, was wirklich ist, nicht glauben lassen", that will not let you believe things certain (V 1). Die äußere Wirklichkeit wird als unsicher entlarvt, die Romanze läßt eine Zauberwelt aufsteigen, die das wahre Sein treuer spiegelt als irdische Scheinrealität. Innerhalb dieser aber wird die Schönheit der Gestalt als Bild des eigentlichen menschlichen Wesens gelten gelassen. Ja hier übertrifft die Wirklichkeit sogar die Imagination: Miranda kann sich kein Geschöpf vorstellen, das ihr so wie Ferdinand gefiele (nor can imagination form a shape, besides yourself, to like of. Ill i). „Das hübsche Lärvlein", die äußerste Maske, stimmt mit dem Innersten des Menschen, seiner eigentlichen Angelegtheit, 311

besser überein als das Mittlere zwischen Innen und Außen, das Handeln, das den Kern verhüllen mag und an das wir uns letztlich nicht kehren dürfen. Prospero vermag es, gegen das - wiederholte - Zeugnis des Handelns den Menschen neu sein hoffendes Vertrauen zu schenken und Caliban nicht zu fürchten. Prospero, der große Zauberer, handelt, in Imitatio Dei, als Arzt, der Gift als Arznei reicht, um zu heilen. Er sendet Sturm, um die Scheiternden, satte Könige und hungrige Usurpatoren, zu erwecken, er verwirrt sie bis zum Wahnsinn, um sie der Reue zu öffnen und mit Musik zu heilen. Mit bescheidener Gewißheit weiß er, daß er »viel was Höheres als Prospero", und er weiht nicht nur seine Tochter in die Mysterien des Menschseins ein, er führt auch seine Gegner über sich hinaus. Der Mensch ist, was sein Geist, was seine Kunst aus ihm machen. Ahnend spüren es die fremden Ankömmlinge, die Musik zu „riechen", mit neuen Sinnen zu vernehmen beginnen (IV i, Ariel), daß Kunst weiter führt als Natur es je vermöchte. These are not natural events. „In diesem Handel ist mehr als unter Leitung der Natur je vorging" (V i, Alonso). Die äußere Wirklichkeit nimmt je nach dem Betrachter verschiedene Gesichter an, das Spiel mit den Perspektiven wird auch hier gespielt. Gonzalo erscheint das Eiland fruchtbar, Antonio öde, Caliban und die Clowns haben Sturm, Ferdinand und Miranda schönes Wetter. „Ob dies ist, oder nicht ist, will ich nicht schwören", sagt Gonzalo (V i). Was im einen Moment vernichtet zu werden scheint, erweist sich im ändern als verjüngt: das Schiff, die Kleider, die Menschen (s. oben S. 307). Auch Prosperos berühmtes Wort über das Traumdasein ordnet sich hier ein. Wir sind aus solchem Stoff Wie der zu Träumen. Das bedeutet die Aufhebung des menschlichen Standpunktes in einen umfassenderen. Natur, Schicksal wurde Menschenwerk im Sturm, die Menschen selber aber werden nur geträumt - von wem? Die Frage bleibt offen. Darf man Prospero als den Dichter, den Dichter Shakespeare, Ariel und das Spiel der Geister als seine Kunst auffassen? Gewiß nicht ausschließlich. Es geht um mehr als nur um Dichtung in diesem Stück, um mehr als einen Abschied Shakespeares von seinem Schaffen. Es geht, wie immer bei Shakespeare, um den ganzen Menschen, um das Menschsein schlechthin, und die großen Fragen der Macht, des Vertrauens, der Schuld, Reue, des Duldens, Rachens, Verzeihens, des Begnadens und Heilens, des Versagens und der Wandlung, die Auseinandersetzung mit Natur und Schicksal und Geist stehen durchaus im ersten Plan. Aber nicht umsonst ist es das Wort Art, das die Aufhebung der Natur in eine höhere Potenz bezeichnet: Aufhebung, die Überwindung und zugleich Erfüllung bedeutet. Art, Kunst auch im engeren Sinne steht im Sturm im Blickpunkt. Noch ein312

mal zeigt Shakespeare das Wunder ihres Wirkens. Prosperos Künste öffnen denen, die in ihren Bann geraten, die Augen, aber sie zwingen sie nicht mit plumper Gewalt. Echte Kunst darf wohl für eine Zeit den Menschen mit Wahn umweben, aber sie muß ihn wieder entlassen, zu sich selber kommen lassen. Echte Kunst entrückt den Menschen nur, damit er sich finden kann. Ihre Magie muß sich in Freiheit verwandeln. „Ein feierliches Lied, der beste Tröster des irren Sinns (to an unsettled fancy) heile dein Gehirn" (V i). Kunst, sei sie Musik oder Bild, ergreift den Menschen unmittelbarer als bloße Lehre, die Schau führt zwingender zur Einsicht als das Überlegen: Ariel glaubt dies auch für Prospero gültig. Eur Zauber greift sie so gewaltig an, Daß, wenn Ihr jetzt sie sähet, Eur Gemüt Erweichte sich (V i). Wie Oberon vor dem Schauspiel, das die verwirrte Titania ihm gibt, ergriffen steht, so auch Prospero vor dem seiner verwirrten Gegner. Neben solch echte Schau, die eine wirkliche Antwort des menschlichen Gemüts heraufruft, stellt Shakespeare — und noch einmal erklingt leise ein sozial- und sittenkritischer Ton - das leere Gaffen. In England „macht jedes fremde Tier seinen Mann; wenn sie keinen Deut geben wollen, einem lahmen Bettler zu helfen, wenden sie zehn dran, einen toten Indianer zu sehen" (II 2, Trinculo). Meister Eckarts Hinweis, daß der Mystiker die herrlichste Vision preisgeben müsse, wenn es einen Hungernden zu speisen gelte, läßt Shakespeares Tadel im schärfsten Licht erscheinen. Echte Kunst aber ist, wie echte Vision, Erleuchtung, sie wirkt auf den ganzen Menschen und hilft ihn prägen. Hat Shakespeare unter dem Zwang, dem inneren Zwang, seine Werke zu schaffen, gelitten, wie Ariel, wie Prospero? War er, gleich den Propheten des alten Testaments, ein Widerstrebender, die gewaltige Spannung kaum ertragender Diener seines Gottes? Ariels schmerzliche Sehnsucht nach Freiheit legt die Vermutung nahe, aber seine gleichzeitige Freude am „zierlich Spuken" (and do my spriding gently I 2) lassen auch etwas von der hohen Beglückung ahnen, die Shakespeare in seinem Dienst empfinden mochte. Dichten war ihm, so will es uns scheinen, Gnade und Qual. „Mein Zauber reißt nicht, meine Geister folgen", sagt Prospero (V i) - aber die Worte lassen ahnen, wie stark die Anspannung ist, wie sehr ein Zerreißen zu fürchten war. Prospero ist kein simpler Mechaniker, der ruhig die vertrauten Griffe tut, seiner Wirkung sicher — auch Shakespeare, wiewohl gelernter Poet eines Zeitalters, da der Dichter in großen Traditionen stand, mußte mit jeder neuen Dichtung die Spannung des Schaffenden neu aushaken, ungewiß, ob seine Geister ihm gehorchen würden. Sie haben ihm, willig oder unwillig, so manches Mal gehorcht, schließlich aber mußte und wollte er sie freigeben, 313

Ariel, der so viele Gestalten, bald Ceres, bald eine Harpyie, spielen mußte, soll der Luft zurückgegeben werden, seinem eigentlichen Element. Der Geist des Dichters, der tausend Gestalten und Szenen geschaffen, sehnt sich endlich nach der dünnen Luft des bildlosen Daseins, das Gott näher ist als der Erde. Das Fest ist jetzt zu Ende. Unsre Spieler, Wie ich Euch sagte, waren Geister und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.

HISTORIEN

KÖNIGSDRAMEN Shakespeares Darstellungen aus der englischen Geschichte besaßen zu seiner Zeit einen bedeutenden Aktualitätswert. Während Schiller zeitlich und meist auch örtlich weit abliegende Themen bearbeitete, schenkte Shakespeare seinem Volk Bilder eines nationalen Geschehens, das lebhaft nachwirkte. Der Schreck vor dem Bürgerkrieg, die Angst vor der Zerrüttung der Staatsordnung saß der Generation Shakespeares noch in den Gliedern, die gräßlichen Wirren, wie sie des Dichters erster Historienzyklus schildert, riefen ihr die Not einer jungen Vergangenheit in Erinnerung und konnten ihr zur sprechenden Warnung werden. Zugleich war in dem gekräftigten England der Tudors - schon vor der „Armada" und durchaus in Parallele mit ähnlichen Entwicklungen auf dem Festland - ein nationales Selbstgefühl erwacht, das die Taten eines Heinrich V. oder eines Talbot in Frankreich gerne verherrlicht sah und überhaupt ein waches Verlangen nach nationalhistorischer Information bewirkte. In den Spielen Shakespeares wurden die Chroniken Halls, Holinsheds und anderer in einer bisher nicht erhörten Weise lebendig. Die Gestalten der Könige und der Vasallen, der Empörer und der Verratenen, der Helden und der Feiglinge, der Verantwortlichen und der Saufbolde gewinnen Farbe und Kontur, in manchen Fällen auch Körper; sie sind, je nach ihrer Bedeutung und je nach der Szene, in der sie auftreten, bald zeremoniell, bald realistisch gezeichnet. In den einen Spielen, besonders deutlich in Richard II., bestimmt die Haltung des ritterlichen Mittelalters den Ton der Darstellung, in anderen, so in Heinrich IV., darf der städtische und ländliche Alltag aus Shakespeares eigener Zeit zu Worte kommen. Shakespeare entwirft, bald treu den Vorlagen folgend, bald frei umbildend oder zielbewußt ändernd, verschärfend, erhöhend, ein eindruckskräftiges Bild der Geschehnisse und der Gestalten. Die volle historische Wirklichkeit aber gibt er nicht. Persönliches Macht- und Ehrstreben, Kraft und Schwäche der Staatsmänner, Güte oder Haß, Neid, Hader sind für ihn die Antriebe des Geschehens. Daß Shakespeare die wirtschaftlichen und sozialen Umschichtungen, die mit den Rosenkriegen verbunden waren und sie weitgehend bedingten, fremd blieben, kann nicht verwundern, erst die moderne Geschichtsforschung hat sie bloßgelegt. Weniger selbstverständlich ist, daß den Historiendichter die politische Verschiebung, die unter König Johann statthatte, nicht interessiert, daß er auch der späteren Entwicklung der konstitutionellen Freiheiten und der Rolle des Parlaments keine Aufmerksamkeit schenkt, daß er den Übergang vom Feudalstaat 317

zum monarchischen Despotismus nicht fühlbar werden läßt. So darf man dem Urteil A.W. Schlegels, „es seien in Shakespeares Historien die Hauptzüge der Begebenheiten so treu aufgefaßt, ihre Ursachen und selbst ihre geheimen Triebfedern so lichtvoll durchschaut, daß man daraus die Geschichte nach der Wahrheit erlernen könne", gewiß nicht zustimmen. Historische Vorgänge und geschichtsbildende Kräfte von wesentlicher Bedeutung bleiben unberücksichtigt. Auch im einzelnen ist die Darstellung oft einseitig; die Verzerrung, die sich die Jungfrau von Orleans, der Bischof von Winchester, die Königin Margarete oder auch der Aufrührer Jack Cade in Heinrich VI. gefallen lassen müssen, hat dem Dichter den Vorwurf der „Geschichtsfälschung" eingetragen. Shakespeare ist kein Historiker. Wohl beschwört er vergangene Zeiten: ihren Atem, ihre Haltung - nicht die eigentlich geschichtliche Wirklichkeit, nicht die exakten Vorgänge und nicht die politischen Antriebe. Heinrich V. und Richard III. sind monumentale Bilder des guten und des schlechten Königs weit eher denn historische Porträts. Nicht der Wille, geschichtliche Wahrheit zu geben, durchdringt die Historien, sondern ein lebensmächtiger Staatssinn. Die Zerrüttung des staatlichen Gefüges, aus Schwäche und Ichsucht seiner Träger erfolgend, wird nicht um ihrer selbst willen dargestellt, das Bild der hohen Ordnung, die sich nach kosmischem Vorbild auch in der menschlichen Welt herstellen soll, steht fühlbar dahinter. Es ist wohl kein Zufall, daß der Dichter zuerst die historisch spätere Zeit Heinrichs VI. und nachher die frühere Epoche Heinrichs IV. und seines Sohnes dargestellt hat. So kann dem Chaos das Bild einer sich erholenden, zuletzt einer heilen Welt folgen. An die Stelle der ichbesessenen Titanengestalten des früheren Zyklus treten Staatsmänner, die sich dem Ganzen verantwortlich fühlen. Es „dankt der Machtmensch allmählich in den Historien ab; an seine Stelle tritt der Mensch der politischen Gemeinschaft" (E. Th. Sehrt). Ein gerechter und geordneter Staat stellt sich her, den ein kräftiges nationales Leben erfüllt. In den letzten Jahren hat man, in Wissenschaft und Aufführungspraxis, die Folge der historischen Dramen immer mehr als einen in sich zusammenhängenden Zyklus zu sehen sich gewöhnt. Auch unsere Besprechung folgt der Chronologie der Themen, die schon den ersten Herausgebern des Gesamtwerks, Heming und Condell, als maßgebend erschien. So steht das mittlere Stück, King John, am Anfang, darauf folgt die spätere Tetralogie, King Richard II und die zwei Teile von King Henry IV und King Henry V umfassend, dann erst der frühe Zyklus, die drei Teile von King Henry VI und King Richard III. Das späte Spiel von Heinrich VIII. endlich steht am Schluß, der Chronologie des Themas und diesmal auch der Entstehungszeit entsprechend. Bei dieser Anordnung wird die Folge von Schuld und Unheil, von Verbrechen und Gericht, wie sie Shakespeare 318

im Einklang mit den Historikern seiner Zeit darstellt, sichtbar. Doch hat Tillyard in seinem s ihr lehrreichen Buch über die Königsdramen dieses Moment wohl überwertet. Der unbefangene Leser wird die Schicksalsschläge, die Heinrich VI. treffen, nicht unmittelbar als Folge der Usurpation des Throns durch Heinrichs Großvater, die von Shakespeare ja erst in einer späteren Dichtung dargestellt wird, empfinden. Und anzunehmen, die spätere Tetralogie sei die Überarbeitung einer frühen Historienfolge, die Shakespeare noch vor Heinrich VI. (den umzuarbeiten er nicht für nötig befand) verfaßt hätte, ist denn doch recht kühn. Schärfer als der Nexus von Schuld und Strafe, der sich vom Großvater hin zum Enkel schlingt, wird, wenn man die ganze Reihe der Königsdramen in ihrer thematischen Folge sieht, etwas anderes deutlich: ihr Charakter als 'Welttheater. Jeder kommt, spreizt sich ein Weilchen, sagt sein Sprüchlein und muß abtreten. Ein anderer übernimmt seinen Titel, sein Amt, seinen Namen. Könige und Große, die immer wieder den alten Namen tragen, lösen einander ab, verdrängen einander, spielen unter dem gleichen Namen eine andere Rolle. Diese aber ist Auftrag und fordert Bewährung, sie kann großartig, sie kann kläglich gespielt werden. Das Welttheater ist kein bloßes Figurenkarussell, die Rollenträger sind nicht nur „Spiel der Zeit" (Lohenstein), sondern zugleich selber echte Spieler, die in der Entscheidung stehen und in ihr wachsen und fallen, versagen und „wesentlich" werden. Wenn man die Königsdramen als Teil von Shakespeares Gesamtwerk faßt, erkennt man vollends, daß sie mehr sind als eine nationale Selbstdarstellung des englischen Volkes. Die Motive und die Haltung, die Shakespeares Lust- und Trauerspiele beherrschen, prägen auch das Gesicht seiner Historien. Hinter ihren Titanen und Königen ganz ebenso wie hinter den Schurken und Lüstlingen steht, immer wieder, der Mensch. Die Fortuna-Tragik, im Mittelalter vorgebildet, in der Barockzeit machtvoll zur Darstellung gebracht, waltet auch in Shakespeares Historien; aber sie verbindet sich dem Pathos des Staats- und Weltbildes der Renaissance, spezifisch christliche Gnaden-Töne mischen sich ein, der Übermensch, der prahlend Erde und Himmel erschüttert, steht neben dem demütigen Heiligen, und so ergibt sich jene einzigartige Vollstimmigkeit, die das Werk Shakespeares überhaupt kennzeichnet.

KÖNIG

JOHANN

Er fürchtet sich vor mir, ich mich vor ihm. Als König Johann stirbt, geschlagen von üblem Kriegsgeschick, vergiftet durch einen fanatischen Mönch, verbrennend in der Angst und Gewissensnot der eigenen Seele, da spricht sein Sohn und Nachfolger zwei Verse, die das universale Thema der barocken Herrschertragödie in sich fassen. What surety of the world, what hope, what stay, When this was now a king, and now is clay? (V 7). Wo ist Sicherheit in der Welt, wo Hoffnung, Halt, wenn dieser, eben erst noch König, jetzt nur Lehm ist? König und Königsschicksal sind repräsentativ für den Menschen, für menschliches Schicksal. Den Sturz de; Großen darzustellen, die Gebrechlichkeit, Preisgegebenheit jedes, auch des stolzesten Geschöpfes den Zuschauern vor Augen zu halten, war Absicht des Barockdramatikers. Geläufige Möglichkeiten der Rettung oder der Flucht waren christliche Demut, stoische Selbstbeherrschung, oder Hingabe an Rausch, Gelächter, Märchentraum. Shakespeare, der dem Barock angehört und die Renaissance in sich trägt, prägt in der kräftigsten Gestalt des Stücks, im Bastard Faulconbridge, eine ganz andere Haltung aus. Der Bastard ist weder starrer Stoiker noch Heiliger, er ist kein Lüstling und kein Träumer. Strotzend von Leben, Kraft, Tatbegier, ist er doch zugleich überlegt und selbstkritisch; tapfer und entschlossen, inspirierend, führend, nimmt er doch den Part des Dieners an, ordnet sich dem Herrscher unter. Seinen Zynismus richtet er gegen erbärmliche Menschen, nicht gegen den Himmel. Besänftge die Entrüstung, mächtger Himmel, Versuche nicht uns über unsre Kräfte (V 6). Er weiß um Schuld und Schwäche des Menschen und ruft die Gnade Gottes an. Alle Kräfte anspannend, um sich und seiner Sache selber zu helfen, fühlt er sich doch von der Macht des Himmels abhängig. Er gehört der Erde an und Gott, dem heißen, vollen Leben und der Idee. Das locker gebaute und stilistisch uneinheitliche Stück schließt eine ungewöhnlich große Zahl scharfer, in einem äußerlichen Sinn „dramatischer" Wechsel in sich. Im ersten Akt erscheint der Bastard Faulconbridge vor dem König, um seine Legitimität zu verteidigen und das väterliche Erbe zu erlangen; aber die Dinge wenden sich so, daß er das Erbe fröhlich preisgibt und stolz seine Illegitimität betont. Im zweiten Akt ist die Stadt Angers zuerst be320

droht, dann umworben, nodi einmal bedroht, schließlich versöhnt sie durch einen glücklichen Vorschlag die beiden Gegner unter sich und mit der Stadt - worauf, im dritten Akt, der eben erst gestiftete Friede durch einen Eingriff des päpstlichen Gesandten wieder zerrissen wird. Frankreich und England stehen sich zuerst als Feinde, dann als Freunde, darauf sogleich wieder als Feinde gegenüber. Mad world! mad kings! mad composition! ruft der Bastard, „tolle Welt, tolle Könige, tolles Bündnis!" (II2). Belagerer werden zu Angegriffenen. König Johann wünscht den Tod seines Neffen Arthur, des legitimen Thronanwärters - und bereut, daß er den Auftrag gegeben. Arthur selber, von der ehrgeizigen Mutter auf die Bahn zum Thron geschoben, wird gefangen, mit dem Tode bedroht, gerettet und schließlich gegen die Absicht aller doch vernichtet. Hubert, sein Wärter, kommt eilig zu verkünden, er lebe, während er tot daliegt. In der zwedten Hälfte des Stücks kehren sich die Verhältnisse der ersten um. Damals stand der englische König in Frankreich, jetzt steht der französische Dauphin in England; Louis erwartet wie einst Unterstützung vom päpstlichen Legaten, erfährt aber jetzt Hemmung. Gegen Ende wechseln Erfolg und Verlust, Sieg und Niederlage schlagartig, bei beiden Parteien. Graf Melun spielt die Rolle des mehrfachen Verräters. Zuerst verrät er unter dem Einfluß des Dauphins die englischen Rebellen; auf den Tod verwundet, spürt er sein Gewissen (conscience) und verrät nun den Dauphin an die englischen Rebellen. Diese sind ihrerseits Verräter an John, aber in guter Absicht, denn sie verraten damit wiederum nur einen Verräter, König Johann, der an Arthur und damit an Königtum und Staat schändlichen Verrat begangen. Hubert, der den Mordauftrag, obwohl zuerst rasch bereit, nicht ausführt, wird so zum getreuen Verräter an König Johann, er findet, nachdem er im Begriffe stand sich zu verlieren, sich wieder und handelt zugleich, ihn verratend, im eigentlichen Interesse des Königs. „Nun seht Ihr aus wie Hubert - all die Zeit wart Ihr verkleidet", sagt der Knabe Arthur zu ihm (IV 1). Das Schicksal aber läßt den geplanten, dann vom Werkzeug und vom Auftraggeber selber verhinderten Mord schließlich doch irgendwie Wirklichkeit werden. Die mannigfache menschliche Verstrickung tut sich dar. Manche der raschen Wendungen sprechen nicht unmittelbar zum modernen Leser: sie bleiben, ähnlich wie die stellenweise euphuistisch verkünstelte Sprache, oft äußerlich, ihre Häufung wie ihre extreme Zuspitzung gibt ihnen etwas Mechanisches: für den Manierismus gerade ein besonderer Reiz. Doch spürt auch der Moderne durch die äußeren Masken hindurch etwas von der Größe und Gewalt des unerbittlich sich wendenden Schicksals. So wie neben verschnörkelten oder nur mit der Zunge gesprochenen Reden Worte von wunderbarer Realität stehen - T. S. Eliot preist den King John um der poetischen Evokation der Alltagssprache willen - so 321

spürt man bei aller Zufälligkeit der einzelnen Ereignisse die geheime Notwendigkeit des großen Gesdiehens. Was den Modernen in besonderem Maße anrührt, ist das Ringen der Menschen im Strudel des Schicksals; das dieses Drama durchdringende verzweifelte oder hochgemute, hektisch aufgeregte oder oberflächlich betriebsame schmerzliche und sehnsüchtige Ringen nach Legitimität. In den ersten Versen des Stücks ist, mit scharfer Betonung, von König Johanns „erborgter Majestät" die Rede; der französische Gesandte spricht ihn so an. Johns Mutter, Königin Elinor, die sich darüber empören will, muß ihrem Sohn doch gleich darauf in die Erinnerung rufen, daß seine Stellung nur auf Besitz, nicht auf Recht gegründet ist. King John, ist ein illegitimer König. In der gleichen ersten Szene nun tritt ein im bürgerlichen Sinne Illegitimer auf: Philip Faulconbridge, unehelicher Sohn von Johns Bruder Richard. In überlegener, echt königlicher Weise legitimiert König Johann den Bastard - allzu leicht ist man heute bereit, seihe brillante Schlichtung des Streits der beiden Faulconbridge zu isolieren, seiner Bühnenrolle als englischer König statt seiner Persönlichkeit gutzuschreiben (so Tillyard). Zu bedeutsam ist diese Szene an den Beginn des Spiels gestellt, als daß sie unser Bild von König Johann nicht mit prägen sollte. Sie prägt auch das des „Bastards". Er ist nicht „echt erzeugt" (true begot), aber „wohl erzeugt" (well begot). Mit diesen Worten rechtfertigt der königliche Bastard sich selber und jeden, der in ähnlicher Lage wie er: den Usurpator-König John, dem er treu dient, der durch Tüchtigkeit sich legitimieren, das fehlende Erbrecht wettmachen sollte — und den Späteren, Größeren, der dem Anspruch, vor dem John versagt, Genüge tun wird: Heinrich IV. „Mein. Vater gab mir Adel, Eurer Land", sagt Faulconbridge zu seinem Halbbruder und verzichtet auf Besitz und bürgerliche Legitimität, um die eigentliche Legitimität zu erlangen: ganz er selber sein zu dürfen. „Des Löwenherzens anerkannter Sohn, Herr deiner selbst, und ohne Land dazu", sagt die Königin-Mutter Elinor zu ihm, und er selber: „Und ich bin ich, wie ich erzeugt auch bin." Der Bastard rechtfertigt sich durch sein Sein, durch die Art seines Wesens und seines Tuns - während König Johann sich gerade umgekehrt durch Besitz, Macht, Erfolg (sie entsprechen dem „Land", auf das der Bastard mit einer großen Geste verzichtet) zu legitimieren sucht, eine Legitimation, die die Welt von ihm verlangt - die Bürger von Angers fragen nicht nach Recht oder Unrecht des Anspruchs, sondern nach dem Ausgang des Machtkampfs - und die doch nur eine Pseudolegimitation ist. In Faulconbridge wird der Name Bastard selber geadelt, und wenn man an die Rolle denkt, die dieses Wort im Wintermärchen und in Cymbeline spielt („Wir alle sind Bastarde!"), so wird offenbar, daß es um die Adelung des Menschen geht, der als solcher Bastard-Züge unausweichlich trägt; um die Adelung und Legitimierung des 322

in Sünden empfangenen Menschen. Wenn Faulconbridge anfänglich noch, wie so viele Figuren des barocken Dramas, die Ehrbarkeit seiner Mutter in Zweifel zieht: „Ich zweifle dran, wie jeder Sohn (all men's children) es darf", so preist er schließlich seine Mutter darum, daß sie nicht „ehrbar" war. Was sonst qualvolles Stigma der Unsicherheit des Menschen ist - ich bin vielleicht nicht der, der ich bin, meine Mutter war vielleicht Hure wird hier zum Triumph, die Schande schlägt in Ruhm um, die Ausgestoßenheit in Erwählung: der Bastard ist Königssohn. „Ja, meine Mutter, von Herzen dank ich dir für meinen Vater." „Gewisse Sünden sind auf Erden losgesprochen, so die Eure". In den Augen des Bastards wird der schwächliche Bruder zum Halbgesicht (half-face); der heimliche Königssohn aber besitzt, wiewohl Bastard, eine innere Legitimität, die sich zwingend offenbart. Die Erhöhung in den Adelsstand, die „neugeschaffene Ehre" ist keine eigentliche Veränderung, sondern nur Erkenntnis und Anerkennung des dem Bastard eigenen Rangs. König Johann, schwächlicher und trüber Charakter, hat nicht die Kraft der Selbstlegitimation wie sein Neffe Faulconbridge. Seiner selbst unsicher, verwirkt er sich die Möglichkeiten, die sein immerhin imponierendes Auftreten im ersten Akt hoffen ließ. Er greift zu äußeren Mitteln, will sich durch den Besitz der Macht, trotziges Auftreten (Absage an den Papst), Ausschaltung des besser Legitimierten, schließlich durch eine zweite Krönung rechtfertigen und sichern. Er scheitert in allem, am kläglichsten in der Wiederholung der Krönung, die von den Großen von Anfang an als Farce durchschaut und gebrandmarkt wird. Das „Nochmals", gedacht als Dementi der Gefahr des Wechsels, die in diesem Drama allenthalben so handgreiflich demonstriert wird, erreicht das Gegenteil, es weist, hilflose Gebärde, erst richtig auf die fehlende Ligitimität hin, „kehrt der Gedanken Richtung um, daß die Erwägung scheu und stutzig wird, gesunde Meinung krank, Wahrheit verdächtig..." (IV 2): Konträrsuggestion. Daß John sich schließlich, nachdem er vergeblich auf die eigene Kraft gepocht, dem Papst unterwirft, um durch ihn sich legitimieren zu lassen, hilft ihm noch einmal nichts und wird vom Bastard zornig getadelt. In König Johann wird das Bild des letztlich nicht unbegabten, nicht ganz unedlen Menschen gezeichnet, der, dumpf nach Scheingütern greifend, seine Möglichkeiten verscherzt, sich mit Schuld und Schmach belädt und der Welt Unheil statt Heil bringt. Seine Gegner: machtsüchtige Franzosen und Österreicher, seine Untertanen: Gaffer und Anpasser (die Bürger von Angers) oder vorschnelle Rebellen, sind freilich kaum besser als er; sie vermögen ihm keinen eigentlichen Wert entgegenzusetzen. Johann spricht von der „angemaßten Macht" (usurped authority) des Papstes (III 1). Der österreichische Herzog wird nicht nur von Arthurs Mutter Konstanze, sondern auch von Faulconbridge als gespreizter Narr verhöhnt, 323

der sich zu Unrecht - illegitim - als Überwinder des königlichen Richard Löwenherz aufspielt. Du in der Haut des Löwen? Weg damit, Und häng ein Kalbsfell um die schnöden Glieder (III 1). Der „Bastard" Faulconbridge sieht diese ganze Welt einem Schein-Wert verfallen: Commodity, the blas of the world - tickling commodity ... Eigennutz, ein illegitimer König, kitzelt die Menschen, „Eigennutz, der schiefe Hang der Welt" (II 2). Selbst der Friede, den diese Menschen schließen, ist ein Bastard-Friede, illegitimer, unehrlicher als der Krieg, den sie führten. „Von einem wackeren, ehrenvollen Krieg zu einem schnöden, schimpflich geschlossenen Frieden", formuliert es Faulconbridge (II 2), und Konstanze spridit von „geschminktem Frieden": „Krieg! Krieg!, kein Friede! Fried ist mir Krieg!" Das Gesetz ist höchstes Unrecht, law itself is perfect wrong (III 1). Wenn Faulconbridge, der „Bastard", echte aktive Legitimität verkörpert und als Diener und Neffe des Königs John dessen unerfüllte Möglichkeit ahnen läßt, so erscheint in der Gestalt des Knaben Arthur die Legitimität in passiver, leidender Form. Seine exaltierte Mutter, die schließlich in Raserei endet, will, getrieben von hektischem Legitimitätsdranig, ihn und damit auch sich an die erste Stelle schieben. Er aber, in der Demut des echten Prinzen, möchte sie zurückhalten: „Still! gute Mutter!... Ich bin's nicht wert, daß solch ein Lärm entsteht" (II 1). Im Streit um ihn schelten seine Großmutter und seine Mutter einander gegenseitig Monstren, Beleidiger von Himmel und Erde, ihn selber nennt die Großmutter Bastard - der stille Glanz seines reinen Daseins wird davon so wenig berührt wie von dem Kriegsbrand, der nur dem Vorwand nach um seinetwillen entfacht wird, und von dem Tod, den er sich selber herbeiführt. Nicht nur die Mutter sieht in ihm den Inbegriff des Königtums („Natur und Fortuna einten sich, dich groß zu machen", seit Kain bis gestern „kam kein so gesegnetes Geschöpf zur Welt" III l, 4), auch für den Bastard ist er der eigentliche Träger der Legitimität. Aus 'diesem Stückchen toten Königtums Floh dieses Reiches Leben, Recht und Treu Zum Himmel auf, und bleibt für England nichts Als Balgen, Zerren, mit den Zähnen packen Das herrenlose Vorrecht stolzer Hoheit (IV 3). In Arthur hat König Johann, wollend und nicht wollend, das echte Königtum, auch sein eigenes, hingemordet (ähnlich wie Macbeth mit dem Schlaf des Königs Duncan zugleich seinen eigenen Schlaf zerstört). Während Johann von England ebenso wie die Herrscher von Frankreich und Österreich und 324

wie die Frauen Elinor und Konstanze Rechte behaupten oder haschen, die ihnen nicht zustehen, ist der Knabe Arthur, rührender Lichtpunkt inmitten des wirren Geschehens, bereit, seinen legitimen Anspruch aufzugeben. Jm Kerker spricht er: War ich nur frei und hütete die Schafe, Solang der Tag ist, wollt ich lustig sein. Und das wollt ich auch hier, besorgt ich nicht, Daß mir mein Oheim noch mehr Leid will tun: Er fürchtet sdch vor mir, ich mich vor ihm (IV 1). In Furcht voreinander zerfleischen sich die Menschen. Arthur ist reines Opfer: „Mich dünkt, kein Mensch darf traurig sein als ich", die modische Attitüde des Grams, wie junge Herren sie zur Schau tragen, erscheint ihm als Frevel. Auch Konstanze in ihrer Raserei übertreibt die Gebärde des Grams, und der französische Dauphin nimmt leichtfertig den Nihilismus Macbeths vorweg: Es gibt nichts in der Welt, was mich kann freun, Das Leben ist so schal wie'n altes Märchen (a twice-told tale), Dem Schläfrigen ins dumpfe Ohr geleiert... (III 4). Das unschuldige Kind darf mit Trauer und mit Furcht auf die Unbill des Schicksals reagieren: Die ändern dürften es nicht. Aber während Arthur nur bang und traurig ist, kommt das Handeln der ändern auch noch aus der Angst vor dem Nichts in ihnen selber. Arthur könnte fröhlich sein auch noch im Kerker, er ist mit sich selber allein, sich selber genug, die ändern gieren nach Welt, um die eigene Leere zu übertönen. Nur der Bastard handelt weder in Furcht noch in Angst, nicht aus Gier, nicht aus Verzweiflung, sondern in entschlossener Verantwortung, scharf abstechend von dem „entschlossenen Schurken", der den König vergiftet, und von den vorschnellen Rebellen, die in dumpfem Gewissenszwiespalt die Waffen gegen das eigene Land richten. „Er fürchtet sich vor mir, ich mich vor ihm." Arthurs Wort offenbart das Chaos der menschlichen Beziehungen, das in diesem Stück waltet, und zugleich die beiden Pole, die sich gegenüber stehen: das unschuldige Kind, von dem alles zu hoffen wäre, und der von echtem Daseinsgefühl entblößte Träger der Gewalt. König Johann verrät das Königtum des Menschen, er ist nicht Heiland, sondern Verderber der Welt. Er verwirrt und zerstört das Königtum, wie sein letztes Wort (confounded kingdom) es andeutet. Der Bastard aber vermag, als Bastard, sich zu legitimieren, er rettet damit das Bild des Menschen überhaupt. Daß er auch künstlerisch die stärkste und reichste Figur im Stück ist, verdoppelt die Wirkung, die von seiner menschlichen Haltung ausgeht. Der Bastard Faulconbridge ist nur halb geschichtliche Gestalt. Das historische und auch das nationale Interesse stehen nicht an erster Stelle in diesem 325

Königsdrama. Der König, der Bastard, das Kind, die eifernden Frauen, die Großen und Bürger: Theatrum mttndi. „Wie im Theater gaffen sie, und zeigen auf euer emsig Schauspiel voller Tod", sagt der Bastard von den Bürgern von Angers (II 2). Er selber, der das stolze Wort „Ich bin ich" sprechen darf, spielt sich selber, in Wirklichkeit und, mit spürbarer Freude am Schauspielern, auch in symbolischem Scherzen ( I I ) . Your industrious scenes and acts of death - „ein emsig Schauspiel voller Tod". Leben und Tod, Wirrnis des menschlichen Strebens und der menschlichen Beziehungen, Sein und Schein, Sein und Nichtsein: Thema dieser Historic ebenso wie der anderen Spiele Shakespeares. Wenn der Bastard am Ende sagen darf: Dies England lag noch nie und wird auch nie Zu eines Siegers stolzen Füßen liegen, Als wenn es erst sich selbst verwunden half so geht es auch hier nicht nur um England. Vom Thus bis zum Sturm stellt Shakespeare in immer wieder ändern Fabeln dar, wie der Mensch sich im selbstgestellten Netze fängt. Der Mensch kann letztlich nur sich selber fällen - und, menschlich gesprochen, sich selber retten. Was der Bastard hier von England sagt, gilt für die menschliche Welt schlechthin. Und wenn der König, der als solcher Garant menschlicher Legitimität sein sollte, versagt, so wirkt es um so stärker, daß in dieser Welt, die sich selber verwundet, der Bastard sich legitimiert, anerkannt wird und, Kritiker und Arzt dem König wie den Rebellen, kraftvoll neue Werte zu setzen beginnt.

K Ö N I G R I C H A R D II. Hinfälliger Glanz erleuchtet dies Gesicht (IV 1). Wenn Johann unrechtmäßiger Besitzer des Königsthrons war, dem die Kraft, sich zu rechtfertigen, fehlte, so ist Richard der legitime Fürst, der jedoch das Kapital, das ihm aus seiner Stellung zuströmt, eitel vertut und so die Legitimität von innen her zerstört. John war ein unbegnadeter Emporkömmling, der sich nicht durchsetzte, Richard aber ist der durch göttliche Gnade Gekrönte, der sich der Gnade nicht gewachsen zeigt. Und wenn Shakespeare und seine Zeit an den wirklichen König von England gedacht haben - die Absetzungsszene durfte zu Elisabeths Lebzeiten nicht gedruckt werden, die Herrscherin sah in Richard den König und damit sich selber - so steht Richard doch zugleich für den Menschen, den von Gott begnadeten Menschen, der sich, wie Adam, selber der göttlichen Gnade entzieht. Fanfarenklänge erfüllen das Stück, stolze, königliche Worte und Gebärden, Wendungen, die die Macht und die Person des Königs weithin sichtbar machen sollen. Richard ist sich seines Königtums bewußt, er fühlt sich in der Rolle des von Gott Berufenen - so sehr, daß er diese Rolle genießt und auskostet und schließlich nur noch eine Rolle spielt, statt der Substanz nach König zu sein. Der erste Aufzug gibt die Stichworte der Tragödie: Königtum und Verrat. Zwei Herzöge des Reiches, Bolingbroke und Norfolk, beschuldigen sich, in leidenschaftlichen Reden wider einander wütend, gegenseitig des Verrats und der Lüge. Der König, hoheitsvoll, fast hochmütig, sucht den Streit zu schlichten; da es ihm nicht gelingt, verweigert er den erbetenen Zweikampf, bricht, was er nicht beugen kann: er verbannt beide und findet vollkommenen, wenn auch betroffen leidvollen Gehorsam. Die Trompetensignale, das Fallenlassen des Stabes, das stolze Sprechen des Urteils: sichtbare Zeichen eines legitimen Herrschertums. Aber Richards so aufdringlich zur Schau getragene Unbestechlichkeit und Gerechtigkeit ist Schein. Hinter ihr steht verletzende, kaum erträgliche Willkür. Richards Worte zeugen von echtem Wissen um die Sendung eines Königs, der, wie Eduard der Bekenner im Macbeth, Arzt seines Volkes sein sollte. Ihr wutentflammten Herrn, laßt mich euch lenken, Vertreibt die Galle, ohne Blut zu lassen. Wir schreibend vor, wiewohl nicht Arzt. Zu tiefe Bosheit schneidet zu tief ein. Vergebt, vergeßt, schließt Frieden, einigt euch ... (I 1). 327

Aber Richards Trachten geht in Wahrheit nicht nach Dienst am Land, er will sich selber dienen. In Bolingbroke verbannt er den gefährlichen Rivalen, in Norfolk den unbequemen Mitwisser. Sein Entscheid ist vorbelastet durch die Meintat an Richards Oheim Gloster, bei der Norfolk als Werkzeug diente. Richards Anteil an der Schuld wird nicht voll deutlich gemacht (ähnlich wie Gertrudes Schuld im Hamlet in schonendem Dunkel bleibt). Aber Gaunt, der Bruder des Toten, Richards anderer Oheim, ruft diesem die Grenzen seines Herrschvermögens in Erinnerung. Verkürzen kannst du meine Tag in Sorgen, Mir Nächte rauben, leihn nicht einen Morgen. Du kannst der Zeit wohl helfen Furchen ziehn, Doch sie nicht hemmen ... Erkauft ein Wort von dir den Tod mir auch, Verschafft mir tot dein Reich nicht einen Hauch (I 3). Der König, wenn auch Gottes Stellvertreter und gesalbter Bote (I 2), hat keine Schöpfermacht, vermag die Zeit nicht umzukehren. Er kann Arzt oder Zerstörer sein in der Zeit, nicht gegen die Zeit. („O rufe Gestern wieder, laß die Zeit umkehren, und du hast zwölftaoisend Streiter", muß Richard sich sagen lassen, als er, einen Tag zu spät, einen Tag nachdem seine Hilfskräfte sich verlaufen, in Wales landet [III 2].) Richard führt die Worte des Arztes im Munde, aber tut die Tat des Zerstörers. Die Demaskierung — Selbstdemaskierung - erfolgt rasch: Am Ende des ersten Aktes verpachtet er das Reich (d. h. dessen Einkünfte) und wünscht dem plötzlich erkrankten Oheim den Tod. Nun, Gott, gib seinem Arzte in den Sinn, Ihm augenblicklich in sein Grab zu helfen! (I 4) Denn das Erbe, das Richard seinem Vetter, dem verbannten Bolingbroke, entzieht, soll dem König aus den Verlegenheiten helfen, in die ihn seine Mißwirtschaft versetzt hat. Diese widerrechtliche Enterbung des Verbannten ist Richards entscheidende Fehltat; sie führt äußerlich seinen Untergang herauf, indem sie Bolingbroke, der sein Recht will, zur Rückkehr und damit zur Revolution treibt; sie bedeutet aber auch geistig Selbstverneinung, denn Richards Legitimität beruht ja auf dein Erbgang, dessen Kraft und Weihe er selber nun zerstört. „Sei nicht du selbst", sagt York, Richards letzter Oheim, zu ihm: „denn wie bist du ein König, als durch gesetzte Folg und Erblichkeit?" Und Northumberland: „Der König ist nicht (mehr) er selbst" (II 1). Richard hat durch seine Willkür fair sequence and succession zerstört, er hat sich verloren, er hat sich selber das Grab gegraben. „Verrat" ist das Wort, das unaufhörlich durch die Räume dieses Dramas hallt — Richard hat sich selbst verraten. „Wend ich meine Augen auf mich selbst, 328

so find ich mich Verräter wie die ändern" - das ist geistig ebenso wie dramatisch die Herzstelle des Stücks. Ich kann nicht sehn, die Augen sind voll Tränen; Doch blendet salzges Wasser sie nicht so, Daß sie nicht hier 'ne Schar Verräter sahn. Ja, wend ich meine Augen auf mich selbst, So find ich mich Verräter wie die ändern (IV 1). Des Menschen Auge, ihm von Gott in herrlicher Reinheit verliehen, trübt sich in selbstverschuldetem Leid, aber noch vermag es das Entscheidende zu sehen, ja es sieht es erst jetzt: die Menschen sind Verräter und Selbstverräter. Der königliche Mensch, durch Gottes Gnade Herrscher, verscherzt seine Stellung, verliert die Legitimität, die ihm mitgegeben war. Die Königin nennt Richards Sturz „einen zweiten Fall des fluchbeladenen Menschen", a second fall of cursed man (III 4). Richard, der, schon entmachtet, im dritten Aufzug zum letzten Mal auf der oberen Bühne erscheint, braucht an Stelle des biblischen ein antikes Bild. Herab, herab komm ich, ein prächtger Phaeton, Der Lenkung wilder Mähren nicht gewachsen. Daß der König von seiner Hochburg in den niederen Hof herabgezwungen wird, deutet er selber symbolisch. Dreimal preßt er das Wort niedrig (base) in einen Vers, in kraftvoller Bitterkeit - zwei Verse später ist die Kraft zerflattert, und das dreimalige „Herab!" (down!) ist wie verloren in einem zerrütteten Gefüge. In the base court? Base court, where kings grow base, To come at traitors' call, and do them grace. In the base court? Come down? Down, court! down, king! For night-owls shriek, where mounting larks should sing (III 3). Nachteulen schrein, wo aufstrebende Lerchen singen sollten. An die Stelle himmlischer Musik ist chaotisches Gekrächz getreten. Die neue Ordnung wird nicht mehr von einem Boten Gottes erstellt, die reine Legitimität ist vertan, Bolingbroke ermangelt des Glanzes und der Gnade, er baut mühevoll eine neue Welt, mit irdischen Kräften, wie Adam nach dem Sündenfall. Richard thronte auf sonnennaher Höhe, Bolingbroke marschiert mit seinen Truppen „auf rauhem Weg durch wilde, hohe Hügel" (II 3). Und er steigt nicht zu Richard hinauf, sondern Richard kommt zu ihm herunter in den niederen Hof. Profane Arbeit, irdisches Mühen tritt an die Stelle begnadeten Waltens. In Richard hat der Mensch sein reines Königtum verscherzt, seine selbstverständliche Legitimität verloren. 329

Die Identität der Menschheit in ihren einzelnen Gliedern wird in diesem Drama besonders stark betont. Die Witwe des ermordeten Gloster spornt dessen Bruder Gaunt zur Rache: Du bist in ihm erschlagen. Du stimmst ein In vollem Maß zu deines Vaters Tod, Da du den armen Bruder sterben siehst, Der Abdruck war von deines Vaters Leben (I 2). Bolingbroke, in dem sich sein Vater erneuert (I 3), wirbt um Yorks, seines Oheims Gunst: „Ihr seid mein Vater, denn mich dünkt, in Euch lebt noch der alte Gaunt." York identifiziert sich mit dem König: „Der König blieb daheim, in meiner treuen Brust liegt seine Macht" (II 3). Zu Northumberland sagt ein Mitverschworener: „Wir drei sind nur du selbst" (II 1). König Richards Ähnlichkeit mit seinem Vater sollte Verpflichtung sein, diesem auch in den Taten zu gleichen: „Du hast sein Angesicht" (II 1). Die nahe Verwandtschaft Richards und Bolingbrokes wird betont: in ihnen vernichtet sich ihr Ahn selber (III 3), in ihrem Streit ist England in Gefahr, sich zu zerfleischen. „Hier ruhn vereint zwei Vettern, die sich selbst ihr Grab geweint." Die Herzogin York möchte, daß ihr Gatte sich mit seinem Sohn, der ihm ja gleiche, identifiziere, und tatsächlich will Bolingbroke dem Sohn um des Vaters willen verzeihen: „Deiner Güte Überfluß entschuldigt dies tödliche Vergehn des irren Sohnes" (V 3); die mittelalterliche Idee der Stellvertretung wirkt sich aus, der Heilsüberschuß des Vaters rettet den Sohn, im Sohn wird, nach Bolingbrokes Worten, der Vater geschont. Auch in Randformen deutet die Identifikationstendenz sich an, so etwa, wenn Richard erbleichend spricht: „Noch eben prangt' in meinem Angesicht das Blut von 20 000 - sie sind fort" (III 2), oder wenn die sanfte Königin, ähnlich wie Macbeth und Cleopatra, den Boten mit der Botschaft identifiziert und ihn daher verflucht (III 4). Die Gärtner vergleichen Garten und Staat (III 4). In den Verrätern, die das Stück mit ihrem lauten Reden und Agieren erfüllen, sieht Richard gleichsam seinen eigenen Verrat objektiviert vor sich; zu spät gibt er sich darüber Rechenschaft (IV 1). Bolingbrokes bekümmerte Frage nach seinem ungeratnen Sohn (V 3) weist auf das dumpf bohrende Gefühl in seiner eignen Brust: Im Sohn zeigt sich dem Vater die eigene Zukunft, die Erfüllung oder Nichterfüllung des eigenen Daseins, nicht nur zeitlich und körperlich, sondern auch geistig. „Wenn irgend eine Plag uns droht, ist er's." Des Prinzen Untertauchen in niederer Gesellschaft, seine Kameradschaft mit Räubern spiegelt Bolingbrokes, des neuen Königs - er tritt hier zum ersten Mal als solcher auf - eigene Verstocktheit in Niedriges, seine eigene Verbindung mit Raubgesellen. Und doch bleibt Hoffnung. Der Prinz will, mit dem Handschuh der feilsten Dirne geschmückt, den stärksten Streiter aus dem Sattel heben: so wie Bolingbroke, peinlichen Makel auf der 330

Stirne tragend, doch tüchtige Tat tun wird, während Richard, der von Gott Gesalbte, sein Königtum verludert. Richard und Bolingbroke, vom selben Ahn entsprossen, sind letzten Endes identisch. Bolingbroke ist Erbe Richards, dessen Selbstverrat ihn zum Verräter machte, so daß er der ursprünglichen Legitimität, die Richard vertan hat, entbehren muß und mühsam aus eigenen Kräften seine Welt zu bauen hat. In der allegorisierenden Gärtnerszene (III 4) erscheint das Bild der Welt, wie sie sein sollte: ein Garten, wo Menschengeist die üppig wuchernde Natur im Zaume hält, sie lenkt und ordnet, aus dem Chaos, hemmend und fördernd, einen Kosmos macht. Du, bind hinauf die schwanken Aprikosen, Die, ungebärdgen Kindern gleich, den Vater Mit ihrer üpp'gen Bürde niederdrücken... Der König aber duldet ein ordnungsloses Sprießen (this disorder'd spring), umsonst zeigen ihm die Gärtner ihren kleinen Pflanzenstaat, in dem sie „Gesetz und Form und recht Verhältnis halten", als Vorbild (model). „O welch ein Jammer, daß er sein Land nicht so gehegt, gepflegt wie wir den Garten." Der Geist ist dem Menschen gegeben, das Leben zu gestalten, Richard aber hat das Leben wuchern lassen, bei sich und ändern, und es dadurch nicht gefördert, sondern zerstört. Richard hat auch seinen Geist wuchern lassen, in faszinierenden Wortkaskaden ihn versprüht, statt ihn in gestalterischem Wirken einzusetzen. Echte Geisteskraft erscheint in seinen Oheimen, die da, wo es not tut, Gegner ihrer selbst zu sein vermögen: Gaunt stimmt für Verbannung seines Sohnes, und York gar verlangt die unnachsichtige Bestrafung des seinen, den er als Verräter am neuen König erfunden hat. Wenn Richard in einer falschen, zerstörerischen Weise sein eigener Gegner ist, so sind Gaunt und York es in der rechten Art: im Dienste gottgewollter Ordnung. York verfolgt seinen schuldigen Sohn und damit sich selbst mit verbissener Starrheit, die Bitten seiner dem Leben zugewandten Gattin bilden das Gegengewicht, und der neue König, in der Mitte zwischen beiden stehend, darf als Richter verzeihen, er darf als Mächtiger gnädig sein und gibt so seinem jungen Königtum eine erste Weihe. „Du bist ein Gott auf Erden", sagt die Herzogin (V 3). Gaunt ist weniger starr als sein Bruder York, er vereinigt die strenge Geistigkeit des Mannes und die Liebe der Frau, wie sie bei Yorks Gattin zum Ausdruck kommt, in einer Person: Er stimmt für Verbannung, aber er bittet um Begnadigung seines Sohns. Richard wird das Gegenteil tun, er wird den Verbannten auch noch berauben. Die Herzogin York darf den neuen ungesalbten König kraft seiner eignen Tat einen Gott nennen, Gaunt aber sah im Antlitz des gesalbten den Tod. „Du stirbst, wenn ich schon kränker bin." König Richard, der von Gott eingesetzte, setzt, wahnwitzig, sich selber ab: Which art possess'd now to 331

depose thyself (II 1). - Ein Gegner seiner selbst von der rechten Art, aber in liebenswürdig harmloser Weise, ist der Gärtner, der gerne den Fluch der Königin annehmen will, wenn das ihr helfen kann: Ach, arme Fürstin! geht's nur dir nicht schlimmer, So treffe mein Gewerb der Fluch nur immer ... Der alte Gaunt sucht auch seinen Sohn von der Macht des Geistes zu überzeugen, des Geistes, der zwar nicht schaffen, aber doch verwandeln kann. „Nenn's eine Reise, bloß zur Lust gemacht", rät er ihm, und - in Vorwegnahme Coriolans - „Denk nicht, daß dich der König hat verbannt, nein, du den König." Der erdnahe Bolingbroke entgegnet: O wer kann Feur dadurch in Händen halten, Daß er den frostgen Kaukasus sich denkt? Und wer des Hungers giergen Stachel dämpfen Durch bloße Einbildung von einem Mahl? ... Aber indirekt muß auch er die verwandelnde Kraft der Imagination anerkennen: „Gram macht zehn aus einer Stunde." Zu ihm sagt später Northumberland: Doch Euer schön Gespräch macht, wie ein Zucker, Den schweren Weg süß und vergnüglich mir. Euer schön Gespräch, your fair discourse... Ist es bloße Schmeichelei Northumberlands? Denn nicht Bolingbroke ist es in diesem Stück, der die Pracht der Rede vor uns entfaltet, sondern Richard. Dieser ist der große Schauspieler und der große Redekünstler. Redeprunk, souveränes Wort, Herrschaft der Sprache über die Wirklichkeiten, sie haben ihren Sinn als Spiel des freien Geistes, den sie offenbar machen. Die Wortphantastik entspringt nicht einer bloßen Zeitmode, sie hat auch innerhalb des Stücks ihr Recht: sie ist Kulisse für die Geistesphantastik des Menschen, wie sie in Richard zutage tritt. In König Richard überschlägt sich der freie Geist, er wird zur leeren Laune, die alles nach Willkür behandeln will. „Zu gut, zu gut sagst du so schlimme Dinge", sagt er einmal zu einem Unglücksboten (III 2), und den alten Gaunt fragt er, ob Kranke so spitzfindig mit ihrem Namen spielen können (II 1) - beides trifft auch ihn selber. Noch im Elend vermag er geistvoll zu scherzen, er sei jetzt mehr als König, Denn als ich König war, hatt* ich zu Schmeichlern Nur Untertanen, jetzt, ein Untertan, Hab ich zum Schmeichler einen König hier (IV 1). Aber die Virtuosität des Worts ist sinnlos geworden, es ist nicht mehr ein Spiel mit der Realität, sondern ein Spiel über die Realität hinweg, es läuft 332

ins Nichts. In der gleichen Szene zerschmettert Richard den Spiegel, weil er sein Gesicht nicht mehr ansehen mag, weil ihm vor seinem eigenen Bilde graut. Als er seinen Sturz realisiert, da ist sein Geist außerstande, dem Schicksal einen wirklichen Sinn zu geben. „Die Zeit verdarb ich, nun verdirbt sie mich" (V 5). „Ihr irrtet euch die ganze Zeit in mir": Ich war nicht König, nur hilfsbedürftiges Geschöpf, erfüllt von eitlem Selbstbetrug (seif and vain conceit III 2) - Richards imagination war nur conceit. So bricht ihm seine Welt, so bricht in ihr er selber auseinander und verfällt dem Nichts. „Ja, nein -nein, ja: Ich darf ja nichts mehr sein" (IV 1). Macbeth vorwegnehmend, zeichnet er ein bittres Welttheaterbild (III 2), und in der Kerkerszene zerfällt er, sich selber spielend, in „viele Personen", haltlos schwankend zwischen den beiden Polen König und Bettler, zwischen All und Nichts - sein All schlägt um ins Nichts. So spiel ich viel Personen ganz allein, Zufrieden keine. Manchmal bin ich König, Dann macht Verrat mich wünschen, ich war Bettler; Dann werd ich's, dann beredet Dürftigkeit Mich drückend, daß mir besser war als König. Dann werd ich wieder König; aber bald Denk ich, daß Bolingbroke mich hat entthront, Und bin stracks wieder nichts. Doch wer ich sei, So mir als jedem sonst, der Mensch nur ist, Kann nichts genügen, bis er Ruh bekommt, Indem er nichts wird... Und als nun wie zur Antwort auf das „Nichts" Musik ertönt, da kann Richard, zerstörtes Instrument, sie nicht ertragen. Hört auf mit der Musik! Sie macht mich toll! Denn hat sie Tollen schon zum Witz geholfen, In mir, so scheint's, macht sie den Weisen toll. „Geduld ist schal..." (V 5). Und doch war Richard ein königlicher Mensch, das Drama zeigt wirklich, nach seinem Wort, „die Entsetzung eines echten (rightful) Königs" (V 1). Der Bischof von Carlisle nennt ihn „das Bild von Gottes Majestät" und spricht das Wort Golgatha aus, Richard selber spielt auf Christus an, nennt Judas, nennt Pilatus (IV 1). Im König liegt der Schnittpunkt von Gott und Mensch, er ist Repräsentant beider. Glanz, der von Gott stammt, erleuchtet sein Gesicht, aber Richard läßt ihn verfallen. Schauspielertum und Selbstbespiegelung, zwei den Menschen als Menschen auszeichnende Eigenschaften, waren in Richard aufs höchste gesteigert da. Kein Tier sucht seih Spiegelbild, kein Tier spielt sich selber. Der Mensch tut beides - in beidem 333

außen sich seine Bewußtheit und Selbst-Bewußtheit. „Mein Hirn soll meiner Seele Weibchen sein, meine Seele der Vater: und diese zwei erzeugen ein Geschlecht stets brütender Gedanken..." (V 5). Das Barock hat die Größe, den Glanz, aber auch die zerstörerische Gefahr des Schauspielertums und der Selbstbetrachtung entdeckt und unermüdlich dargestellt. In Richard leuchtet und zerfällt beides, in höchster Steigerung strahlend und sich in sich selber verbrennend. Bolingbroke braucht keinen Spiegel, er handelt. Er handelt, wie der innere Drang es will und wie die Umstände es fügen. Zur Absetzung des Königs, ja zu seiner Beseitigung läßt er es kommen, weil es sich wie von selbst ergibt. Selbstbetrachtung kennt er nur in abgeleiteter Form: als Sorge um den Sohn. Richard hat keinen Sohn: er kreist in sich selber. Auch «einem Vater gleicht er, wie ihm vorgeworfen wird, nur äußerlich, er ist ganz abgelöst. Zuletzt löst er sich von sich selbst: er zerschlägt den Spiegel. In derselben Szene hat Richard, theatralisch den Vorgang betonend, ihn bis ins letzte ausspielend und beredend, die Krone abgelegt. Bolingbroke schauspielert nicht, er handelt. Aber Spiegel und Spiel gehören ebenso wesentlich zum Menschen wie Tat und Verantwortung. Bolingbroke und Richard halten sich die Waage — ähnlich wie in den in diesem Stück so oft sich wiederholenden Streitszenen die Gegner sich die Waage halten. Die Symmetrien der Einzelszenen tragen die Symmetrie des Ganzen. Bolingbroke ist Richards Schicksal. An ihm zerschellt er und kommt so erst wirklich zu sich: Er erkennt sich als Geschöpf und als Verräter. Richard ist Bolingbrokes Schicksal: durch ihn steigt er und durch ihn gerät er in Schuld. Aber wie meistens bei Shakespeare bedingen sich Art und Schicksal des Menschen; Bolingbroke verrät den König nur, weil der sich selbst verraten. Der Mensch stellt sich selbst das Netz, er fällt durch sich selber. „Und so ficht Eure Torheit wider Euch... Furcht bringt uns um" (III 2). Auch dieses wohlbekannte Thema tritt zugleich in Randformen auf. Norfolk soll durch das Gewicht der eigenen Schuld fallen: „So schwer sei Mowbrays Sund in seinem Busen, Daß sie des schäumgen Rosses Rücken bricht" (I 2). England befleckt sich mit eigenem Blut (I 3). England sich selber zerreißend und sich selber heilend: dieses Grundthema der Königsdramen hat nicht bloß, ja nicht einmal vorwiegend nationalen Sinn. Auf dem Hintergrund der Gesamtthematik ist es, ins Gigantische projiziert, das Drama des Menschen überhaupt. Wenn Richard II. sich selbst verliert, so erscheint Bolingbroke gleichsam als Schöpfer seiner selbst. Nicht kraft der Imagination, wie sein Vater Gaunt es ihm nahelegte (oben S. 332), sondern in realem Handeln. Fortuna kommt ihm entgegen, er nimmt ruhig und sicher den Kontakt auf und geht den Weg zum Thron, er macht sich selber zum König. „Zurück vom Bann ruft Bolingbroke sich selbst"; dies Wort (II 2) kennzeichnet die Figur, positiv 334

und negativ. Bolingbroke erreicht aus eigener Kraft Großes, die höhere Weihe fehlt ihm. Richard aber, der, aus der Gnade gefallen, der Situation nicht eigenen Sinn und Wert zu geben vermag, kommt doch, in einem fast jenseitigen Sinne, näher zu sich, zum Wesen seiner selbst. „Wenn Richard meines Lebens Rat verlor, mein Todeswort erreicht vielleicht sein Ohr", hoffte der sterbende Gaunt (II 1). Er täuschte sich, es war „verstopft durch andre, schmeichlerische Töne". Nun aber, im Angesicht des eigenen Todes, gehen Richard die Augen, wiewohl durch Tränen getrübt, auf. Er schaut die Welt, den Menschen, sich selbst, wie sie sind. Er ist ein Angerufener, wie Brutus. Die individuelle Selbstbespiegelung wandelt sich zu einem höheren Schauen und Durchschauen. Er darf nun den Spiegel zerschlagen, er braucht ihn nicht mehr für seine Person. So ist, wie so oft in der großen Dichtung des Barock, das Symbol letzter Verzweiflung zugleich Symbol der Wende. Richard geht mannhaft in den Tod, und selbst seine Verführer sterben, anders als Falstaff und Thersites (die sich dem Tod entziehen), aufrechten Hauptes, mit mannhaftem Wort. In der Begegnung mit dem Tod finden sie sich selber. Das Drama Richards und Bolingbrokes, die beide in anderer Weise Recht und Unrecht in sich vereinigen, ist reich an Widersprüchlichkeiten. Verrat und Treue - das Wort ,loyal' kehrt immer wieder - Recht und Unrecht, Größe und Verlorenheit stehen dicht beieinander. Das zynische Wort des Prinzen Heinrich (oben S. 330 f.) beleuchtet scharf den Zwiespalt der Dinge. Es ist, in sich selber widersprüchlich, zynisch und doch auch hoffend, gläubig. In der Haltung der trauernden Königin, die, obwohl milden Herzens, den Gärtner verflucht und von diesem dennoch gesegnet wird, im Familieneifer der Herzoginnen und dem ihnen entgegenstehenden Staatssinn der Herzöge spiegelt sich die Doppeldeutigkeit, die das Stück durchdringt. Aus Familiensinn schreit die Herzogin Gloster nach Rache, aus Familiensinn erfleht die Herzogin York Pardon. „Lehrst du Verzeihung, wie sie sich selbst zerstört?", ruft sie ihrem unerbittlichen Gatten, der sich gegen das eigene Blut wendet, zu, dost than teach pardon to destroy? (V 3). Dem Racheschrei der Witwe Glosters aber setzt Gaunt sein „Der Streit ist Gottes" entgegen und erhebt so das Recht des Staates als das höhere, das göttliche, über das der Sippe (I 2). In Richard II. geht die Welt des Mittelalters unter. Ihr höchster Wert war Ehre, ihr schlimmstes Verbrechen Verrat. Die Worte honour und reputation werden mit Nachdruck ausgesprochen. „Der reinste Schatz in diesem irdsehen Lauf ist unbefleckte Ehre (reputation), ohn die der Mensch bemalter Leim nur wäre" (gilded loam and painted clay). „Nehmt Ehre (honour) weg, so ist mein Leben hin" (I 1). In der Ehre, die in dem Geiste des Menschen gründet, stellt sich eine höhere Ordnung als die rein physische her. Reputation gewinnt als äußere Garantin, als äußeres Zeichen von honour 335

Sinn und Wert, das Gesellschaftliche wird bedeutungsvoll. Aber im Munde Norfolks, der, anscheinend im Auftrag des Königs, Gloucester gemordet hat, verscherzt die Rede von honour und reputation ihre Legitimität. Nicht nur Richard zerstört sich selber, die geweihte mittelalterliche Ordnung löst sich auf, ihre hohe Form wird zum leeren Formalismus. So stellt Richard II., wie E. M. W. Tillyard mit Recht betont, als historisches Drama den Untergang der mittelalterlichen Welt dar. Als nationales Drama ist es Preis der Heimat und Trauer um sie, und Warnung zugleich. „Wir wissen, keine Hand von Fleisch und Blut kann unsers Zepters heiigen Griff erfassen" (III 3) — das ist Verblendung, falsche Sicherheit genau wie Macbeths Glaube, daß kein vom Weib Geborener ihn töten könne. Der alte Gaunt, Richard anklagend, kündet die Schmach Englands (II 1), der Bischof von Carlisle, Richard verteidigend, prophezeit seine Selbstzerstörung (IV 1). York beklagt, wie England, andere nachahmend, sich selber verliere: Es äfft in niedriger Imitation italienische Moden nach. Alle aber preisen das geliebte Land, Richard ebenso wie Bolingbroke, Norfolk wie Gaunt, der Gärtner ebenso wie die Großen. Die Heimat ist, so wie sie in diesen Reden gefeiert wird, Quell unseres Wesens, Wurzelgrund unseres Daseins, wer sie verliert, verliert die Mutter, das Licht, das Zentrum seines Seins. So lebt im Preis „dieses zweiten Edens, halben Paradieses", „dieser kleinen Welt, dieses Edelsteins, in Silbersee gefaßt" (II1) nicht nur der Nationalismus eines jungen, erfolgreich aufstrebenden Volkes, zugleich spiegelt sich in ihm die Sorge des barocken Menschen, mit der Heimat sich selber zu verlieren. Richard II. ist im ersten Plan weder historisches noch nationales Drama, sondern Welttheater. Sogar der untheatralische Bolingbroke verfällt der Redeweise des Zeitalters: „Das Schauspiel ändert sich, sein Ernst ist hin: Man spielt ,den König und die Bettlerin'" (V 3). Für Richard wird sein Schicksal zur Mär, die die Herzen der Menschen und selbst der toten Dinge ergreifen soll. Sie werden trauern um den zerstörten Glanz im königlichen Angesicht des Menschen.

KÖNIG HEINRICH IV. Eine schlechte Welt! sag ich

(Falstaff).

Verrat und Bewährung seiner selbst, Preisgabe und Erwahrung menschlicher Legitimität sind Thema auch dieses Spiels, das, ohne zentralen Konflikt und ohne beherrschende Mittelfigur, in zweimal fünf Akten dahinströmt. Der erste Teil des Doppeldramas (A) ist kräftiger zentriert, der sorgenvolle König und der sorglose Falstaff, der eifernde Percy und der spielende Prinz halten sich die Waage. Der zweite Teil (B), ohne Percy, fließt breiter und formloser, die Falstaffszenen wuchern - vielleicht ein Liebesdienst am Publikum. Das Ganze, zusammengehalten durch die Ausrichtung auf das Königsschidksal, hat einen epischen Einschlag, es ist Welt-Darstellung, die einzelnen Charaktere und Szenen bekommen trotz ihrer inneren Verbindung durch Kontrast, Variation, Imitation eigenes Gewicht und eigenen Wert, stärker als dies in Richard II. der Fall war. Bolingbroke, einst kraftvoller Empörer, hat nun die Rolle des leidenden Königs. Er ist seines Königtums nicht froh geworden. Gerade weil er es tüchtig verwaltet hat, zum Besten des Landes, haben sich seine einstigen Helfer von ihm ab und gegen ihn gewandt, sie wollen ihre Eigen-Macht. Percy Hotspur (Heißsporn), der edelste unter ihnen, nennt jetzt den ermordeten Richard eine lieblich süße Rose, den König eine dornige Hundsrose (A I 3). Wenn Percys Vater einst Bolingbrokes „schön Gespräch" rühmend dem Zucker verglich, der Bittres in Süße wandelt (oben S. 332), verhöhnt Percy jetzt die selben freundlichen Reden - „lieber Heinz Percy", „guter Vetter" — als einen „Haufen Zuckerarcigkeit". Aber nur in Percys Augen ist Heinrich IV., ähnlich wie König Claudius für Hamlet, a king of smiles, ein „Fürst des Lächelns" (A I 3). In Wahrheit ist Heinrich, auf dem die Schuld an Richard lastet, ein Fürst des Grams (grief B IV 4). Sein Werk, die Befriedung und hegende Verwaltung des Landes, will nicht gedeihen, eine Welle des Aufruhrs nach der ändern rollt gegen ihn, der einst, halb gezwungen, selber Aufrührer war. Notwendigkeit, nicht frevler Ehrgeiz hat ihn zum König gemacht, necessity bog den Staat so, „daß ich und Größe einander küssen mußten" (B III 1). Trotzdem trifft ihn, wenn auch nicht im gleichen Maß wie John oder Macbeth, das Schicksal des Usurpators: Er wird nicht anerkannt. Der tote Richard, noch immer Fürst im Reiche der Phantasie, wächst in der Vorstellung des Volkes zum Märtyrer, zum Heiligen empor; in seinem Namen wird die Empörung gegen einen Herrscher vorgetragen, der doch im Bereich der staatlichen Realität Treffliches leistet und so sich durch die Tat legitimiert. Heinrich krankt, in seinem mißratenen Sohn glaubt er den eigenen Niedergang und den seines Werks 337

sichtbar vor Augen sehen zu müssen, und erst im Tod darf er erkennen, daß dieser Sohn nicht Zeichen göttlichen Verdikts, sondern gerade der Gnade, der Rechtfertigung ist. Es bedarf des Kreuzzuges nicht, Heinrich IV. stirbt im eigenen Hause in „Jerusalem". Prinz Heinz (Hai), erstgeborener Sohn eines Königs, der selber nicht kraft geheiligten Erbrechts auf den Thron gelangte, flieht den Hof, den Vater, und treibt sich, niedrige Gesellschaft suchend, in den Schenken herum. Man hat das psychologisch erklären wollen: Heinz ermißt, welch eine Bürde auf dem mühsam sich durchsetzenden König lastet, er fühlt, was von ihm selber erwartet wird; der Anspruch schreckt ihn, er spürt den Druck einer auf ihn zukommenden Belastung und muß zunächst revoltieren, er entweicht in das Reich lockeren Spiels (Tillyard). Solche rein realistische Erklärung wird, abgesehen davon, daß sie spekulativ ist und sich kaum auf den Text stützen kann, der Bedeutung des Phänomens nicht gerecht. Sie ist, menschlichpsychologisch gesehen, ganz einleuchtend, aber sie reicht nicht aus. Der Niederstieg des jungen Prinzen in die Unterwelt manifestiert nicht nur Freiheitsdrang, Spielfreude, Lust sich auszuleben und Welt in sich aufzunehmen, sie hat außerdem ihren spezifisch barocken und ihren urbildlichen Sinn. Heinrich der kranke König, Heinz der verkannte Königssohn, der sich im Staub der Wirtsstuben verbirgt und beschmutzt, der dann mitten in der Schlacht emportaucht, schlagartig zum Retter des Königs wird, nachher aber sich wieder entzieht (gleichgültig, ob der Lügner Falstaff die Ehre des Sieges über Percy auf sich zu lenken vermöge oder nicht), um erst im letzten Augenblick sein inneres Königtum vor den Augen zuerst des alten Herrschers, dann des gesamten Hofes und des Reichs zu offenbaren — das ist, reich differenziert und ausgegliedert, das vertraute, einfache Erzählschema so vieler Volksmärchen. Selbst die Rolle des falschen Kutschers, der sich für den Drachentöter ausgibt, fehlt nicht, Falstaff hat sie zu spielen, und am Schluß steht wie im Märchen die Bestrafung des Bösewichts: Falstaff wird verbannt (und dadurch als Mensch und als Potenz vernichtet). Die Bedeutung dieses Grundgeschehens, das durch die vielgestaltigen, vielsinnigen Bilder und Vorgänge des Doppeldramas hindurch deutlich genug erkennbar ist, ergibt sich sogleich, wenn wir, wie die Betrachtung des dramatischen Kunstwerks es erfordert, den Bezug zum Titelhelden herstellen. Heinrich IV. sieht sich in seinem Sohn; dieser ist „das edle Bildnis meiner Jugend" (B IV 4), es bekümmert ihn, daß nach Gottes geheimem Ratschluß aus seinem eigenen Blut, aus ihm selber also, die rächende Geißel für ihn gezeugt sein soll (A III 2). Heinz seinerseits identifiziert sich mit dem Vater: Heinrich ist tot, aber Heinrich lebt (le roi est mort, vive le rot), und Heinrich folgt auf Heinrich, nicht Amurath auf Amurath. 338

Wild ist mein Vater in sein Grab gegangen, In seiner Gruft ruhn meine Leidenschaften, Und in mir überlebt sein ernster Geist, Um die Erwartung aller Welt zu täuschen... (B V 2) So erweist sich diese Nationalhistorie, die so viel Welt, so viel Außenwelt in sich birgt, zugleich auch als ein innerseelisches Drama, die Identifikation bewirkt eine Art Einheit der Person. Mit Richard II. ging die Legitimität des königlichen Daseins durch ihres Trägers eigene Schuld verloren, Heinrich IV. mußte, indem er die Krone raubte, in die Niederungen steigen, sich beschmutzen, er zog die glänzende Erscheinung seines Vorgängers - der zugleich sein Verwandter war — in den niederen Hof herunter (oben S. 329). Das Königtum ist in Heinrich IV. verdunkelt, eine neue Legitimität muß erst erstehen. Hals Untertauchen in Falstaffs Welt der Wertverwirrung bringt diesen Schwebezustand zur Anschauung. Der König sieht sich selber in ihm untergehen, er möchte ihn für einen Wechselbalg halten (A I 1), Falstaff nennt ihn „Bastardsohn des Königs" (B II 4), aber er ist im wirklichen wie im höheren Sinne der echte Königssohn (vgl. oben S. 330 f.). Sein Königtum hat sich wie das des Grindkopfs, des Aschensitzers, Schweinehüters, Dummlings im Märchen den Blicken der Welt verborgen, es ist, als müßte es im Dumpfen, Verborgenen reifen, um dann um so strahlender hervorzutreten. In Shakespeares Drama stellen sich die Dinge freilich komplexer dar als im Märchen. Der Prinz bleibt auch als Kumpan Falstaffs ein Prinz. Er freut sich an ihm und distanziert sich von ihm wie von ednem drolligen Hund (Tillyard); er schlägt ihm ein Loch in den Kopf, als er den König verspottet (B II 1); statt daß er sich mit ihm an Königsgut vergreift und so, wie etwa Moli^res Avare, sich selber bestiehlt, nimmt er ihm vielmehr das Geraubte wieder ab: in dieser Szene schon verstößt er Falstaff symbolisch. Der aber hat ein taubes Ohr, er vernimmt, ähnlich wie Percy, nur den eigenen Schall, und achtet es für nichts, als Hai ihm bar heraussagt, daß er ihn verbannen werde (oben S. 152 f.). In Falstaff verbannt Hai die Gefahr des Sichversprühens, des Lebens um des Lebens willen. So führt er nicht, wie Heinrich IV. es gefürchtet hat, das Chaos herauf, sondern festigt, in voller Kenntnis der chaotischen Mächte, den Kosmos. Nicht mehr belastet von unmittelbarer Schuld wie sein Vater, vermag er freier, unbeschwerter, überlegener das Königsamt zu erfüllen als dieser. In ihm ist Heinrich IV. und sein ganzes Wirken nicht, wie es eine Zeitlang scheint, verdammt, sondern gerechtfertigt, verklärt. Eine neue Legitimität ist wie durch ein Wunder ans Licht getreten. Percy jedoch, der edel Angelegte, aber Ruhelose, Überspannte, Erregte, sinnlos Eifernde stirbt als Opfer, er ist der Sohn seines Vaters, des mehrfachen Verräters; Percys Untergang nimmt den Northumberlands und das heißt den schließlichen Untergang des Verrates überhaupt 339·

voraus. Am Ende des Doppeldramas steht das Königtum, das Königsdasein des Menschen, gerechtfertigt und gefestigt da. Nach dem Sündenfall in Riaard II. hat es sich, in mühsamem Ringen, erneuert, der Verrat hat sich in sich selber verzehrt, das Bastardtum des Königssohns sich als Schein erwiesen; Prinz Hai ist, schon in der Schlacht, nicht der Verderber, sondern der Retter seines Vaters. In dem Spiel mit Schein und Sein äußert sich die barocke Komponente von Hals Verhüllung. Ich kenn euch afl und unterstütz ein Weilchen Das lose Treiben eures Müßiggangs. Doch darin tu ich es der Sonne nach, Die niederm, schädlichem Gewölk erlaubt, Zu dämpfen ihre Schönheit vor der Welt, Damit, wenn's ihr beliebt sie selbst zu sein, Man die vermißte um so mehr bewundre, Wenn sie durch böse, garstge Nebel bricht Von Dünsten, die sie zu ersticken schienen. So erklärt sich der Prinz gleich zu Beginn des Stückes selber (I 2), in primitiver Spruchbandtechnik. Mag sein, daß es ein späterer Einschub ist, jedenfalls soll es das Publikum über den wahren Sadiverhalt aufklären: der Prinz darf mit seiner Umgebung nicht identifiziert werden. Es ist, darin liegt die Primitivität, eine ohne Anstrengung problemlos hingelegte Erklärung — wie anders das angestrengte Ringen nach Erkenntnis in den Hamlet-Monologen. Man sollte zur Rechtfertigung dieser Rede Hals nicht, wie Robert Fricker es tut, annehmen, der Prinz kenne sich eben nur halb. Hier ist gut Schückingsche Nüchternheit am Platz; der Monolog ist für die Ohren des Publikums bestimmt und fällt in seiner Direktheit aus dem Stil des Stückes heraus — anders als die Selbsterklärung Hals im Drang der Schlacht: da ist sie natürlich, angesichts des Todes und der Rettertat ergibt sich die direkte Äußerung von selber. Der Monolog / know you all aber gibt Hals Verhalten eine Bewußtheit, eine Eindeutigkeit, die es, wenn es nicht so mächtig für sich selber spräche, flach erscheinen ließe. Deutlich ist in dem Monolog das barocke Element. Der Prinz spielt eine Rolle, er trägt eine Maske, er ist nicht er selbst. Daß dies nicht nur, wie es hier den Anschein hat, sein freier Wille ist, daß er alles aus tieferer Notwendigkeit vollziehen muß, deutet sich in Hals großer Rede am Schluß des Spiels an: Er ist wie aus einem Traum erwacht und verachtet nun, im Wachen, den wüsten Traum, er tut sein früher Selbst hinweg. „Denk nicht, ich sei das Ding noch, das ich war" (B V 5). Wild ist mein Vater in sein Grab gegangen, In seiner Gruft ruhn meine Leidenschaften, 340

Und in mir überlebt sein ernster Geist, Um die Erwartung aller Welt zu täuschen, Propheten zu beschämen, auszulöschen Die faule Meinung, die mich niederschrieb Nach meinem Anschein. Der Strom des Bluts in mir Hat stolz bis jetzt in Eitelkeit geflutet, Nun kehrt er um und ebbt zurück zur See, Wo er sich mit der Fluten Höh soll mischen, In ernster Majestät hinfort zu fließen (B V 2). Hier einen sich urbildliche und barocke Wesensart des Geschehens. Die Majestät des Menschen hat sich wieder hergestellt. Des Prinzen Verlorenheit spiegelte variierend, auf anderer Ebene, den großen Vorgang: die Verlorenheit des Königtums in der trüben Zwischenzeit zwischen Richards Selbstverrat und dem Wiedergewinn echter Legitimität mit der Thronbesteigung Heinrichs V. Barock ist die Plötzlichkeit des Umschlags - gerade im „Kronenraub" Hals, der den Vater zunächst mit Verzweiflung erfüllt, offenbart sich seine wirkliche Berufung und Zuverlässigkeit, gerade der Richter, der das Ärgste fürchtet, wird zu höchst erhoben, und Falstaff, der Höchstes erwartet, stürzt in den Abgrund. Falstaff, dessen Bedeutung und Wesensart wir im Abschnitt „Komödie" skizziert haben (oben S. 148-155), ist ein „Ritter vom Orden der Nacht" (A I 2). Er weiß seinen Namen nicht (A II 4, oben S. 150). Mit diesen beiden Aussagen spricht er sich selber das Urteil. Er gehört, versunken auf den Meeresgrund wie Sir Toby Belch in Was ihr wollt, der Unterwelt an, und er hat seinen Namen vergessen. Er verkennt sich, verkennt und verrät den Menschen in sich. „Mein Wanst, mein Wanst, mein Wanst ruiniert mich" - womb nennt er seinen Bauch und vergleicht ihn damit einem schwangeren Leib - aber er ist unfruchtbar (vgl. oben S. 154 f.). Sein Bauch ist es, der ihm seinen Namen gibt. „Ich habe eine ganze Schule von Zungen in diesem meinem Bauch, und keine einzige von allen spricht ein ander Wort als meinen Namen" (B IV 3). Falstaff empfängt seinen Namen vom Bauche her statt vom Geist. „Wir wollen nichts tun als essen", singt Stille (Silent), eine Kreatur aus Falstaffs Dunstkreis (B V 3). Falstaff selber stimmt das hohe Lied des Weins an (B IV 3), das hohe Lied des Lebens; das, weil es nichts Höheres kennt als sich selber, an der eigenen Üppigkeit zugrunde geht. Dabei ist gerade Falstaff begabt mit Geist, mit Imaginationskraft wie kaum ein anderer; aber dieser Geist setzt seinem Leben kein Ziel, sondern stellt sich nur in dessen Dienst. Nicht ohne Recht, aber mit frivoler Sinnverkehrung - als ob der Wanst sein Schicksal und nicht vielmehr seine Schuld wäre - sagt Falstaff: „Hätte ich nur einen einigermaßen mäßigen Bauch, so wäre ich schlechtweg der tätigste Kerl in Europa", the most active 341

fellow in Europe (B IV3). So wie das Leben in Falstaff sich selber genießt und dabei sich auflöst, so genießt auch sein Geist sich selber und verflackert. Hierin) ist Falstaff das Widerspiel Percy Hotspurs. Dieser verachtet das Leben, sein eigenes und das der ändern, und strebt nur nach Ehre. Seine Geringschätzung des Poles „Leben" äußert sich in der Art, wie er mit seinem Weibe umgeht und mit der Landschaft - sein Wille möchte einen Flußlauf ändern (A III1) - sowie, farcenhaft grotesk, in der Rede, die Prinz Hai ihm in den Mund legt: von den 14 Schotten, die er umgebracht a trifle, a trifle, „Bagatell, Bagatell" (A II 4). Percy ist „der Ehre König" (A IV 1), er will nicht langes Leben, sondern das kurze Leben recht verbringen (A V 2); Falstaff ein Feigling, ein Nichtstuer, Percy tapfer und tätig, active-valiant (A V 1), ein „großes Herz", das der Verlust des Lebens nicht kränkt, nur der seiner Titel (A V 4): Percy ist ebenso einseitig vom Nomos her bestimmt wie Falstaff von der Physis. Die Ehrfurcht vor dem Leben fehlt ihm wie Falstaff jene vor den geistigen Werten. Deshalb geht sein Ehrgeiz in die Irre, Prinz Hai spricht im selben Atemzug von Percys edlem Herz (great heart) und seiner schlechtgewobnen Ehrsucht (ill-weaved ambition A V 4). So sind Falstaff und Percy Kontraste und gleichen einander doch. Nicht nur in der Verlorenheit an einen einzigen, alles andere überwuchernden Daseinsinhalt, sondern auch in dem Überschuß an Phantasie, der beiden eigen ist. Percy „stellt sich eine Welt von Bildern vor, doch nicht die Form des, was er merken sollte". „Die Einbildung (imagination) von großen Taten reißt jenseits der Schranken der Geduld (patience) ihn hin" (A I 3). Falstaff läßt seine geniale Imagination verlottern, Percy gibt sich der seinen so ganz hin, daß ihm der Boden unter den Füßen schwindet und er, in anderer Weise, fast ebenso sehr sich selber verliert wie der andere. Er ist nervös, zerfahren („Hol's die Pest, die Karte vergaß ich mitzubringen" — „Nein, hier ist sie" A III 1); gerade weil er, auch hierin Falstaff nicht ganz unähnlich, sein Ohr nur seiner eignen Zunge leiht, verliert er sich selber, wird zum „wespengestochnen, ungeduldgen Tor", verfällt weibischer Wut (A 13). Der sterbende Percy beklagt, daß der Geist (thought) Sklave des Lebens, das Leben aber Narr der Zeit sei (A V 4). Falstaff hingegen sieht in der Ehre den Feind des Lebens: Grund genug, sie abzulehnen. Sie treibt uns dazu, unser Leben aufs Spiel zu setzen, aber sie vermag es nicht zu heilen; „sie hat kein Geschick in Chirurgie", sie kann weder ein Bein noch einen Arm ansetzen. Sie ist nur ein Wort, sie ist Luft (A V 1). Der Erzbischof von York indes, der ebenfalls das von Shakespeare so gern angewendete Bild des Arztes braucht, sieht, wiewohl selber als Rebell das Chaos vermehrend, daß die eigentliche Krankheit seiner Zeit keine physische, sondern eine moralische ist. Ehre, die nicht, wie Falstaff meint, nur äußeres Ansehen ist, 342

sondern, wie Percy und Douglas es erweisen, Mut zur hohen Tat, Ehre könnte hier Arzt sein. Wir sind alle krank, Und unser schwelgendes und wüstes Leben Hat in ein hitzig Fieber uns gebracht, Wofür wir bluten müssen. An dem Übel Starb unser König Richard, angesteckt. Allein, mein edler Lord von Westmoreland, Ich gebe hier für keinen Arzt mich aus, Noch schar ich wie ein Feind des Friedens mich In das Gedränge kriegerischer Männer. Vielmehr erschein ich wie der drohnde Krieg Auf eine Zeit, die üppigen Gemüter Zu heilen, die an eignem Glücke kranken, Zu reingen die Verstopfung, welche schon Die Lebensadern hemmt (B IV 1). Falstaff ist die leibhaftige Verkörperung dieser Üppigkeit der Zeit, die an sich selber zugrunde geht. Nicht umsonst wird König Richard hier genannt, der geistige Urheber der gesetzlosen Schwelgerei. Falstaff teilt mit ihm den Überschuß an Phantasie, ähnlich wie Percy, bei dem das Gleichmaß in anderer Art gestört ist. Richards Gefühlsphantastik ist in den beiden Figuren nach unten und nach oben abgeleitet. Falstaffs Phantasie umspielt seinen Leib und plustert ihn auf, bei Percy ist es das Ethos, das krankhafter Wucherung verfällt. Wucherung, Verwirrung, Zwiespalt ist der Charakter der Epoche, die Zeit ist aus den Fugen. Hundert Spielformen des Chaotischen erscheinen; der Bischof verwandelt Aufruhr in Religion und nennt Rebellion göttlich (B I 1) - das Wirtshaus „ist um und um gekehrt, seit Stallknecht Robin tot ist"; „sie wollen uns niemals einen Nachttopf geben, und da schlagen wir's in den Kamin ab, und die Kammerlauge, die heckt euch Flöhe wie ein Froschlaich" (A II 1). Das sind -die Extreme: Zwielicht hoher Werte, und niedriges Chaos, aus menschlicher Enge geboren. Dazwischen mannigfache Abtönungen, die Sprachverwirrung etwa in Mortimers Ehe, die Wut Northumberlands, der den Geist Kains beruft und Ordnung sterben lassen will (B I 1), die detaillierte Chaos-Diagnose des Bischofs: „Verkehrtes Trachten, Vergangnes, Künftges hoch, nie Jetzges achten!" (B I 3). „Eine schlechte Welt", sagt Falstaff; ihm legt Shakespeare dieses traurige Facit in den Mund. Er ironisiert es dadurch, und in ihm ähnliche Unkenrufe, die, so häufig in seinem Werk, ertönen. Edgar, vom Schicksal geschlagen, vermißt sich zu keinem solchen Verdikt, wohl aber Falstaff, der im Menschen nur einen „närrisch zusammengekneteten Lehmkloß sieht" (B I 2). A bad world, I say (A II 4). 343

Auch Heinrich IV. täuscht sich, wenn er verwirrte Tage, faule Zeiten kommen sieht (B IV 4). „O Gott, es wird sich alles, fürchte ich, verkehren", all will be overturn'd, klagt der Oberrichter (B V 2). Aber Prinz Hai kommt als Arzt. Er, der in gewissem Betracht dem Zögerer Hamlet gleicht (wie Percy dem Eiferer Laertes), gelangt schließlich zur Tat und vollzieht die Reinigung. Nicht durch Rache. Er erhöht den Richter, der ihn einst gezüchtigt, und er verbannt seinen Kumpan (indem er ihm gleichzeitig Unterhalt gewährt und Bekehrung, reform von ihm verlangt). Er ehrt den hohen Sinn Percys und beklagt nur dessen Irregehen (A V 4); er ehrt, in echt höfischer Haltung (courtesy), den Mut und die hohen Taten des Douglas und gibt ihn ohne Lösegeld frei (A V 5). Prinz Heinz heilt sich selbst und in sich die Welt. Seit der Affäre von Gadshill schrumpft die Falstaffwelt um ihn und in ihm. In seinem Vater rettet er sich selbst, und am Schluß darf er die eigene Bekehrung bekennen. „Der Strom des Bluts in mir hat stolz bis jetzt in Eitelkeit geflutet, nun kehrt er um..." (B V 2, vgl. oben S. 340 f.). Die schwerelose Eleganz des Prinzen bleibt ihm, als er König ist, treu. Hai ist ein echter Coriolan, echter als der wirkliche Träger dieses Namens: Er läßt es sich an der Tat genug sein und vermag auf ihre Anerkennung zu verzichten, verschmäht es, sie als die seine nachzuweisen (vgh oben S. 338). „Das ist für mich der tödlichste Verdruß: Mein Weib versteht kein Englisch, ich kein Wälsch", klagte der Rebell Mortimer (A III1). König Heinrich V. aber benützt die Sprachschwierigkeit in der Werbung um die französische Prinzessin zu reizvollem Spiel. Nicht die Sachlage, das stellt Shakespeare immer wieder dar, ist entscheidend, sondern das, was wir aus ihr machen, unsere Einstellung zu ihr. Prinz Heinz verwandelt sich, und er wandelt die Dinge, damit das beste Erbe Percys übernehmend, der die Freiheit des Menschen verkündete, phantastisch in seinem Vorsatz einen Fluß abzulenken, aber echt in seinem Hohn über Glendowers düstere Ahnungen und Prophezeiungen, in seiner Lust, den Teufel wegzuspotten (A III 1), und in seinem Bekenntnis zum Geist, der Krankheit überwinden kann: „Wie hat er Muße krank zu sein in so bewegter Zeit?" (A IV 1). Heinrich IV. vermag nicht mit den Dingen zu spielen wie sein Sohn, aber er nimmt, in seiner schwereren Art, das Schicksal an. „Sind ddese Dinge denn Notwendigkeiten? Bestehn wir auch sie wie Notwendigkeiten" (B III1). Er plant einen Kreuzzug, obwohl ihm prophezeit worden, daß er in Jerusalem sterben werde, und zuletzt läßt er sich zurück in das Zimmer tragen, in dem er in Ohnmacht fiel und das, wie er jetzt erfährt, „Jerusalem" genannt wird (eine feine Akzentuierung von Holinsheds Bericht, wo der Sterbende sich schon in diesem Zimmer befindet und, als er dessen Namen hört, Gott dafür preist). Falstaffs Maxime: „Ein guter Kopf (wit) weiß alles zu benutzen, ich will Krankheiten zum Vorteil kehren" (B I 2) ist an sich gar nicht schlecht, es ist die niedrigere, aber zugleich genialere 344

Form von Heinrichs „Notwendigkeiten gilt es zu bestehen". Wie Percys Ehrgeiz edel ist, nur auf falsche Ziele sich richtet, so lebt auch in Falstaffs Wendigkeit eine höchste Kraft des Menschen, zum Leibesdienst erniedrigt, in ihm sich versprühend, aber doch großartig lodernd. Das ist es, was den Prinzen an Falstaff fasziniert: die einzigartige Fähigkeit, jeder Situation ihren Vorteil abzugewinnen, sie durch seinen eigenen Geist umzuscharfen. In diesem Sinne ist das Leben wirklich ein Spiel, aber ein hohes, Falstaff vergißt seinen Namen und macht es zu einem niederen. Der Prinz indessen, König geworden, vermag das hohe Spiel zu spielen, er verwandelt, wie Northumberland (B 11) es vergeblich versucht, Gift in Arznei, er gewinnt durch den „Kronenraub" das Herz des todkranken Königs, er macht den Oberrichter, der ihn gezüchtigt, zu seinem obersten Diener, seinem „Vater" (B V 2). Der Oberrichter selber hat ihn dazu bewegt, indem auch er ein hohes Spiel spielte, ein Spiel mit des jungen Königs Imagination, die ihm in kühler Überlegung (cold considerance) die Dinge zeigt, wie sie sind und wie sie sein sollen. Falstaffs Imagination: phantasievoller Selbstgenuß. Percys Imagination: ungeduldiges, voreiliges Sichtummeln in der Bilderwelt, das die echte Verwirklichung erschwert statt sie vorzubereiten. Des jungen Königs Imagination: „Kalte Erwägung", von außen angeregt und den nach außen gewendeten Entschluß zeugend. Hier allein, in der Koinzidenz von Nüchternheit und Vorstellungskraft, wird die Imagination fruchtbar. Der Oberrichter besteht die vermutete Ungnade in seiner Phantasie und fühlt sich nun gegen sie gewappnet (B V 2). Heinrich hat von Falstaff, von Percy und vom Oberrichter gelernt, er ist ihrer aller Erbe. Recht als geistige Verpflichtung, Ehre als geistiger Antrieb und Phantasiespiel als freies Geistesleben - am stärksten fühlt er sich zu FalstafF hingezogen, den er zugleich am schärfsten ablehnt. „Ich könnte besser einen Bessern missen" (A V 4). In Falstaff ist Richard II., der Ritter des Mittelalters, in die Unterschicht abgesunken. Falstaff ist Richards Zerrbild, in seiner Aufgedunsenheit und Betrunkenheit kommt das wuchernde, seine Form verlierende Leben zum Bild. Falstaff nimmt, wie seine Spießgesellen, gern die Worte Tod und Henker in den Mund - ihm aber darf man nicht vom Tode sprechen (B II 4), er hat Angst vor dem Untergang, den er doch selber herbeiführt. Noch in dem Schlammgrunde, in den er versunken, muß Falstaff — denn ganz hat er seinen Namen nicht vergessen - den König spielen. König sein wäre die eigentliche Aufgabe des Menschen. Prinz Heinz schleicht sich von seinem realen, tüchtigen, schuldbedrückten Vater weg und lauscht den Fanfaren des versunkenen Königtums. In ihm soll es in verjüngter Gestalt wieder auferstehen. Selbst der nüchterne Heinrich IV. braucht das beliebte Bild des Welttheaters. „Denn all mein Regiment war nur wie eine Szene, die diesen Inhalt spielte" 345

(B IV 4). Aber er ist zu real und zu sehr im Schicksalszwang, um frei aus der Tiefe seines Wesens zu spielen und zu schauspielern. Wenn er schauspielert, dann tut er es, karg und rational, im Dienste politischen Zwecks: Er zeigt sich, um die Wirkung nicht abzunützen, selten im Volk (A III 1). Auch der Zug ins heilige Land, der doch seine Schuld sühnen soll, muß zugleich noch irdischem, politischem Zweck dienen: „Beschäftge stets die schwindlichten Gemüter mit fremdem Zwist..." (B IV 4). Der von gespenstiger Vergangenheit verfolgte, um sein Werk sich sorgende König entbehrt des Schlafs, er muß seine Untertanen darum beneiden. Wie viel der ärmsten Untertanen sind Um diese Stund im Schlaf! - O Schlaf! O holder Schlaf! Du Amme der Natur, wie schreckt ich dich, Daß du nicht mehr zudrücken willst die Augen Und meine Sinne tauchen in Vergessen? . . . (B III 1) Falstaff hingegen, Meister in der Kunst des Vergessene, liegt nfest eingeschlafen hinter der Tapete, schnarchend wie ein Pferd", während er weiß, daß der Sheriff da ist, ihn zu suchen. Das ist nicht mehr 'gentle sleep', nur freche Sorglosigkeit. „Wir können es so sicher tun wie schlafen", lockt Poins ihn einmal, und Falstaff wird dabei, es ist die Affäre von Gadshill, übel hereingeleimt (A I 2). „Ich wollt, es wäre Schlafenszeit, Hai, und alles gut", sagt er, als er zur Schlacht antreten soll, unmittelbar vor dem Selbstgespräch, in d.im er, der „Ritter", der Ehre (honour) absagt (A V 1). Es ist der unerlaubte Schlaf des Trägen, Feigen, der keine Verantwortung kennt. Er sucht Sicherheit im Schlaf — das aber ist bloß die Sicherheit des Todes; „gewiß, ja, das ist gewiß", schwadroniert Shallow (Schaal) einmal, „sehr sicher! sehr sicher! Der Tod, wie der Psalmist sagt, ist allen gewiß, alle müssen sterben." (B III 2). Percy jedoch, ebenso einseitig und abwegig wie Falstaff, nur nach der ändern Richtung hin, sucht Sicherheit nicht im Schlaf, sondern gerade in der Gefahr. „Aus der Nessel Gefahr pflücken wir die Blume Sicherheit." Den „goldnen Schlaf" kennt er nicht, er murmelt und schreit und schwitzt im Schlaf ... (A II 3). Der Erzbischof macht Rebellion, „um unsre Sicherheit zu wahren" (B IV 2). Nur Prinz Heinz, der nie von Sicherheit und goldnem Schlaf spricht, besitzt beide. Gelassen vermag er zu spielen, straff zu handeln. Heiterkeit und Ernst, Geduld und Ehrgefühl einen sich in ihm, er ist der Cortegiano, der umfassend erzogene, voll sich entfaltende Mensch, der König. Schlaf, Sicherheit, Verrat, häufiges Fragen nach der Zeit, konzentrisch eintreffende Heils- und Unheilsbotschaften, trügerisch oder wahr - die Anklänge an Caesar, Macbeth, Coriolan sind zahlreich. Die Luft der großen Tragödien ist nahe. Keine tragischen Entscheidungen sind zu fällen, die Stellungen sind alle schon bezogen. Aber einsam gehen d