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German Pages 194 [196] Year 1996
Soziologie für Pädagogen Von
Professor Dr. Johann Dieckmann und
Diplom-Pädagoge Gerhard Breitkreuz
Zweite, durchgesehene Auflage
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Die Deutsche Bibliothek - dP-Einheitsaufnahme Dieckmann, Johann: Soziologie für Pädagogen / von Johann Dieckmann und Gerhard Breitkreuz. - 2., durchges. Aufl. - München ; Wien : Oldenbourg, 1996 ISBN 3-486-23782-9 NE: Breitkreuz, Gerhard:
© 1996 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München
ISBN 3-486-23782-9
Inhaltsverzeichnis
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D e r I n t e r a k t i o n i s m u s als O r i e n t i e r u n g s m i t t e l f ü r pädagogisches H a n d e l n Zur Definition des Interaktionismus 1. Strukturen der Interaktion in Unterricht und Schule 2. Belohnung und Bestrafung in der Schule aus interaktionistischer Sicht ' 3. Identitätsfindung in der Schule 4. Stigmatisierung von Schülerinnen und Schülern 5. Interaktionistische Perspektiven einer Soziologie der Behinderung und sozialen Isolierung 6. Unterschiedliche Schülerrollen 7. Pädagogische Berufe aus der Sicht interaktionistischer Rollentheorie Literatur zum 1. Kapitel
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Die K o m m u n i k a t i o n s t h e o r i e als g r u n d l e g e n d e P e r s p e k t i v e f ü r pädagogisches H a n d e l n Einleitende Bemerkungen zur Theorie des kommunikativen Handelns 1. Der herrschaftsfreie Diskurs in der Schule 2. Verschiedene Kommunikationsprozesse in der Schule 3. Lehrerzimmer und Schulhof als Kommunikationsmedien 4. Kommunikation im Unterricht 5. Kommunikationssperren in der Schule 6. Kommunikative Aspekte der Konfliktregulierung Literatur zum 2. Kapitel
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Die kritische Theorie in ihrer B e d e u t u n g f ü r pädagogisches Handeln Grundzüge der kritischen Theorie 1. Kritische Theorie und Erziehung 2. Der Lehrberuf aus der Perspektive der negativen Dialektik . . . 3. Autoritätsgebundene Persönlichkeit und Vorurteil 4. Zur Problematik der Ideologiebestimmtheit der schulischen Lebenswelt aus der Sicht der kritischen Theorie Literatur zum 3. Kapitel
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S y s t e m t h e o r i e u n d Organisationssoziologie als Orientierungsmodelle f ü r pädagogisches H a n d e l n 58 Bemerkungen zur Definition der soziologischen Begriffe Struktur und System 58 Teil 1: Systemtheorie und pädagogisches Handeln 63 1. Die Schule als soziales System 63 2. Struktur, Funktion und System in der schulischen Lebenswelt . 66 3. Gruppenspezifische Erwartungen im pädagogischen Arbeitsfeld 67 4. Entwürfe zur Theorie der Sozialisation 69
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INHALTSVERZEICHNIS 5. Anwendung systemtheoretischer Positionen auf die pädagogische Arbeit 6. Die systemorientierte Familienbehandlung als Beispiel für angewandte Systemtheorie 7. Anwendung des systemorientierten Ansatzes zur Behandlung und Therapie Jugendlicher mit normabweichendem Verhalten . . . 8. Normabweichendes Verheilten aus strukturfunktionaler und systemtheoretischer Sicht 9. Soziales System und psychisches System 10. Zur Problematik der Geschlossenheit und Offenheit sozialer Systeme 11. Radikaler Konstruktivismus und Systemtheorie Teil 2: Organisationssoziologie und pädagogisches Handeln . . . . 1. Organisationssoziologische Grundlagen pädagogischen Handelns 2. Verwaltungssoziologische Grundlagen für den Aufbau pädagogischer Systeme Literatur zum 4. Kapitel
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Strukturalismus und pädagogisches Denken 96 1. Zur Definition des Strukturalismus 96 2. Strukturalismus und Soziologie . . . 97 3. Strukturalismus und Literatursoziologie 97 4. Strukturale Soziologie - Michel Foucault 99 4.1 Die Geburt der Klinik - Das Sichtbare und das Sagbare . . . . 101 4.2 Überwachen und Strafen - Mikrophysik der Macht 103 Literatur zum 5. Kapitel 108
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Die Figurationstheorie als Orientierungsgrundlage für pädagogisches Handeln 109 1. Das Figurationsmodell Norbert Elias' 109 2. Zur Definition des Figurationsmodells 109 3. Figuration in der Schule 110 3.1 Der Schulbetrieb in der Grundschule aus figurativer Sicht . . .111 3.2 Der Schulbetrieb in der Privatschule aus figurativer Sicht . . .112 3.3 Die Schulleiterrolle in der Grundschule aus figurativer Sicht . .112 3.4 Die Aufgaben der psychologischen Begleitung und Beratung in der Privatschule aus figurativer Sicht 112 4. Etablierte - Außenseiter - Figuration 114 5. Zeit und Lernen 115 6. Engagement und Distanzierung 116 Literatur zum 6. Kapitel 117
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Die Handlungstheorie als Basis für die pädagogische Theorie und Praxis 118 Zur Definition der Handlungstheorie 118 1. Die idealtypische Begriffsbildung als methodisches Instrument im Bereich der pädagogischen Planung 121 2. Das handlungstheoretische Konzept der Wertfreiheit in seiner Bedeutung für das Lehr verhalten 123 3. Aus der philosophischen Tradition der Handlungstheorie . . . . 125 4. Führen als soziales Handeln 127
INHALTSVERZEICHNIS
Literatur zum 7. Kapitel 8
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Verbindungslinien zwischen der Soziologie und verschiedenen Schulfachern 130 1. Soziologie und Biologie 130 1.1 Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und Humanbiologie 130 1.2 Strukturalismus und Biologie 134 2. Soziologie und Geographie 136 3. Soziologie und Geschichte 139 4. Kunst- und musiksoziologische Beiträge der kritischen Theorie . 141 5. Sprache und Interaktion (Soziolinguistik) 144 6. Handlungstheorie und politische Bildung 149 7. Systemtheorie und Philosophie 151 8. Radikaler Konstruktivismus und Physik 156 9. Eine handlungstheoretische Grundlegung der Religionssoziologie 159 10. Zivilisation und Figuration im Sport 162 11. Die Wirtschaft aus systemtheoretischer Sicht 163 Literatur zum 8. Kapitel 169
Glossar
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Index
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VIII
Über die Soziologie für Pädagogen Die Zielsetzung dieses Buches besteht darin, soziologisches Grundlagenwissen für pädagogische Aktivitäten bereitzustellen. Die soziologische Denkweise bildet grundsätzlich eine komplexe Einheit, die sich von verschiedenen Schwerpunkten aus darstellen läßt. Die Reihen, in die soziologisches Grundlagenwissen hier eingeordnet wird, sind die folgenden Denkansätze: Interaktionismus, Kommunikationstheorie, kritische Theorie, Systemtheorie einschließlich Strukturfunktionalismus, Strukturalismus, Figurationstheorie und Handlungstheorie. Quer durch die genannten ausgewählten Theorieansätze hindurch wird der Frage nachgegangen, ob und in welchem Umfang die Theorien mehr am Subjekt oder an Strukturen und Systemen orientiert sind, d. h. ob es sich jeweils um Handlungstheorie oder um Struktur- und Systemtheorie handelt. Ein wichtiges Orientierungsmittel für pädagogisches Handeln ist der Interaktionismus. Die Aktivitäten der Handelnden erfolgen vorwiegend in Reaktion aufeinander. Diese Perspektive wird verfolgt im Hinblick auf Interaktionen in Unterricht und Schule, Belohnung und Bestrafung, Identitätsfindung in der Schule, Stigmatisierung von Schülerinnen und Schülern, Behinderung und soziale Isolierung und unterschiedliche Schülerrollen, Rollentheorie. Die Kommunikationstheorie als grundlegende Perspektive für pädagogisches Handeln bezieht sich vor allem auf die durch Habermas begründete Tradition. Der Zwang zum Konsens und zur Verständigung in diesem Konzept entspringt aus dem Gefüge einer Theoriekonstruktion, die sowohl an die mehr oder weniger überschaubare und als fraglos empfundene Lebenswelt wie auch an die Entität der Gesellschaft gebunden ist. In diesem Zusammenhang als bedeutsam für pädagogisches Handeln werden hier angesehen: der herrschaftsfreie Diskurs in der Schule, Kommunikationsprozesse in der Schule, Lehrerzimmer und Schulhof als Kommunikationsmedien, Kommunikation im Unterricht und Kommunikationssperren in der Schule. Die kritische Theorie wirft dem Positivismus vor, er habe es mit dem Disparaten zu tun, dem subjektivistisch interpretierten Datum. Zur Objektivität der Wissenschaft hilft allein die Einsicht in die ihr innewohnenden gesellschaftlichen Vermittlungen. In der vorliegenden Einführung wird die kritische Theorie auf Erziehung bezogen. Der Lehrberuf wird aus der Perspektive der negativen Dialektik betrachtet. Ein klassisches Thema ist die autoritätsgebundene Persönlichkeit. Behandelt wird ferner die Ideologiebestimmtheit der schulischen Lebenswelt aus der Sicht der kritischen Theorie. Ein weiteres Orientierungsmodell für pädagogisches Handeln ist die Systemtheorie. Das soziale System ist ein dynamisches Gefüge. Anschlußfähigkeit muß überall im System gegeben sein. Der zentrale Prozeß im System ist die Selbsterneuerung mit einem Spielraum für externe Einwirkung auf das System und umgekehrt. Die Elemente des Systems sind miteinander vernetzt. Widersprüche und Konflikte sind grundlegende Bestandteile des sozialen Systems. In der vorliegenden Studie werden folgende Gegenstände systemtheoretisch aufgearbeitet: Schule und schulische Lebenswelt, Erwartungen im pädagogischen Arbeitsfeld, Sozialisation, Anwendung systemtheoretischer Positionen auf die pädagogische Arbeit, Familienbehandlung, Behandlung Jugendlicher mit normabweichendem Verhalten, Anomietheorie, soziales System und psychisches System, Geschlossenheit und Offenheit
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sozialer Systeme, radikaler Konstruktivismus, Systemtheorie und Organisationssoziologie. Von maßgeblicher Bedeutung für pädagogisches Denken ist der Strukturalismus als Wissenschaft von Zeichensystemen. Die Strukturalisten bemühen sich um die formalen Bedingungen der Erscheinung von Sinn, wobei sie hauptsächlich vom Modell der Sprache ausgehen (M. Foucault). Die Einführung behandelt das Verhältnis von Strukturalismus und Soziologie (Literatursoziologie), strukturale Soziologie, die Geburt der Klinik, Überwachen und Strafen. Eine beachtenswerte Orientierungsgrundlage für pädagogisches Handeln ist der Figurationsansatz. Figurationen sind Interdependenzgeflechte, in denen sich mehr oder weniger affektive Valenzen bilden. Figuration und Prozeß gehören zusammen (N. Elias). In der vorliegenden Arbeit werden die Themen behandelt: Figuration in der Schule, die Grundschule aus figurativer Sicht, die Privatschule aus figurativer Sicht, die Schulleiterrolle in der Grundschule aus figurativer Sicht, die Aufgaben der psychologischen Beratung in der Privatschule aus figurativer Sicht, Etablierte - Außenseiter - Figuration, Zeit und Lernen, Engagement und Distanzierung. Eine weitere soziologische Perspektive für die pädagogische Theorie und Praxis ist die Handlungstheorie. Sie ist (z. B. für Max Weber) auf den Menschen als letzthinniges Substrat der wissenschaftlichen Erörterung bezogen. Mit dem sozialen Handeln wird ein subjektiver Sinn verbunden. Er ist auf das Verhalten anderer bezogen und daran in seinem Ablauf orientiert. Die Studie behandelt die idealtypische Begriffsbildung als methodisches Instrument in der pädagogischen Planung, das Konzept der Wertfreiheit in seiner Bedeutung für das Lehrverhalten, Verbindungslinien von der Erkenntnistheorie Descartes' (1628/29) zu Max Webers Wissenschaftslehre, Führen als soziales Handeln. Schließlich werden Bezüge von der Soziologie zu ausgewählten Schulfachern hergestellt: Der biologisch fundierte Ansatz von Berger und Luckmann wird auf die Humanbiologie bezogen und kritisch analysiert. Der Entwurf des Strukturalismus von Piaget mit den Grundeigenschaften Ganzheit, Transformation und Selbstregelung wird auf das Fach Biologie angewendet. Verbindungslinien zwischen Soziologie und Geographie verlaufen über die systemtheoretischen Ansätze von Pareto und Luhmann. Verknüpfungen zwischen Siedlungssoziologie und Geographie beziehen sich u. a. auf die Arbeit von v. Borries, Clausen und Simons. Für die Verbindung zwischen Soziologie und Geschichte bietet sich die Herrschaftstypologie Max Webers an. Die kritische Theorie bringt Kunst in Verbindung mit bestimmenden Merkmalen der gesellschaftlichen Struktur, mit Bedingungen der Herrschaft, der Arbeit und mit Prozessen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Ein beachtenswertes Verbindungsstück zwischen den Fächern Soziologie und den linguistischen Fächern ist die Soziolingusitik als Versuch, sprachliche Strukturen mit Interaktionssystemen zu verknüpfen und damit sprachliche Ausdrucksformen gesellschaftlich zu verorten (Beispiel: A. Cicourel). Max Webers grundlegende Arbeiten über die politische Soziologie sind bleibende Maßstäbe auch für die gegenwärtige politische Bildung. Fichtes Lehre vom Widerspruch und von der Kausalität wird im Prinzip in die moderne soziologische Systemtheorie übernommen. Vom radikalen Konstruktivismus aus
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werden Verbindungslinien zur Physik gezogen. Zusammenhänge zwischen radikalem Konstruktivismus und Physik gelangen z. B. in der Feststellung zum Ausdruck, daß Werte, Handlungen und Gesten eines Lehrers nicht die Bedeutung in die Köpfe der Kinder transportieren können, die sie für die Lehrer haben (D. Nachtigall). Der Religionsunterricht erhält eine breitere Grundlage, wenn Max Webers Untersuchungen über den Einfluß des Protestantismus auf die Gesellschaftsstruktur in die Diskussion einbezogen werden. Die Wirtschaft der Gesellschaft wird aus strukturfunktionaler und systemtheoretischer Sicht dargestellt (Smelser und Luhmann). Die folgenden Kapitel und Abschnitte wurden von G. Breitkreuz geschrieben: 1.7; 4.11; 5.; 6.; 8. Kapitel 1.2, 8. und 10. Die übrigen Teile wurden von J. Dieckmann verfaßt.
Kapitel 1 D e r Interaktionismus als Orientierungsmittel für pädagogisches Handeln
Zur Definition des Interaktionismus Der symbolische Interaktionismus reduziert die soziale Wirklichkeit auf die Bedeutungen, die den Dingen im Interaktionsprozeß beigemessen werden. Die Menschen richten ihr Handeln auf diese dem Wandel unterworfenen Bedeutungen ein. Diese Bedeutungen sind jeweils Resultat der Interaktionsprozesse. Sie sind Produkte und Schöpfungen, die durch die Aktivitäten der interagierenden Personen erzeugt werden. Interaktionen sind Handlungen. Insofern ist der symbolische Interaktionismus grundsätzlich in die Gruppe der Handlungstheorien einzuordnen. Daher muß das Bild menschlicher Gesellschaft als Handlung Ausgangspunkt und Ziel des theoretischen Entwurfs sein. Die handlungstheoretische Komponente dieses Entwurfs besagt: Die menschliche Gesellschaft besteht aus Personen, die sich an Handlungen beteiligen. Die Aktivitäten der Handelnden erfolgen vorwiegend in Reaktion aufeinander. Zumindest stehen die Handlungen miteinander in Bezug. Die soziale Interaktion ist die zentrale Formel dieser Theorie. Menschliches Verhalten wird durch Interaktionen geformt. Daher müssen Menschen, die miteinander interagieren, darauf achten, was der jeweils andere tut oder zu tun beabsichtigt. Insofern treten die Aktivitäten anderer als positive Faktoren in die Entwicklung des eigenen Verhaltens ein. Man koordiniert seine eigenen Handlungen mit den Handlungen anderer. Der Mensch muß Situationen bewältigen, in denen er gezwungen ist, Handlungen zu vollbringen, indem er sich der Bedeutung der Handlungen anderer versichert und seinen eigenen Handlungsplan auf eine derartige Interpretation hin entwirft. Ein wichtiger Mitbegründer der Theorie des symbolischen Interaktionismus ist G. H. Mead. Eines der Zentren der Meadschen Arbeit ist die Analyse des Begriffs Identität (Mead 1973, S. 177 ff.). Für Mead entsteht Identität innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses. Zur Identitätsentwicklung gehört die Fähigkeit, sich selbst gegenüber eine objektive, unpersönliche Haltung einzunehmen. Der einzelne wird für sich selbst nur zum Objekt, indem er die Haltungen anderer Individuen gegenüber sich selbst einnimmt. Der einzelne erfährt sich nur indirekt aus der besonderen Sicht anderer Mitglieder der gesellschaftlichen Umwelt. Für die Entwicklung von Identität ist es wichtig, daß der einzelne auf sich selbst reagiert. Der gesellschaftliche Interaktionsprozeß, der zum überwiegenden Teil über sprachliche Kommunikation abläuft, ist für das Auftreten von Identität verantwortlich. Die organisierte Gemeinschaft, die dem einzelnen seine Identität gibt, kann der (oder das) verallgemeinerte Andere genannt werden. In einer Spielmannschaft ist dieses Team das verallgemeinerte Andere. Nur indem der einzelne die Haltung des verallgemeinerten Anderen
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KAPITEL
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einnimmt, kann er überhaupt denken. Es wird deutlich, daß Mead durch ein anpassungsmechanistisches Denken bestimmt wird, das sich am Funktionieren des Ganzen und einzelnen orientiert. Die Struktur der Identität ist für ihn eine gemeinsame gruppenspezifische Reaktion, da man Mitglied einer Gemeinschaft sein muß, um eine Identität zu haben. Identität ist eine Struktur von Haltungen im Gegensatz zu einer Reihe von Gewohnheiten. Das Selbstbewußtsein verweist auf die Fähigkeit, in uns selbst definitive Reaktionen auszulösen. In Meads Denkansatz werden konsensustheoretische Züge offensichtlich: "... jede Identität ist von jeder anderen verschieden; doch muß es solche gemeinsamen Strukturen wie die von mir dargestellten geben, damit wir überhaupt Mitglieder einer Gemeinschaft sein können" (a. a. 0., S. 206). Die gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich über wechselseitige Beeinflussung. So wird das gesellschaftliche System ständig in einigen Aspekten verändert. Mead unterscheidet zwischen dem me, d. h. dem Ich, das sich selbst als Objekt erfahrt, und dem I, d. h. dem Ich als Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer. Das me ist die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die mein selbst einnimmt. Die Übernahme aller organisierten Haltungen gibt dem Individuum sein me, d. h. seine Identität. Me bedeutet damit: Der einzelne sieht sich selbst vom Standpunkt des einen oder anderen Mitglieds der Gruppe aus. Das I ruft das me nicht nur hervor. Es reagiert auch darauf. Zusammen bilden sie eine Persönlichkeit. Mit Rücksicht auf die bedeutsamen Prozesse des Reagierens auf gesellschaftliche Normen ist der Meadsche Begriff der Identität im wesentlichen ein gesellschaftlicher Prozeß. Kritische Interpretation Die Interpretation der hier angedeuteten Theorie der Identität im Sinne des symbolischen Interaktionismus kommt zu dem Ergebnis, daß die Komplexität der sozialen Gefüge auf Interaktionen, auf Beziehungen mit Handlungscharakter reduziert wird. Dabei ist ein Symbol der Reiz, dessen Reaktion schon im vorhinein feststeht. Identität, Selbstbewußtsein, Persönlichkeit entwickeln sich in einem ständig fortschreitenden Interaktionsprozeß. Dasjenige, was eigentlich und immer ist, das ist die soziale Interaktion in Verbindung mit Symbolen, mit Sprache, Gesten, Gesichtsausdruck usw. Identität kommt nur zustande durch Einbindung in soziale Prozesse. Sie ist gebunden an aktive Objektivierungsprozesse auch im Bereich der eigenen Person. Das Ich ist nicht nur eine für sich seiende Größe. Es tritt sozusagen aus sich heraus und beobachtet sich durch die Mitwelt hindurch. Die Person reagiert auf sich selbst, indem sie die Reaktionen anderer in die eigene Entwicklung des Ich einbezieht. Interaktionen finden nicht nur zwischen mir und anderen statt, sondern auch zwischen den beiden Formen des Ich, dem I und dem me. Die gewichtige Stellung der Identität in Meads Theorie deutet auf den sozialpsychologischen Anteil in diesem Denkansatz. Die psychologischen Impulse sind nicht zu übersehen. Die Entwicklung des
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Individuums durch soziale Interaktionen hindurch ist ein zentrales Anliegen Meads. Damit siedelt sich Mead in mancher Hinsicht am Gegenpol einer Systemtheorie an, die das Individuum in die Umwelt sozialer Systeme verlegt. Während es der Sozialpsychologie zuerst auf die Personbildung ankommt, steht für die neuere Systemtheorie die Systembildung im Vordergrund des Interesses. Wenn die These richtig ist, daß die Menschen in enger Wechselbeziehung zu den sozialen Systemen ihre Prägung erhalten und daß psychische Systeme und soziale Systeme im Wege der Coevolution entstanden sind (Luhmann 1985, S. 367), dann ist Luhmanns Feststellung bedenkenswert, daß der symbolische Interaktionismus nicht befriedigt. Luhmann begründet seine Argumentation (a. a. O., S. 154) von der Theorie der doppelten Kontingenz her: der symbolische Interaktionismus baut ein anderes Ich (alter Ego) als kontingent handelnd (d. h. auf der Grundlage dieser Situation hier können sich auch andere, nicht erwartete Handlungsvollzüge ergeben) in das Ich (Ego) ein und sieht zu Recht im Symbolgebrauch (Sprache, Zeichen usw.) den Vermittlungsvorgang. Der Interaktionsvorgang erfolgt grundsätzlich nur vom Ich her gesehen, nicht dagegen sozusagen "objektiv" auch von der anderen Seite her. Die andere Seite der Kommunikation wird nur vorgestellt: Ich sehe es so, daß der andere mich jetzt als konstruktiv, neidisch, beleidigt usw. sieht. Was ich mir über die Vorstellungen der anderen vorstelle, muß sich nicht notwendig mit den wirklichen Vorstellungen der anderen decken. Folglich ist das Meadsche Modell mit den Möglichkeiten und Gefahren von Projektionen belastet. Die Projektion ist ein Zuschreibungsprozeß, in dem ein Individuum einem anderen Eigenschaften oder Gefühle zuschreibt, die eigentlich seine eigenen sind. So kommt es z. B. vor, daß Fehlhandlungen, die man selbst begangen hat, auf andere projiziert werden, da man nicht gewillt ist, mit dem Zugeständnis der eigenen Fehler zu leben. In solchen Fällen dienen Projektionen der Entlastung des Ich. Wenn ich ein anderes Ich als kontingent handelnd aufbaue, darauf reagiere und meine Personidentität entsprechend gestalte und gestalten lasse, so liegt nicht die Bedingung der doppelten Kontingenz vor, sondern nur diejenige der einfachen Kontingenz. Ich bewege mich nicht auf der Ebene des sozialen Systems, zu dem immer mindestens zwei gehören, sondern auf der Ebene des personalen Systems. Luhmann bemerkt, daß sozusagen nur die halbierte doppelte Kontingenz behandelt wird. Somit bleibt die Theorie des symbolischen Interaktionismus Handlungstheorie. "Soziale Systeme entstehen jedoch dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt" (Luhmann, a. a. O., S. 154). Soziales wird nach dem klassischen Vorgang Dürkheims wiederum durch Soziales erklärt. So wird der Selbstmord z. B. durch bestimmte Vorgänge in der Sozialstruktur erklärt, wenn er häufig vorkommt. Der symbolische Interaktionismus dagegen setzt soziale Vorgänge, etwa die verbreitete Erziehung zum Gehorsam oder zur
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KAPITEL
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Selbständigkeit, auf dem Erklärungsgrund des Interpsychischen an. Es erhebt sich die Frage, ob es möglich ist, übergreifende kollektive soziale Erscheinungen wie z. B. das allgemeine Bedürfnis nach persönlicher Freiheit, demokratischer Lebensgestaltung oder anderseits die sozialen Erscheinungen des Totalitarismus, des kollektiven politischen Machtstrebens oder des modernen weltweiten Nationalismus auf interpersonale und interpsychische Bedingungen zurückzuführen. Die Alternative würde darin bestehen, daß die genannten exemplarischen Vorgänge ursächlich mit eigengesetzlichen Bedingungen in den sozialen Organisationen in Verbindung gebracht werden. Für den Bereich überschaubarer Interaktionssysteme, z. B. der Schul- oder Verwaltungssysteme, bietet der symbolische Interaktionismus dagegen geeignete Bedingungen für die systematische Beschreibung und kausale Erklärung.
1. Strukturen der Interaktion in Unterricht und Schule Im pädagogischen und speziell schulischen Bereich ist der Unterricht die zentrale Stätte sozialer und kultureller Interaktionen. Das Bedürfnis der Schülerinnen und Schüler, sich in irgendeiner Form gegenüber anderen Mitgliedern der Schulklasse oder Lerngruppe zu äußern oder bemerkbar zu machen, auch auf dem Wege über körperliche Kontakte (anfassen, stoßen, boxen usw.), verschafft sich vielfach dann Spielraum, wenn Lehrkräfte vor Beginn des Unterrichts das Klassenzimmer noch nicht betreten haben. Für die Zwecke des Unterrichts ist eine pädagogische Reglementierung der zahlreichen interaktiven Impulse der Schülerinnen und Schüler notwendig. Ein geordneter Unterricht setzt eine weitgehende gezielte Steuerung der Schülerinteraktionen voraus. Andernfalls droht der Unterricht in ein Chaos überzugehen, das nicht nur für empfindsame Schüler und Lehrer auf Dauer unerträglich ist. Die Unterrichtsforschung unterscheidet zwischen dem lehrerzentrierten und dem schülerzentrierten Unterricht. Typisch lehrerzentriert ist ein Unterrichtsstil, bei dem die Lehrperson sehr häufig die Schülerinteraktionen und -aktivitäten lenkt, indem sie z. B. am häufigsten spricht, erklärt, Ziele vorgibt, Arbeitsaufträge erteilt, Leistungen bewertet. Die schülerzentrierte Interaktionssteuerung überträgt die genannten Aufgaben in einem möglichst großen Umfang auf die Lerngruppen. Im Grunde ist Schulunterricht im Regelfall mehr oder weniger lehrerzentriert, da auch vorübergehende Schüleraktivitäten (Beispiel: Eine Schülerin des 3. Schuljahres stellt der Klasse etwa 20 Aufgaben im Kopfrechnen) auf die Initiativen der Lehrkräfte zurückgehen. Im Schulalltag liegt die Interaktionslenkung häufig bei den Lehrkräften, z . B . bei der Analyse einer Kurzgeschichte. Eine typische Form des lehrerzentrierten Unterrichts besteht darin, daß die Lehrperson die Blicke möglichst aller Schüler auf sich richten läßt, abwartet, bis die vielfach anzutreffende Unaufmerksamkeit nachläßt, und anschließend die Impulse zur Gestaltung des Unterrichts austeilt. Diese zentripetale, zum Mittelpunkt des Geschehens hin orientierte, Unterrichtsform bedeutet eine Entlastung der am Unterricht beteiligten Personen von der Anstrengung, die mit differenzierteren Formen des Unterrichtens verbunden ist.
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Die Sozialformen des Unterrichts, z. B. Frontalunterricht, Gruppenunterricht (vgl. G. Schröter, 1965), Partnerunterricht, lassen sich als Interaktionssysteme definieren. Gemeinsam ist den genannten Interaktionssystemen die Beziehung von Angesicht zu Angesicht, die insbesondere für Primärgruppen bezeichnend ist. Die in ihnen ablaufenden Handlungen haben zugleich fiktiven und reaktiven Charakter. Im Sinne des interaktionistischen Theorieansatzes sind die reflexiven und reaktiven Momente im Schülerverhalten von besonderem Interesse, d. h. man hört aufeinander, trägt den Meinungen anderer Rechnung, läßt sich in dieser oder jener Hinsicht beeinflussen. Die feste Einbindung in eine Gruppe von Mitschülern fordert die Bereitschaft zur Übernahme und Internalisierung von Gruppennormen. Schüler reagieren auf die Impulse der Lehrerinnen und Lehrer und umgekehrt. Schülerreaktionen auf die langfristige Schulsituation können sich ganz unterschiedlich äußern, etwa in der Empfindung "In der Klasse hat man auf mich gehört" oder "Ich lege keinen Wert darauf, diese alten Gesichter noch einmal wiederzusehen". Eine weitere Reaktionsform ist die Nachahmung, z. B. von Berufswünschen bei Hauptschulabgängern (Die meisten Mädchen in dieser Klasse wollen Friseurin werden). Auch Lehrkräfte reagieren, z. B. auf typische Formen des Schülerverhaltens oder auch des Elternverhaltens. Der Denkansatz des Interaktionismus bedarf einer Korrektur insofern, als ungezählte Handlungen im pädagogischen Bereich der Spontaneität des Subjekts und dem Bedürfnis nach Nichtidentität entspringen, also jeglichem Anpassungsmechanismus zuwiderlaufen. In diesem Zusammenhang ist die Meditation über die Frage von Interesse, ob denn individuelle Spontaneität, das Bedürfnis nach Nichtanpassung und Widerspruch letztlich nicht auch und möglicherweise sogar gerade bestimmte Formen der mit Reflexion gekoppelten Reaktion sind. Nicht zufallig ist auf dem Boden des Interaktionismus eine Theorie der Stigmatisierung und Behinderung entstanden (Goffman). Interaktion in der Schule läuft nicht immer ungehindert ab. Manche Schulkinder fühlen sich behindert durch die Reaktion von Mitschülern auf Ausdrucksformen des Andersseins (z. B. Körperfülle, extreme Kurzsichtigkeit, Stottern). Nicht selten liegt Trennungsangst vor, so daß die Tendenz zur Meidung von sozialen Kontakten in der Schule hervortritt. Schülerinnen und Schüler, deren Eltern in Scheidung liegen, hinterlassen vielfach auch in der Schule Spuren des Andersseins. Kinder von ausländischen Arbeitnehmern oder Asylsuchenden haben vielfach mit Stigmatisierungen zu tun und sind sozialen Vorurteilen ausgesetzt. Stigmatisierend kann sich auf Schüler der Umstand auswirken, daß ein Elternteil psychiatrisch behandelt werden muß. Längerfristige soziale Isolierung der Eltern führt zur Verfestigung und Verschärfung negativer kognitiver Strukturen und Verhaltenstendenzen. Die Auswirkungen auf die Mentalität der Kinder bleiben vielfach nicht aus. Soziale Behinderungen können sich bei Schülern ergeben, wenn Eltern Strafgefangene, chronisch Kranke und Behinderte oder arbeitslos sind. Die interaktionistische Komponente im Bewußtsein behinderter Schüler besteht in den ständigen Versuchen zur Beantwortung der Frage: Mit welchen Gefühlen sieht mich mein Gegenüber jetzt an? Bin ich für diese Person oder Personen in erster Linie behindert? Oder wird meine Behinderung von ihm
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KAPITEL
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verdrängt, wenn er mich einschätzt oder auch nur ansieht? Die Behinderten haben keine sicheren Empfindungen darüber, wie sie wirklich eingeschätzt werden und welche Reaktionen in den Interaktionspartnern hervorgerufen werden. Es fallt ihnen schwer, sich mit den Augen anderer zu sehen. Der Aufbau von Identität bei behinderten Schülern leidet unter der Tatsache, daß Behinderte an vielen Stellen "gesondert" behandelt werden: in Sonderschulen, an Sonderarbeitsplätzen, in Sonderwohnheimen usw. Behinderte Schüler gehören zu den sozial Benachteiligten. Sie sind damit einer verstärkten sozialen Kontrolle und Stigmatisierungsvorgängen ausgesetzt. Um die soziale Benachteiligung behinderter Schülerinnen und Schüler zu verringern oder aufzuheben, ist die konsequente Anwendung interaktionistischer Sichtweisen erforderlich: Behinderung ist ein Etikett, das durch soziale Reaktionen entsteht. Die Nichtbehinderten reagieren so auf die Behinderten, daß diese besonders empfindlich auf jene reagieren. Gerade dieser Mechanismus macht die Stigmatisierungsempfindung aus. Die Aufhebung der Stigmatisierung ist z. B. durch eine entschiedene Veränderung der öffentlichen Reaktionsformen möglich, aber auch durch die Einrichtung von Selbsthilfegruppen und die gruppenspezifische Förderung Behinderter (Beispiel: Schularbeitenhilfe, Arbeitsbeschaffung). Interaktionssysteme in der Schule schließen alles ein, was unter den Begriff "anwesend" fällt, z. B. alle Schülerinnen und Schüler, die sich gerade auf dem Schulhof befinden. In einer solchen Interaktionssituation finden zahlreiche Wahrnehmungsprozesse statt, auch im Sinne der reflexiven Wahrnehmung. Wenn eine Schülerin wahrnimmt, daß sie in ihrem Verhalten von den Mitschülern wahrgenommen wird, werden Vorgänge der Selbstkontrolle ausgelöst, die sich als Sozialisationsgewinn niederschlagen. Eine Schulklasse als Lerngruppe ist ein Beispiel für ein Interaktionssystem. Solche Interaktionssysteme entwickeln Mechanismen der Selbstregulierung der sozialen Handlungsabläufe: Wenn jemand z. B. wahrnimmt, daß er in einer Gruppendiskussion innerhalb der Lerngruppe keine gefragten Dienste leisten kann, so bietet sich die Möglichkeit an, sich aus der Diskussion zurückzuziehen oder sich auf Fragen zu beschränken. Umgekehrt bieten schulische Interaktionssysteme, z. B. auch kleine Arbeitsgruppen, die Chance zur Einübung von kommunikativer Kompetenz, zur Fähigkeit, sich zu artikulieren oder seine Bedürfnisse vorzutragen. Die kleinen schulischen Interaktionssysteme, etwa auch in der Form von kleinen Arbeitsgemeinschaften, bieten die Möglichkeit, durch Wahrnehmung und Kommunikation soziale Kontakte zu knüpfen, sie dann latent werden zu lassen und sie anschließend oder nach zeitlichem Abstand zu reaktualisieren. Schulische Interaktionssysteme sind nicht identisch mit übergreifenden Gesellschaftssystemen: Was z. B. in der Diskussion in einer Schulklasse über den Krieg gesagt wird, deckt sich keineswegs notwendig mit der makrosozialen Wirklichkeit. Interaktion und Gesellschaft ist nicht dasselbe. Die Spannung oder Differenz zwischen beiden Systemarten sorgt für Evolution. Es ist nicht zu übersehen, daß die übergreifenden Gesellschaftssysteme mit ihren überregionalen Einflüssen (Mode, Nationalismen, Einstellungssyndrome zum Asylproblem, Hochschätzung des Geldes, Beachtung von Umweltproblemen usw.) intensiv in die kleinen Systeme hineinwirken. Die interaktionistische Perspektive ist grundsätzlich keine systemorientierte,
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sondern vielmehr eine handlungsorientierte Optik. Sie setzt die subjektbezogene und auf den Menschen als Menschen gerichtete Tradition fort. Folglich läßt sich für die Theorie der Erziehung aus dieser Tradition ableiten, es komme darauf an, die Schülerinnen und Schüler zum interaktionsgerechten soziokulturellen Handeln zu erziehen. Das Interaktionssystem ist sozusagen Umwelt und Orientierungshorizont für das handelnde Individuum. Die soziale Interaktion in der Schule wäre demnach ein Prozeß, der menschliches Verhalten formt. Der interaktionistische Impuls führt die Kinder und Jugendlichen in der Schule dahin, daß sie achtgeben, was der jeweils andere tut oder tun will. Die Aktivitäten anderer treten als positive Faktoren in die Entwicklung des eigenen Verhaltens ein. Man hat seine eigenen Handlungen in gewisser Weise mit den Handlungen anderer in Einklang zu bringen. Die anpassungsmechanistische Komponente dieses Denkansatzes kann nicht kritiklos hingenommen werden. Die Brauchbarkeit des interaktionistischen Ansatzes für die Gestaltung der Schulen ist nur in bedingtem Umfang gegeben, da der Spontaneität der Individuen und kleinen Interaktionssysteme (Gruppen) zu wenig Spielraum gewährt wird. Eine ausgesprochen gravierende Bedeutung hat der interaktionistische Ansatz hinsichtlich der Rolle von Definitionsprozessen. Die Bedeutung, die z. B. das Tragen oder Nichttragen einer bestimmten Marken-Jeans-Hose innerhalb einer bestimmten Schulklasse hat, wird in täglichen Interaktionsprozessen ausgemacht und verändert. Die Bedeutungen, die den Dingen und Vorgängen zukommen, ergeben sich aus den veränderbaren Interaktionsprozessen. Die Wirklichkeit im Sinne der Wirkkraft der sozialen Systeme wird durch Interaktionen "gemacht". Sie ist nicht vorgegeben, sondern wird ständig weitergeformt. Definitionen nehmen dabei auch die Gestalt von Etikettierungen an, die bestimmten Schülerinnen und Schülern "zugeschrieben" werden. Alle Etikettierungs- und Zuschreibungsprozesse im Schulleben sind theoretisch am besten mit dem interaktionistischen Ansatz zu fassen, etwa die Vergabe von Spitznamen, Schuldzuschreibungen ("Der hat mal wieder eine Abreibung verdient"), Sündenbockrollen, Musterschüler, Stars, Außenseiter, Mitläufer, schwarze Schafe. 2. Belohnung und Bestrafung in der Schule aus interaktionistischer Sicht Der Interaktionismus hat das überlieferte Theoriegebäude über die Behandlung normabweichenden Verhaltens um ein diskutable Variante bereichert. Die Anwendung dieses Theorieansatzes auf die schulische Situation geht von der Voraussetzung aus, daß kein Verhalten von sich aus normabweichend ist. Normabweichendes Verhalten ist jeweils das Ergebnis von Definitionsprozessen, die sich aus Interaktionssituationen entwickeln. Die Verletzung von Regeln steht in Verbindung mit der Beschaffenheit des Schulsystems. So wird es verboten, mit Bällen auf dem Schulhof zu werfen, wenn in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule Glasscheiben zertrümmert werden können. Wenn sich eingebürgert hat, daß kräftige, ältere Schüler wiederholt schwächere Mitschüler auf dem Schulhof verprügeln, werden Verbote erlassen und eventuell überwacht. Die einzelnen Verhaltensregeln entwickeln sich in Interaktionsprozessen, sofern sie nicht schon als allgemeine Normen überliefert sind.
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KAPITEL
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Die interaktionistische Perspektive sieht Normabweichungen als Produkt der Rechtsanwendung an. Die Ursachen des normabweichenden Handelns werden nicht in Defiziten der Personstruktur gesehen. Vielmehr werden die Instanzen der sozialen Kontrolle (Polizei, Gerichte, Lehrkräfte, Schulverwaltung usw.) als hauptsächliche Erzeuger von abweichendem Verhalten begriffen. Delinquenz wird nicht auf die Erfüllung objektiver Tatbestände zurückgeführt. Vielmehr wird sie auf dem Wege über die Bildung von Erwartungsstrukturen von den sozialen Systemen geschaffen. Das abweichende Verhalten wird allein dadurch produziert, daß Regeln aufgestellt werden, die dann doch nicht von allen Beteiligten eingehalten werden können. Die Regeln werden auf bestimmte Schülerinnen und Schüler angewendet, die damit das Stigma der Regelverletzer erhalten. Das abweichende Schülerverhalten ist keine persongebundene Qualität der Handlung, sondern die Folge der erfolgreichen Anwendung der aufgestellten Regeln. Die sich in den Regeln niederschlagenden Erwartungsstrukturen geben die Möglichkeit an die Hand, Stigmatisierungs- und Reaktionsprozesse zu initiieren und damit Selektionsvorgänge einzuleiten. Die interaktionistische Grundthese, daB das Ich auf die Erwartungen anderer reagiert und sich mit diesen arrangiert, findet sich im Bereich der Theorie des normabweichenden Verhaltens als Reaktionsansatz wieder: Ob eine Handlung als abweichend definiert wird, hängt davon ab, wie andere darauf reagieren. Bestrafungen von Schülern wirken auf manche Mitschüler abschreckend, so daß abweichendes Verhalten weniger häufig vorkommt. Die Funktion der Bestrafung ist in diesem Fall die Prävention durch Abschreckung. Für manche Schülerinnen und Schüler wird die Strafe wie eine Vergeltung wirken: Die Verletzung der Regel wird durch die Bestrafung vergolten und gesühnt. Diese Perspektive hat neben der funktionalistischen eine moralische Komponente. Wer bestraft wird, der wird dadurch stigmatisiert, weil er sich gegen die in der Lerngruppe geltenden Normen gestellt hat. Die Bestrafung bewirkt ein Gefühl der Solidarität innerhalb der Schülergemeinschaft gegenüber dem Norm verletzer. Der Außenseiter sorgt gewollt oder wahrscheinlicher ungewollt für die Erzeugung von Solidarität. Insofern ist die Bestrafung für die Struktur der Schülergruppe nützlich und nicht so sehr für den bestraften Schüler selbst, weshalb denn auch Strafen allgemein nur geringe Wirkungen hinsichtlich der moralischen Besserung erzielen.
3. Identitätsfindung in der Schule Die interaktionistische Theorie der Identität ist richtungsweisend für eine Theorie der Erziehung. Etymologisch zielt die Bedeutung von Identität in die Richtung von "Selbigkeit" im Sinne des zeitlichen Überdauerns: Man bleibt derselbe Mensch, auch wenn sich die Zeiten ändern (idem = derselbe). Insofern haftet dem Identitätsbegriff ein Hauch der klassischen Metaphysik an, die auf das Bleibende und Beständige gerichtet ist. Im interaktionistischen Verständnis ist das Bleibende an der Identität die Bereitschaft, sich beständig selbst zum Gegenstand der Beobachtung und Kontrolle zu machen, indem das eigene Handeln durch die Perspektive des generalisierten anderen gesehen und geführt wird.
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Man gewinnt und behält Distanz nicht nur zu den anderen, sondern auch zu sich selbst. Die Reflexivität als Ausgang aus dem eindimensionalen, unreflektierten Erfassen der Umwelt ist der entscheidene Schritt auf dem Wege zur verbesserten gesellschaftlichen Wirklichkeit mit Hilfe der angewandten Sozialpsychologie. Im Interaktionismus ist die Reflexivität allerdings personbezogen, während sie in der neueren Systemtheorie auf die sozialen Systeme gerichtet ist: Selbstreferenz bedeutet, daß die sozialen Systeme Beziehungen zu sich selbst herzustellen in der Lage sind, wobei diese Beziehungen zur Umwelt hin differenziert werden müssen. Selbstreferenz und Autopoiesis als Selbstorientierung der sozialen Systeme, Selbstregulierung und beständige Erneuerung aus sich selbst heraus in Abstimmung mit der Umwelt sind konsequente Weiterfuhrungen und Anwendungen der klassischen interaktionistischen Perspektive auf Gruppen und Organisationen. Das Unbeständige am interaktionistischen Ansatz ist die Beständigkeit des Wandels der Bedeutungen, die den Dingen und Prozessen in den Interaktionsprozessen beigemessen werden. Die Menschen müssen sich beständig auf die sich ändernden Bedeutungen und Umdefinitionen der Gegenstände einrichten. Diesem Umstand muß Erziehung Rechnung tragen. Interaktionistisch orientierte Erziehung muß berücksichtigen, daß z. B. Begriffe wie Nation, Rasse, Volk, völkisch, Asylant, Krieg, Verteidigung im Ablauf der Geschichte der Möglichkeit von Umdeutungen unterliegen. Ein brisanter Begriff ist in diesem Zusammenhang die "Abtreibung". Hinter den Veränderungen der Definitionen stehen umfangreiche und gravierende historische Veränderungen und Mentalitätswandlungen, die von Sozialsystem zu Sozialsystem unterschiedlich strukturiert sind. Die Identitätsfindung des Individuums ist gebunden an die sich wandelnden Umwelten, da die Umwelten und Kulissen als Sichtbegrenzungen intensiv in die Personstruktur hineinwirken. Identität heute ließe sich definieren als Fähigkeit zur Selbstbeobachtung im Sinne der ständigen Neuabstimmung der Sphären der Person und der Umwelten, der ständigen Neubestimmung der Differenzen zwischen dem Ichbereich und der Umwelt, der Abwehr oder der Unterwerfungsbereitschaft gegenüber den Forderungen des Tages. Im Unterschied zur kritischen Theorie, die die Begriffe Nichtidentität und Widerspruch hervorhebt, ist die interaktionistische Perspektive auf die Identität gerichtet. Bereits zu Beginn des 20sten Jahrhunderts unterscheidet Dürkheim zwei Seinsweisen: das individuelle und das soziale Sein (ders. 1972, S. 83). Das individuelle Sein setzt sich aus all den geistigen Zuständen zusammen, die sich nur auf uns selbst und die Ereignisse unseres persönlichen Lebens beziehen. Das soziale Sein ist ein System von Ideen, Gefühlen und Praktiken, die die Gruppen, denen wir angehören, ausdrücken: religiöse und sittliche Überzeugungen und Praktiken, nationale und berufliche Traditionen, kollektive Meinungen jeglicher Art. Dürkheim formuliert: "Dieses Sein in jedem von uns zu erzeugen, ist das Ziel der Erziehung" (ebenda). Nach Meads Auffassung hat der einzelne seine Identität nur im Bezug zu den Identitäten anderer Mitglieder seiner gesellschaftlichen Gruppe: "Die Struktur seiner Identität drückt die allgemeinen Verhaltensmuster seiner gesellschaftlichen Gruppe aus, genauso wie sie die Struktur der Identität jedes anderen Mitgliedes dieser gesellschaftlichen Gruppe ausdrückt" (Mead 1973, S. 260).
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Nach Krappmann (1971) wird Ichidentität gewonnen, indem das Individuum sich einerseits so verhält, als ob es einzigartig und andererseits so, als ob es wie alle anderen wäre. Die Person balanciert zwischen sozialer Identität (Anpassung an die anderen) und personaler Identität (Verwirklichung der eigenen Individualität und Einzigartigkeit). Kein Individuum kann sich voll den Erwartungen anderer unterordnen. Es übt sich in der Fähigkeit zur Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz (d. h. Erfahrung, auch unter divergierenden Erwartungen seine Identitätsbalance wahren zu können). In mancher Hinsicht steht auch Habermas in der interaktionistischen Tradition. Er verwendet den Begriff der kommunikativen Kompetenz synonym mit dem Begriff der Ichidentität (vgl. dazu Tillmann 1989, S. 214). Gemeint ist die Fähigkeit des Subjekts, sich innerhalb einer stets unklaren und brüchigen Rollenstruktur angemessen zu verständigen und dabei seine Identität zu wahren. Die Tradition des symbolischen Interaktionismus reicht in die unmittelbare Gegenwart hinein. Sie bildet ein wichtiges Fundament für Konzepte der Erziehung und Soziedisation. Die Sprache fungiert als grundlegendes Interaktionszeichen oder Interaktionssymbol. Zu den Verständigungssymbolen gehören z. B. auch Funksignale und Computersprachen. Mit Hilfe sprachlicher Zeichen operiert auch die in der interaktionistischen Tradition stehende Methode des alltagsweltlichen Denkens und Handelns. Hervorstechend ist hier die Regel der dokumentarischen Methode der Interpretation. Diese Methode ist sowohl für den wissenschaftlichen wie für den alltagsweltlichen Bereich und damit für den Schulalltag verwendbar. Garfinkel (1973, S. 199 ff.) formuliert: "Nicht nur wird einerseits das zugrundeliegende Muster von seinen individuellen dokumentarischen Belegen abgeleitet, sondern umgekehrt auch werden die individuellen dokumentarischen Zeugnisse auf der Grundlage dessen interpretiert, 'was bekannt ist' über das zugrundeliegende Muster. Jede der beiden Seiten wird benutzt, um die je andere auszuarbeiten." Der Identitätsfindung dient nicht nur der Erwerb der Fähigkeit, Balanceakte zwischen Selbstverwirklichung und Anpassung an die Umwelt vollziehen zu können, ferner nicht nur die Aneignung von kommunikativer Kompetenz im weitesten Sinne des Begriffs und von "tiefgreifenden" Interpretationsregeln, sondern auch die Fähigkeit zur Verwendung von Basisregeln und normativen Regeln. Cicourel (1973, S. 176 ff.) sieht die folgenden Merkmale als grundlegend für jede Interaktion an: 1. Reziprozität der Perspektiven: Ich ergänze meinerseits deine Antwort, um deine Intentionen nachzuvollziehen. Sprecher und Hörer müssen davon ausgehen, daß jeder von ihnen wahrnehmbare und intelligente Ausdrucksweisen als eine notwendige Bedingung für eine geregelte Interaktion hervorbringt. Darüber hinaus muß jeder von beiden die Intention (die Tiefenstruktur) des anderen rekonstruieren, wenn sich eine koordinierte soziale Interaktion ergeben soll. 2. Et-cetera-Regel: Beim Auftreten eines bestimmten lexikalischen Begriffs setzt man voraus, daß der Sprecher einen umfassenden Zusammenhang (et cetera = auch das übrige) im Sinn hatte. Man geht davon aus, daß der Zuhörer diesen Zusammenhang im Blick hat. 3. Schnelle Typisierung von sozialen Strukturen: Mein Vorwissen erlaubt
11 im Bereich der Interaktionen schnelle Typisierungen hinsichtlich der Motivationen, Ziele und Handlungsmuster. Die Basisregeln und die Oberflächenregeln (d. h. die normativen Regeln) geben den Handelnden ein Schema an die Hand, mit dem sie ihre Umgebung in Bereiche der Bedeutsamkeit einteilen können. Sie dienen damit letztlich der geistigen Beherrschung der Wirklichkeit durch auf Abruf bereitstehende Kategoriensysteme. Zusammenfassend ist festzustellen, daß der interaktionistische Ansatz mit seinen zahlreichen Varianten in Richtung auf Alltagstbeorie, Alltagswissen und Kommunikationstheorie wichtige Orientierungslinien für die pädagogische Arbeit aufzeigt. Identität wird erworben durch Vermittlung von Kommunikationsfähigkeit, Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, Selbstregulierung des Sozialverhaltens, Interpretationsfahigkeit, Differenzierungsfahigkeit, Balancefähigkeit und Fähigkeit des Erwerbens und Einhaltens von Gleichgewichten in der Personstruktur, im Abstandgewinnen, in der Kontaktfahigkeit und im Beachten von grundlegenden Regeln im Bereich des Alltagswissens. Identität läßt sich pädagogisch nicht allein aus der inneren Mächtigkeit des Personaufbaus herstellen. Vielmehr ist ein beständiger Lernprozeß erforderlich, in dem das personale System auf das sozialkulturelle System abgestimmt wird und umgekehrt. Auf Dauer ist ein soziales System im Sinne eines politisch- kulturellen Systems nicht überlebensfahig, wenn es mittelfristig nicht den gesellschaftlich vermittelten individuellen Bedürfnissen Rechnung trägt.
4. Stigmatisierung von Schülerinnen und Schülern Stigmatisierungen haben einen wichtigen Platz auf der Denk- und Empfindungsebene von Interaktionisten. Wer professionell über Interaktionen nachdenkt, wird es nicht schwer haben, die Zwänge zu fühlen, die im Sozialen liegen können. Das gilt insbesondere für Menschen, die in extremer Form der Kontrolle und Beobachtung durch die einzelnen Interaktionsnetze unterliegen: Behinderte, psychisch Geschädigte, psychiatrisch Behandelte, Menschen mit physiologischen Beeinträchtigungen. Stigmatisieren bedeutet: brandmarken, abstempeln, diskreditieren (Goffman 1975, 5. 9 ff.). Wenn es auch möglich ist, das Stigma positiv zu definieren, so muß bedacht werden, daß nach dem heute allgemein üblichen Sprachgebrauch die Zuschreibung negativer Verhaltensweisen und Merkmale gemeint ist. Alle drei von Goffman unterschiedenen Formen des Stigma sind für den Schulalltag von Bedeutung: körperliche Deformationen, individuelle Verhaltensmängel (Charakterfehler) und phylogenetische Diskreditierungen z. B . wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Nation oder Religion. Schüler mit besonderen körperlichen Merkmalen, z. B . mit großer Körperfülle, verkrüppelten Gliedern, großen und gleichzeitig auffalligen Ohren, unter- und überdurchschnittlicher Körpergröße, krummen Beinen usw., stehen beständig in der Gefahr, Gegenstand auffalliger Bemerkungen durch Mitschüler oder sonstige Gleichaltrige zu werden. Das trifft besonders dann zu, wenn von seiten der Lehrerinnen und Lehrer nicht nach pädagogischen Gesichtspunkten gegengesteuert wird. Es ist zu vermuten, daß derartige Stigmatisierungen besonders von solchen Schülern entwickelt und vertieft werden, die ihre eigenen Probleme nicht im gewünschten Maße bewältigen
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können und nun auf dem Wege der Überkompensation oder durch ähnliche Mechanismen psychoanalytischer Art Aggressionen auf Schwächere abladen. Immer stehen Stigmatisierungen ursächlich in Verbindung mit personalen Defiziten derjenigen, die sich an Stigmatisierungen beteiligen, ob man nun von Vorurteilen spricht oder von Mängeln an Einsicht und Toleranz oder mangelhafter Menschenbildung. Anlaß zu Stigmatisierungen können aktuelle Gegebenheiten (z. B. bestimmte ungewöhnliche verbale Äußerungen des dann zu stigmatisierenden Schülers) ebenso sein wie langfristige Verhaltensformen oder Auffälligkeiten. Allgemein kann davon ausgegangen werden, daß jegliche Andersartigkeit eines Schülers Stigmatisierungsvorgänge auslösen kann, wenn die Umkreisbedingungen die Auslösung begünstigen. Dysfunktionale Bedingungen liegen z . B . dann vor, wenn als Folge betont autoritären Lehrerverhaltens die pädagogische Situation einen Sündenbock geradezu herausfordert. In einer solchen Situation "liegt es in der Luft", daß man einem wenig abwehrbereiten oder abwehrfahigen Mitschüler ein Stigma "anhängt", etwa so, wie man früher manchen Leuten ohne deren Wissen den Schwanz einen geschlachteten Schweines an die Rückseite des Rocks heftete, um sein Vergnügen zu haben. Phylogenetische Stigmatisierungen können überall dort entstehen, wo unterschiedliche Nationalitäten, Rassen, Weltanschauungen usw. sich nicht genügend tolerieren, z. B. auch in solchen deutschen Schulen oder sonstigen Ausbildungsstätten, die von Ausländern und Gastarbeitern besucht werden. Die Stigmatisierung ausländischer Mitschüler spielt sich vielfach mehr auf der latenten als auf der manifesten Ebene ab, da jedermann weiß, daß es sich nicht schickt, Vorurteile zu haben und Stigmatisierungen zu dulden. Stigmatisierungen ausländischer Schülerinnen und Schüler können gefördert werden durch die Position dieser Kinder zwischen zwei Welten: zwischen der Kultur und Landschaft des Herkunft- und Heimatlandes einerseits und den Ansprüchen der neuen Wahlheimat, deren Sprache man im Regelfall nicht oder nur bruchstückhaft beherrscht, andererseits. Identitätsverschiebungen können sich bei Kindern ausländischer Arbeitnehmer durch diese Zwischenposition ergeben und zu Stigmatisierungen führen, die mehr auf der kollektiven als auf der individuellen Ebene liegen. Die meisten Stigmatisierungen lassen sich nicht durch gesetzliche oder ähnliche Regelungen beseitigen, eher schon durch rationale Dialoge z. B. in Form von gezielten Gruppendiskussionen, die methodisch arrangiert werden. Gezielte Unterrichtsgespräche möglicherweise mit veränderter Sitzordnung (um auf den außeralltäglichen Charakter der Angelegenheit hinzuweisen) sind ein Mittel zur Entstigmatisierung bestimmter Schüler und Schülergruppen. Solchen Diskussionen können die Ergebnisse von Tiefeninterviews mit betroffenen stigmatisierten Personen verfügbar gemacht werden, damit die Fähigkeit der Empathie (des Sich-hineinfindens in die Situation des anderen) geschult wird. 5. Interaktionistische Perspektiven einer Soziologie der Behinderung und sozialen Isolierimg Behinderung ist keine Erscheinung an und für sich. Vielmehr ist Behinderung ein Zuschreibungsprozeß im Vollzug sozialer Interaktionen. Behin-
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derung ist immer und zuerst eine soziale Kategorie (vgl. G. Iben 1983, S. 23). Biologische Bedingungen, z. B. eine körperliche Andersartigkeit oder Verunstaltung, bilden eine Grundlage für Interpretations- und Stigmatisierungsprozesse, deren Ergebnis das Prädikat "behindert" ist. Behinderung hängt mit Interaktion und Kommunikation zusammen. Theoretisch denkbar wäre die Möglichkeit, daß im Vollzug der Interaktions- und Kommunikationsprozesse nicht die Zuschreibung "behindert" stünde, sondern daß es vielmehr Einrichtungen zum Auffangen von personalen Defiziten gäbe, so daß die Verwendung des Begriffes Behinderung hinfallig wäre. Daß derartige Einrichtungen in unserer Gesellschaft nur in geringem Umfang vorhanden sind, verweist über den Bereich der Interaktionssysteme hinaus auf die mehr oder weniger konsistente Struktur der Gesellschaft, die mit der Unterscheidung normales/abweichendes Verhalten operiert und somit durch Definitionsprozesse Behinderung produziert. Die Träger des Etiketts "Behinderung" haben zahlreiche Sozialisationsprobleme zu bewältigen. Die zentrale Aufgabe für diese Personengruppe besteht in der ständigen, manifesten und latenten Auseinandersetzung mit der für sie bedrohlich wirkenden Diskreditierung oder Diskriminierung. Diskreditiert werden alle drei von Goffman (1975, S. 12 f.) unterschiedenen Träger von Stigma: a) die körperlich Deformierten, b) die Personen mit individuellen Charakterfehlern (Willensschwäche, unnatürliche Leidenschaften, starre Meinungen, Unehrenhaftigkeit) und c) die Träger phylogenetischer Stigmata von Rasse, Nation und Religion. Stigma im Sinne Goffmans heißt, das Individuum ist in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten. Unter der Verwendung des Begriffes Stigma oder ähnlicher Zuschreibungen werden Erwartungen enttäuscht, die durch kollektive Interaktionsprozesse abgestützt oder gesichert zu sein scheinen. Die gesellschaftlichen Minimalvorstellungen von dem, was ein Mensch zu sein hat, werden im Fall der Behinderung nicht erfüllt (vgl. S. Jauch 1983). Es gibt offensichtlich Sperren, die der Bemühung, sich in die Lage von Behinderten hineinzuversetzen (Empathie), Grenzen vorgeben. Man kann in diesem Zusammenhang von Berührungsängsten sprechen, die von der Seite der Nichtbehinderten ebenso bestehen wie von der Seite der Behinderten. Die Aufhebung von Stigmatisierungen setzt die Aufhebung solcher gegenseitigen Berührungsängste voraus. Behinderte leiden im Regelfall an einem Identitätsdefizit. Ihre Identität im Sinne von Selbstbewußtsein, Selbigkeit als Durchhaltevermögen, Reflexionsfahigkeit und Selbstkontrolle weist Fehlerscheinungen auf, die mit interaktionellen und gesellschaftsstrukturellen Bedingungen in Verbindung stehen. Der einzelne hat seine Identität durch den Bezug zu den Identitäten anderer Mitglieder seiner Bezugsgruppe. Wenn das soziale Umfeld eine Person mehr oder weniger offen diskreditiert, kann diese Person nur mit allergrößter Mühe Fortschritte im Aufbau seiner Identität erzielen, sofern das überhaupt möglich ist. Dieser Sachverhalt trägt dazu bei, daß die Beschäftigung mit der Problematik "Behinderung" das Bedürfnis nach ausgleichenden Hilfsangeboten für Behinderte entstehen läßt. Er trägt auch zur Erklärung der genannten Berührungsängste bei. Er trägt ferner bei zur Erklärung des vielfach vernommenen Rufes nach Integration der Behinderten. So fordert z. B. Aiga Seywald (1977) als generelles Ziel die volle gesellschaftliche Integration der Behinderten. Diese Zielsetzung steht in Verbindung nicht nur mit der sozialpsychologischen Diskreditierung dieser Personen-
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gruppe, sondern auch mit der beruflichen und sozialen Benachteiligung, die im sozialökonomischen Erklärungsansatz betont wird. Für Seywald ist die Benachteiligung Behinderter der entscheidene Faktor, der zu den Reaktionen der Umwelt führt, z. B. der Peinlichkeit im Umgang mit Behinderten und der Isolationstendenzen. "Die Analyse der sozialen Implikationen von Mitleid, Ressentimentverdacht und Schuldgefühlen ist so umfassend, daß sie als neuer theoretischer Ansatz zu einer Soziologie der Benachteiligten überhaupt ... gewertet werden kann" (a. a. O., S. 11). Eine spezifisch interaktionistische Perspektive ist die auf Goffman zurückgehende Irrelevanzregel. Sie besagt: Man tut so, als ob an den Behinderten nichts Besonderes auffallt. Die Behinderung wird im Interaktionsprozeß sozusagen übersehen und übergangen. Die Vermutung liegt nahe, daß dieser Verhaltensmechanismus einen Ausweg aus der Unfähigkeit der Nichtbenachteiligten bedeutet, den Benachteiligten in angemessener Form zu begegnen. Diese Unfähigkeit ist gesellschaftlich vermittelt (und geht insofern über den Theoriehorizont des Interaktionismus hinaus), da in unseren technisch fortgeschrittenen und wissenschaftlich mitbestimmten Industriekulturen allgemein die Mitglieder der Eliten, die Idole, die Starken, die Einflußreichen Objekt der Identifikation sind und nicht die Schwachen und Schlechtweggekommenen. Wer durch die Kommunikation mit behinderten Personen ein gegenläufiges Verhaltensmuster offenbart, muß vermutlich ein überdurchschnittliches Maß an Reflexivität und Integrität der Person besitzen. Integration Behinderter welcher Art auch immer in den gesamtgesellschaftlichen Kontext verläuft nicht auf dem Wege über Mitleid und Einrich.tung von Sonder Institutionen. Sie erfolgt vielmehr durch gezielte Änderungen der kollektiven Bewußtseinsstrukturen (etwa durch sozialwissenschaftliche Schulung) und durch Verbesserung der Lebenschancen der Behinderten im sozialen, ökonomischen und technischen Bereich, z. B. durch die Einrichtung von behindertengerechten Arbeitsplätzen, Gebäuden, Treppen, Straßen, Fahrzeugen usw. Behinderung läßt sich allerdings im Regelfall nur partiell und graduell aufheben. Die Behinderten bleiben auch nach geglückter Rehabilitation sichtbar benachteiligt. Auch wenn die Benachteiligung gesellschaftlich nicht mehr gerechtfertigt ist, müssen die Nichtbehinderten Schuldgefühle gegenüber den Behinderten entwickeln (vgl. Seywald 1977). Neben der interaktionistischen Perspektive der Behinderung haben andere Theorieansätze Beiträge in eine umfassende Soziologie der Behinderung einzubringen: Handlungstheorie: Das von Max Weber beschriebene zweckrationale Handeln ist in solchen Organisationen und Betrieben anzutreffen, die sich mit Geld von der Notwendigkeit freikaufen, Behinderte einzustellen. Wertrationales Handeln liegt z. B. dann vor, wenn jemand Behinderten Unterstützung gleich welcher Art gewährt (auch durch theoretische Analysen), ohne auf den Erfolg zu achten. Affektuelles Handeln finden wird dort, wo jemand aus Mitgefühl und Mitleid behinderten Mitmenschen hilft. Den so Handelnden ist vermutlich nicht bekannt, daß Behinderte im Regelfall kein Mitleid wollen, sondern eine Veränderung ihrer sozialökonomischen Gesamtsituation. Traditionales Handeln ist etwa dann anzutreffen, wenn man die physiologische Grundlage der Behinderung, z. B. Geburtstrauma mit körperlichen Beeinträchtigungen in der Bewegung der Glieder, zum Anlaß nimmt, etwa
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auch geistige Behinderungen hinzuzudichten, wenn man also nicht hinreichend differenziert denkt und empfindet. Systemtheorie: Der strukturell-funktionale Ansatz orientiert sich an den Funktionen, d. h. an den Leistungen für das Ganze des Systems. Diese Leistungen werden nur in geringem Umfang anerkannt. Eine (latente) Funktion der Gruppe der Behinderten liegt darin, daß sie durch ihre Existenz den Nichtbehinderten das Gefühl der Normalität zu vermitteln vermag. Die Grundtendenz dieser (inzwischen klassischen) Theorie ist auf Stabilität, Konsens, Systemerhaltung und Gleichgewicht gerichtet. Einer solchen Mentalität entspricht die Irrelevanzregel, nach der man in der Kommunikation über die Behinderung hinwegsieht. Für die neuere Systemtheorie sind soziale Systeme Gebilde mit Eigengesetzlichkeiten und Grenzen. Die Gruppe der Behinderten weist eine Reihe von Eigengesetzlichkeiten (z. B. die Begrenzung von Integrationsmöglichkeiten) auf. Die Ausdifferenzierung von Systemen kann nur durch Selbstreferenz Zustandekommen, d. h. dadurch, daß die Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst Bezug nehmen (Luhmann 1985). Elemente werden immer durch das System konstituiert, das aus ihnen besteht. Damit wird gesetzt, daß ein auf Leistung hin orientiertes soziales System, eine Leistungsgesellschaft, ihre Elemente nach dem Modell der Leistung einrichtet und somit auch die Behinderten mit dem Maßstab der Leistung mißt. Selbstreferenz bedeutet: Die Einheit des Systems muß zustandegebracht werden. Sie ist nicht schon da. Folglich muß ständig an der Aufhebung der Unterschiedlichkeit zwischen Nichtbehinderten und Behinderten gearbeitet werden, wenn von der Einheit des Systems geredet werden soll. Psychoanalytische Elemente soziologischer Theorie: Von Interesse sind in diesem Zusammenhang die Abwehrmechanismen, etwa der Rückzug aus der Gruppe der Behinderten oder die Projektion in dem Sinne, daß wir den Behinderten mit unseren Maßstäben begegnen und vielfach nicht in der Lage sind, sie mit ihren eigenen Maßstäben zu messen. 6. Unterschiedliche Schülerrollen Rolle ist die Gesamtheit der kulturellen Muster, die mit einer bestimmten Position verbunden sind, d. h. mit einem bestimmten Platz, den jemand in einem sozialen System einnimmt. Wenn von kulturellen Verhaltensmustern die Rede ist, so wird damit der Zwang angedeutet, der den Mustern innewohnt. Rollen haben somit Verbindlichkeitscharakter. Die kulturellen Muster werden auch als gebündelte Verhaltenserwartungen bezeichnet. Sie weisen über die individuellen Verhaltensformen hinaus und haben somit überindividuellen Charakter. Positionen werden von den einzelnen Menschen eingenommen, z. B. die Position der Mutter, der Lehrerin, des Kaufmanns, des Deutschen usw. Sie sind nicht zwangsläufig an bestimmte Personen gebunden, z. B. dann nicht, wenn der Vater sein Geschäft auf seinen Sohn überträgt. Positionen sind grundsätzlich veränderbar, jedoch ist der Grad der Veränderbarkeit geringer als das bei sozialen Rollen der Fall ist. Eine häufig anzutreffende Schülerrolle ist diejenige des arbeitswilligen, lernbereiten Schülers, der weder als Star noch als Außenseiter eingestuft werden
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kann, der sich aber auch nicht in die Sphäre der Machtlosigkeit innerhalb der Gruppe abdrängen läßt, sondern vielmehr seine Rechte und Interessen den Umständen nach durchzusetzen versteht. Man kann davon ausgehen, daß die meisten Schüler sich mehr oder weniger "normal" verhalten, wenn man berücksichtigt, daß Kinder und Jugendliche besondere Probleme hinsichtlich der Entwicklung ihrer personalen Identität haben. Viele Schüler entsprechen den allgemeinen Erwartungen und Verhaltensmaßstäben. Sie können deswegen nicht als "Mitläufer" oder "Unbeachtete" bezeichnet werden. Irgendwie wird jeder Schüler beachtet, und irgendwie ist jeder Schüler ein Mitläufer, zumindest in bestimmten Hinsichten. Diese beiden Etikettierungen enthalten eine deutliche abwertende Komponente, die den interaktiven Charakter der Begriffe andeutet. Zur Normalität des Verhaltens im pädagogischen Arbeitsfeld gehört ein so großes Maß an Konfliktfähigkeit, Balancierfähigkeit zwischen Anpassung und individueller Persönlichkeitsgestaltung, ferner an Frustrationsbewältigung, Lernwillen und Bildungsmotivation, daß der Terminus "normaler Schüler/normale Schülerin" diesem hohen Standard des soziokulturellen Handelns nicht gerecht wird, dennoch aber infolge Ermangelung griffiger Wörter durchaus verwendungsfahig ist. Weiterhin gibt es Schüler, die durch besondere Empfindsamkeit auffallen. Wenig beliebt sind Schüler, die durch Schlägerei als besondere Form der Aggressivität auf sich aufmerksam machen und Mitschülern und Lehrkräften den Schulalltag erschweren. In den meisten Lerngruppen findet man Stars als besonders beliebte Schüler. Vielfach sind die Stars Klassensprecher. Umgekehrt haben die "schwarzen Schafe" es schwer, sich durchzusetzen. Sie stehen am Rand des Interaktionsgefüges der Schulklasse oder Lerngruppe und sind daher "marginale" Schüler. In manchen Lerngruppen findet man Schüler, die - oft durch bestimmte Zufälle oder sonstige Definitionsprozesse bedingt - in die Rolle des Klassenclowns einsteigen und diese Rolle bei geeigneten Gelegenheiten gern spielen. Eine weitere Verhaltensvariable ist der "Sportkamerad", der sich durch sportliche Leistungen und Verhaltensmuster kennzeichnet (fair sein) und auf die Mitschüler Rücksicht nimmt. Alle hier genannten Verhaltenspositionen sind zeitlich begrenzte Formen sozialen Handelns und damit letztlich Verhaltensvariablen, ausgestattet mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Intensitätsgraden der Wandelbarkeit. Von "Typen" sollte im Regelfall nicht gesprochen werden. In der Typisierung werden Definitionsakte und möglicherweise langfristige dysfunktionale Festschreibungen vollzogen. Wer häufig als schwarzes Schaf bezeichnet oder behandelt wird, glaubt am Ende vielleicht selbst an dieses dysfunktionale Fremdurteil. Interaktionsprozesse solcher Art sind negative Versionen der sich selbst erfüllenden Prophetie (selffullfilling prophecy). Der interaktionistischen Rollentheorie kommt das Verdienst zu, theoretisch festgeschriebenes Rollenverhalten aufzubrechen und es durch Verweis auf die Möglichkeiten der aktiven Ausgestaltung der sozialen Rollen (role making) zu dynamisieren. Besondere Bedeutung kommt hier dem Vorgang der Rollendistanz zu, d. h. der Entwicklung der Fähigkeit, eine bestimmte Rolle (Beispiel: randständiger Schüler oder Lehrer) nach eigenem Ermessen zu interpretieren. Die interaktionistische Methode der Interpretation wird konsequent auf das Rollenhandeln angewendet. Die interaktionistischen Va-
17 riationen der Rollentheorie sind selbstverständlich auf alle an pädagogischer Arbeit Beteiligten anzuwenden. 7. P ä d a g o g i s c h e B e r u f e a u s der Sicht interaktionistischer Rollentheorie Im sozialen Feld konkurrieren verschiedene pädagogische Berufe um Aufgaben und Tätigkeiten. Allokations-, Selektions- und Distributionsprozesse sind bei der Beschreibung einer beruflichen Stelle, einer Position, zu beachten. Es kann in der horizontalen Ebene (Kollegen) genauso zu Konflikten kommen wie der vertikalen (Hierarchie). Durch die Schaffung verschiedener pädagogischer Berufe mit nicht immer eindeutigen Berufsprofilen kann es auf beiden Ebenen zu manifesten Konflikten kommen. Deshalb versuchen die unterschiedlichen Ausbildungsgänge (von der Fachschule bis zur Universität) durch differenzierte Ausbildungs- und Studienordnungen eigene Akzente zu setzen. Das wirkt sich häufig bei der realen Besetzung einer Stelle noch nicht aus, weil für bestimmte Positionen keine eindeutigen Tätigkeitsbeschreibungen in der Praxis vorgenommen werden. So kann eine Stelle in der Heimerziehung durchaus von einem Erzieher oder einer Sozialpädagogin besetzt werden; in der Erziehungsberatung ist die Lehrerin genauso anzutreffen wie der Diplompädagoge oder die Diplompsychologin. Aus dieser Tatsache können sich innerberufliche Konflikte ergeben, da jeder pädagogische Beruf um Abgrenzung von den anderen, um die Darstellung genuiner Kompetenzen bedacht ist. Aus berufssoziologischer Sicht geht es bei diesen Tatsachen um eindeutige Berufsrollenzuweisungen, in denen das Anforderungsprofil der Tätigkeit, die Beschreibung der Tätigkeitsmerkmale und die materiellen, tarifvertraglichen Regelungen fixiert werden. So lassen sich Berufsrollenkollisionen vermeiden, die sich aufgrund der Berufsausbildung und Berufsausübung ergeben. Parallel dazu befinden sich konkrete Rollenprobleme, die aus der Zusammenarbeit mit Arbeitskolleginnen, Vorgesetzten und Mitarbeitern erwachsen können. Zusätzlich werden an die im pädagogischen Feld Tätigen unterschiedliche Rollenerwartungen gestellt, die sich nicht nur aus dem Aufgabenspektrum und den institutionellen Rahmenbedingungen ergeben, sondern von anderen Bezugspersonen aus dem freundschaftlichen, nachbarschaftlichen oder den familiären Netzwerken formuliert oder signalisiert werden. Helga LangeGarritsen (1970) hat aus einem trivialen Rollenverständnis heraus (Lehrerberuf als Rollenbündel) die Komplexität der Lehrerrolle und die Konfliktpotentiale, die sich daraus ergeben, zu beschreiben versucht. Sie analysiert fünf verschiedene Rollensegmente aufgrund einer eigenen empirischen Untersuchung. Dabei beschreibt sie die pädagogische Rolle des Lehrers als "Fachmann für Erziehung und Unterricht", die Kollegen-Rolle, die geprägt sein kann von sozialer Isoliertheit, von funktionalen, aber auch dysfunktionalen Beziehungen (z. B. Austausch von Ärger, Cliquenbildung, Klatsch), die Beamten-Rolle, die ihn in Hierarchien verankert, ihm Beamtenpflichten
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auferlegt, ihn in didaktische Leitlinien (Curricula) preßt -, die Rolle des Lehrers als "Erziehungspartner der Eltern", aber auch seine öffentliche Rolle, die der Lehrer in der Gesellschaft hat. Viele dieser aufgezeigten Störfaktoren, die sich entweder in der pädagogischen Lehrerrolle als Disziplinproblem, als didaktisches Vermittlungsproblem oder als Emanzipationsstreben der Schüler zeigen, sind mit anderem Vorzeichen auch heute noch aktuell. Andere Probleme, die sich z. B. aus dem damaligen sehr strengen Band des Lehrers an die Schulbehörden ergeben, haben sich relativiert; der Einfluß der Elternschaft auf das Unterrichtsgeschehen hat sich wesentlich verstärkt. Bei der soziologischen Betrachtungsweise sollte nicht der dynamische Aspekt der Lehrerrolle vernachlässigt werden, der sich aus grundlegenden historischen und gesellschaftlichen Umdefinitionen und Veränderungen genau ergeben kann, wie durch die Veränderungen der Lehrerkultur oder ganz konkret durch den Wandel der Schulatmosphäre, z. B. durch Kollegenwechsel. In den sechziger und siebziger Jahren gab es eine intensive Diskussion über die Bedeutung verschiedener Rollentheorien. Der Disput entzündete sich an der Studie Ralf Dahrendorfs (1977), der die Manifestierung des "ewigen Gegensatzes von gesellschaftsferner Individualität und determinierender Gesellschaft, zwischen dem soziologischen Verständnis des Menschen und dem moralischen und politischen Anspruch auf Freiheit vorgeworfen wird." (H. Joas 1978, S. 19). Nach Dahrendorf bedroht das Sein in Rollen die Unabhängigkeit des Denkens und Handelns. "Dahrendorf berücksichtigt nicht die Selbst Verwirklichung des Menschen in Rollen ... - Für ihn rührt die Entfremdung der Menschen aus dem übermäßigen Druck der Gesellschaft her, der den einzelnen dazu zwingt, Rollen zu übernehmen." (U. Coburn-Staege 1973, S. 91 u. 93). Gleichwohl sind durch die rollentheoretische Schrift Begriffe aus der Rollenkonfliktforschung und der Bezugsgruppentheorie zusammengefügt worden. Dahrendorf verdeutlicht an dem Beispiel des Studienrates Schmidt, "daß die Instanz, die Rollenerwartungen und -Sanktionen bestimmt, sich in dem Ausschnitt der in Bezugsgruppen geltenden Normen und Sanktionen finden läßt, der sich auf durch diese Gruppen lokalisierte Positionen und Rollen bezieht." (R. Dahrendorf, a. a. 0., S. 48). "Neben den zugeschriebenen Positionen (ascribed-positions) hat Herr Schmidt als Deutscher in der Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch eine Reihe von erworbenen Positionen (achieved positions) ... Daß er "Studienrat", "Schatzmeister des 1. F. C. X-Stadt" und "Autofahrer" ist, bekundet j a wohl ein Element zur Wahl." (ebenda, S. 55). Dahrendorf differenziert zwischen Muß-, Soll- und Kann-Erwartungen von sozialen Positionen, die sich in der Schärfe der Sanktionen unterscheiden. Geraten die Erwartungen verschiedener Bezugsgruppen an ein und dieselbe Position in Konflikt, so spricht Dahrendorf im Anschluß an Merton von einem Intra-Rollenkonflikt. (Beispiel: Die Krankenkassen erwarten von den Ärzten kostengünstige Verschreibungen, der Patient möchte die beste Behandlung.) Der Inter-Rollenkonflikt entsteht durch die Widersprüchlichkeit in den Erwartungen an die verschiedenen Positionen, die eine Person gleichzeitig in-
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nehat. (Beispiel: Die Heimerzieherin eines Altenwohnheims möchte aus "pädagogischer Sicht" die bestmögliche Betreuung der Bewohner, stößt als "Verwaltungsfachfrau" auf wirtschaftliche Grenzen.) Eine größere Bedeutung für pädagogische Berufe dürften die interaktionistischen Rollentheorien haben. Wir haben bereits betont, daß die Identitätsfindung, die Stabilisierung von Ich-Identität als wichtigstes Ziel des symbolischen Interaktionismus ausgemacht werden kann. Dabei hat für Habermas die Ich-Identität offensichtlich nicht nur einen deskriptiven Sinn: "(Ich-Identität) beschreibt eine symbolische Organisation des Ich, die einerseits universale Vorbildlichkeit beansprucht, weil sie in Strukturen von Bildungsprozessen überhaupt angelegt ist und optimale Lösungen für kulturinvariant wiederkehrende Handlungsprobleme ermöglicht; andererseits stellt sich eine autonome Ichorganisation keineswegs regelmäßig, etwa als Resultat naturwüchsiger Reifungsprozesse ein, sie wird sogar meistens verfehlt." (J. Habermas 1982, S. 64). Habermas unterscheidet zwischen natürlicher Identität, Rollenidentität und Ich-Identität. Erst auf dem dritten Niveau verwandeln sich die Rollenträger in Personen, die über Identität unabhängig von konkreten Rollen sich in besonderen Normensystemen behaupten können. Für ihn treffen dann formal-operationales Denken und kommunikatives Handeln und Diskurs zusammen. "Die Rollenidentität wird durch die Ich-Identität abgelöst; die Akteure begegnen sich sozusagen durch ihre objektiven Lebenszusammenhänge hindurch, als Individuen." (ebenda, S. 80) "Ich-Identität kann sich in der Fähigkeit des Erwachsenen bewähren, in Konfliktlagen neue Identitäten aufzubauen und diese mit den überwundenen älteren Identitäten in Einklang zu bringen, um sich und seine Interaktionen unter Anleitung allgemeiner Prinzipien und Verfahrensweisen in einer einzigartigen Lebensgeschichte zu organisieren." (ebenda, S. 85) Gerade sozialpädagogische Berufe stehen häufig vor diesem Problem: Familienväter werden arbeitslos, Asylbewerber verlieren ihre gewohnten kulturellen Muster, alte Menschen erleben den Tod ihres Ehepartners etc. Häufig gelingt es dann nicht mehr, ohne fremde professionelle Hilfe neue Ereignisse in das Selbstkonzept erfolgreich aufzunehmen: die Ich-Identität ist gefährdet oder stark beschädigt. Hier setzt Psychotherapie oder klinische Soziologie an. Das setzt voraus, daß "Rollenwechsel". als normales menschliches Phänomen angesehen werden sollte. Melvyn L. Fein (1990, S. 13) betont, daß der symbolische Interaktionismus eines Mead oder Turner, Rollen besonders aus der Sichtweise des Rollenträgers definiert, nicht wie der strukturelle Funktionalismus oder die Systemtheorie, die bei der Rollendefinition primär von den Erwartungen fremder Gesellschaftsmitglieder ausgehen. Für ihn sind bei der Rollengestaltung beide Aspekte des symbolischen Interaktionismus wichtig: "In facts, roles are a combination of internal and external factors. The objective behavior that constitute a person's role are controlled both what her partner demand and by what she intends." (ebenda, S. 14). Für ihn werden Rollen modifiziert durch die menschliche Interaktion. Allerdings ist der Prozeß der Rollenmodifikation ein recht langsamer. Er verläuft für Fein kurvenartig z. B. bei dem Verlust eines wichtigen Partners. Der Prozeß beginnt mit einer Negierung der Tatsache (Denial), es folgen Angst, die Uminterpretation
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der Tatsache (Bargaining), die starke Depression, wenn die Uminterpretation nicht gelingt. Wenn der Verlust akzeptiert werden kann, können auch neue Beziehungen aufgearbeitet und ein neues Rollenkonzept aufgebaut werden (ebenda, S. 49). Allerdings sind dort Hindernisse aufgebaut-kognitive Strukturen, Emotionen, Willenseigenschaften und soziale Erwartungen - die den Rollenänderungsprozeß hemmen können (ebenda, S. 52 ff.). Erst wenn die wichtigen Hindernisse beseitigt werden können und die Person beginnt, die unbefriedigenden Verhaltensmuster zu revidieren, wird sie in der Lage sein, neue Rollenbeziehungen einzugehen. Fein sieht die Aufgabe eines Therapeuten darin, diesen Rollenfindungsprozeß als "guter Unterhändler" zu begleiten und mit den Klienten bei der Beseitigung der dysfunktionalen Rollen in aller Fairneß zu arbeiten. Im zunehmenden Maße öffnet sieb das Aufgabenfeld der Supervision und der Organisationsentwicklung den Erziebungs- und Sozisdwissenscbaftlern. Supervision und Organisationsentwicklung erschließt sich aus dem konkreten Praxisfeld. Pallasch weist diese Praxisfelder im therapeutischen, im psychologischen (Kommunikations-, Interaktions- und Kooperationsprobleme usw.), im sozialpädagogischen (z.B. Devianz), im pädagogischen (von der Kindergartenarbeit bis zur Erwachsenenbildung) und im unterrichtlichen Kontext auf (vgl. Waldemar Pallasch 1991, S. 58 - 70). Interaktionistische Supervisionskonzepte orientieren sich häufig deshalb an dem Mead'sehen Ansatz, weil er sich zur Erklärung vielfältiger interaktionistischer Phänomene in supervisorischer Praxis eignet: "Er hilft uns, insbesondere die Art und Qualität gegenseitiger Einsteuerungen zwischen Praktikern und Klienten zu erhellen." (A. Schreyögg 1991, S. 265). Zur Zeit befindet sich die Supervision auf der Suche nach der Erwachsenenbildung. Für Schäffter ist dabei der Ausgangspunkt "die besondere Bedarfslage bei den Mitarbeitern in der Erwachsenenbildung in bezug auf reflexives Lernen." (O. Schäffter 1992, S. 268). Reflexion der eigenen Bildungstätigkeit steht dabei im engen Zusammenhang mit der Hoffnung, schrittweise zu so etwas wie "Professionalität", d. h. in stärkerer Bewußtheit auf die eigene erwachsenen-pädagogische Kompetenz zu gelangen. Vielfach werden Supervisionsangebote, aber auch andere Formen pädagogischer Fortbildung geradezu als Gegengewicht zur täglichen Bildungspraxis genutzt, so daß kein Interesse an einem unmittelbaren Transfer in den Alltag bestehen kann. Häufig verknüpfen sich Supervisionsarbeit und Organisationsentwicklung in Forschungsprojekten. In Berufsbildungsprojekten geht es häufig darum, Rahmenbedingungen zu erproben (z. B. Ausbildung in verschiedenen Lernorten, zusätzliche pädagogische Begleitungen) und Interaktionsprobleme aufzuarbeiten (vgl. G. Breitkreuz 1991). Hier wird die Schnitt- und Bindungsstelle zwischen der Teamsupervision und Organisationsberatung deutlich. Für Wolfgang Weigang ist die Teamsupervision "derzeit das Beratungssetting, dem die Nachfrage aus dem psychosozialen Bereich gilt." (W. Weigang, a. a. O., S. 188). Harald Pühl sieht die Einzelsupervision in der Schnittstelle zwischen persönlicher und beruflicher Rolle. Er bezieht sie dabei auf B. Sievers, wenn er feststellt, "daß die persönlichen Anteile - und zwar auch sehr viel unbewußte Anteile - in die Rolle gleichzeitig mit den organisatorischen Anforderungen eingehen" (H. Pühl 1992, S. 260). Auch hier kann ein interaktio-
21 nistisches Rollenkonzept helfen, festgefahrene Persönlichkeits- oder Organisationsstrukturen zu entflechten. L i t e r a t u r z u m 1. Kapitel Berger, P./Luckmann, Th.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit - Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/Main 1969 Blumer, H.: Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1, Reinbek bei Hamburg 1973 Breitkreuz, G.: Das Projekt Umschulung arbeitsloser Frauen. In: Grundlagen der Weiterbildung, Praxishilfen. Neuwied 1991 Cicourel, A.: Basisregeln und normative Regeln im Prozeß des Aushandelns von Status und Rolle. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1, Reinbek bei Hamburg 1973 Cicourel, A. V.: Sprache in der sozialen Interaktion. München 1975 Coburn-Staege,U.: Der Rollenbegriff. Heidelberg 1973 Dahrendorf, R.: Homo sociologicus. Opladen 1977, 15. Auflage Dittmar, N.: Soziolinguistik. Frankfurt/Main 1974 Dürkheim, E.: Erziehung und Soziologie. Düsseldorf 1972 Fein, M. L.: Role Change. New York, Westport, Connecticut, London 1990 Garfinkel, H.: Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1, Reinbek bei Hamburg 1973 Goffman, E.: Stigma. Frankfurt/Main 1975 Göppner, H.-J.: Sozialisation durch Sprache. Bad Heilbrunn 1978 Habermas, J . : Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt am Main 1982, 3. Auflage Hartig, M./Kurz, U.: Sprache als soziale Kontrolle - Neue Ansätze zur Soziolinguistik. Frankfurt/Main 1971 Helle, H.-J.: Verstehende Soziologie und Theorie der symbolischen Interaktion. Stuttgart 1977 Hurrelmann, K./Ulich, D. (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim und Basel 1982, 2. Auflage Iben, G.: Zum Begriff der sozialen Benachteiligung. In: Deppe-Wolfinger, H. (Hrsg.): Behindert und abgeschoben, Weinheim und Basel 1983 Jauch, S.: Behinderte und Nichtbehinderte in einer Freizeitgruppe. Frankfurt/Main 1983
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Joas, H.: Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie. Wiesbaden 1978, 3. erweiterte Auflage Kjolseth, R./Sack, F. (Hrsg.): Zur Soziologie der Sprache. Opladen 1971 Krappmann, L.: Neuere Rollenkonzepte als Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse. In: Hrsg. b:e Redaktion: Familienerziehung, Sozialschicht und Schulerfolg. Weinheim und Basel 1971 Krappmann, L.: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart 1982, 6. Auflage Lange-Garritsen, H: Strukturprobleme des Lehrerberufs, Studien in Sozialwissenschaft, Band 4, Düsseldorf 1970 Lawton, D.: Soziale Klasse, Sprache und Erziehung. Düsseldorf 1970 Mannheim, K.: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958 Mead, G. H.: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/ Main 1973 Niepold, W.: Sprache und soziale Schicht. Berlin 1971 Pallasch, W.: Supervision. Weinheimund München 1991 Pareto, V.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. Mongardini, C. Frankfurt/Main, Berlin/Wien 1975 Pühl, H.: Einzelsupervision im Schnittpunkt von persönlicher und beruflicher Rolle. In: Harald Pühl(Hrsg.): Handbuch der Supervision, Berlin 1992 Schäffter, O.: Institutionenberatung bei Einrichtungen und Projekte der Erwachsenenbildung. In: Harald Pühl (Hrsg.): Handbuch der Supervision, Berlin 1992 Schreyögg, A.: Supervision, ein integratives Modell. Paderborn 1991 Schröter, G.: Einführung in die Schulpraxis. Worms 1965 Seywald, A.: Körperliche Behinderung - Grundfragen einer Soziologie der Benachteiligten. Frankfurt/Main/New York 1977 Tillmann, K.-J.: Sozialisationstheorien. Hamburg 1989 Tönnies, F.: Gemeinschaft und Gesellschaft. Darmstadt 1963 Weigang, W.: Interventionen in Organisationen: Ein Grenzgang zwischen Teamsupervision und Organisationsberatung. In: Harald Pühl (Hrsg.): Handbuch der Supervision, Berlin 1992
Kapitel 2 Die Kommunikationstheorie als grundlegende Perspektive für pädagogisches Handeln
Einleitende Bemerkungen zur Theorie des kommunikativen Handelns Kommunikation ist die grundlegende Verhaltensform im Zusammenleben der Menschen. Man kann von unterschiedlichen soziologischen Theorieansätzen aus die Kommunikation aufgreifen. Da Jürgen Habermas der Theorie des kommunikativen Handelns ein umfangreiches zweibändiges Werk gewidmet hat (Habermas 1981), soll sein handlungstheoretischer Einstieg in die Kommunikation hier kurz skizziert werden. Habermas verknüpft seine Kommunikationstheorie mit Max Webers Konzept der gesellschaftlichen Rationalisierung. Mit Recht interpretiert Habermas Webers Handlungstypologie so, daß dessen Hierarchie der Handlungsbegriffe auf den Typus des zweckrationalen Handelns hin angelegt ist. Alle übrigen Handlungen (wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln) können dann als Abweichungen vom Typus des zweckrationalen Handelns eingestuft werden. Habermas geht von der Wertvoraussetzung aus, daß die Soziologie, die als Theorie der bürgerlichen Gesellschaft entsteht, auf metatheoretischer Ebene Grundbegriffe wählt, "die auf den Rationalitätszuwachs der modernen Lebenswelt zugeschnitten sind" (a. a. O., Band 1, S. 21 f.). Die Rationalität einer Äußerung meint deren Kritisierbarkeit und Begründungsfahigkeit. Begründungsfähigkeit bedeutet, daß das Subjekt, dem die rationalen Äußerungen zugerechnet werden, unter geeigneten Umständen selbst in der Lage sein soll, Gründe anzuführen. In Anknüpfung an die Tradition der Sinnbezogenheit des sozialen Handelns (M. Weber) und der Sinnhaftigkeit des Aufbaus der sozialen Welt (H. Schütz) legt Habermas seinen kommunikationstheoretischen Entwurf auf Konsens an: "Zusammenfassend läßt sich sagen, daß normenregulierte Handlungen, expressive Selbstdarstellungen und evaluative Äußerungen konstative Sprechhandlungen zu einer kommunikativen Praxis ergänzen, die vor dem Hintergrund einer Lebenswelt auf die Erzielung, Erhaltung und Erneuerung von Konsens angelegt ist, und zwar eines Konsenses, der auf der intersubjektiven Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche beruht" (a. a. O., Band 1, S. 37). Rationale Äußerungen sind wegen ihrer Kritisierbarkeit auch verbesserungsfähig. Das Medium, mit dem korrigierbare Erfahrungen produktiv verarbeitet werden können, ist der theoretische Diskurs, d. h. die Form der Argumentation, in der kontroverse Wahrheitsansprüche zum Thema gemacht werden. Im Unterschied dazu ist der explikative Diskurs eine Form der Argumentation, "in der die Verständlichkeit, Wohlgeformtheit oder Regelrichtigkeit von symbolischen Ausdrücken nicht mehr naiv unterstellt oder abgestritten, sondern als kontroverser Anspruch zum Thema gemacht wird"
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KAPITEL
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(a. a. 0., Band 1, S. 44). Rationalität versteht Habermas als eine Disposition sprach- und handlungsfähiger Subjekte. Unterschieden werden fünf Handlungsbegriffe: 1. Das teleologische Handeln. Es steht seit Aristoteles im Mittelpunkt der philosophischen Handlungstheorie. Das Handeln ist auf einen Endzweck gerichtet. Es bewirkt das Eintreten eines erwünschten Zustandes. 2. Das strategische Handlungsmodell. In das Erfolgskalkül des Handelnden kann die Erwartung von Entscheidungen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors eingehen. 3. Das normenregulierte Handeln. Es bezieht sich auf Mitglieder einer sozialen Gruppe, die ihr Handeln an gemeinsamen Werten orientieren. Handelnde befolgen eine Norm oder verstoßen gegen sie, sobald in einer gegebenen Situation Bedingungen vorliegen, auf welche die Norm Anwendung findet. Normbefolgung bedeutet die Erfüllung einer allgemeinen Verhaltenserwartung. Das normative Handlungsmodell liegt der Rollentheorie zugrunde. 4. Das dramaturgische Handeln. Es bezieht sich vor allem auf Interaktionsteilnehmer, die füreinander ein Publikum bilden, vor dessen Augen sie sich darstellen. Das Handeln steht im Zeichen der Selbstrepräsentation. 5. Das kommunikative Handeln. Es bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die eine interpersonale Beziehung eingehen. "Der zentrale Begriff der Interpretation bezieht sich in erster Linie auf das Aushandeln konsensfähiger Situationsdefinitionen. In diesem Handlungsmodell erhält die Sprache ... einen prominenten Stellenwert" (a. a. 0., Band 1, S. 128). Kommunikative Handlungen können im Konzept von Habermas nur rational gedeutet werden. Er sieht einen fundamentalen Zusammenhang zwischen dem Verständnis kommunikativer Handlungen und (dem Ansatz nach) rationalen Deutungen. Die Alltagskommunikation ist kontextgebunden, d. h. eine Äußerung steht niemals für sich selber. Ihr wächst ein Bedeutungsgehalt aus dem Zusammenhang zu, dessen Verständnis der Sprecher beim Hörer voraussetzt. Im Rekurs auf Garfinkel bezieht sich eine Theorie des Aufbaus und der Reproduktion von Handlungssituationen überhaupt auf die Invarianzen der Deutungsprozeduren, deren sich die Teilnehmer an der Kommunikation bedienen. Das Interesse richtet sich auf universale Merkmale des Referenzsystems für Sprecher- Hörer-Beziehungen, als auf - die narrative Organisation zeitlicher Sequenzen - die interpersonale Organisation räumlicher Distanzen - die Objektivität einer gemeinsamen Welt - fundamentale Normalitätserwartungen - das Verständnis für die Kontextabhängigkeit und Interpretationsbedürftigkeit kommunikativer Äußerungen (a. a. 0., Band 1, S. 185). Die Ethnomethodologie, die Habermas für seine Theorie des kommunikativen Handelns in Anspruch nimmt, befaßt sich mit der Interpretation als einer Dauerleistung der Interaktionsteilnehmer, mit "Mikrovorgängen der Situationsdeutung und Konsenssicherung". Unter dem Mikroskop erweist sich jede Verständigung als okkasionell und zerbrechlich. Daraus resultiert der
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"Weg v o m kommunikativen Handeln z u m Diskurs". Die Rationalitätsproblematik kommt nicht von außen auf die Soziologie zu. Sie kommt vielmehr von innen: "Sie ist zentriert in einem gleichermaßen metatheoretisch wie methodologisch grundlegenden Begriff von Verständigung" (a. a. O., B a n d 1, S . 196). Mit Hecht stellt H a b e r m a s einen internen Bezug zwischen der Soziologie und einer Theorie der Rationalisierung fest. Damit liegt er ganz auf der Linie M a x Webers. Die Rationalität der Verständigung liegt für Habermas in dem Vorgang der Einigung unter sprach- und handlungsfähigen Subjekten. Sein Ziel ist die Erfassung allgemeiner Strukturen von Verständigungsprozessen in Verbindung mit formal zu charakterisierenden Teilnahmebedingungen. "Verständigung bedeutet die Einigung der Kommunikationsteilnehmer über die Gültigkeit einer Äußerung; Einverständnis ist die intersubjektive Anerkennung des Geltungsanspruchs, den der Sprecher für sie erhebt" (a. a. 0 . , B a n d 2, S. 184). Habermas schlägt vor, die Gesellschaft gleichzeitig als System und Lebenswelt zu konzipieren. Lebenswelt ist der Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln. Das Subjekt erlebt die Lebenswelt fraglos. Die Lebenswelt kann gar nicht problematisch werden. Sie kann allenfalls zusammenbrechen. "Die Lebenswelt ist in einem Modus der Selbstverständlichkeit gegeben, der sich nur diesseits der Schwelle grundsätzlich kritisierbarer Überzeugungen erhalten kann ... Diese Gewißheit verdankt die Lebenswelt einem in die Intersubjektivität sprachlicher Verständigung eingebauten sozialen Apriori" (a. a. O., B a n d 2, S. 199). Gesellschaft ist für H a b e r m a s ein "Gewebe kommunikativer Handlungen, die nur im Lichte kultureller Überlieferungen gelingen können ..." (ebenda, S. 223). Die Integration der Gesellschaft wird nicht gesichert durch systemische Mechanismen, "die d e m intuitiven Wissen ihrer Angehörigen entzogen sind" (ebenda, S . 223 f.). Gesellschaft ist eine Entität, die sich im Verlauf der Evolution sowohl als S y s t e m wie als Lebenswelt ausdifferenziert. Die Systemevolution bemißt sich an der Steigerung der Steuerungskapazität einer Gesellschaft.
Kritische Interpretation Mit seiner Kommunikationstheorie führt Habermas eine international beachtete soziologische Tradition fort: die a m Rationalitätsmodell orientierte Handlungstheorie M a x Webers, deren letzthinniges S u b s t r a t d a s sinnbezogene soziale Handeln des Subjekts ist. F ü r M a x Weber bedeutet Rationalisierung den Glauben daran oder d a s Wissen davon, daß man im Prinzip, wenn man nur wollte, alle Dinge durch Berechnung beherrschen könne. Im Hinblick auf die Stabilisierung gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen bedeutet Rationalität für Webef die Gebundenheit des individuellen Handelns an berechenbare Regeln, so daß d a s soziale Handeln der Willkür entzogen und damit überschaubar wird. Für Habermas liegt die Rationalität des sozialen Handelns in der Kritisierbarkeit und Begründungsfähigkeit einer Äußerung. Rationalität ist eine Disposition des sprach- und handlungsfähigen Sub-
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KAPITEL jekts. Rationalität ist somit eine dem Subjekt zugeschriebene spezifische Handlungsqualität. Rationalität liegt aber darüber hinaus in einem Interaktionskontext, der auf Verständigung ausgerichtet ist. Der Rationalitätsanspruch ist erfüllt, wenn das kommunikative Handeln auf Einigung und Konsens gerichtet ist, wenn die Teilnehmer am Diskurs auf intersubjektiver Ebene den Geltungsanspruch anerkennen, der vom Sprecher erhoben wird. Habermas schreibt nicht nur die von Max Weber konstituierte Tradition fort, sondern neben verschiedenen anderen Denkansätzen auch die interaktionistische Tradition. Die Rationalität der Wahrheitsfindung im Diskurs erstreckt sich folgerichtig auf Interaktionssysteme, nicht dagegen allein auf die Handlungskompetenz des Subjekts; denn das Subjekt ist immer in Interaktionssysteme eingebunden, in die unproblematische Atmosphäre der Lebenswelt. Sie erstreckt sich auch nicht auf eine über die Interaktionssysteme hinausgehende Ebene, etwa auf die Weltgesellschaft im Sinne Luhmanns oder auf die Konstruktion der Totale im Sinne Adornos. Da es viele Interaktionssysteme (als Handlungssysteme zwischen Subjekten) unterschiedlicher Art und Größe gibt, ist mit unendlich vielen Geltungsansprüchen auf wahre Aussagen zu rechnen. Diese Redundanz steht unter der ständigen Gefahr des Auseinanderfließens. Daher müssen die gegensteuerenden und auffangenden Initiativen auf Verständigung und Konsens gerichtet sein. Der Zwang zum Konsens und zur Verständigung im Konzept von Habermas entspringt aus dem Gefüge seiner Theoriekonstruktion, die sowohl an die (mehr oder weniger überschaubare) Lebenswelt wie auch an die Entität der Gesellschaft gebunden ist. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in System und Lebenswelt läßt sich als Rezeption der grundlegenden Begriffe "Gemeinschaft und Gesellschaft" in dem von F. Tönnies beschriebenen Sinne interpretieren. Mit der These, rationale Äußerungen seien wegen ihrer Kritisierbarkeit verbesserungsfahig, gehen wichtige Theorieelemente von K. R. Popper in das Konstrukt ein. Mit seiner These, daß kommunikative Handlungen nur rational gedeutet werden können, greift Habermas die von Max Weber entwickelte Theorie der idealtypischen Begriffsbildung auf und führt sie weiter. Das Lebensweltkonzept schließt an die Studien von Schütz an. Auch der Verweis auf die als fraglos empfundene Struktur der Lebenswelt ist zunächst auf das Modell des traditionalen Handelns im Sinne Max Webers zurückzuführen: "Das streng traditionale Verhalten steht ... ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ein 'sinnhaft' orientiertes Handeln überhaupt nennen kann" (M. Weber 1951, S. 551). Weiterhin bindet das Lebensweltkonzept an Husserl an. Die von Habermas angeführte Interpretationsbedürftigkeit kommunikativer Äußerungen steht in Verbindung mit der interaktionistischen Tradition. Das Modell des sozialen Handelns bedient sich der idealtypischen Begriffsbildung im Sinne eines erweiterbaren Systems. Hinzufügen ließen sich z. B. das Gemeinschaftshandeln und das Gesellschaftshandeln (M. Weber), das identifikatorische oder das imitatorische Handeln. Diese wenigen Beispiele zeigen, daß Habermas seine Theorie des kommunikativen Handelns auf einem respektablen Fundament aufbaut.
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27 Der systemorientierten Perspektive soziologischer Theoriebildung steht Habermas mit Zurückhaltung und Vorsicht gegenüber. Eine soziologische Grundfrage "Was ist es, das die Gesellschaft zusammenhält?" ist für ihn ein traditionsgebundenes Gewebe kommunikativer Handlungen. Diese Funktion bewirken "nicht etwa systemische Mechanismen, die dem intuitiven Wissen ihrer Angehörigen entzogen sind" (Habermas, a. a. 0 . , Band 2, S. 523 f.). Diese These wäre mit der Frage zu konfrontieren, ob denn die in den unendlichen Interaktionssystemen sich einpendelnden Gewebe kommunikativer Handlungen nicht auch so etwas wie "systemische Mechanismen" sind. Wahrheitsfindung durch kommunikatives Handeln bleibt bei Habermas auf die interaktive Ebene kommunizierender Subjekte begrenzt. So richtig dieser Ansatz auch ist, so läßt er andererseits die strukturellen und systembedingten Rahmenbedingungen der Wahrheitsund Konsensbildung vermissen, die nicht nur auf die jeweilige Lebenswelt beschränkt sind. Das Gewebe kommunikativer Handlungen entsteht auf dem Boden einer bestimmten Herrschaftsstruktur, z. B. der primär bürokratisch-legalen, der charismatischen oder traditionalen im Sinne M. Webers. Es entwickelt sich unter dem Einfluß der Eigendynamik und Selbstkonstruktion sozialer Systeme z. B. kirchlicher oder politischer Organisationen. Die langsame Umorientierung der Wählerschaft in einer Demokratie ist zum Leidwesen der jeweiligen politischen Führungsmannschaft ein strukturgebundener Prozeß, den eben diese führenden Politiker durch kommunikatives Handeln in den gegebenen Interaktionssystemen und Lebenswelten nicht in den Griff bekommen, so daß sie gegebenenfalls die Regierungsgeschäfte an die Opposition abgeben müssen, ohne daß die Rationalität des betreffenden politischen Systems aus der Hand gegeben worden wäre und Mechanismen im Spiel wären, die dem intuitiven Wissen der Mitglieder der vom Machtverlust bedrohten Regierungspartei entzogen wären. Die politischkulturelle Mentalität und Stimmung in einem Wahlvolk kann sich unter dem Einfluß zahlreicher Bedingungsfelder wandeln, die alle rational erfaßbar und interpretierbar sind. In solche Wandlungsprozesse gehen die veränderten politischen Einstellungen der Subjekte wie auch diejenigen der Interaktionssysteme ein. Umgekehrt werden kollektive Einstellungsveränderungen durch die veränderten eigengesetzlichen Evolutionsprozesse der sozialen Systeme bewirkt. So wirkt z. B. die Rationalität der übergreifenden gesellschaftlichen Struktur auf das Handeln der Subjekte und der intersubjektiven Gebilde ein und prägt es im Regelfall durchgehend einschließlich aller oppositionellen Regungen. Alle am Subjekt und der intersubjektiven Methode der Erkenntnisgewinnung orientierten Theorieansätze scheinen eine Hemmschwelle dort zu haben, wo die sozialpsychologische und philosophische Perspektive aufhört und die Soziologie als Soziologie anfängt. Exkurs: Kommunikation aus der Sicht der Systemtheorie Luhmanns Für Luhmann ist Kommunikation die Synthese dreier Selektionen. Sie ist
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Einheit aus Information (man verfügt über eine Mehrzahl von Informationen, aus der man auswählt), Mitteilung und Verstehen (womit keine Billigung der Mitteilung gesetzt ist). Kommunikation bezweckt eine Zustandsänderung des Adressaten. Damit ist nur das Verstehen des Sinnes der Mitteilung gemeint. Kommunikation und Handlung sind nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden (Luhmann 1985, S. 193). Der elementare, Soziales als besondere Realität konstituierende Prozeß ist ein Kommunikationsprozeß (ebenda, S. 193). Ein soziales System konstituiert sich auf der Basis des Grundgeschehens Kommunikation als Handlungssystem. Ein geläufiges Vorurteil (auch von Soziologen) besteht in der Zurechnung des Handelns auf konkrete Einzelmenschen. Dagegen ist zu sagen, daß eine Handlung nie voll durch die Vergangenheit des Einzelmenschen determiniert ist (ebenda, S. 229). Beobachter können das Handeln sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personkenntnis voraussehen. Insofern ist das Handeln nicht so sehr dem Mentalzustand des Handelnden zuzuschreiben, "sondern dem Mitvollzug der autopoietischen Reproduktion des sozialen Systems" (ebenda). Luhmann fügt hinzu: "Und trotzdem wird alltags weltlich Handeln auf Individuen zugerechnet" (ebenda). Das soziale Handeln entspringt nicht dem Individuum als solchen, sondern dem Individuum als Mitvollzieher des Selbstreproduktionsprozesses sozialer Systeme. Diese Selbstreproduktion können soziale Systeme nur mit Hilfe von Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen durchführen. Beides, Handlung und Kommunikation, ist notwendig. Beides muß laufend zusammenwirken, um die Reproduktion aus den Elementen der Reproduktion zu ermöglichen. Die Selbstbeobachtung ermöglicht und ernötigt Reflexion im Sinne einer Thematisierung der Identität des sozialen Systems (in Differenz zu anderem). Kommunikation kann nicht als systemintegrierende Leistung, nicht als Herstellung von Konsens begriffen werden. Zu den wichtigsten Leistungen der Kommunikation gehört die Sensibilisierung des Systems für Zufalle und für Störungen. "Durch Kommunikation begründet und steigert das System seine Empfindlichkeit und setzt sich so durch Dauersensibilität und Irritierbarkeit der Evolution aus" (ebenda, S. 237). Soziale Systeme bestehen aus Kommunikation und aus deren Zurechnung als Handlung. "Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme" (ebenda, S. 241).
1. Der herrschaftsfreie Diskurs in der Schule Für die pädagogische Arbeit ist Kommunikation auf der Ebene sprachlicher Kompetenz von grundlegender Bedeutung. Kompetenz im Sinne Chomskys ist die Fähigkeit eines idealen Sprechers, ein abstraktes System sprachgenerativer Regeln zu beherrschen (J. Habermas 1971, S. 101). Habermas hat ein idealtypisches Modell entworfen, das als Meßinstrument an die vielfältigen Sprechsituationen in der Schule und in anderen pädagogischen Handlungssituationen angelegt werden kann. Aus der Reihe der "Bestimmungen der idealen Sprechsituation" sollen hier einige Thesen dargestellt werden (ebenda, S. 136 ff.).
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1. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrung der Kommunikation aus. 2. Die Kommunikationsstruktur erzeugt nur dann keine Zwänge, wenn für alle möglichen Beteiligten eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuüben, gegeben ist. Dann besteht eine prinzipielle Austauschbarkeit der Dialogrollen, ferner eine effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung von Dialogrollen ("allgemeine Symmetrieannahme"). 3. Die Sprecher dürfen weder sich noch andere über ihre Intentionen täuschen. 4. Die ideale Sprechsituation fordert die Freisetzung des Diskurses von Handlungszwängen. Es sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleiche Chancen haben, Repräsentativa zu verwenden. 5. Erforderlich ist das reziproke Zusammenstimmen der Spielräume jeweils individueller Äußerungen, die "Gegenseitigkeit ungekränkter Selbstdarstellung". 6. Die kontrafaktischen Bedingungen der idealen Sprechsituation erweisen sich als Bedingungen einer idealen Lebensform. 7. Der Idee der symmetrischen Verteilung der Chancen bei der Wahl und der Ausübung von Sprechakten liegen die überlieferten Ideen der Wahrheit, der Freiheit und der Gerechtigkeit zugrunde. Wenn der Diskurs unter solchen Voraussetzungen ausgeführt wird, müßte sich ein Konsens ergeben, "der per se wahrer Konsensus wäre". Die konsensustheoretische Grundorientierung im Habermas'schen Modell der idealen Sprechsituation zielt auf die Fähigkeit der Diskursteilnehmer, "zwischen Sein und Schein, Wesen und Erscheinung, Wahrheit von Aussagen, die Wahrhaftigkeit von Äußerungen und die Richtigkeit von Handlungen zu beurteilen" (ebenda, S. 135). In jedem Diskurs sind die Sprecher genötigt, eine ideale Sprechsituation zu unterstellen. Habermas spricht dem Diskurs eine wiederherstellende Funktion zu: "In Diskursen suchen wir ein problematisiertes Einverständnis, das im kommunikativen Handeln bestanden hat, durch Begründung wiederherzustellen: in diesem Sinne spreche ich fortan von (diskursiver) Verständigung" (ebenda, S. 115).
Kritische Interpretation Die von Habermas skizzierte ideale Sprechsituation ist grundsätzlich eine geeignete Zielebene für pädagogisches Handeln schlechthin. Daß ideale Situationen in der Regel nicht und nur in Grenzfällen zufriedenstellend erreicht werden, liegt bereits in der Struktur des Begriffes begründet. Die ideale Sprechsituation ist eben ein abstrahierendes Modell mit der Funktion eines Meßinstruments für jeden Diskurs, d. h. für jede Sprechsituation, in der gegenläufige Aussagen Anspruch auf Geltung erheben. Die Wirklichkeit des pädagogischen Handlungsfeldes bringt eine Reihe von Beeinträchtigungen einer idealen Sprechsituation:
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KAPITEL Zu 1. Systematische Verzerrungen der Kommunikationssituation sind z. B. dort gegeben, wo Schüler ihren Lehrpersonen nicht alle zur Aufklärung einer prekären Situation notwendigen Informationen zukommen lassen und umgekehrt. Sie sind dort zu finden, wo das vitale Interesse einer Person oder Gruppe die Begründungen so verschiebt, daß die eigene Position in einem günstigen Licht erscheint. Die ideale Sprechsituation wird diskreditiert durch das systematische Festhalten an Vorurteilen (wider besseres Wissen). Zu 2. Die symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuüben, ist z. B. näherungsweise in einer homogenen Lehrer- und Schülergruppe möglich, nicht dagegen in der typischen Situation des Frontalunterrichts, da im Regelfall von der Überlegenheit der Lehrperson auszugehen ist. Selbst wenn die Lehrkraft eine Superiorität gezielt nicht ins Spiel bringt, ist der Zugang zu Sprechakten nicht symmetrisch verteilt. Der Grad der Zugänglichkeit zu Sprechakten wird asymmetrisiert durch die unterschiedlichen Effekte der familialen Sozialisation, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, zu bestimmten sozialen Systemen und die jeweilig unterschiedlichen Verhaltensmuster der sprechenden Personen. Zu 3. Ehrlichkeit im Argumentieren, Offenlegung aller für die Wahrheitsfindung wichtigen Informationen durch die am Diskurs Beteiligten ist ein funktionales Erfordernis für das kommunikative Handeln. Zu 4. Die Freisetzung des Diskurses von Handlungszwängen ist in der pädagogischen Alltagspraxis nur in Grenzfallen möglich. Alle sozialen Tatsachen und Prozesse sind durch Verbindlichkeit geprägt. Daher ist die Ausschaltung von Handlungszwängen im Dialog nur im Grenzfall möglich. Zu 5. Auch die Gegenseitigkeit ungekränkter Selbstdarstellung als reziprokes Zusammenstimmen der Spielräume der individuellen Argumente ist auf einer sehr hohen teleologischen Ebene angesetzt. Die Idee der Reziprozität suggeriert Chancengleichheit in gleicher Umverteilung. Die Zielvorgabe, sich selbst im Diskurs nicht das Gefühl des Beleidigtseins zuzuschreiben, ist von Habermas sehr treffsicher beschrieben worden. Das Empfinden des Gekränktseins ist nicht selten auf die mangelhafte Verarbeitungsfähigkeit des gegenläufigen Arguments zurückzuführen. Zu 6. Die Herstellung einer idealen Sprechsituation ist eine Bedingung für die Optimierung der Lebensform. Wenn z. B. die sozialpädagogische Leiterin einer Jugendwohngemeinschaft eine überzeugende und attraktive Sprechsituation in der Betreuung der ihr anvertrauten Jugendlichen herzustellen vermag, so ist diese Bemühung gleichzeitig als konstruktive Arbeit an der Verbesserung der gesamten Lebenssituation im Heim zu werten. Zu 7. Die symmetrische Chancenverteilung bei der Wahl und Ausübung von Sprechakten geht auf die überlieferten Werte Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit zurück. Diese Ideen sind mehr phi-
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31 losophischer und politischer Natur als wissenschaftlicher Beschaffenheit. Die Verwendung der drei Begriffe ist zugleich ein Anzeichen für den von Habermas angesetzten Blickwinkel der Philosophie. Die latente Bemühung, das Erbe der Philosophie in die Denkstrukturen der Soziologie einzubringen, wird offensichtlich durch den grundlegenden Rekurs auf Max Webers Begriff der europäischen Rationalisierung. Habermas' Neigung, die funktionale Analyse der Wirklichkeit eher an Idealfiguren als an der Faktizität aufzuhängen, deutet auf die Rezeption der idealistischen Komponente der Philosophie. So bedeutsam ein solcher Theorieansatz auch ist, so wenig kann er die Uberzeugung vermitteln, daß ein aus sich selbst heraus sich ergebender Konsens (per se) in jedem Diskursfall ein wünschenswertes Ziel ist. Allgemeine Übereinstimmung über alle Dinge in dieser Welt würde bald zumindest tendenziell zum kulturellen Stillstand führen. Die positive, wertschöpferische Komponente des Konflikts wird bei Habermas nicht übersehen; denn der Konflikt in der Gestalt des Diskurses geht als Prozeß der Wahrheitsfindung dem Konsens voraus. Konsens und Verständigung sind als wissenschaftliche und politischkulturelle Zielvorgaben sowohl in der jeweiligen Lebenswelt wie in intergesellschaftlichen Interaktionssystemen erstrebenswert. Konsens und Verständigung als Diskursziele sind nicht vereinbar mit der unendlichen Vielgestaltigkeit der Glaubens- und Wertorientierungen in der Weltgesellschaft. Diese (letztlich doch wohl teleologisch gemeinten) Ziele bleiben im wesentlichen auf die Interaktionssysteme der Lebenswelt beschränkt. Allein die unterschiedlichen Theorieansätze in der Soziologie deuten an, wie schwer ein Konsens erreichbar ist.
2. Verschiedene K o m m u n i k a t i o n s p r o z e s s e in der Schule Kommunikation wird nicht nur in Form von Diskursen im beschriebenen Sinne vollzogen. Der Begriff bezieht sich über die skizzierte handlungstheoretische Definition hinaus auf jeden strukturierten Handlungsablauf in einem sozialen System oder von System zu System, ferner zwischen einem sozialen System und seiner Umwelt. Kommunikation ist nicht nur auf Verständigung und Konsens gerichtetes soziales Handeln. Kommunikation ist Austausch von Gefühlen, Informationen und Meinungen. Die nonverbale Kommunikation bezieht sich auf den Austausch von Gefühlen, Empfindungen und Bedürfnissen. Kommunikation heißt grundsätzlich: Man wählt aus einer Vielzahl von möglichen Impulsen mehr oder weniger gezielt bestimmte Inhalte aus und übermittelt sie an Empfänger, die die an sie gerichteten Impulse auffangen und verstehen müssen, damit die Voraussetzungen für die Rückläufigkeit der Impulse gegeben sind. Wäre dieses Verständnis der Mitteilung nicht vorhanden, so würde der im Begriff communis liegende Anspruch auf Gemeinsamkeit unberücksichtigt bleiben. Von Kommunikation können wir dort sprechen, wo ein verbaler oder nonverbaler Impuls im Vollzug einer Interaktion übermittelt wird und auf der Verständnisebene verarbeitungsfähig ist. Von Metakommunikation sprechen wir, wenn wir über unsere Kommunikation kommunizieren, wenn wir
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also z. B. darüber sprechen, wie wir miteinander umgegangen sind. Kommunikation führt keineswegs in jedem Fall zum Konsens oder zum Einverständnishandeln. Sie kann auch umgekehrt latent bestehende Unterschiede oder Gegensätze im Bereich der Gefühle oder Auffassungen sichtbar machen und somit die Erzeugung oder Artikulierung von offenem Dissens zur Folge haben. Der im Begriff communis liegende Anspruch deutet auf die grundsätzliche Gebundenheit der Kommunikation an den Kontext sozialer Systeme: auf gewohnheitsmäßige Formen des Umgangs miteinander, auf verbindliche Traditionen, auf die edlgemein bekannte Notwendigkeit bestimmter Rücksichtnahmen, auf die Einhaltung sozialer Regeln, auf das interpersonale Verständnis sprachlicher oder sonstiger Symbole. Kommunikation ist keine Angelegenheit, die eine Einzelperson mit sich selbst abmachen kann. Vielmehr sind immer andere daran beteiligt, und zwar nicht nur als Individuen, sondern als Mitglieder sozialer Systeme, geprägt durch die Verhaltenserwartungen eben dieser Systeme. Im Alltagsleben der Schule gibt es vielfältige Kommunikationsabläufe.
3. Lehrerzimmer u n d Schulhof als K o m m u n i k a t i o n s m e d i e n Die soziale Attraktivität des Lehrerzimmers ist von Schule zu Schule unterschiedlich. Es gibt Schulen, in denen das Lehrerzimmer schon von den baulichen Voraussetzungen her wenig frequentiert wird, möglicherweise in Pavillonschulen, die aus mehreren weitläufigen Zeilen bestehen. Hier lohnt es nur in einer großen Pause, den oft langen Weg ins Lehrerzimmer zu unternehmen. Das Lehrerzimmer ist nur ein bedingtes Kommunikationszentrum in der Schule. Im Regelfall ist die Lehrerkommunikation dezentralisiert, da viele Lehrkräfte in den Pausen und vor Schulbeginn mit Sonderaufgaben beschäftigt sind oder sofort ihre Schulklasse oder Lerngruppe aufsuchen. Insgesamt ist das Lehrerzimmer eine wichtige Kommunikationsstätte für Pädagogen. Insbesondere die etwa gleichaltrigen Lehrerinnen und Lehrer tauschen hier vielfach ihre Erfahrungen und Gedanken aus. Das Lehrerzimmer ist ein Ort der Absättigung der Gesellungsbedürfnisse der Lehrkräfte. Wenn im Lehrerzimmer wiederholt und vertieft über Problemschüler gesprochen wird, ist dieser Raum eine materielle Voraussetzung für die Verarbeitung schwieriger Phasen des Lehrerdaseins. Wenn man im Lehrerzimmer hört, daß auch Kolleginnen und Kollegen Arger mit bestimmten Schülern haben, sieht man die Situation wahrscheinlich mit größerer Gelassenheit an, als das ohne den kollegialen Gedanken- und Erfahrungsaustausch der Fall wäre. Das Lehrerzimmer bietet Möglichkeiten der informellen Profilierung, indem man z . B . interessante stories vorträgt, die jeder gern hört und die den Schulalltag auflockern. Die dienstliche Kommunikation findet oft ihren Niederschlag im Lehrerzimmer z. B. in Form von Lehrerkonferenzen oder Pausenmitteilungen durch Schulleiter oder deren Vertreter. Oft stehen Eltern vor der Tür des Lehrerzimmers und erkundigen sich nach der Anwesenheit bestimmter Lehrkräfte. Für manche Schüler ist das Lehrerzimmer ein Ort mit einem besonderen Nimbus, den man nur mit leichtem Herzklopfen betritt. Für Lehrbeauftragte und Dozenten aus der Lehrerbildung bietet das Lehrerzimmer die
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Möglichkeit des Gedankenaustausches mit einzelnen Lehrpersonen, die eine Springstunde haben oder sehr zeitig zum Unterricht erscheinen. Eine funktionale Lehrerzimmeratmosphäre ist dem gesamten Ablauf des schulischen Lebens sehr zuträglich. Eine positive Gefühlsbindung an das Lehrerzimmer kann die organisatorische Einbindung in die Schule fordern und über lange Zeit einen Platz in der Erinnerung einnehmen. Schulleiterinnen und Schulleiter, denen daran gelegen ist, ihre Lehrkräfte über die fachlichen und pädagogischen Aufgaben hinaus als Mitglieder der Organisation Schule in diese Institution einzubinden, können das Lehrerzimmer als ein wichtiges Medium ansehen, wenn sie die besonderen Bedürfnisse ihrer Lehrkräfte ermitteln und ihnen Rechnung tragen. In großen Schulsystemen erscheinen in bestimmten Pausen möglicherweise die Schulleiter im Lehrerzimmer, um ihre Kolleginnen und Kollegen persönlich zu begrüßen und auf diese Weise die mehr informellen Kontakte zu erneuern und zu festigen. Der Schulhof ist eine Stätte zum Sammeln kommunikativer Erfahrungen. Für die Aufsicht führenden Lehrkräfte und die Schüler ist der Schulhof eine Art Zwangsaufenthaltsort, der von den Schülern aber meistens mit Erleichterung betreten wird, da nun die Befreiung vom Unterricht und Stillsitzen beginnt und dem Bedürfnis nach körperlicher Bewegung entsprochen wird. Die größeren Schülerinnen und Schüler bilden vielfach Gruppen, in denen Unterhaltungen über die verschiedensten Dinge geführt werden. Die jüngeren Schüler betätigen sich gern in irgendeiner Form des Spielens oder Laufens, da der Bewegungsdrang im Unterricht, insbesondere bei Regenwetter, nicht genügend zur Geltung kommen kann. Die Kommunikation auf dem Schulhof ist vielfältig, zumal auch Hausmeister, Eltern und sonstige Besucher der Schule hier Gespräche führen. Nicht selten nimmt die Interaktion aggressive Formen an, vor allem in großen Schulsystemen mit beengten Raum Verhältnissen. Die Kommunikation auf dem Schulhof kann attraktive Formen annehmen, wenn das spielerische Moment berücksichtigt wird. Dazu können Klettergerüste, Reihen von Palisaden oder Schaukeln und dergleichen aufgestellt werden. Auch eine besondere Pflasterung oder Bemalung für den Verkehrsunterricht gibt dem Schulhof eine individuelle Note und bietet Gelegenheiten zur Schulung des kommunikativen Handelns im weitesten Sinne des Begriffs. Jüngere Schülerinnen und Schüler, etwa des zweiten Grundschuljahres, zeigen auf dem Schulhof gelegentlich eine besondere Form der Anhänglichkeit gegenüber bestimmten Lehrkräften, indem sie die Hand der Lehrerin oder des Lehrers schütteln, ohne loszulassen. Diese ganz spezielle Form der Schüler-LehrerKommunikation deutet auf ein positives Grundverhältnis zwischen den an der Kommunikation Beteiligten, läßt aber seitens der Lehrkraft die erforderliche Festigkeit des Verhaltens und seitens des Schülers die erforderliche Achtung gegenüber der Lehrperson vermissen. Wenn sich kleine Schüler an die Lehrer hängen, so drückt diese Geste gleichzeitig Gefühle der Zuneigung und des Beherrschenwollens im Sinne einer tendenziellen Aggressivität aus. Diese Andeutungsform von Aggressivität ist erklärbar durch das bekannte Wort: Druck erzeugt Gegendruck. Im Grunde dürfte das Schülerverhalten mehr oder weniger als Reaktion auf das Lehrer- und/oder Elternverhalten zu deuten sein. Schüler, die nicht die erwünschte Anerkennung finden oder an sonstigen Frustrationen leiden,
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kommen leicht in Versuchung, sich an schwächeren Mitschülern schadlos zu halten oder sich an Unbekannten für die erfahrenen Leiden zu rächen. In solchen Fällen ist die Tendenz in Richtung auf Gewaltanwendung oder Roheit schnell vollzogen. Die Klärung und pädagogische Behandlung derartiger Vorfalle erfordert weiterführende Gespräche zwischen den beteiligten Personen. Die Ansätze der modernen Konfliktsoziologie zielen grundsätzlich auf rationale Regulierungen. Im Regelfall haben Schulleiterinnen und Schulleiter ein eigenes Dienstzimmer mit Vorzimmer. Oft stehen diese Räume mit dem Lehrerzimmer in Verbindung. Das Rektorzimmer wird von Lehrkräften oder Eltern frequentiert, die pädagogische, fachliche oder organisatorische Dinge mit der Schulleitung zu besprechen haben. Im Rektorzimmer werden auch viele telefonische Kommunikationen ausgeführt. In manchen Schulen zeigen Schüler mit sehr guten Klausuren der Schulleitung die Ergebnisse. Wenn Klassenarbeiten schlecht ausgefallen sind, muß der Benotungsspiegel u. U. mit der Schulleitung besprochen werden. Unalltägliche Möglichkeiten für die Kommunikation bieten mehrtägige Klassenfahrten. Während der Wanderungen, Abende oder Busfahrten haben Schüler und Lehrkräfte ungewöhnlich ausgedehnte Gelegenheiten, Gedanken auszutauschen. Es kommt vor, daß vor dem Einschlafen bestimmte Schüler ihre Fähigkeit, humorvolle Bemerkungen auszuteilen, den Mitschülern unter Beweis stellen, so daß auch Lehrer Mühe haben, die fröhliche Runde zum Schweigen zu bringen. Für Schüler mit bestimmten gemeinsamen Schulweg- Teilstrecken ergeben sich Chancen für intensive Kommunikation. Fachspezifische Gespräche finden in den Fachräumen der Schule (z. B. für Sport, Musik, Werkerziehung, Technik, Physik/Chemie usw.) zwischen Fachlehrkräften und zwischen dieser Personengruppe und Schülern statt. Weitere Stätten der Kommunikation sind z. B. die Flure, die Gartenanlagen, der Schulgarten oder Schulwald. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben eine halbe Stelle übernommen. Oft sind solche Lehrkräfte zeitlich besonders belastet, so daß sie morgens vom Auto aus sofort in ihren Klassenraum streben und nach Beendigung der Schule zum Kindergarten fahren, um ihre eigenen Kinder abzuholen. Das kollegiale Gesellungsbedürfnis solcher Lehrpersonen findet im Alltagsleben der Schule nicht immer die wünschenswerte Befriedigung. Folglich wird nicht selten ein Ausgleich gefunden in einem ausgedehnten Kollegiumsausflug einschließlich Hotelübernachtung. Die Ausführungen über Strukturen und Wege der Kommunikation in der Schule demonstrieren die Tatsache, daß die Schule nicht nur im Unterricht kommunikative Abläufe kennt, sondern auch außerhalb des Klassenzimmers. 4. Kommunikation im Unterricht Die zentrale Stätte kommunikativen Handelns im Schulleben ist der Unterricht. Handlungstheoretische und systemtheoretische Aspekte der Kommunikation greifen in vielen Hinsichten ineinander. Die Schule ist beteiligt an der Reproduktion (Autopoiesis) mehr oder weniger rational orientierter Gesellschaftsstrukturen, d. h. ihr kommt u. a. die wichtige Funktion zu, Rationalität im Sinne von Kritisierbarkeit, Begründbarkeit, Überschaubarkeit, Bindung an Regeln an die jeweils jüngeren Mitglieder der Gesellschaft weiterzugeben und weiterzuentwickeln. Zur Rationalität gehört für die Schu-
35 len die Orientierung an den eigendynamischen Prozessen und Gesetzmäßigkeiten der übergreifenden Gesellschaftsstruktur. Die in der Wissenschaft diskutierten Modelle der Kommunikationstheorie wirken latent und manifest in die Schulen hinein. So beeinflußt das Postulat des herrschaftsfreien Diskurses, der idealen Sprechsituation in jeder Kommunikationssituation pädagogische Aktivitäten. Diskurse können schon in der Grundschule geführt werden, z. B. über die Problematik der Stillegung von Betrieben oder die Arbeitslosigkeit. Gegenläufige Auffassungen müssen begründet werden und gelten als verbesserungsfahige Argumente. Die Berufung auf Äußerungen der Eltern sind kein hinreichender Grund für ein Argument eines Schülers. Eine modellhafte Möglichkeit für einen Diskurs bietet z. B. die Behandlung einer Kurzgeschichte mit fortgeschrittenen Schülern, die in einem Kreis sitzen, so daß sich alle Gesprächsteilnehmer sehen können. Jeder Schüler muß die Chance erhalten, zu Wort zu kommen und ernst genommen zu werden. Die Kurzgeschichte wird interpretiert, indem Verzerrungen der Kommunikation ausgeschlossen werden, etwa dadurch, daß nicht nur rhetorisch besonders geschickte Schülerinnen und Schüler herangenommen werden. Es ist erlaubt, offen auszusprechen, daß man sich selbst möglicherweise getäuscht habe oder daß man die Mitschüler einer Täuschung ausgesetzt habe. Wenn ein Täuschungsversuch als solcher erkannt wird, muß es möglich sein, sich als Sprecher nicht in die Rolle des Beleidigten zu flüchten. Lehrerinnen und Lehrer dürfen nicht der Versuchung unterliegen, einen Wissensvorsprung etwa durch die Ausspielung schwer verstehbarer Begriffe oder Tatsachen auszunutzen. Jeder Sprecher und Hörer muß die im Diskurs verwendeten Begriffe und Redewendungen verstehen. Andernfalls kann von Kommunikation nicht gesprochen werden. Die Rationalität der Gesprächssituation verlangt unausgesprochen die Bereitschaft und den Willen der Beteiligten, den Geltungsanspruch der als gegenläufig empfundenen Argumente zu sehen und ihm Rechnung zu tragen. Die Rationalität der Diskurssituation verlangt auch die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, zwischen der Tatsächlichkeit des Gesprächsgegenstandes und der Sphäre, die sich auf Forderungen, Wünsche und Vorstellungen bezieht. Gemeint ist die Differenz zwischen dem, was der Fall ist, und dem Urteil über diese Tatsache. Schwerer schon ist für die philosophisch nicht Geschulten die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung zu vollziehen, zwischen den sich uns zeigenden Erscheinungen in ihrer Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit einerseits und dem Wesen der Dinge andererseits, d. h. dem, was als Beständiges den Erscheinungen zugrunde liegt. Diese Anforderung an den Diskurs ist gebunden an klare Definitionen der verwendeten Begriffe, z. B. mit Bezug auf einen bestimmten Philosophen. Dasselbe trifft zu für die Unterscheidung zwischen Sein und Schein. Für Habermas zielt Rationalität auf Verständigung und Einigung der Kommunikationsteilnehmer über die Gültigkeit einer Äußerung. Das bedeutet für die schulische Gesprächsrunde das Erfordernis, intersubjektiv (d. h. unter und zwischen den Subjekten, also interaktiv) die Geltungsansprüche der jeweiligen Schüler- und Lehreräußerungen anzuerkennen. Die Anerkennung beschränkt sich auf den Geltungsanspruch einer Aussage, so muß Habermas hier eingegrenzt werden, nicht aber auf die Billigung des Inhalts
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der Äußerung: Schüler und Lehrer haben Wortmeldungen ernst zu nehmen und ihnen volle Beachtung zu schenken; sie können jedoch nicht als Konsequenz des Rationalitätspostulats gezwungen werden, dem Inhalt dieser Aussagen zuzustimmen. Wo Kommunikation entsteht, muß es verschiedene Situierungen, die laufend ungleiche Perspektiven und inkongruentes Wissen reproduzieren, geben (Luhmann 1985, S. 236 f.). Unter solchen Voraussetzungen kann Kommunikation nicht als systemintegrierende Leistung und nicht als Herstellung von Konsens begriffen werden. Die von Habermas angestrebte Verständigung und Konsensbildung kann durchaus zu dem Ergebnis führen, daß man sich darin einig ist, daß man sich nicht einig ist. Die Konsensbildung ist ein mögliches Resultat der Kommunikation, nicht aber ein notwendiges. Im Rekurs auf Habermas, Kamlah/Lorenzen u. a. haben Th. Klare und P. Krope unter dem Titel "Verständigung über Alltagsnormen" (1977) ein Kursprogramm für die Ausführung von rationalen Dialogen vorgelegt. Zu den Regeln für den rationalen Dialog gehören: Gutwilligkeit - kommunikatives Interesse (Beispiel: Erkennen Sie jeden Gesprächsbeitrag als argumentationswürdig an); Unvoreingenommenheit (Beispiel: Halten Sie nicht wider besseres Wissen an Meinungen fest, sondern akzeptieren Sie bessere Argumente); Worterläuterungs- und Begründungspflicht (Beispiel: Seien Sie bereit, Ihre Aussagen zu begründen, wenn es von Ihnen verlangt wird); Faktische und normative Genese (Beispiel: Stellen Sie Ihr Vorwissen zur Verfügung, wenn es verlangt wird); Das Vernunftsprinzip (Beispiel: Argumentieren Sie stets logisch widerspruchsfrei). Es konnte gezeigt werden, daß man kontroverse Diskussionen auf dem schulischen Arbeitsfeld in einen kategorialen Handlungs-Bezugsrahmen einspannen und deren Ablauf dem Rationalitätsmodell entsprechend methodisch gestalten und kontrollieren kann. Die methodische Gesprächsgestaltung kann dabei in die Unterrichtsplanung einfließen. Ein weiterer Gegenstand der Unterrichtsplanung ist die Steuerung der Kommunikation im Sinne der Unterscheidung zwischen dem lehrerzentrierten und dem schülerzentrierten Unterricht. Als typisch lehrerzentriert wird ein Unterrichtsstil definiert, "bei dem der Lehrer bei weitem am häufigsten spricht, lenkt, erklärt, die Ziele setzt, Arbeitsaufträge erteilt und Leistungen bewertet. Beim schülerzentrierten Unterrichtsstil läßt es der Lehrer zu, daß alle diese Aufgaben in einem weit größeren Ausmaß auf die Schüler übertragen werden" (Pause/Peters 1973, S. 127 f.). Eigentlich ist jeder Schulunterricht mehr oder weniger lehrerzentriert, da auch vorübergehende Schüleraktivitäten durchweg auf die Initiativen der Lehrer zurückgehen. Eine typische Form des lehrerzentrierten Unterrichts besteht darin, daß die Lehrperson möglichst die Blicke aller Schüler auf sich richten läßt, abwartet, bis die vielfach anzutreffende mehr oder weniger produktive 'Arbeitsunruhe' nachläßt und anschließend die Impulse zur Gestaltung des Unterrichts austeilt. Ein weiteres Modell zur rationalen Erfassung der Kommunikation in der Schule und in anderen pädagogischen Bereichen ist die klassische Interaktionsanalyse von R. Bales (vgl. Scheuch/Kutsch 1975, S. 79). Auf der instrumenteilen (d. h. mehr sachbezogenen) Ebene kann die Lehrperson z. B. informieren oder aber Information erfragen, bewerten oder aber Bewertungen erfragen, Vorschläge machen oder aber Vorschläge erbitten. Auf der affektuellen Ebene kann sie z. B. andere bestärken oder aber andere her-
37 absetzen, die Atmosphäre entspannen oder aber Spannung zeigen, passiv hinnehmen oder aber passive Ablehnung zeigen. Diese Unterscheidung ist idealtypischer Natur. In der pädagogischen Wirklichkeit spielen ständig instrumentale und affektive Impulse ineinander. Die systemtheoretischen Komponenten der Kommunikation betonen die rückbezüglichen (selbstreferentiellen) Kommunikationsimpulse der Systeme und somit auch der psychischen Systeme: Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung, Selbstorganisation, Selbstkontrolle. Zur Selbstkontrolle des kommunikativen Handelns gegenüber den Schülern können Lehrkräfte die Interaktionsanalyse von Flanders nach der Interpretation von B. Hanke, H. Mandl und S. Prell (1973, S. 49 ff.) verwenden: 1. Frage: Spreche ich im Unterricht zuviel? 2. Frage: Bin ich ein direkter oder ein indirekter Lehrer? (Der direkte Lehrer neigt mehr zum Vortragen, Austeilen von Anweisungen, Kritisieren und Rechtfertigen von Maßnahmen. Der indirekte Lehrer neigt mehr zur Annahme von Gefühlen, Lob und Ermutigung, Eingehen auf Schülergedanken, Fragenstellen) 3. Frage: Wie reagiere ich auf verbales Verhalten der Schüler? 4. Frage: Wie lange halte ich Vorträge? 5. Frage: Gehe ich ausreichend auf die Einfalle der Schüler ein? 6. Frage: Versuchen die Schüler, sich meinem Einfluß zu widersetzen? 7. Frage: Akzeptiere ich Gefühle der Schüler, mache ich mir diese klar, und gehe ich auf sie ein? 8. Frage: Wie wirksam setze ich Lob ein? 9. Frage: Wie wirksam gehe ich bei der Vermittlung von Lehrinhalten vor? 10. Frage: Wie wirksam verwende ich Kritik beim Unterrichten? 11. Frage: Ist die Beteiligung meiner Schüler am Unterricht angemessen? 5. K o m m u n i k a t i o n s s p e r r e n in der Schule Die primär handlungstheoretische Perspektive des von Habermas vorgelegten Entwurfs mit Schwerpunkten wie Rationalisierung als gesellschaftsstrukturelle Gegebenheit, Begründungsfähigkeit und Kritisierbarkeit, Orientierung auf Konsens und Verständigung, intersubjektiv zu gewinnende Wahrheit durch rationale Diskurse, auf die Lebenswelt und die übergreifende Gesellschaft bezogenes kommunikatives Handeln bedarf der Ergänzung durch andere kommunikationstheoretische Perspektiven, z. B. durch die kritische Theorie oder die Systemtheorie in ihren unterschiedlichen Schattierungen. So haben Watzlawick, Beavin und Jackson in Ihrem Buch über "menschliche Kommunikation" (1974) die Differenz von analoger und digitaler Kommunikation beschrieben, d . h . der Objektdarstellung etwa durch eine Zeichnung (analog) oder durch einen Namen (digital). Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. Die digitalen und die analogen
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Kommunikationsweisen ergänzen sich in jeder Mitteilung. Es ist zu vermuten, "daß der Inhaltsaspekt digital übermittelt wird, der Beziehungsaspekt dagegen vorwiegend analoger Natur ist" (ebenda, S. 64). Watzlawick und Mitarbeiter bringen die für die Systemtheorie grundlegenden Begriffe Funktion, Information, Rückkopplung, Redundanz, Selbstregulierung des Systems, Metakommunikation, Kreisförmigkeit der Kommunikationsabläufe, Eigenleben der Kommunikationsstruktur usw. in die Diskussion ein. Für die pädagogische Praxis ist die Behandlung von Kommunikationsstörungen von Bedeutung. Wo Störungen auftreten, tritt die Frage nach dem wissenschaftlichen Geltungsanspruch von therapeutischen Verfahren im weiten Sinne des Begriffs auf. Bemerkenswert ist Luhmanns Feststellung (Luhmann 1990, S. 644 ff.), daß unter den neuartigen Theorien der Intervention die systemorientierte Familientherapie eine wichtige Vorreiterfunktion übernommen hat. Luhmann bezieht die Therapie in die respektable Wissenschaft ein: Für anwendungsbezogene Forschungen scheint das derzeit beste Modell die Therapie zu sein (ebenda, S. 648). Für Luhmann ist Störung eine interne Konstruktion autopoietischer Systeme, mit der diese auf die ihnen nicht zugängliche Umwelt reagieren: "Es handelt sich um Formen, die sich an intern gewohnten Regularitäten abbilden. Das Angebot neuen Wissens kann nur Irritation auslösen in Bezug auf die bereits regulierten Irritationen. Ein autopoietisches System ist diesen Umgang mit Störungen gewohnt. Ein therapeutisches Verhältnis entsteht nur, wenn diese Gewohnheit durch eine Gegenirritation und durch andere Routinisierungen geändert werden soll. Genau das ist aber der Sinn des Aneignens neuen (als neu ausgezeichneten) Wissens" (ebenda, S. 649). Wo die Kommunikationsanalyse mit Störungen im Bereich der Selbstregulierung sozialer Systeme (Störungen des sich einpendelnden Gleichgewichts im Sinne der Homöostase) operiert, da scheint die Systemtheorie gegenüber der Handlungstheorie die günstigeren Positionen zu haben, auch im Hinblick auf die unmittelbar praktische Beseitigung von Störungen. In der Schule gibt es eine Reihe von Störungen der Kommunikation. Eine Kommunikationssperre wird aufgebaut, wenn ein Mitglied des Lehrkörpers den Schülerinnen und Schülern gegenüber seine Machtposition zu erkennen gibt. Die Machtposition einer Lehrperson ergibt sich im Regelfall durch den Altersvorsprung, durch die stärker ausgeprägte allgemeine Bildung und geistige Gewandtheit, durch den Vorsprung in der Lebenserfahrung und die Inhaberschaft von Amtsautorität. Wenn eine Lehrperson ihre Macht gegenüber den Schülern sichtbar ausspielt, kann ein solches Verhalten z. B. damit begründet werden, daß sie den Schülern nicht gerecht geworden ist, einen Fehler begangen hat, eine Unterlassungssünde auf sich genommen hat, daß sie vorübergehend den Impulsen bestimmter Schüler nicht gewachsen ist, daß sie persönliche Probleme hat, die ihr auch im Unterricht anhaften und dergleichen mehr. In solchen Situationen wird der normale Kommunikationsfluß gebremst. Die Schüler scheuen sich möglicherweise, die Lehrperson anzusprechen, so daß sich eine Wand zwischen Lehrkraft und Lerngruppe aufbaut. Die Wand läßt sich beseitigen, indem die Machtposition aufgegeben wird. Wenn die Lehrperson nicht bereit ist, das eigene Verhalten (rekursiv) kritisch zu überdenken und gegebenenfalls zu revidieren, läßt sich die entstandene Kommunikationssperre schwer beseitigen (vgl. dazu Dieckmann 1989, S. 157 ff.).
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Eine Kommunikationssperre wird weiterhin errichtet, wenn die Lehrperson in bestimmten Schülern die Schuldigen sieht oder sie in eine Sündenbockrolle einweist. Wenn die Schüler in einem solchen Fall ein Fehlverhalten zu verantworten haben, ist es zweckmäßig, diesen Sachverhalt überzeugend mit einem schlüssigen Begründungszusammenhang aufzuhellen. Entsprechend dem Modell der idealen Sprechsituation schadet es dem Ansehen der Lehrperson nicht, die eigene Auffassung zu überdenken und zu berichtigen, wenn das erforderlich ist. Durch einen solchen Akt kann die Kommunikationssperre aufgehoben werden. Eine Kommunikationssperre entsteht auch, wenn die Lehrperson sich innerlich von der Lerngruppe zurückzieht und sie mit ausgeprägter Gefühlsneutralität oder sogar Feindseligkeit behandelt. Zur Beseitigung dieses Mißstandes ist eine Verhaltensänderung der Lehrperson erforderlich in dem Sinne, daß jedenfalls ein spürbares Minimum an Sympathien und Gefühlszuwendung auf die Lerngruppe gerichtet wird. Eine Kommunikationssperre wird geschaffen, wenn die Lehrperson ihr vitales Interesse oder ihre persongebundenen Idole als Sachzwänge ausgibt und kaschiert. Bemerkungen wie etwa die Formulierung "Wir müssen uns diesen Sachgesetzen unterordnen" oder "Es ist notwendig, der Sache das erste und letzte Wort zu geben" sind nur dann überzeugend, wenn Lehrpersonen im pädagogischen Alltag nicht hinter solchen Thesen, die an und für sich völlig korrekt sein können, ihre privaten Ideologien, Idole und Vitalinteressen verbergen. Die Lehrer-Schüler-Kommunikation wird dann gestört, wenn Lehrkräfte oder Schüler in einer Angriffs- oder Verteidigungsposition verharren. Ideologien gelten als Rechtfertigung persönlicher oder gruppenspezifischer Bedürfnisdispositionen. Wenn Schüler im Lehrerverhalten diese Ansätze spüren, kann nicht damit gerechnet werden, daß Andersdenkende sich im Sinne der idealen Sprechsituation freimütig äußern. Eine Kommunikationssperre im Lehrer- Schülerverhältnis kann sich ergeben, wenn Lehrerinnen und Lehrer ironische oder sarkastische Bemerkungen äußern. Ironie ist eine besondere Form der Aggression. Dasselbe trifft zu, wenn Lehrkräfte unter den Schülern "Lieblinge" haben. Auch die Bildung von Cliquen unter Schülern und Lehrpersonen fördert nicht immer die Abläufe der Kommunikation. Exkurs: Uber den Unterschied zwischen Kommunikation und Interaktion Kommunikation in dem von Habermas handlungstheoretisch bestimmten Sinne bezieht sich auf die Erfassung allgemeiner Strukturen von Verständigungsprozessen, aus denen sich formal zu charakterisierende Teilnahmebedingungen ableiten lassen (Habermas 1981, Band 1, S. 386). Kommunikation ist also Verständigung im Sinne eines Prozesses der Einigung unter sprach- und handlungsfähigen Subjekten (ebenda). Kommunikatives Handeln bedeutet: Die Akte der Verständigung verknüpfen die teleologisch strukturierten Handlungspläne verschiedener Teilnehmer. Damit fügen sie Einzelhandlungen zu einem Interaktionszusammenhang zusammen. Diese zu Interaktionszusammenhängen zusammengefügten Einzelhandlungen können ihrerseits aber nicht auf teleologisches Handeln reduziert werden. Als Medium der Verständigung dienen Sprechakte der Herstellung und Erneuerung interpersonaler Beziehungen. Dabei nimmt der Sprecher Bezug "auf etwas in der Welt legitimer Ordnungen" (ebenda, S. 413). Die Sprechakte dienen ferner der Darstellung oder der Voraussetzung von Zuständen und Ereignissen, "wobei der Sprecher auf etwas in der Welt exi-
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stierender Sachverhalte Bezug nimmt" (ebenda). Sie dienen weiterhin der Manifestation von Erlebnissen, d. h. der Selbstrepräsentation, "wobei der Sprecher auf etwas in der ihm privilegiert zugänglichen subjektiven Welt Bezug nimmt" (ebenda). Das kommunikative Einverständnis bemißt sich somit an drei kritisierbaren Geltungsansprüchen; denn die Aktoren können nicht umhin, die Sprechhandlungen in die drei genannten Weltbezüge einzubetten. Kommunikation in dem von Habermas skizzierten Sinne ist Verständigung im Sinne der Rationalität des Erkennens, der sprachlichen Verständigung und des Handelns, "sei es im Alltag oder auf der Ebene methodisch eingerichteter Erfahrungen bzw. systematisch eingerichteter Diskurse" (ebenda, S. 16). Die für rationelle Äußerungen geforderte Begriindungsfahigkeit wird dem Subjekt zugerechnet (vgl. ebenda, S. 31), nicht dagegen sozialen Systemen in ihrer autopoietischen Eigendynamik. In dieser Subjektzurechnung des argumentativen Handelns liegt die handlungstheoretische Perspektive als solche begründet. Handlungstheorie ist letztlich subjektbezogene Theorie, wobei die Subjekte allerdings Interaktionssysteme bilden und intersubjektiv im Diskurs Wahrheit erstreiten, indem sie ihre Sprechhandlungen in Weltbezüge einbetten, so daß den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen, Zwängen und Erwartungen Rechnung getragen wird. Im systemtheoretischen Erklärungsansatz der Kommunikation ist als Ausgangspunkt festzuhalten, "daß Kommunikation nicht als Handlung und der Kommunikationsprozeß nicht als Kette von Handlungen begriffen werden kann" (Luhmann 1985, S. 225). Für die Luhmannsche Systemtheorie bestehen soziale Systeme aus Kommunikationen und deren Zurechnung als Handlung. Kein Moment wäre ohne das andere evolutionsfähig gewesen (ebenda, S. 240). Für Luhmann ist Kommunikation die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme (ebenda, S. 241). In diesem Theorieansatz werden kommunikative Prozesse nicht zuerst von interaktiv kooperierenden Personen als Handlungsträgern her gesehen, sondern vielmehr von den Reproduktions- und Selbstkonstituierungsprozessen gesellschaftlicher Einheiten. Folglich werden Kommunikationen nicht zuerst von den interaktiven und intersubjektiven Kooperationsleistungen handelnder Individuen in Richtung auf Verständigung und Konsensbildung mit rationaler Grundorientierung her gesehen. Vielmehr gehört zu den wichtigsten Leistungen der Kommunikation die Sensibilisierung des Systems für Zufalle und Störungen (ebenda, S. 237): "Durch Kommunikation begründet und steigert das System seine Empfindlichkeit und setzt sich so durch Dauersensibilität und Irritierbarkeit der Evolution aus" (ebenda, S. 237). Für die systemorientierte Perspektive ist entscheidend, "daß Störungen überhaupt in die Form von Sinn gezwungen werden und damit weiterbehandelt werden können" (ebenda). Kommunikation steht im Dienst der Fortschreibung und Evolution sozialer Systeme. Der systemtheoretische Dienst an der Einsicht in Störungen und Möglichkeiten zur Entstörung ist eine wichtige Grundlagenleistung für die theoretische und praktische Pädagogik (Beispiel: Schizophrenie als Folge dysfunktionaler Kommunikationsabläufe; Verhaltensstörungen in Verbindung mit bestimmten Kommunikationsstrukturen in den Familien).
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Der Begriff Interaktion bezieht seinen historischen Stellenwert zu einem erheblichen Teil aus dem wissenschaftstheoretischen Ansatz des symbolischen Interaktionismus. Die Bedeutungen, die den Dingen beigemessen werden, ergeben sich aus dem jeweiligen Interaktionszusammenhang. Die Bedeutungen (und damit auch die Deutungen) sind Erzeugnisse des sozialen Handelns. Der Gebrauch der Bedeutungen entwickelt sich aus einem Interpretationsprozeß. Interaktionssysteme sind dadurch gekennzeichnet, daß Subjekte in Interaktionsverhältnissen stehen und durch die Interaktionen erst zu Personen formiert werden, etwa dadurch, daß sie Balanceakte zwischen der personalen Identität (Individuation) und der sozialen Identität (Anpassung an die Gesellschaft) vollziehen und auf diese Weise ihr Selbstwertgefuhl gewinnen und fortschreiben. Luhmann hat mit Recht bemerkt, daß die Konstituierung der Individuen in der Interaktion letztlich bedeutet, daß damit im symbolischen Interaktionismus die Strukturierung sozialer Systeme in die psychischen Systeme zurückverlagert wird (Luhmann 1985, S. 551). Diese Begriffsbildung ist sozialpsychologisch und eignet sich nicht, "die Eigenprobleme hochkomplexer Gesellschaftssysteme zu erfassen, die sich weder auf Individuen noch auf deren Interaktionen zurückführen lassen" (ebenda, S. 552). Luhmann geht von der Grundvoraussetzung aus, daß das Soziale im Bereich sozialer Systeme durch eine Qualität eigener Art (sui generis) gekennzeichnet ist, das sich weder auf Individuen in Interaktion noch auf die (selbstreferentielle) Eigendynamik sozialer Systeme reduzieren läßt. Die Gesetzmäßigkeiten der Konstruktion der Wirklichkeit sind vielmehr gebunden an die Differenz von System und Umwelt (ebenda, S. 25). Nur selbstreferentielle Systeme schaffen sich die Möglichkeit, Kausalitäten durch Umverteilung auf System und Umwelt (und dazu gehört der Mensch als psychisches System) zu ordnen. Gesellschaftssysteme und Interaktionssysteme sind nicht identisch. Erstere können nicht einfach als Summe der vorkommenden Interaktionssysteme begriffen werden. Interaktionssysteme setzen immer Gesellschaftssysteme voraus. Interaktionen sind Episoden des Gesellschaftsvollzugs (ebenda, S. 553): "Sie sind nur möglich auf Grund der Gewißheit, daß gesellschaftliche Kommunikation schon vor Beginn der Episode abgelaufen ist, so daß mein Ablagerungen vorangegangener Kommunikation voraussetzen kann ..." (ebenda, S. 553). Der von Habermas vorgelegte Entwurf einer Kommunikationstheorie auf der Basis einer interaktiv verstandenen Handlungstheorie bezieht sich auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der Sprecher und Hörer miteinander agieren, also interagieren. Sie werden damit eher in das Gefüge einer Simplexen (einfachen) als in dasjenige einer komplexen (zusammengesetzten) Sozialstruktur versetzt (vgl. dazu Luhmann 1985, S. 553). In überschaubaren (nichtkomplexen) sozialen Systemen ist Anwesenheit das bestimmende Konstitutionsprinzip und Grenzbildungsprinzip (ebenda, S. 563 f.). In einem derartigen sozialen Bezugsrahmen, eben dem Interaktionssystem, steuert ein Beisammensein der Personen die Selektion der Wahrnehmungen und Aussichten auf soziale Relevanz. An dieser Stelle markiert Luhmann die Differenz von Psychologie und Soziologie: Kommunikation muß von bloßer Wahrnehmung abgehoben werden (ebenda, S. 564). Durch diese Differenz wird Strukturbildung erzwungen. Autopoietische (d. h. die Selbstkonstruktion des Systems betreffende) Erfordernisse der Weiterfuhrung von Kom-
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munikation (z. B. Anschlüsse müssen geschaffen werden, J. D.) erzwingen Strukturbildung. Dadurch ergibt sich eine Differenz von Autopoiesis und Struktur. Gesellschaft und Interaktion sind verschiedene Sozialsysteme. "Die Gesellschaft garantiert die sinnhaft- selbstreferentielle Geschlossenheit des kommunikativen Geschehens, also für jede Interaktion Beginnbarkeit, Beendbarkeit und Anschlußfähigkeit ihrer Kommunikation." (ebenda. S. 566). Veranschaulichend formuliert Luhmann: "In den Interaktionssystemen wird die Hydraulik der Interpénétration betätigt" (ebenda, S. 566). Mit Interpénétration ist der Beitrag aus der Umwelt der Systeme zum Systemaufbau (ebenda, S. 289) gemeint. Für Luhmann werden einfache Gesellschaften ganz interaktionsnah gebildet (Beispiel: Stadtbildung). Die moderne Gesellschaft trennt schärfer als je zuvor ihre Systembildung von den Möglichkeiten der Interaktion. Luhmann geht davon aus, daß gesellschaftlich bedeutsame Probleme immer weniger mit den Mitteln der Interaktion gelöst werden können, "etwa durch Ausnutzen der Anwesenheit von Personen für Konsensgewinnung oder für das Verhindern unkontrollierbarer Aktivitäten" (ebenda, S. 579). Soziologie und Sozialpsychologie unterscheiden sich dadurch, daß die Gesellschaft für Interaktion unzugänglich geworden ist, so daß keine Interaktion repräsentativ für Gesellschaft ist. Systemtheoretisch wird die Gesellschaft gewissermaßen als "Ökosystem der Interaktionen" begriffen. Die Gesellschaft ist auf der Ebene sozialer Systeme "eine sich selbst konditionierende Selektion, und die Selektion der Selektion ist durch die Differenz von Gesellschaft und Interaktion in Gang gebreicht" (ebenda, 5. 589). Worin besteht die Differenz von Kommunikation und Interaktion? Kommunikation ist ein basaler Vorgang in sozialen Systemen überschaubarer wie auch komplexer Art. Im interaktionistisch-handlungstheoretischen Ansatz von Habermas hat Kommunikation die Funktion der rational orientierten Verständnis- und Konsensbildung. Im systemtheoretischen Ansatz von Luhmann hat Kommunikation die Funktion der Mitwirkung in der Fortschreibung und Evolution soziider Systeme und der Systemsensibilisierung für Störungen. Interaktion ist ein interpersonaler Vorgang auf der Ebene einfacher Gesellschaften. Die Gesamtheit der Interaktionen bildet gewissermaßen das Spielmaterial für gesellschaftliche Evolution. 6. K o m m u n i k a t i v e Aspekte der Konfliktregulierung
Konflikte als Austragungen konträrer Wertpositionen haben Bezüge zur Kommunikation. Gemeinsam ist den Kontrahenten die Beteiligung an dem sozialen Prozeß, in dem Interaktionseinheiten (Personen, Gruppen, Parteien usw.) durch irgendeine Form der Auseinandersetzung verbunden sind. Gemeinsam (communis) ist ihnen also die Einbeziehung in den Prozeß des Streites. Ein weiterer grundlegender kommunikativer Aspekt der Konfliktaustragung liegt in dem Umstand, daß die kontrastierenden Wertgesichtspunkte manifestiert werden. Verborgene Gefühle, Meinungen, Standpunkte machen noch keinen Konflikt aus. Erst wenn die unterschiedlichen Auffassungen kommuniziert werden, sprechen wir von einem Konflikt. Ein auch in der Gegenwart lebendiges klassisches Modell der Konfliktregulierung besagt: These und Antithese werden in irgendeinem Vollkommen-
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heitsgrad zur Synthese, zum Konsens, zur Verständigung oder doch zur Annäherung geführt (vgl. Dieckmann 1989, S. 24). Der von Habermas vorgelegte Entwurf ist maßgeblich durch diese philosophische Tradition bestimmt. Besonders in komplexen sozialen Systemen ist kommunikatives Verhalten und aktives Handeln aber keineswegs immer auf Übereinstimmung oder Verständigung gerichtet, auch wenn es nur um die grundsätzliche Billigung des Rederechts der Andersdenkenden geht. Verständigung ist ein höchst bedeutsames Ideal, wenn es um die Diskussion über mögliche Ziele der Kommunikation geht. Ein gewisses Minimum an Verständigung mag sich dort ergeben, wo im Kommunikations Vorgang die Unterschiedlichkeit der Wertpositionen geklärt werden kann. Wenn man präzis erfahrt, wie die Andersartigkeit des kontroversen Standpunktes aussieht, wie sie begründet wird und in welchen Spielarten sie kommuniziert wird, sind Voraussetzungen dafür geschaffen worden, daß man aus dem unbefriedigenden Gelände des sozialen Vorurteils herausgelangt und sich auf dem Weg zu einer rationalen Konfliktregulierung befindet. Kontroverses kommunikatives Handeln erfüllt immer dann eine Ventilationsfunktion, wenn ein Gesprächsteilnehmer oder eine Teilnehmerin den aufgestauten Gefühlen freieren Lauf läßt und dadurch zumindest für sich selbst die Voraussetzungen für eine Beruhigung schafft. Der Streit ist in diesem Fall die Auflösung von Spannungen, möglicherweise aber umgekehrt deren Verhärtung. Man kann als gegeben hinnehmen, daß Gegensätze und Widersprüche ebenso zum sozialen Leben gehören wie Ubereinstimmungen und Identitäten. Alle Konflikte müssen als soziale Konflikte angesehen werden, d. h. sie entstehen und entwickeln sich aus der Art des Zusammenlebens der Menschen heraus. Wenn Konflikte und Widersprüche als störend und dysfunktional empfunden werden, muß dementsprechend die Art des Zusammenlebens, die Sozialform, geändert werden. Aus dieser Perspektive ergeben sich Ansatzpunkte für pädagogisches Handeln. Mit Recht hat W. Bühl (1973, S. 48 ff.) gefordert, daß Konflikte nicht durch verstärkte Polarisierung, sondern umgekehrt durch Depolarisierung reguliert werden, d . h . die Konfliktregelung zielt auf Vermittlung in welcher Form auch immer. Daher hat der Begriff der Vermittlung in der Dialektik und Dialogik einen zentralen Stellenwert. Dazu gehört, daß die gegnerische Partei nicht zum Feind hochzustilisieren ist. Nach Bühl werden Konflikte nicht durch volle Manifestierung, sondern durch rechtzeitige Begrenzung reguliert. Konfliktregelungen mit einem kurzen Zeithorizont sind weniger funktional als solche, in denen die Arbeit an der Auseinandersetzung unter Erweiterung des Zeithorizonts erfolgt. In diesen Zusammenhang gehört die Methode, zunächst die Gesamtsituation zu klären und den Konflikt auf dem Wege der kleinen Schritte zu behandeln. Eine unzureichende Einsicht in die Strukturen der Kausalität im sozialen Bereich ist ein Hindernis für die rationale Konfliktregulierung. Im Alltagsdenken wird die Kausalfrage sehr häufig als Zurechnungsfrage angesehen, d. h. die Schuldzuweisung z. B. für ein Mißgeschick erfolgt etwa nach Gesichtspunkten der Willkür oder der sozialen Stärke gegenüber schwächeren Gesprächspartnern. Dabei werden die schwer durchschaubaren Verwicklungen innerhalb der sozialen Vernetzungen nicht erkannt oder übersehen, viel-
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leicht auch geschickt ausgenutzt. Die von der Schuldzuweisung betroffene Person reagiert dann mit Recht so, daß die kausale Zuschreibung unangemessen oder sogar ungerecht ist. Die auf einen einzigen Punkt im sozialen System zielende kausale Zurechnung wird der Komplexität des Sozialen nicht gerecht. Die betonte Selbstdarstellung von Personen oder Gruppen im konfliktregulierenden Dialog ist einer rationalen Arbeit am Konflikt abträglich, ebenso eine kontinuierliche Machtausübung oder Abwehr. Auch Projektionen in dem Sinne, daß man von seinen eigenen Vorstellungen nicht abrücken kann, können den Fluß der Kommunikation stören. In diesen Zusammenhang gehören auch Neutralisierungen (Rechtfertigungen, Selbstbeschwichtigungen, Verschiebungen der wirklichen Verantwortung oder Schuld) und vorgeschobene Begründungen, die nicht dem wahren Sachverhalt entsprechen. Kommunikatives Handeln im Bereich der Konfliktregulierung ist im Regelfall dysfunktional, wenn die gegnerische Person oder Gruppe beschwichtigt wird, wenn die Strategie der Konfliktvermeidung angewendet wird, wenn Macht und Drohung eingesetzt werden. Umgekehrt gibt es eine Reihe von funktionalen Mitteln der Konfliktregulierung: - die Entscheidung für den Eintritt in Gespräche, auch wenn die Situation unbequem ist; - Umgang mit überzeugenden (d. h. von Mehrheiten nicht oder nur äußerst schwer widerlegbaren) Argumenten; - Verwendung von Begründungen (statt Überredungen); - Rollenspiel (mit Austausch bestimmter Rollen); - Einsetzung eines Vermittlers (Schiedsmann, Experte, angesehene Person usw.); - Erarbeitung von Handlungsalternativen (Welche Wege gibt es noch?); - Anwendung der Niederlage-losen Methode der Konfliktregulierung (Keiner verliert während der Konfliktregelung völlig sein Gesicht); Anwendung systemorientierter Methoden (Beispiel: systemische Familientherapie); Teilnahme an Gruppengesprächen verschiedener Art; Teilnahme an kathartischen Gesprächen (Beispiel: ein Schüler bespricht seine Probleme mit einer älteren Person, so daß die psychische Bedrückung gemindert wird). Literatur z u m 2. Kapitel Bühl, W.-L.: Konflikt und Konfliktstrategie. München 1973, 2. Auflage Dieckmann, J.: Konfliktregulierung durch Dialoge. Freiburg 1989 Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. 1981 Habermas, J.: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Habermas, J./Luhmann, N.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankf u r t / M . 1971 Hanke, B./Mandl, H./Prell, S.: Soziale Interaktion im Unterricht. München 1974, 2. Auflage Klare, Th./Krope, P.: Verständigung über Alltagsnormen. München/Wien/ Baltimore 1977
45 Luhmann, N.: die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990 Luhmann, N.: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1985, 2. Auflage Pause, G./Peters, O.: Lehrer und soziale Interaktion in der Unterrichtsforschung. Weinheim/Basel 1973 Scheuch, E./Kutsch, Th.: Grundbegriffe der Soziologie. Stuttgart 1975, 2. Auflage Watzlawick, P./Beavin J. H./Jackson, D. D.: Menschliche Kommunikation. Bern/Stuttgart/Wien 1974, 4. Auflage Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1951
Kapitel 3 Die kritische Theorie in ihrer Bedeutung fiir pädagogisches Handeln
G r u n d z ü g e der kritischen Theorie Max Horkheimer stellt seine kritische Theorie der traditionellen Theorie gegenüber (Horkheimer 1968, S. 48). Er formuliert im Jahre 1937: "Die Feindschaft gegen das Theoretische überhaupt, die heute im öffentlichen Leben grassiert, richtet sich in Wahrheit gegen die verändernde Aktivität, die mit dem kritischen Denken verbunden ist. Wo es nicht beim Feststellen und Ordnen in möglichst neutralen, das heißt für die Lebenspraxis in den gegebenen Formen unerläßlichen Kategorien bleibt, regt sich sogleich ein Widerstand." Kritische Theorie in dem von Horkheimer und Adorno gemeinten Sinne richtet sich gegen die Theoriefeindlichkeit, gegen die Tendenz, Theorie nur auf die Positivität zu beziehen. In dem im Positivismusstreit in der deutschen Soziologie in den 60er Jahren vorgelegten Positionspapier vertritt Adorno die folgenden Auffassungen (Adorno u. a. 1969): Es ist zu fragen, ob nicht die eigene Autonomie der Wissenschaft, durch welche sie gegenüber ihrer Genese sich produktiv verselbständigt und objektiviert hat, ihrerseits aus ihrer gesellschaftlichen Funktion sich herleitet. Die positivistische Position, deren Pathos und deren Wirkung an ihrem Objektivitätsanspruch haften, ist ihrerseits subjektivistisch. Es gibt nichts sozial Faktisches, das nicht seinen Stellenwert in der Totalität hätte. Totalität ist der Inbegriff des gesellschaftlichen Verhältnisses der Individuen untereinander. Adorno wirft dem Positivismus vor, er habe es mit dem Disparaten zu tun, dem subjektivistisch interpretierten Datum. Diese auseinandergebrochenen Momente von Erkenntnis bringt der gegenwärtige Szientismus äußerlich zusammen. Bewußtsein muß zur Kritik an der Gesellschaft schreiten ohne andere Mittel als vernünftige. Dialektik wendet sich gegen die harmonistische Tendenz des Szientismus, der die Antagonismen der Wirklichkeit durch ihre methodische Aufbereitung verschwinden läßt. Die Einheit der Wissenschaft verdrängt die Widersprüchlichkeit ihres Objekts. Der positivistisch orientierten Wissenschaft entgleitet das gesellschaftlich gesetzte Moment der Divergenz von Individuum und Gesellschaft. Zur Objektivität der Wissenschaft hilft allein Einsicht in die ihr innewohnenden gesellschaftlichen Vermittlungen. Andererseits ist Wissenschaft kein bloßes Vehikel gesellschaftlicher Verhältnisse und Interessen. Empirie und Theorie lassen sich nicht in ein Kontinuum eintragen. Gegenüber dem Postulat der Einsicht in das Wesen der modernen Gesellschaft gleichen die empirischen Beiträge Tropfen auf den heißen Stein. Empirische Beweise für zentrale Strukturgesetze bleiben allemal anfechtbar (a. a. O., S. 83). Der positivistischen Theorie liegt eine Residualtheorie zugrunde: die Vorstellung, Wahrheit sei, was nach Abzug der vorgeblich bloßen subjektiven Zutat, einer Art von Gestehungskosten, übrigbleibt. Alle Handlungen und
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Dinge sind gesellschaftlich vermittelt. Daher kann man in der Erkenntnistheorie nicht alles schlechthin in einem Prinzip aufgehen lassen, ob dieses Prinzip nun Sein heißt oder Denken, Subjekt oder Objekt, Wesen oder Faktizität. Wo es ein Erstes gibt, da gibt es auch ein Zweites. Also ist das Erste mit dem Zweiten usw. vermittelt (Adorno 1956). Negative Dialektik in dem von Adorno beschriebenen Sinne (Adorno 1966) besagt, daß die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen. Der Widerspruch ist Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff. Das Widersprüchliche erscheint deshalb als widersprüchlich, weil es mit dem Maßstab der Einheit gemessen wird. Das unersättliche Identitätsprinzip verewigt den Antagonismus vermöge der Unterdrückung des Widersprechenden. "Was nichts toleriert, das nicht wie es selber wäre, hintertreibt die Versöhnung, als welche es sich verkennt. Die Gewalttat des Gleichmachens reproduziert den Widerspruch, den sie ausmerzt" (ebenda, S. 144). Dialektik als Methode besagt: Der an der Sache erfahrene Widerspruch führt dazu, daß man gegen diesen Widerspruch in Widersprüchen denkt. Dialektik ist nicht nur eine Methode des Denkens, sondern auch ein der Geschichte immanenter Prozeß. Die "Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer/Adorno 1947, S. 22) weist auf Regressionstendenzen im geschichtlichen Rationalisierungsprozeß hin: "Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie." Der Versuch, den Naturzwang zu brechen, führt nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. Die Aufklärung als Entmythologisierung setzt Denken und Mathematik gleich. Das Tatsächliche behält recht. Die Erkenntnis beschränkt sich auf seine Wiederholung. Der Gedanke macht sich zur bloßen Tautologie. "Je mehr die Denkmaschinerie das Seiende sich unterwirft, um so blinder bescheidet sie sich bei dessen Reproduktion. Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte. Denn Mythologie hatte in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurückgespiegelt und der Hoffnung entsagt" (ebenda, S. 40). Die negative Dialektik als Verfahren richtet sich gegen die "negative Objektivität" des Systems im Sinne des Gesetzten, das als Ansichsein auftritt, also sozusagen mit Absolutheitsanspruch (Adorno 1966, S. 30). So war das Hegeische System nicht in sich wahrhaft ein Werdendes, sondern implizit in jeder Einzelbestimmung bereits vorgedacht. Ein in solcher Weise gesichertes System wird eben durch diese Absicherung zur Unwahrheit verurteilt. Adorno zieht den Begriff des Modells vor, der das Spezifische trifft: Negative Dialektik ist ein Ensemble von Modellanalysen (ebenda, S. 37). Unter den zahlreichen Themen der kritischen Theorie ist der Zusammenhang von "Autorität und Familie" (Horkheimer 1973) von pädagogischer Bedeutung. Für Horkheimer trug die bürgerliche Familie von Anfang an einen tiefen Widerspruch in sich. Sie blieb wesentlich eine feudale Einrichtung, gegründet auf das Prinzip des "Blutes". Sie war durchaus irrational, während die industrialisierte Gesellschaft, die freilich in ihrem Wesenskern irrationale Elemente enthält, Rationalität proklamierte: "die ausschließliche Herrschaft des Prinzips der Berechenbarkeit und des freien Tausches" (ebenda, S. 89). Der Erfolg des Unternehmens beruhte zu einem großen Teil auf der Solidarität der Familie.
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Mit der Auflösung dieses für die Stabilisierung der Familie wesentlichen Faktors schwand der Respekt der Familienmitglieder vor dem Oberhaupt des Hauses, ihre Anhänglichkeit an die Familie als ganze und ihre Treue zu deren Symbolen. Autorität im Hause nahm einen irrationalen Zug an. Die Akteure auf der Bühne der Familie bleiben soziale Atome. "Die Individuen sind in der Ehe ebenso austauschbar wie in wirtschaftlichen Beziehungen ... Jeder bleibt ein abstraktes Zentrum von Interessen und Talenten" (ebenda, S. 84). Horkheimer formuliert: "Die gleichen wirtschaftlichen Veränderungen, die die Familie zerstören, führen die Gefahr des Totalitarismus mit sich. Die Familie in der Krise bringt jene Einstellungen hervor, die die Menschen zur blinden Unterwerfung prädisponieren" (ebenda, S. 85). Gerade die Familie bringt die geeigneten Objekte totalitärer Integration hervor. Das heranwachsende Kind hält Ausschau nach einem stärkeren, machtvolleren Vater, nach einem Uber-Vater, wie ihn die faschistische Vorstellungswelt anbietet (ebenda, S. 85). Dem Kind wird die autoritäre Unterwürfigkeit von der Familie eingeprägt. Die Familie trägt dazu bei, daß das Kind für totalitäre Lebensformen prädisponiert wird.
Der autoritätsgebundene oder sado—masochistische Charakter ist keineswegs ein neues Phänomen. Er kann in der gesamten Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft beobachtet werden (ebenda, S. 89). Horkheimer nennt eine Reihe von Verhaltensmerkmalen des autoritätsgebundenen Charakters, z. B. Härte, Rücksichtslosigkeit, übertriebener Anstrich von Männlichkeit, antifemininer Affekt, der auf der Ablehnung der Mutter beruht, Ablehnung von Fremdgruppen, vor allem der Juden, Verachtung für Züge des anderen Geschlechts, sobald sie bei Mitgliedern des eigenen Geschlechts auftreten, Unduldsamkeit gegenüber allem, was anders ist, starres Festhalten an konventionellen Werten, Schwarz-Weiß-Denken, Verachtung für alles, was schwach ist (Arbeitslose), Denken in Stereotypen, Betonung unveränderlicher Merkmale (z. B. Erbanlagen) gegenüber sozialen Determinanten, Denken in hierarchischen Begriffen, Akzeptanz von Autorität um ihrer selbst willen, ständige Betonung des "Positiven" und Ablehnung kritischer Einstellungen als destruktiv, Hochschätzung des Ideals der Reinheit, Ordnung, Sauberkeit. Kritische Interpretation Die kritische Theorie ist im interaktionistischen Sinne eine Reaktion auf enttäuschende Erfahrungen mit dem Aufklärungsprozeß seit der klassischen Antike, den Max Weber als Rationalisierungsprozeß in seinem umfangreichen Werk skizziert hat. Sie konzentriert sich auf die Negativseite des Folgensaldos und geht davon aus, daß die Positivseite durch die positivistischen Ansätze der Wissenschaft und Alltagstheorie bereits reichlich beschrieben worden ist. Kritische Theorie ist im Sinne der modernen Systemtheorie ein Beitrag zur Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems. Sie ist gleichzeitig ein Netz zum Auffangen von Enttäuschungen und Frustrationen. Da die gesellschaftliche Selbstreproduktion nicht zur Zufriedenheit verläuft, muß die kritische Selbstbeschreibung des umfassenden soziokulturellen Systems abändernde Akzente setzen.
49 Der Interpenetrationsprozeß von seiten der kritischen Theorie ist so angelegt, daß die Reflexion bei Personen und Gruppen auf gravierende Fehlentwicklungen in den Strukturen der Systeme gerichtet wird, auf solche Regressionen und Rückfälle in die Barbarei (Beispiel: Judenverfolgungen, Vorurteile gegenüber Minderheiten), die den Fortschrittsprozeß ständig umzukehren drohen. Kritische Theorie ist, systemtheoretisch argumentiert, stetige Aufforderung zu verstärkter Selbstbeobachtung und Selbstorganisation im Ablauf der Reproduktionsprozesse. Soziale Systeme größeren Umfangs können im Vollzug der Evolution nicht sich selbst überlassen werden, vor allem dann nicht, wenn Aufklärung in millionenfaches Umbringen von Menschen umschlägt oder, wenn Aufklärung grauenvolle Geschehnisse wie Vernichtungskriege oder systematischen Massenmord nicht verhindern kann. Insofern ist kritische Theorie ein berechtigter und notwendiger Aufschrei gegenüber der Ohnmacht der Vernunft. Kritische Theorie ist zugleich ein Korrektiv interaktionistischer Positionen, ein Verweis auf gesellschaftliche Entwicklungen und Tatsachen, die sich "über unseren Köpfen", ohne unser direktes Zutun abspielen. Sie ist ein Verweis auf die Notwendigkeit, kollektive Abläufe auf der Ebene der Totalität zu erkennen, um Steuerungsmechanismen entwickeln zu können. Die Trennungslinie zwischen Interaktionssystemen, in denen mein miteinander kommunizieren und sich gegenseitig wahrnehmen kann, und Gesellschaftssystemen mit hoher Komplexität wird von der kritischen Theorie sichtbar gemacht. Dabei bedarf der Begriff der Totalität allerdings einer entschiedenen Präzision, um der Bildung von Vorurteilen bei der Beschreibung der Totalität zu entgehen. Kritische Theorie unterstreicht die Bedeutung der Konstitution der Systemelemente von "oben" her, von den außerhalb der Möglichkeiten der Individuen und überschaubaren Gruppen liegenden Zwänge und Einflußtendenzen. Der Impuls der kritischen Theorie richtet sich gegen die Selbstüberschätzung des Menschen als Menschen. Er zielt auf die Einsicht, daß die Menschen vorweg als Momente der gesellschaftlichen Totalität und sogar überwiegend als deren Objekt zu sehen sind. Diese Einsicht muß keineswegs bedeuten, daß die Menschlichkeit damit zu Grabe getragen wird. Es ist umgekehrt so, daß Menschlichkeit keine bloße Projektion sein darf, sondern stets auf dem Hintergrund übergreifender gesellschaftlicher Prozesse mit den entsprechenden Kristallisierungen gesehen werden muß. Die Kritik der kritischen Theorie am System bezieht sich auf prästabilierte Systeme, deren Strukturen im vorhinein festgelegt sind, auf deterministische Systeme ohne Elastizität und doppelte Kontingenz. Eine solche Systemkritik ist durchaus berechtigt. Sie involviert keine zentrale Kritik am Modell der neueren Systemtheorie. Die Beschreibung der Familie durch Horkheimer meint den klassischen Typus der bürgerlichen Familie, nicht dagegen die neueren Entwicklungen etwa in Richtung auf Ehe ohne Trauschein oder Ein-Eltern-Familie. Insofern enthält seine Kritik durchaus ein gewisses Maß an Berechtigung.
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Der Entwurf der autoritätsgebundenen Persönlichkeit ist als idealtypisches Modell anzusehen, von dem manche Abstriche zu machen sind und das nur zum Teil mit der heutigen Wirklichkeit übereinstimmt. Allerdings ist die verbreitete Bereitschaft, sich der Macht gleich welcher Art zu unterwerfen - sei es nun der Macht von Politikern, Eltern oder Vorgesetzten, aber auch der Macht von Ideen, Glaubensorientierungen oder wissenschaftlichen Schulen - nach wie vor ein wichtiges Strukturmerkmal moderner Sozialsysteme. Für eine solche Verhaltensdisposition steht auch der Begriff Konformismus bereit.
1. Kritische Theorie und Erziehung In seiner Abhandlung "Erziehung nach Auschwitz" (Adorno 1970) hat Adorno im Rekurs auf S. Freud die These bekräftigt, daß Zivilisation das Antizivilisatorische hervorbringt und es zunehmend verstärkt. Die Tatsache, daß Millionen von Menschen planvoll ermordet wurden, ist von keinem Lebendigen "als Oberflächenphänomen, als Abirrung im Lauf der Geschichte abzutun, die gegenüber der großen Tendenz des Fortschritts, der Aufklärung, der vermeintlich zunehmenden Humanität nicht in Betracht käme" (ebenda, S. 86). Adorno erklärt dieses Phänomen im Zusammenhang mit übergreifenden gesellschaftlichen Abläufen: " Daß es sich ereignete, ist selbst Ausdruck einer überaus mächtigen gesellschaftlichen Tendenz." Kritische Theorie besagt: Man muß die Mechanismen erkennen und bewußt machen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden. Man muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt (ebenda, S. 87). Für Adorno ist Erziehung nur sinnvoll aJs eine Erziehung zu kritischer Selbstreflexion. Einzig wahrhafte Kraft gegen Auschwitz wäre für Adorno Autonomie, die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht- Mitmachen. Menschen mit verdrückt sadistischen Zügen werden von der gesellschaftlichen Gesamttendenz heute überall hervorgebracht. Die für die Welt von Auschwitz charakteristischen Typen stellen etwas Neues dar: die blinde Identifikation mit dem Kollektiv. "Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten" (ebenda, S. 92). Adorno hält das Erziehungsbild der Härte für durch und durch verkehrt: "Die Vorstellung, Männlichkeit bestehe in einem Höchstmaß an Ertragenkönnen, wurde längst zum Deckbild eines Masochismus, der ... mit dem Sadismus nur allzu leicht sich zusammenfindet ... Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen mußte. Dieser Mechanismus ist ebenso bewußt zu machen wie eine Erziehung zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt und auf die Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten. Mit anderen Worten: Erziehung müßte Ernst machen mit einem Gedanken, der der Philosophie keineswegs fremd ist: daß man die Angst nicht verdrängen soll" (ebenda, S. 93).
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2. Der Lehrberuf aus der Perspektive der negativen Dialektik In seiner Abhandlung zum Thema "Tabus über dem Lehrberuf' hat Adorno seine Auffassung über die Soziologie der Berufsrolle von Pädagoginnen und Pädagogen dargelegt (Adorno 1970). Die Studie beschränkt sich auf die Skizzierung lediglich einer Problemstellung. Die eigene Lehrerfahrung veranlaßt den Autor zu der Feststellung, daß gerade die begabtesten unter den sehr vielen Kandidaten des Staatsexamens, mit denen er persönlich zu tun hatte, es als eine Art Zwang empfinden, Lehrer zu werden (ebenda, S. 68), dem sie sich nur als einer ultima ratio fügen. Beobachtet wird eine Antipathie gegen das mit dem Lehrberuf verbundene Reglementierte. Mit Tabus sind hier gemeint: unbewußte oder vorbewußte Vorstellungen der für diesen Beruf in Betracht Kommenden. Ein Tabu bezieht sich auf das "Aroma des gesellschaftlich nicht ganz Vollgenommenen" (ebenda, S. 69). In manchen Kreisen gilt der Lehrer als Erbe des Scriba, des Schreibers. In einer anderen Sicht wird der Lehrer als Erbe des Mönchs gesehen. Das Odium oder die Doppeldeutigkeit, die dem Mönchsberuf eignete, geht auf den Lehrer über, nachdem der Mönch weithin seine Funktion verlor. "Die Ambivalenz dem Wissenden gegenüber ist archaisch" (ebenda, S. 72). Die Macht des Lehrers wird deswegen verübelt, weil sie die wirkliche Macht nur parodiert, die bewundert wird. Auf der anderen Seite genießt der Lehrer eine magische Verehrung, z. B. einst in China oder bei den frommen Juden. Diese Erscheinung ist dort vorzufinden, wo der Lehrberuf mit religiöser Autorität verbunden ist. Der kritische Impuls der negativen Dialektik kommt voll zur Geltung in dem anmaßend klingenden Satz: "Das Problem der immanenten Unwahrheit der Pädagogik ist wohl, daß die Sache, die man betreibt, auf die Rezipierenden zugeschnitten wird, keine rein sachliche Arbeit um der Sache willen ist" (ebenda, S.73). Das Problem ist die Pädagogisierung der Sache, um die es eigentlich geht: "Dadurch allein schon dürften die Kinder unbewußt sich betrogen fühlen. Nicht bloß geben die Lehrer rezeptiv etwas bereits Etabliertes wieder, sondern ihre Mittlerfunktion als solche, wie alle Zirkulationstätigkeiten vorweg gesellschaftlich ein wenig suspekt, zieht etwas von allgemeiner Abneigung auf sich" (ebenda, S. 73). Der Erfolg des akademischen Lehrers beruht offenbar auf dem Verzicht auf jede Berechnung auf Einflußnahme, auf dem Verzicht aufs Überreden. Der Professor wird unaufhaltsam mehr und mehr zum Verkäufer von Kenntnissen. Einen Hauch von Unfairness hat jeder Lehrberuf, auch derjenige des Universitätsprofessors, da ein Wissensvorsprung untrennbar mit seiner Funktion verbunden ist. Zur Unfairness wird der Lehrer auch von der Gesellschaft gezwungen, da sie ihre Ordnungen, wenn es hart auf hart geht, nur mit physischer Gewalt durchsetzen kann. "Die, welche sie ausüben, sind Sündenböcke für die, welche die Anordnung treffen ... das Urbild jener imagerie ist der Kerkermeister, mehr noch vielleicht der Unteroffizier" (ebenda, S. 75). Für Adorno, der in einem Buchtitel seinem Leben das Prädikat "beschädigt" zuspricht, formuliert: "Im Bild des Lehrers wiederholt sich, sei's noch so abgeschwächt, etwas vom affektiv höchst besetzten Bild des Henkers" (ebenda, S. 76). In der Roman weit haftet dem Lehrer gelegentlich etwas vom erotisch Neutralisierten, nicht frei Entwickelten an. Auch stehen Lehrer permanent im Verdacht der sogenannten Weltfremdheit. Das Kind erfahrt
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oft bereits im Kindergarten, dann aber in der Schule jäh, schockhaft zum ersten Mal Entfremdung: "... die Schule ist für die Entwicklung des Einzelmenschen fast der Prototyp gesellschaftlicher Entfremdung überhaupt ... Agent dieser Entfremdung ist die Lehrerautorität und die negative Besetzung der imago des Lehrers die Antwort darauP (ebenda, S. 80). Was in der Schule geschieht, bleibt prinzipiell weit hinter dem leidenschaftlich Erwarteten zurück. Insofern ist der Lehrberuf archaisch zurückgeblieben hinter der Zivilisation, die er vertritt. Solcher Archaismus äußert sich in Reaktionsformen, die immer ebenso nahe an der physischen Gewalt sind, wie sie etwas von Unsicherheit und Schwäche verraten. Dagegen helfen könnte nur eine veränderte Verhaltensweise der Lehrer. Sie müßten ihre Affekte sich selbst und anderen zugestehen und dadurch die Schüler entwaffnen.
Kritische Interpretation Ein Tabu ist etwas, was man nicht vor anderen anspricht. Wer das dennoch tut, muß damit rechnen, auf Widerstand zu stoßen. Das von Adorno skizzierte Selbst- und Fremdbild der Lehrperson trifft eine Reihe von realistischen Zügen des Lehrerverhaltens. In der Lehrersoziologie ist immer wieder auf historische Quellen dieses Berufes verwiesen worden. So ist der Lehrer als Nachfahre des preußischen Unteroffiziers oder ausgedienten Feldwebels bezeichnet worden, oder auch als Abkömmling des Küsters. Gymnasiallehrer sind als verhinderte Gelehrte tituliert worden usw. Reduktionen dieser Art tun dem Berufsprestige heutiger Lehrpersonen keinen Abbruch. Auch wenn sie den Tatsachen entsprechen sollten, wird dadurch die berufliche Leistung der Lehrkräfte nicht geschmälert. Gegen einen individuellen oder kollektiven beruflichen Aufstieg wird man in der Regel nichts Uberzeugendes einzuwenden haben. Es erhebt sich die Frage, in welchem Umfang derartige Zuschreibungen und Verweise auf vorausgehende Berufsrollen Reaktionen auf eigene Negativerlebnisse in der eigenen Schulzeit sind. Auch ist zu fragen, ob hier nicht Ressentiments und Projektionen im Sinne von Auskehrungen der eigenen negativen Identität im Spiel sind. Druck erzeugt Gegendruck. Wenn eine Lehrperson über Jahre hinweg auf eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern Druck ausübt und gezielte unbequeme Forderungen stellt, so kann die Reaktion nicht nur in Dankbarkeit gegenüber der Lehrerleistung bestehen, sondern auch in sublimen Racheakten, die dann in Romanen oder Filmen ihre Kristallisation finden. Sofern Lehrpersonen im Plural professionelle Deformationen aufweisen, z. B. im Sinne einer überdurchschnittlich intensiven Erläuterung eines Sachverhalts, so hängt diese Verhaltensweise damit zusammen, daß Lehrkräfte von Berufs wegen intensiv erklären müssen und daß sie nicht immer in der Lage sind, sich von der Lehrsituation in der Schule auf nichtschulische Situationen umzustellen. Im Hinblick auf Adornos Abhandlung wäre zu fragen, in welchem Umfang die Berechtigung besteht, sich auf Romanfiguren zu beziehen, die ohnehin nicht selten infolge ihrer Exzentrizität Übertreibungen und Verzerrungen der normalen Handlungsmuster darstellen.
53 Adorno bemerkt, die Unwahrheit der Pädagogik liege im Zuschnitt des Lehrstoffes auf die Rezipierenden. Sicher ist die mit diesem Zuschnitt verbundene Reduktion und Vereinfachung des Lehrangebots eine "Unwahrheit", wenn die Wahrheit die "Konstruktion der Totale" ist, die eigentlich nur dem ausgesprochenen Experten zugänglich ist. Die Reduktion von Komplexität ist eine Notwendigkeit, die in der Struktur von Pädagogik selbst verankert ist. Es erhebt sich die Frage, ob ein Problem des respektablen Universitätsprofessors möglicherweise darin liegt, daß er sich nicht primär bemüht, seine Gedanken so zu formulieren, daß ein Verstehen - und das gehört zur Kommunikation - auch über einen elitären Kreis von Personen hinaus möglich ist. Gibt es soziale Positionen und Rollen ohne rollenspezifische "Unwahrheiten" ? Durch die Pädagogisierung der Sache, um die es eigentlich geht, mögen sich manche Kinder und Jugendliche betrogen fühlen. Allein eine perfekte pädagogische Aufbereitung des Lehrstoffes ermöglicht den Einstieg in das Verständnis schwer zugänglicher und verstehbarer Sachverhalte. Die von Adorno verlangte Veränderung der Verhaltensweise der Lehrer ist nur möglich auf dem Wege über eine breite wissenschaftliche Schulung, die dann aber auf die gezielte "Pädagogisierung" nicht verzichten kann. Im Gegenteil: Die Ebene der Fachdidaktik und Didaktik allgemein bedarf einer spürbaren Aufwertung und Anhebung auf die respektable wissenschaftliche Diskussionsebene. Auf dem Wege über die Verfeinerung der wissenschaftlichen Systeme ist die Einwirkung auf die personalen Systeme möglich und realistisch.
3. Autoritätsgebundene Persönlichkeit und Vorurteil Während die Problematik des Vorurteils in dem respektablen Ideengebäude der modernen Systemtheorie kaum einen geeigneten Platz findet, bietet die kritische Theorie eine gute Chance, dieses pädagogisch bedeutsame Thema überzeugend zu verorten. Der autoritätsgebundene oder auch totalitäre Charaktertyp erweist sich als relativ starre, unveränderliche Struktur. Kennzeichnend für die Starrheit dieses Charakters ist dessen Autoritätsgebundenheit, "die blinde, verbissene, insgeheim aufmuckende Anerkennung alles dessen, was ist, was Macht hat" (Institut für Sozialforschung 1956, S. 156). Dieser Charaktertyp hält sich an konventionelle Werte, er zeigt ein äußerlich korrektes Benehmen. Er legt Wert auf Erfolg, Fleiß, Tüchtigkeit, physische Sauberkeit, Gesundheit, konformistisches, unkritisches Verhalten. Meistens empfinden solche Menschen hierarchisch. Sie zeigen die Bereitschaft, sich der idealisierten moralischen Autorität der Gruppe zu unterwerfen. Der populäre Ausdruck "Radfahrernatur" trifft recht genau das hier gemeinte Verhalten. Um das Gefühl zu haben, etwas zu sein, brauchen diese Menschen die Identifikation mit der vorgegebenen Ordnung. Sie identifizieren sich mit ihr um so lieber, je strenger und machtvoller sie auftritt. Dahinter steht eine "tiefe Schwäche des eigenen Ichs". Der totalitäre Verhaltenstyp verbietet sich jegliche Reflexion, die seine Sicherheit gefährden könnte. Er verachtet die eigentlich subjektiven Kräfte, die geistige Regung,
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die Phantasie. "In ihren Augen ist in der Tat die Welt immer nach einem Schwarz-Weiß-Klischee gebaut, und für alles Übel macht man die vorgegebene Natur oder gar okkulte Mächte verantwortlich ... Unbewußt hegen solche Personen, bei allem optimistischen und weltbejahenden Gerede, den Wunsch nach Zerstörung - auch der eigenen Person. Sie neigen zu Zynismus und Menschenverachtung. Da jedoch der totalitäre Charakter den Wunsch nach Zerstörung sich selbst nicht einzugestehen wagt, projiziert er ihn auf andere, vor allem auf den Feind, den er erwählt, erfindet, oder den andere für ihn erfinden, und der stets so minderwertig wie gefahrlich vorgestellt wird" (ebenda, S. 157). Psychologische Einzeluntersuchungen haben zudem gezeigt, daß totalitäre Charaktere in ihrer Kindheit durch einen strengen Vater oder durch Mangel an Liebe überhaupt gebrochen wurden und daß sie, um überhaupt seelisch weiterleben zu können, ihrerseits wiederholen, was ihnen selbst einmal widerfuhr. Sie sind Gefeingene ihres eigenen geschwächten Ichs. Sie neigen zur Vorurteilsbildung. Der Anspruch individueller Urteilsbildung macht sich bei ihnen nur noch als eine Art Störfaktor geltend. Auf der Ebene pädagogischer Einwirkungsmöglichkeiten werden sachlich aufklärende Broschüren genannt, die Mitwirkung von Funk und Film, die Bearbeitung der wissenschaftlichen Resultate für den Schulgebrauch.
Kritische Interpretation Die Figur der autoritätsgebundenen Persönlichkeit muß als idealtypisches Gebilde angesehen werden, wahrlich nicht als ein ideales Gebilde. Sie dürfte in ihrer begrifflichen Reinheit in der Wirklichkeit nicht oder nur äußerst selten vorkommen. Allenfalls wird man hier und da bestimmte der vielen genannten Charakterzüge vorfinden. Es genügt nicht, Charakterzüge zu beschreiben, ohne die reale gesellschaftliche Situation solcher Personen in die Beschreibung einzubeziehen, z. B. die spezielle Familiensituation, eventuelle Arbeitslosigkeit oder sonstige Dauerfrustrationen, die mögliche Beeinflussung durch andere. Die bloße Beschreibung eines Verhaltenstyps bedarf der ständigen Bezugnahme auf die sozialen Kreise, in die das Individuum eingebunden ist. Diese Forderung wird von den Angehörigen der "Frankfurter Schule" erfüllt. Zu ergänzen wäre eine Analyse des totalitären Charaktertyps durch Verweise auf die historische Tradition, die geradezu angelegt ist auf die Produktion von Unterordnung und Gehorsam, nicht nur im Bereich der Familie, sondern auch in den Strukturen der Feudalherrschaft und der Despotie. Von Einfluß ist die Betonung der Macht (Beispiel: Macchiavelli), die bis hin zu Max Webers Definition der Politik als Streben nach Macht oder Machtanteil reicht. Insofern ist die autoritätsgebundene Persönlichkeit ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Die pädagogische Ausbreitung der Kenntnisse über das Modell der autoritätsgebundenen Persönlichkeit und die entsprechende kritische Behandlung dieses Personbildes ist ein Mittel gegen die Chancen dieses dysfunktionalen Menschentyps. Die Möglichkeiten der Veränderung der persönlichen Verhaltensmuster sind unmittelbar verklammert mit stärkerer Reflexion in den sozialen Systemen.
55 Die kritische Theorie bringt das Vorurteil in Verbindung mit einem bestimmten personalen Verhaltensmuster, das gesellschaftlich vermittelt ist. Die funktionalistische Komponente liegt nicht in ihrem unmittelbaren Blickfeld. So haben Vorurteile (vgl. dazu Barres 1978) verschiedene Funktionen: die Orientierungsfunktion (sich leichter an die eigene Gruppe anpassen durch Mitmachen), die utilitaristische Funktion (Minderheiten diskriminieren), die Selbstdarstellungsfunktion (durch Identifizierung mit einer Einstellung der persönliche Identität wahren), die Selbstbehauptungsfunktion (Rechtfertigung, Abwehr, Rationalisierung).
4. Zur Problematik der Ideologiebestimmtheit der schulischen Lebenswelt aus der Sicht der kritischen Theorie Ideologisch im Sinne des falschen Bewußtseins würde pädagogische Arbeit verfahren, wenn sie die Spannung zwischen dem Institutionellen und dem Lebendigen aus dem Blickfeld verlieren und wenn sie das Gesellschaftliche ins rein Naturale auflösen würde. Wahrend die naturalistische Perspektive die Familie primär als Keimzelle des Staates sieht, ist die Familie für die kritische Theorie eine Agentur der Gesellschaft. Die Struktur der Familie hängt mit gesamtgesellschaftlichen Bedingung zusammen. So entspringt das Inzesttabu den Bedürfnissen einer Tauschgesellschaft. Die Familie ist keine bloße Naturkategorie, vielmehr ist sie gesellschaftlich vermittelt. Man würde der Ideologie verfallen, wenn man die Familie nur als ein naturwüchsiges System ansehen würde. Wenn eine Lehrperson ein Fehlverhalten eines Schülers auf dessen Familie zurückführen würde, so müßte sie hinzudenken, daß eben diese Familie wie alle anderen Familien in einer ganz bestimmten Weise auf übergreifende soziale Systeme und Prozesse reagiert. Aus der Sicht der kritischen Theorie schrumpft die Ehe mehr und mehr zur bloß zweckdienlichen Tauschbeziehung zusammen. Der Stand der Jugendkriminalität besagt etwas über den Stand der Familie (Institut für Sozialforschung 1956, S. 125). Ideologie im Sinne der kritischen Theorie liegt auch dann vor, wenn der Elitebegriff naturalisiert wird. So hat Karl Mannheim in seinem älteren Buch "Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus" als Selektionsprinzipien der Eliten "Blut, Besitz und Leistung" genannt (Adorno 1955, 5. 36). Mannheim spricht zu Hitlers Lebzeiten von einem "echten Blutprinzip". Aus der Sicht der kritischen Theorie verkennt die Wissenssoziologie Mannheims, daß die Gesellschaft "ihr Wesen gerade darin hat, Formen zu entwickeln, die sich sedimentieren und die Individuen zu bloßen Agenten der objektiven Tendenz herabsetzen" (ebenda, S. 38). Es genügt nicht, Ideologien im Sinne von Urteilen des falschen Bewußtseins als Sache der Mentalität zu erledigen und ihre Beziehung auf die Sozialstruktur als reine Mystik zu denunzieren. Schon im 18. Jahrhundert wurde ermittelt, daß Vorurteile eine bestimmte soziale Funktion haben: Sie dienen der Aufrechterhaltung ungerechter Zustände und stellen der Verwirklichung des Glücks und der Herstellung einer vernünftigen Gesellschaft sich entgegen. Insofern wäre Ideologie Rechtfertigung. Ideologie im Sinne der Frankfurter Schule ist ein geistiges Gefüge, das selbständig und substantiell mit eigenem Anspruch aus dem gesellschaftli-
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chen Prozeß hervortritt. "Ihre Unwahrheit ist stets der Preis eben dieser Ablösung, der Verleugnung des gesellschaftlichen Grundes" (Institut für Sozialforschung 1956, S. 176). Insofern wird Ideologie von der kritischen Theorie definiert als "Bewußtseins- und Unbewußtseinszustand der Massen als objektiver Geist". In diesem Sinne ist Ideologie die Totalität dessen, was konfektioniert wird, um die Massen als Konsumenten einzufangen und wenn möglich ihren Bewußtseinszustand zu modellieren und zu fixieren. Ideologie ist die Anerkennung des Bestehenden, Modell eines Verhaltens, das der Ubermacht der Verhältnisse sich fügt.
Kritische Interpretation Ideologie im Verständnis der kritischen Theorie ist jegliche Objektivierung und Verabsolutierung geistiger Strukturen, die die Verbindung zu den mitlaufenden und begründenden gesellschaftlichen Prozessen leugnen und sich damit autonomisieren. Damit wird auch mit Bezug auf pädagogische Bemühungen gewarnt vor idealisierenden Objektivierungstendenzen des Geistes, d. h. Erziehungsziele dürfen nicht die Bedeutsamkeit gesellschaftlicher Prozesse unterschätzen. Umgekehrt können pädagogische Zielorientierungen sich nicht auf eine Verdoppelung der vorgegebenen Wirklichkeit beschränken und die Spontaneität des Subjekts in ihrer Bedeutung übersehen. Die abbildhafte Verdoppelung der Wirklichkeit würde in einen simplen Materialismus einmünden. Die Kritik an der marktwirtschaftlichen Konfektionierung, die mit der Rationalisierung und industriellen Technisierung der Wirtschaft zusammenhängt, verrät einen Hauch an elitärem Bewußtsein, das die Massen noch nicht erreicht hat und das auf Konfektion wegen der gesellschaftlichen Besserstellung nicht angewiesen ist. Ein solches elitäres Bewußtsein begibt sich selbst in die Richtung einer Loslösung vom gesellschaftlichen Grund, der sich ja nicht auf die geistigen Eliten beschränkt, und folglich in die Richtung dessen, was hier als Ideologie definiert wird. Insofern liegt der Ansatz eines Widerspruchs vor, der dann mit Widersprüchen aufzulösen wäre. Pädagogische Entwürfe lassen sich allgemein nicht das Recht nehmen, ihre Konstrukte am äußeren Rand des "gesellschaftlichen Grundes" einzusiedein. Dieses Recht darf ihnen nicht genommen werden, wenn der Spielraum subjektiver Spontaneität ausgenutzt werden soll. Eine wichtige Leistung der Ideologiekritik der kritischen Theorie besteht in der Kritik an dem prinzipiellen Subjektivismus Paretos, der die Unwahrheit der Ideologien nicht eigentlich aus gesellschaftlichen Verhältnissen und objektiv vorgezeichneten Verblendungszusammenhängen ableitet, sondern daraus, daß (in Analogie zur Freudschen Rationalisierung) die Menschen nachträglich ihre wahren Motive zu begründen und rechtfertigen suchen.
57 L i t e r a t u r z u m 3. K a p i t e l Adorno, Th. W. u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied und Berlin 1969 Adorno, Th. W.: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1966 Adorno, Th. W.: Prismen. Frankfurt/M. 1955 Adorno, Th. W.: Stichworte. Frankfurt/M. 1970, 3. Auflage Adorno, Th. W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M. 1973 Adorno, Th. W.u. a.: The AuthoritarianPersonality. New York/Evanston/ London 1950 Adorno, Th. W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Stuttgart 1956 Barres, E.: Vorurteile. Opladen 1978 Häuser, A.: Soziologie der Kunst. München 1974 Horkheimer, M.: Autorität und Familie in der Gegenwart. In (Hrsg.): Ciaessens, D./Millhoffer, P.: Familiensoziologie, Frankfurt/M. 1973 Horkheimer, M./Adorno, Th. W.: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947 Horkheimer, M.: Traditionelle und kritische Theorie. Frankfurt/M. 1968 Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. (Neuauflage 1991)
Frankfurt/M. 1956
Kapitel 4 Systemtheorie und Organisationssoziologie als Orientierungsmodelle für pädagogisches Handeln
Bemerkungen zur Definition der soziologischen B e g r i f f e S t r u k t u r und System Struktur im Verständnis der strukturell-funktionalen Theorie ist eine Reihe von verhältnismäßig stabilen Beziehungsmustern zwischen Einheiten. Für Parsons ist die soziale Struktur ein System von sozialen Beziehungsmustern zwischen Handelnden (Parsons 1964, S. 54). Der Handelnde ist im Bereich der sozialen Systeme nicht als individuelle Ganzheit beteiligt, sondern lediglich mit einem differenzierten Ausschnitt seines gesamten Handelns: mit einer Rolle. Die soziale Struktur ist ein System von Beziehungsmustern zwischen Handelnden in ihrer Eigenschaft als Rollenträger. Der Begriff der Rolle verknüpft den Handelnden als psychisches System mit der eigentlichen sozialen Struktur. Die sich in den sozialen Systemen herauskristallisierenden Erwartungen sind wirksame Motivierungskräfte für das Verhalten des Handelnden. Treffend formuliert Parsons: "So gesehen liegt der wesentliche Aspekt der sozialen Struktur in einem System von Erwartungsmustern, die das rechte Verhalten für Personen in bestimmten Rollen definieren ..." (ebenda, S. 56). Im Verlauf des Sozialisationsprozesses nimmt der Handelnde in mehr oder weniger starkem Maße die Verhaltensmaßstäbe und Ideale der Gruppe in sich auf. Der strukturell-funktionale Theorieansatz reduziert die Komplexität der sozialen Erscheinungen auf Strukturen und Funktionen. Funktionalistisch oder strukturfunktionalistisch orientierte Denkweisen beziehen sich auf Leistungen im Bereich sozialer Systeme. Strukturen wie Systeme sind zu verstehen als relativ langsam wandelbare soziale Gebilde. Eine Struktur ist ein Interaktionsgefuge im Sinne eines Aufbaus (struere — aufbauen, schichten) und einer Schichtung (im Regelfall mit Ranggefälle). Funktion ist von dem lateinischen Wort fungere abgeleitet. Fungor heißt: ich verrichte, vollbringe, besorge, leiste. Functio ist die Verrichtung. Die Funktion der Erziehungseinrichtungen als Beispiel liegt in deren Leistung für die kreative Reproduktion und Weiterentwicklung der übergreifenden sozialen Systeme und deren Konkurrenzfähigkeit im intergesellschaftlichen Wettstreit. Um die funktionale Wirksamkeit des Erziehungswesens zu sichern und zu erhöhen, sind verschiedene funktionale Erfordernisse zu erfüllen, z. B. die Bereitstellung hinreichender finanzieller Mittel und geeigneter Erziehungseinrichtungen. Der Strukturfunktionalismus spielt eine wichtige Rolle in der theoretischen Diskussion. Mit Recht ist auf die Einseitigkeit der Funktionen und des "Funktionierens" hingewiesen worden. Auch der mehr oder weniger mechanische Anpassungsmechanismus im Vorgang der Sozialisation ist zu Recht kritisiert worden. Die weitgehende Ausklammerung von Konfliktualität und Widersprüchen ist ein weiterer Mangel dieses Theorieansatzes. In diesem
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Zusammenhang muß betont werden, daß jeder theoretische Ansatz entschiedene Einseitigkeiten aufzuweisen hat und verschiedener Ergänzungen und Korrekturen bedarf. Das trifft auch für die Systemtheorie zu, in deren Mittelpunkt der Begriff des sozialen Systems steht. Die neuere Systemtheorieetwain der durch N. Luhmann entworfenen Ausprägung (Luhmann 1985) verwendet zwar häufig den Strukturbegriff, setzt sich aber dennoch deutlich vom Strukturkonzept ab (ebenda, S. 377 ff.). Der Grund: Die Struktur ist im sozialen System nicht der produzierende Faktor. Sie ist nicht Ur-sache. Sie ist selbst nichts anderes als das Eingeschränktsein der Qualität und Verknüpfbarkeit der Elemente (S. 384 f.). Die Struktur leistet zwar die Überführung unstrukturierter in strukturierte Komplexität. Sie ordnet die bis dahin ungeordnete und nicht überschaubare Wirklichkeit. Sie dient damit der Überschaubarkeit und dem Ordnungssinn. Unstrukturierte Komplexität würde jederzeit ins Unzusammenhängende zerfallen. Die Strukturbildung benutzt diesen Zerfall, um daraus Ordnung aufzubauen. Die Kritik des Systemtheoretikers am Strukturbegriff besagt: Strukturbildung als selektive Einschränkung der Relationierungsmöglichkeiten im sozialen System hebt Entropie auf. Sie hebt die Gleichwahrscheinlichkeit jedes Zusammenhangs einzelner Elemente auf. Entropie bedeutet, daß im Prozeß der Reproduktion, d. h. des Ersetzens entfallender Elemente, jedes mögliche Nächstelement gleichwahrscheinlich ist (Luhmann 1985, S. 80). Im Falle der Entropie fehlt jede Engführung der Anschlußfähigkeit. Entropie als systemtheoretischer Begriff schließt unbestimmte Beliebigkeit des jetzt noch Möglichen aus. Die im sozialen System ablaufende Reproduktion (Selbstreferenz, Autopoiesis) erfordert hinreichende lokale Sicherheit, sozusagen Griffnähe des nächsten Elements, etwa auf eine Frage eine Antwort (S. 387). Die Reproduktion muß konkrete Elemente durch konkrete Elemente ersetzen. Der Strukturbegriff muß, wenn seine Verwendbarkeit gegeben sein soll, so beschaffen sein, daß Enttäuschungsmöglichkeiten in die Struktur eingearbeitet werden müssen. Struktur im systemtheoretischen Verständnis muß einen Möglichkeitsspielraum bereithalten. Unsicherheit ist und bleibt Strukturbedingung. Für die Systemtheorie liegt die Funktion der Struktur darin, daß die autopoietische Reproduktion trotz Unvorhersehbarkeit ermöglicht wird. Zusammenfassend und interpretierend läßt sich feststellen: Die Systemtheorie toleriert und verwendet den Strukturbegriff, wenn er "bereinigt" wird, indem der Kategorie der Möglichkeit mehr Spielraum gegeben wird. Die bereinigte Strukturkategorie gibt die bisher üblichen Selektionsverengungen auf. Zu den Bestandteilen der Struktur gehört die aktive Mitbeteiligung der Elemente des Systems am Reproduktionsprozeß der Struktur in Form einer Kombination von Selbstbestimmung und Öffnung eines Spielraums für Fremdbestimmung. Der Strukturbegriff muß so angelegt werden, daß Erwartungsenttäuschungen das Ganze und die Teile nicht umwerfen. Im Falle von Ersetzungsprozessen müssen die nächsten Elemente in Griffnähe sein. Strukturen müssen auch begrifflich so beschaffen sein, daß sie durch Widersprüche und Konflikte nicht zusammenbrechen. Sie müssen für Überraschungen offen sein. Derartige Gebilde haben kein zeitfestes "We-
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sen". Eine derart strukturierte Ordnung ist nicht teleologisch, auf die Erreichung eines im vorhinein festgelegten Fernziels hin orientiert und vorbestimmt. Sie ist keine prästabilierte Harmonie. "Sie will das Ende gerade nicht!" (S. 395). Die Brücke zu Parsons bleibt bestehen: Strukturen sozialer Systeme sind Erwartungsstrukturen. Mit der Darlegung einiger Differenzen zwischen dem modernen Strukturbegriff und dem neueren Systembegriff sind bereits wichtige Merkmale der Idee des Systems vorausgenommen worden: Das soziale System ist ein dynamisches Gefüge. Anschlußfähigkeit (= Sinn) muß überall im System gegeben sein. Der zentrale Prozeß im System ist der Vorgang der Selbsterneuerung unter Einschluß eines Spielraums für externe Einwirkung auf das System und umgekehrt (= Interpenetration). Dieser Reproduktionsprozeß ist insofern selbstreferentiell, als alle Teilbereiche oder Elemente des Systems (= Handlungsabläufe, Ereignisse) miteinander verknüpft sind. Soziale Systeme sind durch Autopoiesis gekennzeichnet, da die Elemente am stetigen Selbsterneuerungsprozeß aktiv mitwirken. Die Verknüpfung oder Verhakung der Elemente miteinander erfolgt in der Form einer spezifischen Form der Wechselwirkung, der doppelten Kontingenz. Kontingent ist etwas, was so, wie es ist, sein kann, aber auch anders möglich ist (Luhmann 1985, S. 152). Der Begriff Kontingenz bezeichnet Vorgegebenes im Hinblick auf mögliches Anderssein. Er bezeichnet die Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er bezieht sich auf dasjenige, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. Das soziale System hat keine basale Zustandsgewißheit. Es ist der unerwarteten Veränderbarkeit ausgesetzt, die mit Widersprüchen und Konflikten in Verbindung steht. Damit sind Widersprüche und Konflikte grundlegende Bestandteile sozialer Systeme. Soziale Systeme entwickeln Mechanismen zum Auffangen von Enttäuschung, Unsicherheit, Unerwartetem. Kontingent heißt in Kurzfassung: auch anders. Es genügt nicht, daß ich mir Vorstellungen davon mache, wie andere handeln und die Wirklichkeit gestalten könnten. Die eigenen Vorstellungen sind in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Allein sie reichen nicht aus, um den Fortgang der Systemreproduktion in den Griff zu bekommen, zu erklären und berechnend zu überschauen. Von der anderen Seite aus kann es j a immer noch ganz anders kommen, als ich mir das in meinen Projektionen ausgemalt habe. Insofern ist Systemtheorie Absage an subjektiv bestimmte Welterklärungen, da die Reziprozität im Sinne der doppelten Kontingenz fehlt. Die Ausdifferenzierung von Systemen kommt nur durch Selbstreferenz zustande. Gemeint ist, daß die Systeme in der Ausprägung ihrer Elemente (Ereignisse, Handlungsabfolgen usw.) und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst Bezug nehmen. Systemtheorie und Interaktionismus haben das Moment der Selbstreflexion gemeinsam, der Rückwendung auf sich selbst. Im Interaktionismus ist es die Selbstbeobachtung, die Fähigkeit, sich selbst zum Gegenstand der Beobachtung zu machen. In der Systemtheorie bedeutet die Rückwendung auf sich selbst die Fähigkeit, zu sich selbst Beziehungen herzustellen und diese Beziehungen gegenüber den Beziehungen zur Umwelt abzugrenzen. Systeme können nicht denken, da sie einen nichtpsychischen Charakter haben. Sie bestehen nicht aus leibhaftigen Menschen, sondern aus sozialen Kontakten, zu denen immer mehrere Personen gehören.
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Da soziale Systeme nicht denken können, sind sie auf die Kommunikation als basalen Interaktionsvorgang verwiesen. Kommunikation ist zu verstehen als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen. Der Vorgang der Selbstreferenz wird nicht länger (wie in der Tradition vorgegeben) auf das individuelle Bewußtsein bezogen. Vielmehr wird er auf die Selbsterneuerungsvorgänge der sozialen Systeme ausgedehnt. Der zentrale Grund liegt darin, daß in der Soziologie seit Dürkheim die Erkenntnis gewonnen wurde, daß das Soziale sich nie ganz auf individuelles Bewußtsein reduzieren läßt (Luhmann 1985, S. 593 ff.). Die Erfahrung der Unreduzierbewkeit des Sozialen (es hat ein Sein eigener Art, sui generis) ist nichts anderes als die Erfahrung der Selbstreferenz des Sozialen, d. h. Soziales wird auf Soziales zurückgeführt, es wird durch Soziales erklärt. So müssen z. B. Arbeitslosigkeit und Selbstmord als soziale Tatbestände auf soziale Bedingungen zurückgeführt werden. Soziale Tatbestände sind besondere Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren und mit einer gebieterischen Verbindlichkeit und Macht ausgestattet sind. Die sozialen Erscheinungen bilden eine neue Gattung. Sie machen das Gebiet der Soziologie aus. Die Realität ist laufende Reproduktion. Alles, was in den autopoietischen Systemen als Einheit verwendet wird, wird in diesen Systemen selbst als Einheit hergestellt. Dabei werden rekursiv die Einheiten benutzt, die im System schon konstituiert sind (Luhmann 1985, S. 602). Die Elemente konstituieren sich durch das System selbst (ebenda, S. 60): "Ein System kann man als selbstreferentiell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten selbst konstituiert und in allen Beziehungen zwischen diesen Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen läßt, auf diese Weise die Selbstkonstitution also laufend reproduziert." (Luhmann 1985, S. 59). Die Elemente des sozialen Systems gewinnen ihre Qualität dadurch, daß sie relational in Anspruch genommen und somit aufeinander bezogen werden. Der Funktionsbegriff löst den Substanzbegriff ab. Deduktion und Kausalität verlieren ihren grundbegrifflichen Rang. Der Realitätsaufbau folgt systemtheoretisch nur aus den Prozessen der Selbstreferenz, nicht dagegen aus der Kausalität. Die Ursachen für die sozialen Ereignisse werden in die prozessualen Verknüpfungen in den Systemen selbst und in den Bereich der System-Umwelt-Differenzen gelegt.
Kritische Interpretation Die Konstrukteure der strukturell-funktionalen Theorie haben sich seit Dürkheim bleibende Verdienste um die Weiterentwicklung der soziologischen Theorie erworben, vor allem dadurch, daß das Soziale als Qualität eigener Art (sui generis) begriffen und definiert wurde. Auf dieser Grundlage bleibt der analysierende und vergleichende Blick auf die Strukturen (wie auch immer man Struktur definiert) sozialer Gefüge unumgänglich. Dabei kann Struktur nicht als etwas immer schon Vorgegebenes begriffen werden. Gesellschaftliche Strukturen sind wohl durch Tradition und Konvention vorgegeben und den Elementen und Teilbereichen vorgeordnet. Sie konstruieren sich aber ständig fort im Rückbezug auf die
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KAPITEL Elemente und umgekehrt. Strukturen sind durch Werden bestimmt, nicht durch gleichbleibende Stabilität. Auch der Funktionsbegriff ist ein zentraler Begriff in der soziologischen Theorie, der von Zeit zu Zeit umdefiniert werden muß entsprechend der Weiterentwicklung der Theorie. Damit wird die Notwendigkeit der Dynamisierung dieses klassischen Theorieansatzes offensichtlich. Bereits Dürkheim hat entscheidende Impulse für die Konstituierung der modernen Systemtheorie vermittelt, z. B. durch seinen Hinweis, jeder Volkstypus habe seine eigene Erziehung, die ihm angemessen sei (Dürkheim 1972, S. 79). Damit hat er das Moment der Eigendynamik und der Eigengesetzlichkeit des sozialen Systems theoretisch begründet. Durch seine Feststellung, unser pädagogisches Ideal werde durch unsere Sozialstruktur erklärt (ebenda, S. 81), hat er die vorgeordnete Bedeutung der Sozialstruktur für die Konstituierung von Wertvorstellungen, allgemeinen Erwartungsgefugen und Normen herausgestellt und auf diesem Wege der heutigen Systemtheorie entscheidend vorgearbeitet. Ein weiteres Fundament gegenwärtiger Systemtheorie ist Dürkheims Aussage, daß die Erziehung vor allem das Mittel ist, mit dem die Gesellschaft ständig neu die Bedingungen ihrer Existenz schafft. Gemeint ist die Reproduktionsfunktion der Erziehung. Dieser gesellschaftliche Reproduktionsprozeß ist auch gegenwärtig der Mittelpunkt des systemtheoretischen Fundaments, definiert als Autopoiesis (d. h. die Elemente sind Elemente nur für die Systeme, die sie a b Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme, wie Luhmann formuliert) und Selbstreferenz. Dürkheims Verankerung der Erziehung in der Gesellschaftsstruktur ist bereits ein selbstreferentieller Prozeß: Wenn die Gesellschaft Erziehungseinrichtungen aufbaut, nimmt sie dabei Bezug auf sich selbst. Sie ist also eine Selbstkonstruktion (vgl. Luhmann 1985, S. 604). Folgerichtig bemerkt Luhmann (in kritischer Eingrenzung des wissenschaftssoziologischen Ansatzes von R. Merton): "Die weiträumigere Theorie selbstreferentieller, autopoietischer Systeme schließt strukturell-funktionale Analysen nicht aus, sondern ein; denn sicherlich bleiben Strukturen ein unerläßliches Erfordernis der Autopoiesis sozialer Systeme" (Luhmann 1990, S. 286 f.). Auch der (soziologisch verstandene) Begriff der Erwartung in der von Parsons verwendeten Definition geht als Schlüsselbegriff in die Rechtssoziologie Luhmanns ein. Parsons formuliert: "Diese Erwartungen (die normativen Erwartungen, J. D.) von Seiten der Mitmenschen bilden ein wesentliches Merkmal der Situation, in die sich jeder Handelnde gestellt sieht" (Parsons 1964, S. 55). Luhmann übernimmt diese Perspektive in seine systemtheoretische Soziologie des Rechts. Für ihn ist Recht keineswegs primär eine Zwangsordnung, sondern eine Erwartungserleichterung. Die kongruent generalisierten normativen Verhaltenserwartungen machen das Recht eines sozialen Systems aus (Luhmann 1972, S. 99). Die Funktion des Rechts liegt in der Auswahl von Verhaltenserwartungen (ebenda, S. 100). Hinsichtlich der grundlegenden Perspektiven konstruiert sich die strukturell-funktionale Theorie seit Dürkheim über Parsons u. a. in die Gegenwart hinein eigen-
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63 dynamisch und in selbstreferentieller Geschlossenheit und Offenheit zugleich fort. Im Evolutionsprozeß der allgemeinen Gesellschaftstheorie kristallisiert sich bei Parsons und in konsequenter Weiterfuhrung bei Luhmann ein Gesellschaftsmodell heraus, das durch Selbstgenügsamkeit und Zwang zur Autonomie gekennzeichnet ist. Gesellschaft ist für Parsons ein abstraktes System, zu dem die anderen (kulturellen, personalen und organisch- physikalischen) Handlungssysteme hauptsächliche Umwelten (primary environments) bilden. Parsons schreibt dazu: "This view contrasts sharply with our common-sense notion of society as being composed of concrete human individuals" (Parsons 1969, S. 10). Die Auslagerung der personalen Systeme aus den sozialen Systemen ist keine theoretische Willkür oder gar Abwertung des Menschen als Menschen. Vielmehr hängt diese Änderung der theoretischen Orientierung ihrerseits mit Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur selbst zusammen: "In the more advances societies, the ränge of individual personalities may even broaden whereas the structure and process of the society become less dependent on individual idiosyncracies" (ebenda, S. 11). Die Struktur der Gesellschaft entwickelt sich im Verlauf der gesellschaftlichen Evolution in eine Richtung, die individuellen Eigenheiten immer weniger Spielraum gewährt, so daß das soziale Netzwerk als solches in den Vordergrund des Durchblicks gelangt, ohne daß (wie Luhmann betont) die Personalität des Individuums dabei an Gewicht verliert. Die rekursiven Verhakungs- und Verknüpfungsprozesse in den sozialen Systemen und der Systeme untereinander rücken in den Vordergrund im Unterschied zu den Strukturen, deren konnotative Bedeutung eher schon in die Nähe eines Gehäuses gelangt, das Wandlungen eher Widerstand leistet als Vorschub bietet. Nicht zufällig ist die Metapher vom "stählernen Gehäuse" auf die Struktur der bürokratischen Herrschaft angewendet worden. Luhmann hat die Systemtheorie in konsequentem Rekurs auf vielfaltige Fachliteratur internationaler Herkunft auf ein genuin soziologisches Niveau gebracht, das die Möglichkeit hergibt, alle Bereiche der Gesellschaft (z. B. Wissenschaft und Wirtschaft) mit einem einheitsstiftenden Griff zu fassen, ohne die Differenziertheit der Kulturbereiche zu übersehen. Wer dieses theoretische Modell verstanden hat, wird durch die Stringenz der systemtheoretischen Analyse in die Lage versetzt, diese auf alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens anzuwenden. Von Bedeutung sind dabei die Impulse, die in die Richtung der "Anwendung" der Systemtheorie auf die gesellschaftliche Praxis weisen.
Teil 1: Systemtheorie und pädagogisches Handeln 1. Die Schule als soziales System Der Begriff "soziales System" wird sowohl für Gruppen mit überschaubaren Teilnehmerzahlen wie auch für Organisationen in Anspruch genommen.
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Das Hauptwort systäma meint das Zusammengestellte, die Vereinigung, die Gruppe. Schule als soziales System bedeutet: Eine Mehrzahl von Menschen kommt zusammen und bildet ein Gefüge, in dem die einzelnen Teilbereiche und Elemente aufeinander zugeordnet sind und in einem Verbund stehen. Die Theorie des sozialen Systems zielt auf ein komplexes Gefüge von Komponenten, die differenziert sind und in einem Verhältnis der Interdependenz aufeinander bezogen sind. Systemtheorie ist orientiert an der Reduktion von Komplexität. Im Hinblick auf Schulsysteme ist zunächst von Bedeutung, daß sie einen Anfang nehmen müssen, der in sozialstrukturellen Bedingungen begründet ist und somit allgemeinen Bedürfnissen der Bevölkerung entspringt, da die Familien und ähnlichen Gruppierungen die Bildungs- und Enkulturationsfunktionen nur anfänglich und partiell übernehmen können. Tendenzen der Vereinheitlichung (Gesamtschulen, Gesamthochschulen usw.) gehen mit Tendenzen der Differenzierung einher (Wahlfacher, Wahlpflichtfächer, Sonderkurse, Differenzierung der Hochschulen usw.). Trotz des ständigen Wandels sind die Schulsysteme relativ stabil. Ausgangspunkt der systemtheoretischen Analyse ist die Differenz von System und Umwelt. Ein Schulsystem steht jeweils in einem besonderen Verhältnis zu seiner Umwelt: zur Elternschaft, zu der näheren und weiteren Nachbarschaft der Schule, zu den Ärzten, die bei Unfällen gerufen oder aufgesucht werden, zur Gemeindeverwaltung, zu den Mitgliedern von Sportvereinen, die die Turnhalle der Schule mitbenutzen, zur Schulverwaltung, zu den Parteien usw. Die Grenzerhaltung eines schulischen Systems ist gleichbedeutend mit Systemerhaltung; denn zu jedem Bezugsfeld zieht die Schule Grenzen (Die Turnhalle bitte nur abends benutzen!), um ihren eigenen Bestand nicht zu gefährden. Ein Schulsystem ist differenziert, z. B. nach Alters- oder Leistungsgruppen. Auch die besonderen Interessengruppen gehören in diesen Zusammenhang. In der heutigen schulischen Gesamtsituation werden Tendenzen der Hierarchisierung (Differenzierung in ein Oben und ein Unten) durch solche der Demokratisierung und Gleichrangigkeit durchmischt. Ein Merkmal des Systems ist die Produktion. Im Falle der Schule ist die "Produktion" Hervorbringen von wünschenswerten Verhaltensweisen, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen und Weiterlernen von kulturellen Inhalten, der Übergang zur Berufsfähigkeit usw. Im Vollzug des Systemwandels kommen eine Unterbrechung und ein Neubeginn des Aufbaus von Komplexität vor. Für die schulischen Systeme hängen derartige Vorgänge, die als Emergenz bezeichnet werden, meistens mit Innovationsimpulsen auf der überregionalen politischkulturellen Ebene zusammen. Wennsich die politische Landschaft verändert und sich parteipolitische Schwerpunktverschiebungen ergeben, schlagen solche Wandlungen nicht selten auf die Strukturen der Schulen durch. Im System der Schule sind die Elemente, z. B. Kontakte zwischen Schülern und Lehrkräften oder Lehrkräften und Eltern, aber auch die einzelnen Schulklassen, Lerngruppen und Lehrkräfte, wechselseitig aufeinander bezogen. Dieses Bedingungsverhältnis wird als Konditionierung bezeichnet. Die reziproke Beziehung zwischen den Elementen steht in einem Wenn-dann-Verhältnis. Wenn z. B. die Zahl der Halbtags-Lehrkräfte mit Teilzeitbeschäftigung ansteigt, muß die Planung diesen Sachverhalt in unterschiedlichen Hinsichten
65 berücksichtigen (Beispiele: Pausenaufsicht, Stundenpläne, Konferenzen, Elternsprechzeiten, ärztliche Untersuchungen). Die moderne soziologische Systemtheorie hat den Gedanken der Einheit des Systems nicht aufgegeben. Zur Identität des Systems Schule gehört der Bezug auf sich selbst und auf die Umwelt. Die Umwelt ist die Voraussetzung der Identität des Systems (Luhmann 1985, S. 243). Die Umwelt ist für das soziale System "alles andere". Daher ist die Umwelt des Systems Schule sehr viel komplexer als das System selbst. Zwischen System und Umwelt besteht ein Komplexitätsgefalle, das sich nicht umkehren läßt (a. a. O., S. 250): "Jedes System hat sich gegen die überwältigende Komplexität seiner Umwelt zu behaupten, und jeder Erfolg dieser Art, jeder Bestand, jede Reproduktion macht die Umwelt aller anderen Systeme komplexer." Die Identität des Systems ist Bestimmung und Lokalisierung des Komplexitätsgefalles. Jedes System hat mit seiner Umwelt im Hinblick auf andere Systeme zu rechnen. Was bringt der System-Umwelt-Bezug der allgemeinen Systemtheorie für die schulische Lebenswelt, die stark durch Arbeitsformen der Veralltäglichung geprägt ist? Die grundsätzliche Einheitlichkeit des gesamten Schulsystems muß als gegeben und als funktionales Erfordernis angesehen werden. Wenn eine Familie in ein anderes Bundesland umzieht, müssen die Umschulungsschwierigkeiten überbrückbar sein. Die Leistungsanforderungen der Schulen müssen im gesamten politisch- kulturellen System ein Minimum an Einheitlichkeit haben. Schulen als soziale Systeme sind einerseits 'geschlossene' Systeme. Sie haben ihre Identität aus der Struktur des Systems heraus. Sie sind einerseits abgegrenzte, in sich schlüssige und geschlossene Einheiten. Anderseits ist gleichzeitig die Umwelt (alles andere) Voraussetzung für die Identität des Systems, 'lebt' die Schule gewissermaßen durch den Bezug zur Umwelt, durch Kontakte zu den Eltern, Vereinen und Verbänden, Angehörigen anderer Schulen, Fortbildungseinrichtungen, Kultusverwaltung usw. Schulsysteme haben in ihrer Umwelt mit der Konkurrenz anderer Systeme zu rechnen. Sie unterliegen den Bedingungen der Selbsterhaltung der sozialen Gruppe. Durch derartige Bedingungen der Konkurrenz auch auf der politischen Ebene (Regelschule, Versuchsschule, Gesamtschule) wird der Schulalltag geprägt. Der Strukturierung der Schulsysteme werden Grenzen gesetzt durch die Beschaffenheit der übergeordneten politischen Strukturen, die eng mit den wirtschaftlichen Strukturen verbunden sind. Die Art der Differenzierung der Schulsysteme ist als Wiederholung der Differenzierung des Gesamtsystems anzusehen (Autopoiesis, Selbstreferenz). Der Art der Differenzierung sind damit grundsätzliche Grenzen gesetzt. Differenzierung als solche ist systemtheoretisch als Folge der doppelten Kontingenz (d. h. es kann auch anders kommen als erwartet und vorgesehen) mit einem positiven Akzent besetzt. Selbstreferentielle Differenzierung bedeutet auch immer Selbstbeobachtung, Selbstorganisation, Widerspruchsregulierung. Auch in den Schulen ist Systemdifferenzierung reflexiv. Und reflexive Systembildung ist eine Steigerung der Ausdifferenzierung des Schulsystems, also positivfunktional. Schon Dürkheim und Max Weber haben mit entschiedenem Nachdruck die Spezialisierung und Differenzierung mit einem positiven Akzent belegt, vor allem im wissenschaftlichen Bereich. Systemtheoretisch gibt es durchaus Sozialsysteme, die einfach aufgebaut sind, also z. B. kleine,
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wenig differenzierte Schulsysteme abseits der großen Wohnzentren. Solche Systeme nehmen nach dem Modell der Systemtheorie keinen niederen Rang ein, nur weil sie etwa schwach differenziert sind. Interne Differenzierung bedeutet zwar Reflexivität und Steigerung der Unwahrscheinlichkeit, somit auch der Unalltäglichkeit. Jedoch ist auch das kleine Schulsystem ein System und hat damit ein Recht auf Anerkennung, da soziale Systeme allesamt für die Evolution von Bedeutung sind. Dem Anspruch der Selbstreferenz, die j a vollzogen werden muß und nicht selbstverständlich vorgegeben worden ist, kommt die Kommunikation in der Schule entgegen. Schule als soziales System setzt Verstehen der kommunikativen Prozesse voraus. Dazu gehört auch, daß die Schüler sich mit ihren kommunikativen Impulsen verstanden fühlen. Systemtheorie hat das Ganze des Systems im Blick und nicht die Oben-unten-Achse der Hierarchie. Hierarchie im Schulsystem ergibt sich aus den funktionalen Erfordernissen des Systems und nicht aus Naturnotwendigkeiten. Hierarchie in der Schule ist eine der Grenzstellen des Schulsystems, an denen eine Führungskraft eine Torhüterfunktion im Vollzug der Input- Output-Leistungen einnimmt. 2. Struktur, Funktion und System in der schulischen Lebenswelt Die Sozialstruktur einer Schule ist ein System von Beziehungsmustern zwischen Handelnden, die mit der Schule zu tun haben. Die im Schulsystem vorhandenen Erwartungen vor allem der Lehrerinnen und Lehrer sind wirksame Motivierungskräfte für das Handeln der Schüler. Imitation und Identifikation sind wichtige Lernmechanismen für die Schüler, so daß nach den Maßstäben der strukturell-funktionalen Theorie die Vorbildfunktion der Erzieher ab gegeben anzusehen ist. Weitere wichtige Sozialisationsmechanismen sind Sanktionierungen entsprechend den lerntheoretischen Vorgängen der Verstärkung und Löschung. Die Systemtheorie rückt die Bedeutung der Schulsysteme für die Bildung und Erziehung in den Vordergrund. Die Einflußnahme auf die Person des Schülers erfolgt über das System Schule und andere Systeme, z. B. Familie und Gruppe der Gleichaltrigen. Auch Geulen und Hurrelmann (1982, S. 53) gehen von der systemtheoretischen Voraussetzung aus, "daß unsere Vorstellungen von Persönlichkeit mit denen von Gesellschaft zusammenhängen, ja in diesen fundiert sind". Für die Systemtheorie ist Bildungsqualität wie auch andere Qualität nur durch Selektion zu gewinnen (Luhmann 1985, S. 42): Mannigfaltigkeit muß durch Auswahlprozesse reduziert werden. Elemente (Ereignisse, Handlungen, Begegnungen) sind Elemente für die Systeme und durch die Systeme (Luhmann 1985, S. 43). Erziehung in diesem Sinne ist Erziehung zum System hin unter Einschluß der Regulierung aller Konflikte und Widersprüche, die den sozialen Systemen grundsätzlich innewohnen. Jede Einheit im System muß durch dieses System selbst konstituiert sein. Ein solches System ist selbstreferentiell, es nimmt in jeder Handlung Rückbezug auf sich selbst und besorgt auf diese Weise seine Reproduktion. Systemtheorie erklärt die soziokulturelle Wirklichkeit nicht vom Individuum her, sondern von den Systemen selbst, für die die Individuen eine ganz bedeutende Rolle spielen, aber nicht letztlicher Erklärungsgrund für soziale Erscheinungen sind. Der Erklärungsgrund liegt auf der Ebene der Selbstreferenz: Die Elemente verhaken sich durch Rückbezug auf sich selbst miteinander und ermöglichen
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dadurch Zusammenhänge und Prozesse. Der Mensch ist wohl als Einheit zu sehen, aber nicht als S y s t e m . Auch eine Mehrheit von Menschen kann kein S y s t e m bilden. Daher ist aus dieser Perspektive der symbolische Interaktionismus unzulänglich. Für ihn besteht Gesellschaft aus Individuen in Interaktion, somit letztlich aus Individuen. Der symbolische Interaktionismus ist untauglich, weil er Soziales durch Personales erklärt und nicht wiederum durch Soziales. Für die Erziehungswissenschaft ebenso wie für jeden Schulalltag ist die systemtheoretische Position von Bedeutung, daß soziale Systeme unter dem Zwang zur Autonomie stehen. Der Zwang zur Autonomie ergibt sich dadurch, daß das System seine momenthaften Elemente (also Handlungen, Ereignisse usw.) mit Anschlußfähigkeit, also mit Sinn, ausstatten muß. Der Sinnzwang ist allen Prozessen psychischer und sozialer Systeme auferlegt ( L u h m a n n 1985, S. 95). Sinn ist basal instabil. Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten. Folglich müssen Schulsysteme bei der Änderung ihrer eigenen Zustände immer selbst mitwirken. Die Verhakung der Elemente des Systems bedeutet auch: Kein Teil des Systems kann andere kontrollieren, ohne selbst der Kontrolle zu unterliegen. Unter solchen Umständen ist es hochwahrscheinlich, daß j e d e Kontrolle unter Vorausnahme der Gegenkontrolle ausgeübt wird. Lehrerinnen und Lehrer üben demnach ihre Kontrollen über die Schülerinnen und Schüler so aus, daß sie die möglichen Gegenkontrollen durch die Schüler schon während der A u s ü b u n g ihrer eigenen Kontrollen ständig im Blick haben. Die Kontrollen sind reflexiv. 3. G r u p p e n s p e z i f i s c h e E r w a r t u n g e n i m p ä d a g o g i s c h e n feld
Arbeits-
Die meisten Schulklassen sind insofern Gruppen, als sie durch eine relative Dauer und Kontinuität bestimmt sind. Abgänge erfolgen z. B. durch Mobilität und Migration oder durch Nichtversetzung, vor allem aber durch Übergänge in andere Schularten. Einen großen Einschnitt in die Kontinuität einer Schulklasse bedeutet das Schüleralter u m das 10. Lebensjahr herum, d a zu diesem Zeitpunkt die Selektionsverteilungen a m stärksten auftreten. Die Schulklasse wird nach bestimmten Verwaltungsgesichtspunkten (z. B . nach Straßenzügen und Ortsteilen) zusammengestellt. Besondere Funktionen ergeben sich durch die Schüler Vertretungen und Aufgaben im Bereich der Schulklasse, etwa die Sorge um die Lüftung in den Pausen, Tafeldienst, Schrankordnung, Austeilen und Einsammeln von bestimmten Lehrmitteln, Kartendienst. In manchen Schulklassen ist d a s Wir-Bewußtsein überdurchschnittlich ausgeprägt, etwa im Falle mehrfacher Siege der Klasse in Wettkämpfen im Bereich des S p o r t s . Ein Mittel zur Stärkung der Solidaritätsempfindungen kann z. B . auch eine erfolgreiche Klassenfahrt sein. Besondere gemeinschaftsbezogene Erlebnisse können über den Zeitpunkt der Schulentlassung hinaus wirksam sein und einen längerfristigen prägenden Einfluß ausüben. Die Wir-Gefühle innerhalb einer Schulklasse können auch dann steigen, wenn sich bestimmte Gewohnheiten einbürgern, die von den meisten Schülern positiv bewertet werden. Beispiele derartiger Traditionen können sein:
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Der Geburtstag eines Schülers wird in ansprechender Form begangen. Oder in die Vorbereitung einer Klassenfahrt können die Schüler ihre Ideen einbringen. Oder in der Grundschule wird die Vorweihnachtszeit in sympathischer Form in den Unterricht einbezogen. Oder positives Schülerverhalten wird positiv bewertet. Oder Problemsituationen werden von der Klasse gemeinsam in einer Gesprächsrunde geklärt. Für manche Schulklasse ergeben sich Möglichkeiten der Wechselbeziehung zu anderen sozialen Systemen der Umwelt, etwa bei Lehrwanderungen in Handwerksbetriebe oder im Falle einer funktionsfähigen Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule. Die Zielorientierungen innerhalb der Schulklassen sind im Regelfall mehr diffus als distinkt ausgeprägt. Die einzelnen Schüler haben im Normalfall das Ziel, die Versetzung in die nächste Klasse oder den Schulabschluß zu erreichen. Die Schulklasse enthält ein äußeres System insofern, als sie durch organisatorische Bedingungen der Umwelt entstanden ist (vgl. Homans 1968). Nach Homans gehören zum äußeren System (1) die gegenseitige Abhängigkeit zwischen der in einer Gruppe verrichteten Arbeit und den Motiven der Arbeit; (2) die gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Arbeitsteilung und dem Interaktionsschema, soweit das Uberleben der Gruppe in ihrer Umwelt betroffen ist. Die Motive zur Arbeit in der Schule werden gesetzt durch die allgemeine Gepflogenheit, auf der Grundlage der Schulbildung einen Beruf zu ergreifen. Zu den Umwelteinflüssen auf die Schule gehören die Erwartungen der Eltern und Verwandten. Die Aktivitäten in den Lerngruppen müssen immer erneut an die sich wandelnden Forderungen und Erwartungen der Umwelt angepaßt werden, z. B. hinsichtlich der Zahl der in einem Schuljahr anzufertigenden Klassenarbeiten oder sonstigen Lernergebniskontrollen. Das innere System der Gruppe ist das Ganze der Gefühle, welche die Gruppenmitglieder füreinander und gegeneinander haben. Zum Bereich der sozialen Gefühle in einer Schulklasse gehören die verborgenen Empfindungen, welche Lehrkräfte und Schüler befallen,wenn sie den Klassenraum betreten, wenn sie daran denken, daß sie etwa nicht alle Hausaufgaben schaffen konnten, wenn sie mit Angst und Sorge der nächsten Klausur entgegensehen und ihre Blicke erwartungsvoll auf die Lehrerin richten, wenn sie von dem Gedanken erfüllt sind, daß sie bald mit einem guten Zeugnis in die nächste Klasse versetzt werden. Während das äußere System der Schulklasse sich auf den organisatorischen Bezugsrahmen bezieht, meint das innere System die füreinander gehegten sozialen Gefühle in den kleinen informellen Freundschaftsgruppen. Das innere System ist eng mit dem äußeren System verknüpft. In jeder Schulklasse und Lerngruppe gibt es besondere Muß-, Soll- und Kann-Erwartungen. Die meisten Verhaltenserwartungen oder -Vorschriften sind ungeschriebene Gesetzmäßigkeiten, die das Zusammenleben in der Schule erleichtern und regulieren sollen. Diese Regeln tragen dazu bei, die Uberschaubarkeit und Berechenbarkeit der schulischen Lebenswelt zu sichern. Eine wichtige Verhaltenserwartung für alle schulischen Personen und Gruppen besteht zunächst darin, die allgemein übliche Schulordnung einzuhalten. Dazu gehört in einzelnen Schulen das Aufstellen der ganzen Schulklasse auf dem Pausenhof, sobald es zur nächsten Stunde geläutet hat. Das Laufen im Flur und auf den Treppen kann Gefahren mit sich bringen und muß daher
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in manchen Gebäuden untersagt werden. Häufig untersagen Lehrkräfte das "Petzen" und "Verklatschen", damit die Untugend der Denunziation nicht gefordert wird. Während der Lernergebnisprüfungen werden die Interaktionen unter den Schülern in der Regel verboten, da die Leistungsfähigkeit des einzelnen Schülers und nicht diejenige einer Gruppe getestet werden soll. Die Lehrkräfte und Eltern erwarten, daß die Schüler ihre Hausaufgaben regelmäßig und vollständig anfertigen. Sie erwarten, daß die Schüler nicht zu spät in der Schule erscheinen. Die Schülerinnen und Schüler erwarten, daß die Lehrerinnen und Lehrer sie gerecht behandeln und im Konfliktfall ihre Macht nicht einseitig ausspielen. Die langsamen Schüler erwarten, daß alle anderen ihrem Arbeitstempo Rechnung tragen. Der Katalog der Verhaltenserwartungen und -Vorschriften läßt sich verlängern und unterliegt dem Wandel. In den schulischen Lerngruppen finden Austauschprozesse verschiedener Art statt. Schüler, die gern interessante Neuigkeiten anbieten, brauchen willige Zuhörer, denen die charismatische Gabe des Mitteilens nicht vermittelt wurde. Die Aktivitäten des Gebens und Nehmens werden ausgetauscht. Dasselbe trifft zu, wenn tonangebende Schüler ihre Führungsqualitäten ausspielen und Gefolgschaften um sich herum versammeln, die sie als Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung benötigen. In der strukturfunktionalistischen Theorie spielen Gleichgewicht und Integration eine wichtige Rolle. Wenn ein hoher Integrationsgrad vorliegt, wird auch von Gemeinschaft gesprochen. Ferdinand Tönnies hat in seinem Buch "Gemeinschaft und Gesellschaft" für den Strukturtypus Gemeinschaft Verhältnisse gegenseitiger Bejahung angenommen. In der Gemeinschaft müssen die verbindenden und nicht die trennenden Perspektiven besonders berücksichtigt werden. Der Stärkere hat dem Schwächeren aus Neigung zu helfen und ihn zu beschützen. In der Gemeinschaft muß das Verständnis als die besondere soziale Kraft und Sympathie eine besondere Rolle spielen. Der Ansatz liefert einen Maßstab, mit dem in einem pädagogischen System die Intensität der Gemeinschaftsbildung gemessen werden kann. 4. Entwürfe zur Theorie der Sozialisation Aus der Perspektive der strukturell-funktionalen Theorie ist der wesentliche Aspekt der sozialen Struktur ein System von Erwartungsmustern, die das wünschenswerte Verhalten der einzelnen Rollenträger prägen. Soziallsation in diesem Sinne besagt, daß der einzelne Mensch die Verhaltensmaßstäbe des gesamten Systems in mehr oder weniger starkem Maße in sich aufnimmt und verinnerlicht (internalisiert). Die Verhaltensstrukturen der in einem größeren kulturellen System aufgewachsenen Menschen zeigen Merkmale der Gleichförmigkeit auf. Das Rollenverhalten ist daher nicht direkt aus den Neigungen der menschlichen Natur zu erklären, da ein solcher Erklärungsansatz die Bedeutung der Motivierung des Handelns von übergreifenden Erwartungsmustern her unterschätzen würde. Talcott Parsons hat in seinem Buch "The Social System" (1964) die Sozialisation des Kindes und die Verinnerlichung von sozialen Wertorientierungen beschrieben. Der Erwerb der erforderlichen Orientierungen für eine genügende Funktionstüchtigkeit in einer Rolle ist ein Lernprozeß. Dieser
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Prozeß wird als SozialisationsprozeB bezeichnet (a. a. O., S. 205). Die Motivationsprozesse, durch welche die Sozialisation zustande kommt, gesehen in ihrer funktionalen Bedeutung für das Interaktionssystem, sind die Mechanismen der Sozialisation. Sozialisation ist für Parsons ein lebenslanger Prozeß, dem allerdings in der Kindheit eine besondere Bedeutung zukommt. Die Kombination der Motivierungsprozesse ist als ein Bündel von Prozessen des Handelns in Rollen zu verstehen. Die Sozialisationsmechanismen (Identifikation, Imitation, Lernen usw.) sind nur tätig, sofern der Lernprozeß ein integraler Bestandteil der Interaktion in komplementären Rollen ist. So müssen nicht nur die Sozialisationsagenten (Beispiel: Eltern, Lehrkräfte), sondern auch die zu sozialisierende Person als in Rollen handelnd begriffen werden (a. a. O., S. 209). Von Sozialisation kann nur gesprochen werden, wenn die Gegenseitigkeit der Interaktion zur festen Einrichtung geworden ist. Auf dem Hintergrund der Erkenntnismechanismen der Diskriminierung (Unterscheidung) und Generalisierung (Verallgemeinerung) werden von Parsons fünf behauptend-wertende (cathectic-evaluative) Lernmechanismen unterschieden: Verstärkung-Löschung; Inhibition im Sinne der Bildseite des Lernens selbst, ferner als Durchbruch durch in der Motivation liegende Trägheit; Substitution im Sinne von Übertragung der Behauptung von einem Gegenstand auf einen anderen; Imitation als Dauerbezug auf ein Modell und schießlich Identifikation als Internalisierung der Werte von einem Modell. Eine interaktionistische Komponente in der Systemtheorie von Parsons besagt, daß der Interaktionsprozeß eine Ergänzung der Rollenstruktur ist. Der andere hat eine Kontrolle über die Handlungssituation des Ich. Entsprechend den Lernmechanismen Verstärkung-Löschung unterscheidet Parsons die Sozialisationsmechanismen Belohnung-Bestrafung. Belohnungen und Bestrafungen bewirken Verhinderungen (Inhibitionen in dem eben beschriebenen Sinne) und Ersetzungen (Substitutionen). Für Parsons sind körperliche Kontakte zwischen Mutter und Kind die bedeutsamste Grundlegung in der Festigung der Rollenerwartung im Frühstadium der Sozialisation. In der von Parsons skizzierten strukturell-funktionalen Theorie sind die Prozesse der Verinnerlichung von Normensystemen der Umwelt und Identifikationsprozesse von gravierender Bedeutung für den vielschichtigen Vorgang der Vergesellschaftung. Das wird auch in dem von Parsons und Bales herausgegebenen Buch "Toward a General Theory of Action" (1962, S. 17) bestätigt: Es besteht eine weitgehende Übereinstimmung darüber, daß die Entwicklung der Identifikation mit den Vorgaben Erwachsener ein wesentlicher Mechanismus des Sozialisationsprozesses ist. Die Sozialisationstheorie von Parsons muß aus dem Zusammenhang seiner Theorie der Struktur sozialer Systeme gesehen werden. Soziale Systeme werden gebildet von Zuständen und Prozessen sozialer Interaktion zwischen handelnden Einheiten (Parsons 1972, S. 15). Die Interaktionseigenschaften lassen sich nicht von Eigenschaften der handelnden Einheiten ableiten. Soziale Systeme sind keine Begleiterscheinungen individuellen Handelns. Vielmehr bilden soziale Systeme im Rekurs auf Dürkheim eine Reedität eigener Art (sui generis). Sozialen Systemen wird hauptsächlich die Integrationsfunktion zugeschrieben. Die Hauptaufgabe des kulturellen Systems sind Normerhaltung und schöpferischer Normenwandel. Der Persönlichkeit des Individuums,dem personalen System, fallt als Hauptaufgabe die Zielverwirklichung zu. Der Verhaltensorganismus, das
71 organische System, ist das Subsystem der Anpassung. Soziale Systeme sind offen und durch Informationseingaben und -ausgaben in ständigem Austausch mit der Umwelt stehend konzipiert. Wenn die Hauptaufgabe des sozialen Systems die Integration, die Sicherung der Unversehrtheit und Einheitlichkeit, ist, dann hat die Sozialisation als Prozeß der Vermittlung von allgemeinen Verhaltensmustern und Erwartungssystemen einen zentralen Stellenwert. Es ist zu fragen, in welchem Maße dieser Denkansatz zu sehr anpassungsmechanistisch oder sogar mechanisch und auch Widerspruchs- und konfliktfremd entworfen worden ist. Wenn die Beschreibung auch auf die meisten durchschnittlichen Mitglieder eines sozialen Systems zutreffen mag und insofern wirklichkeitsgerecht ist, werden doch kreative Widersprüche und innovative Interpretationen vernachlässigt. Die Weiterfuhrung des Ansatzes von Parsons durch Luhmann bekräftigt die Unterscheidung von Sozialisation und Erziehung: Sozialisation kommt ohne besondere Aufmerksamkeitsanforderungen durch Mitleben in einem sozialen Zusammenhang zustande (Luhmann 1985, S. 280). Luhmann präzisiert: "Erziehung dagegen benutzt die Reduktion auf Handlung, um etwas zu erreichen, was die Koordination einer Vielzahl von Bemühungen voraussetzt, also nicht den Zufallen sozialisierender Ereignisse überlassen werden kann. Nur als Erziehung kann Sozialisation in ein Input/Output- Schema gebracht werden... Ein Hinausgehen über bloße Sozialisation und über bloße ad hocErziehung scheint in allen komplexeren Gesellschaften unausweichlich zu sein" (ebenda, S. 281). Luhmann behandelt die Sozialisation im Zusammenhang mit der Theorie der Interpénétration, d. h. dem Beitrag aus der Umwelt zum Systemaufbau. Der Begriff besagt: System und Umwelt bringen wechselseitig Eigenkomplexität ein. Dadurch wird die Individualisierung erhöht. Interpénétration findet statt in Form von Kommunikation. Voraussetzung sind die folgenden Ausgangspunkte: 1. Probleme der Kausalität werden als sekundär angesehen gegenüber Problemen der Selbstreferenz. 2. Alle Informationsverarbeitung gewinnt ihren take off nicht an Indentitäten, z. B. Gründen, sondern an Differenzen. 3. Unterschieden werden muß zwischen Kommunikation (d. h. konstituierende und reproduzierende Autopoiesis) und Handlung (d. h. konstituierendes Element sozialer Systeme). 4. Der Mensch wird als Umwelt sozialer Systeme angesehen. 5. Das Verhältnis von Mensch und sozialen Systemen wird unter dem Aspekt der Interpénétration begriffen. (Luhmann 1985, S. 325) Sozialisation ist für Luhmann der Vorgang, der das psychische System und das dadurch kontrollierte Körperverhalten des Menschen durch Interpénétration formt (ebenda, S. 326). Sozialisation im Verständnis der Luhmannschen Systemtheorie ist immer Selbstsozialisation. Sie erfolgt nicht durch Übertragung eines Sinnmusters von einem System auf andere. Ihr Grundvorgang ist vielmehr die selbstreferentielle Reproduktion des Systems. Sozialisation ähnelt der Evolution. Die Basis aller Sozialisationsprozesse liegt ebenso wie die Basis aller Evolution in der Selbstreferenz des Systems, das sich reproduzieren und abweichende Reproduktion überdauern kann. Ein
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vieldiskutiertes Problem wird mit der Feststellung angesprochen: "Daß dabei die Umwelt eine ausschlaggebende Rolle spielt, versteht sich von selbst. Es hat im übrigen nicht viel Sinn zu fragen, ob das System oder die Umwelt wichtiger ist in der Bestimmung des Resultates der Sozialisation; denn es ist gerade diese Differenz, die Sozialisation überhaupt erst ermöglicht" (Luhmann 1985, S. 327). Sozialisation ist an Differenzschemata gebunden. Die Differenz erst ermöglicht Sozialisation, z. B. die Differenz zwischen Verstehen und Nichtverstehen. Der Sozialisationsvorgang ist differenzgesteuert. Er läuft also nicht determiniert ab. Differenzbildungen sind Reduktionen, die sich in Interpenetrationsverhältnissen bewähren und deshalb sozialisationsrelevant sind. Alle Konkretisierungen pädagogischen Handelns sind aufgeladen mit Differenzen (Beispiel: Erfolg/Mißerfolg). Können wird an seinen Grenzen, am Nichtkönnen und als Nichtkönnen erfahrbar. Der Vergleich zwischen Parsons und Luhmann zeigt, daß Sozialisation bei Parsons auf die Integration des Individuums in die sozialen Systeme mit ihren verbindlichen Erwartungsmustern gerichtet ist, während Sozialisation bei Luhmann ein Aspekt der Selbstreproduktionen der sozialen Systeme ist, also keine Person-Orientierung, sondern eine Systemorientierung aufweist: Für diesen Typus von Systemtheorie ist der Mensch nicht mehr das Maß der Gesellschaft (Luhmann 1985, S. 289), wie das seit Protagoras propagiert wird.
Kritische Interpretation Für die struktur- und systemtheoretischen Ansätze ist zu bemerken, daß sie in vielen Hinsichten realitätsgerechte Maßstäbe für eine Theorie der Sozialisation setzen. Soziale Systeme sozialisieren ihre Elemente, soweit es ihnen nur möglich ist und soweit sie nicht durch abweichende Mentalitätsformen daran gehindert werden, auf die Strukturen eben dieser Systeme hin. Sie sind formale Soziologie insofern, als sie auf inhaltliche Bestimmungen weitgehend verzichten, damit die Anwendbarkeit auf die unterschiedlichsten Systeme gesichert wird, z. B. auf feudalistische ebenso wie auf Systeme der sozialen Marktwirtschaft. Die Maßstäbe für die Sozialisation sind systemspezifisch, ohne daß die Qualität der höchsten Werte der Systeme beschrieben und bewertet wird, wie das z. B. in den verschiedenen Versionen der kritischen Theorie gemacht wird. Trotz der angedeuteten Realitätsbezogenheit ist der Abstraktionsgrad so hoch angesetzt, daß stark verallgemeinernde Strukturdifferenzierungen wie z. B. die von MM Weber unterschiedenen Herrschaftsstrukturen (legal- bürokratische, traditionale und charismatische Herrschaft) weitgehend durch die Maschen des Theorienetzes fallen. Wertvoll an den beschriebenen Theorieansätzen ist der Umstand, daß Individuen, Gruppen und Organisationen als in soziale Systeme eingebunden und zum Teil auch "verstrickt" gesehen werden. Durch die konsequente Beschreibung solcher sozialen Bindungen, Interaktionen und Zwänge wird die Möglichkeit der Einsicht in die Ausnutzung von Nischen in den Systemen, Distanzierungs- und Interpretationsmöglichkeiten freigesetzt. Die Luhmannsche Systemtheorie bedeutet einen Fortschritt in der Theoriebildung insofern, als
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Widersprüche und Konflikte als zu den normalen autopoietischen Prozessen gehörig gesehen werden. Der strukturfunktionalistische Ansatz von Parsons und anderen klammert zu sehr Widersprüche, Nichtidentitäten, abweichendes Verhalten und Konfliktualität aus. Die Bedeutung der sozialen Systeme für die Persönlichkeitsentwicklung ist vom Beginn der Theoriebildung an hervorgehoben worden. Insofern haben viele Theorieentwürfe eine "systemische" Komponente; manche enthalten jedoch handlungstheoretische Momente: Georg Simmel: Ein wichtiger Ausgangspunkt der Sozialisationstheorie ist Georg Simmeis Kapitel über die "Kreuzung sozialer Kreise" in seiner "Soziologie" (Simmel 1958, S. 305 ff.): "Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, daß jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt" (ebenda, S. 312). "Sozialisierung" ist für Simmel ein reziproker Prozeß: "... aus Individuen entsteht die Gesellschaft, aus Gesellschaften entsteht das Individuum" (ebenda, S. 325 f.). Sozialisation ist der komplexe Vorgang der Vergesellschaftung, bei dem die gesellschaftlichen Systeme in einem Prägungsprozeß auf den einzelnen einwirken, bei dem aber auch das Individuum auf die sozialen Systeme einwirkt. Für Simmel hat jeder einzelne sozusagen "ein um so festeres Sein..., je mehr Eindrucksqualitäten sich zu seinem Zustandekommen zusammengefunden haben..." (ebenda, S. 313). Simmel gibt die Einheit der Person nicht aus der Hand: "... je mannigfaltigere Gruppeninteressen sich in uns treffen und zum Austrag kommen wollen, um so entschiedener wird das Ich sich seiner Einheit bewußt" (ebenda, S. 313). Emile Dürkheim: Durkheim sieht Sozialisation in Verbindung mit dem Reproduktionsprozeß der Gesellschaft, deren Existenz auf "Überleben" eingerichtet ist (Durkheim 1972, S. 83). Die Erziehung ist eine "systematische Sozialisation", durch welche die in der Gesellschaft bestehende minimale Homogenität fortgepflanzt wird. René König: R. König definiert Sozialisation auch als zweite Geburt als sozial-kulturelle Person und als Aufbau der sozial-kulturellen Person des Menschen. Diese zweite Geburt wird durch die Familie geleistet (R. König 1978, S. 71). Gerhard Wurzbacher: Wurzbacher unterscheidet in Fortführung des amerikanischen Ansatzes drei Begriffe. Sozialisation ist die soziale Prägung. Gemeint ist der "Vorgang der Führung, Betreuung und Prägung des Menschen durch die Verhaltenserwartungen und Verhaltenskontrollen seiner Beziehungspartner - auch in ihrer durch ihn zum Leitbild oder 'Uber-Ich' verinnerlichten Form..." (Wurzbacher 1963, S. 12). Enkulturation ist die kulturelle Bildung. Gemeint ist "eine gruppen- wie personspezifische Aneignung und Verinnerlichung von Erfahrungen, 'Gütern', Maßstäben und Symbolen der Kultur zur Erhaltung, Entfaltung und Sinndeutung der eigenen wie der Gruppenexistenz" (ebenda, S. 14). Personalisation ist die individuelle Gestaltung und Entfaltung. Gemeint ist die "Selbstformung und -Steuerung der eigenen Triebstrukturen wie als sinngebende, koordinierende und verantwortliche gestal-
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tende Rückwirkung des Individuums auf die Faktoren Gesellschaft und Kultur" (ebenda). Klaus Hurrelmann: Hurrelmann formuliert: "Im heute allgemein vorherrschenden Verständnis wird mit Sozialisation der Prozeß der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den sozialen und den dinglich-materiellen Lebensbedingungen verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren" (Hurrelmann 1986, S. 14). Hurrelmann entwirft ein diskutables Modell der Sozialisation, das aus vier Komponenten besteht: 1. Das mechanische Modell: Die Umwelt wird als gegeben und als Ursache für das Verhalten der Person angenommen. Die Entwicklung der Person wird als Resultante und Ergebnis der Summe der Reaktionen auf die Umweltbedingungen oder auch als Anpassung an die von der Umwelt definierten Normen und Werte verstanden. 2. Das organismische Modell: Die Umwelt wird als gegeben angenommen. Jedoch sind die Impulse für die menschliche Entwicklung dem Organismus intern. Die Entwicklung ist ein naturwüchsiger Prozeß, der bestimmten sequentiell angeordneten Stufen folgt. Die Entwicklung ist auf einen dem Organismus immanenten Ziel- oder Endpunkt hin gerichtet. 3. Das systemische Modell: Soziales und psychisches System durchdringen sich gegenseitig und pendeln sich im Verlauf der Entwicklung jeweils auf bestimmte Gleichgewichtszustände ein. 4. Das interaktive Modell: Entwicklung erfolgt in einem produktiven Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozeß mit der Umwelt. Das Subjekt kann die eigene Situation reflektieren und in die eigenen Handlungsabläufe einbeziehen. In grober Annäherung lassen sich die lerntheoretischen Positionen am ehesten dem mechanischen Modell, die psychoanalytischen und entwicklungstheoretischen Positionen dem organismischen Modell, ökologische und systemtheoretische dem systemischen Modell und Handlungs- und Gesellschaftstheorien dem interaktiven Modell zuordnen (Hurrelmann 1986, S. 22).
Kritische Interpretation Diese Theoriemodelle zur Sozialisation sind vorwiegend insofern handlungstheoretisch geprägt, als die soziokulturelle Entwicklung des Menschen in Auseinandersetzung mit den Systemen seiner Umwelt im Mittelpunkt der Definitionsarbeit steht. Der Mensch ist hier das Substantielle, die soziokulturelle Umwelt das Akzidentelle, also dasjenige, was zum Menschen als dem eigentlich durchhaltefahigen Bestimmungsgrund sozusagen als Beigabe dazukommt. Eine solche Mentalität entspricht der Tradition und hat durch das Gewicht der Zeit ihren Stellenwert. Wenn Soziologie die Wissenschaft von den sozialen Systemen ist, so hat sie sich von der Definition her in erster Linie mit den Struk-
75 turen, Prozessen und Funktionen der sozialen Systeme zu befassen. Diese Forderung erwächst nicht nur aus den Bedürfnissen und Gesetzmäßigkeiten der akademischen Arbeitsteilung. Sie wird rational am stärksten durch den Umstand begründet, daß die Elemente primär durch die sozialen Systeme konstituiert werden, wenn die Prämissen der struktur- und systemorientierten Ansätze als gültig angesehen werden. Die banale Folgerung wäre: Wenn man qualifizierte, funktionale Elemente haben will, dann muß mein entsprechende Systeme haben oder herstellen. Zeitlich und rangmäßig sind die sozialen Systeme den Elementen sozusagen vorgeordnet. Die theoretische Aufarbeitung der sozialen Systeme bedarf weiterer erheblicher Anstrengungen, um die prozessualen Mechanismen der Sozialisation mit größerer Treffsicherheit und Präzision zu erfassen. Notwendig ist ferner eine stärkere Differenzierung und Spezifizierung der in den sozialen Systemen und zwischen ihnen ablaufenden Prozesse unter ständiger Bezugnahme zur Umwelt dieser Systeme. Die Erziehung zur Menschlichkeit bedarf einer entschiedenen Ergänzung durch die auch mit wissenschaftlichen Mitteln vorgenommene Verbesserung der sozialen Systeme, durch die Menschen und Gruppen geprägt werden.
5. Anwendung systemtheoretischer Positionen auf die pädagogische Arbeit Systemtheoretisch orientierte Interpretation ist auf die ganze Breite pädagogischer Arbeit anwendbar. Pädagogische Theorieentwürfe entstehen nicht im sauerstoffentleerten Bereich der Atmosphäre, sondern in enger Berührung mit den autopoietischen Prozessen der unterschiedlichen sozialen Systeme. Pädagogische Zielsetzungen sind immer mit gewissen Freiheitsgraden ausgestattet. Andererseits enthalten sie zentrale Merkmale der sozialen Systeme. Die Demokratie bringt ein demokratisches Erziehungswesen hervor, der Feudalismus ein feudalistisches usw. Die pädagogische Theorie und Praxis sind nicht bruchlos mit der Sozialstruktur verklammert. Sie sind nicht dessen Spiegelbild im materialistischen Sinne, da sie grundsätzlich durch die Spontaneität der theoretischen Impulse und durch Reflexivität mitgeprägt sind. Durch Prozesse der Interpénétration springen "pädagogische Funken" zu anderen Systemen über und umgekehrt. Erziehungswissenschaft und Erziehungspraxis müssen den Leitgedanken der neueren Systemtheorie zufolge durch und durch reflexiv sein: Sie müssen selbstkontrollierend auf Verbesserung ihrer Wertpositionen bedacht sein; sie müssen am Aufbau der Realität aktiv beteiligt sein; sie müssen berücksichtigen, daß die Wirklichkeit sich in Überraschungs- und Enttäuschungsprozessen ohne prästabilierende Leitlinien von selbst weiterkonstruiert und daß dabei Widersprüche und Konflikte die Evolution in eine nicht erwartete Richtung drängen. Ferner müssen sie sich aktiv an der Erzeugung von Sinn beteiligen und die basale Bedeutung der Kommunikation erkennen, z. B. die Tatsache, daß Ausschluß von Gruppenkommunikation Diskreditierung und Stigmatisierung im Gefolge haben kann.
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An die Stelle einer anthropozentrischen Perspektive tritt die System-Umwelt—Differenz; in den Vordergrund rückt die Notwendigkeit, die sozialen Systeme mit den pädagogischen Mitteln so zu gestalten, daß die Elemente dieser Systeme als durch die Systemstrukturen konstituiert keinen blinden Entwicklungsabläufen unterliegen, sondern aktiv an den Selbstregulierungsprozessen der Systeme mitwirken. Die klassische Alternative Anlage-Umwelt beherrscht nicht länger pädagogisches Nachdenken. Verhaltensnormalitäten und Anomalien werden auf die System-Umwelt-Differenz als solche zurückgeführt und dem Sozialisationsprozeß zugeschrieben. An die Stelle des Identitätsdenkens tritt das Differenzdenken: Denken ist Differenzieren. Auch Pädagogik kann nicht verzichten auf die der Systemtheorie immanente funktionalistische Komponente: Die Schule hat bestimmte Funktionen, z. B. die Reproduktionsfunktion sozialer Systeme. Da im sozialen System alles miteinander "verhakt" ist, ergibt sich die Folgerung, daß auch die Erziehungssysteme mit den übrigen Systemen "verhakt" sind und mit ihnen in Bedingungsverhältnissen stehen. Der mit der selbstreferentiellen Geschlossenheit gesetzte Zwang zur Autonomie sozialer Systeme zielt auf Bemühungen um die Identitätsfindung schulischer und sonstiger pädagogischer Systeme. Die Diskussion über die "Offenheit" pädagogischer Aktivitäten kann nicht die sichtbaren und unsichtbaren Grenzziehungen verwischen, die sozialen Systemen von Haus aus eigen sind. Diese Grenzziehungen sind Basis für Öffnung nach außen, für Prozesse der Interpénétration. Pädagogische Theorie kann sich nur bedingt am Interaktionismus als Leitfaden orientieren, da den Interaktionssystemen immer gesellschaftliche Vorgaben zugrundegelegt sind und den Interaktionsspielraum einengen und entscheidend mitprägen. Pädagogik darf nicht, wenn sie der Systemtheorie Rechnung trägt, Erziehungshandeln restlos auf Psychisches reduzieren. Psychische Systeme (personale Systeme) sind daher nicht letzthinniger Erklärungsgrund für Erziehung. Die psychischen Systeme sind Teile der Umwelt der sozialen Systeme. Ausgangspunkt der Systemtheorie ist die SystemUmwelt-Differenz. Der alleinige Rekurs auf die psychischen Systeme würde diese Differenz vernachlässigen und daher zu Fehlinterpretationen kommen. Kausalität als Kategorie für Interpretationen etwa im Deutschunterricht ist mit den Prozessen der Selbstreferenz der sozialen Systeme in Verbindung zu bringen: Prozesse der System-Umwelt-Differenz und der innersystemischen Handlungsabläufe sind in die Kausalität einzubringen. So genügt es z. B. nicht, dem Vater die Schuld dafür zu geben, wenn der Sohn in der Schule keine Erfolge vorzeigen kann; denn der Vater ist mit der Mutter verhakt, so daß die ganze Familie mit ihrem Umfeld in den Kausalitätsrahmen einbezogen werden muß. Es zeigt sich, daß bei den Vorgängen der kausalen Zuschreibung nicht auf einen einzigen Punkt verwiesen werden kann, da dieser Punkt mit den anderen Punkten des Systems und der Umwelt des Systems verbunden ist. Die Anwendung auf den Geschichtsunterricht ergibt, daß nicht einige Männer die Geschichte gemacht haben. Vielmehr stehen die politischen Führungskräfte in einem komplexen Verbundsystem zu anderen Menschen und Sozialsystemen, wobei die Führer auch sozusagen von unten her in eine bestimmte Form des politischen Handelns gerichtet werden.
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6. Die systemorientierte Familienbehandlung als Beispiel für angewandte Systemtheorie Ein wichtiges Feld für die sozialpädagogische Arbeit ist die Arbeit an der Familie in Form von Familienanalyse, Familienbehandlung und Familientherapie. Für die Beratung und Behandlung von Familien z. B. im Falle gestörter Interaktionen sind Kenntnisse über die systemische Familientherapie nützlich. Die Familie wird als System aktiver Selbstregulierung gesehen. Sie wird verstanden als ein offenes System, das mit anderen Systemen interagiert. Sie befindet sich in ständiger Evolution (Transformation). Die Familienmitglieder werden nicht als individuelle Substanzen (wie in dem Modell von Leibniz) betrachtet, sondern im Zusammenhang mit Prozessen der Selbstreferenz im Sinne der Selbstregulierung des sozialen Systems Familie. Die Familie muß ein Gleichgewicht herstellen zwischen ihrer Tendenz zur Homöostase und Evolution. Gestörtes Verhalten ist nach systemischer Auffassung ein Indiz dafür, daß das Streben nach Autonomie und Identität aufgegeben worden ist zugunsten des Fortbestehens dysfunktionaler Interaktionen innerhalb der Familie. Eine Grundthese besagt: Wenn ein Familiensystem nicht die Fähigkeit besitzt, Wandlungen im System zu bewirken, liegen keine Voraussetzungen zur Besserung auffalligen Verhaltens vor. Die stereotypen Handlungsformen der Mitglieder der Familie bauen ein soziales Gleichgewicht auf, das rund um eine Konfliktsituation errichtet wurde. Die zentrale Aufgabe des Therapeuten besteht darin, das dysfunktionale Gleichgewicht des Systems ins Wanken zu bringen. Die systemtheoretische Komponente dieses Behandlungsansatzes besteht darin, daß individuelles Verhalten innerhalb des Systems einen selbstreferentiellen Bezug hat zum Gesamtsystem dieser Familie. Das individuelle Verhalten ist als Reaktion auf das betreffende Familiensystem zu deuten. Es ist zu verstehen von den gegenseitigen Verhaltenskontrollen innerhalb der Familie her. Diese gegenseitigen Verhaltensbeobachtungen und -kontrollen lassen Veränderungen nicht zu. Von grundlegender Bedeutung sind die Grenzziehungen zwischen den einzelnen Subsystemen der Familie (z. B. Mutter-Vater, Sohn-Sohn, Vater-Sohn usw.). Dysfunktionale Koalitionen, etwa zwischen Sohn und Tante, können die Transformation hemmen. Wenn die Grenzen um das Subsystem Mutter- Vater herum verwischt werden, indem der Vater mit der Tochter koaliert und so seine Frau in den Hintergrund drängt, sind keine Voraussetzungen zur Besserung der Konfliktsituation gegeben. Solche Familien werden als pathologisch definiert. Der identifizierte Patient, das auffällige Kind, bedarf nicht so sehr der Behandlung, sondern die ganze Familie. 7. Anwendung des systemorientierten Ansatzes zur Behandlung und Therapie Jugendlicher mit normabweichendem Verhalten Unter den neueren Arbeiten zum genannten Thema verdient die systemisch orientierte Studie von Jochen Schweitzer über die "Therapie dissozialer Jugendlicher" (1987) besondere Beachtung. Treffend bemerkt Schweitzer: Der systemische Ansatz versucht, scheinbare Eigenschaften von Menschen als Funktion von Beziehungen zu verstehen. Kein Teil des Systems ist allein "Ursache" für das Verhalten der anderen. Jeder wirkt zugleich auf die anderen, und diese wirken auf ihn zurück. Eine funktionale Familie ist bedeutsam
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für die gelingende Sozialisation des Kindes und Jugendlichen. Jedoch kann mein nicht die Familie allein als relevanten Kontext für psychopathologische Symptome ansehen. Man kann davon ausgehen, daß mehrere soziale Systeme bei einer Symptomentwicklung zusammenwirken. Dissozialität wird als Interaktionszustand, nicht als Eigenschaft eines Jugendlichen angesehen. Im fainilialen Bereich ist die Eltern-Symptomträger-Triade von besonderer Bedeutung: Der dissoziale Jugendliche scheint oft im Spannungsfeld zwischen zwei einander widersprechenden Verhaltensaufforderungen durch zwei konfligierende Erwachsene zu stehen, aus denen er nur durch Weglaufen oder aggressiven Ausbruch entkommen kann. Schweitzer nennt eine Reihe von therapeutischen Interventionsmöglichkeiten. Zunächst wird die Familientherapie im Sinne des strukturellen Ansatzes erwähnt (Selvini, Satir, Minuchin u. a.). Eine weitere Möglichkeit ist die "Einführung von Struktur" in den Familienalltag. So wird z. B. eine alleinerziehende Mutter mit depressivem Verhalten vom Therapeuten angeleitet, wie zwei überforderte ältere und mehrere verwahrloste jüngere Kinder an der Planung des Abendessens beteiligt werden. Dieses Vorgehen leitet zur faniilientherapeutisch supervidierten Familienhilfe über. Ferner kann sich der Therapeut im Falle eines episodisch gewalttätigen Jugendlichen mit dessen Eltern verbünden, um klare und berechenbare Reaktionen auf die nächste Gewaltsituation zu planen und durchzuführen. Es gibt weiterhin ambulante Interventionen über einen kurzen Zeitraum hinweg bei hoher Sitzungsfrequenz. Dabei können Eltern und Jugendliche einen Vertrag miteinander schließen. Jeder formuliert seine Erwartungen und Wünsche an das Verhalten der anderen. Es wird ausgehandelt, wie weit jeder dem anderen entgegenzukommen bereit ist. Im Kommunikationstraining leitet der Therapeut zu angemessenen Kommunikationsmustern an. Weitere Interventionsmöglichkeiten beziehen sich auf die psychoanalytische Familientherapie und neuere strukturelle Ansätze. 8. Normabweichendes Verhalten aus strukturfunktionaler und systemtheoretischer Sicht Die Ausprägung der Normen- und Rechtssysteme in einer gegebenen Gesellschaft erfolgt von der Gegenseitigkeit der Erwartungen her, die sich zu Mustern verdichten und kristallisieren. Die Nichterfüllung dieser Erwartungen wird zum Problem. Es bilden sich Reaktionsformen heraus, die nicht nur durch rationale Erwägungen, sondern auch durch Gefühle - Rachegelüste, Wutausbrüche, Ressentiments usw. - bestimmt sind. Recht ist die Struktur eines sozialen Systems. Sie beruht auf der Verallgemeinerung normativer Verhaltenserwartungen. Aus der klassischen strukturfunktionalen Sicht wird Verbrechen definiert als Verletzung kollektiver Empfindungen, also allgemeiner Erwartungen, die mehr oder weniger institutionalisiert sind. Für Dürkheim gibt es keine Gesellschaft, in der die Individuen nicht mehr oder weniger vom kollektiven Typus abweichen. Abweichendes Verhalten ist somit normal. Mit Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der individuellen Handlungsweisen befinden sich unter diesen Abweichungen auch solche, die einen verbrecherischen Charakter haben. Folglich ist das Verbrechen mit den Strukturbedingungen einer gegebenen Gesellschaft verknüpft. Das ist der strukturelle Aspekt der Theorie. Die Bedingungen, an die das Ver-
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brechen geknüpft ist, sind als strukturelle Grundlagen ihrerseits für eine normale Entwicklung des Rechts und der Moral notwendig. Die soziale Reaktion, die die Strafe darstellt, ist auf die Intensität der Kollektivgefühle zurückzuführen, die das Verbrechen verletzt. Die Strafe hat die nützliche Funktion, diese Gefühle auf dem nämlichen Intensitätsgrad zu erhalten; denn jene Gefühle würden bald erschlaffen, wenn die Regelverletzungen nicht gesühnt würden. Das ist der funktionale Aspekt. Die wesentliche Funktion der Bestrafung ist die Demonstration der Unverletzlichkeit der durch den Straftäter gebrochenen Regel. Die sozialen Prozesse, die entwickelt werden, um normabweichendes Verhalten zu unterbinden (Vergeltung, Abschreckung, Sühne, Buße, Bestrafung) sind entweder nur bedingt brauchbar und funktional oder gänzlich widersinnig, da sie z. T. auch (etwa als Rückfallkriminalität) das abweichende Verhalten begünstigen. Die genannten Reaktionen dienen offensichtlich mehr der Stabilisierung der sozialen Systeme als der moralischen Besserung der Delinquenten. Die strukturell-funktionale Theorie legt die Problematik der Bestrafung offen. Die Verwendbarkeit auf dem pädagogischen Arbeitsfeld ist offensichtlich. Bestrafungen können auch Innovationen bewirken, wie das Beispiel des Sokrates zeigt, der für seine Art der rationellen Argumentation (männliche Hebammenkunst) mit dem Tode bestraft wurde, weil er die allgemeinen Empfindungen verletzte. Die Unterscheidung von konformem und normabweichendem Verhalten ist eine systeminterne Differenzierung, also auch eine Differenzierung, die von Gruppe zu Gruppe variiert. Die Anomietheorie als Erklärungsansatz normabweichenden Verhaltens Eine weitere Spielart des strukturorientierten Funktionalismus ist die Anomietheorie. Anomie in dem von Dürkheim gemeinten Sinne bedeutet Normlosigkeit (vgl. R. Merton 1957, S. 135). Anomie bedeutet einen gesellschaftlichen Zustand ohne Gesetze und Regeln. R. Merton versteht unter Anomie den Zusammenbruch der kulturellen Struktur, der dort eintritt, wo ein krasser Unterschied besteht zwischen kulturellen Normen und Zielen einerseits (Beispiel: wohlhabend sein) und den Mitteln, diese Ziele zu erreichen (Beispiel: ein zu geringes Einkommen zu haben, um den Wohlstand zu erreichen). Dieser Erklärungsansatz (vgl. Hrsg. Sack/König 1968, S. 283 ff.) bezieht sich auf eine ungleichgewichtige Beziehung zwischen kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln. Die Zwecke und Mittel stehen im Widerspruch. Aus diesem Widerspruch heraus entsteht normabweichendes Verhalten, z. B. Kriminalität. Merton beschäftigt sich in dieser grundlegenden Studie über "Social Theory and Social Structure" mit der Frage, in welcher Formsich die einzelnen Menschen den kulturellen und sozialen Ansprüchen anpassen. In einer stabilen Gesellschaft verhalten sich die meisten Menschen konform, d. h. sie stimmen mit den vorgegebenen Zielen und Mitteln überein. Eine andere Gruppe von Menschen bewältigt die Anpassung an die Gesellschaft durch Innovation (Neuerung). Ein kulturell gesetztes Ziel, das allgemeine Anerkennung findet, wird hier mit allgemein nicht erlaubten Mitteln erreicht, z. B. mit dem Glücksspiel, das zwar nicht verboten ist, aber doch vielfach nicht die hinreichende öffentliche Anerkennung findet. Eine dritte Anpassungsweise ist der
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Ritualismus, d. h. das Festhalten an eingefahrenen Gewohnheiten und routinemäßigen Verhaltensweisen. Hier liegt keine Delinquenz vor, höchstens ein Abweichen vom allgemeinen Muster des Aufstiegsstrebens. Eine vierte Form der Anpassung ist der Rückzug im Sinne von Desinteresse und Apathie. Hier handelt es sich keineswegs in der Regel um Delinquenten, sondern z. B. um Außenseiter als Psychopathen, Autisten, Parias, Ausgestoßene, Landstreicher, Clochards, chronische Trinker und Süchtige. Der fünfte Anpassungstyp ist die Rebellion, die eine Entfremdung von den herrschenden Zielen und Normen voraussetzt. Organisierte umstürzlerische Bewegungen zielen offensichtlich auf die Einführung einer neuen Sozialstruktur ab. Diese Verhaltenstypologie macht auf die Vielfalt der Aktionsweisen und Reaktionsweisen in einer gegebenen Gesellschaft aufmerksam. Mertons Schema ist instruktiv und hilfreich bei dem Bemühen um das Ordnen der sozialen Handlungen und Systeme, doch der schematische und formalistische Charakter der Typologie leistet wenig Aufklärungsarbeit über die Analyse von normabweichenden Karrieren. 9. Soziales System und psychisches System In historischer Sicht ist die Psychologie im Vergleich zur Soziologie die ältere und in vielen Hinsichten auch erfolgreichere Zulieferin zur Pädagogik. Die Soziologie als pädagogische Grundwissenschaft befindet sich in einem engen Verbundsystem mit der Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Die Verklammerung von Soziologie und Psychologie wird z. B. sichtbar durch die Aufnahme psychologischer Erkenntnisse in die soziologische Theorie. So haben psychoanalytische Mechanismen wie Projektion, Abwehr, Regression, Rationalisierung, Identifikation, Aggression Eingang gefunden in soziologische Theoriekonstruktionen. Ein einflußreicher Theoretiker der Soziologie, Talcott Parsons, der sich selbst als unverbesserlichen Theoretiker sah, hat in seinem Buch "Sozialstruktur und Persönlichkeit" (deutsch 1968) das Freudsche Uber-Ich mit der Theorie sozialer Systeme in Verbindung gebreicht. Das Vatersymbol bewertete er "im Lichte der psychoanalytischen und soziologischen Theorie" (ebenda). In diesem publikatorischen Zusammenhang setzte er sich mit dem Inzesttabu, Freuds Beitrag zur Integration von Psychologie und Soziologie und mit dem Problem psychosomatischer Beziehungen in Gesundheit und Krankheit auseinander. Große Verdienste um die Synopsis von Psychologie und Soziologie erwarb sich E. Erikson mit seinen Untersuchungen über die Zusammenhänge von Kindheit, Jugend und Gesellschaft. Eine große Wirkung haben die Untersuchungen der kritischen Theoretiker Horkheimer und Adorno über den sado-masochistischen Charakter der autoritätsgebundenen Persönlichkeit erzielt. Pareto hat in seinen Briefen an Freunde bemerkt, die Theorien seien die Sprache des Gefühls; die Theorien, die Anschauungen der Menschen seien die "äußere Hülle der Gefühle, die allein wirksamen Triebkräfte des menschlichen Handelns ..." (Pareto 1975, S. 244). Eine wichtige Brücke zwischen psychologischer und soziologischer Theoriebildung stellt die klassische Studie von H.-E. Richter über die Zusammenhänge von "Eltern, Kind und Neurose" (1963) dar. Richter zeigt, daß Eltern ihre Kinder dadurch neurotisieren können, daß sie dem Kind eine Rolle ansinnen und zuschreiben, die das Kind (z. B. als Substitut für einen
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nicht mehr vorhandenen Gatten) gar nicht durchstehen kann und folglich eine sozial bedingte Krankheit erleidet. Die Soziologie ist zugleich mit der Psychologie verbunden und doch von ihr getrennt. Hier steht die neuere systemtheoretische Behandlung dieses Problems etwa seit 1970 zur Diskussion. Systemtheoretisch gesehen ist die Persönlichkeit (in Differenz zum sozialen System) als Umwelt der Gesellschaft zu sehen. Parsons formuliert "Personality as Environment to Society" (Parsons 1969, S. 13). Er sieht die Verbundenheit beider Systeme in der Sozialisation. Für analytische und heuristische Zwecke dekomponiert Parsons das allgemeine Handlungssystem in vier Subsysteme: das soziale System, das kulturelle System, die Persönlichkeit und den Verhaltensorganismus (Parsons 1972, S. 13). Für ihn ist die Gesellschaft (im Rekurs auf Dürkheim) eine Realität eigener Art (sui generis). Das Modell von Parsons läßt sich dahingehend deuten, daß das soziale und kulturelle System überwiegend (aber keineswegs ausschließlich) von der Soziologie behandelt werden, während die Erforschung der Persönlichkeit und des Verhaltensorganismus wichtige Gebiete der Psychologie (aber keineswegs nur der Psychologie) ausmacht. Die Differenz und gleichzeitige Verbundenheit von sozialem System und psychischem System zeichnet sich deutlich ab. Damit ist die Hinführung zu Luhmanns Aufbereitung dieser Problematik vollzogen. Luhmann führt seine Leser mit den folgenden Worten in die "Individualität psychischer Systeme" ein (Luhmann 1985, S. 346 ff.): "Wir behandeln soziale Systeme, nicht psychische Systeme. Wir gehen davon aus, daß die sozialen Systeme nicht aus psychischen Systemen, geschweige denn aus leibhaftigen Menschen bestehen. Demnach gehören die psychischen Systeme zur Umwelt sozialer Systeme. Sie sind freilich ein Teil der Umwelt, der für die Bildung sozialer Systeme in besonderem Maße relevant ist" (ebenda, S. 346). Soziale Systeme konstituieren sich autonom auf der Basis eigener elementarer Operationen. Diese Prozesse sind Kommunikationen und nicht Bewußtseinsprozesse per se. Soziologische Vertreter eines individualistischen Reduktionismus haben eine lange Zeit den Anspruch erhoben, einen besonders geeigneten Zugang zu den elementaren, empirisch faßbaren Grundlagen des sozialen Lebens gewinnen zu können. "Als Erhebungseinheit für empirische Untersuchungen fungiert sehr oft, j a zumeist, das 'Individuum"' (ebenda, S. 346). Luhmann hält die Annahme für grundsätzlich falsch, Individuen seien besser oder direkter empirisch beobachtbar als soziale Systeme. Er läßt keinen Zweifel daran, daß psychische Systeme und soziale Systeme im Wege der Coevolution entstanden sind (ebenda, S. 367). Aber auch deren Differenz ist ohne Zweifel als gegeben anzusehen: Psychische und soziale Systeme können in der selbstreferentiellen Geschlossenheit ihrer Reproduktion nicht aufeinander zurückgeführt werden. "Beide verwenden ein je verschiedenes Medium ihrer Reproduktion: Bewußtsein bzw. Kommunikation... Kein Bewußtsein geht in Kommunikation auf und keine Kommunikation in einem Bewußtsein" (ebenda, S. 367).
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Kritische Interpretation Alle Wissenschaften sind miteinander verbunden, allein schon dadurch, daß es sich bei allen Disziplinen um Wissenschaften handelt und nicht etwa um literarische Erzeugnisse oder politischkulturelle Werturteile. Gleichzeitig sind alle Wissenschaften voneinander getrennt und haben ihre jeweilige Eigendynamik und Eigenreproduktion. Die Autopoiesis einer Wissenschaft erfolgt aber nicht ohne das Modell der Kreuzung sozialer Kreise im Sinne Georg Simmeis, also nicht ohne gegenseitige Einflußnahme der einzelnen Wissenschaften aufeinander. In der Formulierung der Systemtheorie ist die Wissenschaft ein "rekursiv operierendes System" (Luhmann 1990a, S. 275). Die rekursive Schließung eines Zusammenhangs selbsterzeugter Elemente setzt aber zahlreiche strukturelle Kopplungen mit anderen Bereichen, darunter Menschen, voraus. So kann man sagen, daß es eine Vielzahl von strukturellen Kopplungen zwischen Psychologie und Soziologie gibt. Trotz dieser Kopplungen ist die systemtheoretische Differenzsetzung zwischen diesen Fächern stringent: Die Psychologie baut ihre Operationen auf Bewußtsein auf, und die Soziologie baut ihre Operationen auf Kommunikation auf. Diese Differenzsetzung involviert nicht etwa eine Minderbewertung des Bewußtseins von der Soziologie aus. Systemtheoretische Differenzierungen haben nichts zu tun mit moralischen Bewertungen der Basisoperationen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen. Durch solche Differenzsetzungen entgehen die einzelnen Wissenschaften der Gefahr, sich gegenseitig zu erdrücken oder zu unterlaufen. Die jeweilige Anerkennung einer Nachbarwissenschaft in deren Autonomie und selbstreferentieller Geschlossenheit mit logischen (und nicht mit moralischen) Mitteln bedeutet einen Fortschritt auf dem Wege zur eigendynamischen Entfaltung wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung.
10. Zur Problematik der Geschlossenheit und Offenheit sozialer Systeme In der pädagogischen Alltagsarbeit taucht gelegentlich die Frage nach Offenheit oder Geschlossenheit bestimmter Vorgänge (offene Jugendarbeit, offene Altenarbeit usw.) auf. In der Diskussion sind Theorie und Praxis des "offenen Unterrichts". Sind Familien offene oder geschlossene Systeme? Die Klärung der Frage nach Geschlossenheit und Offenheit läßt sich mit Hilfe eindeutiger systemtheoretischer Linienführung vornehmen. Luhmann klärt diese Frage zunächst mit der Bemerkung, daß die inzwischen klassische Unterscheidung von geschlossenen und offenen Systemen ersetzt wird durch die Frage, wie selbstreferentielle Geschlossenheit Offenheit erzeugen kann (Luhmann 1985, S. 25). Für Luhmann haben Systeme Grenzen. Das unterscheidet den Systembegriff vom Strukturbegriff. Grenzen setzen die Möglichkeiten des Uberschreitens voraus. Sie haben die Doppelfunktion der Trennung und Verbindung von System und Umwelt. Der Begriff der Grenze ist Voraussetzung für neuere Entwicklungen in der Systemtheorie. Mit Hilfe
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Dabei ist die Relation der Viabilität auf den Begriff des Passens im Sinne des Funktionierens gegründet. Denn es gibt einen Unterschied zwischen dem Begriff des Passens und dem der Ubereinstimmung. "Brauchbar oder viabel nennen wir in diesem Zusammenhang eine Handlungs- und Denkweise, die an allen Hindernissen vorbei (den ontischen wie den aus der Handlung selbst erwachsenden) zum erwünschten Ziel führt", (ebenda S. 18) "Die Welt der objektiven Hindernisse, der ontischen Schranken, zwischen denen wir handeln, erleben und zuweilen unsere Ziele erreichen, bleibt grundsätzlich unzugänglich und unbeschreibbar. Wer meint an den Grenzen seiner Bewegungsfreiheit die ontische Wirklichkeit zu erkennen, ist ebenso irregeführt wie ein Autofahrer, der die Stelle, an dem ihm das Benzin ausgeht, für das Ende der Straße hält", (ebenda S. 19) Da Wissen für den Konstruktivisten nie Bild oder Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur einen möglichen Weg, so kann auch nie ein bestimmter gangbarer Weg, eine bestimmte Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als die objektiv richtige oder wahre bezeichnet werden, (vgl. ebenda S. 20 f.) "Dennoch will auch der Konstruktivist zwischen "Illusion" und "Wirklichkeit" zwischen "subjektivem" und "objektivem" Urteil unterscheiden ... Diese Unterscheidungen müssen aus dem Aufbau der Erlebniswelt hervorgehen ... Diese Erlebniswelt erhält Struktur und Organisation einzig und allein durch die Regelmäßigkeiten und Invarianten, die es dem Erlebenden im Fluß seines Erlebens zu abstrahieren gelingt", (ebenda S. 21) An dieses Denkschema knüpft Watzlawick an, indem er am Beispiel der Psychotherapie von der Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung spricht. "Die sogenannte Wirklichkeit, mit der wir es vor allem in der Psychiatrie zu tun haben, ist jeweils eine Wirklichkeit zweiter Ordnung und durch die Zuschreibung von Sinn, Bedeutung oder Wert an die betreffende Wirklichkeit erster Ordnung konstruiert". (Watzlawick 1987, S. 71) Watzlawick illustriert diesen Unterschied mit der bekannten Scherzfrage nach dem Unterschied zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten. "Der Optimist - so lautet die Antwort - sagt von einer Flasche Wein, daß sie halbvoll, der Pessimist, daß sie halb leer ist. Dieselbe Wirklichkeit erster Ordnung, aber zwei grundverschiedene Wirklichkeiten zweiter Ordnung", (ebenda S. 71 f.) Auf die Entstehung und Lösung menschlicher Probleme angewandt, bedeutet dies, "daß wir uns mit dem Leben, unserem Schicksal ... in Einklang fühlen, solange die von uns konstruierte Wirklichkeit zweiter Ordnung im Sinne Ernst von Glasersfelds paßt, d. h. nirgends schmerzlich anstößt. Fehlt dagegen das Gefühl des Passens, so stürzen wir in Verzweiflung, Angst, Psychose oder denken an Selbstmord". (ebenda S. 72) Die Wirklichkeit zweiter Ordnung erweist sich als Resultat von Kommunikation. Aus therapeutischer Sicht ist für Watzlawick die traditionelle Auffassung unhaltbar, wonach der sogenannte Patient an mangelnder Wirklichkeitsanpassung leidet, und ihm daher durch Herbeiführung von Einsichten in die in der Vergangenheit begrabenen "wahren" Zusammenhänge geholfen werden muß. Für ihn haben deshalb Umdeutungen und Verhaltensverschiebungen einen festen Platz in der konstruktivistischen Therapie, (vgl. ebenda S. 75 ff.) Wir alle kennen aus der schul- und sozialpädagogischen Praxis das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiungen (Self-fullfilling-prophecy).
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Vorgestellte Wirklichkeit wird zur konkreten Wirklichkeit, die Prophezeiung des Ereignisses führt zum Ereignis der Prophezeiung. Im positiven Fall schreibt der Schüler eine Eins in Mathematik, im negativen Voraussagefall eine Sechs; der eine Schüler übernimmt das Selbstbild eines schwachen, der andere eines starken Schülers. Umdeutungen übernehmen meist die Schüler mit einer schlechten Note selber: "Naja, ich habe nicht soviel dafür getan" oder "Mathematik ist nicht so wichtig". Bei den Verhaltensverschiebungen, geht es darum, daß der Klient sich so verhält, als ob das Problem bereits gelöst sei, und es wird dann voraussichtlich sekundär zu einer wesentlichen Änderung seiner bisherigen Wirklichkeitskonstruktionen kommen. Einen systemtheoretischen Bezug findet der radikale Konstruktivismus in den Thesen Heinz von Foersters und den Gedanken Humberto Maturanas. Dabei übernehmen radikale Konstruktivsten das von den Biologen Maturana und Varela entwickelte Autopoiese-Konzept, verwenden es aber nicht so breit wie Luhmann. Für Maturana und Varela gibt es offensichtlich Systeme, die sich selbst reproduzieren; "und zwar sich selbst reproduzieren nicht nur im herkömmlichen Sinne der genetischen Replikation in der Generationsfolge, sondern in dem sehr viel spezifischeren Sinne einer kontinuierlichen gegenwärtigen Selbsterzeugung des eigenen Systems". (Willke 1991, S. 43) "Unter anderem stoßen wir auf Konzepte wie Autopoiese als grundlegender Mechanismus des Lebendigen, Metazeller als Erweiterung des Begriffs Vielzeller, natürliches Driften anstatt natürlicher Auslese, operative Geschlossenheit als kennzeichnendes Merkmal lebender Systeme und des Nervensystems". (Maturana 1987, S. 14) Für die Autoren ist Erkennen nicht lediglich die Repräsentation der Welt da draußen, sondern ein andauerndes Hervorheben einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst, (vgl. ebenda S. 7) "Jeder Akt des Erkennens bringt eine Welt hervor", (ebenda S. 31) Daraus ergeben sich für Maturana und Varela zwei Kernaphorismen: "1) Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun. 2) Alles Gesagte ist von jemandem gesagt", (ebenda S. 32) Hier decken sich diese Vorstellungen mit denen Heinz von Foersters, der die Postulate der Selbständigkeit und der Einbezogenheit formulierte. Für ihn ist jeder lebende Organismus eine selbständige, autonome, organisatorisch geschlossene Wesenheit, und das reflexive Element wird dadurch deutlich, daß auch ein Beobachten der Organismen selbst Teil, Teilhaber und Teilnehmer seiner Beobachtungswelt ist. (vgl. Foerster, S. 27 ff.) Willke weist darauf hin, daß das psychische System nicht mit den "Abbildungen" realer Außenweltereignisse, sondern mit den Relationierungen neuraler Relationen arbeitet und daß Umweltereignisse neuronale Reaktionen anstoßen, ohne definieren zu können. (Willke, a. a. 0 . S. 44) Er übernimmt dabei ein Beispiel Heinz von Foersters: "Da wir nur über rund 100 Millionen Sinneszellen verfügen, unser Nervensystem aber an die 10.000 Milliarden Synapsen enthält, sind wir gegenüber Änderungen in unserer inneren Umwelt 100.000 mal empfänglicher als gegenüber Änderungen in unserer äußeren Umwelt." (Foerster 1985, S. 51, zit. nach Willke, a. a. O., S. 45) Größere Schwierigkeiten bereitet es auch, soziale Systeme als autopoietische zu begreifen. Sowohl psychische wie soziale Systeme sind sinnhaft konstruierte Systeme. Wir haben bereits betont, daß Luhmann die Kombination
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von Selbstreferenz und Fremdreferenz für wichtig hält und die operative Geschlossenheit autopoietischer Systeme nicht als Selbstzweck, sondern als Bedingung für Offenheit ansieht. "Streng analog können soziale Systeme dann als operativ geschlossen gesehen werden, wenn sie semantische Strukturen ausbilden, die die in ihren ablaufenden kommunikativen Operationen auf selbstreferentielle, rekursive Umlaufbahn zwingen". (Willke, a. a. O., S. 46 f.) Für Willke ist der Autonomiebegriff besonders geeignet, die Einheit der Differenz von Autopoiese und Umweltkontakt, von Selbstreferenz und Fremdreferenz zu bezeichnen. "Ein autonomes System ist mithin ein System, das auf der Grundlage autopoietischer Selbststeuerung spezifische, durch seine Leitdifferenz und seinen Operationsmodus vorgezeichnete Umweltbedingungen unterhält", (ebenda S. 49) Peter M. Hejl hat sich grundsätzlich mit dem Problem der sozialen Systeme aus radikalkonstruktivistischer Sicht beschäftigt. Als Vorbedingung stellt er fest, daß die Soziologie auf der Grundlage erreichbaren Wissens über kognitive Prozesse deren Sozialität erfassen und möglichst gegenüber ihren biologisch- psychologischen Ursprüngen abgrenzen muß. (Hejl 1992, S. 169) Der hier beschriebenen "reinen Systemtheorie" soll es darum gehen, das Verhalten von Systemen ausschließlich aus den Eigenschaften ihrer Komponenten und der zwischen ihnen bestehenden Organisation zu erklären, (ebenda S. 175 f.) Dabei muß beachtet werden, daß eine Definition von Systemen durch Komponenten, die Eigenschaften besitzen und in Interaktionsbeziehungen stehen, die wechselseitige Beeinflussung von System- und Komponentenniveau nicht vernachlässigt werden darf: "Die Eigenschaften, die eine Einheit als Komponente eines Systems charakterisieren, sind diejenigen Interaktionseigenschaften, durch die sie an dem Netzwerk von Interaktionen teilnimmt, das als System aufgefaßt wird", (ebenda S. 183) Für Hejl sind Sozialsysteme "eine Menge von Individuen die a) die gleiche Wirklichkeitskonstruktion ausgebildet haben, sowie, damit einhergehend, eine Menge ihr zugeordneter Handlungen (die als angemessener Umgang mit dieser Wirklichkeit angesehen werden) und die b) mit Bezug auf diese Wirklichkeitskonstruktion agieren", (ebenda S.191) Hejl versteht die Ausbildung der Realitätskonstruktion und Handlungsprogramme, durch die ein Individuum Mitglied eines Sozialsystems werden kann, als durch Selbstorganisation und Lernen erzeugte und stabilisierte spezifische Kollektivitäten von Individuen. Er schlägt als Begriff für die funktionale Charakteristik sozialer Systeme "syn-referentiell" vor: "Während "Selbstreferentialität" den Bezug auf die Zustände eines kognitiven Systems bezeichnet, hebt "Synreferentialität" den Bezug auf im Sozialsystem ausgebildete oder/und für es konstitutive Zustände hervor, d. h. Zustände, die alle ihre Komponenten ausgebildet haben als Voraussetzung ihrer Systemeigenschaft", (ebenda S. 195) Gleichzeitig legt das Relevanzkriterium für Synreferentialität Systemgrenzen fest. An anderer Stelle hatte Hejl darauf hingewiesen, daß in differenzierten Gesellschaften jedes Individuum eine Vielzahl von sozialen Systemen mitkonstruiert, so daß es konsequent ist, Individuen soziologisch als "Schnittpunkte" oder "Berührungspunkte" sozialer Systeme zu verstehen. Dies gestattet Gesellschaft als ein Netzwerk sozialer Systeme zu verstehen. (Hejl 1987, S. 321) Es scheint aus der Sichtweise des Radikalen Konstruktivismus nicht ausreichend, soziale Systeme allein als Selbstorganisation oder
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selbsterhaltend zu klassifizieren, sondern mehr im Sinne von Peter Hejl als synreferentiell. Worin liegen nun die Unterschiede zwischen Luhmannscher Systemtheorie und den Denkmodellen radikaler Konstruktivisten? Zunächst sieht Siegfried J . Schmidt mehr Gemeinsamkeiten. Beide Seiten operieren mit der Differenz von System und Umwelt und mit der operativen Geschlossenheit kognitiver wie sozialer Systeme. Und beide betonen, daß erst aufgrund von Selbstreferentialität und operativer Geschlossenheit Systeme überhaupt in der Lage sind zu erkennen. .. Man kann allerdings auch Unterschiede zwischen Luhmannscher Systemtheorie und dem kognitionstheoretischen Konstruktivismus sehen. Schmidt sieht sie in den soziologischen Defiziten der Kognitionstheorie und den kognitionstheoretischen Defiziten bei Luhmann. (vgl. Schmidt, a. a. O., S. 9 ff.) Auch bestreitet Luhmann nicht, "daß der Realismus des Konstruktivismus auf sicheren Beinen" steht. (Luhmann 1990b, S. 9) Er konzediert, daß in modernen funktional differenzierten Sozialsystemen, die als selbstreferentielle, operativ geschlossene und gleichwohl hochgradig interdependente Teilsysteme begiffen werden müssen, herkömmliche Beschreibungsmittel versagen, die voraussetzen, daß alle Beobachter einer übereinstimmend zu erfassenden Realität gegenüberstehen und nur etwaige Irrtümer kontrollieren müssen, (ebenda S. 11) "Die moderne Gesellschaft erzwingt einen Verzicht auf Autorität (nicht nur wie Habermas meint, auf Herrschaft) als Mittel des Oktroyierens einzigrichtiger, vernünftiger Beschreibungen." (ebehda S. 11) Oder wie Richard Rorty noch radikaler formuliert: "Der Gedankengang Blumenbergs, Nietzsches, Freuds und Davidsons zielt darauf, daß wir nichts mehr verehren, nichts mehr wie eine Quasi- Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache, unser Bewußtsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall behandeln". (R. Rorty 1989, S. 50) Das setzt auch voraus, "daß Wahrheit nicht das draußen sein kann - nicht unabhängig vom menschlichen Geist existieren kann. Die Welt ist das draußen, nicht aber die Beschreibungen der Welt", (ebenda S. 24) Teil 2: Organisationssoziologie und pädagogisches Handeln 1. Organisationssoziologische Grundlagen pädagogischen Handelns Berührungspunkte zwischen Organisationstheorie und Pädagogik Zusammenhänge zwischen den Welten der Pädagogik und der Organisationen sind keineswegs selbstverständlich, vor allem dann nicht, wenn sich Pädagogik als Wissenschaft vom Menschen und der durch Erziehung zu erreichenden Menschlichkeit versteht. J e mehr im Lauf der Evolution Erziehung und Bildung aus den Familien und anderen Kleingruppen herausverlagert werden, um so stärker ist Pädagogik auf die Benutzung von Organisationen verwiesen. In der heutigen Erziehungs- und Bildungssituation wäre der Verzicht auf Organisationen wie z. B. Schulen, Fachschulen, Fachhochschulen, Universitäten, Ausbildungsstätten verschiedenster Art nicht vorstellbar.
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Zum systemtheoretischen Begriff der Organisation Nach systemtheoretischer Definition ist eine Organisation ein System kooperativer Beziehungen (Parsons 1964, S. 72; Türk 1978, S. 3), bei denen instrumenteile gegenüber emotionalen Interessen vorherrschen. In Organisationen hat mein es mit Instrumenten im weitesten Sinne des Begriffs zu tun, z. B. mit Büroeinrichtungen. Organisation ist primär bürokratische Organisation. Nach älterer, heute nicht mehr üblicher, Definition ist Organisation die "Verteilung der Befehlsgewalten" (M. Weber 1956, S. 549). Dieser im strengen Sinne des Begriffs handlungstheoretische Denkansatz sieht die Organisation als Ergebnis kontinuierlichen sozialen Handelns: "Bei allen Herrschaftsverhältnissen aber ist für den kontinuierlichen Bestand der tatsächlichen Fügsamkeit der Beherrschten höchst entscheidend vor allem die Tatsache der Existenz des Verwaltungsstabes und seines kontinuierl i c h e n , auf Durchführung der Ordnungen und (direkte oder indirekte) Erzwingung der Unterwerfung unter die Herrschaft gerichteten Handelns. Die Sicherung dieses die Herrschaft realisierenden Handelns ist das, was man mit dem Ausdruck 'Organisation' meint" (M. Weber 1956, S. 556). Das genuin handlungstheoretische Element dieses klassischen Organisationsbegriffs besagt: Organisation ist das Ergebnis kontinuierlichen Führungshandelns mittels eines Verwaltungsstabes, der mit fest sedimentierten und damit zuverlässigen Regeln arbeitet, so daß das soziale Handeln mit überschaubarer Ordnung einhergeht. Obwohl Max Weber von seiner Definition der Soziologie her beim sozialen Handeln ansetzt und damit Handlungstheoretiker ist, enthalten seine Ausführungen zugleich genuin systemtheoretische Elemente: Jegliche Herrschaft neigt dazu, bei Herrschern und Beherrschten innerlich (und das bedeutet doch wohl: von den eigendynamischen Bedingungen der Organisation der jeweiligen Herrschaft her) durch Rechtsgründe gestützt zu werden (M. Weber 1956, S. 551). Zudem sieht Weber die bürokratische Herrschaft als ein soziales Gefüge, das "zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden" gehört (ebenda, S. 557). Mit dieser Begriffsbestimmung bringt Weber zum Ausdruck, daß die bürokratische Organisation nicht nur auf erfolgreiches kontinuierliches Führungshandeln mittels eines Verwaltungsstabes angewiesen ist, sondern daß sie sich aus sich selbst heraus in eigendynamischer Kontinuität in die Zukunft hinein aus eigener Kraft fortpflanzt und weiterentwickelt. In dieser Hinsicht ist Weber (z. B. durch seine Analysen der Weltreligionen, der Herrschaftstypen, des Rechts, der Wirtschaft, der Stadtentwicklung usw.) System- und Strukturtheoretiker. Wenn es auch strukturalistische, ethnomethodologisch-phänomenologische und interventionistische Konzeptionen der Organisationssoziologie gibt (vgl. Türk, a. a. O., S. 24), so ist die Durchschlagskraft systemtheoretischer Ansätze nicht zu unterschätzen (Türk, a. a. O., S. 26 ff.). Beachtenswert auch für pädagogische Aktivitäten ist die Darstellung allgemeiner Systemmerkmale nach Litterer (zitiert nach Türk, a. a. 0., S. 26 ff.): 1. Verbundenheit der Elemente Interpretation: Bereits Parsons hat herausgestellt, daß die Organisationsstruktur durch ein System kooperativer Beziehungen gekennzeichnet ist. 2. Holismus Interpretation: Das griechische Wort holos heißt ganz. Organisationen sind
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Ganzheiten, man muß sie daher als ein zusammenhängendes Ganzes betrachten. 3. Zielsuche Interpretation: In Organisationen ist die Orientierung an Zielen eine hochrangige Aufgabe. 4. Regulierung Interpretation: Wenn ein Organisationsziel erreicht werden soll, müssen selbstregulierende Prozesse durchgeführt werden. Dazu gehören Anpassung, Kontrolle und Lernen. 5. Inputs und Outputs Interpretation: Organisationale Systeme empfangen Inputs aus ihrer Umwelt und geben Outputs an ihre Umwelt hinaus. 6. Transformation Interpretation: Die Inputs werden im System transformiert, umgesetzt, also verändert. 7. Hierarchie Interpretation: Ein System kann immer als ein Subsystem eines Ubersystems begriffen werden. Für Luhmann ist Hierarchisierung ein Sonderfall von Differenzierung. Die Entwicklung dürfte seiner Auffassung nach nicht in die Richtung der Hierarchisierung gehen (Luhmann 1985, S. 38 f.). 8. Entropie Interpretation: Das System ist derart geordnet, daß bestimmte Verhaltensweisen in ihrem Auftreten wahrscheinlicher sind als andere. 9. Differenzierung Interpretation: Offene Systeme tendieren dazu, komplexer zu werden durch Differenzierung. 10. Aquifinalität Interpretation: Es gibt keine eindeutige Beziehung zwischen dem Anfangszustand und dem Endzustand des organisationalen Systems. Organisation und Umwelt Organisationen als soziale Systeme stehen in Verbindung mit ihrer Umwelt. Dabei ist Umwelt Voraussetzung der Identität des Systems (vgl. Luhmann 1985, S. 242 ff.). Alle Elemente des Systems werden auf der Grundlage einer vorausgesetzten Komplexität als entwicklungsfähige, emergente Einheiten konstituiert. Das Systemmerkmal Differenzierung besagt in Luhmanns Ansatz: Systemdifferenzierung ist Wiederholung des Systembildung in Systemen in Richtung auf Steigerung und Normalisierung der Unwahrscheinlichkeit. Systemdifferenzierung kann daher als reflexive Systembildung oder auch als "reflexive Steigerung der Ausdifferenzierung des Systems" gekennzeichnet werden (Luhmann, a. a. O., S. 259). Systemdifferenzierung wiederholt die Gesamtsystembildung in sich selbst. Gemeint ist: Das Teilsystem kann sich nicht als "Teil" identifizieren, ohne auf das Ganze Bezug zu nehmen. In Luhmanns Ansatz erhält das Systemmerkmal Transformation einen zentralen funktionalen Stellenwert: "Die Funktion des Systems kann mit seiner Transformationsleistung identifiziert werden, und als Struktur werden
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dann die internen Bedingungen dieser Transformation angesehen" (Luhmann 1985, S. 275). Von Gleichgewicht kann dann gesprochen werden, "wenn sowohl Inputs als auch Outputs weder im Übermaß ... noch zu wenig ... prozessiert werden" (ebenda). Allerdings erhebt Luhmann Zweifel an der Reichweite des Input-Output-Schemas, wenn man der neueren Theorie autopoietischer, selbstreferentieller Systeme folgt "und wenn man davon ausgeht, daß die Differenz zur Umwelt nicht nur ein Problem der Steuerung des grenzüberschreitenden Verkehrs ist, sondern konstitutiv ist für die Reproduktion der Elemente und die Selbstidentifikation des Systems..." (Luhmann, ebenda, S. 276 f.). Außerdem gibt Luhmann zu bedenken, daß nicht alle sozialen Systeme sich nach dem Input-Output-Schema rekonstruieren (ebenda, S. 279). Anwendung auf die Schule und andere pädagogische Organisationen Im Sinne der neueren Systemtheorie kann die Sozialisation nur als Erziehung in ein Input/Output-Schema gebracht werden (Luhmann 1985, S. 281 f.). Ein Hinausgehen über bloße Sozialisation und über bloße ad hoc-Erziehung scheint allen komplexen Systemen immanent zu sein. Geläufig ist "eine Kritik der Lebensfremdheit von Schulen und der Unbrauchbarkeit des gelernten Wissens. Die Kritik richtet sich aber primär auf die Auswahl der Lehrpläne, auf politische Eingriffe, auf die Kultusbürokratie und neuerdings auf den auch hier wirksamen Kapitalismus. Sie müßte viel fundamentaler ansetzen, denn sie zielt auf die Folgeprobleme der Intentionalisierung des Erziehens selbst ... Die Erziehung strebt einen Output an. Sie beurteilt die vorliegenden Bedingungen wie Begabung, Vorkenntnisse, Schuldisziplin. Sie variiert die pädagogischen Mittel, um zur Wirkung zu kommen, in der Hoffnung auf Erfolg. Aber all das hat Sozialisationseffekte im System, die sich der Berechnung entziehen. Sie transformieren Gleichgewicht in Ungleichgewicht" (Luhmann 1985, S. 281 f.). Zur Differenzierung in pädagogischen Systemen Die Bildung von Teilsystemen setzt Anpassungsprozesse voraus. Nach Luhmann setzen sich letztlich nur wenige Differenzierungsformen durch: - die Differenzierung in gleiche Einheiten (Segmentierung) - die Differenzierung Zentrum/Peripherie - die Differenzierung konform/abweichend (offiziell/inoffiziell, formal/informal) - die hierarchische Differenzierung - die funktionale Differenzierung (a. a. O., S. 261). Aus der Sicht der Systemtheorie Luhmanns sind Herrschaftspositionen zunächst vor allem "Grenzstellen" des Systems. Damit wird die vielfach übliche Vorstellung unterlaufen, Hierarchie sei eine natürliche Voraussetzung von Ordnung schlechthin. Die Art der Differenzierung der Schulsysteme ist als Wiederholung der Differenzierung des Gesamtsystems anzusehen (Autopoiesis, Selbstreferenz). Selbstreferentielle Differenzierung bedeutet auch immer Selbstbeobachtung, Selbstorganisation und Wiederspruchsbewältigung und -regulierung. Auch in den Schulen ist die Systemdifferenzierung reflexiv. Und reflexive Systembildung ist eine Steigerung der Ausdifferenzierung des pädagogischen Systems, also positiv-funktional.
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Durch den Vollzug von Anpassungs- und Wandlungsprozessen erhält die Systemdifferenzierung einen reflexiven Charakter. Unter den soeben abgesteckten Rahmenbedingungen ist die Differenzierung pädagogischer Systeme eine positive Wendung von Evolution. Schon Dürkheim und Max Weber haben die Spezialisierung und Differenzierung mit einem positiven Akzent belegt, vor allem im wissenschaftlichen Bereich. Letztlich setzen sich nur wenige Formen der Differenzierung durch. Dabei ist die Differenzierung in gleiche Schuleinheiten im Sinne der Segmentierung (Grundschulen, Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien, Sonderschulen usw.) als stark verbreitete Form der Segmentierung durchsetzungsfahig. Die Differenzierung Zentrum/Peripherie findet sich überall dort, wo andere als "draußen im Lande" usw. gesehen werden. Diese Grundform der Differenzierung hängt eng zusammen mit der hierarchischen Differenzierung, die ein Oben und ein Unten sieht. Die hierarchische Differenzierung ist überall im Bildungswesen anzutreffen, z. B. im Hochschulbereich. Die Differenzierung konform/abweichend findet sich z. B. dort, wo sich bestimmte abtrünnige wissenschaftliche "Schulen" herauskristallisiert haben. Die funktionale Differenzierung scheint im Schulwesen eine sehr wichtige Form der Strukturgestaltung zu sein. Systemtheoretisch gibt es durchaus Sozialsysteme, die einfach aufgebaut sind, also z. B. kleine, wenig differenzierte Schulsysteme abseits der großen Wohnzentren. Solche Systeme nehmen nach dem Modell der Systemtheorie keinen niederen Rang ein, nur weil sie etwa schwach differenziert sind. Interne Differenzierung bedeutet zwar Reflexivität und Steigerung der Unwahrscheinlichkeit, somit auch Unalltäglichkeit. Jedoch ist auch das kleine pädagogische System ein System und hat damit ein Recht auf Anerkennung, da soziale Systeme allesamt für die Evolution von Bedeutung sind. Zur Sensibilität in pädagogischen Systemen Die Atmosphäre in sozialen Systemen und somit in pädagogischen Systemen muß ein gewisses Maß an affektiver Neutralität und damit Rationalität enthalten, wenn nicht ein "Themenschwund" (Luhmann) in Kauf genommen werden soll. Wenn alle am Schulleben Beteiligten immer schon die Reaktionen der anderen vorausnehmen können, weil die Systeme hochsensibel sind, schwinden die interessanten Gesprächsthemen dahin.Hinreichende Differenzierung hinsichtlich der Zusammenstellung der Lerngruppen wirkt dem Themenschwund entgegen. Wenn in einer Lerngruppe einige neue Gesichter auftauchen und bis dahin wenig bekannte Meinungen zwischen die reichlich bekannten Argumentationsgewohnheiten eingestreut werden, wird der Themenschwund durch Differenzierung neutralisiert. Zur Hierarchie Systemtheorie hat das System als Ganzes im Blick und nicht die ObenUnten-Achse der Hierarchie. Hierarchie im pädagogischen System ergibt sich aus den funktionalen Erfordernissen des Systems und nicht aus Naturnotwendigkeiten. Hierarchie auf dem pädagogischen Arbeitsfeld ist eine der Grenzstellen des betreffenden Systems, an der eine Führungskraft eine Torhüter-Funktion im Vollzug der Input-Output-Leistungen einnimmt. Von
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der Einnahme einer Grenzstelle des Schulsystems her ist die Ausstattung der Rektorin, des Schulrats mit Kompetenzen und Macht gerechtfertigt. Solche Kompetenz erhält ihre Berechtigung von der Aufgabenerfullung im Schulsystem her und nicht "von Natur aus". 2. Verwaltungssoziologische Grundlagen für den Aufbau pädagogischer Systeme Pädagogische Aktivitäten sind nicht frei von der "verwalteten Welt", von der Einbindung in die Strukturen der Behördenorganisation. Im Regelfall verstehen sich pädagogische und Wissenschaft vermittelnde Systeme nicht als Verwaltungseinrichtungen oder Behörden. Und dennoch müssen Ausbildungs- und Bildungseinrichtungen verwaltet werden und stehen Erzieherinnen und Erzieher im Kontakt mit Kultur- und Sozialbehörden. Sofern pädagogische Aktivitäten durch Beamte und Angestellte ausgeführt werden, wird ihr soziales und kulturelles Handeln durch die ungeschriebenen und geschriebenen Erwartungsmaßstäbe der bürokratischen Behördenorganisation mitgeprägt. Im Rekurs auf die grundlegenden Definitionen von Max Weber und Renate Mayntz (Mayntz 1985, S. 110 ff.) lassen sich die Merkmale einer bürokratischen Organisation in fünf Punkten zusammenfassen: 1. eine genau festgelegte Autoritätshierarchie; 2. ein festes System vertikaler Kommunikationslinien (Dienstwege), die eingehalten werden müssen; 3. eine geregelte Arbeitsteilung, die auf Spezialisierung beruht; 4. ein System von Regeln und Richtlinien, das die Rechte und Pflichten aller Organisationsmitglieder festlegt; 5. ein System von genau definierten Verfahrensweisen für die Erfüllung der Aufgaben. Ernennungs- und Entpflichtungsurkunden z. B. lassen von der Textformulierung her keinen Zweifel daran aufkommen, daß die Dienstherrenmentalität keineswegs aus der Amtshierarchie verschwunden ist. "Der Beamte wird aufgrund seiner z. B. durch ein Ausbildungszertifikat nachgewiesenen Qualifikation zur Einstellung ausgewählt. Er steht zu seinem Dienstherrn in einem Vertragsverhältnis, wird für seine Tätigkeit geldlich entlohnt und nach den Kriterien von Leistung und Seniorität befördert. Die Arbeitsmittel, derer er sich bedient, sind nicht sein persönlicher Besitz" (Mayntz 1985, S. 111). Beispiele informeller Interaktionen sind horizontale Kontakte, die den Dienstweg umgehen, aber auch informelle Kleingruppen, die sich durch politisch-kulturelle Gemeinsamkeiten verbunden fühlen und sich gegebenenfalls gegenseitig stützen. Mayntz weist darauf hin, daß strukturell bedingte Konflikte etwa durch die Verteilung von knappen Ressourcen (Finanzmittel, Zeit, Personal), um Zuständigkeiten und die relative Priorität der eigenen Aufgabe entstehen. Die Regulierung derartiger Konflikte gehört dann zu den zentralen Aufgaben der jeweiligen Amtsleitung. Für Max Weber beruht der rationale Staat neben dem rationalen Recht auf dem Fachbeamtentum (M. Weber 1956, S. 559 ff.). Der Eintritt in das Amt gilt auch in der Privatwirtschaft als Übernahme einer spezifischen Amtstreuepflicht gegen die Gewährung einer gesicherten Existenz. Diese
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Amtstreuepflicht gilt einem unpersönlichen sachlichen Zweck. Der öffentliche und private Beamte genießt meistens eine spezifisch gehobene soziale Schätzung. Der reine Typus der bürokratischen Beamten wird von einer übergeordneten Instanz ernannt. Normalerweise ist die Lebenslänglichkeit der Stellung des Beamten als gegeben einzusehen. Die Regelgebundenheit der modernen Amtsführung ist der äußerste Gegensatz gegen die für den Patrimonialismus bezeichnende Art der Regelung aller nicht traditionell festgelegten Beziehungen durch individuelle Privilegien und Gnadenverleihungen. Die Bürokratisierung ermöglicht in hervorragendem Maße die Zerlegung der Verwaltungsarbeit nach rein sachlichen Gesichtspunkten, indem die einzelnen Arbeiten "auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer weiter sich einschulende Funktionäre" verteilt werden. Wenn eine Verwaltungsaufgabe sachlich erledigt wird, so bedeutet das: Erledigung "ohne Ansehen der Person" nach berechenbaren Regeln. Mit der Sachlichkeit in der Erledigung der bürokratischen Aufgaben hängt für Weber das bürokratische Prinzip "sine ira ac studio" (ohne Zorn und Voreingenommenheit) zusammen. Dieses Prinzip der Verwaltungssoziologie hat auch heute Ausstrahlungen auf jegliche pädagogische Aktivität. Literatur z u m 4. Kapitel Andolfi, M.: Familientherapie. Freiburg 1985, 2. Auflage Aristoteles: Politik. Hamburg 1958 Dahrendorf, R.: Gesellschaft und Freiheit. München 1961 Dahrendorf, R.: Konflikt und Freiheit. München 1972 Dürkheim, E.: Die Regeln der soziologischen Methode. Neuwied 1961 Dürkheim E.: Erziehung und Soziologie. Düsseldorf 1972 Foerster, H. v.: Sicht und Einsicht. Braunschweig/Wiesbaden 1985 Foerster, H. v.: Entdecken oder Erfinden, Wie läßt sich Verstehen verstehen? In: Gumin, H./Möhler, A. (Hrsg.): Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Band 10, München 1985 Geulen, D./Hurrelmann, K.: Zur Programmatik einer umfassenden Sozialisationstheorie. In: Hurrelmann, K./Ulich, D. (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel 1982, 2. Auflage Glasersfeld, E. v.: Konstruktion der Wirklichkeit. In: Gumin, H./Mohler, A. (Hrsg.), Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Band 10, München 1985 Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik. Leipzig 1951 Hejl, P. M.: Konstruktion der sozialen Konstruktion: Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie. In: Schmidt. S. J.: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 1, Frankfurt/Main 1987 Hejl, P. M.: Die zwei Seiten der Eigengesetzlichkeit. In: Schmidt, S. J.: Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2. Frankfurt/Main 1992
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Homans, G. C.: Theorie der sozialen Gruppe. Köln/Opladen 1968 Hurrelmann, K.: Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim/Basel 1986 König, R.: Die Familie der Gegenwart. München 1978, 3. Auflage Luhmann, N.: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1989 Luhmann, N.: Rechtssoziologie. Reinbek bei Hamburg 1972 Luhmann, N.(a): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990 Luhmann, N.: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1985, 2. Auflage Luhmann, N.(b): Soziologische Aufklärung 5, Opladen 1990 Mayntz, R.: Soziologie der öffentlichen Verwaltung, Heidelberg 1985 Maturana, H./Varela, F.: Der Baum der Erkenntnis. Bern/München/Wien 1987 Merton R. K.: Social Theory and Social Structure. Glencoe 1957 Merton, R. K. in: Sack, F./König, R.: Kriminalsoziologie. Frankfurt/M. 1968 Pareto, V.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. Mongardini, D. Frankfurt/M./ Berlin/Wien 1975 Parsons, T.: Beiträge zur soziologischen Theorie. Neuwied/Berlin 1964 Parsons, T.: Das System moderner Gesellschaften. München 1972 Parsons, T.: Politics and Social Structure. New York/London 1969 Parsons, T.: .Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt/M. 1968 Parsons, T.: The Social System. Glencoe 1964, 5. Auflage Phillipson, M.: Die Paradoxie der sozialen Kontrolle und die Normalität des Verbrechens. In: Lüderssen, K./Sack, F. (Hrsg.): Abweichendes Verhalten I. Frankfurt/M. 1975 Richter, H. E.: Eltern, Kind und Neurose. Stuttgart 1963 Rorty, R.: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/M. 1989 Schmidt, S. J.: Radikaler Konstruktivismus. Forschungsperspektiven für die 90er Jahre. In: Schmidt, S. J.: Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt/Main 1992 Schweitzer, J.: Therapie dissozialer Jugendlicher. Weinheim/München 1987 Smelser, N. J.: Soziologie der Wirtschaft. München 1968 Simmel, G.: Soziologie. Berlin 1958 Türk, K.: Soziologie der Organisation. Stuttgart 1978 Watzlawick, P.: Wirklichkeitsanpassung oder angepaßte "Wirklichkeit"? Konstruktivismus und Psychotherapie. In: Schmidt, S. J.: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 1, Frankfurt/Main 1987
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Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1956 Willke, H.: Systemtheorie. Stuttgart/New York 1991 Wurzbacher, G. (Hrsg.): Der Mensch als soziales und personales Wesen. Stuttgart 1963
Kapitel 5 Strukturalismus und pädagogisches Denken
1. Zur Definition des Strukturalismus Bereits eine konsensfähige Beschreibung des Strukturalismus zu geben, ist schwierig. Günther Schiwy sagt, "(daß) der französische Strukturalismus Mode, Methode und Ideologie (sei): es wird immer deutlicher, daß der Strukturalismus ebenso wie er nicht ausschließlich auf französischem Boden entstanden ist, sondern in sich gesamteuropäische und amerikanische Einflüsse vereinigt, auch nicht auf Frankreich beschränkt bleiben, vielmehr als Mode, Methode und Ideologie über kurz oder lang überall dort in Erscheinung treten wird, wo er längst heimlich am Werk ist: in der einen Welt der gegenwärtigen Wissenschaft und des intellektuellen Lebens, die bereits universaler sind als wir gemeinhin glauben." (Schiwy 1969, S. 9) Francois Wahl versucht eine einfache Definition: "Wir sagen - und nur so geraten wir nicht in Verwirrung- daß sich unter dem Namen Strukturalismus alle Wissenschaften vom Zeichen, der Zeichensysteme gruppieren." (Wahl 1973, S. 11) Er erläutert: "Die verschiedensten anthropologischen Fakten können hier Eingang finden, aber nur insofern sie die Tatsachen der Sprache passieren, in die Institution eines Systems vom Typ Signifikant gefaßt sind, sich in einem Kommunikationsnetz darbieten und von daher ihre Struktur erhalten." (ebenda S. 11) Aber können wir mit dieser Definition des Strukturalismus den "radikalsten Vertreter der strukturalistischen Weltanschauung" (Reif 1973, S. 143) Michel Foucault beschreiben? Er selbst behauptet nein, er hält sich nicht für einen Strukturalisten: "Die Strukturalisten stellen das Problem der formalen Bedingungen der Erscheinung von Sinn, wobei sie hauptsächlich vom Modell der Sprache ausgehen: die Sprache, die selbst ein außerordentlich komplexer und reichhaltiger Gegenstand der Analyse ist, dient gleichzeitig als Modell für die Analyse der Erscheinungen anderer Bedeutungen, die nicht eigentlich sprachlicher Natur sind.... Ich befasse mich ja im Grunde nicht mit dem Sinn und auch nicht mit den Bedingungen seines Erscheinens, sondern mit den Bedingungen der Veränderung oder Unterbrechung des Sinns: mit den Bedingungen, unter denen der Sinn erlischt, damit etwas anderes erscheinen kann." (Foucault 1974, S. 9 f.) Oder an anderer Stelle distanziert er sich im Gespräch mit Raymond Bellour von den Strukturalisten so: "Ich bin im Unterschied zu jenen, die man als Strukturalisten bezeichnet, nicht so sehr an den formalen Möglichkeiten eines System wie der Sprache interessiert. Mich persönlich reizt vielmehr die Existenz der Diskurse, die Tatsache, daß Äußerungen getan worden sind, daß solche Ereignisse in einem Zusammenhang mit ihrer Ursprungssituation gestanden haben, daß sie Spuren hinterlassen haben, daß sie fortbestehen und mit ihrem Fortbestand innerhalb der Geschichte eine Reihe von manifesten und verborgenen Wirkungen ausüben." (Reif, a. a. O., S. 169)
97 2. Strukturalismus und Soziologie Über das Verhältnis von Soziologie und Strukturalismus sagt Jan M. Boekman, daß man zwischen einer strukturalistischen Soziologie und einer Soziologie des Strukturalismus unterscheiden muß: " Die erstgenannte Soziologie entfaltet sich zunächst an der erwähnten Erfahrung des Relativismus, sie treibt das vergleichende Studium sozialer Strukturen voran, beschäftigt sich mit dem Problem des Gegensatzes und der Übergänge von Natur und Kultur." (Boekmanl971, S. 23) "Der Hauptgedanke (der Soziologie des Strukturalismus) wird auf drei Thesen reduziert: die Negation der Geschichte, die Negation des Subjekts, bzw. des Individuums und die Zukunftsvision für unsere abendländische Gesellschaft." (ebenda S. 26) Das Verhältnis zwischen Strukturalismus, Semiologie und Soziologie ist ambivalent. Die Skepsis gegenüber der Soziologie erfolgt aus unterschiedlichen Gründen. Ideologisch bei Foucault, der in seiner Archäologie der Humanwissenschaften den Nachweis zu erbringen versucht, daß der Mensch eine Erfindung neueren Datums ist, dessen nahes Ende vielleicht bevorstehe; methodologisch begründet bei Lévi-Strauss: "Während die Soziologie versucht, die Sozialwissenschaft des Beobachters zu betreiben, sucht nach Lévi-Strauss die Anthropologie die Sozialwissenschaft des Beobachteten herauszuarbeiten." (Jaeggi 1970, S. 118) Lévi-Strauss betrachtet die Soziologie entweder als Sonderfall der Anthropologie oder als in der Hierarchie der Sozialwissenschaften obenanstehend. Kurzum, der Strukturalismus ist eine der inkonsistenten, widersprüchlichen Bewegungen - soziologisch und antisoziologisch - in der neueren Geschichte der Soziologie. 3. Strukturalismus und Literatursoziologie "In der Linguistik wie in der Anthropologie besteht die strukturale Methode darin, in unterschiedlichen Inhalten invariante Formen aufzuspüren." (Lévi-Strauss 1975, S. 308) Wie schwierig das ist, macht Lucien Goldman in seinem wesentlichen Beitrag zur Literatursoziologie aus strukturalen Gesichtspunkten deutlich. (Goldman 1979, S. 116-134) Goldman geht von drei anthropologischen Konstanten aus: 1) die Menschen haben die Tendenz, sich der Umwelt anzupassen und sich ihrem Gegenüber sinnvoll und rational zu verhalten 2) sie haben die Tendenz zur globalen Kohärenz und Strukturierung 3) Der Charakter des Verhaltens ist organisch. Das kulturelle Werk schafft auf der Ebene literarischer Schöpfung eine beinahe kohärente Welt. "In diesem Sinne spiegelt der Schriftsteller nicht das Kollektivbewußtsein, wie es eine positivistische und mechanistische Soziologie lange Zeit geglaubt hat, sondern er treibt die von jenem in relativer und rudimentärer Art ausgebildeten Strukturen zu einer sehr hohen Stufe von Kohärenz." (ebenda S. 118) "Wenn ein Schöpfer in seinem Werk eine sinnvolle, kohärente, einheitliche Welt schaffen kann, so ist das nur möglich, weil er schon von der kollektiven Ausarbeitung mehr oder minder stark präformierter Kategorien und interkategorialer Verbindungen ausgeht, die er dann in der von ihm geschaffenen Welt nur viel weiter führt, als es die anderen Gruppenangehörigen getan haben." (ebenda S. 123)
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Für Goldman entspricht das künstlerische Werk den Strebungen und Tendenzen des Kollektivbewußtseins und ist insofern immanent gesellschaftlich. Es bleibt aber das Werk eines außergewöhnlichen Individuums und trägt deshalb betont individuellen Charakter. "Die Entsprechung von Kollektivbewußtsein und individuellem Werk aber bleibt bestehen. Die strukturelle Erforschung eines jeden von ihnen vermag zur Entdeckung gewisser Elemente des anderen zu führen..." (ebenda S. 123) Goldman rekurriert auf Freud, wenn er sagt, daß der Konflikt zwischen den Bedürfnissen des Individuums und dem Widerstand, den die äußere Realität ihrer Befriedigung entgegensetzt, zu schwer erträglichen Spannungen fuhren kann: "in diesem Fall ist die imaginative Schöpfung indirekt durch die Realität strukturiert und stellt ein Element der Anpassung des Subjekts an die Realität dar." (ebenda S. 125 f.) Jeder literarische Schöpfungsprozeß kann einen Strukturierungsprozeß bis an die äußerste Grenze treiben und mit den bestehenden Strukturen in Konflikt geraten. Goldman definiert Verstehen anders als die hermeneutischen Geisteswissenschaftler: "Verstehen ist nicht ein affektiver oder intuitiver Prozeß, sondern ein vollkommen intellektueller, es ist eine Beschreibung von Konstruktionen und wesentlichen Beziehungen einer sinnvollen Struktur." (ebenda S. 127) In der Tat stellt unter diesem Aspekt jede genetische Beschreibung, die auf das Verstehen einer Struktur abzielt, ein Erläutern von Teilstrukturen dar, die diese Struktur ausmachen. Übergreifende literarische Strukturen sind für Goldman z. B. 1) Literaturgeschichte 2) Die Biographie des Autors 3) Die gesellschaftliche Gruppe, zu der das untersuchte Werk in Bezug steht. Dabei ist unter soziologischen Augen besonders die dritte übergreifende Struktur wichtig: "Deshalb scheint mir - sobald es um verstehende und erklärende Untersuchungen kultureller Phänomene geht und nicht um die Untersuchung eines individuellen Lebens oder eines pathologischen Falles - daß im Interesse einer empirischen und operationalen Forschung als Eingliederungszusammenhang für das Werk stets den gesellschaftlichen historischen Strukturen der Vorrang zu geben ist." (ebenda S. 132) Ein besonders gutes Beispiel für einen strukturalistischen Roman ist "Der Name der Rose" von Umberto Eco. (Eco 1982) Als Kenner des Mittelalters wie der modernen Erzähltheorie, der Massenmedien wie der Eliten wollte Eco "den idealen postmodernen Roman" schlechthin schreiben. Die Nachschrift zum Namen der Rose gibt Aufschluß über Idee und Methode. (Eco 1986) Explizit finden wir bei Eco folgende Interpretation und Bezug auf die strukturale Methode: "Auch der naivste Leser hat instinktiv gespürt, daß er vor einer Geschichte von Labyrinthen stand - und nicht nur vor räumlichen Labyrinthen. Man könnte geradezu sagen, daß die naivsten Lesarten eigenartiger Weise die "strukturellen" waren: Der Leser ist unmittelbar, ohne Vermittlung durch die Inhalte mit der Tatsache in Berührung gekommen, daß es unmöglich ist, nur eine Geschichte zu haben." (ebenda S. 65 f.) Eco macht deutlich, daß sein Labyrinth eine Art Netzwerk ist, vieldimensional vernetzt, weder ein Zentrum noch eine Peripherie hat, auch keinen
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Ausgang mehr, da es potentiell unendlich ist: "Das Labyrinth meiner Bibliothek ist ... schon rhizomförmig strukturiert - oder jedenfalls strukturierbar, wenn auch nie definitiv strukturiert." (ebenda S. 65) Das ist für Eco auch die postmoderne Antwort auf die Moderne, die in der Einsicht und Anerkennung besteht, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf eine Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, mit Unschuld." (ebenda S. 78) Das heißt eng zusammen mit der poetischen Wirkung als der Fähigkeit eines Textes, immer neue und andere Lesarten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen, (ebenda S. 17) Für Eco ist das "Schreiben" eines Romans ein "kosmologischer Akt - wie der, von welchem die Genesis handelt." (ebenda S. 28) Der Semiologe Eco hat auch deswegen diesen Zeitraum des Mittelalters gewählt, weil sich zu diesem Zeitpunkt eine Zeichentheorie entwickelte, die nicht mehr allein symbolisch oder als Idee oder Universalie gedeutet werden konnte. Für Goldman und Eco sind Strukturen nicht fest gefügt, aber sie sind erkennbar. Diese Strukturen werden durch die Produktivität und Kreativität des literarischen Prozesses stark gedehnt, neu gesehen. Und es scheint, daß es allen Strukturalisten darum geht, nicht in geprägten Strukturen zu verharren, sie so und nicht anders zu akzeptieren - sondern stets sie mit "reinen Augen" zu sehen. 4. Strukturale Soziologie - Michel Foucault Wenden wir uns Michel Foucault - dem radikalsten (Nicht)-Strukturalisten zu. Er wird von Strukturalisten und Nichtstrukturalisten angegriffen, weil er den Strukturalismus gegen den Humanismus ausspielt: "Der Mensch ist weder das älteste noch das konstanteste Problem, das dem menschlichen Wissen gestellt wurde, der Mensch ist eine Erfindung, dessen später Anfang und vielleicht dessen baldiges Ende sehr leicht an der Archäologie unseres Denkens gezeigt werden kann." (Reif, a. a. O., S. 143) Die Inanspruchnahme Nietzsches durch Foucault bedeutet eine grundsätzliche Infragestellung des Menschen. Für Foucault ist der Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert auch deshalb interessant, weil innerhalb des klassischen Denkens der Mensch als Abstraktum nicht existiert: Was an der Stelle existierte, wo wir jetzt den Menschen entdecken, war die dem Diskurs, dem Sprachlichen eigentümliche Fähigkeit, die Dinge zu repräsentieren." (Reif, a. a. O., S. 152) "In diese Lücke, die der Diskurs hinterlassen hatte, hat sich der Mensch konstituiert - ein Mensch, der im gleichen Maße jener ist, der lebt, spricht und arbeitet, wie jener, der von dem Leben, der Sprache, der Arbeit weiß, wie schließlich jener, von dem man insofern etwas wissen kann, als er lebt, spricht und arbeitet." (ebenda S. 152) Der Mensch hat seit Beginn des 19. Jahrhunderts nur deshalb existiert, weil der Diskurs keine gebieterische Macht mehr gegenüber der empirischen Welt hatte. Nun taucht, insbesondere durch Freud und Husserl formuliert, das Problem von Bedeutung und Zeichen wieder auf. Michel Foucault lehnt sich an die Vorstellung Nietzsches an, daß der Mensch an den Zeichen vergehen würde, die aus ihm hervorgegangen sind: "Nietzsche hat schon vor fast einem Jahrhundert gezeigt, daß dort, wo das Zeichen herrscht, der Mensch
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nicht sein kann und daS dort, wo man die Zeichen sprechen läßt, der Mensch zu schweigen hat." (ebenda S. 155) Die Unvereinbarkeit zwischen dem Bereich der Zeichen und dem Bereich des Menschen hat eine Reihe von Konsequenzen z. B.: "1) Die Vorstellung einer Wissenschaft vom Menschen, die gleichzeitig eine Analyse der Zeichen wäre, wird ins Reich der Einbildung verwiesen. 2)... die Erfahrung hat gezeigt, daß die Wisssenschaften vom Menschen in ihrer Entwicklung eher z u m Verschwinden als zur höchsten Entwicklung des Menschen fuhren..." (ebenda S. 153 f.) Welches Wissenschaftsverständnis hat Michel Foucault? Bei der Themenauswahl knüpft Foucault an Nietzsche an, mit der Meinung, daß es keine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, der Pietät etc. gäbe. (Reif, a. a . 0 . , S. 147) Wichtig ist für ihn eine Distanz zum Objekt: "Ich versuche tatsächlich, mich außerhalb der Kultur, der wir angehören, zu stellen, u m ihre formalen Bedingungen zu analysieren, um gewissermaßen ihre Kritik zu bewerkstelligen; aber nicht u m ihre Werte herabzusetzen, sondern um zu sehen, wie sie tatsächlich entstanden sind." (Foucault 1974, S. 13) Michel Foucault wird von vielen nicht nur als Philosoph und Soziologe, sondern auch als Historiker gesehen: "Nicht die Ereignisse, sondern ihr sprachlicher Niederschlag, nicht die geschichtliche Wahrheit, sondern der historische Diskurs, den die Menschheit sich selbst gehalten hat und der in ihren Archiven aufbewahrt liegt, sind das Objekt eines Historikers wie Foucault. (Schiwy, a. a. 0 . , S. 81) Michel Foucault erfaßt alle Praktiken, diese Institutionen, diese Theorien auf der Ebene ihrer Spuren, d. h. innerverbale Spuren. (Reif, a. a. O., S. 149) In Übereinstimmung mit Themenauswahl und Wissenschaftsverständnis ergibt sich daraus folgendes methodisches Vorgehen, das vier Konsequenzen hat: 1) Die Monumente werden zu neuen Serien zusammengesehen und -gestellt, und die Serie der Serien ergibt ein neues Bild der Zusammenhänge. 2) Der Begriff der Diskontinuität wird in den historischen Disziplinen einen bedeutenden Platz einnehmen. 3) Der Versuch einer globalen Geschichte wird dem einer allgemeinen weichen, an die Stelle eines einsichtigen horizontalen Zusammmenhanges wird die vertikale Strukturierung treten; 4) Die methodologischen Probleme einer solchen Geschichtsschreibung müssen reflektiert und einer Lösung zugeführt werden, (ebenda S. 144) Kennzeichnend für das methodische Vorgehen Foucaults ist, daß es für ihn keine Unterschiede in der Auswahl der Spuren gibt, "man wird ebenfalls feststellen, daß die Grammatiker des 18. Jahrhunderts ebenso viel Bedeutung haben wie die in der gleichen Zeit anerkannten Philosophen." (ebenda S.150) Das bedeutet auch für ihn, daß eine Vorauswahl der Werke unmöglich ist: "Eine Auswahl, wie man sie treffen könnte, sollte nicht gestattet werden. Man sollte alles lesen, alles studieren." (ebenda) Er bedient sich a) der Hermeneutik, der Deutung oder Exegese, um den verborgenen Sinn zu verstehen, und er formuliert b) die Forderung nach Formalisierung, um das System,die strukturelle Invariante, das Netz der simultanen Erscheinungen zu erkennen: "ich wollte den Zweig finden, von dem diese Verästelung ausgeht." (ebenda S.151) In diesem Zusammenhang sind für Foucault zwei
101 Probleme zu lösen: 1) in der Zeichentheorie 2) in dem Empirischen, der Konstitution, der Empirizitäten. Es geht darum, die Dinge in Ordnung zu bringen und zwar nicht mit der Mathematik oder der Geometrie, sondern mittels einer Systematik der Zeichen einer Art allgemeiner Taxonomie und Systematik der Dinge, (ebenda S. 152) "Ich habe versucht, nicht die Geschichte des Denkens allgemein, sondern alles dessen zu schreiben, was in einer Kultur Gedanken enthält, alles dessen, worin es Gedanken gibt, denn Gedanken gibt es in der Philosophie, im Roman, in der Jurisprudenz, selbst im Verwaltungssystem, in einem Gefängnis." (ebenda S. 156) Aus pädagogischer Sichtweise sind zwei Werke von Michel Foucault besonders betrachtenswert: "Die Geburt der Klinik" und "Überwachen und Strafen" . Die erste Studie soll unter dem Aspekt "das Sichtbare und das Sagbare", die zweite unter dem Aspekt "Macht" analysiert und interpretiert werden. Besonders hilfreich ist dabei das Buch von Gilles Deleuze über Foucault. (Deleuze 1987) 4 . 1 Die Geburt der Klinik - Das Sichtbare und das Sagbare Foucault hat in seiner Studie Geburt der Klinik (Foucault 1976) eine Geschichte des Wandels ärztlicher Erfahrungen und Erkenntnisse durch die Verschiebung der grundlegenden Beziehungen von Gesundheit und Krankheit, von Leben und Tod geschrieben. Er wählte dafür einen relativ kurzen Zeitraum vom Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts, in dem ein neuer "ärztlicher Blick" entwickelt wurde: "Die Verfügung der medizinischen Wahrnehmung, das Hellerwerden der Farben und der Dinge unter dem Blick der ersten Kliniker ist kein Mythos; am Anfang des 19. Jahrhunderts haben Ärzte beschrieben, was Jahrhunderte unter der Schwelle des Sichtbaren und des Aussagbaren geblieben war." (Foucault, a. a. 0 . , S. 10) Das lag nicht nur an dem medizinischen Fortschritt, sondern vielmehr an der Veränderung der Beziehung des Sichtbaren zum Unsichtbaren. Gilles Deleuze drückt diese Tatsache in seiner eigenen prosaischen Form so aus: "Die Geburt der Klinik konnte in dem Maße den Untertitel einer "Archäologie des Blickes" tragen, in dem jede historische Formation der Medizin ein ursprüngliches Licht modulierte und einen Raum von Sichtbarkeit der Krankheit konstruierte, die Symptome zum Reflektieren brachte, bald als Klinik mit der Entfaltung zweidimensionaler Flächen, bald als pathologische Anatomie mit den Zusammenfaltungen in einer dritten Dimension, die dem Auge die Tiefe zurückgibt und dem Leiden ein Volumen." (Deleuze, a. a. 0 . , S. 83) Dadurch, daß ein neuer Diskurs über Krankheiten möglich wurde, erlangt die Institution Klinik ihre wirkliche Bedeutung. Am Ende des 18. Jahrhunderts richtet sich der Blick des Arztes nicht in erster Linie auf den konkreten Körper, sondern es geht um eine Klassifikation der Krankheit (Nosologie). In diese Klassifikation fügt der Kranke seine persönlichen Daten ein: "Nicht das Pathologische fungiert zum Leben als Gegennatur, sondern der Kranke im Verhältnis zur Krankheit; aber auch der Arzt." (Foucault, a. a. O., S. 25) Im rationalen Raum der Krankheit haben weder Arzte noch Kranke eine volle Legitimation, sie sind nur als kaum vermeidbare Störungen toleriert. Die Wahrnehmung der Krankheit im Kranken setzt aber einen qualitativen Blick voraus: "Um die Krankheit zu erfassen, muß man dorthin
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sehen, wo es Trockenheit, Brennen, Reizung ... gibt". Die Medizin der Arten wird wieder auf das Individuelle aufmerksam. Ein weiterer Aspekt der Verräumlichung ist dann für Foucault die Eingliederung der Krankheiten in Institutionen und Praktiken. Neben der Medizin der Arten haben die Begriffe der Konstitution, der endemischen Krankheit und der Epedemie im 18. Jahrhundert eine besondere Rolle gespielt. Dadurch veränderte sich der medizinische Blick auf die Wahrnehmung von Größen und Zahlen; komplexe Beobachtungsmethoden wurden erforderlich. Es entwickelte sich ein medizinisches Bewußtsein auf Staatsebene, mit der Aufgabe der ständigen Information, Kontrolle und Zwangsdurchsetzung. Die Basis ist nicht mehr die Wahrnehmung eines Kranken in seiner Individualität, sondern ein kollektives Bewußtsein. Nunmehr kann der medizinische Raum mit dem gesellschaftlichen Raum zusammenfallen oder vielmehr ihn durchdringen. Die erste Aufgabe des Arztes ist daher eine politische. Der Kampf gegen die Krankheit muß als Krieg gegen die schlechten Regierungen beginnen. Der Mensch wird vollständig und endgültig erst dann geheilt werden, wenn er sich zuerst von Unfreiheit und Zwang befreit. Die Medizin muß neben dem Fachwissen eine Erkenntnis vom gesunden Menschen haben; d. h. sowohl eine Erfahrung des nicht kranken Menschen wie auch eine Definition des Modellmenschen. Foucault charakterisiert die Medizin bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dadurch, daß sie sich vielmehr auf Gesundheit als auf Normalität bezog. Hingegen orientiert sich die Medizin des 19. Jahrhunderts mehr an der Normalität als an der Gesundheit. Für Foucault zeigte sich eine Konvergenz zwischen den Forderungen der politischen Ideologie und der medizinischen Technologie. Die Infragestellung der Spitalstrukturen durch deren Abschaffung hatte folgende Auswirkungen auf den ärztlichen Blick: der eine Blick läßt die Krankheit in der Gesamtheit des unbekämpften sozialen Elends aufgehen; der andere Blick isoliert sie, um sie in der Wahrheit ihrer Nähe besser zu erfassen. Für ihn ist die Entwicklung der modernen Medizin der Klinik eher mit der diskursiven Struktur, in der sie tatsächlich entstanden ist, in Verbindung zu bringen als mit den Ideen der Aufklärung und der Freiheit. (Foucault, a. a. 0., S. 68) Es bestehen wesentliche Unterschiede zwischen Spital und Klinik. Im Spital hat man es mit Individuen zu tun, die Träger dieser oder jener Krankheit sind; in der Klinik hat man es mit den Krankheiten selbst zu tun. So ist festzustellen, daß durch die Abschaffung der alten Strukturen des Spitals eine unmittelbare Kommunikation ermöglicht wird. "Dieser Diskurs mußte sich einem Blick unterordnen, der sich nicht mehr damit begnügte, festzustellen, sondern der aufdeckte." (ebenda S.85) Die Klinik wird ein wesentliches Moment sowohl wissenschaftlicher Kohärenz wie auch gesellschaftlicher Nützlichkeit und der politischen Reinheit der neuen medizinischen Organisation; nicht die empirische Medizin wird anerkannt, wohl aber der Wert der Erfahrung für die Medizin. Die Klinik will sehen, charakteristische Züge isolieren, vergleichen, entscheiden, umgruppieren, nach Arten und Familien klassifizieren, (ebenda S. 103) In der medizinischen Tradition des 18. Jahrhunderts zeigt sich die Krankheit dem Beobachter in Symptomen und Zeichen. Bei den Symptomen
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scheint die sichtbar-unsichtbare Figur der Krankheit durch. Das Zeichen spricht vom Ausgang der Krankheit, von Leben und Tod. Foucault stellt fest, daß das Symptom als Signifikant sehr vieldeutig ist, denn es verweist zugleich auf die Verbindung der Phänomene untereinander, auf die Totalität, sowie auf die absolute Differenz zwischen Gesundheit und Krankheit; "jedes Symptom ist also Zeichen, aber nicht jedes Zeichen ist Symptom", (ebenda S. 107) In der Klinik des 19. Jahrhunderts kommen die diskursive und reflektierte Wahrnehmung des Arztes und die diskursive Reflexion des Philosophen genau zur Deckung, weil die Welt für sie das Amalgam der Sprache ist. "Sprechen und sehen oder genauer Aussagen und Sichtbarkeiten sind reine Elemente, apriorische Bedingungen, gemäß denen sämtliche Ideen zu einem bestimmten Zeitpunkt strukturiert werden und die Verhaltensweisen sich zeigen". (Deleuze, a. a. O., S. 87) Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatten einige Mediziner das Gefühl, die pathologische Anatomie aus einer Schattenzone herauszuführen und sie wiederzuentdecken. Eine Klinik der Symptome sieht den lebenden Körper der Krankheit, die Anatomie kann ihr nur deren Leichnam anbieten. Dieser Leichnam ist eine Täuschung, es gibt die Phänomene der Zersetzung, der Rezession oder des Verschwindens. Aus dem klinischen Anliegen, die pathologischen Verwandtschaftsstrukturen zu definieren, ist für die neue mechanische Wahrnehmung nun die Aufgabe geworden, Lokalisierungsgestalten ausfindig zu machen. "Der Begriff des Sitzes der Krankheit verdrängt endgültig den der Klasse." (Foucault, a. a. O., S. 153) Die Entdeckung des Lebensprozesses als Inhalt der Krankheit gibt ihr ein Fundament, das dem Sichtbaren so nahe wie möglich ist, die Krankheit ist nunmehr die pathologische Form des Lebens selbst. Die Abweichung gehört zum Leben. Durch das Aufdecken des bisher Unsichtbaren geht es darum, Tiefenstrukturen an die Oberfläche zu bringen; die Semiologie ist keine Lektüre mehr, sondern ein Ensemble von Techniken zum Aufbau einer projektiven anatomischen Pathologie (z. B. Beklopfen der Brust). "Zum ersten Male verbindet sich das Hören und das Berühren und das Sehen." (ebenda S. 176) "Die Medizin der Krankheiten ist zu Ende. Es beginnt die Medizin der pathologischen Reaktionen." (ebenda S. 204) 4.2 Überwachen und Strafen - Mikrophysik der Macht "Zwischen der Macht und dem Wissen gibt es eine Wesensdifferenz, eine Heterogenität, aber auch wechselseitiges Sich-Voraussetzen und gegenseitiges Vereinnahmen und schließlich den Primat des einen über das andere". (Deleuze, a. a. O., S. 103) Machtverhältnisse sind nach Foucault lokal, instabil und diffus, gehen nicht von einem Mittelpunkt aus, sind nicht stringent, drehen sich, verändern sich, stoßen auf Widerstände. Aus diesem Grund sind sie nicht einer bestimmten Institution zuordnenbar. Diese Wesensdifferenz ist für Foucault der Grund, von der Mikrophysik der Macht zu sprechen. Er beginnt in seiner Studie mit einem Beispiel feudaler Strafpraxis aus dem Jahre 1757, in dem ein Verurteilter, Francois Damien, in einer Zeremonie der Grausamkeit brutal gefoltert, gevierteilt und verbrannt wird. So stellte dieses Strafverfahren die geschädigte Integrität des Körpers wieder her, indem sie ihn durch das entsprechende Äquivalent an Martern entschädigte,
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das dem Körper des Delinquenten zugefugt wurde. Ein dreiviertel Jahrhundert später verfaßte Leon Faucher ein Referat der Zeitplanung für das Haus der jungen Gefangenen in Paris: jede Minute wird exakt geplant, überwacht und durchgeführt mit einer täglichen Arbeitszeit von neun Stunden und einer Unterrichtszeit von zwei Stunden. Die Lebensmatrix und die Zeitplanung sanktionieren nicht dasselbe Verbrechen, bestrafen auch nicht denselben Delinquenten, sondern sie definieren jeweils einen bestimmten Strafstil. Ein anschauliches Beispiel feudaler Strafjustiz gibt auch Dacia Maraini (Maraini 1991) in ihrem berühmten Roman, in dem ein blutjunger Brigant hingerichtet wird. "Die Prozession setzt sich wieder in Gang: vorneweg der Wächter mit der brennenden Fackel, dahinter der Herzog Ucria mit dem Gefeingenen im Arm ... (S. 15) ... Dort beugt sich der Herzog Ucria von Fontanasalesa zum Ohr des Verdammten hinab und fordert ihn auf, zu beichten ... Die Piazza Marina, die vorher noch leer gewesen war, ist nun voller Menschen: ein Meer von wogenden Köpfen, langgestreckten Hälsen ... (S. 19) ... Der Henker kaut noch immer Kürbiskerne und spuckt die Schalen mit einem verächtlichen Ausdruck durch die Luft ... (S. 22) ... Und die Menschenmenge lacht, schwatzt, ißt und wartet ... (S. 22) ... Als der Henker sieht, daß sein Werk nicht gelungen ist, zieht er sich mit kräftigen Armen am Galgen hoch, springt auf den Erhängten. (S. 24) Reformen am Ende des 18. Jahrhunderts sehen das Wesentliche der Strafe nicht mehr in der Bestrafung, sondern in dem Versuch zu bessern, zu erziehen und zu heilen. Im Strafsystem des 19. Jahrhunderts sind Gefängnis, Zuchthaus, Zwangsarbeiten, Aufenthaltsverbot und Deportation noch als physische Strafen aufzufassen, aber der Körper fungiert nun als Instrument: Das Individuum wird seiner Freiheit beraubt, sein Körper wird "in ein System von Zwang und Beraubung, von Pflichten und Verboten gesteckt". (Foucault 1977, S. 18) Heutzutage müssen zum Tode Verurteilte bis zum letzten Augenblick von einem Arzt bewacht werden. Foucault spricht von der Utopie einer schamhaften Justiz, die das leben nimmt und dabei jede Empfindung vermeidet, die Strafen auferlegt, die von jeglichem Schmerz befreit sind. Die modernen Rituale der Hinrichtung bezeugen diesen doppelten Prozeß - das Verschwinden des Schauspiels und die Beseitigung des Schmerzes. Der Scharfrichter wird von einer ganzen Reihe von Techniken abgelöst: Aufseher, Ärzte, Priester, Psychiater, Psychologen, Erzieher. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts geht also das große Schauspiel der peinlichen Strafen zu Ende: " Der Sühne, die dem Körper rasende Schmerzen zufugt, muß eine Strafe folgen, die in der Tiefe auf das Herz, das Denken, den Willen, die Anlagen zielt", (ebenda S. 25) Die Verurteilungen oder Schuldsprüche sind nicht mehr bloße Beurteilungen von Schuld oder Nichtschuld, vielmehr enthalten sie Normalitätsabschätzungen und technische Vorschriften in Hinblick auf eine mögliche Normalisierung. Der Protest gegen die peinlichen Strafen (Marter) wird zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Philosophen, Rechtstheoretikern und Juristen immer größer. Im 19. Jahrhundert sollte der im Verbrecher entdeckte "Mensch" zur Zielscheibe einer bessernden und ändernden Straf-Intervention werden.
105 In der Aufklärung wird der Mensch nicht mehr als Gegenstand eines positiven Wissens der Barbarei der Martern entgegengehalten, sondern als Rechtsschranke, als legitime Grenze der Strafgewalt. "Der Mensch ist nicht das Maß der Dinge, sondern das Maß der Macht", (ebenda S. 94) Es ist eine Verschiebung von der "Massenkriminalität" zu einer "Kriminalität von Außenseitern und Randständigen" zu verzeichnen, (ebenda S. 96) Eine sorgfaltige und genaue Juristenpraxis beginnt nun, auch kleine Delinquenz zu erfassen, die sie früher leichter durchschlüpfen ließ. Die neue Strategie ist die allgemeine Vertragstheorie. Der Kriminelle, der den "Gesellschaftsvertrag" gebrochen hat, wird zum Feind der gesamten Gesellschaft. Die Zeichentechnik, mit der man die Strafgewalt auszustatten versucht, beruht auf fünf bis sechs Hauptregeln, die bis in die heutige Zeit hinein wirken. 1) Regel der minimalen Quantität (Das Übel muß den Vorteil übertreffen, welches das Verbrechen mit sich bringt) 2) Regel der ausreichenden Idealität (Die Bestrafung hat nichts mit dem Körper zu tun, sondern mit der Vorstellung) 3) Regel der vollkommenen Gewißheit (Die Gesetze müssen völlig klar sein, veröffentlicht, das Verfahren darf nicht geheim sein) 4) Regel der generellen Wahrheit (Die Feststellung des Verbrechens muß den allgemeinen Kriterien aller Wahrheit unterliegen, der Angeklagte hat bis zur endgültigen Überführung als unschuldig zu gelten) 5) Regel der optimalen Spezialisierung (alle Rechtsbrüche müssen qualifiziert werden, das Strafgesetzbuch ist vonnöten). Das Gefängnis muß sich wandeln, es ist unvereinbar mit der ganzen Tiefe der Strafverfahren, der Strafvorstellung, der Straffunktion, des Straf-Zeichens sowie des Straf-Diskurses: "Daß, das Gefängnis, wie heute, den gesamten Strafbereich zwischen Todesstrafe und den leichten Strafen abdecken kann, ist eine Idee, die den Reformern nicht ohne weiteres kommen kann. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Haft zur bestimmenden Form der Züchtigung. 1880 verblieben vier Hauptstrafen im französischen Strafgesetzbuch: Die Zwangsarbeit, die Galeere und das Gefängnis, das Zuchthaus bzw. das Besserungshaus. Die Arbeit nimmt nun an Bedeutung zu, wird sogar integraler Bestandteil. In dem fortgeschrittenen Modell von Philadelphia, 1790, finanzierte sich das Gefängnis durch die Arbeit der Häftlinge. Zwangsarbeit, totale Zeitplanung und pausenlose Überwachung sorgten dafür, daß jeder Augenblick des Tages mit einer bestimmten Tätigkeit verplant wurde. Im Laufe des klassischen Zeitalters spielte sich eine Entdeckung des Körpers als Gegenstand und Zielscheibe der Macht ab. Die Aufmerksamkeit galt dem Körper, den man manipuliert, formiert und dressiert, der gehorcht, antwortet. "Überwachen und Strafen analysiert das Disziplinar-Diagramm, insofern es die Wirkungen der alten Souveränität durch eine dem sozialen Feld immante rasterförmige Erfassung ersetzt." (Deleuze, a. a. 0 . , S. 117 f.) Unsere heutigen Disziplinar-Gesellschaften laufen über Kategorien der Macht (Handlungen, die auf Handlungen einwirken), die man wie folgt definieren kann: "eine Aufgabe auferlegen oder einen Nutzeffekt bewirken, eine Bevölkerung kontrollieren oder das Leben verwalten", (ebenda S. 118) Für Foucault steigert die Disziplin die Kräfte des Körpers, um die ökonomische Nützlichkeit zu stärken und schwächt diesselben Körper, um sie politisch gefügig zu machen. "Die Disziplin ist die Kunst des Ranges und die Technik der Transformation von Anordnungen. Sie individualisiert die
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Körper durch eine Lokalisierung, die sie nicht verwurzelt, sondern in einem Netz von Relationen verstrickt und zirkulieren läßt." (Foucault 1977, S. 187) Kontrolle, aber auch die "Organisation von Entwicklungen" stehen in einem engen Zusammenhang mit Disziplin. Foucault macht an der Entwicklung des französischen Schulsystems deutlich, daß die militärische Disziplinarzeit allmählich in die pädagogische Praxis übergreift: (die Disziplinarzeit) "spezialisiert die Zeit der Ausbildung, indem sie sie von der Erwachsenen-Zeit, von der Berufe-Zeit ablöst, indem sie durch abgestufte Prüfungen voneinander geschiedene Stadien organisiert, indem sie Programme festlegt, die jeweils während einer bestimmten Zeit ablaufen müssen und Übungen von zunehmender Schwierigkeit enthalten, indem sie die Individuen j e nach dem Durchlauf durch diese Serien qualifiziert." (ebenda S. 205) "Es entsteht eine analytische Pädagogik, die in ihrem Detail sehr sorgfaltig ist ... und in ihrem geschichtlichen Auftreten sehr zukunftsweisend." (ebenda S. 205) So fordert zu Beginn des 18. Jahrhunderts Demian eine Aufteilung des Lesenslernens in sieben Niveaustufen, vom Niveau Buchstaben zu erkennen bis zum Niveau, Handschriften zu lesen. Diese Einreihung von Tätigkeiten eröffnet die Möglichkeit einer Besetzung der Dauer durch Macht: Die Möglichkeit einer detaillierten Kontrolle und pünktlichen Intervention in jedem Moment der Zeit, die Möglichkeit des Beurteilens nach Niveauerreichung und die Möglichkeit der Ausnutzung der Zeit und der Tätigkeit im Endresultat, das die Tauglichkeit des Individuums zeigt. Die Disziplin ist auch die Kunst der Zusammensetzung von Kräften zur Herstellung eines leistungsfähigen Apparates. Der einzelne Körper wird als Element aufgefaßt, das man plazieren, bewegen und an andere Elemente ankoppeln kann. Nicht mehr seine Tüchtigkeit oder seine Kraft definiert ihn, sondern der Platz, den er einnimmt, der Abstand, den er überbrückt und die Regelmäßigkeit und Ordnung seiner Stellungswechsel. Der Erfolg der Disziplinarmacht liegt im Einsatz von einfachen Instrumenten, wie dem "hierarchischen Blick", den normierenden Sanktionen und deren Kombination z. B. im Prüfungsverfahren. Dabei gilt der Grundsatz, daß alles das strafbar ist, was nicht konform ist, z. B. die Unfähigkeit eines Schülers, seine Aufgaben zu bewältigen. Die Disziplinarstrafe hat dann die Aufgabe, Abweichungen zu reduzieren. Die Prüfung ist in Disziplinaranstalten deswegen so stark ritualisiert, weil "sie eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung" ist (ebenda S. 238) Die Überlagerung der Machtverhältnisse und der Wissensbeziehungen erreicht in der Prüfung ihren sichtbarsten Ausdruck. In gleicher Weise - wie z. B. das Spital zum "Prüfungsapparat" wurde - wird auch die Schule zu einer pausenlosen Prüfungseinrichtung, die den gesamten Unterricht begleitet. "Die Prüfung begnügt sich nicht damit, eine Lehrzeit abzuschließen, vielmehr ist sie eines von deren ständigen Elementen und begleitet sie in einem dauernd wiederholten Machtritual." (ebenda S. 240) Für Foucault sind drei wesentliche Funktionen der Prüfung erkennbar: 1) Die Prüfung kehrt die Ökonomie der Sichtbarkeit in der Machtausübung um 2) Die Prüfung macht die Individualität dokumentierbar 3) Die Prüfung macht mit Hilfe ihrer Dokumentationstechniken aus jedem Individuum einen "Fall". "Letzten Endes steht das Examen im Zentrum von Prozeduren, die das Individuum als Effekt und Objekt von Macht,als Effekt und Objekt von Wissen konstituieren." (ebenda S. 247)
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Für Foucault gehört auch der Panoptismus zu den Disziplinareinrichtungen. "Überwachen und Strafen beschreibt die Architektur des Gefängnisses, das Panopticon, als eine Art Licht-Form, die die Zellen an der Peripherie durchflutet, den Zentralturm aber im Dunkeln beläßt und eine Einteilung vornimmt zwischen den Gefangenen, die gesehen werden, ohne zu sehen, und dem beliebigen Beobachter, der alles sieht, ohne gesehen zu werden. Sowenig diese Aussagen ablösbar sind von ihren Ordnungen, sowenig sind die Sichtbarkeiten von ihren Maschinen ablösbar." (Deleuze, a. a. O., S. 83) Das Panopticon von Bentham ist die architektonische Gestalt dieser Zusammensetzung: "Derjenige, der der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus, er internalisiert die Machtverhältnisse, in welchen er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung." (Foucault 1977, S. 260) Das Panopticon wurde vielfältig eingesetzt, z. B. für die Besserung von Sträflingen, die Heilung von Kranken, die Überwachung von Wahnsinnigen und die Beaufsichtigung von Arbeitern. Das Panopticon ist als ein verallgemeinerungsfahiges Funktionsmodell zu verstehen, das die Beziehungen der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert. "Das panoptische Schema ist ein Verstärker für jeden beliebigen Machtapparat; er gewährleistet seine Ökonomie (den rationalen Einsatz von Material, Personal, Zeit), er sichert seine Präventivwirkung, sein stetiges Funktionieren und seine automatischen Mechanismen." (ebenda S. 265) Im letzten Teil seiner Arbeit beschreibt Foucault das Gefängnis "das Mikrokosmos einer vollkommenen Gesellschaft sein soll, in der die Individuen in ihrer moralischen Existenz isoliert sind und ihre Vereinigungen in einen starren hierarchischen Raum eingespannt sind, jede Beziehung nach der Seite ist unmöglich, Kommunikation gibt es nur im Sinne des Vertikalen." (ebenda S. 304 f.) Für Foucault bilden seit beinahe 150 Jahren sieben "Universalmaximen" den "angemessenen Strafvollzug": 1) Das Prinzip der Besserung 2) Das Prinzip der Klassifikation 3) Das Prinzip der Flexibilität der Strafen 4) Das Prinzip der Arbeit als Pflicht und als Recht 5) Das Prinzip der Besserungsstrafe als Erziehung 6) Das Prinzip der technischen Kontrolle der Haft und 7) Das Prinzip der Anschlußinstitution z. B. Resozialisierung. Alle in der Gesellschaft angelegten Disziplinareinrichtungen sind von Foucault unter dem Begriff "das große Kerkernetz" zusammengefaßt worden. In diesem weitverzweigten System werden "Disziplinarkarrieren" durch Ausschließung und Verstoßungen organisiert. In Uberwachen und Strafen wird eine detaillierte Liste der Werte erstellt, "die das Kräfteverhältnis im Verlaufe des 18. Jahrhunderts einnahm: im Raum verteilen (einschließen, kontrollieren, einordnen, einreihen..), zeitlich ordnen ( die Zeit einteilen, die Handlung programmieren, die Gebärde zerlegen...) raum-zeitlich zusammensetzen" (Deleuze, a. a. O., S. 100). Wie Deleuze es ausdrückt, ist für Foucault "Macht im Wesen nach nicht repressiv (da sie anregt, veranlaßt, produziert), sie wird eher ausgeübt als besessen (da sie sich nur in bestimmter Form, als Klasse, oder als Staat besitzen läßt); sie verläuft durch die Beherrschten wie durch die Herrschenden (da sie durch alle in Beziehung stehenden Kräfte hindurchgeht). Ein tiefsitzender Nietzscheanismus." (ebenda S. 100)
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Literatur zum 5. Kapitel Boekman, J. M.: Strukturalismus. Freiburg/München 1971 Deleuze, G.: Foucault. Frankfurt/M. 1987 Eco, U.: Der Name der Rose. München/Wien 1982 Eco, U.: Nachschrift zum "Namen der Rose". München 1986 Foucault, M.: Von der Subversion des Wissens. München 1974 Foucault, M.: Die Geburt der Klinik. Blickes. Frankfurt/M. 1976
Eine Archäologie des ärztlichen
Foucault, M.: Überwachen und Strafen. Frankfurt/M. 1977 Goldman, L.: Der genetische Strukturalismus in der Literatursoziologie. Hrsg. Peter Bürger. Frankfurt/M. 1979 Jaeggi, U.: Ordnung und Chaos. Strukturalismus als Methode und Mode. Frankfurt/M. 1970 Lévi-Strauss, C.: Strukturale Anthroplogie II. Frankfurt/M. 1975 Marami, D.: Die stumme Herzogin. München/Zürich 1991 Reif, A. (Hrsg.): Antworten der Strukturalisten. Hamburg 1973 Schiwy, G.: Der französische Strukturalismus. Reinbek 1969 Wahl, F.: Einführung in den Strukturalismus. Frankfurt 1973
Kapitel 6 Die Figurationstheorie als Orientierungsgrundlage für pädagogisches Handeln
1. Das Figurationsmodell Norbert Elias' Abseits vom Mainstream - aber dennoch aktueller denn je - befindet sich der Figurationsansatz Norbert Elias'. Im Unterschied zu anderen formalen Soziologien vermied Elias den Begriff "Theorie" für seine Methode. Er verwandte stattdessen die Termini "Ansatz" oder "Modell". Damit sollte deutlich gemacht werden, daß es sich nicht um ein festgefügtes, abstraktes Denkgebäude handelt, sondern daß mit dem Figurationsansatz der Prozeßcharakter des Gesellschaftlichen widergespiegelt werden sollte. Der Kritik Gabor Kiss', "Daß die für die Zeit zwischen 1940 und 1970 innovative Zivilisationstheorie Norbert Elias' durch eine kommunikationswissenschaftliche Zivilisationstheorie von Luhmann überwunden wurde, und daß sich die als Elias' Schüler verstehenden Figurationssoziologen mit dieser Theorieentwicklung nicht auseinandergesetzt haben" (Kiss 1991, S. 94) ist Elias durch frühzeitige Ablehnung der Systemtheorie, besonders der Interpenetration - der wechselseitigen Durchdringung - entgegengetreten: "Wie man sich auch eine solche, gegenseitige Durchdringung vorstellen mag, was kann die Metapher anderes bedeuten, als daß es sich um zwei verschiedene Wesenseinheiten handelt, die zunächst getrennt existieren und die sich dann gewissermaßen nachträglich interpenetrieren (Norbert Elias 1969 zitiert nach: Kuzmics und Mörth, 1991, S. 22).
2. Zur Definition des Figurationsmodells Elias' grundlegendes kultursoziologisches Werk "Über den Prozeß der Zivilisation" enthält erste Details, Intentionen dieser Methode. Er versucht die Interdependenz des Menschen darzustellen, er spricht von "Verflechtungsordnungen, die den Gang des geschichtlichen Wedels bestimmen." (Elias 1976, S. 316). Diese Sichtweise hat weder eine rein individualistische noch strukturalistische Perspektive. Als empirisch orientierter Menschenwissenschaftler mußte Elias deshalb Geschichtsauffassungen ablehnen, die den Gesellschaftsprozeß auf das Wirken anonymer Kräfte statt auf das Handeln lebendiger Menschen zurückführt. In seiner Einführung in die Soziologie (Elias 1981) gelingt es ihm, deutlich zu machen, daß das Figurationsmodell sich vom Grundschema egozentrischer Gesellschaft loslöst; daß das eigene Verhältnis zur Gesellschaft neu formuliert wird, wenn man sich als aktiver Part der Gesellschaft begreift. Elias hat sich bemüht, die Verflechtung der Menschen miteinander zu einem sozialen Netzwerk darzustellen. Als ein Realtyp bringt "Figuration" genau das zum Ausdruck, was wir "Gesellschaft" nennen. Darin wird die
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Ablehnung der Systemtheorie erkennbar, daß für ihn personales und soziales System nicht trennbar sind. Figurationen sind Interdependenzgeflechte, in denen sich mehr oder weniger labile Machtbalancen entwickeln, sich affektive Valenzen bilden. Wichtig bleibt, daß Figuration und Prozeß zusammengehören. Elias analysiert Figuration immer nur als Aktion. Die Komplexität einer Figuration ist bestimmt durch die Anzahl der Beteiligten und die Anzahl der Ebenen, auf der die Beteiligten interagieren. Die Familie als Figuration ist relativ klein; Schule, Betrieb stellen sich komplex dar. Daraus, daß eine Vielzahl von Menschen zu bestimmten, unterschiedlichen Figurationen gehören, und dadurch, daß jeder dieser Menschen die Handlungen des anderen in irgendeiner Weise beeinflußt, verselbständigt sich diese Figuration gegenüber den Menschen, "die zum Teil blind, ziellos und hilflos dahintreiben." (Elias 1981) Die Menschen sind in vielfältiger Weise miteinander verbunden. Sie sind affektiv liiert, interagieren als Personen miteinander, sind ökonomisch abhängig, bilden Machtgefüge oder haben aufgrund räumlicher Nähe Gemeinsamkeiten. Auch in einer Schulklasse oder im Lehrerkollegium lassen sich diese sozialen Tatsachen belegen. Der einzelne Lehrer empfindet bestimmte Kolleginnen sympathischer als andere, die Lehrer müssen zum Teil zum Beispiel bei Zeugniskonferenzen miteinander den Erfolg einzelner Schüler beurteilen, sind aber auch selber von der Leistungsbeurteilung des Direktors oder des Schulrates abhängig. Das Lehrerzimmer als Ort räumlicher Nähe stiftet gemeinsamen Sinn und stärkt den privaten Kontakt miteinander. In der konkreten Analyse arbeitet Elias mit dem Begriff Institution. In der vielschichtigen Institution Schule kann man verschiedenen Fragen nachgehen: 1. Wie komplex ist diese Figuration, wieviel Beteiligte auf wievielen Ebenen hat sie? 2. Welche qualitativen Unterschiede weisen die einzelnen beteiligten Gruppen auf, und welche unterschiedlichen Interessen lagen haben sie? 3. Welches ist die Art der Verknüpfung des einzelnen Menschen zum sozialen Netzwerk? 3. Figuration in der Schule Diesen Fragestellungen kann an dieser Stelle nur rudimentär und andeutungsweise nachgegangen werden. Wichtig ist das Verstehen der Analysemethode. Zu den konzeptionellen Innovationen Norbert Elias' gehört sein "Fürwörtermodell". In der Tat ist für Elias der Satz der persönlichen Fürwörter - er spricht vom elementaren Koordinatensatz - der elementarste Ausdruck für die fundamentale Bezogenheit jedes Menschen auf andere, für die fundamentale Gesellschaftlichkeit jedes menschlichen Individuums. Hiermit wird die Überwindung des Subjektivismus ("Homo clausus") zum Denken des Menschen in Figuration ("Homines aperti") deutlich: "Es dient dem Verständnis dessen, was die Fürwörterserie recht deutlich anzeigt, daß nämlich der Begriff "Individuum" sich auf interdependente Menschen in der Einzahl, der Begriff der "Gesellschaft" sich auf interdependente Menschen in der Mehrzahl bezieht." (Elias 1981, S. 135) "Die Interdependenz jedes Menschen als jemand, der in Bezug auf sich selbst "ich", in Bezug auf andere "du", "er" oder "sie", "wir", "ihr" und "sie" sagen kann, ist eine
111 der elementaren, aber universalen Aspekte aller menschlichen Figurationen. (ebenda, S. 138, 139). Die Schule ist ein komplexes Netzwerk. Sie besteht aus verschiedenen Interdependenzgeflechten und unterschiedlichen Figurationen. Selbst in einer konkreten Schule gibt es unterschiedliche Aufgabenzuweisungen, Hierachien, Gruppen. Ziele und Interessen können deutlich divergieren. Schule gehört in zunehmender Weise immer mehr zu den offenen Institutionen; externe Beteiligung zum Beispiel der Eltern am Unterrichtsgeschehen wird nicht nur geduldet, sondern auch immer mehr gewünscht. Schule ist aber nicht nur eine pädagogische Institution, sondern auch eine verwaltende. Schule ist nicht nur Sozialisationsinstanz, sondern sie übernimmt auch Allokations- und Selektionsfunktion. Nicht nur zu guter Letzt, Sozialisation endet nicht mit dem Jugendalter. Spätestens seit Robert Dreeben wissen wir, daß frühkindliche familiale Sozialisation, schulische - und kritische Sozialisation nur einzelne Sequenzen des Sozialisationsprozesses sind und die Schule "viele wichtige Verbindungen zu anderen Institutionen in verschiedenen Stadien des Lebenszyklus aufweist und der schulische Ausbildungsprozess erheblich durch die Institutionen geprägt ist. (R. Dreeben, 1980, S. 1,2) "Um es auf eine kurze Formel zu bringen, die unterschiedlichen Schultypen von der Vorschule bis zur Altersuniversität begleiten einen höchstpersönlichen, aber auch gesellschaftlich notwendigen "Long-life-learning-Prozeß". Aber zurück zu unseren Ausgangsfragen. Wir wollen den Versuch machen, anhand von zwei unterschiedlichen Schultypen "Grundschule" und "Private Schule der kaufmännischen Erwachsenenbildung" einige Aspekte zu beleuchten, aber auch Unterschiede darzustellen. Beginnen werden wir mit der Grundschule, alternierend mit der Privatschule. 3.1 Der Schulbetrieb in der Grundschule aus figurativer Sicht A I ) Kernstück dieser Figuration ist die einzelne Schulklasse mit ihrem Lehrer1. In den Grundschulklassen bildet sich eine relativ feste Figur, da der Lehrer den weit überwiegenden Teil des Unterrichts gestaltet, der Unterricht ist im Regelfall ganzheitsorientiert. Schulklasse selbst als eigenständiges soziales1 Netzwerk sollte gesondert betrachtet werden. Das Lehrerkollegium ist mehr egalitär ausgerichtet, während die Schulleitung (Rektor, Konrektor) hierarchische Figurationen darstellen. Nicht vergessen darf man die handwerklichen und verwaltenden Berufe, die eigene Interessen haben und der Lehrerschaft hierarchisch beigeordnet sind. Einen wichtigen externen Einfluß üben die Schulaufsichtsbehörde und die Elternschaft aus, besonders über die Elternbeiräte. Das Lehrer-Schülerverhältnis ist in der Grundschule in der Regel asymmetrisch. Der Lehrer unterrichtet, die Schüler lernen. Aber die starke Akademisierung der Gesellschaft wirkt sich auch auf die Grundschulkinder aus, so daß dieses Grundprinzip häufig unterbrochen wird. Zum Beispiel erläutert die Tochter eines MineralogieProfessors in der zweiten Klasse ihre umfangreiche Gesteinssammlung. Und kehrt damit das Lehrer-Schülerverhältnis um. Die Schulleitung ist der Lehrerschaft vorgeordnet, sie verfugt häufig über langjährige Unterrichtspraxis und Zusatzqualifikation (z. B. Schulleiterlehrgang). Hausmeister und Se1
Wenn ich die männliche Form wähle, ist auch immer die weibliche Form mitgedacht.
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kretärin bilden zwar formell erheblich niedrigere Rangstufen in der Schulhierarchie, beeinflussen aber auf informellen Wegen stark das Schulgeschehen. Die Eltern beteiligen sich immer häufiger am Unterrichtsablauf, versuchen auch einen höheren Einfluß auf das Erzieherverhalten des Lehrers auszuüben. 3.2 Der Schulbetrieb in der Privatschule aus figurativer Sicht Lehrer und Schüler in der Erwachsenenbildung sind naturgemäß mehr gleichrangige Partner. Schüler bringen Berufserfahrung aus unterschiedlichen Gebieten ein; die Lehrer bemühen sich in der Kürze der vorhandenen Umschulungs- oder Weiterbildungszeit didaktisch auf das vorhandene Lernund Wissenspotential aufzubauen und abschlußbezogen auszubilden. Lehrer und Schüler stehen hinsichtlich des Prüfungserfolges unter dem gleichen Erfolgsdruck; nur eine effiziente Ausbildung sichert die zukünftige Teilnehmerlnnenakquisition und somit auch - im Gegensatz zum Beamtenstatus des Grundschullehrers - langfristige Berufsperspektiven für alle an der Schule Tätigen. Wichtige Einflußgrößen sind die Kostenträger, wie z. B. das Arbeitsamt, die über Umschulungsangebot, Lehrinhalte und Stundensätze mitbestimmen. 3.3 Die Schulleiterrolle in der Grundschule aus figurativer Sicht Wenn man sich die Rolle des Rektors herausgreift, werden schon seine unterschiedlichen Funktionen für den Schulbetrieb deutlich. Obwohl er in einer exponenten hierarchischen Position angesiedelt ist, hat er nicht nur Disziplinierungs- sondern auch Integrationsfunktionen. Sein Beitrag für die Gesamtfiguration ist vielfältig. Er hat für die optimale Organisation der Binnenstruktur genau so zu sorgen, wie offizielle Außenkontakte mit Schulverwaltung und anderen Trägern des öffentlichen Lebens wahrzunehmen. Als Schnittstelle zwischen Pädagogik und Administration werden von ihm unterschiedliche Kompetenzen verlangt. Er befindet sich als Bindeglied in unterschiedlichen Figurationen, an die er mehr oder weniger stark affektuell, staatlich und beruflich gebunden ist. An ihm können auch die unterschiedlichen Machtdifferentiale deutlich gemacht werden. Für Elias ist Macht ein Schlüsselkonzept in der Analyse von Figurationen. Macht bedeutet für ihn "die Chance, die Handlung der anderen in ihre Richtung zu steuern." Elias, 1970, S. 97 f.) Mit Hilfe der Machtbalancen lassen sich Struktureigentümlichkeiten zum Beispiel zwischen dem Rektor und dem einzelnen Lehrer darstellen. 3.4 Die Aufgaben der psychologischen Begleitung und Beratung in der Privatschule aus figurativer Sicht In der gleichen Analytik kann man sich fragen: Was bedeutet die psychologische Beratung für den Schulbetrieb in der Erwachsenenbildung? Die Position des Psychologen läßt sich mit einer betrieblichen Stabsfunktion vergleichen. Sie ist nicht direkt in den Instanzen und den Entscheidungen. Es wird primär diagnostische Arbeit verlangt, Entscheidungshilfe über Berufseignung und Umschulungsabbruch von Teilnehmern wird erwartet. Da-
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neben wird psychosoziale Einzelfallhilfe genau so angeboten wie unterrichtsbegleitende Lernhilfen (z. B. Prüfungsangstabbau, wie lerne ich Lernen?). Der Psychologe befindet sich in der Mitte der Figuration, aber auch jeweils an den Rändern der Teilfiguration: Schulklasse, Lehrerkollegium etc. Er wird nicht mit jedem Umschüler konfrontiert, nicht in jeder Klasse entstehen gruppendynamische Schwierigkeiten. Sein Beitrag für den Umschulungsbetrieb ist punktuell, seine Leistungen für die einzelnen Teilfigurationen sind variabel. Kritische Interpretation Diese grobe Vereinfachung möglicher Figurationsmodelle in der Schule diente nur der Plastizität und Veranschaulichung. Sie kann nicht die Fülle der unterschiedlichen menschlichen Beziehungen erfaßbar und begreifbar machen. Elias hat selbst auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die bei der Zunahme der Gesellschaftsmitglieder in einer Figuration bestehen. Er hat das anhand von Spielmodellen als Metapher für Menschen, die Gesellschaft miteinander bilden - beschrieben. Diese Spielmodelle haben den Charakter von Lehrmodellen, die vor allem dazu dienen sollen, die Umorientierung des Vorstellungsvermögens zu erleichtern, um sich klarzumachen, welcher Art die Aufgaben sind, denen die Soziologie gegenübersteht. Mehr oder weniger fluktuierende Machtbalancen bilden ein integrales Element aller menschlichen Beziehungen: "Aber ob die Machtdifferentiale groß oder klein sind, Machtbalancen sind überall dort vorhanden, wo eine funktionale Interdependenz zwischen Menschen besteht." (ebenda, S. 77) Um ein qualitatives Element in die Struktur- und Beziehungsanalyse von Figuration einzubringen, verwendet Elias bei den Spielmodellen den Begriff der relativen Spielstärke; das bedeutet, daß "wie beim Schachspielen jeder Zug des einen durch die Spielstärke des anderen und umgekehrt dargestellt werden kann." (ebenda S. 81) Das Charakteristikum eines einfachen Zwei- Personen-Spieles ist, daß "um so weniger man in der Lage ist, die Spielfiguration zu kontrollieren, je mehr gewinnt das Spiel den Charakter eines sozialen Prozesses und dadurch wird der Vollzug eines individuellen Planes verhindert." (ebenda, S. 85) Wenn man dieses Modell an der Gesamtfiguration Schule erprobt, stellt man fest, daß die Zahl der beteiligten Spieler relativ hoch ist. Es wird immer schwerer für den einzelnen Spieler, sich ein Bild vom Spielverlauf und der sich wandelnden Spielfiguration zu machen. Norbert Elias hat dabei einen Index der Komplexität der Gesellschaften entwickelt, um zu zeigen, in welcher Weise die Beziehungsmöglichkeiten wachsen, wenn die Zahl der Menschen wächst. Hier stößt der Figurationsansatz an seine Grenzen. Spielmodelle und Fürwörterserie sind sehr begrenzte Analyseelemente für Beziehungen. So kritisiert bereits Volker von Borries 1980 in seiner Dissertation mit Recht, daß eine Schwachfunktion des Ansatzes ist, daß die Dynamik des Wandels -
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die einzige soziale Konstante - nicht erklärbar ist. (V. v. Borries, 1980)
4. Etablierte - Außenseiter — Figuration Im Rahmen der Interaktionstheorien sind wir bereits auf Stigmatisierungsprozesse eingegangen. Norbert Elias und John L. Scotson haben in einer anschaulichen Studie in "Winston Parva" die Etablierten - Außenseiterbeziehung beschrieben. (Elias/Scotson 1990) Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Beobachtung, daß das soziale Gefüge der Gemeinde bestimmt war zwischen zwei Gruppen: den Alteingesessenen/Etablierten und den Zuzüglern/Außenseitern. Innerhalb der beiden Gruppen gab es weitere Unterteilungen, so eine führende Schicht der Alteinwohner und eine Minorität von "Problemfamilien" unter den Neuankömmlingen. Erstaunlich war die Tatsache, daß die einzige Quelle für den Stigmatisierungsprozeß die Wohndauer war. "Ausschluß und Stigmatisierung der Außenseiter waren per se mächtige Waffen, mit deren Hilfe die etablierte Gruppe ihre Identität behauptete, ihren Vorrang sicherte und die anderen an ihren Platz bannte." (ebenda S. 12) Für Elias zeigte sich am Beispiel Winston Parva en miniature ein universal menschliches Thema. In diesem Sinne diente das Modell einer EtabliertenAußenseiterfiguration als eine Art "empirisches Paradigma" (ebenda, S. 10). Der Kern dieser Figuration ist eine ungleiche Machtbalance mit den Spannungen, die daraus erwachsen. "Eine Gruppe vermag eine andere nur solange wirksam zu stigmatisieren, wie sie sich in Machtpositionen sieht, zu denen die stigmatisierte Gruppe keinen Zugang hat." (ebenda, S. 14) Im Extremfall werden Außenseitergruppen bei großen Machtdifferentialen als kaum mehr menschlich betrachtet. Was aber ist das Charakteristische für solche Gruppenprozesse? Elias sagt, "daß die Komplementarität von (eigenem) Gruppencharisma und (fremder) Gruppenschande zu den bedeutsamsten Aspekten der Etablierten- Außenseiterbeziehung des Typs wie in Winston Parva gehörte." (ebenda S. 16) Die Teilhabe an der Überlegenheit und dem einzigartigen Charisma einer Gruppe ist gleichsam der Lohn für die Befolgung gruppenspezifischer Norm. Die Exklusivität der Etablierten hat auf der anderen Seite auch zur Folge, daß Außenseiter kollektiv und individuell als anomisch empfunden wurden. Natürlich kann der Grad der Kohäsion der etablierten Gruppen sehr unterschiedlich sein. (Elias spricht dann von Kohäsions- oder Integrationsdifferentialen). In einer Gruppe mit einer hochgradigen Kohäsion wirkt die interne Gruppenbildung als ein regulativer Faktor, der das Empfinden und Verhalten der Gruppenzugehörigen zutiefst beeinflußt. Elias weist darauf hin, daß das Ideal einer rationalen Regelung menschlicher Beziehung häufig den Zugang zu der Struktur und Dynamik von Etablierten-Außenseiterfiguration versperrt und zu den weitreichenden Gruppenphantasien, die sich daraus ergeben, (ebenda, S. 34) Stigmatisierung ist häufig verknüpft mit kollektiven Phantasien, emotionalen Vertrautheiten. Die Mitglieder dieser etablierten Gruppe rechtfertigen damit ihr Vorurteil. Dabei verwandelt sich das soziale Stigma zu einem materiellen Stigma, es wird verdinglicht. Es erscheint als objektive Gegebenheit. Aber solche Etablierten-Außenseiter-
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Figurationen sind einem stetigen Wandel unterworfen, und man ist erstaunt darüber, daß trotz der Aufstiegsbewegung ehemaliger Außenseitergruppen es an einer weitgespannten Theorie fehlt. 5. Zeit und Lernen Zu Beginn dieser Zeitbetrachtung erscheint es sinnvoll, etwas Grundsätzliches beizutragen. Norbert Elias beginnt seine Ausführungen damit, daß "die große gesellschaftliche Bedeutung der physikalischen Gesellschaften in unserem Zeitalter dazu beigetragen hat, daß Zeit mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als eine Gegebenheit erscheint, die in den großen Zusammenhang des nichtmenschlichen Naturgeschehens gehört und daher als Gegenstand ausführlicher Untersuchungen in den Kompetenzbereich des Physikers." (Elias 1984, S. 9) Das führte sicherlich lange Zeit zu einer Trennung zwischen "objektiven" (naturgegeben, unabhängig von Mensch und Gesellschaft) und "subjektiven" Auffassungen (in der Natur des Menschen angelegte Vorstellung). Aber wo immer mit Zeit operiert wird, sind in der Tat immer Menschen in ihrer "Umwelt", also soziale und physische Abläufe zugleich im Spiel. Elias beantwortet seine selbstgestellte Frage "Wozu brauchen Menschen Zeitbestimmung?" so: "Der Ausdruck Zeit verweist auf dieses In-Beziehungsetzen von Positionen oder Abschnitten zweier oder mehrerer kontinuierlich bewegter Geschehensabläufe ... . Als standardisiertes Bezugsmuster, als regulative und kognitive Symbole erhalten diese Bezugseinheiten so den Sinn von Zeiteinheiten." Nicht nur, daß man Zeit zur Orientierung bei der Erledigung einer Fülle verschiedener Aufgaben braucht, die Zeit ist auch eine je nach dem Stand der sozialen Entwicklung verschiedene soziale Einrichtung. Der einzelne Mensch lernt beim Heranwachsen die in seiner Gesellschaft gebräuchlichen Zeitsignale zu verstehen und sich im Verhalten an ihnen zu orientieren. Daß Zeit auch einen instrumentellen Charakter hat, zeigt nicht nur die Erfindung der Uhren, sondern wird auch erlebt im täglichen beruflichen Alltag, insbesondere auch in Prüfungssituationen. Der soziale Fremdzwang der Zeit, der deutlich wird beim Kalender, bei Fahrplänen, aber auch bei Lernvorgaben, führt schon frühzeitig zur Ausbildung individueller Selbstzwänge. Probleme ergeben sich oft dann, "wenn Symbole im Laufe ihrer Entwicklung einen sehr hohen Grad an Realitätsangemessenheit gewonnen haben; dann ist es für den Menschen oft schwer, zwischen Symbol und Realität zu unterscheiden." (ebenda, S. 37) Zeit hat für Elias immer eine universelle Dimension, sie ist Ausdruck dafür, daß Menschen Positionen, Dauer von Intervallen, Tempo der Veränderung und anderes mehr in diesem Flusse zum Zwecke ihrer eigenen Orientierung zu bestimmen suchen, (ebenda, S. 47) Für Elias hat die Zeit primär die Funktion als a) Kommunikationssymbol (Wort und Zeit), b) Orientierungsmittel und c) als Regulierungsinstrument. Alle drei Elemente sind nicht analytisch trennbar, sie haben vielmehr einen multifunktionalen Charakter. Zeit brauchen Menschen als Orientierungsmittel zur Bewältigung exakt benennbarer gesellschaftlicher Aufgaben. Zeit begrenzt auch Emotionen und Triebe (Regulierungscharakter), versachlicht Handlungsabläufe. Lehrer und Schüler stehen unter "Zeitnöten". Lehrpläne sind "durchrationalisiert".
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In behavioristischer Sichtweise sind Fragen nach zeitlichen Verarbeitungsprozessen uninteressant. E s steht aber fest, daß Aufgaben, die zu der Lösung höhere kognitive Denkprozesse erfahren, gegen Zeitdruck besonders empfindlich sind. Auch gruppendynamische Prozesse leiden unter zu großer S t r a f f u n g . Auch wenn viele Arbeitsprozesse unter großer Zeitintensität erledigt werden müssen - hier hilft Routineerwerb durch Übung - sollte doch im allgemeinbildenden Schulbetrieb die Erhöhung der Lern- und Verhaltenstempi keine wesentliche Rolle spielen.
6. Engagement und Distanzierung Von besonderer B e d e u t u n g für den Hochschulbereich sind Elias' wissenssoziologische Schriften 1 (Elias, 1983). Ahnlich wie andere Wissenschaftsrichtungen zwischen objektiv-subjektiv oder qualitativ- quantitativ unterscheiden, differenziert er zwischen den polaren Begriffen Engagement und Distanz. J e d e s Erwachsenenverhalten befindet sich auf der S k a l a zwischen diesen beiden Endpolen: Die Möglichkeiten eines geordneten Gruppenlebens beruhen auf d e m Zusammenspiel zwischen engagierten und distanzierten Impulsen in menschlichem Denken und Handeln, die sich gegenseitig in Schach halten, (ebenda, S. 10) Besonders in den Naturwissenschaften werden durch institutionalisierte Kontrollverfahren Tendenzen z u m E n g a gement begrenzt. Aber auch Naturwissenschaftler sollen sich im klaren sein, daß engagierte Formen des Denkens auch in unseren "postindustriellen Gesellschaften" integrale Bestandteile der Naturerfahrung bleiben. Zunehmend werden aber auch die Netzwerke der menschlichen Tätigkeiten komplexer, weiter gespannt und fester geknüpft. "Mehr und mehr Menschengruppen werden voneinander abhängig, gewöhnlich ohne daß dieser Prozeß von den Betroffenen verstanden wird. Niemand steht außerhalb" (ebenda, S. 21): "Die Beteiligten sind gewöhnlich außer Stande, sich als Teil einer umfassenden Figuration wahrzunehmen" (ebenda, S. 21) oder gar in der Lage, die Bewegung des Ganzen zu steuern. Zugleich wächst aber auch "die zersplitternde Spezialisierung der wissenschaftlichen Erfassung von Menschen ü b e r h a u p t . " (ebenda, S . 27) D a s "Wissenschaftsideal" der "reinen M a t h e m a t i k " oder "formalen Logik" kann oft nicht erreicht werden. "Die wissenschaftliche Methode" ist oft ein "seltsames Gemenge von universellen Struktureigentümlichkeiten und Wissenschaftsverfahren mit spezifischen Eigentümlichkeiten, die allein für die Vorgehensweise der physikalischen Wissenschaften kennzeichnend sind." (ebenda, S. 33) Für Elias entsteht eine Bewegung auf zwei Wissensebenen, auf der der allgemeinen Ideen, Theorien und Modelle und auf der E b e n e der Beobachtung und Wahrnehmung. Dabei sollte mein vor Augen haben, daß die Probleme immer komplexer werden, wenn man die Ebene "der Moleküle, Atome und subatomaren Gebilde verläßt und auf die Ebene von Organisationen, G a t tungen, Einzelwesen übergeht" (ebenda, S. 39) und schließlich bei den Gesellschaftsformen landet. Er bezweifelt, daß das G r u n d d o g m a , v o m Verhalten komplexer Beobachtungseinheiten auf d a s Verhalten einfacher Teileinheiten zu schließen, s t i m m t . "Die Eigentümlichkeiten verschiedener Beobachtungseinheiten, mit denen sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen befassen, beruhen nicht allein auf der Zahl der ineinander wirkenden Teile, Variablen, Faktoren oder Bedingungen, sondern vor allem auf der Art und
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Weise, in der diese zusammengesetzten Teile miteinander verknüpft, aufeinander abgestimmt, kurzum: organisiert und integriert sind." (ebenda, S. 41) Figuration und Prozesse einer hohen Organisationsstufe haben oft Teileinheiten, die ihrerseits hochorganisierte Figurationen und Prozesse sind. Das bedeutet auch, daß jede Teilfiguration sich von der Gesamtfiguration unterscheiden kann. Allerdings ist diejenige Figuration, die in der Hierarchie von Figurationen die höchste Stufe der Integration und der organisierten Macht repräsentiert, zugleich die Einheit mit der höchsten Fähigkeit, ihren eigenen Kurs zu steuern. Hier schließt sich der "Kreis unserer figurativen Betrachtung." Soziologen, aber auch Pädagogen sollen sich darüber im klaren sein, daß sie sich auf einem Kontinuum zwischen zwei extremen Ausprägungen befinden, deren eine absolutes Engagement und völliges Fehlen jeglicher Distanzierung und deren andere die absolute Distanzierung und ein Nichts an Engagement sein kann. Ein zu starkes Involviertsein in ein pädagogisches, soziales Feld kann genauso problematisch sein wie ein Blick aus der experimen teilen Vogelp erspektive. Literatur zum 6. Kapitel Baumgart, R./Eichener, V.: Norbert Elias, Zur Einführung. 1991.
Hamburg,
Borries, V. v.: Technik als Sozialbeziehung. München, 1980. Dreeben, R.: Was wir in der Schule lernen. Frankfurt am Main 1980. Elias, N.: Uber den Prozeß der Zivilisation, II. Band. Frankfurt am Main 1976. Elias, N.: Was ist Soziologie? München, 1981, 4. Auflage. Elias, N./Scotson, J. L.: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main, 1990, 1. Auflage. Elias, N.: Über die Zeit. Frankfurt am Main 1984. Elias, N.: Engagement und Distanzierung. Frankfurt am Main, 1983. Kiss, G.: Systemtheorie oder Figurationssoziologie - Was leistet die Figurationsforschung. In: Kuzmics, H./Mörth, I. (Hrsg.), Der unendliche Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/New York, 1991.
Kapitel 7 Die Handlungstheorie als Basis für die pädagogische Theorie und Praxis
Zur Definition der Handlungstheorie Die Handlungstheorie stellt das soziale Handeln des Subjekts in den Vordergrund. Daher ist Handlungstheorie auf den Menschen als letzthinnigen Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse und Synthese bezogen. Einzelne Menschen handeln im Regelfall in bestimmten sozialen Situationen, z. B. in einer Familie, am Steuer im Straßenverkehr, in einem Staat. Wenn das Handeln des einzelnen untersucht wird, so kann man nicht auf die Beschreibung der Eingebundenheit des Handelnden in soziale Situationen und Systeme (Paar, Familie, Gruppe, Betrieb usw.) verzichten. Handlungstheorie und Systemtheorie gehören somit zusammen. Und dennoch gibt es Unterschiede hinsichtlich der Gewichtung der Individualität des Handelns und der Struktur des Systems, in dem die Handlungen stattfinden. Wenn die Definition der Soziologie am Begriff des sozialen Handelns festgemacht wird, so wie das bei Max Weber der Fall ist, besteht die Berechtigung, den Autor der Handlungstheorie zuzuordnen, auch wenn Strukturanalysen, z. B. über unterschiedliche Herrschaftsgebilde, einen wichtigen Platz in dem betreffenden theoretischen Entwurf einnehmen. Max Weber definiert die Soziologie als eine Wissenschaft, "welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will" (M. Weber 1951, S. 528). Weber führt aus: " 'Handeln' soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und sofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. 'Soziales' Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist" (ebenda, S. 528). Soziales Handeln beginnt für Weber mit einem Minimum an sozialer Aktivität in Richtung auf die Existenz eines anderen oder anderer, z. B. bei dem Versuch eines Radfahrers, einem anderen Radfahrer im Fall eines drohenden Zusammenstoßes auszuweichen. Das soziale Handeln ist sinnhaft, d. h. der Handelnde verbindet mit seinem Handeln einen subjektiven Sinn. Das in dieser Abgrenzung als sinnhaft definierte soziale Handeln ist dem Verstehen zugänglich, in Grenzfällen allerdings nur dem Experten mit fachlicher Schulung. Weber unterscheidet vier grundlegende Bestimmungsgründe des sozialen Handelns (ebenda. S. 551 ff.): 1. Das zweckrationale Handeln: Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt. Absolute Zweckrationalität ist als Grenzfall anzusehen.
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2. Das wertrationale Handeln: Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät oder die Wichtigkeit einer Sache gleich welcher Art ihm zu gebieten scheinen. Das wertrationale Handeln ist bestimmt durch den bewußten Glauben an den ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden Eigenwert eines bestimmten Verhaltens als solchen unabhängig vom Erfolg. 3. Das affektuelle Handeln: Es ist durch Emotionen bestimmt, z. B. durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen. 4. Das traditionale Handeln: Es ist durch eingelebte Gewohnheit bestimmt. Die Masse alles eingelebten Alltagshandelns nähert sich diesem Typus des Handelns. Webers Typologie der Handlungsformen und -Orientierungen ist als Reduktion der vielschichtigen Möglichkeiten des sozialen Handelns und Verhaltens zu interpretieren, als Reduktion von Komplexität im Bereich des Handelns. Im Sinne Max Webers ist jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns an die Kategorien Zweck und Mittel gebunden (M. Weber 1951, S. 149). Was kann Wissenschaft überhaupt leisten? Für Weber kann sie die Geeignetheit der eingesetzten Mittel bei vorgegebenem Zweck prüfen. Dabei kann sich herausstellen, daß es überhaupt keinen Zweck hat, bestimmte Mittel einzusetzen. Auf diese Weise läßt sich die Zwecksetzung indirekt prüfen. Soziologie kann die Folgen und Nebenfolgen prüfen, die sich aus der Einsetzung bestimmter Mittel ergeben. Sie kann die "Kosten" im weitesten Sinne dieses Begriffs ermitteln, die sich aus der Erreichung des gewollten Zwecks ergeben. Dazu gehört unter Umständen auch die Verletzung anderer Werte. Die Soziologie kann und sollte zeigen, daß alles Handeln und natürlich auch das Nicht-Handeln eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte ist. Sie kann weiterhin Kenntnisse über die Bedeutung des Gewollten gewinnen und vermitteln. Soziologie als empirische Wissenschaft ist kein Sinnstifter. Sie kann nicht sagen, was jemand tun soll, sondern nur, was er tun kann oder möglicherweise will. Webers Theorieansatz geht auf Kant und die Neukantianer zurück. Für ihn beruht die objektive Gültigkeit alles Erfahrungswissens nur darauf, "daß die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzung unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des W e r t e s derjenigen Wahrheit gebunden ist, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag" (M. Weber 1951, S. 213). Daß das handelnde Subjekt letzter Erklärungsgrund im wissenschaftlichen Vorgehen ist, wird auch durch die folgende Aussage betont: "Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen" (ebenda, S. 538). Es gibt keinen Zweifel: Letztliches Substrat allen Handelns ist das Individuum, das Subjekt. Neben Weber als einem der maßgeblichen Begründer der Handlungstheorie hat Talcott Parsons im Rekurs auf Weber, an dem er sich geschult hat,
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eine Handlungstheorie mit übergreifenden Dimensionen unter dem Titel "THE STRUKTURE OF SOCIAL ACTION" (T. Parsons 1949) im Jahre 1937 vorgelegt. Der Handlungsbezugsrahmen (frame of reference) besteht aus: (1) dem Handelnden, (2) der Zielorientierung, (3) der Situation, (4) normativer Orientierung des Handelnden im Falle der Wahl unter Alternativen (ebenda, S. 44). Parsons entwickelt in ausführlicher Breite die Entstehung einer voluntaristischen Handlungstheorie, indem er die Theorieansätze von Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Emile Dürkheim und Max Weber beschreibt. Die Darstellung geht über eine enge Bindung an das soziale Handeln als solches weit hinaus. Die Orientierung und Organisation des Handelns beschreibt Parsons mit den pattern variables. Damit ist eine dichotomische Anordnung gemeint (Parsons u. a. 1962, S. 77), deren eine Seite vom Handelnden gewählt werden muß, bevor die Bedeutung einer Situation für ihn bestimmt wird: 1. Affektivität oder affektive Neutralität 2. Selbstorientierung oder Kollektivitätsorientierung 3. Universalismus oder Partikularismus 4. Zuschreibung oder Leistung 5. Funktional diffuse oder funktional spezifische Definition der Situation Die beschriebenen Orientierungsalternativen für den Handelnden konstituieren ein System. Dietrich Rüschemeyer hat mit Recht bemerkt, daß die pattern variables eine Differenzierung der Begriffe "Gemeinschaft und Gesellschaft" von F. Tönnies darstellen: An der Gemeinschaft orientiert sind Affektivität, Kollektivitätsorientierung, Partikularismus, Zuschreibung (vorgegebene Qualitäten), diffuse Definition der Situation. Die übrigen Kategorien des Systems beziehen sich auf die Gesellschaft (Parsons 1964, S. 27 ff.). Kritisch zu fragen wäre, ob denn der Handelnde in Anbetracht der Einbindung in soziale Systeme mit deren verbindlichen Ansprüchen überhaupt eine Wahlfreiheit zur Verfügung hat. Handlungstheorie reduziert gesellschaftliche Komplexität letztlich auf das soziale Handeln des Individuums in sozialen Systemen. Diese theoretische Perspektive herrscht in der gegenwärtigen Theoriediskussion vor. Grundlage ist die klassische These, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist. Die umfangreichen Werke von Parsons und Max Weber beweisen, daß der handlungstheoretische Ansatz in den letzten hundert Jahren recht erfolgreich und durchsetzungsfahig gewesen ist.
Kritische Interpretation Und dennoch ist heute Handlungstheorie weit davon entfernt, den Ansprüchen der soziologischen Theoretiker zu genügen. Denn die Interaktionseigenschaften der sozialen Systeme lassen sich nicht von Eigenschaften der Handelnden ableiten (Dürkheim, Parsons). Anders gesagt: Soziale Systeme bilden eine Realität eigener Art (sui generis). Ihre Existenz hebt sich ab von bestimmten leibhaftigen Individuen. So bilden Werte, Normen, Rollen, Programme eine Wirklichkeit eigener Art jenseits der personalen Systeme. Normen sind nicht beliebig veränderbar, wie z. B. die langfristige Diskussion um den §218 StGB zeigt. Auch Parteiprogramme sind mittelfristig
121 verbindlich. Sie fuhren so" etwas wie ein Eigenleben, sind durch Eigengesetzlichkeiten bestimmt. Auch Konflikte führen eine Art Eigenleben. Sie sind Systeme eigener Art. Die Regulierung der Konflikte entzieht sich oft den Möglichkeiten des guten Willens. Sie sind also auf "voluntaristischer" Ebene keineswegs immer zu regeln, z. B. der Konflikt zwischen des Israelis und den Arabern. Wenn Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft und den sozialen Systemen definiert wird, so hätte sie sich um die Beschreibung der sozialen Strukturen, Systeme, Organisationen, Gruppen zu bemühen und nicht um das Individuum mit seinen Handlungsalternativen, so wichtiges auch ist, die Unversehrtheit eines jeden Individuums in der Weltgesellschaft zu sichern und zu achten. An dieser Stelle setzt die Begriffsarbeit der Systemtheorie an. Sie geht von der Prämisse aus, daß die sozialen Systeme (Paare, Gruppen, Organisationen usw.) ihre Elemente (Teilbereiche, Subsysteme, Handlungsfolgen, Ereignisse usw.) nach ihren Richtmafien formen, so daß die Elemente durch die Systeme und für die Systeme da sind. Ein soziales System besteht aus Handlungen. Und über Handlungen kommt das Subjekt ins System (Luhmann 1985, S. 191).
1. Die idealtypische Begriffsbildung als methodisches Instrument im Bereich der pädagogischen Planung Die idealtypische Begriffsbildung ist seit der Veröffentlichung der Abhandlung über die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" im Jahre 1904 (M. Weber 1951, S. 146 ff.) ein wissenschaftslogisches Instrument von grundlegender Bedeutung auch für die Unterrichtsplanung und andere pädagogische Vorhaben, z. B. für die Auswahl von Unterrichtsinhalten im Fach Geschichte. Die idealtypische Begriffsbildung ist die Webersche Version der Reduktion von Komplexität. Weber geht von der Prämisse aus, daß die soziokulturelle Wirklichkeit durch eine "unendliche Mannigfaltigkeit" gekennzeichnet ist. "Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher T e i l derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er 'wesentlich' im Sinne von 'wissenswert' sein solle" (ebenda, S. 171). Die Subjektbezogenheit des Weberschen Denkansatzes wird durch die folgende Aussage bestärkt: "... nur durch die Voraussetzung, daß ein e n d l i c h e r Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen allein b e d e u t u n g s v o l l sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis i n d i v i d u e l l e r Erscheinungen überhaupt logisch sinnvoll" (ebenda, S. 177). Die Zahl der Ursachen, die ein bestimmtes Ereignis hervorgerufen haben, ist stets unendlich. Es gibt kein in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen als allein in Betracht kommend auszusondern. Nur diejenigen Ursachen, welchen die im Einzelfall wesentlichen Bestandteile eines Geschehens z u z u r e c h n e n sind, werden von uns (als Handlung des Subjekts) herausgegriffen. Folglich ist die Kausalfrage im Sinne der am Subjekt mit dessen Entscheidungen haftenden Auswahl grundsätzlich eine "Zurechnungsfrage".
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7.
Im Modell des Idealtypus werden die erforderlichen Auswahlprozesse vollzogen. Der Idealtypus wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbild. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit vorfindbar. Es ist eine Utopie. Für die historische Arbeit erwächst für Weber die Aufgabe, in jedem einzelnen Fall festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem abstrahierten Gedankengebilde steht. Die reif werdende Wissenschaft überwindet den Idealtypus, der mit einem Nothafen verglichen wird. Im Idealtypus besteht das aktive Handeln des Sozialwissenschaftlers darin, die typischen Charakterzüge historisch individueller und einmaliger Erscheinungen (Beispiel: Stadtwirtschaft) in einseitiger Steigerung herauszuheben und das als nebensächlich Angesehene zu vernachlässigen. Der Webersche Idealtypus ist Reduktion von soziokultureller Komplexität auf das Typische, Besondere. Die Verdichtung der soziokulturellen Wirklichkeit zu idealtypischen Begriffskonstruktionen war schon im sozialphilosophischen Bereich vor Max Weber üblich. So durchläuft die psychisch-soziale Entwicklung nach Saint-Simon (1760 - 1825) und seinem Schüler A. Comte (1798 - 1857) drei Stadien (Dreistadiengesetz): 1. das theologische Zeitalter 2. das metaphysische Zeitalter 3. das positive Zeitalter Unter den soziologischen Theoretikern hat z. B. E. Dürkheim drei Typen des Selbstmords unterschieden (E. Dürkheim 1952). 1. der egoistische Selbstmord 2. der altruistische Selbstmord 3. der anomische Selbstmord (Anomie = Zustand moralischer Regellosigkeit) Hinsichtlich der Arbeitsteilung trifft Dürkheim die Unterscheidung zwischen zwei Formen der Solidarität: 1. die mechanische Solidarität, die vornehmlich in früheren Gesellschaften anzutreffen ist und die durch Gleichförmigkeit des sozialen Handelns gekennzeichnet ist 2. die organische Solidarität, verbunden mit Verschiedenartigkeit des Handelns, Handlungsspielraum und Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen In seinem Buch über das "System moderner Gesellschaften" (Parsons 1972) hat T. Parsons vier Handlungssubsysteme rein funktionaler Art unterschieden: 1. Soziales Subsystem mit der Hauptfunktion der Integration 2. Kulturelles Subsystem mit der Hauptfunktion Normenerhaltung 3. Persönlichkeit mit der Hauptfunktion Zielverwirklichung 4. Verhaltensorganismus mit der Hauptfunktion Anpassung Im wissenschaftlich orientierten Schulunterricht läßt sich die Methode der idealtypischen Begriffsbildung am Beispiel der Stadtverwaltung erklären.
123 Eine geeignete Literaturgrundlage bietet die "Soziologie der öffentlichen Verwaltung" von Renate Mayntz (R. Mayntz 1985). Die Lehrperson spricht die Aufgaben der städtischen Verwaltung im Rathaus und in den verschiedenen zur Stadtverwaltung gehörenden Amtern an. So führt der Bürgermeister z. B. einen Briefwechsel und Telefongespräche mit einer Patenstadt im Ausland (Regelung der Beziehungen nach außen). Es gibt eine Reihe von Regeln, denen man entnehmen kann, welchen Weg Beschwerden von Bürgern innerhalb des Rathauses einnehmen (Regelung der inneren Ordnung). Bestimmte Angestellte müssen dafür sorgen, daß alle Gebühren (z. B. Gebühren für Baugenehmigungen) innerhalb der gesetzten Fristen eingeholt werden (Sicherung der Handlungsfähigkeit des Verwaltungssystems). Die Stadtverwaltung ist ständig darum bemüht, die erforderlichen Versorgungs- und Dienstleistungen zu erbringen, z. B. die Belieferung der Bevölkerung mit Stadtgas (Befriedigung kollektiver Bedürfnisse). Die Stadtverwaltung steuert die Entwicklung auf bestimmte Ziele hin, z. B. auf das Gelingen internationaler Gespräche in einer geplanten Festwoche im Sommer oder auf die optimale Bereitstellung von Bauland auch für mittlere und untere Einkommen (Entwicklungssteuerung). Die von R. Mayntz erarbeiteten fünf zentralen Aufgabenkategorien der Verwaltung (Mayntz 1985, S. 44) werden in der Unterrichtseinheit zusammenfassend an der Tafel festgehalten: Aufgaben der Stadtverwaltung 1. 2. 3. 4. 5.
Die Verwaltung muß die Beziehungen nach außen regeln. Sie muß Regeln für die Erhaltung der inneren Ordnung aufstellen. Sie muß die Handlungsfähigkeit im Hause sichern. Sie muß die Bedürfnisse der Bürger befriedigen. Sie muß die Entwicklung steuern.
Das Beispiel zeigt, daß es möglich ist, wissenschaftliche Begriffe für die Verständnisebene der Schüler zu operationalisieren. 2. D a s handlungstheoretische K o n z e p t der Wertfreiheit in seiner B e d e u t u n g f ü r d a s Lehrverhalten Wenn die Kausalfrage als Zurechnungsfrage definiert wird und wenn die Auswahl des Forschungsgegenstandes durch unser Interesse bestimmt wird, wie das in Max Webers handlungstheoretischem Entwurf der Fall ist, dann liegt es in der Logik der Sache, daß die mögliche Beliebigkeit und Vielfältigkeit der Urteilsbildung und Bewertung der Dinge nach strengen Maßstäben gehandhabt wird. Webers Kritik an der Professoren-Prophetie (M. Weber 1951, S. 478) bildet sozusagen nur den äußeren, interaktionistischen Anlaß zu seiner fast exzentrischen Auffassung über die Bewertungsaskese im Bereich des wissenschaftlichen Handelns. Hinsichtlich der persönlichen Bewertung von sozialen Tatsachen und Prozessen erhebt Weber eine Reihe von Forderungen, die nicht nur für akademische Lehrer und Autoren gelten, sondern auch für die Lehre überhaupt und schlechthin, da jede Lehrperson der Gefahr ausgesetzt ist, den Schülerinnen und Schülern die eigene Wertposition zu suggerieren oder gar zu indoktrinieren.
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1. Wissenschaftliche Autoren müssen in jedem Augenblick den Lesern und sich selbst scharf zum Bewußtsein bringen, welches die Maßstäbe sind, an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird. (vgl. dazu M. Weber 1951, S. 156 ff.) 2. Jede sinnvolle Wertung fremden Wollens kann nur Kritik aus der eigenen 'Weltanschauung' heraus, Bekämpfung des fremden Ideals vom Boden des eigenen Ideals aus sein. 3. Der Wissenschaftler hat jederzeit deutlich zu machen, daß und wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen, wo die Argumente sich an den Verstand und wo sie sich an das Gefühl wenden. "Die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements ist eine der zwar immer noch verbreitetsten, aber auch schädlichsten Eigenarten von Arbeiten unseres Faches. Gegen diese V e r m i s c h u n g , nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale richten sich die vorstehenden Ausführungen. G e s i n n ungslosigkeit und wissenschaftliche 'Objektivität' haben keinerlei innere Verwandtschaft" (M. Weber 1951, S. 157). 4. Was soll der Student von seinem Lehrer lernen? - die Fähigkeit, sich mit der schlichten Erfüllung einer gegebenen Aufgabe zu bescheiden; - auch persönlich unbequeme Tatsachen zunächst einmal anzuerkennen und ihre Feststellung von der bewertenden Stellungsnahme dazu zu scheiden; - seine eigene Person hinter die Sache zurückzustellen und nicht seine persönlichen Geschmacks- und sonstigen Empfindungen ungebeten zur Schau zu stellen (M. Weber, a. a. O., S. 479). 5. Die prinzipielle Inanspruchnahme des Rechts der Kathederwertung ist nur dann konsequent, wenn alle Parteiwertungen Gelegenheit erhalten, sich auf dem Katheder Geltung zu verschaffen. 6. Der Glaube ist immer noch verbreitet, daß man Weisungen für praktische Wertungen aus 'Entwicklungstendenzen' ableiten solle. Kritische Interpretation Nicht zuletzt ist Webers calvinistisch-puritanisches Engagement dafür verantwortlich, daß strenge Reglementierungen und asketische Auflagen die Ausdrucksbedürfnisse des Subjekts begrenzen und im Zaum halten. Weiterhin ist sein entschiedenes Bedürfnis zu nennen, den Fortschritt wissenschaftlicher und damit gesellschaftlicher Erkenntnis zu fordern. Webers Definition der Werturteilsfrage entspricht seiner Affinität zur Rationalisierung der allgemeinen Lebensführung. Sein handlungstheoretischer Ansatz entspricht insofern der rationell orientierten Denktradition, als Verschleierungen zu vermeiden sind, so daß die sozialen Erscheinungen klar bis auf den Grund bis hin zu ihren Entstehungsmechanismen durchschaut werden müssen. Folgerungen und Bewertungen haben ihren Grund nicht in den Erscheinungen, sondern im Handeln des Subjekts und der Subjekte. Erkenntnisgewinnung ist Angelegenheit einzelner Subjekte, die nach strengen Regeln verfahren. Ohne das Handeln
125 des Subjekts gibt es keine wissenschaftliche Erkenntnis. So überzeugend diese Position einerseits ist, so wenig kann auf die Problematisierung dieser Prämissen verzichtet werden. Trotz des indirekten Aufrufs zum Verzicht auf Gesinnungslosigkeit kann Webers Position mehr oder weniger ungewollt zur Werturteilsaskese führen, so daß der kritische Impuls einschläft, da er hinter eine abgegrenzte Linie verwiesen wurde. Insofern diese von Weber sicher ungewollte Folge eintritt, widerspricht Weber sich selbst, wenn er formuliert: "Denn der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis" (M. Weber 1951, S. 482). Die Auswahl des Forschungsgegenstandes als voluntaristisches Handeln birgt die Gefahr in sich, daß Forschung nach persönlichen Interessen und schichtspezifischen Bedürfnislagen etabliert wird und daß unbequeme Bereiche (Beispiel: Gewalt an Kindern, d. h. Vergewaltigung von Kindern in der eigenen FamiUe) draußen vor der Tür bleiben. Erst wenn die öffentliche Mentalität in eine bestimmte historische Phase eingetreten ist, geraten heikle und unbequeme oder auch ungeläufige Themen in den Blickwinkel des wissenschaftlichen Interesses, das an bestimmte Entwicklungsdispositionen der sozialen Systeme gebunden ist. Webers Ansatz wirft die Frage auf, ob es denn im Vollzug der Selbstreflexion, sofern sie überhaupt stattfindet, immer möglich ist, zwischen dem wissenschaftlich prozedierenden und dem wollenden (politischen) Menschen in ein und derselben Person zu unterscheiden. Eine überzeugende Definition der von Weber selbst sog. "Wertfreiheit" hat Weber mündlich gegenüber Theodor Heuß im Sommer 1917 gegeben. Heuß erhielt während eines Spaziergangs im Park bei Goethes Gartenhaus "eine nachsichtige Vorlesung über das Wesen und den Sinn der Distanz zu wissenschaftlichen Quellen, zu den Dingen, zu den Zeitströmungen, zu den Menschen, um der freien Selbstbehauptung willen" (Heuß in M. Weber 1958, S. IX). Damit erhält die vieldiskutierte Wertfreiheit dan Akzent der Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, also der personalen Selbstreferenz, nicht allerdings der Selbstreferenz in sozialen Systemen.
3. A u s d e r p h i l o s o p h i s c h e n T r a d i t i o n d e r H a n d l u n g s t h e o r i e Philosophie fungiert an den pädagogischen Ausbildungsstätten zum Teil als Grundwissenschaft und zum Teil als Fachwissenschaft und Fachdidaktik, da Philosophie in manchen regionalen Bereichen an Gymnasien und Realschulen vermittelt wird und sich auf dem Weg zu Haupt- und Grundschulen befindet (als "philosophieren"). Die von Max Weber entwickelte idealtypische Begriffsbildung läßt sich in verschiedenen Hinsichten (vgl. J . Dieckmann 1967) auf die von Descartes vermittelte philosophische Tradition zurückführen. Descartes formulierte im Zeitraum 1628/29, also während des 30jährigen Krieges, "Regeln zur Leitung des Geistes" ("Regulae ad Directionem Ingenii") von zukunftsträchtiger Bedeutung (R. Descartes 1959). Die fünfte Regel gebietet, die verwickelten und dunklen Sätze stufenweise auf die einfacheren zurückzuführen und von diesen aus die Erkenntnis aller übrigen
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Sätze zu gewinnen. Wenn man die einfachsten Sätze als Gesetze, Formeln, Regeln begreift, lehnt Max Weber die fünfte Regel Descartes' für die empirische Arbeit der Kulturwissenschaften ab (vgl. J. Dieckmann 1961, S. 25 ff.). Weber hält es für sinnlos, ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte (M. Weber 1951, S. 184). Idealtypen sind keine Gesetze und allgemeingültigen Regeln. Sie sind vielmehr Gebilde, "in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt" (M. Weber, a. a. O., S. 194). Der Idealtypus hat nicht einmal den Charakter der Hypothese. Durch ihn soll der Hypothesenbildung die Richtung gewiesen und die empirisch gültige Deutung erleichtert werden, indem die gegebenen Tatsachen mit einer Deutungsmöglichkeit, einem Deutungsschema verglichen werden. Die idealtypischen Konstruktionen haben insofern allgemeinen Charakter, als sie unter Voraussetzung streng rationalen Handelns die Konsequenzen bestimmter Situationen gedanklich konstruieren. Die sechste Cartesianische Regel gebietet, die Dinge aus ihrer natürlichen Anordnung herauszunehmen und sie in einer solchen Anordnung für die Erkenntnis disponibel zu machen, daß eines aus dem anderen in einer lückenlosen Folge von Evidenzschritten erkannt werden kann (R. Descartes, a. a. 0., S. 51). Wenn Webers Erkenntnistheorie daraufhin geprüft wird, ob diese Regel in ihr enthalten ist, ergibt sich zunächst die Feststellung, daß Weber mit seinen rationalen teleologischen Konstruktionen die Dinge aus ihrer natürlichen Anordnung herausnimmt. Man kann ferner sagen, daß er die Dinge für die Erkenntnis disponibel macht. Es zeigt sich, daß Webers Erkenntnistheorie das aktive Handeln des Subjekts voraussetzt. In der rationalen Deutung und im Idealtypus werden in berechnender Weise bestimmte Teile der Wirklichkeit utopisch rationalisiert, d. h. in den Deutungsschemata wird mit den Kategorien Zweck und Mittel operiert, die die Konstruktion rationaler Schemata erst ermöglichen. Wir können auch sagen, daß Weber entsprechend der Anweisung Descartes' die Gesamtheit der Gegenstände in bestimmte Reihen einordnet, indem wir die teleologischen Schemata rationalen Handelns als Reihen begreifen. Descartes ordnet die Dinge in bestimmte Reihen ein, damit die einen aus den anderen erkannt werden können. Die Dinge werden auf das Richtmaß des ingeniums, die clara et distincta perceptio (die klare und distinkte Wahrnehmung) gestellt. In der von Descartes angesprochenen mathesis universalis wird das immer schon Bekannte (ta mathemata), dasjenige, worüber der Mensch schon von sich aus verfugt, im Bereich des Ganzen als das Bestimmende angesetzt. Alle Dinge werden auf das immer schon Bekannte bezogen, das im handelnden Subjekt angelegt ist. Die Ordnung der Dinge kann für Descartes nicht aus den Dingen selbst entnommen werden, wie sie sich uns im Ansprechen darstellen. Zur leitenden, Ordnung gebenden Hinsicht wird der menschliche Geist, der sich selbst die Gewißheit des Wissens zu verbürgen hat. Das Respektive, d. i. bei Descartes das Verwickelte, wird im Rückgang auf das Absolute, d. i. für Descartes das durch sich selbst Evidente, erfaßt. Um eine bestimmte Wahrheit zu entdecken, werden die Dinge für das wissenschaftliche Verfahren, das die Wahrheit entdecken soll, disponiert, d. h.
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sie werden als absolut oder respektiv angesprochen. Das Absolute ist "das Einfachste und Leichteste, dessen man sich bei der Auflösung aller Fragen bedienen kann" (R. Descartes, a. a. 0., S. 25). Das Absolute wird von Descartes zum Maß genommen, an dem das Respektive (Abhängiges, Wirkung, Zusammengesetztes, Besonderes, Vieles usw.) gemessen wird. Der menschliche Geist, der sich der Erkanntheit des Erkannten vergewissern will, ordnet die Dinge zum Zweck des Erkennens in eine Reihe ein, die vom ganz Verwickelten bis zum Allereinfachsten reicht. Die verwickelten Dinge werden an den einfachen gemessen. Dasselbe Verfahren wird grundsätzlich in der Erkenntnislehre Max Webers angewandt. Auch Weber mißt die verwickelten Dinge (das sind für ihn die Ausschnitte aus der unendlich mannigfaltigen Wirklichkeit, die nach subjektiven Wertideen ausgewählt werden) an den einfachen, d. h. an den Konstruktionen der rationalen Deutung und des Idealtypus. Während Descartes das Verwickelte auf das Einfache bezieht, um es klar und deutlich, bis auf den Grund, zu durchschauen, bezieht Weber die Wirklichkeit auf eine vereinfachende, weil typisierende, Konstruktion, um sie in adäquater Weise deuten und verstehen zu können. Entscheidend ist der Gesichtspunkt, daß sowohl bei Descartes wie bei Weber die zu erkennenden Dinge aus ihrer natürlichen Ordnung herausgenommen werden und das Schwer-zuErkennende am Leichter-zu-Erkennenden gemessen wird. In beiden Fällen werden die Dinge in disponierender Absicht in rational konstruierte Schemata eingeordnet, die als Mittel zum Zweck der Erkenntnis erdacht werden. Das spezifisch Neuzeitliche sowohl am Cartesianischen wie am Weberschen Rationalismus besteht darin, daß die Begriffe als Mittel betrachtet werden, um das empirisch Gegebene geistig beherrschen zu können. 4. Führen als soziales Handeln Der Begriff Pädagogik enthält zwei griechische Bestandteile: Pais heißt Kind, und agein heißt führen. Von daher ist eine soziologische Untersuchung des Begriffes führen legitim. Von Max Webers Theoriekonstruktion her ist Führung vor allem mit dem "aktiven Handeln" der Puritaner und dem suggestiven Handeln der Charismatiker in Verbindung zu bringen, die eine Jüngerschar oder Gefolgschaft um sich versammeln und diese aktivieren. Während die mehr auf Selbststeuerung und Selbstregulierung der sozialen Gebilde gerichtete Systemtheorie wenig Platz für das Moment der Führung enthält, bietet Webers Ansatz entschieden mehr Spielraum für eine Theorie der Führung, z. B. hinsichtlich der Führung in der Politik: "Führer wird nur derjenige, dem die Maschine folgt, auch über den Kopf des Parlaments. Die Schaffung solcher Maschinen bedeutet, mit anderen Worten, den Einzug der plebiszitären Demokratie" (M. Weber 1958, S. 521). Es gibt keine Führung ohne Geführte. Daher werden alle Führer auch geführt. Führungshandeln ist somit durch Reziprozität gekennzeichnet. G. Simmel formuliert: "... der Redner, der der Versammlung, der Lehrer, der der Klasse gegenübersteht, scheint der allein Führende, der momentan Ubergeordnete zu sein; dennoch empfindet jeder, der sich in solcher Situation befindet, die bestimmende und lenkende Rückwirkung der scheinbar bloß aufnehmenden und von ihm gelenkten Masse... (G. Simmel 1958, 5. 102 ff.).
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Wissenschaftstheoretisch ist die Feststellung interessant, daß eine derart reziprok orientierte Führungstheorie nicht weit entfernt ist von einer systemorientierten Theorie selbstreferentieller und autopoietischer Systeme, in denen die Handlungsabläufe (als Elemente) gegenseitiger Kontrolle und Beobachtung unterliegen und die durch Selbstbeschreibung und Selbstorganisation definiert sind. Führen wird heute als zielgerichtetes und geplantes Steuerungshandeln beschrieben, das innerhalb vorgegebener sozialer Strukturen ("Situationen") abläuft. Für H. D. Schneider (1985, S. 164 ff.) ist der Gruppenführer Identifikationsobjekt der Gruppenmitglieder. Er hat Einfluß auf die Gruppe, aber auch die meisten Gruppenmitglieder führen. Der Führer ist die zentrale Person der Gruppe. Führer ist, wer Führungsaufgaben wahrnimmt. Der Führer befolgt die Gruppennormen am genauesten. Führung ist Macht durch Legitimation. Schneiders Definition der Führung lautet: Fährer ist, wer die von ihm als wichtig angesehenen Gruppenziele unter Einschaltung von Gruppenmitgliedern verwirklicht. Unterschieden werden 14 Aufgaben der Führung: Exekutive, Planung, Zielsetzung, Expertenschaft, Repräsentation nach außen, Kontrolle interner Beziehungen, Belohnung und Bestrafung, Schiedsrichteraufgabe, Vorbild, Gruppensymbol, Übernahme von Verantwortung, Ideologe, Vaterfigur und Sündenbock. Bemerkenswert ist hier die Dominanz des männlichen Elements. Homans als Konstrukteur des inneren und äußeren Systems der sozialen Gruppe (Homans 1968) unterscheidet eine Reihe von Aufgaben des Führers (ebenda, S. 386 ff.): 1. Ein Führer muß seine eigene Stellung aufrecht erhalten. 2. Ein Führer muß die Normen seiner Gruppe einhalten. 3. Ein Führer muß führen. 4. Ein Führer darf keine Befehle geben, die nicht befolgt werden. 5. Bei Erteilung seiner Befehle muß ein Führer schon vorhandene Kanäle benutzen. 6. Ein Führer darf sich bei sozialen Anlässen seinen Leuten nicht aufdrängen. 7. Ein Führer darf ein Gruppenmitglied vor anderen Mitgliedern nicht tadeln und im allgemeinen auch nicht loben. 8. Ein Führer muß die Gesamtsituation in Betracht ziehen. 9. Zur Erhaltung der Disziplin muß sich ein Führer weniger mit der Verhängung von Strafen als mit der Schaffung von Bedingungen befassen, unter denen die Gruppe sich selbst disziplinieren kann. 10. Ein Führer muß zuhören können. 11. Ein Führer muß Selbsterkenntnis besitzen. Für die Führung pädagogischer Organisationen mag die Handlungsanweisung von Interesse sein, die W. Bennis und B. Nanus in ihrem Buch "Führungskräfte" (Frankfurt 1986) vorgelegt haben: 1. Mit einer Vision Aufmerksamkeit erzielen. 2. Sinn vermitteln durch Kommunikation. 3. Eine Position einnehmen und damit Vertrauen erwerben. 4. Entfaltung der Persönlichkeit. Literatur zum 7. Kapitel Descartes, R.: Regeln zur Leitung des Geistes. Hamburg 1959
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Dieckmann, J.: Die Rationalität des Weberschen Idealtypus. In: Soziale Welt, Jahrgang 18, Heft 1. Göttingen 1967 Dieckmann, J.: Max Webers Begriff des "modernen okzidentalen Rationalismus" . Dissertation bei Triltsch in Düsseldorf 1961 Durkheim, E.: Suicide. London 1952 Haferkamp, H.: Soziologie der Herrschaft. 1983 Mayntz, R.: Soziologie der öffentlichen Verwaltung. Heidelberg 1985, 3. Auflage Luhmann, N.: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1985, 2. Auflage Parsons, T.: Das System moderner Gesellschaften. München 1972 Parsons, T.: Politics and Social Structure. New York/London 1969 Parsons, T.: The Social System. Glencoe 1964, 5. Auflage Parsons, T.: The Structure of Social Action. Glencoe 1949 Parsons, T./Shils, A. (Ed.): Toward a General Theory of Action. New York/ Evanston 1962 Schneider, H. D.: Kleingruppenforschung. Stuttgart 1985 Simmel, G.: Soziologie, Berlin 1958 Stammer, O./Weingart, P.: Politische Soziologie. München 1972 Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band I. Tübingen 1947 Weber, M.: Gesammelte politische Schriften. Tübingen 1958 Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1951 Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1956
Kapitel 8 Verbindungslinien zwischen der Soziologie und verschiedenen Schulfächern
1. Soziologie und Biologie 1.1 Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und Humanbiologie Einen beachtenswerten Beitrag zum Verständnis der gesellschaftlichen Konstruktion der Alltagswelt und des Alltagswissens haben Peter Berger und Thomas Luckmann in ihrem Buch "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit - Eine Theorie der Wissenssoziologie" (zuerst 1966 in New York, dann 1969 in Ubersetzung in Stuttgart erschienen) vorgelegt. Die Autoren verknüpfen verschiedene Theorieansätze miteinander. Sie gehen von der Vis-à-vis-Situation als dem Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion aus und bestärken die alltagstheoretische Position, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit der Alltagswelt ein kohärentes und dynamisches Gebilde von Typisierungen ist. Die subjektorientierte Grundposition der beiden Autoren dokumentiert sich in der Feststellung, daß Soziologie zu jenen Wissenschaften gehört, deren Forschungsgegenstand "der Mensch als Mensch" ist (Berger/Luckmann 1969, S. 201). Die Soziologie wird als humanistische Wissenschaft definiert. Die Formulierung "Der Mensch hat eine eigenartige Stellung im Reich der Tiere" (ebenda, S. 49) deutet auf die fundamentale Rolle des "biologischen Substrats" in diesem Theorieansatz. Diese Denkform eröffnet einen positivfunktionalen Zugang der Soziologie zur Humanbiologie im Unterschied etwa zu den von Dürkheim, Adorno/Horkheimer oder auch Luhmann vorgenommenen Grenzziehungen zwischen Soziologie und Biologie. Der interaktionistische Denkansatz von Berger und Luckmann knüpft u. a. an die Theorien von Portmann, Gehlen und Plessner an, aber mit Betonung auch an G. H. Mead. Die nichtmenschlichen Lebewesen leben in geschlossenen Welten, deren Strukturen durch die biologische Ausrüstung jeder Spezies im voraus bestimmt sind. Dagegen ist die Umweltbeziehung des Menschen durch "Weltoffenheit" charakterisiert (Plessner, Gehlen). Im Vergleich zum Instinktapparat der höheren Säugetiere kann der des Menschen als geradezu unterentwickelt bezeichnet werden. Der Vorgang der Menschwerdung findet in Wechselwirkung zu seiner Umwelt statt. Von der Geburt an ist die organische Entwicklung des Menschen und damit weitgehend seine biologische Existenz dem Eingriff gesellschaftlich bedingter Faktoren ausgesetzt. Die Entwicklung von Organismus und Selbst in einer gesellschaftlich bestimmten Umwelt ist "exzentrisch" (Plessner). Die menschliche Selbsterfahrung schwebt immer in der Balance zwischen Körper-Sein und KörperHaben. Diese Balance muß ständig erneut hergestellt werden. Der Mensch
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produziert die Gesellschaftsordnung im Verlauf seiner unaufhörlichen Externalisierung. Die Gesellschaftsordnung ist weder biologisch gegeben noch von irgendwelchen biologischen Gegebenheiten ableitbar. Sie kann nicht aus Naturgesetzen abgeleitet werden. Sie ist allein ein Produkt menschlichen Tuns. Berger und Luckmann gehen von biologischen Konstanten aus: "Zwar haben die gesellschaftlichen Produkte menschlicher Externalisierung ihrem organismischen und umweltlichen Zusammenhang gegenüber einen Charakter sui generis (eigener Art). Aber Externalisierung ist schon als solche eine anthropologische Notwendigkeit. Menschliches Leben wäre nicht möglich im verschlossenen Raum schweigender Innerlichkeit. Es muß sich ständig äußern und durch Aktivität verkörpern. Diese Notwendigkeit beruht auf der biologischen Verfassung des Menschen... Die eingeborene Instabilität seines Organismus zwingt den Menschen dazu, sich eine stabile Umwelt zu schaffen, um leben zu können ... wenngleich keine bestehende Gesellschaftsordnung biologisch abgeleitet werden kann, ist doch die Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnung überhaupt in der biologischen Verfassung des Menschen angelegt" (ebenda, S. 55 f.). Für Berger und Luckmann wird die "eingeborene Instabilität" des menschlichen Organismus ausgeglichen durch Institutionalisierung. Habitualisierung (als Gewohnheitshandeln) bedeutet, daß die betreffende Handlung in Zukunft ebenso und mit Einsparung von Kraft ausgeführt werden kann. Habitualisierungsprozesse gehen der Institutionalisierung voraus. "Institutionalisierung steht am Anfang jeder gesellschaftlichen Situation, die ihren eigenen Ursprung überdauert" (ebenda, S. 59). Die Objektivität der institutionalen Welt verdichtet und verhärtet sich. Nur so, als objektive Welt, können die sozialen Gebilde an eine neue Generation weitergegeben werden. Die institutionale Welt ist vergegenständlichte menschliche Tätigkeit. Die gesellschaftliche Welt kann nicht vom menschlichen Tun, aus dem sie hervorgegangen ist, abgelöst werden. Der Mensch und seine gesellschaftliche Welt stehen in einer dialektischen Wechselbeziehung. "Das Produkt wirkt zurück auf seinen Produzenten" (ebenda, S. 65). "Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt" (ebenda, S. 65). Die Institutionen stellen dem Individuum gegenüber den Anspruch auf Autorität und müssen ihn stellen, ungeachtet des subjektiv gemeinten Sinnes, den der einzelne mit seiner Situation verbindet. Logik steckt nicht in den Institutionen, sondern in der Art, in der über sie reflektiert wird. Das reflektierende Bewußtsein überlagert die institutionale Ordnung mit seiner eigenen Logik. Für Berger und Luckmann ist die Dialektik zwischen Natur und Gesellschaft in der Conditio humana angelegt (ebenda, S. 192). Gemeint ist eine Dialektik der biologischen Grundlage des einzelnen und seiner gesellschaftlich produzierten Identität. Es besteht eine dauernde Koexistenz unserer Animalität und Sozialität. Die Animalität wird durch Sozialisation zwar transformiert, aber nicht aufgehoben. Biologische Fakten beschränken die gesellschaftlichen Möglichkeiten des einzelnen. Umgekehrt beschränkt die gesellschaftliche Welt auch das, was für den Organismus biologisch möglich wäre. Bei Kindern wie auch bei Erwachsenen besteht ein "Widerstand des biologischen Substrats gegen seine gesellschaftliche Formung" (ebenda, S. 194). Gesellschaftliche Existenz hängt von der unausgesetzten Unterwerfung des biologischen Widerstandes beim einzelnen ab. "Der Mensch ist
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biologisch bestimmt, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen... Ihre Grenzen sind von der Natur gesetzt... In der Dialektik zwischen Natur und gesellschaftlich konstruierter Welt wird noch der menschliche Organismus umgemodelt. In dieser Dialektik produziert der Mensch Wirklichkeit - und sich selbst" (S. 195). Kritische Interpretation Der theoretische Entwurf von Berger und Luckmann bietet Pädagoginnen und Pädagogen, die im Bereich der Biologie arbeiten und auf der Suche nach Verbindungslinien zur Soziologie sind, einen möglichen Zugang zur gesellschaftlichen Fundierung des Faches. Die skizzierte Denkweise, die das biologische Substrat des Menschen als Menschen mit den als notwendig angesehenen Institutionen zu verbinden sucht, sieht den Menschen im Sinne einer biologischen Konstante, die nicht ausreicht, das menschliche Uberleben als Gattung zu sichern. Die menschliche Instinktschwäche gegenüber höheren Tierarten bedarf der Kompensation durch die Institutionen. Diese sind sozusagen aus zweckrationalen Rücksichten mit der Funktion ausgestattet worden, Instinktarmut auszugleichen, Autorität auszuüben und die biologischen Möglichkeiten der Individuen zu begrenzen. In dieser Theorie ist das Substrat, das letztlich Zugrundeliegende der wissenschaftlichen Analyse auf der Basis des Alltagswissens, der Mensch als biologisches Wesen. Die gesellschaftlichen Institutionen sind gewissermaßen interaktionistisch gewonnene Zutaten zu der Spezies Mensch. Dem Rang und dem Prozeßablauf nach kommt zuerst der Mensch als biologisches und interagierendes Wesen mit seiner eingeborenen Instabilität des Organismus. Instabilität aber entspricht nicht den funktionalen Erfordernissen der Conditio humana. Der vorliegende Theorieentwurf steht in der Tradition der subjektorientierten europäischen Philosophie, wie sie z. B. von Descartes geprägt wurde. Descartes war darum bemüht, das Denken mit dem persönlichen Sein zu verbinden (cogito ergo sum) und im Bereich der Wissenschaften etwas Sicheres und Bleibendes (quid firmum et mansurum stabilire) aufzubauen. Diese Perspektive widmet dem Menschsein als solchen die erforderliche und wünschenswerte Beachtung und Bewertung. Nun ist die Soziologie seit Dürkheim meistens als Wissenschaft von den sozialen Institutionen, Strukturen und Systemen definiert worden und nicht als Wissenschaft vom Menschen, obwohl der Mensch im Gefüge einer sozialen Institution eine wichtige Rolle spielt, sei es, daß mein ihn als Element des sozialen Systems sieht oder als Bestandteil der Umwelt der sozialen Systeme. Der Denkansatz von Berger und Luckmann überzeugt, solange der Durchblick auf den Menschen als Menschen gerichtet ist. Sobald die Soziologie sich als eigenständige Wissenschaft etabliert und die Eigendynamik ihres Forschungs- und Beobachtungsgegenstandes - nämlich die gesell-
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schaftlichen Systeme und Strukturen - legitimerweise zur Geltung bringt und bringen muB, verbleibt ihr die Aufgabe, benachbarten Wissenschaften für die langfristige Zubringerarbeit zu danken, sich auf ihre eigenen Möglichkeiten zu besinnen und mit Hochachtung und Vorsicht die Grenzen zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu ziehen. Dazu gehört auch die vielfach nicht beachtete Grenze zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen. Aus der Perspektive des Alltagswissens sieht man dort, wo man Gesellschaft vermutet, immer nur Menschen, die mit anderen Menschen interagieren und kommunizieren. Weniger unmittelbar sieht man die sozialen Vernetzungen und Beziehungen. Gerade diese aber bilden einen zentralen Gegenstand soziologischer Beobachtung, also die sozialen Anziehungen und Abstoßungen, Konflikte und Widersprüche, die sozialen Lernprozesse und Wirkungen. Auch die soziale Vermitteltheit der Natur ist dem wissenschaftlichen Durchblick nur schwer zugänglich. Von daher erhebt sich die Frage, ob es denn legitim ist, in Anbetracht der ständig fortschreitenden Evolution sozialer Systeme dem menschlichen Organismus eine "eingeborene Instabilität" zuzuschreiben. Wenn es richtig ist, daß sich psychische und soziale Systeme in einem ständigen Prozeß der Coevolution befinden, also sich miteinander wandeln, dann müssen sich folgerichtig auch die Bedingungen für die "Natur" des Menschen im Ablauf der Zeit wandeln. Die These vom biologischen Substrat des Menschen ist haltbar, wenn man diesem Substrat das soziale und das kulturelle Substrat hinzufügt. Der Mensch ist nicht nur biologisch bestimmt, sondern auch soziokulturell. Obwohl die Wissenschaft im Sinne von Descartes letztlich eine einzige ist, ist es auf dem gegenwärtigen Standard der Erkenntnistheorie erforderlich, die Grenzziehungen zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen ständig neu abzustecken und der jenseits des Grenzzauns anvisierten Wissenschaft das volle Eigenrecht zuzuerkennen. Dazu gehört auch der Verzicht, eine andere Wissenschaft als "Hilfswissenschaft" zu definieren und abzuqualifizieren. Ein funktionales Erfordernis ist der Verzicht auf die Vermischung von Begriffen der eigenen und der angrenzenden Wissenschaft. Es gibt Beispiele für die Nichtbeachtung der begrifflichen Grenzen zwischen Soziologie und Biologie: 1. Tönnies beschreibt in seinem klassischen Werk "Gemeinschaft und Gesellschaft" die Gemeinschaft: Sie geht von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen aus, und zwar im Sinne eines ursprünglichen und natürlichen Zustandes. "Die allgemeine Wurzel dieser Verhältnisse ist der Zusammenhang des vegetativen Lebens durch die Geburt" (Tönnies 1963, S. 8). Die menschlichen Willen sind durch Abstammung und Geschlecht miteinander verbunden. Primär biologische Begriffe sind: natürlich, Wurzel, vegetativ, Leben, Geburt, Abstammung. 2. In seiner Abhandlung über die Methode der Soziologie formuliert Pareto: "Wenn ich die Lehren der Geschichte nicht falsch interpretiere, scheint mir, daß die Erfahrung gezeigt hat, daß es niemals ein großes, blühendes Volk gab, das nicht von irgendeinem Glauben
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getragen war, und wenn er in nichts anderem bestand als in einem hohen Sinn für den Patriotismus. Und wenn vom Standpunkt der Wissenschaft aus der Zweifel jedes Prinzip angreifen kann und muß, so muS man vom Standpunkt des sozialen Nutzens aus sich ruhig verhalten und diese Prinzipien, die das Gedeihen der sozialen Systeme gewährleisten, unangetastet lassen" (V. Pareto 1975, S. 166). Primär biologische Begriffe sind: blühend, Gedeihen. 3. Karl Mannheim verwendet in seinem Buch über "Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus" die Eliten betreffend die Selektionsprinzipien Blut, Besitz und Leistung. Im Jahre 1935 bemerkt er, das neuerdings im dritten Reich verkündete Rassenprinzip sei interessanterweise "gar nicht mehr das echte Blutsprinzip" (Mannheim 1958, S. 108). Übrigens deutet Pareto im Rekurs auf Ammon und de Lapouge an, die Eliten bestünden aus "rassisch Hochwertigen" und seien durch anthropologische Merkmale gekennzeichnet (Pareto 1975, S. 114). Die zitierten Beispiele für die Verwendung primär biologischer oder doch biologisch stark besetzter Begriffe im Zusammenhang mit soziologischen Argumentationen deuten an, daß eine Vermischung primär soziologischer und primär biologischer Begriffe durch unsachgemäße oder falsche Rezeption seitens der Politik verhängnisvolle Folgen haben kann. Aus der Sicht der Soziologie bleibt die Integrität der Biologie als Wissenschaft damit völlig unangetastet. In diesem Zusammenhang soll lediglich hervorgehoben werden, daß wissenschaftliche Nomenklaturen ihre jeweilige Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit mit absteckbaren Grenzen besitzen und daß Überschneidungszonen und Vermischungen Einbruchstellen für Mißbrauch sein können.
1.2 Strukturalismus und Biologie Jean Piaget behandelt in seinem faszinierenden Werk "Der Strukturalismus" nach den mathematisch-logischen Strukturen die physikalischen und biologischen, analysiert die Anfange des Strukturalismus in der Psychologie und geht auf den linguistischen Strukturalismus ebenso ein wie auf den anthropologischen. Alle vielfältigen Formen des Strukturalismus erstreben oder erreichen seiner Meinung nach dasselbe Ideal der Einsichtigkeit: "für die einen, etwa die Mathematiker, wendet sich der Strukturalismus gegen eine Unterteilung in heterogene Kapitel, indem er durch Isomorphismen die Einheit wiederfindet.... in der Psychologie hat der Strukturalismus vor allem "atomistische Tendenzen" bekämpft, die die Ganzheiten auf Verbindungen zwischen bestehenden Elementen zurückführen wollten..." (Piaget 1973, S. 7). Wichtige Grundeigenschaften des Strukturalismus sind für ihn Ganzheit, Transformation und Selbstregelung. Für ihn ist der Begriff Ganzheit mehr als kumulative Assoziationen oder Molekülbildung aus der Vereinigung der Atome, sondern eine dritte Grundhaltung, nämlich die der operativen Strukturalismen: "Sie nimmt eine verbindende Stellung ein, indem für sie weder das Element noch das Ganze, zählen, sondern die Beziehungen zwischen den
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Elementen..." (ebenda S. 11). Eine strukturierende Tätigkeit kann aber nur aus einem System von Transformationen bestehen. Für Piaget ist es unmöglich, eine allgemeine Theorie der Strukturen zu erarbeiten, die den Forderungen einer interdisziplinären Erkenntnistheorie entsprechen muß..", sich angesichts eines Systems von neuzeitlichen Transformationen wie einer "Gruppe" oder des Netzes der "Gesamtheit der Teile" nicht zu fragen, wie man sie erhält." (ebenda S. 15) Die dritte Grundeigenschaft der Struktur ist, daß sie sich selbst regelt, "und diese Selbstregelung bewirkt die Erhaltung und eine gewisse Abgeschlossenheit." (ebenda) Die Eigenschaft zur Erhaltung stabiler Grenzen, obwohl unbeschränkt neue Elemente aufgebaut werden, setzt folglich eine Selbstregelung der Strukturen voraus. In der Biologie wendet sich Piaget gegen ein mechanisches Weltbild, "gegen simplifizierende und antistrukturalistische Reduktionsversuche." (ebenda S. 45) Im Mittelpunkt der Physiologie steht für ihn die Selbstregulierung des ganzen Organismus, die Homoöstase. Aber nicht nur in der Physiologie, sondern in der gesamten Biologie hat dieser Begriff seinen Stellenwert, z. B. "arbeiten die Gene nicht als Solisten, sondern als Orchester" (ebenda S. 48), die genetische Einheit ist nicht mehr das individuelle Genom, sondern die Population mit ihrer genetischen Neukombination als das wichtigste Werkzeug für die Bildung neuer Erbstrukturen. Der Phänotyp ist die Antwort auf die Interaktion zwischen Umwelt und genetischer Synthese. Für Piaget ist es eine fundamentale Tatsache, daß die Aktion ständig die Objekte modifiziert und daß diese Transformationen gleichfalls Objekte der Erkenntnis sind: "Einer der wesentlichsten Sätze von Karl Marx in bezug auf die Soziologie ist, daß der Mensch in der Absicht zu produzieren auf die Natur einwirkt, wobei er seinerseits durch die Naturgesetze bestimmt wird." (Piaget 1974, S. 252) Daß besonders Piagets Arbeiten über kognitive Prozesse bei der primären Assimilation, Adaption, Interaktion und Äquilibrationsprozesse eine Rolle spielen, ist für Pädagogen interessant. (Vgl. überblickartig: Lefrancois 1976, S. 141-160) Für Piaget sind die drei klassischen Faktoren der Entwicklung das Erbgut, das physische und das soziale Milieu. "Es gibt keinen Genotyp, nicht einmal in der reinen Rasse, der sich nicht in verschiedenen Phänotypen verkörpert. Wenn man dieser fundamentalen Wechselwirkung von inneren und äußeren Faktoren Rechnung trägt, ist also jegliches Verhalten eine Assimilation des Gegebenen an vorher vorhandene Schemata... und zugleich eine Akkomodation dieser Schemata an die vorliegende Situation." (Jean Piaget, a. a. 0., S. 231) Neben diese drei klassischen Faktoren tritt ein fortschreitender - nicht als Zustandsgieichgewicht zu verstehender - Aquilibrationsprozeß, "der zu einer logischen oder "notwendigen" Struktur führt." (ebenda S. 239) "Allgemein gesprochen ist das Gleichgewicht der kognitiven Strukturen also aufzufassen als eine Kompensation der äußeren Störungen mit Hilfe der Aktivitäten des Individuums, die Reaktionen auf diese Störungen darstellen." (ebenda S. 240) Dabei unterstellt Piaget, daß jeder der drei klassischen Faktoren seinerseits Gleichgewichtsgesetzen unterworfen ist und daß diese Wechselwirkung selbst ein Aspekt der Aquilibration aufweist. Für Piaget sind zwei Thesen wichtig, die gleichberechtigt nebeneinander stehen 1) jede Entstehung geht von einer Struktur aus und mündet in einer Struktur 2) Jede Struktur hat eine Genese. Er begründet seine erste These mit der Entwicklungsstufe in der Adoleszenz. In dieser Entwicklungsstufe
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konstituiert sich beim Jugendlichen mit der Aussagenlogik eine neue Struktur der formalen Intelligenz, "die die Inversionen und Reziprozitäten in ein und demselben System vereint, und deren Einfluß auf alle Bereiche der formalen Intelligenz dieser Stufe beträchtlich ist." (ebenda S. 248) Für Piaget sind Genese und Struktur untrennbar miteinander verbunden: "Jede Struktur erfordert einen Aufbau. Jeder solcher Aufbau geht auf frühere Strukturen zurück, die uns letztlich auf das biologische Problem zurückführen." (ebenda S. 271) 2. Soziologie und Geographie Die Verbindungslinien zwischen Soziologie und Geographie sind vielfältiger Art. Der Uberblick über einzelne soziologische Denk- und Forschungsansätze ergibt eine Fülle von Querverbindungen zur Geographie, die hier nur angedeutet werden können. - Wechselwirkung zwischen sozialen Systemen und geographischen Determinanten Einen grundlegenden und tragfahigen Ansatz hat Pareto in seiner Abhandlung über das soziale System vorgelegt (Pareto 1975, S. 262 ff.): Die Form der Gesellschaft wird durch alle Elemente determiniert, die auf sie einwirken. Sie wirkt ihrerseits wiederum auf diese Elemente ein. Dabei geht eine wechselseitige Determination vor sich. Pareto unterscheidet drei Kategorien von Elementen: 1. Boden, Klima, Flora, Fauna, geologische und mineralogische Bedingungen usw. 2. Andere für eine Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt externe Elemente, d. h. die hinsichtlich des Raumes externen Einwirkungen anderer Gesellschaften auf sie. 3. Interne Elemente, zu denen hauptsächlich die Rasse, die Residuen (oder besser: die durch sie manifestierten Gefühle), die Neigungen, die Interessen, die Haltungen gegenüber rationalem Denken und Beobachtung, der Wissensstand usw. gehören. Paretos Rasse- und Elitebegriff bedarf dringend einer kritischen Aufarbeitung. Abgesehen von dieser u. a. zeitbedingten "ideologischen" Engführung gehört Pareto zu den Soziologen, die erkannt haben, daß die genannten Elemente "nicht unabhängig" voneinander sind, daß vielmehr ein Großteil von ihnen interdependent ist. Somit hat Pareto gezeigt, daß z. B. eine Interdependenz besteht zwischen der Struktur eines soziaJen Systems und den geographischen und geologischen Bedingungen (Beispiel: Erze, Erdölvorkommen usw.) des Raumes, mit dem das betreffende soziale System verbunden ist. Für die Neufassung der Systemtheorie durch Luhmann ist das Umweltverhältnis konstitutiv für die Systembildung (Luhmann 1985, S. 242). Die Umwelt ist nicht eine Restkategorie, sondern Voraussetzung der Identität des Systems. Sozialen Systemen liegt die Umwelt "zu Grunde", nicht das Subjekt. Weder ontologisch noch analytisch ist das System wichtiger als die
137 Umwelt. Beides ist das, was es ist, nur im Bezug auf das jeweils andere. Umwelt im Sinne Luhmanns ist einfach "alles andere". Sie ist die Verlängerung der Handlungssequenzen nach außen. Da auch der Mensch (bei Parsons wie bei Luhmann) Bestandteil der Umwelt der sozialen Systeme ist, erfahrt die Umwelt im Begriffskontext der Systemtheorie eine erhebliche Aufwertung. Jedes soziale System grenzt sich gegenüber anderen Systemen ab. : Alle höhere Systementwicklung setzt Grenzen voraus (Luhmann 1985, S. 52 ff.). Die Geschlossenheit der Systeme durch Grenzziehung ist Voraussetzung für die Öffnung der Systeme nach außen hin. In diesem Zusammenhang wäre die Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen den sozialen und den geographischen Grenzziehungen eine mögliche Aufgabe. Der Luhmannsche Typ von Systemtheorie definiert sich selbst als universalistisch (Luhmann 1985, S. 19) hinsichtlich der Reichweite und Ansprüche. Dieser Anspruch bezieht sich auch auf die ökologische Perspektive und führt die Analyse damit in die Nähe der Geographie. Gegenstand der Theorie ist die Einheit der Differenz des Gesellschaftssystems und seiner Umwelt. Es geht um die Welt insgesamt, gesehen durch die Systemreferenz des Gesellschaftssystems. Die Vorstellung der Elemente des Gesellschaftssystems muß von substantiellen Einheiten im Sinne von Individuen auf selbstreferentielle Operationen umgestellt werden, die nur im System und nur mit Hilfe eines Netzwerks von gleichen Operationen hergestellt werden können (Autopoiesis). In seiner Studie über "Ökologische Kommunikation" (1986) führt Luhmann aus: Das System, das von Umweltproblemen betroffen ist, hat die eigenen Schäden mitverursacht. Das macht die Tragik der Entscheidungen aus. Vor allem in Rechtspolitik und Jurisprudenz, so argumentiert Luhmann, beruft man sich auf das Verursacherprinzip bei Kostenzuweisung und bei der Begrenzung von Verantwortlichkeit. Der heimliche Sinn des Verursacherprinzips ist denn auch nicht eine Kausalaussage, sondern eine Differenzaussage. Die Feststellung von Ursachen, von Verantwortung und von Schuld dient immer auch der Ausgrenzung von Nichtursachen, der Feststellung von Nichtverantwortung und von Schuldlosigkeit. Daß die Produzenten es sind, heißt dann: daß die Konsumenten es nicht sind. Das Attributionsverfahren mag seinen eigentlichen Sinn in der Exkulpation haben. - Verhakungen zwischen Siedlungssoziologie und Geographie Einen weiteren Zugang zur Geographie findet die Soziologie über die Gemeinde, die als soziales System begriffen wird, "d. h. als ein Zusammenhang, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, daß alle Menschen, die in ihn einbeschlossen sind, ein Bewußtsein dieses Zusammenhangs sowie seiner Grenzen und seiner Verschiedenheit von anderen ähnlichen Zusammenhängen haben" (R. König 1958, S. 29). Im Unterschied zu Pareto, der die physiologischen Bedingungen als Elemente des sozialen Systems sieht, ist für R. König das soziale System einer Gemeinde "das strukturelle Zusammenwirken spezifisch sozialer Momente, die unabhängig von den vielen demographischen, wirtschaftlichen und ökologischen Einzelzügen ... das Uberleben der sozialen Wirklichkeit der Gemeinde in der Zeit garantieren" (ebenda, S. 29 f.). Soziale und geographische Systeme sind in vielen Hinsichten miteinander verflochten. Man kann von der Hypothese ausgehen, daß die Menschheitsgeschichte sich in enger Koppelung mit geographischen
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Bedingungen entwickelt hat. Städte haben sich vielfach dort gebildet, wo günstige Bedingungen für den regelmäßigen Güteraustausch im Sinne des Marktes (vgl. Max Weber 1956, S. 735 ff.) bestanden. Die Stadt im Sinne Webers ist "Marktansiedlung". Während die Gemeinde als Interaktionssystem (basierend auf Wahrnehmung und Kommunikation) angesehen werden kann, ist nicht jede Stadt im ökonomischen und politisch-administrativen Sinne eine Gemeinde, da z. B. großstädtische Sozialsysteme ein Höchstmaß an Komplexität aufweisen. In Gemeinden als Interaktionssystemen ist Anwesenheit als Konstitutions- und Grenzbildungsprinzip (vgl. Luhmann 1985, S. 563 f.) durch eine andere Qualität gekennzeichnet als die hochgradige soziale Komplexität der Großstädte, obwohl es auch und gerade hier etablierte Interaktionssysteme gibt. H. P. Bahrdt hat den Markt als die früheste Form einer Öffentlichkeit im soziologischen Sinn bezeichnet (Bahrdt 1961, S. 38). Für ihn ist die Stadt eine Ansiedlung, in der das gesamte Leben die Tendenz zeigt, sich als Öffentlichkeit oder aber als Privatheit zu polarisieren. Ein Verknüpfungsmodell zwischen Raumnutzung und Sozialverhalten bildet die Figurationstheorie von Norbert Elias (v. Borries/Clausen/Simons 1978, S. 13 ff.). Dörfer und Städte, Universitäten und Fabriken, Stände und Klassen, Familien und Berufsgruppen, feudale und industrielle Gesellschaften bilden im Modell von Elias (Elias 1970) Netzwerke von Individuen, d. h. Figurationen. Im Zentrum der wechselnden Figurationen steht ein fluktuierendes Spannungsgleichgewicht, "das Hin und Her einer Machtbalance" . System- wie Figurationstheorie zielen auf die Einheit der Differenz von sozialem System und Umwelt. Mit Recht weisen von Borries/Clausen/Simons auf Rahmenbedingungen für Siedlungsprozesse hin (a. a. O., S. 14 ff.): Natur (z. B. Verwitterung, Bodenbildung, Großklima, Geländeklima und Stadtklima, Niederschlagsmengen und Grundwasser), Ökonomie, Politik. Die Autoren kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, "daß die Disparitäten in der Bundesrepublik alle Aspekte der Raumstruktur prägen: die Wirtschaftsstruktur, die Versorgung im Infrastrukturbereich und die Siedlungsstruktur" (a. a. O., S. 33). Der Begriff Disparität bezieht sich (in Anlehnung an Bergmann, Offe u. a.) auf die ungleichgewichtige Befriedigung der verschiedenen Lebensbedürfnisse. Weitere Grenzbereiche zwischen Soziologie und Geographie sind z. B. allgemeine Probleme der Ökologie (oikos = Wohnhaus, Haus und Hof, Hab und Gut, Familie, Geschlecht, fester Wohnsitz, Heimat, Vaterland), Wohnbedürfnisse, Wohnungswirtschaft, vergesellschaftete Natur, Stadt- LandKontinuum als tendenzielle Angleichung von ländlichen und städtischen Lebensformen. Nicht zuletzt gehört in diesen Grenzbereich die Untersuchung der sozialen Ungleichheit (K. M. Bolte/St. Hradil 1984) etwa am Beispiel der ungleichen Infrastrukturversorgung und der Ungleichheit der Wohnverhältnisse, ferner die Entwicklung der Bevölkerungslehre seit G. Mackenroth (G. Mackenroth 1953).
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3. Soziologie und Geschichte Die handlungstheoretisch ausgerichtete Soziologie Max Webers hat eine Reihe von leitenden didaktischen Hinsichten insbesondere für das bezeichnete Unterrichtsfach vermittelt. Für das Verständnis historischer und politisch-sozialer Zusammenhänge und Prozesse bietet die von Weber in seinem doppelbändigen Werk "Wirtschaft und Gesellschaft" (M. Weber 1956) entworfene Typologie der Herrschaft eine beachtenswerte Grundlage. Herrschaft ist für Weber die Chance, für Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden. Jede Herrschaft sucht den Glauben an ihre Legitimität zu erwecken und zu pflegen. Es gibt drei reine Typen legitimer Herrschaft: 1. Die legale Herrschaft 2. Die traditionale Herrschaft 3. Die charismatische Herrschaft Zu 1. Die legale Herrschaft beruht auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen. Eine wichtige Form ist die bürokratische Herrschaft. Sie beruht auf verschiedenen Prinzipien: Feste Kompetenzen, Amtshierarchie und Instanzenzug (fest geordnetes System der Uber- und Unterordnung), Aktenführung, eingehende Fachschulung, volle zeitliche Inanspruchnahme, allgemeine Regeln. Die Ausführung der legal-bürokratischen Herrschaft erfolgt durch Beamte (mitgemeint sind auch die Angestellten, wenn man heutige Maßstäbe anlegt). Der Beamte bezieht eine regelmäßige Geldentlohnung in Form eines festen Gehalts. Sein Alter ist durch Pension gesichert. Die Geld Wirtschaft ist für den Bestand der Bürokratie von großer Bedeutung, wenn sie auch nicht als Bedingung der Existenz der Bürokratie angesehen werden kann. So ist das neue Reich in Ägypten, das Weber als das historische Muster aller späteren Bürokratien betrachtet, zugleich ein großartiges Beispiel naturalwirtschaftlicher Organisation. In der modernen Beamtendisziplin ist die Unterordnung des Beamten gegenüber seinen Vorgesetzten am straffsten entwickelt. Für Weber ist der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation ihre rein technische Überlegenheit über jede andere Form. Die Rationalität (im Sinne von Glauben an die Berechenbarkeit der Dinge) der bürokratischen Herrschaft besteht in den berechenbaren Regeln, die zu befolgen sind. In ihrer vollen Entwicklung wird die Bürokratie bestimmt durch das Verhaltensprinzip "sine ira ac stutio" (ohne Zorn und Voreingenommenheit). Dank der Rationalität gehört eine einmal voll durchgeführte Bürokratie "zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden". Weber betrachtet die Bürokratisierung als das spezifische Mittel, Gemeinschaftshandeln in rational geordnetes Gesellschaftshandeln zu überführen. Zu 2. Die traditionale Herrschaft beruht auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen. Der Herrschaftsverband ist im einfachsten Fall ein durch Erziehungsgemeinsamkeit bestimmter Pietätsverband. Der Herrschende ist persönlicher Herr. Sein Verwaltungsstab besteht aus persönlichen Dienern. Die Beherrschten sind nicht Mitglieder, sondern traditionale Genossen oder Untertanen. Nicht sachliche Amtspflicht, sondern persönliche Dienertreue bestimmen das Verhältnis zum Herrn. Die
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primären Typen der traditionalen Herrschaft sind die Fälle des Fehlens eines persönlichen Verwaltungsstabs des Herrn: Gerontokratie und Patriarchalismus. Das Höchstmaß der Herrengewalt ist der Sultanismus. Bei der patriarchalen Herrschaft ist die persönliche Unterwerfung unter den Herrn von Bedeutung. Die Autorität der Honoratioren (honor ist die Ehre) beruht auf sozialer Ehre (Prestige). Die meisten großen Kontinentalreiche haben bis an die Schwelle der Neuzeit stark patrimonialen Charakter an sich getragen. Der Patrimonialherr rekrutiert seine Beamten zunächst und in erster Linie aus den ihm persönlich kraft leibherrlicher Gewalt Unterworfenen, Sklaven und Hörigen, da er auf deren Gehorsam unbedingt rechnen kann. Das Erbteilungsprinzip gefährdet die Dauerhaftigkeit der Patrimonialgebilde. Zu 3. Die charismatische Herrschaft beruht auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen. Der Begriff Charisma (Gnadengabe, Ausstrahlung) wird von Weber gänzlich wertfrei gebraucht. Der Träger des Charisma ergreift die ihm angemessene Aufgabe und verlangt Gehorsam und Gefolgschaft kraft seiner Sendung. Er ist auf die Bewährung seiner Herrschaftsausübung angewiesen. Die Anerkennung des charismatisch Qualifizierten ist die Pflicht derer, an welche sich seine Sendung wendet. Weber formuliert. "Die Träger des Charisma: der Herr wie die Jünger und Gefolgsleute, müssen, um ihrer Sendung genügen zu können, außerhalb der Bande dieser Welt stehen, außerhalb der Alltagsberufe ebenso wie außerhalb der alltäglichen Familienpflichten" (M. Weber 1956, S. 664). Das Charisma beruht auf Offenbarungs- und Heroenglauben, auf der Uberzeugung vom Wert einer Manifestation religiöser, ethischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, politischer oder anderer Art, wie Heldentum, Askese, Krieg, riehterliche Weisheit, magische Begnadung. Der Glaube revolutioniert von innen heraus die Menschen. Das Charisma erzwingt die innere Unterwerfung unter das noch nie Dagewesene, absolut Einzigartige. Es ist im wertfreien Sinne die spezifisch schöpferische revolutionäre Macht der Geschichte. Wenn es den Charakter einer Dauerstruktur annimmt, als Gemeinde von Glaubensgenossen oder Kriegern oder Jüngern oder als Parteiverband, so muß die charismatische Herrschaft, die als solche nur in der Anfangsphase der Systementwicklung stand, ihren Charakter z. B. in Richtung auf Rationalisierung oder Traditionalisierung ändern. Mit der Veralltäglichung mündet der charismatische Herrschaftsverband weitgehend in die Strukturen der Alltagsherrschaft: in die patrimoniale (insbesondere: ständische) oder bürokratische Herrschaft ein.
Kritische Interpretation Die Webersche Methode der (idealtypischen) Typisierung bestimmter Ausschnitte aus der soziokulturellen Wirklichkeit läßt sich auf den erkenntnistheoretischen Ansatz Kants zurückführen. Kant baut ein System von Grundbegriffen (Kategorien) auf (Beispiel: Einheit, Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit, Wechselwirkung). Dieses System wird sozusagen als feststehendes Netz über die vielgestaltige Wirklichkeit geworfen, damit sie in eine Ordnung gebracht, besser überschaut und geistig beherrscht werden kann. Weber entwickelt
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mit seinen Typologien Begriffssysteme, die dazu dienen, die sozialen Gefüge ordnend zu verstehen im Sinne einer "verstehenden Soziologie" mit dem Ziel, diese Gefüge rational in den Griff zu bekommen, damit die soziale Evolution die Menschen nicht schicksalhaft überrollt. Mit dieser Methode hat Max Weber sich weltweit auch bei theoretisch Andersdenkenden großen Respekt verschafft, und das bereits für die Dauer eines ganzen Jahrhunderts. Wenn die Wirklichkeit in ihrer Komplexität durch die Konfrontation mit Kategoriensystemen zum Stand gebracht wird und sich somit Erkenntnis konstituiert, werden Handlungen vollzogen, die die Erkenntnisgewinnung überhaupt (transzendental) betreffen und ermöglichen. Und Handlungen in diesem Sinne kann nur das Individuum vollziehen, nicht dagegen eine Gruppe, ein soziales System. Soziale Systeme können nicht denken oder handeln. Sie handeln höchstens durch einzelne Personen (als Sprecher, Vorsitzender usw.) hindurch. Soziale Systeme können allerdings kommunizieren. Das ist nach Darstellung der moderenen Systemtheorie der Grundvorgang in sozialen Systemen. Da soziale Systeme nicht denken und handeln können, bleibt keine andere Wahl, als das Subjekt als letzte Grundlage des soziokulturellen Geschehens anzusetzen. Handlungstheorie ist subjektorientiert.
4. Kunst- und musiksoziologische Beiträge der kritischen Theorie In der pädagogischen Alltagsarbeit genügt es nicht, kunst- und musiksoziologischen Daten, Fakten und Fertigkeiten zu vermitteln. Vielmehr legt die Entwicklung der modernen Wissenschaftstheorie die Aufforderung nahe, auch über die gesellschaftliche Vermittlung dieser Daten nachzudenken. Damit ist z. B. gemeint, daß Kunst von gesellschaftlichen Prozessen und Bedingungen her erklärt werden muß, wenn man sie beurteilen will. So begreift Arnold Häuser die Kunstwerke von der Arbeit und von den Herrschaftsverhältnissen her (Institut für Sozialforschung 1956, S. 94 ff.). Der Verzicht auf "große Synthesen" in der Kultursoziologie läßt sich nicht mit dem Anwachsen des Stoffes erklären, eher schon mit dem Bewußtseinszustand der Wissenschaft und ihrer Träger, mit dem "Verfall philosophischer und schließlich überhaupt theoretischer Gesinnung". Die kritische Theorie hält die Herrschaft des Positivismus für eine hemmende Ideologie. Die Anwendung der dialektischen Methode auf Kunstsoziologie besagt: Die künstlerischen Formen mit allen Vermittlungen und in aller Differenziertheit werden aus sozialen Bedingungen entwickelt. Kunst wird erklärt aus der gesellschaftlichen Totalität, "ohne daß doch darüber der spezifische Ort und die spezifische Funktion der einzelnen Phänomene zu kurz kämen". Der wachsende Widerspruch zwischen Gesellschaft und neuer Kunst ist gesellschaftlich kaum begriffen worden. Man beläßt Kunst und Gesellschaft einfach in ihrer Trennung, oder mein opponiert gegen die moderne Kunst. Gegebenenfalls muß der Künstler auf das Publikum verzichten, dessen Bedürfnisse zu befriedigen sich mit ihrer Einsicht nicht mehr vereinbaren läßt. Für die Kunstsoziologie wird es entscheidend, das Verhalt-
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nis von Künstler und Publikum als gesellschaftlich vermittelt zu begreifen. Nach Horkheimers Auffassung dient die empirische Wissenschaft den Aufgaben der Naturbeherrschung. Im ästhetischen Verhalten entäußert sich der Mensch gleichsam seiner gesellschaftlichen Funktion und reagiert als einzelner. Trotz aller Vermittlungen zwischen Privatleben und gesellschaftlicher Produktion stimmen beiden Sphären nicht überein. Die Autonomie des Schönen beruht auf dieser Unstimmigkeit. Durch die extreme Steigerung der Autonomie des Schönen gewinnt der vorgeblich asoziale Aspekt der modernen Kunst. Für Horkheimer verzichten die letzten Kunstwerke auf die Illusion bestehender Gemeinschaft. Vielmehr sind sie Denkmale des einsamen und verzweifelten Lebens, "das keine Brücken zum anderen oder auch nur zum eigenen Bewußtsein findet". Heute kann die Kunst der Emanzipation am besten dienen, die aus den gesteuerten und nivellierten Zusammenhängen einer Konsumierbarkeit sich löst. "Die großen rationalistischen und idealistischen Systeme ebenso wie die konstruktiv organisierende Kunst vertreten kraft ihrer Beziehung auf die Totalität zuzeiten die Sache der Menschen besser als der Empirismus jeglicher Gestalt, der sie auf das bloße Dasein vereidigen will..." (ebenda, S. 98). Von der großen symphonischen Musik des ausgehenden achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts ging eine kollektive Kraft aus. Die besondere Funktion der Musik bestand darin, daß sie mehr als andere künstlerische Medien in der individualistischen Gesellschaft immer wieder das Bewußtsein zu erwecken schien, jene sei trotz aller Gegensätze ein einstimmiges Ganzes. Die große Musik drückt Gemeinschaft aus. Sie verklärt aber die gesellschaftlichen Verhältnisse, indem sie durch das Musizieren die gesellschaftlichen Verhältnisse so erscheinen läßt, als wäre die Gemeinschaft der Menschen bereits verwirklicht, "während sie angesichts der Musik bloße Gemeinschaft von Zuhörern, Publikum, also konsequenzlos bleibt". Max Weber dachte die Geschichte der Musik mit dem komplexen europäischen Rationedisierungsprozeß zusammen. Er erbrachte den Nachweis, daß nur durch diese Rationalisierung (im Sinne von Beherrschung der Dinge durch Berechnung, Entzauberung der Welt) die Verfügung über das Tonmaterial und damit die Entwicklung der großen Musik möglich wurde. Aus der Sicht der kritischen Theorie erscheint Webers musik-soziologischer Beitrag als beachtenswert: "Gerade die fortschreitende Subjektivierung und Beseelung ist in weitem Maße als Fortschritt der Rationalisierung zu verstehen. Nicht nur wurde durch Weber die immanente ästhetische Entwicklung dieses Kunstbereiches in einen Sinnzusammenhang mit der Gesellschaft insgesamt gerückt, sondern es wurde auch ... den irrationalen Auffassungen von der Musik wissenschaftlich der Boden entzogen" (ebenda, S. 100); denn "Max Weber hat dargetan, daß alle die Leistungen, durch die Musik als Ausdrucksträger, als Stimme der Innerlichkeit geformt wurde, selbst Vernunft voraussetzen und auf den durch die ratio bestimmten Lebenszusammenhang der Menschen zurückdeuten". Strawinskys Musik enthält nach Darstellung der kritischen Theorie von Anbeginn etwas Starres und Repressives. Sie liquidiert der Absicht nach das Moment der Subjektivität: "Wenn in der Tat die totalitäre Herrschaft den Menschen nicht bloß von außen angetan wird, sondern gleichzeitig in ihnen sich vorbereitet, dann liefert Strawinskys Musik ein Kryptogramm der
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anthropologischen Veränderungen, die es dahin brachten" (ebenda, S. 100 f.). Die Formel des Jazz besteht aus der Perspektive der kritischen Theorie darin, "daß gerade durch seine Schwäche und Hilflosigkeit dies von unregelmäßigen Rhythmen repräsentierte Subjekt sich in die Regelmäßigkeit des Gesamtverlaufs einpaßt und, indem es gleichsam die eigene Ohnmacht zugesteht, vom Kollektiv übernommen und belohnt wird. Der Jazz entwirft ein Schema der Identifikation: dafür, daß das Individuum sich selbst durchstreicht und die eigne Nichtigkeit einbekennt, darf es stellvertretend an der Macht und Herrlichkeit der Kollektivität teilhaben, in die es gebannt ist. Unablässige Wiederholung bläut dies Ritual der Identifikation und Anpassung ein, bis es dem Hörer zur zweiten Natur wird" (ebenda, S. 102).
Kritische Interpretation Kritische Theorie bringt Kunst in Verbindung mit bestimmenden Merkmalen der gesellschaftlichen Struktur, mit Bedingungen der Herrschaft, mit den Gesetzmäßigkeiten der Arbeit (z. B. Lohnarbeit), mit Prozessen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Kunst ist mit soziaJen Bedingungen vermittelt, sie entwickelt sich nicht auf freisch weben der Ebene. Dabei ist der Begriff der gesellschaftlichen Totalität, aus der heraus Kunst soziologisch erklärt wird, so komplex, daß es notwendig wäre, weitere nähere Bestimmungen vorzunehmen. Neben den bereits hier aufgezählten gesellschaftlichen Strukturmerkmalen Arbeit, Herrschaft, Gemeinschaft/Gesellschaft werden erwähnt: Verzicht auf große Synthesen in der Wissenschaft, Verfall theoretischer Gesinnung überhaupt, Differenziertheit der künstlerischen Formen, Widersprüchlichkeit (zwischen Kunst und Gesellschaft als Beispiel), Autonomie des Schönen, Individualisierung und Entfremdung, Emanzipation, Nivellierung und Konsumierbarkeit, Scheinfunktionalität (etwa der großen klassischen Musik hinsichtlich der Gemeinschaftsbildung), Verklärung gesellschaftlicher Verhältnisse durch Kunst, Rationalisierung, Subjektivierung. Die in der neueren Systemtheorie angesprochene Selbstreferenz und gesellschaftliche Reflexivität wird als solche nicht zum Gegenstand der Analyse gemacht, eher schon wird die Reflexionsfähigkeit der modernen Wissenschaft, die sich überwiegend als positivistisch versteht, als Verfallserscheinung gegenüber den großen rationalistischen und idealistischen Systemen (gemeint ist z. B. Hegel) deklariert. Die Nähe der kritischen Theorie zur Sozialphilosophie und ihre Orientierung an philosophischen Systemen um 1800 bringt diesen an sich kreativen Denkansatz immer wieder in die Situation des Wehklagens über wertvolle Teile der verlorenen Vergangenheit. Die Systemtheorie dagegen nimmt Abschied von diesen großen vergangenen Systemen schon deswegen, weil sie teleologisch im Sinne von voraus gedachten Fixpunkten in der fernen Zukunft sind, die dann durch die gesellschaftliche Entwicklung erreicht werden oder als Zielpunkte zu erreichen sind. Ein solcher Determinismus wird im Interaktionismus
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überwunden, der die gesellschaftliche Wirklichkeit als eine durch Interaktionen konstruierte ansieht. Er wird auch in der Systemtheorie überwunden, nach der die sozialen Systeme Bezug auf sich selbst nehmen, wenn sich die gesellschaftliche Wirklichkeit in Interpenetrationsprozessen unter den Systemen autopoietisch in Form einer Sich-selbst-Konstruktion fortentwickelt. Interaktionismus und Systemtheorie wären einem soziologischen Realismus zuzuordnen, die kritische Theorie eher schon einem kritischen Idealismus mit realistischen Impulsen.
5. Sprache und Interaktion (Soziolinguistik) Ein beachtenswertes Verbindungsstück zwischen den Fächern Soziologie und Deutsch ist die Soziolinguistik als Versuch, sprachliche Strukturen mit Interaktionssystemen zu verbinden und somit sprachliche Ausdrucksformen gesellschaftlich zu verorten. Sprache ist die künstlichste und die menschlichste aller menschlichen Konstruktionen (vgl. Cicourel 1975, S. 187). Sprache ist ein Produkt menschlichen Handelns. Wo gesprochen wird, da befinden sich im Regelfall mehrere Menschen, soziale Systeme in unterschiedlichen Größen. Sprache ist zugleich eine menschliche und gesellschaftliche Errungenschaft. Ein basaler Vorgang in sozialen Systemen ist die Kommunikation, und eine basale Form der Kommunikation ist die Sprache. Sprache ist ein zentrales Vermittlungsmedium im Bereich sozialer Systeme. Durch die vielgestaltigen Sprachen und Dialekte werden Informationen übermittelt. Dadurch werden Prozesse des Verstehens ermöglicht. In strukturfunktionalistischer Hinsicht erfüllt die Sprache verbindende Aufgaben innerhalb der sozialen Systeme und zwischen den sozialen Systemen. Zugleich ist die Sprache ein Medium zur Differenzierung und Artikulation kollektiver Erwartungen und Vorstellungen. Daher kann man sagen, daß Sprache zugleich verbindet und trennt. Sprache ist zudem ein fundamentales Mittel, die gesellschaftliche Evolution zu bewerkstelligen und kollektive Verhaltensstrukuren herauszukristallisieren. Sie ist ein fundamentales Ausdrucksmittel des Individuums und der gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen. Sprachliche Differenzierungen gibt es bereits innerhalb einer Familie und von einem Ort zum benachbarten Ort. Auffällig sind die sprachlichen Differenzierungen zwischen den sozialen Schichten und Klassen. Der hier angesprochene Zweig der Soziolinguistik ist in den vergangenen Jahrzehnten ausführlich durchdiskutiert worden (vgl. z. B. N. Dittmar 1974; W. Niepold 1971; D. Lawton 1970; M. Hartig/U. Kurz 1971; H. J. Göppner 1978). Die Reflexion über den Tatbestand, daß soziale Benachteiligung sich in kollektiver sprachlicher Kompetenz ausdrückt, ist als Zeichen übergreifender gesellschaftlicher Selbstreferenz zu deuten, als Ausdruck dafür, daß die Selbstbeschreibungsprozesse in sozialen Systemen die differenzierenden Funktionen der jeweiligen sprachlichen Kompetenz im Bereich verschiedener sozialer Schichten kritisch erfaßt haben. Ein anderer wichtiger struktureller Aspekt ist die Sozialisation durch Sprache (vgl. z. B. H. J. Göppner 1978; K. Hurrelmann/D. Ulich 1982). Neben den strukturell-funktionalen und systemtheoretischen Aspekten der
145 Soziolinguistik haben die interaktionistischen Impulse eine durchschlagende und konstruktive Wirkung erzielt. Eine klare Ausgangsposition für das Verständnis der interaktionistischen Soziolinguistik bilden die drei Prämissen, die H. Blumer seinen Ausfuhrungen über die Grundsätze des symbolischen Interaktionismus voranstellt (Blumer 1973, S. 81): 1. Menschen handeln "Dingen" gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen. 2. Die Bedeutung solcher Dinge ist aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet oder aus ihr entstanden. 3. Die Bedeutungen, die die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, werden in einem interpretativen Prozeß gehandhabt und abgeändert. Für den interaktionistischen Theorieansatz ist die Sprache das entscheidende Kommunikationssymbol. Die Bedeutungen, die den Dingen im Interaktionsprozeß zugeschrieben werden, ergeben sich durch fortlaufende Interpretation. So wird die Methode der Interpretation zum wichtigsten methodischen Mittel zur Erkenntnisgewinnung. In dem interaktionistisch orientierten soziolinguistischen Theorieansatz von Cicourel (Cicourel 1975) beginnt die kindliche Aneignung der Sozialstruktur im Sinne der Sozialisation mit einer einfachen Konzeption von Interpretationsverfahren und Oberflächenregeln (normative Regeln, a. a. 0 . S. 79). Der Grundstock an common-sense-Kenntnissen wird anfänglich in Form von einzelnen Lexemen, d. h. lexikalischen Einheiten, gelegt. Cicourel geht davon aus, daß der kindliche Spracherwerb, d. h. in seinem Sinne: der Erwerb von Interpretationsverfahren und Oberflächenregeln, dadurch verkompliziert wird, "daß das Kind beschränkten oralen Wörterbüchern in verschiedenen Milieus ausgesetzt ist, wobei wir hier über die Entwicklungsfolge noch kaum etwas wissen. Ich nehme an, daß die Aneignung von Bedeutungsstrukturen und der Gebrauch von Lexikoneinheiten durch die Entwicklung der Interpretationsverfahren gesteuert wird. Interpretationsverfahren filtern also die Aneignung und den Gebrauch von Lexikoneinheiten, die als indexikalische semantische Inputs und Outputs verstanden werden" (a. a. O., S. 43). Das bei Mead hochgradig bedeutsame Moment der Reflexion geht unmittelbar in den Ansatz von Cicourel ein: "Die Interpretationsverfahren und ihre reflexiven Eigenschaften liefern Interaktionsteilnehmern kontinuierlich Instruktionen, so daß von den Mitgliedern einer Gesellschaft gesagt werden kann, sie programmieren gegenseitig ihre Handlungen im Verlauf der Interaktionsszene" (a. a. O., S. 40). Interaktionistische Theorie ist letztlich Handlungstheorie, wie auch Cicourel eindeutig bestätigt: "... die Interpretationsverfahren und reflexiven Eigenschaften von Interaktionsteilnehmern werden erst dadurch zu Instruktionen, daß der Handlungszusammenhang, der aus äußeren Erscheinungen, körperlichen Bewegungen, Objekten, Gesten und Lauten besteht, zu Schlußfolgerungen verarbeitet wird, die weiteres Handeln zulassen" (a. a. O., S. 41). Für Cicourel setzt die Verbindung von Interpretationsverfahren mit Oberflächenregeln ein generatives Modell im Sinne von Chomskys Arbeiten über generative oder Transformations-Grammatik voraus (a. a. O., S. 30). Die generative Grammatik ist kein Modell für einen Sprecher oder Hörer, sondern
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eine Basis, um zu verstehen, wie tatsächlicher Gebrauch von geschriebenen oder common-sense-Oberflächenregeln möglich ist. Der Erwerb von Interpretationsverfahren und Oberflächenregeln wird als notwendig angesehen, um die Alltagsaktivitäten von Gesellschaftmitgliedern zu verstehen. Cicourel legt einige fragmentarische Andeutungen zur Konstruktion eines Modells derartiger Interpretationsverfahren vor (a. a. 0 . , S. 31 ff.): 1. Die Reziprozität der Perspektiven. Gemeint ist im Rekurs auf Schütz die Idealisierung der Auswechselbarkeit von Standpunkten, wenn Sprecher und Hörer die Plätze vertauschen würden. 2. Die et-cetera-Annahme. Verstehen setzt voraus, daß Sprecher und Hörer unklare und unverstandene Ausdrücke "auffüllen". 3. Normalformen. Die beiden genannten Interpretationsregeln setzen die Existenz bestimmter Normalformen akzeptabler Rede und Erscheinungen voraus. 4. Retrospektiv-prospektiver Ereignissinn. Sprecher und Hörer erwarten, daß kommende Äußerungen entscheiden werden, was zuvor gemeint war. 5. Selbstreflexivität von Gesprächen. Ein Gespräch gehört normalerweise "dazu", es ist konstitutiver Bestandteil aller Interaktionszusammenhänge. 6. Deskriptive Vokabularien als indexikalische Ausdrücke. Die Vokabularien sind Index (indico = ich sage an, kündige an) der Erfahrungen. Interpretationsverfahren und deren reflexive Eigenschaften rüsten das Kind mit einem Sinn dafür aus, was es heißt, in einer sozialen Struktur kompetent zu sein. Diese Kompetenz ist notwendige Voraussetzung für die Performanz, d. h. für die "Transformation von verbalen und nichtverbalen Materialien in Instruktionen, durch die sich die Mitglieder einer sozialen Gruppierung gegenseitig auf die zu leistenden Handlungen hin programmieren" (a. a. O., S. 65). Performanz ist die konkrete Realisierung von Ausdrücken in einer bestimmten Situation durch einen Sprecher (a. a. O., S. 114). Für Cicourel besteht der Unterschied zwischen dem Linguisten und dem Ethnomethodologen darin, daß der Linguist hauptsächlich auf einen Begriff von Bedeutung baut, der auf der Syntax beruht, während der Ethnomethodologe die interpretativen Fähigkeiten betont, die durch das notwendige Zusammenspiel von Kompetenz und situationsgebundener Performanz vorausgesetzt werden (a. a. O., S. 114). Für den Ethnomethodologen werden Sprechen und Handeln als indexikalische Entfaltungen der alltäglichen Welt produziert und verstanden. "Der Ethnomethodologe sieht Bedeutung als ein situationsgebundenes, sich selbst organisierendes und reflexives Zusammenwirken von Gedächtnisorganisation, praktischem Alltagsdenken und Sprachverhalten" (a. a. O., S. 115).
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Kritische Interpretation Die Soziolinguistik bemüht sich um die Einsicht in Vermittlungen zwischen Sprache und gesellschaftlichen Systemen und Strukturen. Die sehr allgemeine Feststellung, daß Sprache gesellschaftlich bedingt und vermittelt ist, wird im interaktionistischen Ansatz präzisiert: Sprache wird im Sozialisationsprozeß gelernt, indem die Kinder durch Sozialisationsagen t uren wie Familie usw. gewissermaßen einen kategorialen Bezugsrahmen regionaler und statusspezifischer Art übernehmen. Durch den Begriff der Performanz, der sich auf die aktuelle Interpretationssituation bezieht, wird Spracherwerb mit normativen Regeln des allgemeinen Menschenverstandes in Situationen der Alltagswelt in Verbindung gebracht. Die Verknüpfung von interaktionistischer Soziolinguistik mit Ethnomethodologie (als Wissenschaft vom Alltagshandeln des Volkes) ist in mainchen Einsichten realitätsgerecht und somit legitim. Diese Verknüpfung bedarf einer ständigen Bereinigung und Korrektur durch intergesellschaftlich anerkannte Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung. So besteht der " natürliche" Reflex im Alltagsdenken des Volkes auf einen Mord vielfach darin, daß harte Vergeltung gefordert wird. Alltagsdenken neigt vielfach dazu, Kausalität in die Mitte und Tiefe der Personstruktur zu verlegen, d. h. die Kausalität allein mit der persönlichen Verantwortung zu verbinden, ohne die mannigfachen Erwartungen und Zwänge der sozialen Systeme zu berücksichtigen. Das Alltagsdenken im Sinne des "gesunden Menschenverstandes" wird häufig auch durch Projektionen mitbestimmt, indem man seine eigene begrenzte Vorstellung auf andere überträgt und damit häufig eine falsche Transferleistung erbringt. Der soziolinguistische Ansatz Cicourels ist grundsätzlich subjektorientiert. Substrat der Analyse ist das Subjekt als Handlungseinheit. Durch die Aneignung von Interpretationsverfahren und Oberflächenregeln wird vielgestaltige Wirklichkeit zum Stand gebracht. "Denken überhaupt" (als transzendentale Denkfigur im Sinne Kants) ist Interpretieren mit Hilfe normativer Regeln. Die Verwendung des Begriffes Index deutet ebenfalls auf transzendentale Denkmuster: Wo etwas durch Index angezeigt wird, da liegt etwas anderes (meistens tiefer) dahinter (Sein und Erscheinung). Der Begriff der Oberflächenregeln entbehrt einer wünschenswerten Eindeutigkeit und Klarheit, da der gegenläufige Begriff der Tiefenregeln oder Tiefenstruktur nur beiläufig im Rekurs auf Chomsky erwähnt wird, der unter Tiefenstruktur die Herstellung einer semantischen Interpretation von Sätzen versteht (a. a. 0., S. 17). Man muß auf eine andere Veröffentlichung von Cicourel zurückgreifen, um zu erfahren, daß für ihn die Basisregeln die interpretativen Verfahren sind (Cicourel 1973, S. 167). Es wäre zweckmäßig, hier den Begriff "Oberflächenregeln" einfach durch den Begriff "Normen" zu ersetzen. Die Konstruktion eines fragmentarischen Modells für Interpretationsverfahren ist forderlich für den Fortgang reflexiv orientierter sozialwissenschaftlicher Ansätze. Dabei ist einschränkend zu be-
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merken, daß der Reziprozisierung der Perspektiven durchaus Grenzen gesetzt sind. Meistens wird man nicht über einen bloßen Rollentausch (für Schulungszwecke) hinauskommen, nach dessen Ausführung man gern und schnell wieder in die gewohnte Sprecherrolle zurückkehrt. Zu dem Terminus "indexikalische Ausdrücke" ist zu bemerken, daß die Verwendung dieses Begriffes nicht viel mehr bringt als eine angestrebte Affinität zu anderen Theoretikern, etwa zu Garfinkel. Auf der Argumentationsebene einer interaktionistischen Soziolinguistik ist Cicourels Rekurs auf das Modell der generativen Grammatik (generieren = hervorbringen, erzeugen) etwa im Sinne der Arbeiten von Chomsky rational diskutabel. Generative Grammatik versucht zu spezifizieren, was der Sprecher wirklich kennt. In dem Begriff generative Grammatik manifestiert sich die interaktionistische Idee, daß die Wirklichkeit und damit auch die Wirklichkeit der jeweiligen sprachlichen Kompetenz ein Produktionsprozeß reflexiver und rekursiver Natur ist. Auf den Begriff "Transformationsgrammatik" nimmt Cicourel nur peripher Bezug. Seiner Definition nach (Cicourel 1975, S. 84) beruht die Transformationsgrammatik darauf, daß der Forscher implizit normative Regeln anwendet, die ihm als Sprecher der Sprache selbstverständlich erscheinen. Auf der Basis dieser Regeln formuliert sie syntaktische Regeln, die wohlgeformte Sätze erzeugen. Die Idee einer Tiefenstruktur mit Transformationsregeln, die eine Oberflächenstruktur liefern, ist für ihn ein wichtiges heuristisches Hilfsmittel. Die spezifisch soziologische Komponente dieser Definition besteht darin, daß alles soziale Leben als geregeltes Leben anzusehen ist und daß sich diese Regelgebundenheit auch auf den sprachlichen Bereich erstreckt. Die interaktionistisch orientierte Sprachtheorie Cicourels übersieht, daß die sich in Interaktionssystemen produzierende sprachliche Kompetenz auf Sprachtraditionen verwiesen ist, etwa auf fremdsprachliche Elemente. Diese sind Indices für das kollektive Bedürfnis, von der Möglichkeit der Vermischung unterschiedlicher geographischer und historischer sprachlicher Interaktionssysteme Gebrauch zu machen. Spracherwerb ist nicht nur eine Angelegenheit des Subjekts. Wo das Subjekt seine sprachliche Kompetenz produziert, liegt schon eine Tradition sprachlicher Regelungen und Interpretationsmuster vor, die sozusagen einen latenten Erwartungscharakter hat und nicht beliebig verändert werden kann. Soziolinguistik muß sich auf alltagssprachliche Verhaltensmuster beziehen. Sie darf dabei nicht den Einfluß jener sozial-kulturellen Systeme übersehen, die sich weder dem common sense noch der Ebene der "Alltagsdialoge" verpflichtet fühlen. Eine Soziolinguistik auf interaktionistischer Basis macht nur einen Aspekt dieses Forschungsgebietes aus. Sie denkt vom Subjekt als Handlungseinheit aus, nicht dagegen von den Eigengesetzlichkeiten übergreifender gesellschaftlicher Systeme oder Strukturen her. Aus neuerer systemtheoretischer Sicht liegt die eigentliche Funktion der Sprache in der Generalisierung von Sinn mit Hilfe von Symbolen
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149 (vgl. Luhmann 1985, S. 137). Sprache ist also nicht nur ein Mittel der Kommunikation. Die Begrenztheit des interedctionistischen Ansatzes ist letztlich darin gegründet, daß sich Soziales niemals ganz auf psychische Systeme, also auf Subjekte, reduzieren läßt: und damit auch nicht nur auf die von den Subjekten vollzogenen Interpretationsverfahren. Das Soziale ist seit Dürkheim ein Bereich eigener Art (sui generis). Diesem grundlegenden Umstand muß Soziolinguistik Rechnung tragen.
6. Handlungstheorie und politische B i l d u n g Jegliche politische Bildung und politologische Instruktion und Reflexion ist gut beraten, die handlungstheoretischen Grundlagen der Politikwissenschaft als Orientierungsmaßstäbe in die Alltagsarbeit einzubeziehen. Die klassischen Ansätze von Max Weber sind eine geeignete Grundlage für Weiterentwicklungen. Parteien sind für Weber ihrem innersten Wesen nach freiwillig geschaffene und auf freie, notwendig stets e* neute Werbung ausgehende Organisationen (vgl. M. Weber 1958, S. 312). Es ist für ihn nicht möglich, den Parteikampf auszuschalten, wenn nicht eine aktive Vertretung des Volkes fortfallen soll. Parteien können vornehmlich Amtspatronage-Parteien sein. Ihr leitendes Ziel ist dann, die politischen Führer in die maßgeblichen Stellungen zu bringen. Oder sie können Weltanschauungsparteien sein (Beispiel: deutsches Zentrum der 1870er Jahre und die Sozialdemokratie bis zu ihrer Durchbürokratisierung). Für den Politiker ist - im Gegensatz zum fachgeschulten Beamten - keinerlei Fachbildungsqualifikation vorgeschrieben. Der Politiker ist für Weber das eigentlich handelnde Subjekt, die Beamtenschaft ausführendes Organ. Weber fordert Anfang 1918 (also vor Kriegsende) eine durch effektive Parlamentskontrolle erzwungene Publizität der Verwaltung. Er unterscheidet zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen: Entweder man lebt "für" die Politik oder "von" der Politik. In aller Regel tut man beides. Der Politiker kämpft (d. h. er handelt, steht am Schaltpult), der Beamte verwaltet. Alles Führertum hat ein charismatisches Element. Für den Politiker sind drei Qualitäten entscheidend: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß. Die entscheidende psychologische Qualität des Politikers ist das Augenmaß, die Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, Distanz zu den Dingen und Menschen einzunehmen. 'Distanzlosigkeit', rein als solche, ist eine der Todsünden jedes Politikers und eine jener Qualitäten, deren Züchtung bei dem Nachwuchs unserer Intellektuellen sie zu politischer Unfähigkeit verurteilen wird. Denn das Problem ist eben: wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammengezwungen werden können. Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele (M. Weber 1958, S. 534). Machtstreben ist eine der treibenden Kräfte aller Politik, auch der Parteipolitik. Politik ist für Weber aber nicht nur Streben nach Macht. Sie bedeutet auch "ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich".
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Erfolgreiche Politik ist stets "die Kunst des Möglichen" (M. Weber 1951, S. 500). Politisches Handeln findet in einer Situation statt: im Staat als alleiniger Quelle des Rechts auf Gewaltsamkeit. "Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes ... das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht" (M. Weber 1958, S. 494). "Der Staat ist ... ein auf das Mittel der legitimen (das heißt : als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen" (ebenda, S. 495). Der moderne Staat ist für Weber "anstaltsmäßiger Herrschaftsverband ..., der innerhalb eines Gebietes die legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel der Herrschaft zu monopolisieren mit Erfolg getrachtet hat und zu diesem Zweck die sachlichen Betriebsmittel in der Hand seiner Leiter vereinigt ..." (ebenda, S. 499). Wenn der junge Weber auch dem Gedanken des Nationalstaates positiv gegenüberstand, so hat er doch später in "Wirtschaft und Gesellschaft" den Begriff der Nation nüchtern rational definiert: Der Begriff Nation besagt, daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei (M. Weber 1956, S. 528). die Idee der Nation schließt gern die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft und "einer Wesensähnlichkeit (unbestimmten Inhalts)" ein. Sie teilt dies mit dem "ethnischen Gemeinsamkeitsgefuhl". Der Begriff der Nation involviert den Gedanken der Errungenschaft. Die Idee der Nation steht bei ihren Trägern in sehr intimen Beziehungen zu Prestige-Interessen. Talcott Parsons, der 1937 seinen Namen mit der Handlungstheorie in Verbindung brachte ("THE STRUCTUR OF SOCIAL ACTION"), stellt nicht das politisch handelnde Subjekt in den Mittelpunkt seiner politischen Soziologie (T. Parsons 1969), die er unter dem Titel "POLITICS AND SOCIAL STRUCTURE" herausgab. Die Persönlichkeit wird in der Umwelt der Gesellschaft verortet (a. a. O., S. 13), wie das bei Luhmann auch der Fall ist. Das politische System ist ein abstrahiertes Subsystem des gesellschaftlichen Gesamtsystems. Parsons übernimmt vorsichtig einen wichtigen Aspekt aus Webers Ansatz: Vielleicht ist der Hauptpunkt meiner Analyse die Konzeption der politischen Macht als eines verallgemeinerten Mediums des politischen Prozesses, parallel zu setzen mit der Rolle des Geldes im Wirtschaftsprozeß (vgl. ebenda, S. 350). Das politische System ist für Parsons nicht ein geschlossenes System. Vielmehr ist es eingebunden in kontinuierliche Austauschprozesse mit angrenzenden Systemen, dem ökonomischen und dem integrativen. Parsons glaubt, eine wertvolle Annäherung an die systematische theoretische Behandlung des politischen Systems gefunden zu haben. Sie bezieht sich systematisch auf die Konzeption einer Gesellschaft insgesamt und auf die Konzeption eines sozialen Systems als Teil eines allgemeineren Handlungssystems. Hans Haferkamp, der sich an der Weiterentwicklung der Handlungstheorie konstruktiv beteiligt, hat sich in seinem Buch über die "Soziologie der Herrschaft" (H. Haferkamp 1984) mit verschiedenen Autoren auseinandergesetzt, z. B. mit Narr und Offe, und festgestellt, daß der grundlegende
151 Ansatz, mit dem sich auch heute noch alle soziologischen Macht- und Herrschaftanalysen auseinandersetzen oder an dem sie sogar weiterhin ansetzen, Max Webers Macht- und Herrschaftssoziologie ist. Kritische Interpretation Nach der Definition von Theodor Heuß war Max Weber als Handlungstheoretiker ein "denkerisch herber Rationalist, der die 'Vernünftigkeit' als Maß aller Entscheidungen forderte" (M. Weber 1958, S. XXV). Diese Charakterisierung hat Weber nicht davon abhalten können, den Machtaspekt mit einem sehr hohen Stellenwert in der politologischen Argumentation zu versehen, obwohl Macht und Rationalität sehr oft nicht zur Übereinstimmung zu bringen sind. Es wäre zu fragen, ob Macht nicht eher an der Grenze der Irrationalität anzusiedeln ist. Solange soziologische Begriffsdefinitionen die an der Macht orientierte Wirklichkeit im theoretischen Ansatz verdoppeln und solange respektable Fachvertreter diesen Ansatz weiterreichen, kann man nicht erwarten, daß der Machtaspekt mit einem kritischen Akzent versehen wird. Selbst Otto Stammer und Peter Weingart verstehen in ihrem Buch über "Politische Soziologie" (1972) Politik als ein soziales Handeln, das sich auf Machterwerb und Machtgebrauch richtet. Immerhin enthält deren Definition des Staates nicht die Formulierung der legitimen physischen Gewaltsamkeit: Vielmehr wird der Staat als Aktionszentrum einer politischen Ordnung definiert (a. a. O., S. 38), das drei Funktionen hat: die Ordnungsfunktion, die Herrschaftsfunktion und die gesellschaftspolitische Gestaltungsfunktion. So wertvoll und richtig es einerseits ist, die tatsächliche Wirklichkeit im Begriff abzuspiegeln, so verhängnisvoll ist es andererseits, auf kritische Eingrenzungen und mögliche Folgen der Machtpolitik hinzuweisen. So respektabel Webers Ansatz sein mag: er war nicht "gesellschaftlich mächtig" genug, die Katastrophe der Folgezeit abzuwehren. Das kann mein wohl auch nicht von wissenschaftlichen Definitionen und Abhandlungen erwarten, vor allem dann nicht, wenn der kritische Impuls keine Entwicklungschancen erhält und der Begriffspositivismus die gesamtgesellschaftliche Mentalität widerspiegelt.
7. S y s t e m t h e o r i e u n d Philosophie Von dem erziehungswissenschaftlichen Fachgebiet Soziologie führen viele Brücken zu dem erziehungswissenschaftlichen Fachgebiet Philosophie. Eine dieser Brücken verbindet Hegels logische Aufbereitung des Widerspruchs und Luhmanns Systemkonzept im Hinblick auf den Widerspruch als Unbestimmtheit des Systems. Hegel formuliert im zweiten Teil seiner "Wissenschaft der Logik" (1951, S. 61 f.) im Abschnitt über den Widerspruch: "Es ist überhaupt aus der Betrachtung der Natur des Widerspruchs hervorgegangen, daß es für sich
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noch, sozusagen, kein Schaden, Mangel oder Fehler einer Sache ist, wenn an ihr ein Widerspruch aufgezeigt werden kann. Vielmehr jede Bestimmung, jedes Konkrete, jeder Begriff ist wesentlich eine Einheit unterschiedener und unterscheidbarer Momente, die durch den bestimmten, wesentlichen Unterschied in widersprechende übergehen." Das Widersprechende löst sich auf. Es geht in seine negative Einheit zurück. "Das Ding, das Subjekt, der Begriff ist nun eben diese negative Einheit selbst; es ist ein an sich selbst Widersprechendes, aber ebensosehr der aufgelöste Widerspruch... Die endlichen Dinge in ihrer gleichgültigen Mannigfaltigkeit sind daher überhaupt dies, widersprechend an sich selbst, in sich gebrochen zu ein und in ihren Grund zurückzugehen" (ebenda, S. 62). Für Hegel sind alle Dinge an sich selbst widersprechend. Hegel gewichtet den für die traditionelle Philosophie so wichtigen Begriff der Identität gegenüber demjenigen des Widerspruchs: "Es ist aber eines der Grundvorurteile der bisherigen Logik und des gewöhnlichen Vorstellens, als ob der Widerspruch nicht eine so wesenhafte und immanente Bestimmung sei als die Identität; ja wenn von Rangordnung die Rede und beide Bestimmungen als getrennte festzuhalten wären, so wäre der Widerspruch für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit" (ebenda, S. 58). Uberzeugend baut Hegel die Zeitdimension in seine Logik ein: "Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist. Man muß den alten Dialektikern die Widersprüche zugeben, die sie in der Bewegung aufzeigen; aber daraus folgt nicht, daß darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr, daß die Bewegung der daseiende Widerspruch selbst ist" (ebenda, S. 59). Hegel folgert: "Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten" (ebenda). Hegel interpretiert nicht willkürlich den Widerspruch in das Leben und die Dinge hinein. Der Widerspruch ist vielmehr aus logischen Gründen dort angesiedelt: Das Leben wird als Bewegung begriffen, wenn der Anspruch auf Leben gesetzt werden soll. Dinge und Lebewesen sind im Ablauf der Zeit, die aus der Aneinanderreihung von Jetztpunkten begriffen wird, in diesem Jetztpunkt nicht so beschaffen und im nächsten Jetztpunkt dort dann schon anders beschaffen. Vielmehr sind sie in demselben Jetztpunkt hier und zugleich nicht hier. Also liegt ein Widerspruch vor, der auszuhalten ist. Aneinandergereihte Beobachtungs-Jetztpunkte stellen eine künstliche Hilfskonstruktion dar, die den strengen Anforderungen der Logik nicht genügen. Auch Luhmann sieht Widersprüche nicht als logische Fehler an (Luhmann 1985, S. 489 f.). Er formuliert: "Seit Hegel kann man im Grunde aber wissen, daß man mit einer Logik, die widerspruchsfreie Gegenstände postulieren muß, Soziales aus der Umwelt der Wissenschaft ausschließt" (ebenda, S. 490). Er zieht die Konsequenz: "Wenn das soziale Leben selbst nicht logisch sauber arbeitet, läßt sich auch eine Theorie des Sozialen nicht lo-
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gisch widerspruchsfrei formulieren. Wir wissen noch nicht einmal, was ein Widerspruch ist und wozu er dient" (ebenda, S. 491). Entsprechend versteht Luhmann unter Logik ein System von Regeln, das die Konstitution von Widersprüchen konditioniert. Widersprüche im sozialen System beziehen sich in der Systemtheorie auf die Ebene der Kommunikation. Somit sind Widersprüche in die kommunikative Selbstreferenz sozialer Systeme eingeschlossen und als Moment dieser Selbstreferenz zu begreifen: "Erst die Einheitszumutung der Kommunikation konstituiert durch die Auswahl dessen, was sie zusammenzieht, den Widerspruch. Der Widerspruch entsteht dadurch, daß er kommuniziert wird" (ebenda, S. 498). Für Hegel wie auch für Luhmann sind Widersprüche Promotoren der Systembewegung. Aber auch viele andere Autoren vertreten diese Position, z. B. Ralf Dahrendorf ("Gesellschaft und Freiheit" 1961 und "Konflikt und Freiheit" 1972). Die sozialen Systeme benötigen ein hohes Maß an Instabilität. Die Erwartungssicherheit muß immer neu geschaffen werden. Widersprüche, so Luhmann, dienen der Reproduktion des Systems. Sie fördern zugleich die Entwicklung eines Immunsystems. Damit übernehmen sie die Funktion von Alarmsignalen. Das soziale Systems schützt sich mit Hilfe von Änderungen gegen Erstarrung.
Kritische Interpretation Die Systemtheorie in der von Luhmann vorgelegten Fassung geht keineswegs geradlinig auf Hegel zurück, eher schon auf F. J. Varela, H. R. Maturana, G. Bateson, G. S. Brown, T. Parsons, G. Günther, H. v. Foerster u. a. Und dennoch findet man in dem komplexen philosophischen Entwurf Hegels eine Reihe von Begriffen und Ideen, die als Markierungen auf dem Weg zu einer modernen Systemtheorie angesehen werden können. Der Bruch mit der allmächtigen Idee der Einheit findet sich bei Hegel bereits am Anfang der "Wissenschaft der Logik": Das reine Sein und das reine Nichts ist dasselbe. Nirgends im Himmel und auf Erden gibt es etwas,was nicht beides, Sein und Nichts, in sich enthielte. Allerdings führt der Dualismus zur Einheit zurück, denn für Hegel ist die Einheit von Sein und Nichts die erste Wahrheit. Diese Einheit ist das Werden, das als Evolution und Emergenz in Luhmanns Konzept eingeht. System ist damit nicht etwa etwas Statisches, sondern etwas Prozessuales. Das Differenzmodell von Sein und Nichts findet sich in der Systemtheorie unter anderen Vorzeichen, nämlich als Differenz von System und Umwelt, wieder. Hegels Aussage, der Widerspruch sei im Verhältnis zur Identität das Tiefere und Wesenhaftere, findet sich bei Luhmann in der häufigen Verwendung des Modells der Paradoxie. Ein Paradoxon ist eine zugleich wahre und falsche Aussage. Solche Paradoxien existieren aber nur scheinbar. Sie bedürfen der Auflösung. Für Hegel sind edle Dinge an sich selbst widersprechend. Jedes Konkrete ist eine Einheit unterschiedener und unterscheidbarer Mo-
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mente. Diese Momente gehen durch den bestimmten Unterschied in widersprechende über. Die Entparadoxierung besteht darin, daß das Widersprechende in seine negative Einheit zurückgeht. Diese negative Einheit ist das Ding, das Subjekt, der Begriff. Es handelt sich um ein sich selbst Widersprechendes, aber ebensosehr um den aufgelösten Widerspruch. Dieser aufgelöste Widerspruch ist für Hegel der Grund, der seine Bestimmungen enthält und trägt. Hegel bindet die Entparadoxierung an Reflexion (ein Moment, das auch die gesamte Systemtheorie Luhmanns durchzieht): Ding, Subjekt oder Begriff sind in ihrer Sphäre in sich reflektiert der aufgelöste Widerspruch. Für Luhmann bedeutet Paradoxwerden: "Verlust der Bestimmbarkeit, also der Anschlußfähigkeit für weitere Operationen" (Luhmann 1985, S. 59). Auch ein Widerspruch, eine Paradoxie wird als sinnvoll bezeichnet (ebenda, S. 138). Luhmann bemerkt, daß nur so Logik überhaupt möglich ist. "Man würde sonst beim ersten besten Widerspruch in ein Sinnloch fallen und darin verschwinden. Nur unter Einbeziehung aller Widersprüche kann die Sinnwelt den Charakter selbstreferentieller Geschlossenheit erreichen..." (Luhmann 1985, S. 138). Jeder Sinn ist widerspruchsfähig. Jeder Sinn kann zu einem Widerspruch aufgebaut werden (ebenda, S. 494). Für Luhmann ist Widerspruch ein Moment der Selbstreferenz von Sinn; denn jeder Sinn schließt die Möglichkeit der eigenen Negation ein. Er geht der Frage nach, wie eine Einheit zustande kommt, die Sich- Widersprechendes zusammenfaßt, so daß es an ihr oder in ihr als Widerspruch erscheinen kann. Hier kommt er der negativen Dialektik Adornos sehr nahe, indem er die Einheitszumutung nennt, durch die Unterschiedliches, Gegensätzliches, Konkurrierendes zu einem Widerspruch zusammentritt. Erst der Widerspruch macht das, was in ihm zusammengezogen wird, zu etwas Widersprechendem: "Der Widerspruch produziert das, woraus er besteht, nämlich das, was sich widerspricht, selbst - und zwar aus Materialien, die an sich auch widerspruchsfrei existieren könnten. Die Antwort: "Alle Einheit ist Einheit von Selbstreferenz und Fremdreferenz, wird also paradox konstituiert" (Luhmann 1985, S. 495). Während die Einheitsbildung in psychischen Systemen operativ über das Bewußtsein läuft, spielt sich dieser Prozeß in sozialen Systemen über Kommunikation ab. Soziale Systeme erzeugen Widersprüche, indem sie Widersprüche kommunizieren. Die Tautologie der reinen Selbstreferenz muß "entfaltet" werden (im Rekurs auf Tarski), d. h. die zugrundeliegende Identität muß aufgebrochen werden. Entparadoxierung ist Entfaltung im Sinne von Differenzen erzeugender Differenz (Information). Als Beispiel wird das Problem der Knappheit genannt (Luhmann 1989, S. 179 ff.). Wenn man vom System ausgeht, ist Knappheit ein Paradoxon: "Der Zugriff schafft das, was er beseitigen will. Er will sich eine zureichende Menge sichern und schafft dadurch die Knappheit, die es erst sinnvoll macht, sich eine zureichende Menge zu sichern" (ebenda, S. 179). Diese Paradoxie erscheint für den Fall "reiner", unbeschränkter Selbstreferenz des Systems.
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155 Mit dieser paradoxen Argumentation blockiert sich die Theorie selbstreferentieller Systeme selbst. Sie setzt nämlich einen Gegenstand voraus, der sich selbst blockiert. Damit macht sie sich operar tionsunfahig. Die Entblockierung und damit Entparadoxierung läßt sich vornehmen mit dem Verfahren der Bifurkation, d. h. einer Gabelung, die verhindert, daß die konstitutive Paradoxie als Einheit wirksam wird. Es wird eine Codierung im Sinne einer Differenz gebildet mit der Folge, "daß Operationen sich innerhalb dieser Differenz orientieren können und die Frage nach der Einheit der Differenz nicht mehr auftaucht. Sie wird durch bewährte Anschlußfähigkeit abgelöst" (ebenda, S. 181). Die Entparadoxierung erfolgt durch die Einführung der Differenz von Haben und Nichthaben als Code. Im Vergleich zu Hegel erfolgt die Entparadoxierung dadurch, daß das Widersprechende in seine negative Einheit zurückkehrt, zu dem Grund, der seine Bestimmungen enthält und trägt. Dieser höhere, reflexive Grund Hegels ist bei Luhmann die Entfaltung und Differenzierung des Systems als Codierung. Er ist ebenso die Einführung mehrerer Ebenen der Beobachtung, also die Beobachtung der Beobachtung. Beobachten ist eine paradoxe Operation (Luhmann 1990, S. 95). Alles Beobachten ist Benutzen einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite (ebenda, S. 91 ff.). Die eine Seite ist z. B. (in der Wissenssoziologie) das manifeste Wissen, die andere besteht aus den nichtmitgewußten Bedingungen der Produktion von Wissen (Schichtabhängigkeit von Wissen usw.). Diese Unterscheidung geschieht unbeobachtet; denn jede Beobachtung ist in ihrer Unterscheidungsabhängigkeit sich selbst gegenüber latent. Eben dieser Sachverhalt läßt sich mit einer weiteren Unterscheidung beobachten: "Was nicht beobachtet werden kann, kann beobachtet werden - wenngleich nur mit Hilfe eines Schemawechsels, also mit Hilfe von Zeit. Schon wenn man nicht nur Beobachtungen praktiziert, sondern nach dem Beobachter fragt, also nach dem System fragt, das Beobachtungen sequenzieren und sich dadurch ausdifferenzieren kann, vollzieht man einen solchen Schemawechsel. Man verwendet dann (zum Beispiel) die Unterscheidung von System und Umwelt" (Luhmann 1990, S. 91 f.). Eine derartige Erkenntnistheorie hat es mit dem Paradox der beobachtbaren Unbeobachtbarkeit zu tun. Die klassische Erkenntnistheorie dagegen hat es mit der Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand zu tun. Das Paradox besteht darin, daß das "Unterscheiden-undBezeichnen" als Beobachten eine einzige Operation ist (ebenda, S. 94). Es hätte nämlich keinen Sinn, etwas zu bezeichnen, was mein nicht unterscheiden kann. Beobachten als paradoxe Operation begreift eine Zweiheit als Einheit, und zwar in einem Zuge. Sie beruht auf der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung. Sie aktualisiert eine Unterscheidung, die in sich selbst wiedervorkommt (re-entry im Sinne von Spencer Brown). Die Beobachtung der Beobachtung (auch im Alltagsleben) ist also paradox konstituiert: Ich unterscheide zwei Ebenen der Beobach-
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tung und bezeichne zugleich diese Situation, ich finde Begriffe dafür. Der Beobachter konzentriert sich nun auf das, was er beobachtet. Dabei vernachlässigt er im Regelfall dasjenige, wovon er das Beobachtete unterscheidet. Oder aber er setzt dies unbestimmt als "alles andere" voraus. Luhmann formuliert: "Wenn man aber das Beobachten beobachtet (heute oft Neokybernetik oder Kybernetik zweiter Ordnung genannt), kommt man nicht umhin, die Paradoxie zu beobachten... Auf der Ebene zweiter Ordnung, auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungen, wird man daher beobachten müssen, wie der beobachtete Beobachter beobachtet. Die Was-Fragen verwandeln sich in Wie-Fragen" (ebenda, S. 95). Luhmann stellt fest, daß das Beobachten des Beobachtens nicht nur das Beobachten verbessert, sondern auch mehr in den Blick bringt. "Was die Kybernetik des Beobachtens neu anbietet, ist die zirkuläre Geschlossenheit des Beobachtens von Beobachtungen. Wenn ein System sich auf dieser Ebene konstituiert und eine Zeitlang in Betrieb ist, kann man schließlich nicht mehr unterscheiden (!), wer der 'wirkliche' Beobachter ist und wer sich nur anhängt. Alle Beobachter gewinnen Realitätskontakt nur dadurch, daß sie Beobachter beobachten... Das System konstruiert die Welt durch die Operation des Beobachtens von Beobachtungen und findet die Validierung seiner Kognitionen darin, daß dies auch bei zunehmender Künstlichkeit, Unwahrscheinlichkeit, Komplexität der eigenen Annahmen immer noch geht" (ebenda, S. 97). In diesem Zusammenhang sei hier am Rande vermerkt, daß das paradox erscheinende Kausalitätsmodell der Systemtheorie (Erkenntnisse können nach Luhmann nur zirkulär begründet werden; es werden keine Vorgaben anerkannt, die nicht im System selbst erarbeitet sind) bereits in voller Deutlichkeit bei Hegel angelegt ist. Hegel spricht von der " Identität der Ursache und Wirkung" (Hegel 1951). Damit ist gemeint: Die Wirkung enthält überhaupt nichts, was nicht die Ursache enthält. Umgekehrt enthält die Ursache nichts, was nicht in ihrer Wirkung ist (ebenda, S. 190 f.). Die Zirkularität von Ursache und Wirkung klingt zwar modern. Sie wurde aber immerhin bereits im Jahre 1813 von Hegel formuliert.
8. Radikaler Konstruktivismus und Physik Wie ist das Klagen der Physikdidaktiker erklärbar, daß "Schüler mit Präkonzepten in die Schule kommen und sie mit Mißkonzepten verlassen"? (Nachtigall 1992, S. 10 ff.)"Es zeigt sich, daß auch mehrere Physikkurse in Schule und Universität nicht ausschließen, daß Mißkonzepte sich entwickeln, überleben, neben physikalischen Konzepten koexistieren und physikalisches Denken schwer beeinträchtigen", (ebenda S. 12) Als wichtigen Lösungsentwurf schlägt der Autor vor, "daß eine auf intellektuelle Entwicklung der Lernenden zielender Physikunterricht die mentalen Konflikte geradezu provozieren sollte." (ebenda S. 13) Aus der Sichtweise des Radikaien Konstruktivismus ist es bereits, problematisch von Prä- und Mißkonzepten zu sprechen, denn jeder Schüler deutet
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auf der Basis seiner konstruierten Welt. "Werte, Handlungen und Gesten eines Lehrers können also nicht die Bedeutungen in die Köpfe der Kinder transportieren, die sie für die Lehrer haben." (vgl. Aufschnaiter/Fischer/Schwedes 1992, S. 388) Diskrepanzen zwischen typischen Alltagsvorstellungen und der Newtonschen Terminologie sind im Regelfall erheblich. Dies soll in der folgenden Ubersicht veranschaulicht werden:
Typische Alltagsvorstellungen zu Kraft und Bewegung:
Newton über Kraft und Bewegung:
Bewegungen brauchen einen Beweger. Muskeln und Motoren haben Kraft. Kraft ist die Fähigkeit, etwas zu bewegen oder zu heben. Je größer die Kraft, desto größer die Geschwindigkeit. Auf den bewegten Körper wird Kraft übertragen. Er kann sich ein Stück allein bewegen, bis die Kraft verbraucht ist.
Erklärung: Eine angebrachte Kraft ist das gegen einen Körper ausgeübte Bestreben, seinen Zustand zu ändern, entweder den der Ruhe oder den der gleichförmigen, gradlinigen Bewegung. 1. Gesetz: Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern 2. Gesetz: Die Änderung der Bewegung ist der einwirkenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt 3. Gesetz: Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung
Weber 1991 Wenn wir von einer "Angleichung der Schülervorstellungen" an die Lehrervorstellungen ausgehen, gilt aus konstruktivistischer Sicht für physikalische Modelle selbst, daß sie unter Physikern im Laufe der Geschichte ausgehandelte Konstruktionen sind, die immer Teilaspekte der Wirklichkeit dieser Physiker betreffen. Helmut Schwegler erläutert: "Vor allem die sogenannten "fundamentalen Naturgesetze" der Physik ... sind es, die häufig zu einem falschen Verständnis des methodologischen Verständnisses von Gesetzen führen. Auch Newtons Grundgesetz der Methode, die "lex secunda" Kraft = Masse * Beschleunigung setzt als gesetzmäßige Verknüpfung von
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Kraft, Masse und Beschleunigung voraus, daß die Bedingungen von Kraft, Masse und Beschleunigung bereits festgelegt sind. Tatsächlich trägt es aber gleichzeitig zur Festlegung des Kraftbegriffs bei. (Schmidt, a.a.O., S. 266) Als weiteres Beispiel kann man auch den Energiebegriff wählen. "Das inhaltliche Verstehen der Merkmalsstruktur des abstrakten Begriffs Energie bereitet vielen Schülern große Mühe, da die Beziehungen zwischen den Merkmalen des Energietransports, der Energieumwandlung, der Energieentwertung, der Energieerhaltung, der Mengenartigkeit und den begriffsbestimmenden Merkmalen - Vermögen, mechanische Arbeit zu verrichten, Wärme dazugeben und Licht auszustrahlen - in den Alltagsbegriffen häufig anders besetzt sind, als das beim physikalischen Begriff der Fall ist. (Kersten 1991, S.135) Probleme entstehen häufig dadurch, daß Schüler Energie mit elektrischem Strom gleichsetzen. Besondere Schwierigkeiten macht sicherlich das Entropiegesetz und die Tatsache, daß in der Einsteinschen Formel e = m * c 2 zunächst wieder Masse als Begriff vorausgesetzt wird und wiederum zur Festlegung des Energiebegriffs beiträgt. Für Schwegler gibt es kein Primat der "Empirie" oder der "Beobachtung", aber auch kein Primat der Theorie oder des "Gesetzes". "Wissenschaftswelten sind Teile der Handlungswelten. Sie wurden von den Mitgliedern der jeweiligen scientific Community durch ihr kooperatives Handeln und ihr konsensuelles Beschreiben hervorgebracht, konstruiert." (Schwegler, a. a. 0 . , S. 262) Demzufolge versteht Aufschnaiter die Aufgabe des Physikunterrichts "als die Etablierung eines möglichst großen konsensuellen Bereichs mit der Wissenschaftsgemeinschaft der Physiker, die durch den Physiklehrer im Klassenraum vertreten wird." (Aufschnaiter et al, a. a. 0 . , S . 386) Didaktische Konsequenzen ergeben sich auch aus den neuesten neuroanatomischen und neurophysiologischen Befunden, die an systemtheoretische Sichtweisen anknüpfen. Gerhard Roth geht davon aus, daß das Gehirn anstatt weltoffen zu sein, ein kognitiv in sich geschlossenes System ist, das nach eigenentwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft und Bedeutung es nichts absolut Verläßliches weiß." (Schmidt, a.a.O., S. 235). "Das Gehirn läßt sich als ein funktional und semantisch selbstreferentielles oder selbstexplikatives System auffassen, (ebenda S. 240 f.) Wir haben also mit dem menschlichen Gehirn ein System vor uns, das obwohl kognitiv abgeschlossen gegenüber der Umwelt, dennoch über die Sinnesorgane von dieser in vielfältiger Weise beeinflußt werden kann. Für Roth ist es kein Widerspruch, daß unsere individuelle, in sich abgeschlossene Wirklichkeit eine soziale Wirklichkeit ist. (ebenda S. 253) Entscheidend ist bei dieser Sichtweise, daß die Bewußtseinsmaßstäbe für Stabilisierung und Veränderung aus dem Gehirn selbst kommen. "Bedeutungszusammenhang in einem angeschlossenen kognitiven System ist also eng verknüpft mit der Notwendigkeit, für angemessenes Handeln und Sprechen ständig neue Konstruktionen der sich veränderenden Umgebung zu erzeugen oder gerade erzeugte Konstruktionen zu modifizieren". (Aufschnaiter et al, a. a. O. S. 389) Schwegler verweist auf den Philosophen Ludwik Fleck, der bereits 1929 feststellte, daß "jedem Erkennen, jedem Erkenntnissystem, jedem sozialen Beziehungseingehen seine eigene Wirklichkeit entspricht." (Schwegler, a.a.O., S. 273) Lerntheoretisch ergeben sich aus diesem Ansatz für Aufschnaiter und an-
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Als zweiten Grund der Gegensätzlichkeit zwischen Orient und Okzident nennt Weber den Charakter der asiatischen Erlösungsreligionen, die als reine Intellektuellenreligionen die Sinnhaftigkeit der Welt nie aufgaben, während der innerweltliche Asket nicht nach dem Sinn der Welt fragt, da Gott für die sachliche Berufsausübung innerhalb der Weltgesellschaft die Verantwortung trägt. Dem innerweltlichen Asketen genügt das Bewußtsein, in seinem persönlichen rationalen Handeln in dieser Welt den für ihn in seinem letzten Sinn unerforschlichen Willen Gottes zu vollstrecken. In der innerweltlichen Askese, die aus der Mönchsaskese stammt und mit dem Fleiß der Mönche zusammenhängt, wird die Welt dem religiösen Virtuosen zur Pflicht. Die Welt ist das einzige Material, an welcher das religiöse Charisma sich bewähren muß, um des eigenen Gnadenstandes gewiß zu werden. Der religiöse Asket hat die Pflicht, sich in den Ordnungen der Welt zu bewähren und seinen Beruf rational zu erfüllen. Beruf ist die rational nüchterne Mitarbeit an den durch Gottes Schöpfung gesetzten sachlichen Zwecken der rationalen Zweckverbände der Welt. Bereits Luther betont, die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten sei der einzige Weg, Gott wohlzugefallen. Für den innerweltlichen Asketen sind die Züchtigung der Sünde und die Herrschaft der rationalen Ordnung des Gesetzes gottgewollt. Seine Lebensaufgabe besteht in der "wachen methodischen Beherrschung der eigenen Lebensführung" (M. Weber 1956, S. 506 f.). Der asketische Protestantismus gehört diesem Typus der innerweltlichen Askese an. Sein spezifisches Heilsgut ist das aktive Handeln, das nach Sinn, Zweck und Mitteln eindeutig orientiert ist und dem Richtmaß von Prinzipien und Regeln unterstellt ist. Der dritte Grund für die unterschiedliche Entwicklung in Ost und West besteht für Weber darin, daß allein auf der ganzen Erde der römische Okzident ein rationales Recht entwickelt und behalten hat. Damit hängt - als vierter Grund - die Mentalität des weltbeherrschenden römischen Amtsadels zusammen, der jede Art von Exstase, selbst Tanz und Musik, ferner jede individuelle Heilsmethodik ablehnte. Die Römer haben als wichtigstes Erbteil im Bereich der Kirche einen praktisch nüchternen Rationalismus hinterlassen, der die dogmatische und ethische Ausgestaltung der Glaubenslehre entscheidend mitbestimmt hat. Als weiteren Grund des Gegensatzes nennt Weber die einheitliche rationale Organisation der okzidentalen Kirche, die über eine monarchische Spitze verfugt und die Frömmigkeit von einem Zentrum aus kontrolliert. Weber findet die eigentliche Begründung der methodischen, rationalen Lebensführung in der besonderen Art der dem innerweltlichen Asketen eigentümlichen Heilssuche, die in hervorragendem Maße durch die Prädestination bestimmt wird. Gemeint ist der Glaube solcher Propheten, die ein rationaler religiöser Machttrieb übermächtig beseelte, so etwa Calvin und Muhammed. Die Prädestination besagt nach der "Westminster Confession" von 1647: "Gott hat zur Offenbarung seiner Herrlichkeit durch seinen Beschluß einige Menschen ... bestimmt (predestinated) zu ewigem Leben und andere verordnet (forordained) zu ewigen Tode" (M. Weber 1947). Das Bewußtsein, daß ein Teil der Menschen selig, ein anderer aber verdammt werde, hatte das Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des
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Individuums zur Folge, das auf dem Hineindenken in die Situation eines Calvinisten oder Puritaners (der englische Puritanismus ist aus dem Calvinismus hervorgegangen) verständlich wird. Da kein Prediger zur Gewißheit der ewigen Seligkeit verhelfen kann und da im Gegensatz zur katholischen Kirche die Beichte und die damit verbundene mögliche Sündenvergebung fortfallen, vollzieht sich die Zwiesprache des Calvinisten mit seinem Gott in tiefer innerlicher Isolierung. Für jeden Gläubigen muß notwendig jederzeit die Frage entstehen: Bin ich denn erwählt? Wie kann ich mich meiner Erwählung vergewissern? Für Calvin gibt es kein Merkmal der Erwählung. Die Erwählten sind Gottes unsichtbare Kirche. In der auf Calvin folgenden Zeit wurde jedem um die Heilsgewißheit Bemühten zur Pflicht gemacht, sich für erwählt zu halten. Ferner wurde von der Seelsorge als Mittel zur Erlangung der Heilsgewißheit rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Da nach Calvin alle bloßen Gefühle und Stimmungen trügerisch sind, muß der Glaube sich in seinen objektiven Wirkungen bewähren. Die guten Werke sind unentbehrlich als Zeichen der Erwählung. Sie sind das technische Mittel, die Angst um die Seligkeit loszuwerden. Das bedeutet: Der Calvinist und später der Puritaner schafft sich die Gewißheit seiner Seligkeit in ständiger Selbstkontrolle selbst.
Kritische Interpretation Das Engagement, mit dem Max Weber die Wechselwirkungen zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus aufgespürt hat, schließt die Hypothese nicht aus, daß Weber selbst von puritanischen Geist beseelt war, zumindest im Hinblick aufsein umfangreiches und einflußreiches wissenschaftliches Werk. Das aktive Handeln des typischen Puritaners war für ihn ein nachahmenswertes Verhaltensmuster. Seine umfangreichen religionssoziologischen Untersuchungen, die sich nicht auf den Protestantismus beschränken, haben dazu beigetragen, die Definition der Soziologie am sozialen Handeln festzumachen. Wo aktives Handeln die Szene bestimmt, da ist nicht gleichzeitig Platz für die Idee der Selbstregulierung und Selbstreproduktion des sozialen Systems, so bedeutsam auch der Stellenwert der Soziologie der Herrschaftsstrukturen in Webers Werk sein mag. Ein Ansatz zu einer Theorie der Selbstregulierung sozialer Systeme bei Weber ist seine Theorie der Veralltäglichung des Charisma. Webers eigenes Leben und Denken ist bestimmt durch das aktive Handeln im Sinne des individuellen Handelns. Das Moment der Selbstregulierung ebenso wie dasjenige der Selbstreferenz ist auf das Individuum bezogen, das mit sich selbst zu Gericht geht und im Vollzug der Selbstkontrolle prüft, ob es den Forderungen des Tages, wie Weber formulierte, gerecht wird. In der Fortentwicklung der Handlungstheorie ist das soziale System stärker in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. Gemeint ist das soziale System, auf das das Subjekt von der Peripherie und Umwelt her in distanzierter Weise blickt, um es besser beurteilen zu
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können. Geblieben ist auch in der Systemtheorie der Begriff des Handelns als Grundeinheit oder Element. Insofern ist Systemtheorie immer auch Handlungstheorie. Sie läßt das Handeln allerdings einfließen in die mehr oder weniger eigengesetzlichen Prozesse des sozialen Systems. Ein entscheidender Schritt der Systemtheorie über die Handlungstheorie hinaus ist die Überführung der Selbstkontrolle und Selbstreferenz vom Individuum auf das System als solches.
10. Zivilisation und Figuration im Sport Norbert Elias und Eric Dunning sind den historischen Entwicklungen und den gruppendynamischen Prozessen des Sports nachgegangen. Außerhalb Englands war der Begriff des Sports zunächst völlig unbekannt; erst Mitte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts ging die Kategorie Sport in den deutschen Sprachgebrauch ein. Wenn man den Begriff Sport weit faßt, dann bezieht er sich wie der Terminus Industrie auf spezifische Figurationen in vorstaatlichen und vorindustriellen Staatsgesellschaften ebenso wie auf vergleichbare Erscheinungen in industrialisierten Nationalstaaten. (Norbert Elias, Eric Dunning, S. 13) Norbert Elias belegt, daß - im Gegensatz zu idealisierenden Darstellungen des klassischen Altertums - in der Antike die traditionellen Regeln der "schwer"-athletischen Übungen, wie z. b. "boxen" und "ringen", ein weitaus höheres Maß an physischer Gewalt zuließen: "Es entsprach dem Kriegerethos, daß der Jugendliche oder der Mann, der bei einem Olympischen Faust- oder Ringwettkampf zu Tode kam, oft als Sieker im Rahmen seines Clans oder seiner Stadt gekrönt wurde, und daß der Uberlebende - der Totschläger - weder bestraft oder geächtet wurde." (ebenda S. 25, 26) Elias verweist darauf, daß unvereinbare Gegensätze - wie z. B. die Schönheit der griechischen Kunst und die Brutalität der griechischen Wettkampfspiele als Teil einer Entwicklung, einer menschlichen Figuration, nebeneinander stehen können. Elias und Dunning wählen das Fußballspiel, um die fortschreitende Zivilisation deutlich zu machen. Dabei sollte man sich verdeutlichen, daß die jüngst beschriebenen "Hooligans" keineswegs eine neue Zeiterscheinung darstellen. Zuschauerausschreitungen sind für die Autoren nicht ein völlig neues Problem, das seit Beginn der 60er Jahre in Großbritannien - und später in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen EG-Staaten - zu einem sozialen Problem ernstzunehmender Größe anwuchs. "Man muß die 'Ausschreitungen' ... zunächst unter dem Blickwinkel langfristiger, oft schwer wahrzunehmender sozialer Veränderung der britischen Gesellschaft und der englischen Arbeiterklasse sehen." (ebenda, S. 123) Fußball geht in England auf das 14. Jahrhundert zurück, wenngleich es damals ein völlig anderes Spiel war. Aber bereits 1314 erließ Edward II. ein Verbot, um das "wilde Vergnügen" unter Kontrolle zu bekommen. Im Mittelalter war "Fußball" - Teil religiöser Tradition - ein Ventil für die Spannung zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen eines Ortes oder einer Gegend, (ebenda S. 93) Man kann also nicht davon ausgehen, daß das "Spiel mit dem Fußball" überall in gleicher Form betrieben wurde, die örtlichen Gegebenheiten bestimmten die Spielweise, nicht das Regelwerk eines nationalen Verbandes.
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Das änderte sich erst später, als erste Fußballklubs gegründet wurden - in Deutschland 1878 in Hannover - und sich komplizierte Regelwerke bildeten und vereinheitlicht wurden. Am Fußballspiel selbst läßt sich auch der Figurationsansatz verdeutlichen. "Die Figuration der Spieler bei Beginn des Spiels (Anstoßfiguration) wechselt zu anderen Figurationen von Spielern in einer fortlaufenden Bewegung." (ebenda S. 106) Wichtig ist für Elias und Dunning - und damit stellen sie sich auch in den Gegensatz zum symbolischen Interaktionismus - daß die Soziologie der Figuration einen soziologischen Realismus, nicht einen soziologischen Nominalismus repräsentiert. (ebendaS. 116) Der Begriff der Interaktion ist dann irreführend, weil die Tatsache verdeckt wird, daß Menschen voneinander abhängig sind, also interdependent sind. "Der Begriff der Interaktion vereinfacht dieses Bild. Er verstellt den Zugang zu den Zwängen, die Menschen miteinander ausüben, kraft ihrer Abhängigkeit voneinander." (ebenda S. 116). Diese Figuration, und so auch die Gruppe, ist weder abstrakter noch konkreter als die Individuen, die sie bilden. Ein fundamentales Merkmal - nicht nur beim Fußball, - sondern von praktisch allen Sportspielen ist - daß der Figuration der beteiligten Menschen eine Art von Gruppendynamik innewohnt, die durch kontrollierte Spannung zwischen wenigstens zwei Subgruppen besteht. Die Gruppenbildung während eines Spiels setzt also Spannung und Kooperation auf verschiedenen Ebenen zur gleichen Zeit voraus. Die Beobachtung dieser Dynamik, die Probleme der Spannung und Spannungskontrolle und viele andere Struktureigentümlichkeiten, erfordern ein spezifisches Training der Vorstellungskraft. Das ist für Elias eine der wichtigsten Aufgaben der Figurationssoziologie. (ebenda S. 115) 11. D i e Wirtschaft aus systemtheoretischer Sicht In der gegenwärtigen Bildungssituation nimmt das Fachgebiet Wirtschaft an allgemeinbildenden Schulen eher eine periphere Position ein, ein Umstand, der nichts an der Bedeutung dieser Disziplin ändert. An Fachschulen (wie z. B. Wirtschaftsgymnasien) rückt das Fachgebiet Wirtschaft stärker in den Mittelpunkt pädagogischer Bemühungen. Die Wirtschaft hängt unmittelbar mit den Grundbedingungen gesellschaftlicher Strukturen und Bewegungsregeln zusammen. Das Wirtschaftsgefüge ist Teilbereich des übergreifenden gesellschaftlichen Gefüges. Daher ist eine Soziologie der Wirtschaft ein unabdingbarer Bestandteil nicht nur der Soziologie, sondern der Wissenschaft überhaupt. In seiner respektablen Studie "Economy and Society" (London 1950) hat Neil 3. Smelser (deutsch 1968 "Soziologie der Wirtschaft") zahlreiche Verbindungslinien zwischen Soziologie und Wirtschaft gezogen. So findet sich bereits bei Adam Smith das klassische Modell der Selbstregulierung sozialer Systeme und damit auch der Wirtschaft. Smelser bemerkt mit Recht, daß verschiedene Autoren Impulse für eine Entfaltung der Wirtschaftssoziologie gegeben haben. So hat Marx die ökonomische Struktur auf die Produktivkräfte (physische und technologische Aspekte) und die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (soziale Beziehungen) gegründet. Adam Smith schuf die Grundlagen des Marktes mit vollkommenem Wettbewerb. John Maynard Keynes wies darauf hin, daß sich in den kapitalistischen Systemen ernsthafte Gleichgewichtsstörungen entwickeln können. Herbert
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Spencer sah die Gesellschaft als ein sich selbst erhaltendes System (selfmaintaining system). Emile Dürkheim unterschied zwei Formen der Arbeitsteilung: die mechanische Solidarität (Gehorsam des Individuums gegenüber dem undifferenzierten Kollektivbewußtsein der Gesellschaft) und die organische Solidarität (Wirksamkeit mächtiger Integrationsmechanismen in differenzierten Gesellschaften: restitutives Vertragsrecht, geschriebenes Recht, Sitten, Handelsbräuche, stillschweigende Übereinkünfte der Wirtschaftssubjekte). Max Weber untersuchte die Bedingungen, unter denen sich der europäische rational orientierte Kapitalismus entwickeln konnte. Für Smelser ist Wirtschaftssoziologie "die Anwendung des allgemeinen Bezugsrahmens, der Variablen und erklärenden Modelle der Soziologie auf jenen Komplex von Aktivitäten, die mit der Produktion, Verteilung, dem Austausch und Verbrauch knapper Güter und Dienstleistungen befaßt sind" (Smelser 1968, S. 63). Während Smelsers Arbeit mehr der klassischen struktur-funktionalistischen Theorierichtung zuzuordnen ist, hat neuerdings Niklas Luhmann bereits durch die Formulierung des Titels eine eindeutige Orientierungslinie abgesteckt: "Die Wirtschaft der Gesellschaft". Damit hat Luhmann sein Grundverständnis von Soziologie als Systemtheorie zum Ausdruck gebracht: Die Wirtschaft ist nicht das Werk von Wirtschaftssubjekten, auch nicht von in Interaktion befindlichen Wirtschaftssubjekten, vielmehr ist sie das Werk der Gesellschaft, die Wirtschaft ist ihr und damit ihrer Systembeschaffenheit zuzurechnen. Wie für Smelser gilt für Luhmann: Die Wirtschaftssoziologie ist ein Anwendungsfiill von Soziologie. Konsequent wendet Luhmann sein systemorientiertes Theoriemodell auf die Wirtschaft an: Das systemtheoretische Konzept Die Idee der Systemtheorie besteht darin, daß die Elemente (hier die Zahlungen als kommunikative Ereignisse) Elemente nur für die Systeme sind, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme (Luhmann 1985, S. 43). Das ist das Konzept der Autopoiesis. Und Selbstreferenz bedeutet: Die Systeme nehmen in der Konstitution ihrer Elemente Bezug auf sich selbst (ebenda, S. 25). Die Elemente des Wirtschaftssystems sind die Zahlungen als deren Grundoperationen. Das Konzept der Systemtheorie zwingt den Theoriekonstrukteur dazu, sich nach Elementen des Systems umzusehen. Die Systemtheorie stößt dabei auf die Zahlungen als Ereignisse. Ein Ereignis in diesem Sinne ist als Kommunikation ein sozialer Kontakt. Die Sozialität des Wirtschaftssystems insgesamt wird wiederum auf Sozialität im Sinne von Zahlungsereignissen zurückgeführt, nicht dagegen auf subjektive Handlungen als solche, etwa auf den Willen, eine Rechnung zu begleichen. In diesem Sinne kann Luhmann dann formulieren: "Ein Verständnis von Wirtschaft, das bei Zahlungen als den Grundoperationen des Systems ansetzt, kann alles, was sonst als Grundbegriff der Wirtschaftstheorie fungiert, - also etwa Produktion, Tausch, Verteilung, Kapital, Arbeit - als derivaten Sachverhalt behandeln" (ebenda, S. 54 f.). Zahlungen sind an Gründe gebunden, die in die Umwelt des Systems verweisen. Damit wird die Offenheit des Wirtschaftssystems angesprochen. Luhmann setzt Zahlungsbegründungen mit dem Begriff "Bedürfnis" in Verbindung. Er meint aber mit Bedürfnissen nicht die anthropologische oder
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psychologische Motivhierarchie. Der hier gemeinte Bedürfnisbegriff bezieht sich auf eine wirtschaftssysteminterne Form der Informationsverarbeitung, auf elementare Bedürfnisse der Reproduktion des Menschen, ferner Bedürfnisse, die mit dem Geldumlauf entstehen und schließlich Sekundärbedürfnisse der wirtschaftlichen Produktion (Energie, Material usw.). Der Grund für die Zahlungen, hier als Bedürfnis gekennzeichnet, "ist in unterschiedlichem Ausmaß zugleich Artefakt von Gesellschaft und von Wirtschaft". Damit wird vollends klar, daß die Systemtheorie der Wirtschaft nicht auf die Befriedigung von individuellen Bedürfnissen abstellen kann, auch wenn diese aus keiner Theorie und Praxis ausgeschlossen werden kann. Entsprechend formuliert Luhmann seine Frontstellung: "In einer so weit systemtheoretisch festgelegten Theorie kann die Frage nach der Funktion der Wirtschaft nicht mehr mit dem Hinweis auf die Befriedigung von Bedürfnissen (und sei es nur: 'materiellen' Bedürfnissen) beantwortet werden. So unbestreitbar Bedürfnisse der Wirtschaft eine Rolle spielen und so sehr sie die Offenheit des Systems und seine Leistungen für die Umwelt strukturieren: sie sind zu sehr durch die Wirtschaft selbst bedingt, als daß man in ihrer Befriedigung die Funktion des Wirtschaftssystems sehen könnte" (ebenda, S. 63). Der Markt Die Wirtschaft wird definiert als "ein zirkulär konstituiertes, durch Evolution zustande kommendes System ..., bei dem es keinen Sinn hat, nach Anfängen oder nach externen Ursachen zu fragen, wenn man die Funktionsweise des Systems erklären will" (ebenda, S. 105). Durch die Ausdifferenzierung wirtschaftlicher Prozesse bildet sich der Markt heraus. Markt ist nicht mehr der besondere Ort, an dem getauscht wird, vielmehr ein besonderes soziales System (ebenda, S. 91). Systemdifferenzierung heißt Wiederholung der Differenzierung von System und Umwelt innerhalb von Systemen. Dadurch entsteht eine "interne Umwelt", eine Umwelt der Teilsysteme innerhalb des Gesamtsystems. Demnach kann man die Wirtschaft als Gesamtsystem und als Umwelt ihrer Teilsysteme betrachten. Demzufolge ist der Markt die wirtschaftsinterne Umwelt der partizipierenden Systeme des Wirtschaftssystems. Markt ist kein System, sondern eine Umwelt, die nur als Wirtschaftssystem ausdifferenziert werden kann. "Als Markt wird mithin das Wirtschaftssystem selbst zur Umwelt seiner eigenen Aktivitäten ..." (ebenda, S. 94). Das Wirtschaftsystem macht sich selbst zur Umwelt, um auf diese Weise sich selbst und anderes in seiner Umwelt beobachten zu können. Der Markt ist aus der Sicht der Systemtheorie "ein poly- kontexturales System, das für jedes Zentrum eine andere und doch dieselbe Umwelt bereithält" (ebenda, S. 96). Damit verliert der Markt seine klassischen Gegensätze. Im Sinne der Systemtheorie gibt es keine Planwirtschaft, da selbstreferentielle Systeme nicht geplant werden können. Sie reproduzieren sich aus sich selbst heraus im Sinne der Autopoiesis. Der Begriff Markt weist daraufhin, "daß ein solches System nicht nur schlicht existiert oder nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten abläuft, sondern daß es die eigene Einheit nur in einem kontinuierlichen, autopoietischen Prozeß reproduzieren kann ..." (ebenda, S. 98). Der Beobachtungskontext des Marktes (vor allem durch Preise) variiert von Be-
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KAPITEL
8.
obachtung zu Beobachtung. Daher kann man ein solches System nur als polykontexturales System begreifen. Das Geld und dessen Reproduktion Das Wirtschaftssystem funktioniert durch autopoietische Reproduktion. Es erneuert sich ständig durch zirkuläre Prozesse aus sich selbst heraus. Das Kommunikationsmedium ist das Geld. Die Operationen des Systems werden codiert durch die Unterscheidung, ob eine bestimmte Geldzahlung geleistet wird oder nicht (binärer Code). Das Geld zirkuliert als Autopoiesis, als Reproduktion der Elemente des Systems durch die Elemente des Systems. Jede Zahlung ist ein wirtschaftsinternes Ereignis, auch diejenige von Steuern oder Beamtengehältern (ebenda, S. 131). Auf der Ebene der eigenen Autopoiesis operiert das System als geschlossenes System. Die Funktion der Wirtschaft ist die Vorsorge für die Befriedigung zukünftiger Bedürfnisse, die von den Systembedingungen her zu verstehen sind. Jede Zahlung gibt die Zahlungsfähigkeit weiter. Somit ist die Autopoiesis der Wirtschaft durch das Medium Geld an der Funktion der Wirtschaft orientiert (ebenda, S. 132). Der Zahlungsverkehr produziert im Hinblick auf die jeweils gezahlte Summe immer zweierlei: Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit. Jeder Zahlungsvorgang wird autopoietisch reproduziert. Wer sich zahlungsunfähig macht, muß Zahlungsfähigkeit wiedergewinnen, wenn er nicht aus dem System ausscheiden will. Diese autopoietische Reproduktion der Zahlungsfähigkeit wird von Luhmann mit einem Doppelkreislauf beschrieben. Das Geld fließt in die Richtung Wirtschaft, deren Betriebsmotiv die Annahme von Geld ist. Die Gegenbewegung besteht aus dem Fluß von Gütern und Dienstleistungen. Diese Perspektive leuchtet ein, jedoch vereinfacht sie zugleich die Darstellung so sehr, daß sie einer Berichtigung bedarf. "Dieses Modell ist zu sehr am Falle des Tausches orientiert und achtet nicht hinreichend auf die Systembedingungen einer ausdifferenzierten Geldwirtschaft" (ebenda, S. 135). Die Wiederbeschaffung des ausgegebenen Geldes kann z. B. auf dem Wege über die Herauswirtschaftung eines "Mehrwerts" möglich sein. Die laufend entstehende Zahlungsunfähigkeit des Staates wird durch Steuern und "Abgaben" kompensiert. Im normalen Privathaushalt wird die Wiederbeschaffung des Geldes typisch durch Arbeit bewerkstelligt. Beide Bewegungen, das Dirigieren der Zahlungen in die Richtung Wirtschaft und die Wiederbeschaffung des ausgegebenen Geldes, können nur uno actu in Betrieb gesetzt werden. Beide Kreisläufe erhalten sich gegenseitig, "denn ohne Ausgleich für das laufend entstehende Problem der Zahlungsunfähigkeit kommt jede Möglichkeit des Zahlens sehr rasch zum Erliegen" (ebenda, S. 137). Zahlungen werden in Erwartung des Ausgleichs für Zahlungsunfähigkeit geleistet. Die Bewegung der Güter und Dienstleistungen entsteht erst als Folge der genannten Zahlungsbewegung. Luhmann kommt zu der These, "daß diese Struktur der Geschlossenheit des Systems und der Universalität seiner Funktionszuständigkeit entspricht" (ebenda, S. 137). Geschlossenheit des Systems ist Voraussetzung für Offenheit: "Nur durch die Art der Schließung des Systems entsteht die Möglichkeit seiner Öffnung im Hinblick auf Interessen, die für das System selbst Umwelt sind" (ebenda, S. 138).
167
Die Entscheidungstheorie aus systemtheoretischer Sicht Entsprechend wird die Entscheidungstheorie aus der am Subjekt und an intersubjektiven Zusammenhängen orientierten Handlungstheorie herausgenommen und in die Systemebene eingeführt. Luhmann schlägt vor, "eine Handlung immer dann als Entscheidung anzusehen, wenn sie auf eine an sie gerichtete Erwartung reagiert" (ebenda, S. 278). Erwartungen, werden als Strukturen angesehen. Sie haben somit eine eigenständige, relativ zeitbeständige Identität. Sie werden für die Reproduktion des Systems gebildet. Und nur in dieser Funktion haben sie (soziologische) Realität. Selbstreferentielle Systeme veranlassen sich selbst, Entscheidungen zu treffen. Die Verknüpfung von Struktur und Ereignis besteht darin, "daß die strukturierende Erwartung an das Ereignis zurückdirigiert wird und es damit von Handlung zu Entscheidung aufwertet" (ebenda, S. 284). Luhmanns Position läßt sich dahin interpretieren, daß die Tauschhandlung des Subjekts im interaktiven reziproken Tauschkontext an übergreifende gesellschaftsstrukturelle Bedingungen auf Erwartungsebene gebunden wird. Das Ereignis auf der Handlungsebene erhält den soziologischen Zuschnitt erst durch dessen Einbindung in übergeordnete Erwartungsstrukturen. Erst auf dieser Basis kann (System-)Theorie ansetzen. Entscheidungstheorie wird an Systemtheorie geknüpft. Entscheidungen entstehen durch Erwartungsdruck. Luhmann geht von der fundamentalen Voraussetzung aus, daß es jetzt eine soziologische Theorie geben müßte, "die darstellen kann, was und wie alles, was in einem System als Element fungiert, als eine emergente Ordnungsleistung des Systems selbst produziert wird" (ebenda, S. 292). Der Einbau des strukturspezifischen Erwartungshorizonts in die Handlungssituation um Tauschakte herum führt dann zu dem Ergebnis, daß es zur Entscheidung über ein Handeln nur dann kommt, wenn das Handeln erwartet wird und dies in Rechnung gestellt wird. Die Ablösung des zweckrationalen Handlungsbegriffs im Sinne Max Webers erfolgt dann durch die Rückführung der Entscheidungen auf die Autopoiesis der sozialen Struktur selbst und nicht auf eine strukturimmanente Linienführung etwa durch Rationalität: "Legt man den hier vorgeschlagenen Entscheidungsbegriff zugrunde, kommt man zu völlig anderen Resultaten. Man gewinnt dann den Eindruck: in der modernen Gesellschaft entstehe über bestimmte Formen der Kanalisierung und Kommunikation von Erwartungen ein Entscheidungsdruck, ohne daß diese auslösenden Bedingungen irgendwelche Rationalitätschancen mitgäben. Es komme zu erhöhten Entscheidungslasten ohne Rationalitätsvorsorge" (ebenda, S. 297). Die Steuerung der Wirtschaft Kann Politik das Wirtschaftssystem steuern, oder steuert es sich selbst, wie das der Begriff des selbstreferentiellen Systems in Verbindung mit Vorstellungen wie Autopoiesis, Selbstorganisation usw. suggeriert? Die Antwort: "Keine Politik kann die Wirtschaft, kann Teilbereiche der Wirtschaft, kann auch nur einzelne Betriebe sanieren; denn dazu braucht man Geld, also Wirtschaft" (ebenda, S. 325). Bei der Steuerung geht es immer um die Verringerung einer Differenz, z. B. derjenigen zwischen Kurs und Abdrift. Im Bereich der selbstreferentiell-geschlossenen Systeme geht es um Systeme,
KAPITEL
168
8.
die ihre eigenen Strukturen nur durch eigene Operationen ändern können. "Für diese Systemtheorie gibt es keine grenzüberschreitenden Inputs und Outputs als strukturdeterminierende Bedingungen der Autopoiesis ... Was im Steuerungsprozeß als Input wahrgenommen wird, ist nur eine im System selbst konstruierte Information ... Die Steuerung des Systems ist also immer Selbststeuerung ... Das politische System hat in dieser Hinsicht keine Ausnahmeposition; auch die Politik kann nur sich selber steuern, und wenn ihre Steuerung sich auf ihre Umwelt bezieht, dann eben auf i h r e Umwelt" (ebenda, S. 334). Mit Recht stellt Luhmann fest, daß der handlungstheoretische Ansatz dazu zwingt, die Frage nach der Steuerung des Gesellschaftssystems als WerFrage zu stellen: "Fast bruchlos führt das zu der Annahme, daß es Sache der Politik sei, die Gesellschaft zu steuern, und fast ebenso zwangsläufig führt das zur Feststellung des Versagens" (ebenda, S. 335). Im Hinblick auf die Selbststeuerung des Wirtschaftssystems orientiert sich die Steuerung an der Differenz von Geldmengen. Das System bleibt in aller Steuerung immer ein historisches System, "das nicht anders kann, als eigene Reaktionen auf die eigene Lage in eben diese Lage einzubauen" (ebenda, S. 344). Jedes Funktionssystem orientiert sich an eigenen Entscheidungen und damit an eigenen Realitätskonstruktionen. Die Politik kann nur Bedingungen schaffen, die sich dann auf die Programme und damit auf die Selbststeuerung der Wirtschaft auswirken. Insofern kann man sagen, daß jede Steuerung als Operation Differenzen markiert und damit systembildend wirkt.
Kritische Interpretation Die wirtschaftssoziologische Konzeption Luhmanns besticht durch die konsequente und stringente Geschlossenheit des verwendeten Begriffssystems. Soziale Systeme und damit Wirtschaftssysteme sind nicht im Gleichgewicht befindlich, wie das für das ConsensusModell der gesellschaftlichen Integration (Dahrendorf 1972, S. 29) festgestellt worden ist. Auch die im Consensus-Modell enthaltene Stabilität des gesellschaftlichen Gefüges trifft nicht für die sozialen Systeme Luhmanns zu. Vielmehr sind Systeme instabil. Sie benötigen sogar Instabilität. Sofern es bei Luhmann Funktionalität (das ist ein weiterer Bestandteil des von Dahrendorf beschriebenen Consensus-Modells) gibt, steht dieser Funktionalität Dysfunktionalität z. B. in Gestalt der "Diabolik des Geldes" gegenüber, die etwa darin besteht, "daß das Geld andere Symbole, etwa die der nachbarlichen Reziprozität oder die der heilsdienlichen Frömmigkeit, ersetzt und eintrocknen läßt" (Luhmann 1989, S. 242). Auch der für das Consensus-Modell angesetzte Consensus aller ihrer Mitglieder über bestimmte gemeinsame Werte trifft für Luhmanns System-Modell nicht zu. Vielmehr kommt Evolution zustande durch abweichende (also widersprechende) Selbstreproduktion. Widersprüche dienen der Reproduktion des Systems (Luhmann 1985, S. 504). Das Luhmannsche System ist also kein Harmonie-System
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oder Consensus- System. Die Existenz von Systemen ist auch keine Garantie für gesellschaftliche Stabilität. Die Beobachtung von sozialen Systemen zielt immer auf Differenzen, so auf die grundlegende Differenz von System und Umwelt. Das eine wird mit dem anderen durch Differenz vermittelt. Größen stehen einander in Differenz gegenüber: subjektiver Tauschakt - gesellschaftliche Erwartungsstruktur, Knappheit - Redundanz usw. In der Wirtschaftssoziologie ist die Differenz von Zahlung und Nichtzahlung von Bedeutung. In einer solchen Differenztheorie kann man dann eine Knappheit in der Verwendung des Einheitsbegriffs feststellen, keineswegs aber den völligen Verzicht auf Einheit. Beachtenswert ist die Bemühung um die Entideologisierung und Entpolitisierung der Wirtschaftssoziologie, die mit logischen und nicht mit politischen Mitteln vollzogen wird. Voraussetzungslos (im Sinne Max Webers) ist aber auch die Systemtheorie nicht. Die häufige Verwendung des Begriffes "Selbst-" (Selbstreferenz, Autopoiesis, Selbststeuerung, Selbstorganisation, Selbstbeschreibung usw.) geht historisch, wie auch Luhmann bemerkt (Luhmann 1985, S. 558) auf den Autarkiebegriff (= Selbstgenügsamkeit) bei Aristoteles zurück. Auf der Suche nach der "vollkommenen Gesellschaft" stößt Aristoteles auf "das Ziel vollendeter Selbstgenügsamkeit ..., die um des Lebens willen entstanden ist und um des vollkommenen Lebens willen besteht ... Auch ist der Zweck und das Ziel das Beste; nun ist aber das Selbstgenügen Ziel und Bestes" (Aristoteles 1958, S. 4, 1252b). Die metaphysisch-politische Idee der Selbstgenügsamkeit wird von Parsons in das Konzept der Gesellschaft übernommen: "In defining a society, we may use a criterion which goes back at least to Aristotle. A society is a type of social system, in any universe of social systems, which attains the highest level of self-sufficiency as a system in relation to its environments" (Parsons 1969, S. 10). Insofern kann man sagen, daß die moderne Systemtheorie politisch eingegrenzt ist als Reduktion von gesellschaftlicher Komplexität in Richtung auf die Selbstgenügsamkeit und den Zwang zur Autonomie sozialer Systeme. Die metaphysisch-politische Grundvoraussetzung der Systemtheorie ist traditionaler Natur. Das Selbst steht in Differenz dem Nicht-Selbst gegenüber. Es erhebt sich die kritische Frage, ob Systemtheorie den Bereich des Nicht-Selbst hinreichend erfaßt und ob die gelegentliche Verwendung des Begriffes "Fremdreferenz" den Bereich des Nicht-Selbst in zureichendem Maße abdeckt. Der Rekurs auf Aristoteles zeigt, daß der Begriff des Selbstgenügens zweckorientiert und damit teleologisch durchbestimmt ist.
L i t e r a t u r z u m 8. K a p i t e l Aristoteles: Politik. Hamburg 1858 Aufschnaiter, St. v./Fischer, H. E./Schwedes, H.: Kinder konstruieren Wel-
170
KAPITEL 8.
ten. Perspektiven einer konstruktivistischen Physikdidaktik. In: Schmidt, S. J.: Kognition und Gesellschaft, Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus II. Frankfurt/M. 1992 Bahrdt, H. P.: Die moderne Gro&tadt. Reinbek bei Hamburg 1961 Berger, P./Luckmann, Th.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M. 1969 Blumer, H.: Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg 1973 Bolte, K. M./Hradil, St.: Soziale Ungleichheit. Opladen 1984 Borries, V. von/Clausen, L./Simons, K.: Siedlungssoziologie. 1978
München
Cicourel, A.: Basisregeln und normative Regeln im Prozeß des Aushandelns von Status und Rolle. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1, Reinbek bei Hamburg 1973 Cicourel, A. V.: Sprache in der sozialen Interaktion. München 1975 Dahrendorf, R.: Gesellschaft und Freiheit. München 1961 Dahrendorf, R.: Konflikt und Freiheit. München 1972 Elias, N.: Was ist Soziologie? München 1970 Elias, N./Dunning, E.: Sport im Zivilisationsprozeß. Münster o. J. Göppner, H.-J.: Sozialisation durch Sprache. Bad Heilbrunn 1978 Haferkamp, H.: Soziologie der Herrschaft. Opladen 1983 Hartig, M./Kurz, U:: Sprache als soziale Kontrolle - Neue Ansätze zur Soziolinguistik. Frankfurt/M. 1971 Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik. Leipzig 1951 Hurrelmann, K./Ulich, D. (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim 1982, 2. Auflage Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse. Frankfurt/M. 1956 Kersten, E.: Energie als physikalischen Begriff verstehen! In: Physik in der Schule, 29 (1991) König, R.: Grundformen der Gesellschaft: Die Gemeinde. Hamburg 1958 Lawton, D.: Soziale Klasse, Sprache und Erziehung. Düsseldorf 1970 Lefrancois, G. R.: Psychologie des Lernens. Berlin/Heidelberg/New York 1976 Luhmann, N.: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1989, 2. Auflage Luhmann, N.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990
171
Luhmann, N.: Ökologische Kommunikation. Opladen 1986 Luhmann, N.: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1985, 2. Auflage Mackenroth, G.: Bevölkerungslehre. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953 Mannheim, K.: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958 Nachtigall, D.: Zum Verstehen von Physik im Unterricht. In: Physik der Schule, Heft 3, März 1992, Pädagogischer Zeitschriftenverlag, Berlin 1992 Niepold, W.: Sprache und soziale Schicht. Berlin 1971, 3. Auflage Pareto, V.: Ausgewählte Schriften. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975 Parsons, T.: Politics and Social Structure. New York/London 1969 Parsons T.: The Structure of Social Action. Glencoe 1949 Piaget, J.: Der Strukturalismus. Ölten 1973 Piaget, J.: Theorien und Methoden der modernen Erziehung. Frankfurt/M. 1974 Roth, G.: Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und die Wirklichkeit. In: Schmidt, S. J.: Kognition und Gesellschaft, Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus II. Frankfurt/M. 1992 Schmidt, S. J.: Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus II. Frankfurt/M. 1992 Schwegler, H.: Konstruierte Wissenschaftswelten. In: Schmidt, S. J.: Kognition und Gesellschaft, Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus II. Frankfurt/M. 1992 Smelser, N. J.: Soziologie der Wirtschaft. München 1968 Stammer, O./Weingart, P.: Politische Soziologie. München 1972 Tönnies, F.: Gemeinschaft und Gesellschaft. Darmstadt 1963 Weber, K.: Schwierigkeiten beim Erlernen der Newtonschen Mechanik. In: Physik in der Schule, 29 (1991) Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen 1947 Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1951 Weber, M.: Gesammelte politische Schriften. Tübingen 1958 Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1956
172
Glossar Ambiguitälstoleranz
Erfahrung, auch bei gegensätzlichen Erwartungen die Identitätsbalance zu wahren, Frustrationstoleranz
ambivalent
doppelwertig, zwiespältig
Antagonismus
Streit, Konkurrenz, Opposition, Nebenbuhlerschaft
Aquilibration
Überführung ins Gleichgewicht
Autopoiesis
ständige Wiedererzeugung der Elemente eines sozialen Systems: dabei sind Elemente Elemente nur für die Systeme, denen sie zugeordnet sind, und sie sind es nur durch diese Systeme
Bifurkation
Gabelung (die verhindert, daß die konstitutive Paradoxic als Einheit wirksam wird)
Charisma
Ausstrahlung, Gnadengabe, persönlichen Verhaltens
Diskurs
ein problematisiertes Einverständnis wird durch Begründung wiederhergestellt
Dissozialität
Fehlverhalten, mangelnde Einordnungsfähigkeit
Dyade
Zweiheit
Empathie
Fähigkeit, sich in die Situation anderer hineinzufinden den reibungslosen Ablauf störend
dysfunktional
Suggestivkraft
des
Element
dasjenige, was für ein System als nicht weiter auflösbare Einheit fungiert
Emergenz
wörtlich: das Auftauchen, das Zum-Vorscheinkommen, das Sich-herausarbeiten übertragen: höhere Ordnung, Unterbrechung und Neubeginn des Aufbaus von Komplexität
endemisch
das örtlich begrenzte Auftreten (z.B. einer Krankheit betreffend)
Enkulturation
kulturelle Bildung
Ethnomethodologie Evolution der Gesellschaft
Methode der (alltäglichen) Interpretation der Situation gesellschaftliche Entwicklung, Weitergestaltung der Systemreproduktion
Exkulpation
Befreiung von Schuld, Rechtfertigung
Figuration
Prozessuales Interdependenzgeflecht, in dem sich mehr oder weniger affektive Valenzen bilden und in dessen Zentrum ein fluktuierendes Spannungsgleichgewicht, eine Machtbalance, steht (Beispiel: drei Spieler am Tisch, die Bewohner einer Ortschaft oder eines Staates)
173
funktional
den positiven Beitrag zur Systemevolution betreffend
generativ
das sprachliche Regelsystem beherrschend
genetisch
den Entstehungsprozeß betreffend, entwicklungsgeschichtlich
Genom
einfacher Chromosomensatz einer Zelle (Erbmasse)
Gerontokratie
Herrschaft der Alten
Habitualisierung
Übergang zur Gewohnheit
hermençutisch
die Auslegung und Erläuterung eines Textes betreffend Gleichgewicht, Gleichstand
Homöostase idealtypisch
modellhaft, indem einige Züge einer Erscheinung besonders hervorgehoben werden
Identität
Gleichheit, Übereinstimmung, die als "Selbst" empfundene innere Einheit der Person in ständiger Neuabstimmung mit den Erwartungen der Umwelt
Ideologie
falsches Bewußtsein, Entfremdung, Ideenbündel zur Veränderung der Wirklichkeit, Rechtfertigung des Bestehenden der Mensch als unteilbare Einheit und als einmaliges Wesen die Orientierung an der Bedeutung von Zeichen (Symbolen) als Verständigungsmittel betreffend
Individuum interaktionistisch
Interpénétration
intersubjektiv
Inversion Inzesttabu Isomorphismus
Vorgang, in dem ein System einem anderen System Eigenkomplexität zur Verfügung stellt; Beitrag aus der Umwelt der Systeme zum Systemaufbau kommunikative Handlungen zwischen mehreren Personen betreffend; im Interaktionsvollzug unter mehreren Subjekten ausgemacht; die Konsensbildung zwischen mehreren Personen betreffend Umkehrung Verbot des Geschlechtsverkehrs zwischen Geschwistern oder zwischen Eltern und Kindern Gleichgestaltigkeit, Abbildung einer algebraischen Figur auf eine andere
Kognitionstheorie
Erkenntnistheorie
Kommunikation
Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen; grundlegende soziale Handlung
Kompatibilität
Vereinbarkeit, Austauschbarkeit
Komplexität
Vielschichtigkeit, Vielgestaltigkeit, so daß die Elemente nicht alle miteinander in Verbindung treten können
174
Konsensus, sens
Kon-
Übereinstimmung, Verständigung, Zustimmung
konstativ
feststellend, bemerkend
Konst rukti vismus
Ersetzung der Einheit durch Unterscheidung von Identität und Differenz; Ersetzung von Zielorientierung durch Problemorientierung; Orientierung des Systems an sich selbst
Kontingenz, pelte
auf der Grundlage einer konkret vorgegebenen Situation können sich (von mindestens zwei Seiten her) auch andere, nicht erwartete Handlungsvollzüge ergeben
dop-
kontrafaktisch
der Wirklichkeit nicht entsprechend
Kryptogramm
Geheimtext, verborgene Beschreibung
Lebenswelt
fraglose und naiv vertraute Umwelt der handelnden Person, gekennzeichnet durch die Gültigkeit einer intersubjektiv geteilten Welt
Marginalität, ziale Masochismus
so-
soziale Randständigkeit Empfinden von sexueller Erregung, wenn physische oder psychische Mißhandlungen ertragen werden
narrativ
erzählend
naturalistisch
die Reduktion des zu Erklärenden auf die Natur betreffend; These, daß alles aus der Natur heraus erklärbar ist
neural
die Nerven betreffend
neuronal
eine Nerveneinheit betreffend
Objektivität
Sachlichkeit, Verzicht auf subjektive Bewertung
okkasionell
gelegentlich
ontisch
das Seiende betreffend
ontologisch
die Lehre vom Sein betreffend
Organisation
System kooperativer Beziehungen, in dem instrumentale Interessen vorherrschen und durch geplante Mechanismen reguliert werden
panoptisch
von überall einsehbar
Patriarchalismus
Herrschaft der Väter
Performanz
konkrete Realisierung von Ausdrücken in bestimmten Situationen durch Sprecher
Personalisation
Persönlichkeitsbildung, individuelle Gestaltung und Entfaltung der Person
Phänotyp
Erscheinungsbild
175
phylogenetisch
die Stammesgeschichte betreffend
polykontextural
in einem vielschichtigen Zusammenhang befindlich
Positivismus
Begrenzung der Forschung auf das tatsächlich Vorgegebene
Projektion
Zuschreibungsprozeß, in dem ein Individuum einem anderen Verhaltensformen überträgt, die es selbst besitzt die Wechselwirkungen von Seele und Körper betreffend Glaube an die grundsätzliche Berechenbarkeit aller Dinge, Regelgebundenheit
psychosomatisch Rationalisierung Reduktion
Zurückführung, Verringerung
Reduktionismus, individualistischer
einseitige, isolierte Erklärung des sozialen Handelns vom Individuum selbst her ohne Berücksichtigung der Verflechtungen mit den übergreifenden Strukturen sozialer Systeme
Redundanz
Überfluß
Reflexion
Überlegung, Nachdenken, prüfende und vergleichende Besinnung, Rückwendung auf sich selbst als gedanklicher Prozeß
Regression
Rückfall auf eine frühere Entwicklungsstufe
rekursiv
zurückgehend
Reproduktion
Wiedergabe, ständige Wiederholung des Erzeugungsvorganges
Residualtheorie
Theorie, die auf das Übrigbleibende gerichtet ist, wenn man die subjektbezogenen Arrangements abgezogen hat
Rezipierender, Rezipient
Wahrnehmender, Aufnehmender, Empfangender
reziprok
gegenseitig
Rhizom
Wurzelstock
Rolle, soziale
Bündel von Verhaltenserwartungen (unabhängig vom konkreten Individuum)
Rollendistanz
Fähigkeit, eine soziale Rolle nach eigenem Ermessen unter Ausnutzung des vorgegebenen Spielraumes zu interpretieren
Sadismus
sexuelle Erregung dadurch, daß man andere quält
Selbstreferenz
Rückbezug auf sich selbst; Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens betreffend
semantisch
176
Semiologie
Lehre von den Zeichen
Signifikant
die Ausdrucksperspektive eines sprachlichen Zeichens (signifikant = wichtig, bedeutsam, typisch)
Sozialisation
soziale Prägung durch die allgemeinen Erwartungsmuster Abstempelung, Brandmarkung, Diskreditierung
Stigmatisierung Struktur
Aufbau, Geschichtetes, Gefüge; Einschränkung der im System zugelassenen Relationen; System von sozialen Beziehungsmustern in Verbindung mit Erwartungen
Strukturalismus
Wissenschaften vom Zeichen und den Zeichensystemen, bezogen auf das Problem der formalen Bedingungen von Sinn mit hauptsächlichem Bezug auf das Modell der Sprache; wichtige Grundeigenschaften des Strukturalismus: Ganzheit, Transformation, Selbstregelung
strukturellfunktional
Rückführung des sozialen Handelns auf die Erwartungsmuster sozialer Systeme und Bestimmung des Beitrages, den das Handeln für diese Systeme erbringt
Substrat
Grundlage
Subjekt
die mit Bewußtsein und Erkenntnisfähigkeit ausgestattete Person, Zugrundeliegendes
Substitut
Stellvertreter, Ersatzmittel
System, deterministisches System, prästabiliertes System, psychisches
kausal vorbestimmtes System, Zusammenhängendes
System, soziales
Zusammenstand von Elementen; Verhakung und Vernetzung von Elementen; sozialer Kontakt als Ereignis und Handlung
Szientismus
wissenschaftsorientierte Mentalität (unter Verzicht auf kritische Impulse)
tautologisch
einen Sachverhalt (überflüssigerweise) doppelt beschreibend (Beispiel: weißer Schimmel)
Taxonomie
Einordnung, Klassifizierung
teleologisch
das auf einen Endzweck gerichtete Handeln betreffend Inbegriff des gesellschaftlichen Verhältnisses der Individuen untereinander
Totalität
immer schon festgelegter Zusammenstand das Subjekt als seelische und erkenntnis-produzierende Einheit, das Bewußtsein durch Bewußtsein reproduziert und dabei auf sich selbst gestellt ist
177 Valenz
Wertigkeit
Viabilität zentrifugal
Brauchbarkeit; Handlungsweise, die an allen Hindernissen vorbei zum erwünschten Ziel führt vom Zentrum weg auf die Peripherie hin orientiert
zentripetal
zum Mittelpunkt des Geschehens hin orientiert
zweckrational
Orientierung des sozialen Handelns nach Zwecken, Mitteln und Nebenfolgen
Index absolut 127 Alltagstheorie 11, 48 Angst 19, 50, 68, 84, 161 Anlage-Umwelt 76 Anomie 79, 122 anthropologisch 96, 97, 134, 143 Arbeit, pädagogische IV, 28, 55, 75, 77 Askese, innerweltliche 160 Aufklärung 29, 47, 48, 50, 57, 80, 94, 102, 105 Außenseiter V, 7, 8, 15, 80, 105, 114, 115, 117 Autarkie 169 autonom 19, 56, 81, 85, 86 Autonomie 46, 50, 63, 67, 76, 77, 82, 86, 142, 143, 169 Autopoiesis 9, 34, 42, 59, 60, 62, 65, 71, 82, 90, 137, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 172 autopoietisch 28, 38, 40, 59, 61, 62, 73, 75, 85, 86, 90, 128, 144, 165, 166 Autorität 47, 48, 51, 53, 57, 87, 92, 131, 132, 140 Bedürfnis 3,4, 5,6,11,13, 31, 33, 39, 55, 64, 74, 98, 123, 141, 148, 159, 164, 165, 166 Behinderung IV, 5, 6, 12, 13, 14, 15, 22 Belohnung IV, 7, 70, 128 Beobachten 85, 155, 156 Beratung, psychologische V, 112 Bestrafung IV, 7, 8, 70, 79, 104, 105, 128 Bildung, politische 149 Bildungsqualität 66 Biologie V, 130, 132, 133, 134, 135 biologisch V, 83, 86, 130, 131, 132, 133, 134, 136 Calvinismus 161 Cartesianische Regel 126 Charakter, totalitärer 54
Coevolution 3, 81, 133 Conditio humana 131, 132 Consensus-Modell 168 Dialektik IV, 43, 46, 47, 51, 57, 131, 132, 154 Dialektiker 152 dialektisch 131, 141 Dialog, rationaler 12, 36 didaktisch 18 Diskurs IV, 19, 23, 25, 26, 28, 29, 30,31,35,37, 40, 96, 99, 100, 101, 102, 105, 170, 171, 172 Disparität 138 Dreistadiengesetz 122 Einverständnis 25, 29, 32, 40, 172 Element, integrales 113 Elemente des Systems 59, 60, 67, 89, 166 Elemente des Systmes 164 Elemente, interne 136 Elite 14, 55, 56, 98, 134, 136 Emergenz 64, 153, 172 Engagement und Distanz V, 116, 117 Entparadoxierung 154, 155 Entropie 59, 89 Entropiegesetz 158 Entscheidungstheorie 167 Erwartungen IV, 8, 10, 13, 16, 18, 19, 20, 40, 58, 62, 66, 67,68, 78, 144, 147, 167, 172, 173, 176 Erziehung IV, 3, 7, 8, 9, 10, 17, 20, 21, 22, 50, 56, 58, 62, 66,71,73, 75,76,87,90, 93, 107, 170 Erziehungswissenschaft 67 Et-cetera-Regel 10 Ethnomethodologie 24, 147, 172 Etikettierung 7, 16 Evolution 6,25, 27,28,40, 42,49, 63, 66, 71, 75, 77, 87, 91, 133, 141, 144, 153, 165, 168, 172 Fachdidaktik 53, 125
180
Familie
22, 38, 40, 44, 47, 48, 49, 54, 55, 57, 64, 65, 73, 76, 77, 78, 82, 87, 93, 94, 102, 110, 118, 125, 138, 140, 144, 147 Familienbehandlung IV, 77 Figuration V, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 116, 117, 138, 162, 163, 172 Figurationssoziologie 117, 163 Figurationstheorie IV, 109, 138 Führung 27, 66, 69, 73, 76, 88, 91, 127, 128 Funktion 8, 15, 27, 29, 34, 38, 42, 46,51,55,58,59,61,62, 66, 67, 69, 75, 76, 77, 79, 84, 89, 91, 93, 106, 107, 112, 115, 132, 141, 142, 144, 148, 151, 153, 165, 166, 167 funktional 12, 17, 30, 31, 33, 40, 43, 44, 54, 58, 62, 65, 66, 69, 70, 75, 77, 79, 86, 87, 89, 90, 91, 113, 120, 122, 132, 133, 158, 172 funktionalistisch 8, 55, 76 Gehirn 158, 171 Geld 6, 14, 150, 165, 166, 167, 168 Gemeinde 64, 114, 137, 138, 140, 170 Gemeinschaft 1, 2, 22, 26, 69, 87, 120, 133, 142, 143, 150, 171 Geographie V, 136, 137, 138 Geschichte V, 9, 47, 48, 50, 76, 96,97,98, 100, 101, 121, 133, 139, 140, 142, 157 Gesellschaft IV, VI, 1, 6, 13, 18, 22, 23, 25, 26, 27, 34, 35, 37, 41, 42, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 51, 55, 62, 63, 66, 67, 69, 71, 72, 73, 74, 78, 79, 80, 81, 83, 86, 87, 93, 94, 95, 105, 107, 109, 110, 111, 113, 115, 120, 121, 122, 129, 131 Gesellschaft, abendländisch 97 Gesellschaftshandeln 139 Gesellschaftsvertrag 105 Gleichgewicht 11, 15, 38, 69, 74,
INDEX
77,90,135,168,172,173 Grammatik, generative 145, 148 Grenzen 13, 15, 19, 64, 65, 72, 77, 82, 83, 84, 113, 132, 133, 134, 135, 137, 148 Grenzziehung 76, 77, 130, 133, 137 Grundschule V, 35, 68, 91, 111, 112, 125 Handeln, affektuelles 119 Handeln, aktives 43, 122, 126, 159, 161 Handeln, dramaturgisches 24 Handeln, menschliches 80, 119, 144 Handeln, normenreguliertes 24 Handeln, pädagogisches IV, V, 23, 43, 46, 58, 63, 87 Heindein, politisches 150 Handeln, rationales 23, 126, 160 Handeln, soziales 16, 23, 25, 28, 31,88,118,119,120,122, 127, 151, 161, 175, 177 Handeln, teleologisches 24, 39 Handeln, traditionales 26, 119 Handeln, voluntaristisches 125 Handeln, wertrationales 14 Handlungsbezugsrahmen 120 Handlungssubsystem 122 Handlungssystem 26, 28, 63, 81, 150 Handlungstheorie IV, V, 1, 3, 14, 24, 25, 38, 40, 41, 118, 119, 120, 125, 141, 145, 149, 150, 161, 162, 167 Hermeneutik 100 Herrschaft, bürokratische 63, 88, 139, 140 Herrschaft, charismatische 72,139, 140 Herrschaft, legale 139 Herrschaft, patriarchale 140 Herrschaft, traditionale 139, 140 Hierarchie 17, 23, 66, 89, 90, 91, 97, 117 historisches System 168 Homöostase 38, 77, 173 Humanismus 99 Humanität 50 idealtypisch V, 26, 28, 37, 50, 54, 121, 122, 125, 140, 173
INDEX
Idealtypus 122, 126, 127, 129 Identität 1, 2, 6, 8, 9, 10, 11, 13,16,19,22, 28,41,43, 47, 52, 54, 65, 76, 77, 89, 114, 131, 136, 152, 153, 156, 167, 173 Identitätsprinzip 47 Ideologie 39, 55, 56, 96, 102, 141, 173 Individuum 2, 3, 7, 9, 10, 13, 28, 46, 54, 63, 66, 70, 72, 73, 74, 81, 86, 97, 98, 104, 106, 110, 119, 120, 121, 131, 135, 141, 143, 144, 161, 162, 164, 173, 175 Institution 22, 33, 55, 96, 100, 101, 102, 103, 110, 111, 131, 132 Interaktion IV, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 10,11, 13, 19,21,24,26, 31,33, 39,41,42,44,45, 58, 61, 67, 68, 69, 70, 72, 76, 77, 78, 86, 92, 130, 135, 144, 145, 163, 164, 170 Interaktionismus IV, 1, 2, 3, 4, 5, 7, 9, 10, 14, 19, 21, 41, 60, 67, 76, 143, 144, 145, 163, 170 interaktionistisch 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11,14, 16, 17, 19, 20,26, 42, 48, 49, 70, 123, 130, 132, 145, 147, 148, 149, 173 Interaktionsanalyse 36, 37 Interaktionseigenschaften 70 Interaktionssystem V, 4, 5, 6, 7, 13, 26, 27,31,40,41,42, 49, 70, 76, 138, 144, 148 interaktiv 4, 16, 27, 35, 40, 41, 74, 167 intersubjektiv 23, 25, 26, 27, 35, 37, 40, 167, 173, 174 Intervention 22, 38, 78, 104, 106 Irrelevanzregel 14, 15 Isolierung, soziale IV, 12 Kausalität V, 41, 43, 61, 71, 76, 146, 156 Kinder 12 Klinik V, 101, 102, 103, 108 Kollektivbewußtsein 97, 98, 164
181
Kommunikation IV, 1, 3, 6, 11, 13, 14, 15, 20, 23, 24, 25, 27,28, 29,30,31,32,33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41,42,43,44, 45,53,61, 64, 66, 71,75, 78,81,82, 83, 84, 92, 96, 102, 107, 128, 137, 138, 144, 149, 153, 154, 164, 167, 171, 173 Kommunikationsprozesse IV, 13, 31 Kommunikationssperren IV, 37 Kommunikationstheorie IV, 11, 23, 25, 35, 41 Kommunikationszentrum 32 Kompetenz, kommunikative 6, 10, 44 Kompetenz, sprachliche 28, 144, 148 komplex IV, 41, 42,43,64, 65,71, 73, 76, 89, 90, 96, 102, 110, 111, 116, 142, 143, 153 Komplexität 2, 17, 44, 48, 52, 58, 59, 64, 65, 83, 89, 110, 113, 119, 120, 121, 122, 138, 140, 156, 172, 173 Konsensbildung 36 Konsensus 29, 173 Konstruktivismus V, VI, 83, 85, 86, 87,156,170,171,174 konstruktivistisch 83, 84, 86, 157 Kontingenz, doppelte 3, 49, 60, 65, 174 Kontrolle 6, 8, 11, 21, 67, 70, 83, 89, 94,102, 106, 107, 128, 162, 170 Krankheit 80, 81, 101, 102, 103, 172 Kreuzung sozialer Kreise 73, 82 Kunstsoziologie 141 Lebenswelt IV, 23, 25, 26, 27, 31, 37, 55, 65, 66, 68, 174 Lehrberuf IV, 51, 52 Lehrerkollegium 110, 111, 113 Lehrerzimmer IV, 32, 33, 34, 110 Lehrkräfte 4, 5, 8, 16, 32, 33, 34, 37, 39, 52, 64, 68, 69, 70 Lernen V, 20, 64, 70, 86, 89,113, 115, 159, 170
INDEX
182
Literatursoziologie V, 97, 108 Logik 93, 116, 123, 131, 151, 152, 153, 154, 170 Macht 27, 38, 44, 50, 51, 53, 54, 61, 69, 92, 99, 101, 103, 105, 106, 107, 112, 113, 117, 128, 140, 149, 150, 151 Machtbalance 110, 112, 113, 114, 138 172 Markt 138, 163, 165 Mensch V, 1, 7, 8, 9, 11, 13, 15, 18,19, 22, 23,41,43,48, 49, 50, 53, 54, 55, 56, 60, 63, 64, 67, 69, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 79, 80, 81, 82, 87, 95, 97, 99, 100, 102, 104, 105, 107, 109, 110, 113, 115, 116, 118, 120, 124, 125, 126, 130 Menschlichkeit 49, 75, 87 Modell, integratives 22 Modell, systemisches 74 Motivation 11, 70 Musik 34, 142, 143, 160 Nationalstaat 150, 162 natürlich 83, 85, 90, 119, 126, 127, 132, 146, 159 Natur 31, 37, 38, 54, 55, 66, 69, 91, 92, 96, 97, 115, 131, 132, 133, 135, 138, 143, 148, 151, 169, 174 naturalistisch 55, 174 Naturzwang 47 Netzwerk sozialer Systeme 86 Netzwerk, soziales 63, 109, 110 Nichtidentität 5, 9, 72 Normabweichungen 8 Oberflächenregeln 11, 145, 146 Ökologie 138 Organisation 4, 9, 14, 19, 20, 22, 24, 27, 33, 63, 72, 84, 86, 87, 88, 89, 90, 94, 102, 106, 112, 116, 120, 121,
128, 139, 144, 149, 160, 174 Organisation, bürokratische 88, 92,139 Organisationssoziologie 87 Organisationsstruktur 21 Panoptismus 107
Paradoxie 94, 153, 154, 155, 156, 172 pattern variables 120 Persönlichkeit IV, 2, 48, 53, 54, 66, 70, 73, 74, 80, 81, 94, 122, 128, 150 Persönlichkeitsstruktur 21 Person 1, 2, 4, 5, 9, 10, 12, 13, 14, 15,18, 19, 20, 30, 34, 40, 41, 42, 44, 49, 53, 54, 57, 58, 60, 63, 66, 67, 68, 70, 72, 73, 74, 81, 92, 93, 107, 110, 119, 124, 125, 128, 140, 141, 145, 174 Philosophie 31, 50, 80, 101, 125, 132, 151, 152 Physik VI, 34, 156, 157, 170, 171 Physikdidaktik 156, 170 Physiker 115, 157, 158 Politik 54,134, 149, 151, 167,168 Politiker 27, 50, 149 Positivismus IV, 46, 57, 141, 175 positivistisch 46, 48, 97, 143 Pädagogik 40, 51, 52, 76, 80, 87, 112, 127 Pädagogik, analytische 106 Privatschule V, 111, 112 Projektion 3, 15, 44, 49, 52, 60, 80, 147, 175 Prozesse, gruppendynamische 116, 162 Psychologie 41, 80, 81, 82, 134, 170 psychologisch 2, 20, 41, 80, 86, 149, 165 Puritanismus 161 Radikaler Konstruktivismus 83 Rasse 9, 11, 12, 13, 135, 136 Rassenprinzip 134 Rationalisierung 23, 25, 31, 37, 47, 48, 55, 56, 80, 124, 140, 142, 143, 175 Rationalität 23, 24, 25, 27, 34, 35, 36, 40, 47, 91, 129, 139, 151, 167 Reaktion, soziale 6 Reflexion 5, 20, 28, 48, 49, 50, 53, 54, 103, 144, 145, 149, 154, 175 reflexiv 5, 6,20, 65, 67, 75, 90, 91, 145, 146, 147, 148, 155
INDEX
Reflexivität 9, 14, 66, 75, 91, 143 Regeln, normative 10,11, 21,145, 147, 148, 170 Religion 11, 13 Religionssoziologie 129, 159, 171 Replikation, genetische 85 Reproduktion 24, 28, 34, 40, 47, 49, 58, 59, 60, 61, 62, 65, 66,71,73, 76,81,83,90, 153, 165, 166, 167, 168, 175 reproduzieren 36, 71, 85, 165 Residualtheorie 46, 175 respektiv 127 Reziprozität 10, 29, 60, 127, 136, 146 Rolle 7, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 24, 35, 44, 53, 58, 66, 69, 70, 72, 80, 102, 107, 112, 116, 120, 130, 150, 170 Rollendistanz 10, 16, 175 Rollenerwartung 17, 18, 70 Rollenträger 69 Schüler IV, 29, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 44, 52, 55, 64, 66, 67, 68, 69, 85, 106, 109, 110, 111, 112, 115, 122, 123, 156, 158, 159 Schülerverhalten 33 Schülerverhältnis 39 Schülervertretung 67 Schüler 4, 5, 6, 7, 8, 11, 12, 15, 16, 18 Schülerrollen IV, 15 Schule IV, V, 4, 5, 6, 7, 8, 12, 22, 28,31,32,33,34,35,36, 37, 38, 50, 52, 54, 55, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 76, 87, 90, 91, 106, 110, 111, 112, 113, 117, 156, 163, 170, 171 Schulhof IV, 6, 7, 32, 33 Schulklasse 4, 6, 7, 16, 32, 64, 67, 68, 110, 111, 113 Schulleiter V, 32, 33, 34 Selbstgenügsamkeit 61 Selbstmord 3, 61, 84, 122 Selbstreferentialität 86, 87 Selbstreferenz 9, 15, 59, 60, 61, 62, 65, 66, 71, 76, 77, 86,
183
90, 125, 143, 144, 153, 154, 161, 162, 164, 169, 175 self-maintaining system 164 selffullfilling prophecy 16, 84 Siedlungssoziologie V, 137, 170 Sinn 60, 75, 84 Solidarität, organische 122, 164 Solidarität, mechanische 122, 164 Sozialisation IV, 10, 13, 21, 22, 30, 58, 66, 69, 70, 71, 72, 73,74,75,76,78,81, 90, 93,94,111,131, 144, 145, 170, 176 Sozialisationsprozeß 70 Sozialisationstheorie 73 Soziolinguistik 21, 144, 145, 147, 148, 149, 170 Spontaneität des Subjekts 7, 56 Sport 34, 64, 67, 162, 170 Sprache V, 2, 3, 10, 12, 21, 22, 24, 80, 87, 96, 99, 103, 144, 145, 147, 148, 149, 170, 171, 176 sprEichliche Kompetenz 28, 144, 148 Sprechsituation, ideale 29, 30, 35, 39 Staat 55, 92, 102, 107, 118, 150, 151, 166, 172 Stadt 42, 88, 138, 162 Steuerung 4, 25, 36, 49, 90, 167, 168 Stigmatisierung IV, 5, 6, 8, 11, 12, 13, 75, 114, 176 Strukturalismus IV, V, 96, 97, 134 strukturell-funktional 58,61,144, 176 Strukturfunktionalismus IV, 58 strukturfunktionalistisch VI, 144, 164 Strukturtheorie IV Subjekt IV, 5, 10, 23, 24, 25, 26, 27, 35,39,40,41,47, 74, 97, 98,118,119, 121, 124, 126, 136, 141, 143, 147, 148, 149, 150, 152, 154, 161, 167, 173, 176 subjektiv 40, 46, 53, 56, 60, 84, 115, 118, 127, 131, 164,
184
169, 174 Subjektivismus 56, 110 Substitut 70, 80, 176 Supervision 20, 22 Symptom 78, 101, 102, 103 synreferentiell 87 System, äußeres 68, 128 System, autopoietisches 83 System, deterministisches 176 System, inneres 68 System, kognitives 86, 158 System, kulturelles 11, 81 System, pädagogisches 69, 90, 91 System, politisches 27, 150 System, polykontexturales 166 System, prästabiliertes 176 System, psychisches IV, 41, 58, 71, 74, 76, 80, 81, 85, 154, 176 System, selbstreferentielles 41,165, 167 System, sozial-kulturelles 148 System, soziales 3, 7, 8, 9, 11, 15, 27, 28, 32,40,41,42,43, 58, 60, 61, 62, 63, 64, 66, 67, 68,70, 71,72,73, 74, 75, 76,79, 80, 81,82, 83, 86, 90, 91, 110, 120, 121, 125, 132, 133, 134, 136, 137, 138, 141, 144, 153, 154, 161, 163, 165, 168, 169, 175, 176 systemtheoretisch IV, V, VI, 34, 37, 40,42,49, 59,61,62, 63, 64, 65, 66, 67, 72, 74, 75,77,78,81,82,85,88, 144, 148, 158, 163, 164, 165, 167 Szientismus 46, 176 Tabu 51, 52 Tautologie 47, 154 Theorie, kritische IV, V, 37, 46, 48, 49, 53, 55, 57, 141, 144 therapeutisch 20, 38, 78, 84 Therapie 38, 77, 84, 94 Totalitarismus 4, 48 Transformationsgrammatik 148 Umwelt 1, 3, 6, 7, 9, 10, 14, 31, 38,41,42, 60,61,63, 64, 65, 68, 70, 71, 72, 74, 75,
INDEX
76,81,82, 83, 85, 86, 87, 89, 90, 97, 115, 130, 131, 132, 135, 136, 137, 138, 150, 152, 153, 155, 158, 161, 164, 165, 166, 168, 169, 173, 174 Unterricht IV, 4, 5, 17, 18, 33, 34, 36, 37, 38, 44, 45, 68, 82, 104, 106, 111, 159, 171 Unterrichtsstil 4, 36 Verbrechen 78, 79, 94, 104, 105 Verhalten, abweichendes 8, 13, 73, 78, 94 Verhalten, normabweichendes IV, 7, 8, 77, 78, 79 Verstehen 21, 28, 53, 61, 66, 72, 98, 110, 118, 144, 146, 158, 171, 173 Verständigung IV, 24, 25, 29, 31, 35, 36, 37, 39, 40, 43, 44, 173 Verwaltung 67, 88, 92, 93, 94, 101, 123, 129, 149 Verwaltungssoziologie 92 Viabilität 83, 84, 177 Vorurteil 5, 12, 28, 30, 43, 49, 53, 54, 55, 57, 114 Wertfreiheit V, 123, 125 wertrationale Handeln 119 Widerspruch V, 5, 9, 47, 56, 65, 79, 141, 151, 152, 153, 154, 158 Wirklichkeitskonstruktion 85, 86 Wirtschaft VI, 56, 63, 88, 94, 95, 129, 139, 150, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 170, 171 Wirtschaftssoziologie 163, 164,169 Wissenssoziologie 21, 55,130,155 Zahlung 164, 165, 166, 169 Zeit V, 8, 20, 22, 33, 43, 55, 62, 67, 74, 75, 78, 81, 87, 92, 97, 99, 100, 101, 103, 104, 105, 106, 107, 115, 117, 122, 133, 137, 152, 155, 161, 163 Zivilisationstheorie 109