Paideia: Die Formung des griechischen Menschen [2. ungek. photomech. Nachdr. in einem Bd. Reprint 2010 ed.] 9783110842296, 9783110038002


194 43 45MB

German Pages 1398 [1412] Year 1973

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Einleitung: Die Stellung der Griechen in der Geschichte der menschlichen Erziehung
Erstes Buch Die griechische Frühzeit
Adel und Arete
Kultur und Erziehung des homerischen Adels
Homer als Erzieher
Hesiodos und das Bauerntum
Spartanische Staatserziehung
Der Rechtsstaat und sein Bürgerideal
Die Selbstformung des Individuums in der ionisch-äolischen Dichtung
Solon und die Anfänge der politischen Bildung Athens
Das philosophische Denken und die Entdeckung des Kosmos
Kampf und Verklärung des Adels
Die Kulturpolitik der Tyrannen
Zweites Buch Höhe und Krisis des attischen Geistes
Das Drama des Aischylos
Der tragische Mensch des Sophokles
Die Sophisten Die Sophisten als bildungsgeschichtliches Phänomen
Der Ursprung der Pädagogik und des Kulturideals
Staatskrisis und Erziehung
Euripides und seine Zeit
Die Komödie des Aristophanes
Thukydides als politischer Denker
Drittes Buch Das Zeitalter der großen Bildner und Bildungssysteme
Das vierte Jahrhundert
Die griechische Medizin als Paideia
Sokrates
Platos Bild in der Geschichte
Platos kleinere sokratische Dialoge: Arete als philosophisches Problem
Platos Protagoras: Sophistische oder sokratische Paideia?
Platos Gorgias: Der Erzieher als der wahre Staatsmann
Platos Menon: Der neue Begriff des Wissens
Platos Symposion: Eros
Platos Staat
Einleitung
Der Ursprung der Idee des besten Staates aus dem Problem der Gerechtigkeit
Die Reformation der alten Paideia
Die Kritik der musischen Bildung
Kritik der Gymnastik und Medizin
Die Stellung der Erziehung im Staate der Gerechtigkeit
Die Erziehung der Frauen und Kinder
Rassenauslese und Erziehung der Besten
Kriegererziehung und Reform des Kriegsrechts
Platos Staat–der »Lebensraum« des philosophischen Menschen
Die Paideia der Herrscher
Das Studium der Mathematik
Die dialektische Bildung
Die Formenlehre des Staates als Pathologie der menschlichen Seele
Der Staat in uns
Der erzieherische Wert der Poesie
Paideia und Eschatologie
Die Rhetorik des Isokrates und ihr Bildungsideal
Politische Bildung und nationale Idee
Die Erziehung der Fürsten
Autorität und Freiheit in der radikalen Demokratie
Isokrates verteidigt seine Paideia
Xenophon
Platos Phaidros: Philosophie und Rhetorik
Plato und Dionysios: Die Tragödie der Paideia
Platos Gesetze
Der Gesetzgeber als Erzieher
Der Geist der Gesetze und die wahre Bildung
Über die Ursachen des Verfalls der Staaten
Staatsgründung und göttliche Norm. Die Gesetzesproömien
Die Gesetze für Volksbildung
Herrscherbildung und Gotteserkenntnis
Demosthenes
Anmerkungen zu [II/1-II/360] und [III/1-III/374]
Recommend Papers

Paideia: Die Formung des griechischen Menschen [2. ungek. photomech. Nachdr. in einem Bd. Reprint 2010 ed.]
 9783110842296, 9783110038002

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

WERNER JAEGER · PAIDEIA

PAIDEIA DIE FORMUNG DES GRIECHISCHEN MENSCHEN

VON

WERNER JAEGER

UNGEKÜRZTER ΡHOTOMECHANISCHER NACHDRUCK IN EINEM BAND

WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK 1973

Band I ι. Auflage 2. Auflage 3. Auflage 4. Auflage 5. Auflage

1933 1936 1954 unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1959 unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1973 unveränderter Nachdruck der 2. Auflage

Band II ι. Auflage 2. Auflage 3. Auflage 4. Auflage

1944 1954 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 19J9 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1973 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage

Band III ι. Auflage 2. Auflage 3. Auflage 4. Auflage

1947 195$ unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1959 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1973 unveränderter Nachdruck der 1. Auflage

ISBN 3 1 1 003800 5 l

© 973 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Gösdien'sdie Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner Veit & Comp., Berlin 30 · Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nidit gestattet, dieses Budi oder auch Teile daraus auf photomedianischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Druck: Buchdruckerei Wagner, Nördlingen

VORWORT Ich übergebe der Öffentlichkeit ein Werk geschichtlicher Forschung, das sich die bisher nicht in Ângriff genommene Aufgabe stellt, die Formung des griechischen Menschen, die Paideia, zum Gegenstand einer neuen Gesamtbetrachtung des Griechentums zu machen. So oft es auch unternommen worden ist, den Staat und die Gesellschaft, die Literatur, Religion oder Philosophie der Griechen in ihrer Entwicklung zu schildern, ist bis heute anscheinend noch nicht der Versuch gemacht worden, den geschichtlichen Bildungsprozeß des griechischen Menschen und den geistigen Aufbau des idealen Menschenbildes der Griechen in ihrer Wechselwirkung darzustellen. Aber nicht weil ich zufällig auf diese Aufgabe stieß, die noch des Bearbeiters harrte, habe ich mich ihr gewidmet, sondern weil ich zu erkennen glaubte, daß an diesem großen geistigen und geschichtlichen Problem das tiefere Verständnis jenes einzigartigen erzieherischen Schöpfertums hängt, von dem die unvergängliche Wirkung der Griechen auf die Jahrtausende ausstrahlt. Der erste Band umfaßt Grundlagen, Aufbau und Krisis der griechischen Bildung im Zeitalter des heroischen und des politischen Menschen d. h. in der frühen und klassischen Periode des griechischen Volkes. Er endigt mit dem Zusammenbruch des attischen Reiches. Der zweite Band soll die geistige Restauration in dem Jahrhundert Piatos, ihren Kampf um Staat und Bildung und den Wandel der griechischen Kultur zur Weltherrschaft darstellen. Die Form der Einbeziehung Roms und der christlichen Antike in den von den Griechen ausgehenden Bildungsprozeß behalte ich mir vor. Die Darstellung wendet sich nicht nur an die gelehrte Welt sondern an alle, die in dem Kampfe unserer Zeit um den Bestand unserer mehrtausendjährigen Kultur heute wieder den Zugang zum Griechentum suchen. Der Drang zu geschichtlicher Zusammenschau des Ganzen und das unabweislichc Bedürfnis nach vertiefender Neudurchdringung des vielseitigen Stoßs in exakter

Einzelforschung auf allen Gebieten, die in diesem Buche behandelt werden, waren oft schwer miteinander ins Gleichgewicht zu bringen. Die Betrachtung der Antike unter dem Gesichtspunkt dieses Buches ließ überall eine Fülle neuer Probleme hervortreten, die zehn Jahre lang im Mittelpunkt meiner Lehrtätigkeit und Forschung gestanden haben. Um des Ganzen willen habe ich darauf verzichtet, ihre gesamten Ergebnisse in Form besonderer Untersuchungsbände beizugeben, die das Werk unförmlich vergrößert hätten. Die Begründung meiner Anschauungen ist in der Hauptsache der Darstellung selbst zu entnehmen, da diese überall unmittelbar von der Interpretation der originalen Texte ausgeht und die Tatsachen in einen Zusammenhang stellt, durch den sie sich selbst erläutern. Die zitierten Stelle^/ antiker Autoren sind unter dem Text angegeben, ebenso die nötigste Literatur, vor allem soweit sie sich unmittelbar auf bildungsgeschichtliche Fragen bezieht. Wo ein breiterer Unterbau unentbehrlich war, ließ er sich freilich nur selten in Form der üblichen Anmerkungen geben. Ich habe daher diesen Teil meiner Arbeit teils im voraus als Einzeluntersuchungen veröffentlicht und hier nur kurz darauf verwiesen, teils werden solche noch folgen. Einzelarbeit und Buch bilden wissenschaftlich ein Ganzes und greifen beständig ineinander. Die Stellung der grièchischen Paideia in der Geschichte habe ich in der Einleitung in einer mehr allgemeinen Betrachtung des Typischen zu skizzieren versucht. Dort ist auch kurz gesagt, was sich aus unserer Besinnung auf die griechische Form der Menschenbildung für unser Verhältnis zu dem Humanismus früherer Zeiten ergibt. Dieses Problem ist heute brennender als je und besonders umstritten. Seine Lösung in der Gegenwart kann natürlich durch bloße geschichtliche Erkenntnis, wie sie in diesem Buche gesucht wird, nicht herbeigeführt werden, weil es sich dabei um uns selbst und nicht um die Griechen handelt. Aber die Wesenserkenntnis des griechischen Bildungsphänomens ist eine unentbehrliche Grundlage auch für jedes gegenwärtige erzieherische Wissen und Wollen. Aus dieser Überzeugung ist meine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Problem und als deren Wirkung dieses Buch entsprungen. B e r l i n - W e s t e n d , Oktober 1933 Werner J a e g e r

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE Die Notwendigkeit einer neuen Auflage des ersten Bandes der »Paideia« schon nach anderthalb Jahren gilt mir als ein ermutigendes Zeichen, daß das Buch sich rasch Freunde erworben hat. Da seit seinem ersten Erscheinen erst so kurze Zeit vergangen ist, war es mir nicht möglich, größere Veränderungen vorzunehmen, doch konnten einige Versehen bei dieser Gelegenheit berichtigt werden. Im übrigen liegt es in der Natur dieses Buches, daß die Erörterungen, die es hervorgerufen hat, zum großen Teil in dem vielfaltigen Reflex bestehen, den jedes geschlossene Geschichtsbild im Spiegel der verschiedenen Weltanschauungen erzeugt. Darüber hinaus hat sich eine Auseinandersetzung über Ziel und Methoden geschichtlicher Erkenntnis daran angeknüpft, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Recht und Eigenart meiner Betrachtungsweise theoretisch zu begründen ist eine Aufgabe fur sich; mir liegt es näher, sie sich an den Gegenständen selbst bewähren zu lassen, die mich zu ihr gefuhrt haben. Man braucht es kaum auszusprechen, daß der Aspekt der Geschichte, den dieses Buch eröffnet, die Geschichte im herkömmlichen Sinne d. h. die Geschichte des Geschehens weder ersetzen kann noch will. Aber nicht weniger berechtigt und notwendig ist eine Betrachtung, die das geschichtliche Sein des Menschen von der Seite seiner repräsentativen Ausprägung in den schöpferischen Werken des Geistes erfaßt. Abgesehen davon, daß wir für Jahrhunderte fast ausschließlich auf diese Art der Überlieferung angewiesen sind, wie fiir das frühe Griechentum, bleiben sie auch in Zeiten, für die ihnen noch andere Zeugen zur Seite stehen, stets unser unmittelbarster Zugang zu dem inneren Leben der Vergangenheit. Um dieses aber geht es in einer Darstellung, die die Paideia der Griechen und zugleich die Griechen als Paideia zum Gegenstand hat. B e r l i n , Juli 1935 Werner J a e g e r

INHALT Vorwort Einleitung: Die Stellung der Griechen in der Geschidite der mensdilidien Erziehung

V ///r/

ι

[IhsJ [H 3^1 ///tfj/ ///S^/

23 3** 63 89

Erstes Buch Die griechische Frühzeit Adel und Arete Kultur und Erziehung des homerischen Adels Homer als Erzieher Hesiodos und das Bauerntum Spartanische Staatserziehung Die Polis als Bildungsform und ihre Typen Das Spartaideal des 4. Jahrhunderts und die Überlieferung . Tyrtaios' Aufruf zur Arete Der Rechtsstaat und sein Bürgerideal Die Selbstformung des Individuums in der ionisch-äolischen Diditung Solon und die Anfänge der politischen Bildung Athens Das philosophische Denken und die Entdeckung des Kosmos . . . Kampf und Verklärung des Adels Die Uberlieferung des Theognisbuchs Die Kodifizierung der adligen Erziehungstradition . . . . Pindars Adelsglaube Die Kulturpolitik der Tyrannen

[II 113] [Ih 16] [1h25] [Ih40]

113 116 12 j 140

[H160 ] /Ι/ι8γ] [II206] [H*497 [Ihfi] [Ih}?] [II 271] [U292]

160 iSy 206 2 49 2$i 259 271 292

[H307] [U34}]

3°7 343

[1/364] [H37S] [U40S]

364 378 405

Zweites Buch H ö h e u n d K r i s i s des a t t i s c h e n G e i s t e s Das Drama des Aisdiylos Der tragische Mensdi des Sophokles Die Sophisten Die Sophisten als bildungsgesdiiditlidies Phänomen . Der Ursprung der Pädagogik und des Kulturideals . . Staatskrisis und Erziehung

. .

. .

Euripides und seine Zeit Die Komödie des Aristophanes Thukydides als politisdier Denker

[I¡4'9] [II4¡o] [H479]

419 450 479

Drittes Buch Das Z e i t a l t e r der g r o ß e n B i l d n e r und B i l d u n g s s y s t e m e Das vierte Jahrhundert [Ilh] Die griechische Medizin als Paideia /////// Sokrates /////p/ Das sokratische Problem [IH63] Sokrates als Erzieher [Hl74] Piatos Bild in der Gesdiidite [III 130] Piatos kleinere sokratisdie Dialoge: Arete als philosophisches Problem [M141] Piatos Protagoras: Sophistische oder sokratisdie Paideia? . . . . [ l H i 6 j ] Piatos Gorgias: Der Erzieher als der wahre Staatsmann . . . . [III 188] Piatos Menon: Der neue Begriff des Wissens [III228] Piatos Symposion: Eros [III244] Piatos Staat Einleitung [Hhjo] Der Ursprung der Idee des besten Staates aus dem Problem der Gerechtigkeit [IH2J3] Die Reformation der alten Paideia [III281] Die Kritik der musischen Bildung [III28}] Kritik der Gymnastik und Medizin [IH306] Die Stellung der Erziehung im Staate der Gerechtigkeit . . [III310] Die Erziehung der Frauen und Kinder [II!319] Rassenauslese und Erziehung der Besten [III324] Kriegererziehung und Reform des Kriegsredits [III330] Piatos Staat-der »Lebensraum« des philosophischen Menschen ////338] Die Paideia der Herrscher /////// Das Studium der Mathematik [III!2}] Die dialektische Bildung [III!3}] Die Formenlehre des Staates als Pathologie der menschlichen Seele [IIH47] Der Staat in uns [III!79/ Der erzieherische Wert der Poesie [III/90] Paideia und Eschatologie /////99/ Die Rhetorik des Isokrates und ihr Bildungsideal [Illhof] Politische Bildung und nationale Idee [III! 131] Die Erziehung der Fürsten [IIH14S] Autorität und Freiheit in der radikalen Demokratie [III! 170] Isokrates verteidigt seine Paideia [III!199] Xenophon [IIII226] Piatos Phaidros: Philosophie und Rhetorik [III!2¡;] Plato und Dionysios: Die Tragödie der Paideia [IIH27:]

$ 17 $27 57 5 579 59° 646 6$7 681 704 744 760 786 789 797 801 822 826 835 840 846 854 877 901 911 923 95 j 966 97 j 981 1007 1021 1046 1075 1102 1131 1147

Flatos Gesetze Der Gesetzgeber als Erzieher Der Geist der Gesetze und die wahre Bildung Über die Ursadien des Verfalls der Staaten Staatsgründung und göttliche Norm. Die Gesetzesproömien . Die Gesetze für Volksbildung Herrscherbildung und Gotteserkenntnis Demosthenes Anmerkungen zu [II/i—II/360] und [III/1-III/374]

[IIIΊ289] [I1U294] [III!309] . [III!317] [III!324] [III!341] [IIU34J ]

1165 1170 1185 1193 1200 1217 1221 i2$i

DIE STELLUNG DER GRIECHEN IN DER GESCHICHTE DER MENSCHLICHEN ERZIEHUNG Alle Völker, die eine gewisse Stufe der Entwicklung erreichen, haben von Natur den Trieb zur Erziehung. Erziehung ist das Prinzip, dessen sich die menschliche Gemeinschaft bedient, um ihre leibliche und geistige Art zu erhalten und fortzupflanzen. Im Wandel der Dinge vergehen die Individuen, während die Art sich mit sich selbst identisch erhält. Das Tier und der Mensch, insofern er ein physisches Geschöpf ist, behaupten ihre Art durch die spontane natürliche Fortpflanzung. Seine soziale und geistige Daseinsform jedoch kann der Mensch nur durch diejenigen Kräfte seiner Natur fortpflanzen und erhalten, durch die er sie geschaffen hat, durch bewußten Willen und Vernunft. Durch sie hat seine Entwicklung einen gewissen Spielraum, dessen die übrigen Arten der Lebewesen entbehren, wenn wir die Hypothese vorgeschichtlicher Veränderungen der Arten hier außer Betracht lassen und uns nur an die gegebene Erfahrungswelt halten. Selbst die körperliche Natur des Menschen und ihre Eigenschaften vermag bewußte Züchtung zu verändern und zu höherer Leistungsfähigkeit zu steigern. Unendlich reichere Möglichkeiten der Entfaltung aber trägt der Geist des Menschen in sich. Indem er fortschreitend seiner selbst inne wird, baut er auf der Erkenntnis der inneren und äußeren Welt die beste Form des menschlichen Daseins auf. Die Natur des Menschen als eines leiblich-geistigen Wesens schafft für die Erhaltung und Übertragung seiner Artform besondere Bedingungen und fordert besondere leibliche und geistige Veran[1/1]

1

staltungen, deren Inbegriff wir mit dem Wort Erziehung bezeichnen. In der Erziehung, wie der Mensch sie übt, wirkt derselbe plastische und zeugerische Lebenswille der Natur, der spontan jede lebendige Art in ihrer Form fortzupflanzen und zu erhalten strebt, aber er ist auf dieser Stufe zur höchsten Intensität gesteigert durch die Zielstrebigkeit des bewußten menschlichen Wissens und Wollens. Hieraus ergeben sich gewisse allgemeine Folgerungen. Erziehung ist zunächst keine individuelle Angelegenheit sondern ihrem Wesen nach Sache der Gemeinschaft. Der Charakter der Gemeinschaft prägt sich in ihren einzelnen Mitgliedern aus, sie ist beim Menschen, dem ¿φον ττολιτικόν, in einem beim Tier nicht vorkommenden Maße die Quelle alles Tuns und Verhaltens. Nirgendwo kommt der bestimmende Einfluß der Gemeinschaft auf ihre Glieder stärker zur Geltung als in ihrem Bestreben, die beständig aus ihr hervorwachsenden neuen Individuen durch Erziehung bewußt in ihrem Sinne zu formen. Der Aufbau jeder Gemeinschaft ruht auf den in ihr geltenden geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetzen und Normen, die sie selbst und ihre Glieder binden. Deshalb ist alle Erziehung der unmittelbare Ausfluß des lebendigen Normbewußtseins einer menschlichen Gemeinschaft, sei es der Familie, sei es des Berufs oder Standes, sei es der umfassenderen Verbände wie Stamm und Staat. Die Erziehung nimmt teil an dem Wachstums- und Lebensprozeß der Gemeinschaft mit seinen Veränderungen, sowohl an ihrem äußeren Schicksal wie an ihrem inneren Ausbau und ihrer geistigen Entwicklung. Der Entwicklung unterliegt auch das allgemeine Bewußtsein der im menschlichen Leben geltenden Werte, die Geschichte der Erziehung wird also wesentlich bedingt durch die Wandlungen der Wertanschauungen einer Gemeinschaft. Stabilität der geltenden Normen bedeutet auch Festigkeit in den erzieherischen Grundsätzen eines Volkes, Zerstörung und Zersetzung der Normen erzeugt Unsicherheit und Schwanken der Erziehung bis zu ihrer vollen Unmöglichkeit. Dieser Zustand stellt sich ein, sobald die Tradition gewaltsam zerstört wird oder innerlich zerfallt. Andererseits ist Stabilität noch kein sicheres Zeichen der Gesundheit; sie herrscht auch im Zustande greisenhafter Erstarrung, in den Spätzeiten der 2

i1/2J

Kulturen, ζ. Β. in dem vorrevolutionären konfuzianischen China, in der Spiitantikc, im Spätjudentum, in gewissen Perioden der Kirchcn, der Kunst und der wissenschaftlichen Schulen. Ungeheuer ist der Eindruck beinahe zeitloser Beharrung in der nach Jahrtausenden zählenden Geschichte des alten Ägypten. Aber auch den Römern galt Festigkeit der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse als höchster Wert, demgegenüber allen Sonderidealen und -Wünschen nach Veränderung nur beschränkte Berechtigung zukam. Eine besondere Stellung nimmt das Griechentum ein. Die Griechen bedeuten, von der Gegenwart aus betrachtet, gegenüber den großen historischen Völkern des Ostens einen prinzipiellen 'Fortschritt', eine neue 'Stufe' in allem was das Leben des Menschen in der Gemeinschaft betrifft. Es wird bei den Griechen auf völlig neue Grundlagen gestellt. So hoch wir auch die künstlerische, religiöse und politische Bedeutung der früheren Völker schätzen mögen, beginnt doch die Geschichte dessen, was wir als K u l t u r in unserem bewußten Sinne bezeichnen können, nicht eher als bei den Griechen. Die moderne Forschung hat im letzten Jahrhundert unseren geschichtlichen Horizont ungeheuer erweitert, die Oikumene der 'klassischen' Griechen und Römer, die seit zweitausend Jahren mit den Grenzen der Welt zusammenfiel, ist von uns räumlich nach allen Seiten überschritten worden, und bis dahin unbetretene Geisteswelten haben sich unserem Blick geöffnet. Aber wir erkennen heute nur um so deutlicher, daß sich durch diese Ausweitung des Gesichtsfeldes nichts an der Tatsache geändert hat, daß unsere Geschichte — in dem Sinne tieferer Verbundenheit — auch heute noch mit dem Auftreten der Griechen 'beginnt', soweit sie über die Grenzen des eigenen Volkes hinausgreift und wir uns als Glied eines größeren Völkerkreises erkennen müssen. Ich habe diesen Kreis deshalb früher den hellenozentrischen genannt 1 . Beginn heißt hier nicht nur soviel wie zeitlicher Anfang sondern άρχή, geistiger Ursprung, auf den man auf jeder neuen Stufe zurückgeht, um sich daran zu orientieren. Dies ist der Grund unsrer immer wiederholten geistigen Begegnung mit 1 Vgl. meinen einleitenden Aufsatz in dem Sammelband und Gegenwart" 2. Aufl. (Leipzig 1920) S. 11.

„Altertum

3

dem Griechentum im Laufe unsrer Geschichte, wobei schon hier zu bemerken ist, daß der Sinn dieses Zurückgehens und dieser spontanen Erneuerung nicht darin besteht, einer in unsere Zeit hineinragenden zeitlosen geistigen Grgße eine von unserm Schicksal unabhängige, daher starre und unveränderliche Autorität über uns zu geben. Der Grund unseres Zurückgehens ist immer das eigene Lebensbedürfiiis, so verschieden auch die Höhenlage sein kann, von der aus man es beurteilt. Natürlich gibt es für uns und für jedes Volk dieses Kreises auch gegenüber Hellas und Rom ursprüngliche Fremdheiten, die teils im Blut und Gefühl liegen, teils in der Geistesanlage und Gestaltungsform, teils in der Verschiedenheit der jeweiligen geschichtlichen Situation. Aber zwischen dieser Art des Andersseins und deijenigen, die wir gegenüber den ausgesprochen rasse- und geistesfremden Völkern des Orients empfinden, besteht ein riesengroßer Unterschied, und es ist ohne Zweifel eine ungeschichtliche Verschiebung der Perspektive, wenn manche neueren Schriftsteller die Welt der Antike von der der abendländischen Nationen durch eine hohe Mauer trennen wie China, Indien oder Ägypten. Es handelt sich jedoch nicht nur um ein Nähegefühl rassischer Verwandtschaft, so bedeutsam auch gerade dieser Faktor für das innere Verständnis eines andern Volkes ist. Wenn wir sagen, daß unsere Geschichte eigentlich erst mit Hellas beginnt, so müssen wir uns des besonderen Sinnes bewußt sein, in welchem wir den Begriff 'Geschichte' in diesem Falle anwenden. Als Geschichte bezeichnen wir auch die Erkundung wunderbarer und rätselvoller Fremdwelten, so hat schon Herodot sie getrieben. Mit geschärften Augen für die Morphologie des menschlichen Lebens in allen seinen Formen nähern wir uns heute auch den entferntesten Völkern und suchen in ihren eigentümlichen Geist einzudringen. Aber von der Geschichte in diesem, man möchte sagen: anthropologischen Sinne verschieden ist eine Betrachtung der Geschichte, die eine in uns selbst noch lebendig wirksame schicksalhafte Geistesverbundenheit zur Voraussetzung hat, sei es des eigenen Volkes oder eines enger verbundenen Kreises von Völkern. Nur bei dieser Art der Geschichte gibt es überhaupt ein Verstehen von innen heraus, ein wirklich schöpferisches Sich 4

[U4]

mit dem andern berühren. Nur in ihr gibt es eine Gemeinschaft gewachsener sozialer und geistiger Formen und Ideale, gleichgültig in welcher tausendfaltigen Brechung und Abwandlung sie sich auf dem Boden der verschiedenen Rassen und Stämme dieser Völkerfamilie variieren, kreuzen und verdrängen, absterben und sich wieder erneuern. In solcher Gemeinschaft steht sowohl das Abendland in seiner Gesamtheit als auch jedes seiner fuhrenden Kulturvölker für sich und auf seine besondere Weise zur Antike. Fassen wir Geschichte in diesem tieferen Sinne der Wurzelverbundenheit auf, so kann sie nicht den ganzen Planeten als Schauplatz umfassen, und keine Ausdehnung unseres geographischen Horizonts kann jemals die Grenzen 'unserer' Geschichte nach der Vergangenheit hin weiter ziehen, als unser historisches Schicksal sie seit Jahrtausenden gesteckt hat. Ob einmal in Zukunft eine Einheit der gesamten Menschheit in ähnlichem Sinne erwachsen wird, entzieht sich vorläufig jeder Voraussage und ist für unsere Frage ohne Belang. Das Umwälzende und Epochemachende, das die Stellung der Griechen in der Geschichte der menschlichen Erziehung bedingt, ist nicht mit wenigen Worten zu erfassen. Es ist die Aufgabe dieses ganzen Buches, die Bildung des griechischen Menschen, die Paideia, in ihrer einzigartigen Eigentümlichkeit und geschichtlichen Entfaltung darzustellen. Sie ist nicht ein bloßer Inbegriff abstrakter Ideen, sondern sie ist die griechische Geschichte selbst in der konkreten Wirklichkeit des erlebten Schicksals. Aber diese erlebte Geschichte wäre längst verschollen, wenn nicht der griechische Mensch aus ihr bleibende Form geschaffen hätte. Er schuf sie als den Ausdruck eines höchsten Wollens, mit dem er dem Schicksal standhielt. Für dieses Wollen fehlte ihm auf der frühesten Stufe seiner Entwicklung noch jeder Begriff. Aber je sehender er auf seinem Wege weiterschritt, um so klarer prägte sich in seinem Bewußtsein das immer gegenwärtige Ziel aus, unter das er sich und sein Leben stellte: die Formung eines höheren Menschen. Der Gedanke der Erziehung erschien ihm repräsentativ für den Sinn alles menschlichen Ringens. Sie wurde ihm zur letzten Rechtfertigung der Existenz menschlicher Gemeinschaft u n d Individualität. So haben auf dem Gipfel ihrer Entwicklung die Grie5

chen sich selbst verstanden. Es liegt kein triftiger Grund vor für die Annahme, daß wir sie vermöge ich weiß nicht welcher überlegenen psychologischen, historischen oder sozialen F.insirht besser zu begreifen vermöchten. Auch die gewaltigen Denkmäler ihrer Frühzeit erscheinen in diesem Lichte betrachtet erst ganz verständlich. Sie sind aus dem gleichen Geiste geboren. Und in der Form der Paideia, der 'Kultur', haben die Griechen endlich ihre geistige Gesamtschöpfimg als Erbe an die übrigen Völker des Altertums weitergegeben. Es war der griechische Kulturgedanke, an den Augustus den Beruf des römischen Weltreichs geknüpft hat. Ohne die griechische Kulturidee gäbe es keine 'Antike' als geschichtliche Einheit und keine abendländische 'Kulturwelt'. Wir pflegen freilich den Begriff der Kultur in unserem heutigen abgegriffenen Sprachgebrauch meist nicht in diesem Sinne als ein nur der nachgriechischen Menschheit angehöriges Ideal zu fassen, sondern wenden ihn in einer sehr trivialisierten Bedeutung verallgemeinernd auf alle Völker der Erde an einschließlich der Primitiven, d. h. wir verstehen unter Kultur nichts anderes als die Gesamtheit der Lebensäußerungen und Lebensformen, die für ein Volk charakteristisch sind1. Das Wort Kultur ist dadurch zu einem bloß beschreibenden anthropologischen Begriff herabgesunken, es bedeutet nicht mehr einen höchsten Wertbegriff, ein bewußtes Ideal. In diesem vagen und abgeblaßten Sinne einer bloßen Analogie ist es dann erlaubt von einer chinesischen, indischen, babylonischen, jüdischen oder ägyptischen Kultur zu reden, obgleich keines dieser Völker ein entsprechendes Wort und einen bewußten Begriff dafür kennt. Zwar entbehrt kein höher organisiertes Volk eines erzieherischen Aufbaues, aber das Gesetz und die Propheten der Israeliten, das konfuzianische System der Chinesen, das Dharma der Inder sind ihrem Wesen und ihrer ganzen geistigen Struktur nach etwas von dem griechischen Ideal der Menschenbildung Grundverschiedenes. Letzten Endes ist die Gewohnheit, von einer Mehrzahl vorgriechischer Kulturen zu sprechen, der positi\istischen Gleichmacherei ent1 Vgl. zum folgenden meine Schrift: Piatos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung (Berlin 1928), vor allem den grundsätzlichen ersten Teil: Kulturidee und Griechentum S. 7 fr. (— Die Antike Bd. 4 S. 1}.

6

m

sprungen, die alles Fremde unter die angestammten europäischen Begriffe bringt, ohne zu merken, daß die historische Verfälschung im Grunde schon mit der Einordnung der Fremdwelt in unser ihrem Wesen nicht angemessenes Begriffssystem beginnt. Hier hat der fast unentfliehbare Zirkelschluß alles historischen Verstehens seine Wurzel. Ihn ganz auszurotten ist unmöglich, weil wir dazu gleichsam vorher aus unserer eigenen Haut herausfahren" müßten. Aber in den grundlegenden Fragen der historischen Welteinteilung sollte es immerhin möglich sein, sich über den kardinalen Unterschied zwischen der vorgriechischen Welt und der mit den Griechen beginnenden, in der sich ein Kulturideal als bewußtes GestaltungsJjrinzip überhaupt erst herausbildet, klar zu werden. Es ist nun vielleicht noch nicht allzuviel damit gewonnen, wenn wir die Griechen als die Schöpfer der Kulturidee erweisen, eher könnte diese Vaterschaft in einer vielfach kulturmüden Zeit als eine Belastung erscheinen. Aber wis wir heute Kultur nennen, ist nur ein Schrumpfungsprodukt, eine letzte Metamorphose des Ursprünglichen, griechisch gesprochen: nicht so sehr die Paideia wie die unübersehbar werdende und anarchische äußere 'Apparatur des Lebens', κατασκευή του βίου, die weit mehr der Durchleuchtung von ihrer wahren Urform aus bedürftig scheint, um uns ihres eigentlichen Sinnes wieder zu versichern, als sie von sich aus der Urform Wert zu verleihen vermag. Die Besinnung auf das Urphänomen setzt selbst eine der griechischen verwandte Geistesart voraus, ähnlich wie sie in Goethes Naturbetrachtung — ich möchte glauben ohne direkte geschichtliche Tradition — wiederauflebt. Gerade in geschichtlichen Augenblicken, wo sich in erstarrter Spätzeit der lebendige Mensch wieder unter der Kruste regt, wo veräußerlichter stumpfer Kulturmechanismus dem Heroischen im Menschen zum Feinde wird, muß nach tieferer historischer Notwendigkeit zugleich mit dem Verlangen zurück zu den Quellen des eigenen Volkstums der Trieb erwachen, zu den tiefen Schichten historischen Seins hinabzudringen, wo der artverwandte Geist des griechischen Volkes sich aus glühendem Leben die Form bildete, die diese Glut bis auf den heutigen Tag bewahrt und den schöpferischen Augenblick des Durchbruchs verewigt. Das Griechentum ist uns nicht [U7]

7

nur der kulturgeschichtliche Spiegel der modernen Welt und ein Symbol ihres rationalen Selbstbewußtseins. Das Geheimnis und Wunder des Ursprungs umgibt die erste Schöpfung mit ewig neuen Reizen, und je größer die Geiahr ist, daß auch der höchste Besitz im alltäglichen Gebrauche schal wird, um so stärker zieht es den des tieferen Wertes dieser Kräfte bewußten Geist zurück zu den Gestaltungen, in denen sie mit der Morgenfrische der Völkeijugend und des schöpferischen Genius aus dem Dunkel der Menschenbrust hervortreten. Die weltgeschichtliche Bedeutung der Griechen als Erzieher, so sagten wir, entspringt aus der neuen bewußten Erfassung der Stellung des Individuums in der Gemeinschaft. Betrachten wir die Griechen auf dem historischen Hintergrund des alten Orients, so ist der Unterschied so gewaltig, daß die Griechen mit der europäischen Welt der Neuzeit zu einer Einheit zu verschmelzen scheinen, die wir nur allzuleicht im Sinne der Freiheit des modernen Individualismus interpretieren. In der Tat gibt es keine schrofferen Gegensätze als das individuelle Ichbewußtsein des heutigen Menschen und den Lebensstil des vorhellenischen Orients, wie er uns in der düsteren Majestät der Pyramiden oder orientalischer Königsgräber und Monumentalbauten entgegen tritt. Gegenüber dieser unerhörten Steigerung einzelner Gottmenschen über alles Maß der Natur hinaus, in der sich ein uns fremdes metaphysisches Empfinden ausdrückt, aber auch gegenüber der Auslöschung der großen Masse, ohne die jene Übersteigerung des Herrschermenschen und seiner religiösen Bedeutung undenkbar ist, erscheint der Anfang der griechischen Geschichte als der Anbruch einer neuen Schätzung des Menschen, die für uns leicht ohne weiteres zusammenfließt mit dem namentlich durch das Christentum verbreiteten Gedanken des unendlichen Wertes der einzelnen Menschenseele und mit der geistigen Autonomie des Individuums, die seit der Renaissance als Forderung erhoben wurde. Und wie sollte auch der Anspruch des Individuums auf die hohe Bedeutung, die die Neuzeit ihm gibt, ohne einiges griechische Gefühl flir die Würde des Menschen zu rechtfertigen sein? Es ist nun historisch gewiß nicht zu bestreiten, daß die Griechen auch das Problem des Individuums auf der Höhe ihrer 8

[I/8J

philosophischen Entwicklung bereits ins Auge gefaßt haben, die Geschichte der europäischen Persönlichkeit muß zweifellos von ihnen ausgehen. Römische und christliche Einflüsse traten hinzu, aus dieser Mischung ging das Phänomen des individualisierten Ich hervor. Aber wir können von diesem modernen Ausgangspunkte her die Stellung des griechischen Geistes in der Bildungsgeschichte des Menschen doch nicht in prinzipieller Schärfe erfassen. Wir gehen dazu wohl am besten von der rassemäßigen Formanlage des griechischen Geistes aus. Die spontane Munterkeit, leichte Beweglichkeit und innere Freiheit des griechischen Menschen, die die Voraussetzung für die rapide Entfaltung dieser Nation in einer Formenwelt von unerschöpflicher Fülle der Gegensätze zu sein scheint und die man bei jeder Berührung mit griechischen Schriftstellern von den frühesten Zeiten an aufs neue bewundert, wurzelt keineswegs in modern bewußter Subjektivität, sondern sie ist Natur, und wo diese als Ich zum Bewußtsein kommt, geschieht es auf dem geistigen Umwege über die Entdeckung objektiver Normen und Gesetze, deren erstmalige Erkenntnis dem Menschen eine neue Sicherheit des Denkens und Handelns verleiht. Wie die vom Orient her unverständliche Lösung und Befreiung des menschlichen Körpers in seiner Darstellung durch die griechischen Künstler nicht auf der äußeren Nachahmung zufällig aufgefangener individueller Haltungen des Gegenstandes beruht, sondern aus der klaren Einsicht in die allgemeinen Gesetze der körperlichen Struktur, Gewichtsverteilung und Bewegung entspringt, so kommt die eminente, wie mühelos beherrschte Freiheit des geistigen Sichgebens bei den Griechen aus der den Völkern der Vorzeit unerreichbaren hellsichtigen Bewußtheit einer in den Dingen liegenden Gesetzmäßigkeit. Die Griechen haben einen angeborenen Sinn für das, was der 'Natur' entspricht. Der Begriff der Natur, den sie zuerst geprägt haben, ist ohne Frage ihrer besonderen geistigen Anlage entsprungen. Lange bevor ihr Geist diesen Gedanken hervorbrachte, hat ihr Auge schon die Dinge mit diesem Blick betrachtet, dem kein Teil der Welt jemals für sich abgetrennt in seiner Vereinzelung sich darstellte, sondern immer nur eingeordnet in den lebendigen Zusammenhang eines Ganzen, aus dem es seine Stellung und seinen Sinn empfing. Wir nennen diese Betrachtung organisch, [U9]

9

weil sie das Einzelne als Glied eines Ganzen erfaßt. Der Trieb des griechischen Geistes nach bewußter Erfassung der Gesetze der Wirklichkeit, der auf allen Gebieten des Lebens sich offenbart, im Denken, Reden und Handeln wie in allen Arten künstlerischen Gestaltens, hängt mit diesem Blick für die natürliche, gewachsene, ursprüngliche, organische Struktur des Seins zusammen. Die künstlerische Gestaltungs- und Sehweise der Griechen, erscheint zunächst als eine ästhetische Veranlagung, sie liegt zweifellos schon dem einfachen Sehakt des Auges irgendwie zugrunde und beruht nicht etwa auf der bewußten Hineintragung einer Idee in das Reich der künstlerischen Formgebung. Diese Vermischung, die Idealisierung der Kunst tritt erst verhältnismäßig spät, in der klassischen Periode der Griechen hervor. Freilich ist mit der Betonung der natürlichen Anlage und der Unbewußtheit dieses Sehens noch nicht erklärt, warum wir auch in der Literatur, deren Schöpfung doch nicht auf dem Sehen des Auges sondern auf dem Zusammenwirken des sprachlichen Sinnes und des inneren seelischen Vorgangs beruht, der gleichen Erscheinung begegnen. Auch in der redenden Kunst der Griechen treffen wir dieselben Formprinzipien wie in der bildenden und bauenden. Wir sprechen von dem plastischen oder architektonischen Charakter eines dichterischen Gebildes oder eines Prosawerkes. Was wir hier als plastisch oder architektonisch bezeichnen, sind nicht Formwerte, die der bildenden Kunst nachgeschaffen sind, sondern analoge Normen der menschlichen Rede und ihres Aufbaus, die wir uns nur deshalb durch diese Ausdrücke bildlich verdeutlichen, weil die Gliederung der Werke bildender Kunst uns anschaulicher und daher früher bewußt ist. Die Literaturformen der Griechen sind in ihrer Mannigfaltigkeit und kunstvollen Struktur organisch aus der Umsetzung der einfachen und schlichten Naturformen des menschlichen Ausdruckslebens in die ideale Sphäre der Kunst und des Stils entstanden. Auch in der Kunst der Rede entspringt die Fähigkeit zu organischer Gestaltung und durchsichtiger Gliederung einzig dem natürlichen Gefühl und wachsenden Sinn für das Gesetzmäßige im Empfinden, Denken und Sprechen, der sich schließlich zu der abstrakten Schöpfung der Logik, der Grammatik und der Rhetorik technisiert. Wir haben in dieser Hinsicht von den 10

[V10]

Gricchcn viel zu lernen gehabt, und was wir von ihnen gelernt haben, ist der eiserne Bestand der für uns noch heute gültigen Rede-, Denk- und Stilformen. Das gilt auch für das größte Wunder des griechischcn Geistes, das für seine einzigartige Struktur so beredtes Zeugnis ablegt wie nichts anderes, die Philosophie. In ihr kommt die Kraft, die die Wurzel der griechischen Kunst- und Denkform ist, zur sichtbarsten Entfaltung: der klare Blick für die bleibenden Ordnungen, welche allem Geschehen und Wandel in Natur und Menschenweit zugrunde liegen. Alle Völker haben ihre Gesetze hervorgebracht, aber der Grieche forscht überall nach demjenigen 'Gesetz', welches in den Dingen selbst wirkt, und sucht das Leben und Denken des Menschen danach zu richten. Der Grieche ist der Philosoph unter den Völkern. Die 'Theoria' der griechischen Philosophie ist dem künstlerischen Bilden und Dichten der Griechen urverwandt. Sie enthält nicht nur das rationale Element, an das wir dabei in erster Linie denken, sondern, wie der sprachliche Ursprung des Wortes sagt, ein Element des Schauens, das den Gegenstand immer als Ganzes, in seiner 'Idea', d. h. als geschaute Gestalt erfaßt. Auch wenn wir uns der Gefahren einer solchen Wcsensverallgemcinerung und Deutung des Früheren aus dem Späteren bewußt sind, können wir der Erkenntnis nicht ausweichen, daß die platonische Idee, die ein völlig einzigartiges, spezifisch griechisches Denkgebilde ist, uns für die Geistesbeschaffenheit der Griechen auch auf den anderen Gebieten einen Schlüssel gibt. Insbesondere hat man den Zusammenhang der platonischen Idee mit der beherrschenden Formtendenz der griechischen Kunst seit dem Altertum oft ausgesprochen 1 , aber die Beobachtung gilt nicht weniger für die redenden Künste und für das Wesen der griechischen Geistesform überhaupt. Auch schon die Kosmosanschauung der ältesten Naturphilosophen ist eine solche Schau im Gegensatz zur rechnenden und experimentierenden Naturwissenschaft unsrer Zeit. Sie ist nicht eine bloße Summierung von Einzelbeobachtungen und methodische Abstraktion, sondern etwas darüber Hinausgehendes, ein Deuten der Einzelheiten aus einem Bilde, das ihnen ihre Stellung und ihren 1 Die klassische Steile dafür ist Cie. O r . 7—10, der aus hellenistischer Quelle schöpft.

[im]

11

Sinn als Teil eines Ganzen verleiht. Die Mathematik und Musik der Griechen ist durch dieselbe IdeefÖrmigkeit von der der älteren Völker unterschieden, soweit wir von dieser etwas wissen. Auch die Besonderheit der Stellung des Griechentums in der Geschichte der menschlichen Erziehung beruht auf den gleichen Eigentümlichkeiten seiner inneren Organisation, auf dem allbeherrschenden Formtrieb, mit dem der Grieche nicht nur an künstlerische Aufgaben sondern ebenso an die Dinge des Lebens herangeht, und auf dem philosophischen, das Allgemeine erfassenden Sinn für die tiefer liegenden Gesetze der menschlichen Natur und die aus ihnen entspringenden Normen der persönlichen Seelenführung und des Aufbaus der Gemeinschaft. Denn das Allgemeine, der Logos, ist eben nach Heraklits tiefschauender Einsicht in das Wesen des Geistes das Gemeinsame, wie das Gesetz in der Polis. Das klare Bewußtsein der natürlichen Prinzipien des menschlichen Lebens und der immanenten Gesetze, nach denen die körperlichen und seelischen Kräfte des Menschen sich betätigen, mußte in dem Augenblick die höchste Bedeutung gewinnen, wo die Griechen sich dem Problem der Erziehung gegenübergestellt sahen 1 . Alle diese Erkenntnisse als gestaltende Kräfte in den Dienst der Erziehung zu stellen und wirkliche Menschen zu formen, wie der Töpfer den Ton und der Bildhauer den Stein zur Gestalt modelt, das ist ein kühner Schöpfergedankc, der nur im Geiste dieses Künstler- und Denkervolkcs reifen konnte. Das höchste Kunstwerk, das es sich als Aufgabe gestellt fand, wurde ihm der lebendige Mensch. Den Griechen tagte zum erstenmal die Erkenntnis, daß auch die Erziehung ein Prozeß bewußten Aufbauens sein muß. „An Händen und Füßen und Geist rechtwinklig ohne Fehl gebaut", so beschreibt ein griechischer Dichter aus der Zeit von Marathon und Salamis das Wesen der wahren Mannestugend, um die zu ringen schwer sei. Auf diese Art der Erziehung allein ist das Wort Bildung im eigentlichen Sinne anwendbar, wie es denn auch bei Plato zuerst als bildlicher Ausdruck fiir das erzieherische Tun begegnet*. Unser deutsches Wort Bildung bezeichnet das Wesen der Erziehung am anschaulichsten im griechischen, platonischen »

1

Vgl. meine Schrift Antike und Humanismus (Leipzig 1925) S. 13. » πλάττβν Plat. Pol. 377 Β, Leg. 671 E u. ö.

12

///»/

Sinne. Es enthält in sich die Beziehung auf das künstlerisch Formende, Plastische wie auf das dem Bildner innerlich vorschwebende normative Bild, die 'Idea' oder den 'Typos'. Überall wo später dieser Gedanke in der Geschichte wieder auftaucht, ist er ein Erbe der Griechen, und er taucht immer dort auf, wo der menschliche Geist von der Dressur für bestimmte äußere Zwecke sich auf das eigentliche Wesen des Erziehens besinnt. Doch daß die Griechen diese Aufgabe so groß und schwer empfunden und sich ihr mit einem beispiellosen inneren Drang hingegeben haben, ist eine Tatsache für sich, die sich weder aus ihrem künstlerischen Auge noch aus ihrer 'theoretischen' Geistesanlage erklären läßt. Schon von den ersten Spuren an, die wir von ihnen haben, finden wir den Menschen im Mittelpunkt ihres Denkens stehend. Die menschenfÖrmigen Götter; die unbedingte Vorherrschaft des Problems der menschlichen Gestalt in der griechischen Plastik und selbst in der Malerei; die folgerichtige Bewegung der Philosophie vom Problem des Kosmos zum Problem des Menschen, in dem sie bei Sokrates, Plato und Aristoteles gipfelt; die Poesie, deren unerschöpfliches Thema von Homer an alle Jahrhunderte hindurch der Mensch ist in der vollen Schicksalsschwere dieses Wortes; schließlich der griechische Staat, dessen Wesen nur begreift, wer ihn als Former des Menschen und seines ganzen Lebens erkennt: alles dies sind die Strahlen eines und desselben Lichtes. Es sind die Äußerungen eines anthropozentrischen Lebensgefühls, welches nicht weiter abzuleiten und zu erklären ist und das alle Gestaltung des griechischen Geistes durchdringt. So wurde der Grieche der Anthropoplast unter den Völkern. Wir können jetzt bestimmter aussprechen, was die Eigenart der Griechen gegenüber dem Orient ausmacht. Ihre Entdeckung des Menschen ist nicht die Entdeckung des subjektiven Ich, sondern die Bewußtwerdung der allgemeinen Wesensgesetze des Menschen. Das geistige Prinzip der Griechen ist nicht der Individualismus, sondern der 'Humanismus', wenn es gestattet ist, das Wort bewußt in diesem seinem ursprünglichen antiken Sinne zu verwenden. Humanismus kommt von humanitas. Dieses Wort hatte spätestens seit Varros und Ciceros Tagen neben der hier nicht in Betracht kommenden älteren und vulgären Beμ/13j

13

deutung des Humanitären noch einen zweiten höheren und strengeren Sinn: es bezeichnet die Erziehung des Menschen zu seiner wahren Form, dem eigentlichen Menschsein1. Das ist die echte griechische Paideia, so wie ein römischer Staatsmann sie als Vorbild empfand. Sie geht nicht von dem Einzelnen aus sondern von der Idee. Über dem Menschen als Herdenwesen wie über dem Menschen als angeblich autonomem Ich steht der Mensch als Idee, und so haben die Griechen als Erzieher wie als Dichter, Künsder und Forscher ihn stets gesehen. Der Mensch als Idee aber heißt: der Mensch als allgemeingültiges und verpflichtendes Bild der Gattung. Die Prägung des Einzelnen durch die Form der Gemeinschaft, die wir als das Wesen der Erziehung erkannten, geht bei den Griechen in immer zunehmender Bewußtheit von einem solchen Bild des Menschen aus und führt in nie stillstehendem Ringen schließlich zu einer philosophischen Begründung und Vertiefung des Problems der Erziehung, wie sie in solcher Grundsätzlichkeit und Zielsicherheit sonst nirgendwo erreicht worden ist. Das Menschenideal der Griechen, in das das Individuum hineingeformt werden sollte, ist kein leerer Schemen, es steht nicht außerhalb von Raum und Zeit. Es ist die auf dem mütterlichen Boden der Volksgemeinschaft erwachsene lebendige Form, die daher fortdauernd dem geschichtlichen Wandel unterlag. Sie nahm alle Schicksale der Gesamtheit und alle Stufen ihrer geistigen Entwicklung in sich auf. Das hat der ungeschichtlich denkende Klassizismus und Humanismus früherer Zeiten verkannt, wenn er die 'Humanität', die 'Kultur', den 'Geist' der Griechen oder der Antike als den Ausdruck eines zeitlos absoluten Menschentums auffaßte. Zweifellos hat gerade das griechische Volk besonders zahlreiche unvergängliche Erkenntnisse in 'invergänglicher Form der Nachwelt vererbt. Aber es wäre ein verhängnisvolles Mißverständnis dessen, was wir Uber den auf das Normative gerichteten Gestaltungswillen der Griechen gesagt haben, wollte man unter dieser Norm etwas Starres, Endgültiges verstehen. Die euklidische Geometrie und die aristotelische Logik sind gewiß dauernde Grundlagen des Menschengeistes bis auf 1

14

Vgl. Gdliui Noct Att. XIII 17

den heutigen Tag und sie sind in keiner Weise zu entbehren, aber selbst diese allgemeingültigste, von allem geschichtlichen Lebensinhalt abstrahierende Form, die griechische Wissenschaft sich gegeben hat, ist für unser geschichtliches Auge doch durch und durch griechisch, und sie läßt anderen mathematischen und logischen Denk- und Anschauungsformen neben sich Raum. Um wieviel mehr muß dies von solchen Schöpfungen der Griechen gelten, die das Gepräge ihrer geschichtlichen Umwelt in noch stärkerem Maße an sich tragen und unmittelbar einer bestimmten zeitlichen Situation zugeordnet sind. Das späte Griechentum der beginnenden Kaiserzeit hat zuerst die Werke der großen Zeit seines Volkes für klassisch in jenem zeitlosen Sinne erklärt, teils als Musterbilder künstlerischformeller Nachahmung teils als ethische Vorbilder. Die Griechen waren damals seit dem Einmünden ihrer Geschichte in das römische Weltreich als selbständige Nation ausgeschaltet, und die Verehrung ihrer Tradition war für sie der einzige höhere Lebensinhalt geworden. So wurden sie die ersten Schöpfer jener klassizistischen Theologie des Geistes, als die man den Humanismus dieser Prägung charakterisieren könnte. Ihre ästhetische vita contemplativa ist die Urform des späteren neuzeitlichen Humanisten- und Gelehrtenlebens. Die Voraussetzung beider war ein abstrakter geschichtsloser Begriff des Geistes als einer hoch über den Schicksalen der Völker und ihren Erschütterungen erhabenen Region ewiger Wahrheit und Schönheit. Auch der deutsche Neuhumanismus der Goethezeit hat die Griechen als die absolute Offenbarung der wahren Natur des Menschen in einer bestimmten einmaligen Periode der Geschichte betrachtet und beweist damit eine größere Ursprungsnähe zu dem Rationalismus der Aufklärung als zu dem eben damals neu erwachenden historischen Denken, dem er einen so starken Impuls geben sollte. Ein Jahrhundert geschichtlicher Forschung, die am Gegensatz zum Klassizismus groß geworden ist, trennt uns von dieser Betrachtungsart. Wenn wir uns heute gegenüber der umgekehrten Gefahr eines ufer- und ziellosen Historismus, in dessen Nacht alle Katzen grau sind, wieder auf die dauernden Werte der Antike besinnen, so kann es sich für uns doch nicht darum handeln, sie von neuem als zeitlose Idole aufzurichten. Ihren maßgebenden [ΐ/ιη

15

Gehalt und ihre formende Macht, die wir an uns selbst erfahren, können sie immer nur als wirkende Kräfte im geschichtlichen Leben offenbaren, wie sie auch in ihrer eigenen Zeit als solche entsprungen sind und gewirkt haben. Eine Geschichte der griechischen Literatur, abgekapselt von der sozialen Gemeinschaft, aus der ihre Werke hervorgegangen, an die sie gerichtet und von der sie getragen sind, ist fur uns nicht mehr möglich. Gerade auf der tiefen Verwurzelung des griechischen Geistes in diesem Boden der Gemeinschaft beruht seine überlegene Stärke. Die Ideale, die in seinen Erzeugnissen zur Form abgeklärt sind, hat der Geist der schöpferischen Menschen, die sie gestalteten, einem mächtigen überindividuellen Leben der Gesamtheit abgerungen. Der Mensch, dessen Bild sich in den Werken der großen Griechen enthüllt, ist der politische Mensch. Die griechische Erziehung ist nicht eine Summe privater Künste und Veranstaltungen, deren Endziel die selbstgenugsame Vervollkommnung des Individuums bildet. So hat es erst die staatlose Verfallszeit des Spätgriechentums aufgefaßt, aus der die Pädagogik der Neuzeit in gerader Linie abstammt. Es ist erklärlich, daß der Philhellenismus einer noch unpolitischen Zeit des deutschen Volkes, wie es unsere Klassik war, diesen Weg zunächst weiter verfolgt hat. Aber unsere eigene geistige Bewegung zum Staate hin hat uns wieder die Augen geöfinet fur die Tatsache, daß ein staatsfremder Geist dem Hellenen der besseren Zeit ebenso unbekannt war wie ein geistfremder Staat. Die größten Werke des Griechentums sind Monumente einer Staatsgesinnung von einzigartiger Großartigkeit, deren Ringen sich in einer lückenlosen Reihe durch alle Stufen der Entwicklung entfaltet vom Heroentum der Gedichte Homers bis zu Piatos autoritärem Staat der herrscherlichen Wissenden, in dem Individuum und soziale Gemeinschaft auf dem Boden der Philosophie ihren letzten Kampf ausfechten. Ein künftiger Humanismus muß wesentlich an der Grundtatsache alles griechischen Erziehertums orientiert sein, daß die Humanität, das 'Menschsein', von den Griechen stets wesenhaft an die Eigenschaft des Menschen als politisches Wesen geknüpft worden ist 1 . Es ist ein Zeichen der engen Verbundenheit 1 Vgl. meine Rede zur Reichjgründungsfeier der Berliner Universität 1934: Die griechkche Staatsethik im Zeitalter des Plato, ferner die Vorträge: Die

16

V W

des produktiven geistigen Lebens mit der Gemeinschaft, daß die bedeutenden Menschen der Griechen sich ganz als in ihrem Dienste stehend betrachten. Auch dem Orient ist diese Erscheinung vertraut, sie scheint am natürlichsten zu sein bei streng religiös gebundener Lebensordnung. Aber die großen Männer treten bei den Griechen durchweg nicht als Propheten Gottes auf, sondern als selbständige Lehrer des Volkes und Gestalter ihrer Ideale. Auch wo sie in der Form der religiösen Inspiration sprechen, setzt diese sich stets in eigne Erkenntnis und Gestaltung um. Aber so persönlich dieses Werk des Geistes schon nach Form und Willen ist, wird es von seinem Urheber doch noch mit ungeschwächter Kraft in seiner sozialen Funktion empfunden. Die griechische Trias des Dichters (ποιητής), des Staatsmanns (πολιτικός) und des Wissenden (σοφός) verkörpert das höchste Führertum der Nation. In dieser Atmosphäre einer inneren Freiheit, die sich dem Ganzen gegenüber durch das Wesenswissen um höchste als göttlich empfundene Gesetze verpflichtet fühlt, ist das Schöpfertum der Griechen zu seiner erzieherischen Größe emporgewachsen, die es hoch über das künstlerische und intellektuelle Virtuosentum der modernen individualistischen Zivilisation stellt. Sie hebt die klassische griechische 'Literatur' über die Sphäre alles bloß Ästhetischen, aus der man sie vergeblich zu begreifen sucht, hinaus zu der unermeßlichen Wesenswirkung, die sie auf die Jahrtausende geübt hat. An dieser Wirkung hat die Kunst der Griechen in ihren großen Zeiten und in ihren höchsten Werken für unser Gefühl den stärksten Anteil. Man müßte geradezu eine Geschichte der griechischen Kunst schreiben als Spiegel der Ideale, die das Leben jeweils beherrschten. Auch für die Kunst der Griechen gilt der Satz, daß sie bis tief in das vierte Jahrhundert vorwiegend der Ausdruck des Gesamtgeistes ist. Wer wollte für das Verständnis des agonalen Mannesideals, das Pindars Siegeslieder preisen, die Statuen der olympischen Sieger missen, die die Kunst uns leibhaft vor Augen stellt, oder ihre Götterbilder als Verkörperung des griechischen Denkens über Würde und Hoheit menschlichen Körper- und Seelenadels. Der dorische Tempel ist ohne Frage das großartigste Monument, das dorisches Wesen, dorische Eingeistige Gegenwart der Antike (Berlin 1939) S. 38ff. ( = Die Antike Bd. 5, 185) und Staat und Kultur, Die Antike Bd. 8, 78 ff.

[in?]

17

Ordnung des Einzelnen in ein streng gefugtes Ganze der Nach· weit hinterlassen hat. Es wohnt ihm eine überwältigende Kraft der historischen Vergegenwärtigung jenes vergangenen Lebens inne, das sich in ihm verewigt, und der religiösen Cesinnung. die es erfüllte. Dennoch sind die eigentlichen Träger der Paidcia im Sinne der Griechen nicht die stummen Künste des Bildhauers, Malers und Baumeister?, sondern Dichter und Musiker, Philosoph und Rhetor çl. h. Staatsmann. Der Gesetzgeber ist dem Dichter nach griechischer Anschauung in gewisser Hinsicht verwandter als der bildende Künstler: es ist ihr Erziehertum, das sie beide eint. Nur d e r Bildner, der den lebendigen Menschen formt, hat auf diesen Titel ein spezifisches Anrecht. So häufig auch von den Griechen erzieherisches Tun mit dem des plastischen Künstlers verglichen wird, ist von der erzieherischen Wirkung der Anschauung von Werken der Kunst im Winckelmannschcn Sinne bei dem Künstlervolk der Griechen kaum je die Rede. Wort und Ton und, soweit sie durch Wort oder Ton oder durch bciclc wirken, Rhythmus und Harmonie sind dem Griechen die scclcnformenden Kräfte schlechthin, denn das Entscheidende in aller Paideia ist das Tätige, das bei der Bildung des Geistes noch wichtiger wird als in dem Agon der körperlichen Fähigkeiten. Die Kunst gehört nach griechischer Auffassung einer anderen Sphäre an. Sie hat während der ganzen klassischen Periode ihren Platz in der sakralen Welt des Kultus behauptet, in der sie ihren Ursprung hatte. Sie ist ihrem Wesen nach Agalma, Zierde. Das gilt für das heroische Epos nicht, von dem die erzie herische Kraft in die gesamte übrige Poesie ausgestrahlt ist. Auch wo diese an den Kult gebunden ist, treibt sie ihre Wurzeln tief in den Bereich des Sozialen und Politischen hinein, und das gilt erst recht von den Werken der ungebundenen Rede. So fällt die Geschichte der griechischen Bildung im wesentlichen zusammen mit der sogenannten Literatur. Sie ist im ursprünglichen Sinne ihrer Schöpfer der Ausdruck der Selbstformung des griechischen Menschen. Abgesehen davon besitzen wir fur die Jahrhunderte bis zur klassischen Zeit außer den Resten der Dichtung keinerlei nennenswerte Überlieferung in schriftlicher Form, so daß auch fur eine griechische Geschichte im weiteren Sinne in dieser Periode die Gestaltwcrdung des Menschen in der 18

[1/18]

Poesie und Kunst das einzig Greifbare ist. Es war der Wille der Geschichte, daß nur dies von dem ganzen Dasein des Menschen sich erhalten hat. Wir erfassen den Prozeß der B i l d u n g der Griechen jener Zeit nur in dem idealen B i l d des Menschen, das sie formten. Dadurch ist dieser Darstellung der Weg vorgezeichnet und die Aufgabe begrenzt. Auswahl und Betrachtungsart bedürfen keiner besonderen Begründung. Sie müssen sich, wenigstens im Großen, durch sich selbst rechtfertigen, wenn auch der eine dies der andere das vermissen wird. Es ist ein altes Problem, das hier in neuer Form gestellt wird, denn der Gesichtspunkt der Erziehung des Menschen ist von Anbeginn mit dem Studium der Antike verbunden gewesen. Sie galt den späteren Jahrhunderten stets als die unerschöpfliche Schatzkammer des Wissens und der Bildung, zuerst mehr im Sinne äußerlich stofflicher Abhängigkeit, dann als eine Welt idealer Vorbilder. Die Entstehung der modernen geschichtlichen Altertumswissenschaft brachte eine grundsätzliche Änderung der Haltung mit sich. Dem neuen historischen Denken ging es vor allem um die Erkenntnis dessen, was einmal real gewesen und wie es geworden war. In dem leidenschaftlichen Streben nach reiner Schau der Vergangenheit wurde ihm auch die Antike ein bloßes wenn auch bevorzugtes Stück Geschichte, bei dem man ungern nach der unmittelbaren Wirkung fragte. Diese galt als Privatsache, und das Urteil über ihren Wert blieb dem Ermessen des Einzelnen anheimgestellt. Daß es neben dieser immer mehr in die Breite gehenden sachlich-enzyklopädischen Historie des Altertums, die in Wahrheit bei ihren bahnbrechenden Vertretern weit weniger wertfreie Wissenschaft war, als es ihnen selbst erschien, in der Praxis noch etwas wie eine 'klassische Bildung' gab, mochte man so lange ignorieren, wie diese ihren Platz noch unbestritten behauptete. Eine neue Begründung ihres Ideals, dessen klassizistisches Geschichtsbild als durch die Forschung erschüttert galt, blieb die Wissenschaft schuldig. Doch in dem gegenwärtigen Augenblick, wo unsere gesamte Kultur aufgerüttelt durch ein ungeheures eignes Erleben der Geschichte in eine neue Prüfung ihrer Grundlagen eingetreten ist, wird der Altertumsforschung als letztes und für ihr eigenes Schicksal entscheidendes Problem die Frage nach dem erzieherischen Gehalt der Antike

/.Uliη

19

von neuem vorgelegt. Sie kann von der geschichtlichen Wissenschaft nur auf dem Boden geschichtlicher Erkenntnis gelöst werden. Es handelt sich nicht darum, den Gegenstand künstlich in ein idealisierendes Licht zu rücken. Das Ziel ist, das unvergängliche erzieherische Phänomen der Antike und den für immer richtunggebenden Anstoß, den die Griechen der geschichtlichen Bewegung gegeben haben, aus ihrem eigenen geistigen Wesen zu verstehen.

20

[U20]

ERSTES

BUCH

DIE GRIECHISCHE FRÜHZEIT

ADEL UND ARETE Erziehung als Funktion der menschlichen Gemeinschaft ist etwas so Allgemeines und Naturnotwendiges, daß sie in ihrer Selbstverständlichkeit denen, die sie empfangen oder ausüben, lange Zeit kaum zum Bewußtsein kommt und erst relativ spät ihre Spur in der literarischen Überlieferung hinterläßt. Ihr I n h a l t ist bei allen Völkern annähernd der gleiche, er ist zugleich moralisch und praktisch; auch bei den Griechen trägt sie keine anderen Züge. Sie kleidet sich teils in die F o r m von Geboten wie: ehre die Götter, ehre V a t e r und Mutter, achte den Fremdling, teils besteht sie in J a h r h u n d e r t e lang mündlich weitergegebenen Vorschriften äußerer Sittsamkeit und in Regeln praktischer Lebensklugheit, teils in der Mitteilung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten, deren Inbegriff, soweit sie tradierbar sind, der Grieche mit dem Wort T c c h n e bezeichnet. W ä h r e n d die elementaren Gebote des richtigen Verhaltens zu Göttern, Eltern und Fremden später auch in den geschriebenen Gesetzen der griechischen Staaten niedergelegt wurden, in denen R e c h t und Moral noch nicht prinzipiell geschieden waren, kommen die Schätze derbsaftiger Volksweishcit, vermischt mit primitiven Anstandsregeln und mit den Vorsichtsgeboten eingewurzelten Volksaberglaubens, aus uralter mündlicher Überlieferung in der bäuerlichen Spruchpoesie Hcsiods zum erstenmal an die Oberfläche. Die handwcrklichc Kunstregel widerstrebt vollends ihrer Natur nach der schriftlichen Preisgabe ihres Geheimnisses, wie z. B . noch der Berufseid der Ärzte in der hippokratischen Schrifiensammlung deutlich macht. V o n der Erziehung in diesem Sinne unterscheidet sich die Bildung des Menschen durch die Schaffung eines Idealtypus von

[1/23J

23

innerer Geschlossenheit und bestimmter Prägung. Bildung ist nicht möglich ohne ein dem Geiste vorschwebendes Bild des Menschen, wie er sein soll, wobei die Rücksicht auf den Nutzen gleichgültig oder jedenfalls nicht wesentlich ist, sondern das καλόν den Ausschlag gibt, d. h. das Schöne im verpflichtenden Sinne des Wunschbilds, des Ideals. Dieser Gegensatz der erzieherischen Motive läßt sich durch alle Jahrhunderte verfolgen, er ist ein Grundbestandteil der Menschennatur. Auf die Worte, mit denen wir ihn bezeichnen, kommt es nicht an. Aber es ist leicht zu sehen, daß, wenn wir einmal die Ausdrücke Erziehung und Bildung in diesem durch die Geschichte gerechtfertigten verschiedenen Sinne anwenden dürfen, die Bildung aus anderer Wurzel erwachsen ist als das, was wir als Erziehung im weiteren Sinne soeben genauer umschrieben haben. Bildung zeigt sich in der gesamten Form des Menschen, in seinem äußeren Auftreten und Gebaren wie in seiner inneren Haltung. Beides entsteht nicht von ungefähr, sondern nur als das Produkt bewußter Züchtung. Schon Plato hat sie mit der Züchtung der edlen Hunderassen verglichen. Die Züchtung geht ursprünglich nur von einer kleinen Schicht aus, von dem Adel der Nation. Der griechische Kalos Kagathos der klassischen Zeit verrät diese Abkunft noch ebenso deutlich wie der englische Gendeman. Ursprünglich gehen diese Worte auf den Typus der ritterlichen Oberschicht. Dadurch daß die aufsteigende bürgerliche Gesellschaft sich dieser Form bemächtigt, ist sie der Idee nach zum Allgemeingut und jedenfalls zur allgemeinen Norm geworden. Es ist eine grundlegende Tatsache der Bildungsgeschichte, daß alle höhere Kultur aus der sozialen Differenzierung der Menschen erwachsen ist, die wieder aus der natürlichen körperlichen und geistigen Verschiedenwertigkeit der Individuen entspringt. Auch wo die Differenzierung zur Bildung starrer bevorrechteter Kasten fuhrt, korrigiert sich das Prinzip der Erblichkeit, das in diesen herrscht, von selbst immer wieder durch Nachschub von unten her, aus dem großen Vorrat der Volkskraft. Selbst wo gewaltsame Umwälzungen die herrschende Klasse völlig entrechten oder zerstören, bildet sich in kürzester Zeit naturnotwendig wieder eine Führerschicht als neue Aristokratie. Der Adel ist die Quelle des geistigen Entstehungsprozesses der Bildung einer Nation. 24

11/24,J

Die Geschichte der griechischen Bildung, dieser für die ganze Welt bedeutsame Vorgang der Gestaltvverdung der nationalen Persönlichkeit des Hellenentums, beginnt mit der Entstehung eines bestimmten Bildes des höheren Menschen, zu dem die Auslese der Rasse emporgezüchtet wird, in der althellenischen Adelswelt. Die fertige Tatsache der Adelskultur, die sich aus den breiten Volksschichten emporhebt, steht am Anfang aller schriftlichen Überlieferung, von ihr muß die geschichtliche Betrachtung ihren Ausgang nehmen. Alle spätere Bildung, auch auf der Stufe der höchsten Vergeistigung, trägt die Merkmale ihres Ursprungs noch deutlich an sich, wenn auch ihr Inhalt sich wandelt. Bildung ist nichts anderes als die sich fortschreitend vergeistigende Adelsform einer Nation. Zu den Ursprüngen der griechischen Bildung können wir uns nicht, wie es am nächsten zu liegen scheint, am Leitfaden der Geschichte des Wortes Paideia zurücktasten, weil es sich erst im 5. Jhrh. findet1. Das ist freilich nur ein Zufall der Überlieferung, es wäre möglich, daß wir bei Gelegenheit noch ältere Belege fänden, wenn neue Quellen ans Licht träten. Aber offenbar würde auch damit nichts gewonnen sein, da die ältesten Beispiele deutlich beweisen, daß das Wort im Anfange des 5. Jhrh. noch die schlichte Bedeutung 'Kinderzucht' hatte, also noch weit entfernt war von dem höheren Sinne, den es bald darauf erhält und den wir hier im Auge haben. Das natürliche Leitmotiv der griechischen Bildungsgeschichte ist vielmehr der Begriff der Arete, der bis in die ältesten Zeiten zurückführt. Ein volles Äquivalent für das Wort bietet die heutige deutsche Sprache bekanntlich nicht, während das mittelhochdeutsche Wort „tugende" in seiner noch nicht zum bloß Moralischen abgeschwächten Bedeutung, als Bezeichnung des höchsten ritterlichen Mannesideals mit seiner Verbindung von höfisch vornehmer Sitte und kriegerischem Heldentum dem griechischen Sinne genau entspricht. Diese Tatsache lehrt zur Genüge, wo der Ursprung des Begriffs zu suchen ist. Er wurzelt in den Grundanschauungen des ritterlichen Adels. In dem Begriff der Arete konzentriert sich der erzieherische Gehalt dieser Periode in der reinsten Form. 1 Die älteste Stelle ist Aesch. Sept. 18. Das Wort bedeutet hier noch das gleiche wie τροφή.

[U25]

25

Der älteste Zeuge der althellenischen Adelskultur ist Homer, wenn wir mit diesem Namen die beiden großen Epen der Ilias und Odyssee bezeichnen dürfen. Er ist fur uns sowohl die historische Quelle fur das Leben jener Zeit wie der bleibende dichterische Ausdruck ihrer Ideale. Unter beiden Gesichtspunkten müssen wir ihn betrachten. Wir schöpfen aus ihm zuerst unser Bild der adligen Welt und untersuchen dann, wie ihr Ideal des Menschen in den homerischen Gedichten Gestalt gewinnt und dadurch zu einer über seinen ursprünglichen engen Geltungsbereich weit hinausgehenden Bildungsmacht wird. Erst durch die stetige Zusammenschau der fluktuierenden geschichtlichen Entwicklung des Lebens und des künstlerischen Ringens um die Verewigung der idealen Norm, in der jedes schöpferische Zeitalter seine höchste Ausprägung findet, wird der Gang der Bildungsgeschichte sichtbar. Der Begriff der Arete wird bei Homer wie noch in den späteren Jahrhunderten öfter in dem weiten Sinne angewandt, daß er nicht nur menschliche Vorzüge bezeichnet, sondern auch die Vorzüglichkeit nichtmenschlicher Wesen wie die Kraft der Götter oder den Mut und die Schnelligkeit der edlen Rosse1. Der gemeine Mann dagegen hat keine Arete, und ereilt einmal die Knechtschaft einen Sprossen aus hohem Geschlechte, so nimmt Zeus ihfti die Hälfte seiner Arete, er ist nicht mehr derselbe wie zuvor2. Die Arete ist das eigentliche Adelsprädikat. Stets empfanden die Griechen überragende Leistung und Kraft als die selbstverständliche Voraussetzung jeder herrschenden Stellung. Herrschaft und Arete hängen unzertrennlich zusammen. Der Stamm des Wortes ist derselbe wie in άριστος, dem Superlativ des Tüchtigen und Trefflichen, der im Plural als feststehende Bezeichnung des Adels verwendet wird. Es ist nur natürlich, daß die Anschauung, die den Mann nach seiner Tauglichkeit® bewertet, die Welt überhaupt unter diesem 1 Arete der Rosse Τ 276, 374, aber auch noch Plat. Pol. 335 B, wo von der Arete der Hunde und Pferde gesprochen wird. 353 Β ist von der Arete des Auges die Rede. Arete der Götter I 4g8.

5

Ρ 32a

Die Griechen empfanden in der Arete vor allem eine Kraft, ein Vermögen. Sie wird gelegentlich direkt so definiert. Stärke und Gesundheit sind Arete des Körpers, Klugheit und Einsicht Arete des Geistes. Mit der jetzt üblichen subjektivistischen Erklärung, die das Wort von άρέσκω 'gefallen' herleitet 3

26

[I/26J

Gesichtspunkt sieht. Darauf beruht die Anwendung des Wortes im Bereich des Außermenschlichen wie die Erweiterungsfahigkeit seines Begriffs im Laufe der späteren Entwicklung. Sind doch für die Bewertung der Tauglichkeit des Menschen verschiedene Maßstäbe denkbar, je nach der Aufgabe, die er erfüllen soll. Bei Homer werden unter Arete kaum je einmal in späteren Partien sittliche oder geistige Eigenschaften verstanden 1 , sondern gemäß der Denkweise der frühen Zeit Kraft und Gewandtheit des Kriegers oder Wettkämpfers, vor allem heroische Tapferkeit, die jedoch nicht als sittliche Tat in unserem Sinne gewogen und von der Kraft getrennt wird, sondern stets anschaulich in ihr mit beschlossen ist. Es ist nicht wahrscheinlich, daß das Wort Arete zur Zeit der Entstehung der beiden Epen im lebendigen Sprachgebrauch wirklich nur die enge Bedeutung gehabt hat, die bei Homer vorherrscht. Schon das Epos selbst kennt neben der Arete noch andere Maßstäbe, so wird die Odyssee nicht müde geistige Vorzüge zu rühmen, vor allem an dem Haupthelden, bei dem die Tapferkeit hinter der Klugheit und Verschlagenheit im allgemeinen zurücktritt. Auch andere Vorzüge als die mutvolle Kraft dürften unter dem Begriff Arete schon damals mitbefaßt worden sein, wie wir es abgesehen von den oben genannten Ausnahmen in älterer Poesie auch sonst finden. D a dringt offenbar die Sprache des Lebens mit der neuen Bedeutung des Wortes in den Stil der Dichtung ein. Aber Arete als Ausdruck für die heroische Kraft und Tapferkeit war nun einmal in der überlieferten Sprache des Heldengesangs fest verwurzelt und hielt sich dort in dieser Bedeutung besonders lange. Daß der Wert des Mannes in erster Linie auf diesen Eigenschaften beruht, ist in dem kriegerischen (vgl. M . Hoffmann, Die ethische Terminologie bei Homer, Hesiod und den alten Elegikern und Iambographen, Tübingen 1914, S. 92), ist diese Tatsache schwerlich vereinbar. Gewiß liegt in Arete öfter ein Moment der gesellschaftlichen Anerkennung, es geht dann in die Bedeutung 'Achtung', 'Ansehen' über. Doch das ist sekundär und folgt aus dem stark sozialen Charakter aller Wertung des Menschen in der Frühzeit. Das Wort muß ganz ursprünglich eine objektive Wertbezeichnung seines Trägers sein. Es bedeutet eine ihm eigentümliche Kraft, die seine Vollkommenheit ausmacht. 1 So wird O 641 ff. der Verstand neben der körperlichen und kriegerischen Tüchtigkeit unter dem Sammelbegriff 'allerlei Aretai' angeführt. D a ß sich Arete gerade in der jüngeren Odyssee einige Male in diesem weiteren Sinne gebraucht findet, ist charakteristisch.

[U27J

27

Zeitalter der Stämmewanderung selbstverständlich und findet seine Analogie auch bei anderen Völkern. Auch in dem zum Substantiv. Arete gehörenden, von anderm Stamme gebildeten Adjektiv άγαθός tritt die Zusammengehörigkeit von Adel und kriegerischer Bravour zutage, es bedeutet bald adlig bald tapfer oder tüchtig, während es den späteren Sinn 'gut' im allgemeinen noch ebensowenig hat wie Arete den der moralischen Tugend. In formelhaft gewordenen Ausdrücken wie 'er starb als tapferer Held' 1 erhielt sich die alte Bedeutung noch bis in späte Zeit. Die Wendung findet sich in diesem Sinne oft auf Grabinschriften und in Schlachtberichten. Doch alle Wörter dieser Gruppe 2 haben bei Homer, obgleich die kriegerische Bedeutung überwiegt, daneben auch einen allgemeineren 'ethischen' Sinn. Beides leitet sich aus der gleichen Wurzel her: sie bezeichnen den vornehmen Mann, für den es im Privatleben ebenso wie im Kampfe gewisse Normen des Verhaltens gibt, welche für den Gemeinen nicht bestehen. Der Standeskodex des ritterlichen Adels ist also nicht nur insofern fur griechische Erziehung grundlegend geworden, als er der späteren Polis-Ethik eine der Hauptzierden ihres Tugendkanons geliefert hat, die Forderung der Tapferkeit, deren spätere Bezeichnung 'Mannhaftigkeit' noch immer deutlich an die homerische Gleichung der Tapferkeit mit der männlichen Arete schlechthin erinnert, sondern die höheren Gebote vornehmen Betragens überhaupt stammen aus dieser Quelle. Als solche gelten weniger bestimmte Forderungen im Sinne einer bürgerlichen Moral als vor allem eine immer offene Hand gegen jedermann und die Großartigkeit des gesamten Lebenszuschnitts. Als wesentliches Merkmal des Adels erscheint bei Homer das Verpflichtende, das er für seine Träger hat. An sie wird ein strengerer Maßstab angelegt, und sie sind sich dessen selbst stolz bewußt. Das Erzieherische des Adels liegt in der Weckung des Gefühls der Verpflichtung gegenüber dem Ideal, das dem Ein1 1

άνήρ àyoOòs γενόμενο* όπτέθανε. Neben ά/αθός ist vor allem ίσβλός in diesem Sinne gebräuchlich, κακός bezeichnet ihr Gegenteil. Die Sprache des Theognis und Pindar zeigt, wie diese Worte zwar auch später noch lange speziell am _ Adel haften, aber ihren Bedeutungsgehalt entsprechend der allgemeinen Entwicklung der Kultur verändert haben. Doch diese Beschränkung der Arete auf den Adel, die fur homerische Zeit natürlich war, lief) sich jetzt nicht mehr halten, zumal da die Neuprägung des Sinnes der alten Ideale von ganz anderer Seite ausging.

28

[1/28]

zelnen damit alle Zeit vor Augen gestellt ist. An dieses Gefühl, an die „Aidos", kann jederzeit appelliert werden, seine Verletzung ruft in den anderen das mit ihr eng verbundene Gefühl der „Nemesis" wach. Beides sind bei Homer ausgesprochene Begriffe der adligen Standesmoral. Dem Adelsstolz, der gern auf die lange Reihe der erlauchten Vorfahren blickt, steht die Erkenntnis gegenüber, daß der Vorrang der Stellung nur durch die Tugenden behauptet wird, durch die er errungen worden ist. Der Name Aristoi kommt zwar einer Mehrzahl zu, aber unter dieser über die Masse hervorragenden Gruppe herrscht selbst wieder ein heißer Wettstreit um den Preis der Arete. Kampf und Sieg sind nach ritterlichen Begriffen für echte Mannestugend die wahre Feuerprobe. Sie bedeuten nicht nur die physische Überwältigung des Feindes, sondern die Bewährung der in harter Zucht der Natur abgerungenen Arete. Das Wort Aristeia, das für die Einzelkämpfe der großen Helden im Epos später gebraucht wurde, trifft diese Auffassung vollkommen. Ihr ganzes Leben und Trachten ist ein steter Eifer des Sichaneinandermessens, ein Laufen um den ersten Preis. Daher die unerschöpfliche Freude an der dichterischen Erzählung solcher Aristien. Auch im Frieden schafft sich die Lust am Wettstreit der männlichen Arete Gelegenheit zur Bewährung im Kampfspiel, wie es die Ilias sogar in den kurzen Pausen des Krieges, in den Leichenspielen zu Ehren des gefallenen Patroklos schildert. Sie prägt als Wahlspruch des ritterlichen Mannes den seit Jahrtausenden von allen Erziehern zitierten Vers 1 αΐέν άριστεύειυ και ύττείροχον Ιμμεναι άλλων, den außer Kurs zu setzen der Gleichmacherei der neuesten pädagogischen Weisheit vorbehalten blieb. In diesem Satz faßt der Dichter die erzieherische Gesinnung des Adels kurz und treffend zusammen. Als Glaukos dem Diomedes auf dem Kampfplatz gegenübertritt und sich als ebenbürtigen Gegner vorstellen will, zählt er nach homerischem Brauch seine berühmten Vorfahren auf, dann fährt er fort: „Mich aber erzeugte Hippolochos, von ihm leite ich meine Herkunft ab. Als er mich nach Troja schickte, gab er mir oftmals die Mahnung, immer um den Preis der höchsten Mannestugend zu ringen und es allen anderen zuvor zu tun". Schöner kann nicht ausgedrückt werden, wie das Gefühl des edlen Wettstreits den 1

IH29]

Ζ 2o6 29

jungen Helden anfeuert. Für den Dichter des elften Buchs der Ilias war dieser Vers schon ein geflügeltes Wort. £r schuf eine parallele Abschiedsszene beim Auszug Achills, wo ihm sein Vater Peleus die gleiche Mahnung mitgibt Auch sonst ist die Ilias Zeuge des hohen erzieherischen Bewußtseins in der frühgriechischen Adelswelt. Sie zeigt bereits, daß der alte kriegerische Aretebegriff den Dichtern einer jüngeren Zeit nicht mehr genügte, sondern daß sie ein neues Bild des vollkommenen Menschen in sich trugen, das neben dem Adel der Tat den Adel des Geistes anerkannte und in der Vereinigung beider das Ziel sah. £s ist bedeutungsvoll, daß dieses Ideal der greise Phoinix verkündigt, der Achilleus, dem vorbildlichen Helden der Griechen, als Erzieher an die Seite gestellt wird. Er erinnert den Jüngling in entscheidender Stunde an das Ziel, zu dem er ihn erzogen habe: „Beides, Sprecher der Reden zu sein und Wirker der Taten." Nicht mit Unrecht haben bereits die späteren Griechen in diesem Verse die älteste Formulierung des griechischen Bildungsideals gesehen mit seinem Streben, das Menschliche in seiner Ganzheit zu erfassen 2. Wenn man das Wort gern in einer Periode rhetorischer Überkultur anführte, um die Tatenfreudigkeit' der alten Heroenzeit zu preisen und in ihrem Bilde einen Gegensatz zu dem eigenen tatenarmen und wortreichen Dasein zu schaffen, so beweist es auch umgekehrt den geistigen Zug der alten Adelskultur. Die Beherrschung des Wortes gilt als Zeichen der Souveränität des Geistes. Der Ausspruch des Phoinix fällt beim Empfang der Gesandtschaft der griechischen Führer durch den zürnenden Achilleus. Ihm stellt der Dichter in Odysseus den Meister des Wortes und in Aias den wortkargen Mann der Tat gegenüber. Von dem Hintergrund dieses Gegensatzes soll sich um so bewußter das Ideal edelster menschlicher Bildung abheben, zu dem der Dritte der Gesandtschaft, Phoinix, der als Vermittler dienen soll, seinen Zögling Achilleus erzogen hat und das der Dichter in diesem größten der Helden darstellen will. Wir erkennen also, daß die überlieferte Γλ"^

So die griechische Quelle Ciceros de or. III 57, wo der Vers (I 44^) in diesem Sinne zitiert wird. Die ganze Partie ist als erster Versuch einer Bildungsgeschichte interessant. ä

30

[1/30]

urtümliche Bedeutungsgleichheit des Wortes Arete mit kriegerischer Tüchtigkeit für diese neue Zeit kein Hindernis war, das Bild des edlen Mannes nach ihren höheren geistigen Ansprüchen umzuformen, bis später auch die Entwicklung der Wortbedeutung der veränderten Anschauung folgte. Wesensverbunden mit der Arete ist die Ehre, sie gilt in den frühen Zeiten des menschlichen Gemeinschaftslebens als die unzertrennliche Begleiterin der Tüchtigkeit und des Verdienstes. Nach der schönen Erklärung des Aristoteles 1 ist die Ehre der natürliche Maßstab eines noch nicht verinnerlichten Denkens fur die Annäherung des Menschen an das Ziel der Arete, nach dem er strebt. „Offenbar trachten die Menschen nach Ehre, um sich ihres eigenen Wertes, ihrer Arete zu vergewissern. Sie streben danach, geehrt zu werden von Urteilsfähigen, von Leuten, denen sie bekannt sind, und auf Grund ihres wirklichen Wertes. Sie erkennen dadurch also den Wert selbst als das höhere an." Während das spätere philosophische Denken so den Menschen auf den Maßstab in seinem eigenen Inneren verweist und ihn lehrt, die Ehre als den bloßen äußeren Reflex seines inneren Wertes im Spiegel der Wertschätzung der menschlichen Gemeinschaft zu betrachten, trägt der homerische Mensch in dem Bewußtsein seines Wertes noch ausschließlich das Gepräge der Gesellschaft, der er angehört. Er ist ein Standeswesen und mißt seine Arete an der Geltung, die er unter seinesgleichen genießt. Der philosophische Mensch kann auf äußere Anerkennung verzichten, mag er — wiederum nach Aristoteles — auch nicht schlechthin gleichgültig gegen sie sein. Für Homer und die Adelswelt seiner Zeit ist dagegen die Ehrverweigerung die größte menschliche Tragödie. Die Helden sind unermüdlich in gegenseitiger Ehrerweisung, denn darauf beruht ihre ganze gesellschaftliche Ordnung. Ihre Ehrliebe ist schier unersättlich, ohne daß dies eine den Einzelnen moralisch charakterisierende Eigentümlichkeit wäre. Auch daß der größere Held oder der mächtigere Fürst höher geehrt zu werden beansprucht, ist selbstverständlich. Niemals hat sich ein von der Mitwelt anerkanntes Verdienst im Altertum gescheut, die Ehre für sich in Anspruch zu nehmen, die der Leistung gebührt. Der subalterne Gesichtspunkt der Lohnforderung ist dafür nicht entscheidend. 1 Arist. Eth. Nie. A 3, 1095t· 26

[Ulli

31

Lob und Tadel der Menschen (Ιπαινο$ und ψόγο?) sind die Quellen der Ehre und Unehre. Lob und Tadel gelten aber nach der philosophischen Ethik der späteren Zeit als die grundlegende soziale Tatsache, in der die Existenz objektiver Wertmaßstäbe im Gemeinschaftsleben der Menschen zur Erscheinung kommt 1 . Die absolute Öffentlichkeit des Gewissens bei den Griechen — in Wahrheit fehlt überhaupt ein unserem persönlichen Gewissen vergleichbarer Begriff im altgriechischen Denken — ist für den Modernen schwer vorstellbar. Die Erkenntnis dieser Tatsache ist aber die erste Voraussetzung für das uns so schwer eingehende Verständnis des Ehrbegriffes und seiner Bedeutung für den antiken Menschen. Das Streben sich auszuzeichnen und der Anspruch auf Ehre und Anerkennung erscheinen dem christlichen Gefühl als sündige Eitelkeit der Person. Dem Griechen bedeuten sie gerade das Hineinwachsen der Person ins Ideale und Überpersönliche, womit überhaupt ihr Wert erst beginnt. Die heroische Arete vollendet sich deshalb in gewisser Weise erst im physischen Tode des Helden. Sie ist in dem sterblichen Menschen, ja sie ist er selbst, aber sie überdauert ihn in seinem Ruhme d. h. in dem idealen Bilde seiner Arete auch nach dem Tode, wie sie schon zu seinen Lebzeiten selbständig neben ihm stand und hinter ihm herging. Auch die Götter beanspruchen ihre Ehre und freuen sich über den Lobpreis ihrer Taten durch die Kultgemeinschaft, und sie ahnden eifersüchtig jede Verletzung ihrer Ehre. Die Götter des Homer sind sozusagen eine Adelsgesellschaft, die unsterblich ist. Das eigentliche Wesen griechischen Gottesdienstes und griechischer Frömmigkeit drückt sich in der der Gottheit erwiesenen Ehre aus: fromm sein heißt 'das Göttliche ehren'. Beides, die Ehrung der Götter und der Menschen auf Grund ihrer Arete ist urmenschlich. Von hier wird der tragische Konflikt des Achilleus in der Ilias begreiflich. Daß er über die Griechen empört ist und seine Hülfe den Seinen versagt, entspringt nicht einer übersteigerten Ehrsucht dieses einen Individuums. Die Größe der Ehrliebe entspricht nur der Größe des Helden und ist für griechisches Empfinden natürlich. Die Kränkung gerade dieses Helden in seiner Ehre ist die stärkste Erschütterung der Grundlagen, auf 1 Arist. Eth. Nie. Γ ι, nog1» 30 32

[V321

denen die Kampfgemeinschaft der achäischen Helden vor Troja sich aufbaut. Wer sie antastet, der erkennt schließlich auch die echte Arete nicht mehr an. Das Moment der Vaterlandsliebe, das heute über diese Schwierigkeit weghelfen würde, ist der alten Adels weit noch fremd, Agamemnon kann nur despotisch an seine oberherrliche Macht appellieren, ein Motiv, das dem aristokratischen Fühlen nicht minder fern liegt, weil es nur einen primus inter pares anerkennt. I n das Gefühl der Verweigerung der durch seine Taten verdienten Ehre mischt sich bei Achilleus daher auch dieses ständische Empfinden. Aber das gibt nicht den Ausschlag, die eigentliche Schwere der Kränkung liegt darin, daß es die überragende Arete ist, der die Ehre vorenthalten wird \ Das zweite großartige Beispiel des tragischen Ausgangs einer erlittenen Ehrverweigerung ist Aias, nach Achill der größte Held der Achäer, dem man die Waffen des gefallenen Achilleus nicht gibt, obgleich er mehr verdient häfte sie zu tragen als Odysseus, dem sie zugesprochen werden. Die Aiastragödie endet in Wahnsinn und Selbstmord, Achills Zorn bringt das Heer der Griechen an den R a n d des Abgrundes. O b es eine Wiedergutmachung der Entehrung gibt, ist für Homer eine schwere Frage. Zwar Phoinix rät dem Achilleus den Bogen nicht zu überspannen und die Geschenke Agamemnons als Sühne entgegenzunehmen, schon um der Bedrängnis der Seinen willen. Aber d a ß der Achilleus der ursprünglichen Sage nicht nur aus Trotz die Sühne ablehnt, lehrt wieder das Beispiel des Aias, der in der Unterwelt auf die mitleidige Anrede seines ehemaligen Feindes Odysseus nicht antwortet, sondern schweigend sich wendet „zu den anderen Schatten ins dunkele Reich der Toten" 2 . Thetis fleht zu Zeus: „Hilf mir und ehre meinen Sohn, dem nur ein so kurzes Heldenlos bestimmt ward. Agamemnon hat ihm seine Ehre geraubt. So ehre du ihn, Olympier". Und der höchste Gott hat ein Einsehen und läßt die der Hülfe Achills beraubten Achäcr im Kampf unterliegen, damit sie erkennen, wie ungerecht sie ihren größten Helden um seine Ehre betrügen. Die Ehrliche ist in der späteren Zeit der Griechen kein lobender Begriff mehr, sondern entspricht meist unserem Ehr1 2

[1/33]

A 412, Β 239—240, I no, i¡6, Π 59J Hauptstelle I 315—32a λ 543 il'. 33

geiz. Aber daneben findet sich doch selbst im Zeitalter der Demokratie noch häufig genug die Anerkennung einer berechtigten Ehrliebe sowohl in der Politik der Staaten wie im Verhalten des Einzelnen. Nichts ist so erleuchtend für unser inneres Verständnis der sittlichen Vornehmheit dieses Denkens wie die Schilderung des Megalopsychos, des Hochgemuten oder Großgesinnten in der Ethik des Aiistoteles 1 . Das ethische Denken des Plato und Aristoteles baut sich an vielen Punkten auf der althellenischen Adelsethik auf. Es bedürfte durchgehend einer geistesgeschichtlichen Interpretation. Durch die Sublimierung zur philosophischen Allgemeinheit ist den alten Begriffen das ständisch Beschränkte genommen, aber ihre dauernde Wahrheit und unzerstörbare Idealität bewährt sich dabei nur um so entschiedener. Natürlich ist das Denken des 4. Jhrh. differenzierter als das homerische, und wir dürfen nicht erwarten seine Begriffe schon im Homer wiederzufinden oder auch nur genau entsprechende Äquivalente für sie im Epos nachweisen zu können. Aber Aristoteles hat wie die Griechen aller Zeiten die Gestalten Homers vielfach unmittelbar vor Augen und entwickelt seine Begriffe geradezu an ihrem Vorbild. Dabei zeigt es sich, daß er mit seinem Verständnis dem althellenischen Denken innerlich durchweg viel näher steht als unsere Zeit. Die Anerkennung der Hochgemutheit oder Großgesinntheit als einer ethischen Tugend befremdet zunächst den Menschen unsrer Zeit, merkwürdig erscheint auch, daß Aristoteles darunter nicht eine selbständige Tugend wie die anderen versteht, sondern eine solche, die die anderen Tugenden schon zur Voraussetzung hat und „gewissermaßen nur als deren höchster Schmuck" noch hinzukommt. Man versteht das erst richtig, wenn man erkannt hat, daß der Philosoph hier der hochgemuten Arete der alten Adelsethik in seiner Analyse des sittlichen Bewußtseins ihren Platz anzuweisen sucht. In anderem Zusammenhang 2 sagt er selbst, daß Achilleus und Aias für ihn Muster dieser Eigenschaft sind. Hochgemutsein ist an sich als bloßes Selbstgefühl noch kein sittlicher Wert, sondern sogar lächcrlich, wenn nicht die 1 Arist. Eth. Nie. Δ 7—9, vgl. meinen Aufsatz Der Großgesinnte, Die Antike Bd. 7 S. 97 ff. * Arist. Analyt. post. Β 13, 97 b 15

34

[1134]

volle Arete hinter dieser Seelenverfassung steht, jene höchste Vereinigung aller Vortrefflichkeit, für die Aristoteles wie Plato noch den Begriff der Kalokagathie ohne Scheu gebraucht. Aber darin bleibt das ethische Denken der großen athenischen Philosophen seiner aristokratischen Herkunft treu, daß es die Arete erst in der Seelenstimmung des Hochgemuten ihre wahre Vollendung finden läßt. Die Berechtigung der Megalopsychie als höchster Ausdruck der geistigen und sittlichen Persönlichkeit gründet sich auch für Aristoteles noch wie für die homerische Anschauung auf die Ehrwürdigkeit der Arete 1 . „Denn der Kampfpreis der Arete ist die Ehre, man zollt sie dem Tüchtigen". Die Hochgemutheit bedeutet daher eine Steigerung der Arete. Aber es wird auch ausgesprochen, daß die wahre Hochgemutheit das Allerschwerste für den Menschen ist. Die fundamentale Bedeutung der altgriechischen Adelsethik für die Formung des griechischen Menschen ist hier mit Händen zu greifen. Das griechische Denken über den Menschen und seine Arete tritt uns sogleich hier als eine einheitliche Entwicklung entgegen. Trotz aller inhaltlichen Veränderung und Bereicherung im Lauf der folgenden Jahrhunderte bewahrt es immer seine feste Form, wie es sie in der alten Adelsethik ausgebildet hat. Auf diesem Aretebegriff beruht der aristokratische Charakter des griechischen Bildungsideals. Wir wollen seinen letzten Motiven hier noch weiter nachgehen. Auch dabei kann Aristoteles wieder unser Führer sein. Er lehrt das menschliche Streben nach der Vollkommenheit der Arete als den Ausfluß einer höchst veredelten Selbstliebe verstehen, der φιλαν/τία. Das ist nicht bloß eine Laune der abstrakten Spekulation — dann wäre ihr Vergleich mit der frühgriechischen Arete allerdings irreführend — sondern in dem Gedanken einer berechtigten idealen Selbstliebe, den der Philosoph im bewußten Gegensatz zu dem durchschnittlichen Urteil seines aufgeklärten 'altruistischen' Jahrhunderts verteidigt und dem er mit besonderer Vorliebe nachgeht, hat er in der Tat eine der ursprünglichen Wurzeln des sittlichen Denkens der Griechen wieder aufgedeckt. Seine Hochschätzung der Selbstliebe entspringt derselben fruchtbaren philosophischen Vertiefung in die Grundanschauungen ' Arist. Eth. Nie. Δ 7, 1123b 35 IH35]

35

der Adelsethik wie seine positive Wertung der Ehrliebe und der Hochgemutheit. Wenn man das 'Setyjst' richtig versteht, d. h. wenn man es nicht auf das physische Ich bezieht, sondern auf das höhere Bild des Menschen, das unserem Geiste vorschwebt und das jeder Edle in sich selbst zu verwirklichen strebt, so ist es allerdings nur die höchste Liebe zu diesem Selbst, wenn man in erster Linie an sich selbst die Forderung der höchsten Arete stellt „und überhaupt das Schöne sich selbst zu eigen macht". Es ist schwer diesen ganz griechisch empfundenen Ausdruck ins Deutsche zu übertragen. Das Schöne (das fur den Griechen stets zugleich die Bedeutimg des Edlen und Vornehmen hat) fur sich selbst in Anspruch nehmen, es sich selbst zu eigen machen, das heißt: sich keine Gelegenheit entgehen lassen, den Preis der höchsten Arete zu erringen. Was hat sich Aristoteles unter diesem „Schönen" gedacht? Es liegt uns nahe an die verfeinerte Persönlichkeitskultur des späteren Bildungsmenschen, an das für den Humanismus des i8.Jhrh. so charakteristische Streben nach ungehemmter ästhetischer Selbstgestaltung und geistiger Selbstbereicherung zu denken. Aber Aristoteles' eigne Worte lehren unzweideutig, daß er umgekehrt in erster Linie gerade Taten des höchsten sittlichen Heroismus dabei im Auge hat: der sich selbst Liebende soll unermüdlich sein im Eintreten für seine Freunde, sich opfern fur sein Vaterland, Geld, Gut und Ehre bereitwillig hingeben, indem er „das Schöne sich selbst zu eigen macht". Hier kehrt der merkwürdige Ausdruck wieder und es zeigt sich nun, weshalb die höchste Selbsthingabe an das Ideal fur Aristoteles gerade der Beweis einer gesteigerten Selbstliebe ist. „Denn kurze Zeit in höchster Freude zu leben wird einer, der von solcher Selbstliebe erfüllt ist, einem langen Dasein in träger Ruhe vorziehen. Er wird lieber ein einziges Jahr für ein hohes Ziel leben als ein langes Leben führen für nichts. Er wird lieber eine einzige herrliche und große Tat vollbringen als viele geringfügige". In diesen Worten liegt das ureigenste Lebensgefühl des Griechen ausgesprochen, in dem wir uns ihm art- und wesensverwandt fühlen, der Heroismus. Sie sind ein Schlüssel zum Wesen der griechischen Geschichte, zum psychologischen Verständnis dieser kurzen und doch so unvergleichlich herrlichen Aristeia. In der 36

[1/361

Formel „das Schöne sich selbst zu eigen machen" ist mit einziger Klarheit das innere Motiv der hellenischen Arete ausgesprochen. Das ist es, was schon in der homerischen Adelszeit das griechische Heroentum von der bloßen wildwütigen Todesverachtung unterscheidet: die Unterordnung des Physischen unter ein höheres „Schönes". Im Tausche dieses Schönen gegen das Leben findet der naturhafte Trieb des Menschen nach Selbstbehauptung gerade in der Selbsthingabe seine höchste Erfüllung. In der Rede der Diotima in Piatos Symposion wird die Aufopferung von Geld und Gut, die Bereitschaft der großen Helden der Vorzeit zu Mühsal, Kampf und Tod um den Preis dauernden Ruhmes in eine Reihe gestellt mit dem Ringen der Dichter und Gesetzgeber, unsterbliche Schöpfungen ihres Geistes zu hinterlassen, und beides wird gedeutet aus dem allgewaltigen sehnsüchtigen Drang des sterblichen Menschen nach Selbstverewigung. Sie wird als der metaphysische Untergrund für die Paradoxien der menschlichen Ehrliebe erklärt 1 . Auch Aristoteles hat in seinem erhaltenen Hymnus auf die Arete seines Freundes Hermias, des Fürsten von Atarneus, der die Treue gegen sein philosophisches und sittliches Ideal mit dem Opfertode besiegelt hatte, seinen philosophischen Begriff der Arete ausdrücklich an die heroische Arete des Homer angeknüpft und am Vorbilde des Achilleus und Aias gemessen 2. Von der 'Gestalt des Achilleus sind offenbar auch die Züge entlehnt, mit denen er das Bild seiner Schilderung der Selbsdiebe ausstattet. Zwischen den beiden großen Philosophen und den homerischen Gedichten spannt sich die nicht abreißende Kette der Zeugnisse für die lebendige Fortdauer des Aretegedankens der hellenischen Urzeit. 1 1

[1/37]

Plat. Symp. 209 C Vgl. meinen Aristoteles (Berlin 1923) S. 118

37

KULTUR UND ERZIEHUNG DES HOMERISCHEN ADELS Neben die Betrachtung der Arete, des zentralen Begriffs der griechischen Menschenbildung, stellt sich ergänzend als Illustration das bewegte Bild vom Leben des frühgriechischen Adels, das die 'homerischen' Gedichte uns geben. £s bestätigt das Ergebnis, zu dem die bisherige Untersuchung uns gefuhrt hat. Wer Ilias und Odyssee heute als geschichtliche Quelle der frühgriechischen Kultur verwertet, darf sie nicht als Einheit nehmen, als wären sie Werke eines Dichters, wenn wir auch in der Praxis ruhig fortfahren von Homer zu reden, wie das Altertum es getan hat, das ursprünglich sogar noch weit mehr Epen unter diesem Namen zusammenfaßte. Wenn ein noch unhistorisches Zeitalter wie das klassische Griechentum schließlich unsere beiden Gedichte als die künstlerisch am höchsten stehenden aus dieser Masse heraushob und die anderen des Homer unwürdig fand, so bindet das nicht unser wissenschaftliches Urteil und kann auch nicht als Überlieferung im eigentlichen Sinne gelten. Die Ilias ist fur ein geschichtliches Auge im ganzen ein altertümlicheres Gedicht, die Odyssee spiegelt eine spätere Entwicklungsstufe der Kultur. Mit dieser Feststellung wird die geschichtliche Zuordnung der Epik zu bestimmten Jahrhunderten zum dringenden Problem. Freilich das Material zu seiner Lösung haben wir in der Hauptsache wieder nur in den Gedichten selbst. Dem entspricht die trotz allem auf diese Aufgabe verwandten Scharfsinn noch immer herrschende Unsicherheit. Die Ausgrabungen des letzten Halbjahrhunderts haben unsre Anschauung von der Vorzeit des Griechentums zwar wesentlich bereichert, insbesondere hat die Frage des geschichtlichen Kerns der Heldensage eine bestimmtere Antwort 38

[IM]

gefunden. Aber es kann nicht behauptet werden, daß die Einordnung unsrer Epen in bestimmte Zeiten dadurch Fortschritte gemacht hätte, d a sie von der Entstehung der Sagen durch J a h r hunderte getrennt sind. Das Hauptmittel für die Zeitbestimmung bleibt die Analyse der Gedichte selbst. Sie wurde ursprünglich keineswegs in dieser Absicht unternommen, sondern wuchs aus der antiken Tradition hervor, die ζ. T . von einer relativ späten abschließenden Redaktion der Epen spricht und der M u t m a ß u n g über den vorhergegangenen Zustand, wo diese in Form einzelner selbständiger Lieder umgelaufen sein sollen, die Türe öffnet. Die anfänglich mit rein logischen und künstlerischen Gründen arbeitende Analyse in Beziehung zu unserem geschichtlichen Kulturbild des Frühgriechentums gesetzt zu haben ist hauptsächlich das Verdienst von VVilamowitz. Die wesentliche Frage ist heute, ob man diese zeitgeschichtliche Betrachtungsweise auf Ilias und Odyssee als Ganzes einschränken, also resignieren soll oder ob man sie auf die nach wie vor stark hypothetischen Versuche ausdehnen soll, auch innerhalb des Epos Schichten verschiedenen Alters und Charakters zu scheiden 1 . Das hat nichts mit der berechtigten und noch lange nicht erfüllten Forderung zu tun, die Epen vor allem künstlerisch als Ganzes zu würdigen. Sie ist d a a m Platz, wo es sich um die Wirkung Homers als Dichter handelt. Aber es ist ζ. B. nicht möglich, die Odyssee als geschichtliches Bild des frühgriechischen Adels zu verwerten, wenn ihre hierfür wichtigsten Teile erst aus der Mitte des 6 . J h r h . stammen, wie heute führende Gelehrte glauben 2 . Demgegenüber gibt es kein Ausweichen in die bloße Skepsis mehr, sondern nur entweder begründete Widerlegung oder eine Anerkennung, die die Konsequenzen zieht. Eine eigene Analyse vermag ich hier naturgemäß nicht vorzulegen, doch glaube ich erwiesen zu haben, daß der erste Gesang 1 Die ausgesprochene Neigung, auf Homer-Analyse ganz zu verzichten zeigt sich in neueren Arbeiten wie F. DornseifF, Archaische Mythcncrzählung (Berlin 1933) und F. J a c o b y , Die geistige Physiognomie der Odyssee, Die Antike Bd. 9, 159. 2 Ed. Schwartz, Die Odyssee (München 1924) S. 294 und Wilamowitz, Die Heimkehr des Odysseus (Berlin 1927), vor allem S. 171 ff. „ W e r in Sprache oder Religion oder Sitte Ilias und Odyssee in einen Topf wirft, wer sie mit Aristarch von allem anderen als einem ιιεώτερον absondert, kann auf Berücksichtigung keinen Anspruch mehr haben".

{I/39J

39

der Odyssee, den die Kritik seit Kirchhoff gerade zu der allerspätesten Bearbeitung des Epos rechnet, schon dem Solon und zwar höchst wahrscheinlich schon in der Zeit vor seinem Archontat (594) als Homer galt, also schon im 7. Jhrh. spätestens als solcher gegolten haben muß 1 . Daß die ungeheuer aufwühlenden geistigen Bewegungen des 7. und 6. Jhrh. ohne jeden Einfluß auf die Odyssee geblieben sein sollten, wie es Wilamowitz bei seinem späten Ansatz annehmen muß, ist auch durch seinen Hinweis auf die schulmäßige Pflege und Lebensferne der späteren Rhapsodenpoesie kaum ausreichend zu erklären Andererseits muß der ethische und religiöse Rationalismus, der die Gesamtanlage der Odysseehandlung in ihrer jetzigen Gestalt beherrscht, in Ionien wesentlich älter gewesen sein, denn im Anfang des 6. Jhrh. entsteht dort bereits die milesische Naturphilosophie, für die die Gesellschaftszustände und die geographischen und politischen Anschauungen der Odyssee kein passender Hintergrund sind 3 . Daß die Odyssee im wesentlichen so bereits vor Hesiod existiert hat, steht mir unbedingt fest. Auf der andern Seite halte ich daran fest, daß der philologischen Analyse grundsätzliche typische Einsichten in die Entstehung der Großepik zu verdanken sind, die auch dann zu Recht bestehen bleiben, wenn wir mit den Mitteln unsrer konstruktiven Phantasie und kritischen Logik dieses Geheimnis niemals restlos aufzuhellen imstande sein sollten. Der verzeihliche Wunsch des Forschers, mehr wissen zu wollen als wir wissen können, hat den Forschungstrieb als solchen oft mit Unrecht in Mißkredit gebracht. Es erscheint heute notwendig neue Begründungen zu liefern, wenn man noch von jüngeren Schichten der Ilias spricht, wie es in diesem Buch geschieht. Ich glaube diese geben zu können, wenn auch nicht an dieser Stelle. Wenn die Ilias im ganzen älter wirkt als die Odyssee, so braucht deshalb ihre Entstehung als Großepos in der jetzigen Form von der der Odyssee in ihrer endgültigen 1 Vgl. meinen Aufsatz Solons Eunomie Sitz. Beri. Alead. 1926 S. 73 ff. Dazu jetzt auch F. Jacoby (a. O. 160), er fügt weitere Gründe hinzu, die auf einen noch höheren terminus ante quem führen. 2 Wilamowitz a. O. 178 3 Wilamowitz a. O . 182 nimmt (im Gegensatz zu seiner Meinung Horn. Unters. 27) Entstehung der Telemachie im Mutterlande an und spricht von einem „korinthischen Kulturkreis". Seine Gründe haben mich nicht überzeugt (vgl. dagegen jetzt auch Jacoby a. O . 161).

40

[1/40/

Gestalt nicht so weit entfernt zu liegen. Die Ilias ist für diese Form des Aufbaues natürlich das große Vorbild gewesen, aber der Zug zum Großepos gehört einer bestimmten Zeit an und griff bald auf andre Stoffe über. Es ist im übrigen ein Vorurteil der Analyse, das wohl noch aus ihren Ursprüngen in der Romantik und deren besonderen Vorstellungen über Volkspoesic herrührt, wenn man die jüngere Periode der Epik meist ohne weiteres als die künstlerisch geringere ansieht. Gerade aus diesem Vorurteil gegen die 'Redaktion', die am Ende der epischen Entwicklung steht und die man dichterisch wohl doch unterschätzt, j a geradezu geflissentlich herabgesetzt hat, statt sie in ihren künstlerischen Absichten zu verstehen, ist das typische Mißtrauen des 'gesunden Menschenverstandes' gegen die Kritik zum guten Teil erwachsen, wobei die Skepsis sich wie zu allen Zeiten auf die Widersprüche zwischen den Ergebnissen der Forschung beruft. Aber dieses Mißtrauen darf in einer so entscheidenden Frage, in der die Wissenschaft selbst ihre Grundlagen immer neu prüfen muß, nicht das letzte Wort behalten, auch wenn wir unsere Ziele nicht mehr so weit stecken dürfen, wie es die Kritik lange Zeit getan hat. Das ältere der beiden Epen zeigt das absolute Vorwiegen des kriegerischen Zustandes, wie es für die Wanderzeit der griechischen Stämme vorausgesetzt werden darf. Die Ilias denkt sich ihre Welt als ein Zeitalter der fast ausschließlichen Herrschaft des altertümlichen heroischen Geistes der Arete, und sie verkörpert dieses Ideal in allen ihren Helden. Sie verschmelzt zi; unauflöslicher idealer Einheit das im Liede überlieferte Bild der alten Recken der Sage und die lebendigen Traditionen der Aristokratie ihrer eignen Zeit, die schon ein ausgesprochenes Polisleben kennt, wie vor allem das Bild Hektors und der Troer beweist. Der Tapfere ist überall der Adlige, der Mann von Stand. K a m p f und Sieg sind seine höchste Auszeichnung und sein eigentlicher Lebensinhalt. Daß die Ilias hauptsächlich diese Seite des Daseins schildert, ist gewiß durch den Stoff mitbedingt, die Odyssee gibt zur Schilderung heldenhafter Kämpfe an sich selten Anlaß. Aber wenn etwas über die Vorgeschichte des Epos feststeht, so ist es die Tatsache, daß der älteste Heldengesang Schlachten und Heldentaten feierte, und aus solchen Liedern und Überlieferungen ist die Ilias stofflich erwachsen. Gerade auch im Stoff [Ml]

41

prägt sich ihr altertümlicherer Charakter aus. Die Helden der Uias, die sich in ihrem Kriegertum und ihrer Ehrliebe als echte Vertreter ihres Standes zeigen, sind aber auch in ihrem sonstigen Benehmen überall die hohen Herren, mit allen Vorzügen wie mit ihren unverkennbaren Schwächen. Nur im Frieden lebend kann man sie sich nicht vorstellen, sie gehören auf das Schlachtfeld. Daneben sehen wir sie nur in den Pausen des Kampfes bei ihren Mahlzeiten, beim Opfer, bei der Beratung. Das Bild wird anders in der Odyssee. Das Motiv von der Helden Heimkehr, dem Nostos, der sich an die Kämpfe vor Troja so natürlich anschloß, schlug die Brücke zu der anschaulichen Vorstellung und liebevollen Ausmalung ihrer Existenz im Frieden. Diese Sagen sind an sich uralt. Doch auf die menschliche Seite im Leben der Helden richtete sich mit Vorliebe das Interesse einer jüngeren Zeit, deren Sinn sich von den blutigen Schlachtbeschreibungen abwandte und das Bedürfnis fühlte, mehr ihr eigenes Leben in den Schicksalen und Menschen der alten Sage zu spiegeln. Wo die Odyssee das Dasein der Helden in der Nachkriegszeit, ihre Abenteurerfahrten und ihr Hcimatleben mit Haus und Hof, Familie und Umwelt schildert, nimmt sie ihre Anschauung von den wirklichen Lebensformen des Adels ihrer Zeit, die sie in naiver Lebendigkeit in die Vorwelt zurückverlegt. Sie ist daher unsere Hauptquellc für die Zustände der älteren Adelskultur. Es ist diejenige Ioniens, wo die Odyssee entstanden sein muß, aber wir dürfen sie in dem, worauf es hier ankommt, als typisch betrachten. Daß ihre Schilderung dieser Dinge nicht zu den überlieferten Ausstattungsstücken des alten Heldenliedes gehört, sondern auf realistischer eigener Beobachtung beruht, ist deutlich fühlbar. Der Stoff dieser häuslichen Szenen war weit weniger vorgeformt durch die epische Tradition. Ihr kam es auf die Helden selbst und ihre Taten an, nicht auf die behagliche Erzählung des Zuständlichen. Das Vordrängen dieses neuen Elements ergab sich nicht nur aus dem anderen Stoff, es entsprang wie die Stoffwahl selbst dem Zeitgeschmack einer Periode größerer Beschaulichkeit und friedlichen Genusses. Daß die Odyssee die Kultur eines Standes wie der adligen Herren auf ihren Höfen und Landsitzen als ein Ganzes zu sehen und darzustellen vermag, ist ein Fortschritt der künstlerischen 42

[1W

Lebensbeobachtung und Problemstellung. Das Epos wird Roman. Wenn das Bild der Welt in der Odyssee an seiner Peripherie, bis zu der die Abenteurerphantasie des Dichters und der Sage den Helden immer wieder führt, gern in das Reich des Märchenhaften und Wunderbaren übergreift, nähert sich die Schilderung der heimatlichen Verhältnisse um so stärker der Wirklichkeit. Zwar fehlt es auch da nicht an märchenhaften Zügen, die Schilderung der königlichen Pracht am Hof des Menelaos oder im Palast des reichen Phäakenfürsten, die von der schlichten ländlichen Einfachheit im Herrenhause des Odysseus absticht, nährt sich offenbar noch von alten Erinnerungen an den Prunk und die Kunstliebe großer Herrscher und mächtiger Reiche der mykenischen Vorzeit, wenn nicht gleichzeitige orientalische Vorbilder hier eingewirkt haben. Aber sonst unterscheidet gerade die lebensnahe Realität das Bild des Adels in der Odyssee von dem der Ilias. Der Adel der Ilias ist wie wir zeigten größtenteils ein ideales Phantasiebild, geschaffen mit Hilfe überlieferter Züge des alten Heldengesangs. Es steht ganz unter dem Gesichtspunkt, der die Form dieser Überlieferung bestimmt hatte, der Bewunderung der übermenschlichen Arete der Helden der Vorzeit. Nur einzelne politischrealistische Züge wie die Thersitesszene verraten die relativ junge Zeit, in die die Entstehung der Ilias in ihrer jetzigen Gestalt noch hineinragt, durch den despektierlichen Ton, den der „Dreistling" mit dem redenden Namen gegenüber den vornehmen Herren anschlägt. Thersites ist die einzige wirklich boshafte Karikatur, die es im ganzen Homer gibt. Doch alles spricht dafür, daß der Adel noch fest im Sattel saß, als diese ersten Attacken einer neuen Zeit einsetzten. In der Odyssee fehlt es zwar an solchen modernen politischen Einzelzügen, das Gemeinwesen von Ithaka wird in Abwesenheit des Königs durch eine vom Adel geleitete Volksversammlung regiert, und die Phäakenstadt ist das getreue Abbild einer ionischen Polis unter der Herrschaft eines Königs. Aber offenbar ist der Adel dem Dichter schon ein soziales und menschliches Problem, das er aus einer gewissen Distanz sieht l . Das hat ihn befähigt, diese Schicht als ein Ganzes objektiv zu schildern, 1 Die Rhapsoden werden kaum j e selbst zum adligen Stande gehört haben. In der Lyrik, der Elegie und dem Iambos finden sich im Gegensatz dazu oft genug adlige Dichter (Wilamowitz a. O . 175).

[1/43J

43

mit jener trotz scharfer Kritik ihrer üblen Vertreter unverkennbaren warmen Sympathie für den Wert wahrhaft adliger Gesinnung und Bildung, die sein Zeugnis für uns so unersetzlich macht. Der Adel der Odyssee ist ein geschlossener Stand mit starkem Bewußtsein seines Vorrechts, seines Herrentums und seiner feineren Sitte und Lebensart. An Stelle der grandiosen Leidenschaften, der überlebensgroßen Gestalten und tragischen Schicksale der Ilias finden wir in dem jüngeren Gedicht eine große Zahl andersartiger Figuren von mehr menschlichem Format. Sie haben alle etwas Humanes, Liebenswürdiges, in ihren Reden und Erlebnissen herrscht das, was der Kunstausdruck der späteren Rhetorik Ethos nennt. Der Verkehr der Menschen untereinander hat etwas höchst Gebildetes: Nausikaas kluges und sicheres Auftreten gegenüber der befremdenden Erscheinung des nackend vom Meer angetriebenen, schutzflehenden Odysseus, Telemachos im Umgang mit dem Gastfreund Mentes, am Hof des Nestor und Menelaos, das Haus des Alkinoos, die geistliche Aufnahme des großen Fremdlings und Odysseus' unbeschreiblich höfischer Abschied von Alkinoos und seiner Gemahlin, nicht minder die Begegnung des alten Sauhirten Eumaios mit dem in einen Bettler venvandelten alten Herrn oder sein Umgang mit Telemach, dem jungen Herrensohn. Der echten innern Bildung in diesen Szenen steht allerdings auch schon eine zur bloß korrekten Form gewordene gegenüber, wie sie sich stets dort einstellen wird, wo vornehme Art der Äußerung und Haltung hoch im Werte stehen. Selbst die Formen des Umgangs zwischen Telemach und den hochfahrenden und gewalttätigen Freiem sind trotz des gegenseitigen Hasses von untadliger Höflichkeit. Ob edel oder gemein, die Vertreter dieser Gesellschaft wahren ihr einheitliches Gepräge, ihr Decorum in jeder Lage. Das schamlose Treiben der Freier ist eine Schande für sie und ihren Stand, das wird von vielen Seiten ausgesprochen. Niemand kann es ohne Empörung ansehen, und es wird schließlich schwer gebüßt. Aber Prädikate wie die edlen, erlauchten, mannhaften Freier finden sich trotzdem ebenso oft wie mißbilligende Worte für ihren Frevelmut und ihre Gewalttätigkeit: sie bleiben für den Dichter doch immer die vornehmen Herren. Ihre Strafe ist sehr hart, weil ihr Vergehen doppelt schwer wiegt. Und wenn 44

[U44]

ihr Frevel ein dunkler Flecken auf dem Ruhmestitel ihres Standes ist, so wird er weit überstrahlt von der leuchtenden echten Vornehmheit der Hauptgestalten, die mit aller erdenklichen Sympathie umgeben sind. An dem günstigen Gesamturteil über den Adel ändern die Freier nichts. Der Dichter ist mit seinem Herzen bei den Menschen, die er darstellt, er liebt ihre höhere Sitte und Kultur, das ist auf Schritt und Tritt zu spüren. Er hat mit ihrer immer neuen Hervorhebung ohne Zweifel sogar eine erzieherische Absicht verbunden. Was er von ihr wiedergibt, ist für ihn ein Wert für sich, es ist ihm nicht nur gleichgültiges Milieu, sondern ein wesentlicher Teil der Vortrefflichkeit seiner Helden. Ihre Lebensform ist ihm unzertrennlich von ihrem Tun und Lassen, sie gibt ihnen eine besondere Würde, die sie durch ihre edlen und bewunderungswürdigen Taten, durch ihre untadlige Haltung im Glück und Unglück als wohlverdient erweisen. Ihr bevorzugtes Los steht in Harmonie mit der göttlichen Weltordnung, und die Götter gewähren ihnen ihren Schutz. Immer erstrahlt ihr rein menschlicher Wert zugleich im Lichte ihrer adligen Noblesse. Die Voraussetzungen der Adelskultur sind Seßhaftigkeit, Grundbesitz 1 und Tradition. Sie machen den Übergang der Lebensform von den Alten auf die Kinder möglich. Aber es muß die ihres Ziels bewußte Prägung des jungen Menschen nach dem strengen Gebot höfischer Sitte, die vornehme 'Zucht' hinzutreten. In der Odyssee wäre trotz ihrer humanen Gesinnung gegenüber dem Nichtadligen bis zum Bettler hinab, trotz des Fehlens jeder scharfen, hochmütigen Absonderung des Adligen vom gemeinen Manne und trotz der patriarchalischen Nähe von Herr und Knecht dennoch außerhalb der Oberschicht keine bewußte Erziehung und Bildung vorstellbar. Die Zucht als Formung der menschlichen Persönlichkeit durch dauernde Ratschläge und geistige Leitung ist ein typisches Kennzeichen des Adels aller Zeiten und Völker. Nur dieser Stand stellt an die Gesamtperson und -haltung des Menschen Ansprüche, die ohne zielbewußte Kultivierung der grundlegenden Eigenschaften nicht erfüllbar sind. Das bloße pflanzenhafte Hineinwachsen in Sitte und Brauch 1 Es fehlt eine spezielle Untersuchung über die Entwicklung des Verhältnisses von Besitz und Arete. Sie würde in der Odyssee besonders wichtiges Material finden.

[U45]

45

der Vorfahren genügte hier nicht. In dem Geltungsanspruch des Adels und in seiner beherrschenden Stellung lag die Forderung, in seinen Vertretern schon frühzeitig während ihres bildsamen Alters das in diesen Kreisen geltende Bild edler Mannesart auszuprägen. Hier zuerst wurde Erziehung zur Bildung d. h. zur Formierung des ganzen Menschen nach einem festen Typus. Die Bedeutung eines solchen festen Typus für die Entwicklung einer Bildung war den Griechen immer gegenwärtig; in jeder Adelskultur spielt er eine entscheidende Rolle, mag man an den καλός κάγαθός der Griechen denken oder an die cortesia des ritterlichen Mittelalters oder an die soziale Physiognomie des 18. Jahrhunderts, wie sie uns aus allen Porträts jener Zeit konventionell entgegenlächelt. Der höchste Maßstab alles Wertes der männlichen Persönlichkeit bleibt auch in der Odyssee das ererbte Ideal der kriegerischen Tüchtigkeit. Daneben tritt aber jetzt die Hochschätzung geistiger und gesellschaftlicher Tugenden, die in der Odyssee mit Vorliebe hervorgehoben werden. Der Held selbst ist der nie um klugen Rat verlegene Mann, der in jeder Lage die passenden Worte zu finden weiß. Seine List ist sein Ruhm, die erfinderische, praktische Einsicht, die im Kampf um Leben und Heimkehr über mächtigere Feinde und lauernde Gefahren schließlich immer triumphiert. Dieser schon bei den Griechen, namentlich bei den Stämmen des Mutterlandes nicht unbestrittene Charakter ist keine einheitliche Schöpfung eines einzelnen Dichters. Jahrhunderte haben an seinem Bilde gearbeitet, darum ist es so widerspruchsvoll 1 . Der verschlagene, an Listen reiche Abenteurer ist das Erzeugnis der Zeit der ionischen Seefahrer. Seine Gestillt zu heroisieren zwang seine Zugehörigkeit zum troischen Sagenkreise, vor allem sein Anteil an der Zerstörung von Ilios. Die mehr höfischen Züge, die er in der Odyssee vielfach angenommen hat, sind bedingt durch das Gesellschaftsbild, das fur die uns vorliegende Dichtung von maßgebendem Interesse ist. Auch die anderen Personen sind weniger heroisch als menschlich geschildert, das Geistige ist auffallend stark hervorgehoben. Telemach wird häufig vernünftig oder verständig genannt, vop Menelaos rühmt seine Gemahlin, daß er keines Vorzugs ermangele, weder an Geist 1

46

Vgl. Wilamowitz a. O. 183

[U46J

noch an Gestalt. Von Nausikaa wird gesagt, sie gehe nicht fehl im Treffen des rechten Gedankens. Penelope heißt klug und verständig. Wir müssen hier mit einem Worte der erzieherischen Bedeutung des weiblichen Elements für die alte Adelskultur gedenken. Die eigentliche Arete der Frau ist die Schönheit. Das ist ebenso selbstverständlich wie die Bewertung des Mannes nach seinen geistigen und körperlichen Vorzügen. Auch der Kultus der weiblichen Schönheit entspricht dem höfischen Bildungstypus aller ritterlichen Zeitalter. Die Frau erscheint allerdings nicht n u r als Gegenstand erotischer Werbung des Mannes wie Helena oder Penelope, sondern zugleich immer in ihrer festen sozialen und rechtlichen Stellung als gebietende Hausherrin. Deren Tugenden sind züchtiger Sinn und haushälterische Klugheit. Die ernste Sittsamkeit und die hausfraulichen Eigenschaften der Penelope werden hoch gerühmt. Doch die bloße Schönheit der Helena, die so großes Unglück über Troja gebracht hat, genügt u m die troischen Greise bei ihrem Erscheinen sogleich zu entwaffnen und alle Schuld den Göttern zuzuschieben. In der Odyssee wird Helena, die inzwischen mit ihrem ersten Gatten nach Sparta zurückgekehrt ist, als das Urbild der großen Dame, als ein Muster vornehmer Eleganz und souveräner gesellschaftlicher Form und Repräsentation geschildert. Sie hat die Führung in der Unterhaltung mit dem Gast, die anmutig mit der Feststellung der überraschenden Familienähnlichkeit beginnt, noch bevor der junge Telemach ihr vorgestellt ist. Das verrät ihre überlegene Meisterschaft in dieser Kunst. Der Spinnrocken, ohne den die züchtige Hausfrau nicht zu denken ist und den ihre Dienerinnen vor sie hinstellen, wenn sie den Männersaal betritt und Platz nimmt, ist von Silber und die Spindel von Gold. Beide sind für die hohe D a m e nur mehr dekorative Attribute. Die gesellschaftliche Stellung der Frau ist später niemals wieder unter den Griechen eine ähnlich hohe gewesen wie in der Periode des ausgehenden homerischen Rittertums. Arete, die Gemahlin des Phäakenfürsten, ist wie eine Gottheit unter den Leuten geehrt. Sie schlichtet durch ihr Erscheinen deren Streitigkeiten und bestimmt den Entschluß ihres Gatten durch ihre Fürsprache oder ihren Rat. U m mit Hilfe der Phäaken seine Heim/.1/47]

47

kehr nach Ithaka zu erreichen, wendet sich Odysseus auf den Rat der Nausikaa zuerst nicht an ihren Vater, den König, sondern umfaßt bittflehend die Knie der Fürstin, denn ihr Wohlwollen ist entscheidend fur die Gewährung seinei Bitte. Wie sicher tritt selbst Penelope in ihrer verlassenen, hilflosen Lage gegenüber dem übermütig tobenden Schwärm der Freier auf, weil sie immer darauf rechnen darf, daß ihre Person und ihre Frauenwürde unbedingt respektiert werden. Die höfische Art des Umgangs der vornehmen Herren mit den Frauen ihres Standes ist das Produkt einer langjährigen Kultur und hohen gesellschaftlichen Erziehung. Die Frau ist geachtet und geehrt nicht nur als sozial nützliches Wesen wie im Bauernhaushalt nach der Lehre des Hesiod, auch nicht nur als Mutter der ehelichen Kinder wie bei dem griechischen Bürgertum späterer Zeit, so wichtig auch gerade für das auf seinen Stammbaum stolze Rittertum die Frau als Stammmutter eines erlauchten Geschlechtes sein mag. Sie ist die Trägerin und Hüterin aller höheren Sitte und Tradition. Diese ihre geistige Würde wirkt auch auf das erotische Verhalten des Mannes ein. In dem ersten Gesang der Odyssee, der in allem ein feiner entwickeltes sittliches Denken repräsentiert als die älteren Teile des Epos, finden wir einen für das Verhältnis der Geschlechter bemerkenswerten Zug. Als Eurykleia, die altvertraute, ehrsame Dienerin des Hauses, dem jungen Telemachos mit der Fackel zum Schlafgemach leuchtet, erzählt der Dichter nach epischer Art kurz ihre Lebensgeschichte. Der alte Laertes hatte sie einst als schönes junges Mädchen für einen selten hohen Preis erworben. In seinem Hause hielt er sie während seines ganzen Lebens in gleichen Ehren wie seine edle Gemahlin, doch aus Rücksicht auf seine Gattin teilte er niemals mit ihr das Lager. Die Ilias kennt weit naturhaftere Anschauungen. Daß Agamemnon im Kriege die Chryseis, die ihm als Kampfbeute zugefallen ist, in die Heimat mitzufiihren gedenkt und in offener Versammlung erklärt, er ziehe sie selbst Klytaimestra vor, denn sie stehe ihr nicht nach weder an Gestalt und Wuchs noch an Klugheit und Geschicklichkeit, mag man als eine persönliche Charakteristik ansehen — schon die alten Erklärer bemerken, daß hier die ganze Arete des Weibes in einem einzigen Verse zusammengefaßt wird — aber die herrische Art, wie sich der Mann hier über alle 48

[H48J

Rücksicht hinwegsetzt, steht auch sonst in der Ilias nicht vereinzelt da. Amyntor, der Vater des Phoinix, gerät mit seinem Sohn in Streit wegen der Geliebten, u m derentwillen er die Gattin vernachlässigt und die der Sohn, von der eigenen Mutter aufgestachelt, ihm abspenstig macht. Hier handelt es sich nicht um die Sitten verwilderter Krieger, sondern u m die Zustände im Frieden. Ihnen gegenüber bedeutet die Anschauung in der Odyssee ganz allgemein eine höhere Stufe. Die höchste Zartheit und innere Verfeinerung im Empfinden des Mannes bei der schicksalsvollen Begegnung mit einer Frau offenbart sich in dem wunderbaren Gespräch des Odysseus mit Nausikaa, des welterfahrenen Mannes mit dem naiven jungen Mädchen. Hier ist innere Kultur u m ihrer selbst willen geschildert, nicht anders als wenn der Odysseedichter liebevoll bei der Beschreibung der königlichen Gärten oder der Architektur im Hause des Alkinoos oder bei der Betrachtung der seltsamen melancholisch-düstern Landschaft auf der weltentrückten Insel der Nymphe Kalypso verweilt. Diese tiefe innere Gesittung ist die Wirkung des erzieherischen Einflusses der Frau auf eine rauhe männliche, kriegerisch-gewalttätige Gesellschaft. In dem höchst persönlichen inneren Verhältnis des Helden zu seiner Göttin, die ihn auf allen seinen Wegen führt und ihn niemals verläßt, Pallas Athene, ist die inspirierende und geistig leitende Macht des Weiblichen am schönsten zum Ausdruck gekommen. Wir sind im übrigen nicht nur darauf angewiesen, aus der gelegentlichen Darstellung des Epos von höfischer Sitte und edlem Betragen Schlüsse auf den Stand der Bildung in dieser Gesellschaftsschicht zu ziehen, sondern das Bild, das die homerischen Gedichte von der Kultur des Adels entwerfen, umfaßt auch die lebendigste Schilderung der in diesem Kreise üblichen Erziehung. Es empfiehlt sich die jüngeren Teile der Ilias mit der Odyssee hier zusammenzunehmen. Wie überhaupt die stärkere Betonung des Ethischen den späten Partien des Epos eigentümlich ist, so beschränkt sich auch das bewußte Interesse für die Fragen der Erziehung auf die jüngere Schicht. Neben der Telemachie ist der neunte Gesang der Ilias dafür unsere Hauptquelle. Die Idee, zu der Figur des Heide njünglings Achilleus einen Erzieher und 11149]

49

Lehrer in der Gestalt des greisen Phoinix zu stellen, hat eine der schönsten Szenen des Gedichts ergeben, wenn die Erfindung als solche auch zweifellos sekundären Ursprungs ist. An sich fällt es schwer, sich die Heroen der Ilias anders als auf dem Schlachtfelde und ab fertig abgeschlossene Gestalten vorzustellen. Kaum einem Leser der Ilias wird sich von selbst die Frage aufdrängen, wie ihre Helden geworden und aufgewachsen sind, und auf welchen Wçgen wohl die vorausschauende und vorsorgende Weisheit von Eltern und Lehrern schon von den Tagen ihres Knabenalters an ihre Schritte dem Ziele ihrer späteren Heldengröße entgegengelenkt haben mag. Der ursprünglichen Sage lag dieser Gesichtspunkt sicher gänzlich fern, aber wie in dem unerschöpflichen Inter-esse für die Stammbäume der Helden, aus dem eine ganz neue Gattung epischer Dichtung erwuchs, so verrät sich die Einwirkung feudaler Anschauungen zunehmend auch in der Neigung, den großen Helden der Sage eine ausführliche Jugendgeschichte zu geben und sich um ihre Erziehung und ihre Lehrmeister zu kümmern. Der Heldenlehrer schlechthin ist für diese Zeit der weise Kentaur Chiron, der in den waldigen quellenreichen Schluchten des Peliongebirges in Thessalien hauste. Eine ganze Reihe berühmter Heroen macht die Überlieferung zu seinen Zöglingen, darunter auch den Achilleus, den sein Vater Peleus, nachdem Thetis ihn verlassen hatte, der Obhut des Alten anvertraute. Unter seinen Namen stellte die Frühzeit ein episches Lehrgedicht (Χίρωνος ύττοθηκαι), das erzieherische Spruch Weisheit in Versform brachte und seinen Stoff wahrscheinlich aus adliger Überlieferung schöpfte. Die Lehren waren wie es scheint an Achilleus gerichtet. Zwar muß schon viel Allerweltsweisheit darin gestanden haben, wenn man das Gedicht im Altertum dem Hesiod zuschreiben konnte. Die paar Verse, die sich erhalten haben, erlauben leider kein sicheres Urteil. Doch für die Beziehung zur Adelsethik spricht es, daß Pindar 1 sich darauf beruft. Selbst Pindar, der eine neue tiefere Ansicht vom Verhältnis der Erziehung zur Naturanlage des Menschen vertritt und der sonst der bloßen Unterweisung keinen großen Anteil an der Bildung heroischer Arete einräumt, muß bei seiner gläubigen Treue gegen 1 Pyth. VI 19 ff. 50

[UiOJ

die Überlieferung der Sage mehrmals eingestehen, daß die größten Männer der Vorzeit die Lehren des heldenliebenden Alten empfangen hätten. Bald gibt er es einfach zu, bald sträubt er sich es anzuerkennen, in jedem Fall hat er die Kunde als feste Tradition vorgefunden, und sie ist offenbar älter als die Ilias. Obgleich der Dichter des neunten Gesanges als Erzieher Achills an die Stelle Chirons den Phoinix setzt, wird an einer andern Stelle der Ilias Patroklos aufgefordert, lindernde Heilmittel auf die Wunden eines Kriegers zu legen, die er von Achill gelernt und die diesen einst Chiron, der gerechteste der Kentauren, gelehrt habe1. Die Unterweisung wird hier zwar auf bloße ärztliche Lehren beschränkt, wie Chiron bekanntlich auch als der Lehrmeister des Asklepios gilt. Aber auch in der Jagd und in allen trefflichen ritterlichen Künsten nennt Pindar ihn den Erzieher des Achill, und es ist klar, daß dies die ursprüngliche Fassung gewesen ist. Der Dichter der 'Gesandtschaft an Achill' konnte neben Aias und Odysseus den ungeschlachten Kentauren nicht als Vermittler brauchen. Auch als Erzieher eines Helden schien nur wieder ein ritterlicher Held passend. Das muß der Erfahrung des Dichters im Leben entsprochen haben, da er nicht ohne Not von der Sage abweichen wird. Daher wählte er den Phoinix, der ein Lehnsmann des Peleus und Fürst der Doloper war, als Ersatz für diese Rolle. A n der Ursprünglichkeit der Rede des Phoinix in der Gesandtschaft an Achill, j a an der ganzen Gestalt, die sonst in der Ilias nicht mehr begegnet, hat die Kritik sehr ernstlich gezweifelt, und es finden sich in der T a t unverkennbare Spuren dafür, daß einmal eine Form des Gesandtschaftsgedichts existiert haben muß, in der nur zwei Abgeordnete des Heeres, wohl Odysseus und Aias, an Achill gesandt wurden. Doch diese Form durch einfaches Herausbrechen der großen Mahnrede des Phoinix wiedergewinnen zu wollen ist unmöglich, wie es meist diese praktischen Wiederherstellungsversuche sind, auch wo die Überarbeitung noch so handgreiflich zutage liegt. Die Gestalt des Erziehers steht in der jetzigen Fassung des Gedichts in enger Beziehung zu den beiden Mitgesandten. V o n seinem Erziehungsideal verkörpert, wie wir schon zeigten 2 , Aias mehr die Tat, 1

[U51]

Λ 830—832

2

Vgl. S. 30

51

Odysseus das Wort. In Achilleus allein sind beide vereinigt, er verwirklicht in sich die wahre Harmonie höchster Geistes- und Tatkraft. Wer die Rede des Phoinix antastet, kann also auch vor den Reden der beiden anderen nicht Halt machen und zerstört den ganzen künstlerischen Aufbau dieses Liedes. Aber nicht nur diese Konsequenz fuhrt die Kritik ad absurdum, auch das angebliche Motiv, das man fUr die Einlage der Phoinixrede annimmt, beruht auf vollständiger Verkennung der dichterischen Absicht des Ganzen. Die Rede des Alten ist in der Tat ungewöhnlich lang, sie umfaßt mehrere hundert Verse und gipfelt in der Erzählung vom Zorn des Meleagros, die bei oberflächlichem Lesen fast als Selbstzweck empfunden wird. Man glaubte, der Dichter habe das Motiv vom Zorn des Achilleus einem älteren Gedicht vom Zorn des Meleagros nachgebildet, er wolle hier in der hellenistischen Manier literarischer Anspielungen sozusagen seine Quelle zitieren und gebe eine Art Auszug aus jenem £pos. Die Frage, ob es zur Zeit der Entstehung dieses Gesanges eine poetische Bearbeitung der Meleagrossage gab oder ob der Dichter einer mündlichen Überlieferung folgt, mag man so oder so beantworten, jedenfalls ist die Rede des Phoinix das Muster einer protreptischen Ansprache des Erziehers an seinen Zögling, und die langausgesponnene Erzählung vom Zorn des Meleagros und von seinen verderblichen Folgen ist ein mythisches Paradeigma, wie es sich in den Reden der Ilias und Odyssee zahlreich findet. Die Verwendung des Paradeigma ist besonders typisch fur die Form der Lehrrede in jeder ihrer Spielarten 1 . Das warnende Beispiel des Meleagros konnte keiner mit gleichem Recht anführen wie der greise Erzieher, dessen selbstlose Treue und Ergebenheit Achilleus unbedingt anerkennen muß. Phoinix darf Wahrheiten aussprechen, die Odysseus nicht sagen konnte. In seinem Munde erhält dieser äußerste Versuch, den unbeugsamen Willen des Helden zu bestimmen und ihn zur Einsicht zu bringen, den ernstesten innerlichen Nachdruck: er läßt im Falle seines Meßlingens die tragische Zuspitzung der Handlung in verschärftem Lichte als die Folge der starren Weigerung Achills erscheinen. 1

52

Vgl. S. 61 und 70.

Schon die antiken Erklärer weisen darauf hin.

[1/52]

Nirgendwo in der Ilias ist Homer in so hohem Maße wie hier der Lehrer und Führer der Tragödie, wie Plato ihn nennt. Das haben schon die Alten empfunden. Der Aufbau der Iliashandlung nimmt dadurch eine Wendung ins Ethische und Erzieherische, und die Form des Paradeigma bringt die grundsätzliche Seite des Falles, die Nemesis 1 zwingend zum Bewußtsein. Jeder Leser muß die endgültige Entscheidung des Helden, an der das Schicksal der Griechen, seines nächsten Freundes Patroklos und schließlich sein eignes Los hängt, innerlich in ihrer ganzen Schwere miterleben. Das Geschehen wird ihm notwendig zum allgemeinen Problem. Aus dem Beispiel des Meleagros löst sich der für den Dichter der Ilias, wie sie uns jetzt abgeschlossen vorliegt, so entscheidende religiöse Gedanke der Ate heraus. Aus der sittlich packenden Allegorie von den Litai, den Bitten, und von der Verstocktheit des menschlichen Herzens leuchtet dieser Gedanke wie ein unheildrohender Blitz aus dunklem Gewölk hervor. Für die Geschichte der griechischen Erziehung ist die ganze Erfindung von äußerster Wichtigkeit. Sie läßt einmal das Typische der alten Adelserziehung deutlich erkennen. Der Vater Peleus gibt seinem Sohn, der noch gänzlich unerfahren ist in der Kunst der Rede wie in der Kriegführung, seinen zuverlässigsten Lehnsmann als Begleiter mit ins Feld und an das königliche Hoflager, und der prägt ihm bewußt ein hohes überliefertes Ideal männlicher Tüchtigkeit ein. Diese Rolle fällt dem Phoinix zu auf Grund seines langjährigen Vertrauensverhältnisses zu Achilleus. Sie ist nur die Fortsetzung der väterlichen Freundschaft, die den Alten seit der frühsten Kindheit des Helden mit ihm verbindet. Er erinnert ihn in rührenden Worten an die Zeit, wo er ihn als Knaben bei den Mahlzeiten im Saal auf den Knien hielt, weil er bei keinem andern als bei ihm sein wollte, wie er ihm die Brocken vorkaute und von seinem Weine gutmütig soviel zu trinken gab, bis er ihm aufstieß und den Rock vorn auf der Brust netzte. Phoinix stand zu ihm wie zu einem Sohn, da ihm selbst durch den tragischen Fluch seines Vaters Amyntor Kinder versagt waren. Nun darf er erwarten, in dem jungen Helden im Greisenalter einen Beschützer zu finden. Aber über diese typischen 1 I 523 [I/53J

53

Züge des Hofmeisters und väterlichen Freundes hinaus ist Phoinix dem Achilleus ein Führer in dem tieferen Sinne der sittlichen Selbsterziehung. Die Überlieferung der alten Sagen gehört als lebendiger Besitz zu dieser Bildung, und sie bieten nicht nur übermenschliche Vorbilder heldenhafter Tapferkeit und Stärke. In ihnen pulsiert das warme Blut der den Menschen immer neu aus dem Leben zuströmenden und sich vertiefenden Erfahrung, die den altehrwürdigen Stoff durchdringt und ihm immer neue Bedeutung abgewinnt. Der Dichter ist offenbar ein Bewunderer der hohen Erziehung, der er in der Gestalt des Phoinix ein Denkmal gesetzt hat, aber eben darum wird ihm das Schicksal. Achills, den die Adelszucht, wie er annimmt, zum höchsten Musterbilde aller Mannestugend geformt hat, ein schweres Problem. Gegen die übergroße irrationale Macht der Verblendung, die Göttin Ate, ist alle Kunst der menschlichen Erziehung, aller gute Zuspruch ohnmächtig. Aber auch die Bitten und Vorstellungen der besseren Vernunft verkörpert der Dichter zu göttlichen Mächten, die dem Menschen freundlich gesinnt sind. Zwar sie sind langsam und hinken immer hinter der schnellfüßigen Ate drein, aber sie machen den Schaden, den sie anrichtet, hinterher wieder gut. Man muß sie nur ehren, die Töchter des Zeus, wenn sie sich nahen, und auf sie hören, dann helfen sie freundlich dem Menschen. Doch wer sie abweist und sich starrsinnig gegen sie verstockt, dem schicken sie die Ate, daß er durch Schaden büße. Hier erkennt das gestaltschafFende, von Abstraktion noch unberührte religiöse Denken in dem ergreifenden Bild der guten und bösen Dämonen und ihres ungleichen Wettlaufs um das Menschenherz den inneren Konflikt zwischen verblendeter Leidenschaft und besserer Einsicht als das eigentliche Kernproblem aller Erziehung im tieferen Sinne des Wortes. Der moderne Begriff der freien Entscheidung ist hier ganz fernzuhalten, ebenso wie der Gedanke einer 'Schuld' in diesem Sinne. Das ältere Denken ist noch weit umfassender und darum tragischer. Die Frage der Zurechnung ist hier nicht entscheidend, wie sie es etwa im Anfang der Odyssee ist1. Aber die naiv praktische Erziehungsfreudigkeit der alten Adelswelt mündet hier in ihrem ältesten und schönsten Dokument bereits 1

54

Vgl. S. 60, 86 u. ö.

[H54J

in der Bewußtwerdung des Problems der Grenzen aller menschlichen Erziehung. Das Gegenbild des unnachgiebigen Peliden ist Telemach, an dessen Erziehung der Dichter des ersten Buchs der Odyssee uns teilnehmen läßt. Während Achill die Lehren des Phoinix in den Wind schlägt und ins Verderben stürzt, leiht Telemach den Mahnungen der Göttin, die sich in der Gestalt des väterlichen Gastfreundes Mentes verbirgt, willig sein Ohr. Sagen ihm doch ihre Worte das gleiche, was die Stimme seines eignen Herzens ihm rät. Telemach ist das Urbild des lenksamen jungen Mannes, den der freudig aufgenommene Rat eines erfahrenen Freundes zu T a t und Ruhm führt. In den folgenden Gesängen versteckt Athene, von der nach homerischem Glauben immer die göttliche Inspiration zum glücklichen Handeln ausgeht, sich in der Gestalt eines anderen älteren Freundes Mentor, der Telemach auf seiner Reise nach Pylos und Sparta folgt. Diese Erfindung entspringt augenscheinlich der Sitte, vornehmen jungen Herren, zumal wenn sie auf Reisen gingen, einen Hofmeister mitzugeben. Mentor begleitet wachsamen Auges jeden Schritt seines Schützlings und steht ihm mit seinen Lehren und Ratschlägen in jeder Lage helfend zur Seite. Er unterweist ihn in den Formen des richtigen gesellschaftlichen Benehmens, wo er, innerlich unsicher, schwierigen neuen Situationen gegenübersteht. Er belehrt ihn, wie er den vornehmen älteren Herren Nestor und Menelaos zu begegnen hat und wie er sein Bittgesuch bei ihnen vorbringen muß, um Erfolg damit zu haben. Das schöne Verhältnis Telemachs zu Mentor, dessen Name seit Fénelons Télémaque allgemein zur Bezeichnung des erziehenden, leitenden und beschützenden älteren Freundes geworden ist, beruht auf der Ausgestaltung des Erziehungsmotivs 1 , das auch sonst in der ganzen Telemachie herrscht und das wir nun noch eingehender betrachten müssen. Es scheint deutlich, daß es nicht nur die Absicht des Dichters war, ein Stück höfischen Milieus zu zeichnen. Die Seele dieser menschlich anmutigen Erzählung ist das Problem, das der Dichter sich bewußt gestellt hat, wie der junge 1 A u f das pädagogische Element in der Telemachie hat Ed. Schwartz, Die Odyssee (München 1924) S. 253 besonders eindrucksvoll von neuem hingewiesen.

[1/55]

55

Sohn des Odysseus zum überlegenden, planvoll handelnden und von Erfolg gekrönten Manne wird. Wenn niemand sich dem Eindruck des Gedichts hingeben kann, ohne eine bewußte pädagogische Wirkung darin zu spüren, die doch großen Teilen der Odyssee vollkommen abgeht, so beruht das auf dem Typischen und zugleich Vorbildlichen des inneren Vorgangs, der der äußeren Handlung des Telemachgedichts parallel geht und ihr eigentliches Ziel ist. Wir dürfen hier die Frage unentschieden lassen, die von der kritischen Entstehungsanalyse der Odyssee aufgeworfen worden ist, ob die Telemachie ursprünglich ein selbständiges Gedicht war oder ob sie von Anfang an fur das Gesamtepos geschrieben worden ist, wie wir es heute lesen. Wenn es jemals ein eigenes Telemachepos gegeben hat, so ist die Verselbständigung gerade dieses Teiles der Odysseussage nur aus dem Interesse einer Zeit zu erklären, die den Reiz der Vergegenwärtigung der Situation des jungen Mannes und des erzieherischen Problems darin stark empfand und sich daher auf einen Stoff warf, der der freien Gestaltung dieses Motivs ihren ungehemmten Lauf ließ. Die Sage selbst bot außer Heimat und Elternnamen der Phantasie keine konkreten Anhaltspunkte. Aber das Motiv hat seine eigene Logik in sich, nach ihr läßt der Dichter es sich entwickeln. Im Zusammenhang der Gesamtodyssee bedeutet es eine schöne Erfindung, die beiden getrennten Teile: Odysseus, der fern auf der meerumflossenen Insel von der liebenden Nymphe zurückgehalten wird, und seinen Sohn, der in der Heimat tatenlos und verlassen des Vaters harrt, zu gleicher Zeit in Bewegung zu setzen, um sie wieder miteinander zu vereinigen und so die Rückkehr des Helden zu bewirken. Das Milieu, das der Dichter zeichnet, ist das des adligen Herrensitzes. Telemach ist anfangs nur ein hilflos dem frechen Treiben der Freier seiner Mutter preisgegebener Jüngling. Resigniert sieht er ihnen zu, ohne die Kraft zu eignen Entschlüssen zu finden, gutmütig und unfähig, selbst den Peinigern seines Hauses gegenüber die angeborene Vornehmheit seiner Natur zu verleugnen, geschweige denn seine Rechte energisch zu wahren. Dieser passive, liebenswürdig weiche, hoffnungslos klagende Jüngling wäre ein unbrauchbarer Bundesgenosse für den zu schwerem Entscheidungskampf und Rachewerk heim56

[U561

kehrenden Odysseus, der den Freiern fast ohne jede Hilfe entgegentreten muß. Zu diesem starkherzigen, entschlußfrohen, wagemutigen Kampfgenossen erzieht ihn Athene. Es ist gegen die Annahme einer bewußt pädagogischen Gestaltung der Telemachfigur in den vier ersten Gesängen der Odyssee gesagt worden, die griechische Poesie kenne keinerlei Darstellung der inneren Entwicklung eines Charakters 1 . Gewiß ist die Telemachie kein moderner Erziehungsroman, und als eine Entwicklung in unserm Sinne kann man Telemachs Wandlung nicht bezeichnen. Nur als ein Werk göttlicher Eingebung vermag jene Zeit sie sich zu erklären. Aber die Eingebung kommt nicht wie so oft im Epos rein mechanisch durch den Befehl eines Götterboten oder nachts im Traum. Sie wirkt nicht wie ein magischer Einfluß, sondern das natürliche Werkzeug der göttlichen Begnadung ist der dem Leben entnommene Vorgang der bewußten Einwirkung auf Willen und Einsicht des Jünglings, der zu einer künftigen Heldenrolle ausersehen ist. Es bedarf nur des entscheidenden Anstoßes von außen, um die notwendige innere Bereitschaft zur Initiative in Telemach zu erzeugen. Das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren, des inneren Dranges, der aus sich selbst nicht den Weg zum Ziel findet und nicht in Bewegung gerät, der guten Natur, der göttlichen Hilfe und Gunst und des auslösenden Moments der wegweisenden Leitung ist aufs feinste abgewogen. Darin verrät sich das tiefe Verständnis des Dichters für das Problem, das er sich gestellt hat. Wenn die epische Technik ihm erlaubt, die göttliche Intervention und die natürliche erzieherische Beeinflussung dadurch zur Einheit einer einzigen Handlung zusammenzufassen, daß er Athene selbst in Gestalt des alten Gastfreundes Mentes zu Telemach reden läßt, so wird dieser Kunstgriff ihm erleichtert durch das allgemein menschliche Gefühl, welches seiner Erfindung noch heute für uns ihre innere Wahrscheinlichkeit gibt: daß in der befreienden, alle

1 So Wilamowitz a. O . , vgl. aber R . Pfeiffer D L Z . 1928, 2368. Es scheint mir freilich weniger um die göttliche Norm der Adelserziehung zu gehen als um die göttliche Führung im persönlichen Leben und Geschick Telemachs. Deren besonderer, in diesem Fall erzieherischer Sinn wird jedoch nicht dadurch zweifelhaft, daß Athene auch sonst in der Odyssee beständig eingreift, 'also' nur ein Mittel der epischen Technik ist, wie F. Jacoby a. O . 169 gegen Pfeiffer einwendet. Das Göttliche wirkt im Leben in sehr verschiedener Gestalt ein.

[U57]

57

jugendlichen Kräfte aus dumpfer Gebundenheit zu froher Aktivität entfaltenden Wirkung jeder wahren Erziehungstat ein göttlicher Anstoß, ein natürliches Wunder liegt. Wie Homer in dem Versagen des Erziehers vor der letzten und schwersten Aufgabe, den Sinn des dem Schicksal geweihten Achilleus zu beugen, die Gegenwirkung des Dämons erkennt, so verehrt er fromm in dem glücklichen Wandel Telemachs vom unschlüssigen Jüngling zum wahren Helden das Werk einer göttlichen Charis. Auf allen seinen Höhepunkten ist das erzieherische Bewußtsein und Tun der Griechen sich dieses unwägbaren Moments voll bewußt. Es sind die großen Aristokraten Findar und Plato, bei denen wir es am deutlichsten wieder antreffen. Athene selbst bezeichnet die Ansprache, die sie in Gestalt des Mentes im ersten Gesang an Telemach richtet, ausdrücklich als erzieherische Mahnrede 1 . Sie läßt in Telemach den Entschluß reifen, sein Recht selbst in die Hand zu nehmen, den Freiern offen gegenüberzutreten, sie vor aller Öffentlichkeit in der Agora für ihr Tun verantwortlich zu machen und Unterstützung fiir den Plan seiner Erkundigung nach dem verschollenen Vater zu fordern. In wirkungsvollem Wechsel von anfanglichem Fehlschlag und neuem Anlauf läßt ihn der Dichter dann nach dem Mißlingen der Versammlung auf eigene Faust heimlich die gefahrvolle Fahrt wagen, deren Erlebnisse ihn zum Manne machen sollen. In dieser 'Telemachu Paideia' fehlt kein wesentlicher Zug: die Ratschläge eines erfahrenen älteren Freundes und Beraters; der mehr weiche gefühlvolle Einfluß der um ihr einziges Kind ängstlich besorgten Mutter, die im entscheidenden Augenblick nicht gefragt werden kann, weil sie gar nicht im Stande sein würde, dem plötzlichen höheren Aufschwung des lange genug behüteten Sohnes zu folgen, sondern ihn mit ihren Befürchtungen nur hemmen könnte; dann das Vorbild des früh verlorenen Vaters, das als Hauptfaktor wirkt; die Reise ins Ausland an befreundete Höfe, das Kennenlernen neuer Menschen und Verhältnisse; der ermutigende Zuspruch und das gütige Vertrauen bedeutender Männer, an denen Telemach emporsieht und denen er sich naht, um Rat und wenn möglich Hilfe 1 α 279 ύττοτίθΐσβαι, das Verbum zu ΰποβήκαι, welches das eigentliche Wort fiir 'Lehrrede' ist, vgl. P. Friedländer, Hermes 48 (1913) 571.

58

[I/58J

bei ihnen zu finden, die Gewinnung neuer Freunde und Gönner und die schützende Vorsicht einer ihm die Wege ebnenden göttlichen Macht, die gnädig ihre Hand über sein Leben hält und ihn in der Gefahr nicht verderben läßt. Mit warmer Sympathie schildert der Dichter die innere Befangenheit des auf seiner weltentlegenen kleinen Insel in landjunkerlich einfachen Verhältnissen aufgewachsenen, der großen Welt unkundigen jungen Mannes, wie er zum ersten Male hinauskommt und bei großen Leuten zu Gast ist, und an der Teilnahme, die alle ihm entgegenbringen, läßt er den Hörer fühlen, wie gute Gewöhnung und Zucht auch in gewagten und ungewohnten Lagen den unerfahrenen Jüngling nicht so leicht im Stiche lassen und des Vaters Name ihm den Weg ebnet. Bei einem Punkt müssen wir noch eingehender verweilen, weil er für die geistige Struktur des adligen Bildungsideals von besonderer Wichtigkeit ist, das ist die erzieherische Bedeutung des Vorbilds. Für die frühe Zeit, die weder kodifizierte Gesetze noch ein systematisches ethisches Denken kennt, gibt es außer den wenigen praktischen Geboten der Religion und der mündlich von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbenden Spruchweisheit keinen wirksameren Leitstern des eigenen Handelns als das Vorbild. Neben dem unmittelbaren Einfluß der Umgebung, vor allem des Elternhauses, der in der Odyssee bei den beiden jugendlichen Hauptgestalten des Telemach und der Nausikaa so sichtlich wirksam ist, steht der ganze Reichtum berühmter Beispiele aus der Überlieferung der Sage. Sie vertritt in dem sozialen Aufbau der archaischen Welt etwa die Stelle, die in unserer Welt die Geschichte einschließlich der biblischen einnimmt. Die Sage umfaßt den ganzen Schatz des geistigen Erbguts, aus dem jede neue Generation ihre Nahrung schöpft. Wie der Erzieher des Achilleus in der Ilias sich in seiner großen Mahnrede auf das warnende Beispiel vom Zorn des Meleagros beruft, so fehlt es auch bei der Erziehung Telemachs nicht an dem ermutigenden Vorbild, das für seine Lage paßt. Der Vergleich mit der Rache, die Orestes für seinen Vater an Aigisthos und Klytaimestra genommen hat, lag nahe genug. Auch sie war ein Stück der großen, an Einzelschicksalen reichen Tragödie von der Helden Heimkehr. Agamemnon war unmittelbar nach 11/59]

59

seiner Rückkehr von Troja erschlagen worden, Odysseus weilte nun schon zwanzig Jahre der Heimat fern: dieser Zeitabstand genügte, um es dem Dichter möglich zu machen, die Tat Orests und seinen ihr voraufgehenden Aufenthalt in Phokis vor den Beginn der Odysseehandlung zu setzen. Sie ist erst vor kurzem geschehen, aber schon verbreitet sich Orests Ruhm über die Erde und wird dem Telemach von Athene mit anfeuernden Worten vorgehalten. Während im allgemeinen die Beispiele der Sage durch ihr ehrwürdiges Alter an Autorität gewinnen — Phoinix beruft sich in seiner Rede 1 an Achilleus gerade auf das Ansehen der Vorzeit und ihrer Helden — liegt im Falle des Orest und Telemach das Zwingende des Beispiels umgekehrt in der Ähnlichkeit der beiden sich zeitlich so nahestehenden Situationen. Der Dichter legt offenbar den größten Wert auf das Motiv des Vorbilds. „Du darfst nun nicht länger wie ein Kind dahinleben", sagt Athene zu Telemach, „denn du bist zu alt dazu. Hörst du nicht, welchen Ruhm Orestes in der ganzen Welt geerntet hat, weil er den hinterlistigen Mörder Aigisthos tötete, der seinen Vater erschlagen hatte? Auch du, Freund — ich sehe, du bist schön und stattlich — hast Kraft genug, auf daß dich einst die später Geborenen preisen" 2. Ohne das Vorbild würde die Unterweisung der Athene der überzeugenden Norm entbehren, auf die sie sich gründen kann. Gerade in dem heiklen Falle der Gewaltanwendung ist die Berufung auf ein berühmtes Muster doppelt notwendig, um auf den zarten Jüngling Eindruck zu machen. Schon in der Götterversammlung hat der Dichter das sittliche Problem der Vergeltung absichtlich durch Zeus selbst an dem Beispiel des Aigisth und Orest erläutern lassen3, wodurch dem spätereh Hinweis Athenes auf Orest auch in den Augen des kritischen Hörers jede Spur moralischer Fragwürdigkeit genommen war. Die unentbehrliche Bedeutung, die dem Vorbild-Motiv in der Erziehung Telemachs zu seiner schicksalschweren Sendung zukommt, tritt auch im weiteren Verlauf der Handlung immer wieder hervor, so in der Rede Nestors an Telemach 4 , wo der ehrwürdige Greis sich mitten in seiner Erzählung von den Schicksalen Agamemnons und seines 1

60

I 524—37

1

β ag8

9

α 32—47

' γ 195—aoo [1/60]

Hauses unterbricht, um Orest dem Telemach als Vorbild hinzustellen, und dieser ihm mit dem Ausruf antwortet: „ M i t Recht hat Orest Rache genommen, und die Achäer werden seinen Ruhm weit und breit verkünden, künftigen Geschlechtern zum Gesang. Wenn doch die Götter auch mir solche Kraft verliehen, daß ich an den Freiern Rache üben könnte für ihre schmähliche Rechtsübertretung". Das gleiche Vorbild-Motiv wiederholt sich am Schluß der Erzählung Nestors 1 , es ist also am Schlüsse beider Hauptteile seiner langen Rede mit scharfer Betontheit, jedesmal mit ausdrücklicher Anwendung auf Telemach verwendet. Es liegt natürlich Absicht in dieser Wiederholung. Die Berufung auf das Vorbild berühmter Helden und auf das Beispiel der Sage überhaupt und in jeder Form ist für den Dichter ein integrierender Bestandteil aller Adelsethik und -Erziehung. Auf den Wert dieser Tatsache für die Wesenserkenntnis des epischen Gesanges und seiner Verwurzelung in der Struktur der archaischen Gesellschaft wird noch zurückzukommen sein. Aber auch für den griechischen Menschen der späteren Jahrhunderte hat das Paradeigma sfeine Bedeutung als Grundkategorie des Lebens und Denkens stets behauptet 2 . Es sei nur auf Pindars Gebrauch der mythischen Beispiele vorausgedeutet, die ein so wesentliches Element seiner Siegesgesänge sind. Man ginge fehl, wollte man diesen Gebrauch, der in die gesamte Poesie und zum Teil auch in die Prosa der Griechen übergegangen ist 3 , als eine bloß stilistische Erscheinung deuten. Er hängt eng mit dem Wesen der altadligen Ethik zusammen und war auch in der Poesie ursprünglich in seiner erzieherischen Bedeutung noch durchaus lebendig. Bei Pindar zumal bricht der echte alte Sinn des mythischen Paradeigma wieder durch. Und bedenkt man endlich, daß Piatos ganzes Denken seiner innersten Struktur nach γ 306—316 Ich beabsichtige, diese Denkform in einer eigenen Untersuchung in ihrer historischen Entwicklung zu verfolgen. 3 In der älteren griechischen Poesie verfolgt diesen Vorgang Robert Oehler, Mythologische Exempla in der älteren griechischen Dichtung, Diss. Basel 1925. E r ging aus von einer Anregung des alten G . W. Nitzsch, Sagenpoesie der Griechen (1852), doch den Zusammenhang der Stilerscheinung mit dem Vorbildgedanken der alten Adelsethik hat er nicht genügend beachtet. 1

2

/.1/61]

61

ein paradeigmatisches ist und daß er seine Idee bezeichnet als ein „Paradeigma, welches im Seienden gegründet ist", so ist die Herkunft dieser Denkform vollkommen deutlich. Es zeigt sich jetzt, daß das allgemeingültige 'Vorbild' der philosophischen Idee des 'Guten', richtiger des άγαθόν, auf der geraden Verlängerung der geistesgeschichtlichen Linie liegt, die vom Vorbildgedanken der alten adligen Arete-Ethik ausgeht. Die Entwicklung von der geistigen Form der homerischen Adelsbildung zur Philosophie Piatos, die über Pindar verläuft, ist durchaus organisch, bodenständig und notwendig. Sie ist nicht 'Evolution* in dem halb naturwissenschaftlichen Sinn des Wortes, wie die historische Forschung es zu verwenden pflegt, sondern Wesensentfaltung der Urform des griechischen Geistes, der in seiner Grundstruktur durch alle Phasen seiner Geschichte mit sich selbst identisch bleibt.

62

[U62]

HOMER ALS ERZIEHER Plato erwähnt als eine verbreitete Ansicht seiner Zeit, daß Homer der Erzieher ganz Griechenlands gewesen sei 1 . Seither hat sich der Kreis seiner Wirkung weit über die Grenzen von Hellas ausgedehnt. A n seiner Herrschaft hat selbst die leidenschaftliche philosophische Kritik Piatos nicht zu rütteln vermocht, wenn sie auch der Welt eine dauernd fortbestehende Einschränkung der erzieherischen Geltung aller Poesie zum Bewußtscin gebracht hat. Die Auffassung des Dichters als Erzieher seines Volkes — im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes — ist den Griechen von Anfang an geläufig gewesen und hat stets ihre Bedeutung für sie bewahrt. Homer ist nur das großartigste Beispiel dieser allgemeinen Anschauung, sozusagen ihr klassischer Fall. Wir tun gut, diese Auffassung so ernst wie möglich zu nehmen und sollten uns nicht das Verständnis griechischer Poesie dadurch schmälern, daß wir an die Stelle des eigenen Urteils der Griechen das moderne Dogma von der Autonomie der rein ästhetischen Betrachtung der Kunst setzen. Wenn es auch für gewisse Arten und Zeitalter der bildenden Kunst und der Poesie kennzeichnend ist, von der griechischen Dichtung und ihren größten Vertretern ist es jedenfalls nicht abstrahiert, daher ist es auf sie auch nicht anwendbar. Für das ursprüngliche griechische Denken ist es charakteristisch, daß das Ästhetische noch nicht vom Ethischen geschieden ist. Erst relativ spät setzt dieser Prozeß ein. Noch für Plato ist mit der Einschränkung des Wahrheitsgehalts der homerischen Gedichte unmittelbar eine Verminderung ihres 1 Plat. Pol. 606 E denkt dabei an die 'Verehrer des Homer", die ihn nicht nur zu künstlerischem Genuß, sondern als Lebensführer lasen. D i e gleiche Ansicht schon bei Xenophanes frg. g Diehl.

[1/63]

63

Wertes verbunden. Erst die antike Rhetorik hat die formale Betrachtung sehr gefordert, und schließlich hat das Christentum die rein ästhetische Bewertung der Poesie zur herrschenden geistigen Haltung gemacht, denn sie ermöglichte es, den ethischen und religiösen Gehalt der antiken Dichter großenteils als irrig und gottlos zu verwerfen, aber die klassische Form als unentbehrliches Mittel der Erziehung und als Quelle des Genusses anzuerkennen. Die Poesie hat seither zwar nicht aufgehört, die Götter und Heroen der heidnischen 'Mythologie' am ihrer Schattenwelt wieder ans Licht zu beschwören, aber diese Welt ist jetzt von vornherein als unwirkliches Spiel der bloßen künstlerischen Phantasie charakterisiert. Es liegt uns nahe, an Homer mit ähnlich verengerter Perspektive heranzutreten, aber damit versperren wir uns den Zugang zum Verständnis des Mythos und der Poesie in ihrem echten hellenischen Sinne. Es ist gewiß abstoßend für uns, wie die spätere philosophische Poetik des Hellenismus das Erziehertum Homers als rationalistisch-dürres fabula docet interpretiert oder nach dem Muster der Sophisten aus dem Epos eine Enzyklopädie aller Künste und Wissenschaften macht. Allein diese Ausgeburt der Scholastik ist nichts als die Entartung eines an sich richtigen Gedankens, der sich wie alles Schöne und Wahre in groben Händen vergröbern muß. Mag ein solcher Utilitarismus unserem Kunstgefuhl mit Recht zuwider sein, so bleibt es doch selbstverständlich dabei, daß Homer wie alle großen Dichter der Griechen kein bloßer Gegenstand der formalen Literaturgeschichte ist, sondern als erster und größter Schöpfer und Gestalter des griechischen Menschentums gewürdigt werden muß. Hier stellen sich gewisse Bemerkungen über die erzieherische Wirkung der griechischen Poesie im allgemeinen ein, die sich im Falle des Homer besonders aufdrängen. Eine solche Wirkung übt die Poesie nur, wo das Ganze der ästhetischen und ethischen Kräfte des Menschen in ihr zu Wort kommt. Das Verhältnis der ästhetischen Seite zur ethischen besteht aber nicht nur darin, daß das Ethische mit irgendeinem 'Stoff' akzidentiell gegeben ist, ohne fur die eigentliche künstlerische Absicht wesentlich zu sein, sondern der normative Gehalt und die künstlerische Form des Kunstwerks stehen miteinander in Wechselwirkung, ja in engster Wurzelgemeinschaft. Wir werden zeigen, wie gerade der Stil, 64

[U64J

die Komposition, die Form in jedem Sinne in ihrer spezifisch ästhetischen Beschaffenheit bedingt und erfüllt ist von den geistigen Gehalten, die sie verkörpert. Freilich darf man aus dieser Einsicht nicht sofort ein allgemeines ästhetisches Gesetz machen. Es gibt eine Kunst — und hat sie zu allen Zeiten gegeben — die an den zentralen Fragen des Menschlichen vorübergeht und die rein aus ihrem Formideal verstanden werden muß, ja selbst eine Kunst, die jedes sogenannten höheren Gehalts spottet oder sich doch zu ihrem Objekt inhaltlich indifferent verhält. Wir sehen hier ab von jener bewußten künstlerischen Frivolität, die ihrerseits wieder 'ethisch' wird, dadurch daß sie konventionelle Scheinwerte rücksichtslos entlarvt, also kritisch reinigend wirkt. Erzieherisch im eigentlichen Sinne kann nur eine Poesie sein, deren Wurzeln in die tieferen Schichten menschlichen Seins hinabreichen, in der ein Ethos, ein höherer Schwung der Gesinnung, ein Menschen verbindendes und verpflichtendes Bild des Menschlichen lebt. Gerade für die hohe Poesie der Griechen gilt aber, daß sie nicht nur ein beliebiges Stück Wirklichkeit gibt, sondern den Ausschnitt des Daseins, den sie bietet, im Hinblick auf ein bestimmtes Ideal auswählt und betrachtet. Anderseits werden auch die höchsten Werte meist erst durch ihre künstlerische Verewigung für die Menschen zu Eindrücken von bleibender Geltung und gemütbewegender Macht. Die Kunst hat in sich eine unbegrenzte Fähigkeit der geistigen Übertragung, der Psychagogie, wie die Griechen sagten. Nur sie besitzt gleichzeitig jene Allgemeingültigkeit und erlebnishaft unmittelbare Sinnfälligkeit, die die beiden wichtigsten Bedingungen der erzieherischen Wirkung sind. Sie übertrifft durch die Vereinigung dieser beiden Arten der geistigen Wirkung sowohl das wirkliche Leben wie die philosophische Reflexion. Das Leben hat Sinnfälligkeit, aber seine Erlebnisse entbehren der Allgemeingültigkeit, sie sind zu sehr mit Zufalligem untermischt, als daß die Lebhaftigkeit der empfangenen Eindrücke immer den letzten Grad der Tiefe erreichen könnte. Die Philosophie und Reflexion anderseits erhebt sich zwar zur Allgemeinheit und dringt bis zum Wesen der Dinge vor, aber sie wirkt erst auf den, der ihren Gedanken kraft seiner eigenen Erfahrung die innere Intensität des Selbsterlebten zu geben vermag. So ist die Poesie gegenüber [U65]

65

aller bloßen Vcrstandesbelehrung und allen allgemeinen Vernunftwahrheiten, aber auch gegenüber'der bloßen zufalligen Lebenserfahrung des Einzelnen stets im Vorteil. Sie ist philosophischer als das reale Leben (wenn es gestattet ist ein bekanntes Wort des Aristoteles sinngemäß zu erweitern), sie ist aber auch lebensvoller als die philosophische Erkenntnis durch ihre konzentrierte geistige Realität. Diese Betrachtungen gelten keineswegs für die Poesie aller Zeiten, nicht einmal ausnahmslos für die der Griechen, sie sind in ihrer Geltung anderseits auch nicht auf diese beschränkt; aber sie treffen auf keine Poesie der Welt so sehr zu wie auf diejenige, aus der sie gewonnen sind. Wir geben mit ihnen im wesentlichen nur die Ansicht wieder, die das zur philosophischen Selbsterkenntnis erwachte griechische Kunstgefühl in der Zeit des Plato und Aristoteles an der großen Poesie des eigenen Volkes entwickelt hat. Trotz mancher Variationen im einzelnen ist sich die Kunstauffassung der Griechen auch später in dieser Beziehung im allgemeinen gleich geblieben, und da sie entstanden ist zu einer Zeit, wo noch ein lebendiger Sinn für Poesie und für das spezifisch Hellenische in ihr existierte, so ist es historisch berechtigt und notwendig, nach ihrer Geltung fìir Homer zu fragen. Es gibt kein Zeitalter, dessen idealer Gehalt in so umfassender und zugleich künstlerisch allgemeingültiger Weise zur Form und damit zur höchsten bildenden Wirkung auf die Nachwelt gelangt ist wie dasjenige, dessen Herold Homer ist. Das Epos vermag wie keine andere Dichtung die Einzigartigkeit des Erziehertums der Griechen zu offenbaren. Für die meisten späteren Geistesformen der griechischen Literatur haben die übrigen Völker aus sich selbst überhaupt keine Parallele erzeugt. Die modernen Kulturvölker kommen in ihren Besitz durchweg erst durch die Übernahme der antiken Form. So kamen zu uns Tragödie, Komödie, philosophische Abhandlung, Dialog, systematische wissenschaftliche Lehrschrift, kritische Geschichtschreibung, Biographie, gerichtliche, festliche und politische Rede, Reisebeschreibung, Memoiren, Briefsammlung, Lebensbekenntnis, Selbstbetrachtung und Essay. Dagegen findet sich auch bei anderen Völkern auf gleicher Entwicklungsstufe eine dem frühen Griechentum vergleichbare soziale Schichtung in Adel und Volk, ein aristokratisches Mannesideal und eine 66

[1/66]

bodenständige Kunst des Heldengesangs als Ausdruck einer vorherrschenden heroischen Lebensauffassung. Aus dem Heldengesang ist auch sonst mehrfach ebenso wie bei den Griechen ein Epos erwachsen, so bei den Indern, Germanen, Romanen, Finnen und bei manchen Nomadenvölkern Zentralasiens. Wir sind also imstande, die epische Poesie bei Stämmen von verschiedenster Rasse und Kulturbedeutung zu vergleichen und das Besondere der griechischen Epik zu erkennen. Es ist zwar oft bemerkt worden, wie stark die Ähnlichkeiten all dieser Gedichte sind, insofern sie auf derselben Stufe der anthropologischen Entwicklung stehen. Die primitiven Züge teilt die griechische Heldendichtung der ältesten Zeit mit den übrigen Völkern. Aber das betrifft nur das Äußere, Zeitbedingte dieser Kunst, nicht den Reichtum ihrer menschlichen Substanz und die Kraft ihrer künstlerischen Form. Was die heroische Stufe des menschlichen Daseins, die trotz allem bürgerlichen 'Fortschritt' in ihrem Kern unvergänglich ist, an allgemeinem Schicksalssinn und bleibender Lebenswahrheit in sich birgt, hat die Epik keines Volkes in ähnlich erschöpfender und weittragender Gestaltung ausgeprägt wie die griechische. Auch eine menschlich so hoch und uns blutmäßig so nahe stehende Heldendichtung wie die der germanischen Völker läßt sich an Weite und Nachhaltigkeit der Wirkung nicht mit Homer vergleichen. Den Unterschied seiner geschichtlichen Stellung im Leben seines Volkes von der Rolle des mittelalterlichen germanischen und altfranzösischen Epos veranschaulicht die Tatsache, daß Homers Wirkung während eines vollen Jahrtausends griechischer Kultur niemals unterbrochen worden ist, während die mittelalterlichen höfischen Epen nach dem Untergang der ritterlichen Welt bald vergessen wurden. Die lebendige Geltung Homers erzeugte in hellenistischer Zeit, wo man alles wissenschaftlich ergründete, eine eigene Wissenschaft zur Erforschung seiner Überlieferung und der ursprünglichen Gestalt seiner Gedichte, die Philologie, die ihr Leben ausschließlich aus der unvergänglichen Lebenskraft ihres Gegenstandes schöpfte. Die in den verstaubten Handschriften der Bibliotheken schlummernde mittelalterliche Epik des Rolandslieds, des Beowulf, der Nibelungen mußte umgekehrt erst durch die schon vorhandene Gelehrsamkeit wieder entdeckt und ans Licht gezogen werden. [U67]

67

Dantes göttliche Komödie ist das einzige Epos des Mittelalters, das für immer einen Platz im Leben nicht nur der eigenen Nation, sondern der Menschheit errungen hat. Der Grund ist derselbe wie bei Homer. Dantes Gedicht ist wahrlich zeitbedingt, aber die Tiefe und Universalität seines Menschenbildes und seiner Seinserfassung erheben es auf eine Stufe, die der englische Geist erst in Shakespeare, der deutsche in Goethe erreicht hat. Gerade auf früher Stufe ist der dichterische Ausdruck eines Volkes naturgemäß besonders stark national bedingt. Das Verständnis anderer Völker und späterer Zeiten für seine Eigenart ist daher notwendig begrenzt. Nur da erhebt sich das Bodenständige, ohne das es keine echte Poesie gibt, zu universaler Geltung, wo es zugleich den höchsten Grad menschlicher Allgemeingültigkeit erreicht. Wie einzigartig muß in den Griechen die Fähigkeit sein, das alle Bindende und fur alle Wirksame zu erkennen und zu gestalten,, wenn Homer, der als erster am Eingang ihrer Geschichte steht, der Lehrer der ganzen Menschheit geworden ist. Homer ist der Repräsentant der frühgriechischen Kultur. Als die 'Quelle' unserer historischen Kenntnis der ältesten griechischen Gesellschaft haben wir ihn gewürdigt. Aber die Verewigung der ritterlichen Welt im Epos ist mehr als eine unwillkürliche Spiegelung der Realität in der Kunst. Diese Welt großer Forderungen und Überlieferungen ist die Sphäre des höheren Lebens, an der die homerische Dichtung gesogen hat und von der sie sich nährt. Das Pathos der heldischen Schicksalsgröße des kämpfenden Mannes ist der geistige Atem der Ilias, und das menschliche Ethos der adligen Kultur und Sitte gibt der Odyssee als Dichtung ihr Leben. Die Gesellschaft, die diese Lebensform erzeugt hatte, mußte vergehen, keine geschichtliche Kunde zeugt mehr von ihr, aber ihr Idealbild dauerte in der dichterischen Verkörperung Homers fort als lebendige Grundlage aller hellenischen Bildung. Ein Wort Hölderlins sagt: „Was bleibet aber, stiften die Dichter". Der Vers drückt das Grundgesetz der griechischen Bildungsgeschichte aus. Ihre Bausteine sind die Dichterwerke. Von Stufe zu Stufe erfüllt die Poesie der Griechen sich in zunehmendem Maße mit bewußt erzieherischem Geist. Gerade hier könnte man die Frage aufwerfen, ob die völlig objektive Haltung des Epos mit einem solchen Willen vereinbar ist. Wir haben in der vorangehen68

[I/68J

den Analyse der Gesandtschaft an Achill und der Telemachie bereits an konkreten Beispielen gezeigt, daß eine tiefe erzieherische Gesinnung sich in diesen Gesängen ausspricht. Aber offenbar ist der Begriff der erzieherischen Größe Homers weit allgemeiner zu fassen. Sie beschränkt sich nicht auf die ausdrückliche Behandlung erzieherischer Probleme oder auf Stellen, die eine ethische Wirkung erstreben. Das Dichtertum der homerischen Epen ist eine geistig komplizierte Größe, die sich nicht auf eine einzige Formel bringen läßt, und neben den verhältnismäßig jungen Partien, die ein so ausgesprochen pädagogisches Interesse verraten, stehen anders geartete Stücke, deren schlicht an den Gegenstand hingegebenes Erzählertum jeden Gedanken an eine ethische Nebenabsicht des Dichters fernhält. In dem neunten Gesang der Ilias oder in der Telemachie tritt uns eine geistige Haltung entgegen, die durch ihren subjektiv bewußten und gedankenmäßig begründeten Wirkungswillen schon der Elegie näher kommt. Davon müssen wir ein anderes, sozusagen objektives Erziehertum unterscheiden, das nichts mit der persönlichen Absicht des Dichters zu tun hat, sondern im Wesen des epischen Gesanges selbst liegt. Es führt uns aus jenen relativ jungen Zeiten bis in die Uranfänge der Gattung zurück. Homer gibt mehrfach Bilder des alten Aödentums, aus dessen Kunstüberlieferung das Epos erwachsen ist. Der Beruf des Sängers ist, die Erinnerung an die „Taten der Menschen und Götter" im Gedächtnis der Nachwelt wach zu erhalten Der Ruhm und seine Erhaltung und Mehrung ist der eigentliche Sinn des Heldensanges. Die alten Heldenlieder werden mehrfach geradezu als „Rühme der Männer" bezeichnet 2 . Dem Sänger im ersten Buche der Odyssee gibt der Dichter, der redende Namen liebt, den Namen Phemios d. h. Bringer der Kunde, Künder des Ruhms. In dem Namen des phäakischen Sängers Demodokos liegt der Hinweis auf die Öffentlichkeit seines Berufs. Der Sänger hat, eben weil er der Künder des Ruhms ist, seine feste Stellung in der Gemeinschaft der Menschen. Plato zählt unter den schönen Wirkungen des gottgesandten Wahnsinns die dichterische Ekstase auf und beschreibt in diesem Zusammenhang das Urphänomen 1

2

α 337

κλέα άνδρών I 189, 524, θ 73

[11691

69

des Dichters „Musische Besessenheit und Wahnsinn ergreift eine zarte und geweihte Seele, erweckt sie und verzückt sie enthusiastisch in Liedern und aller Art dichterischer Schöpfung, und indem sie unzählige Taten der Vorzeit verherrlicht, erzieht sie die Nachwelt". Diese Auffassung ist die urhellenische. Sie geht aus von der naturnotwendigen, unlösbaren Bindung aller Poesie an den Mythos, die Kunde von den großen Taten der Vorwelt, und leitet daraus die soziale, gemeinschaftbildende Funktion des Dichters, sein £rziehertum ab. Es besteht fur Plato nicht in irgendeiner bewußten Absicht, den Hörer zu beeinflussen, sondern die Lebendigerhaltung des Ruhmes im Gesang ist schon an sich ein erzieherisches Tun. Wir müssen uns hier an das erinnern, was wir über die Bedeutung des Vorbilds für die homerische Adelsethik ausgeführt haben. Es ist dort auch der erzieherischen Bedeutung der aus dem Mythos geschöpften Beispiele gedacht worden, wie sie Phoinix dem Achilleus, Athene dem Telemach als Warnung oder Ansporn vorhält. Der Mythos hat an sich diese normative Bedeutung, auch ohne daß er ausdrücklich als Vorbild oder Beispiel angeführt zu werden braucht. Er wird nicht erst durch den Vergleich irgendeines Falles, den das Leben darbietet, mit einem entsprechenden mythischen Vorkommnis exemplarisch, sondern er ist es seiner Natur nach. Er ist Ruhm, Kunde des Großen und Erhabenen, das die Überlieferung der Vorzeit berichtet, nicht ein beliebiger Stoff. Das Ungemeine verpflichtet, schon durch die bloße Anerkennung der Tatsache. Der Sänger aber berichtet nicht nur Tatsachen, er preist und lobt, was lobens- und preiswert in der Welt ist. Wie die Helden Homers schon zu ihren Lebzeiten ihre Ehre für sich fordern und stets darauf bedacht sind, sich gegenseitig die Achtung zu zollen, die jedem gebührt, so dürstet jede echte Heldentat nach ewigem Ruhm. Der Mythos, die Heldensage ist der unerschöpfliche Vorrat an Vorbildern, den die Nation besitzt und aus dem ihr Denken seine Ideale und Normen für das eigene Leben schöpft. Daß Homer dem Mythos so gegenübersteht, beweist der Gebrauch mythischer Paradigmata für alle denkbaren Situationen des Lehens, in denen ein Mensch dem andern ratend, warnend, mahnend, anfeuernd, verbietend oder 1

70

Plat. Phaedr. 245 A [1/70]

befehlend gegenübertritt. Der Gebrauch findet sich bezeichnenderweise nicht in der Erzählung, sondern stets in den Reden der epischen Personen. Der Mythos dient dort stets als maßgebende Instanz, an die der Redende appelliert. Es wohnt ihm also etwas Allgemeingültiges inne, er ist nicht von bloß faktischem Charakter, obgleich er zweifellos ursprünglich einmal der Niederschlag geschichtlicher Ereignisse war, die sich in der ausschmückenden Phantasie der Nachwelt durch lange Uberlieferung und verherrlichende Deutung zur Überlebensgröße gesteigert haben. Nicht anders ist die Bindung der Poesie an den Mythos zu verstehen, die für die Griechen ein feststehendes Gesetz ist. Sie hängt eben mit dem Ursprung der Poesie aus dem Heldengesang zusammen, mit der Idee des Ruhmes, des Heldenlobes und der Heldennachahmung. Außerhalb des Bereichs der großen Poesie gilt das Gesetz nicht, höchstens findet sich Mythisches als idealisierendes Stilelement in anderen Gattungen wie in der Lyrik eingestreut. Das Epos jedoch ist von Hause aus eine ideale Welt, das Element der Idealität wird eben in dem frühgriechischen Denken durch den Mythos repräsentiert. Diese Tatsache wirkt sich im Epos bis in alle Einzelheiten des Stils und Aufbaus aus. Eine der charakteristischen Eigentümlichkeiten der epischen Dichtersprache ist der stereotype Gebrauch der schmückenden Beiwörter. Er ist unmittelbar aus dem urtümlichen Geist der alten κλέα ανδρών entsprungen. In unserem Großepos, welchem schon eine lange Entwicklung des Heldengesanges voraufgegangen war, ist der Gebrauch dieser Epitheta vielfach schon nicht mehr lebendig, er wird durch die Konvention des epischen Stils gefordert. Die einzelnen Beiwörter werden nicht mehr immer in charakteristischem Sinne verwendet, sondern sind großenteils ornamental geworden, ein unentbehrliches Element des seit Jahrhunderten feststehenden Gepräges dieser Kunst, das auch an solchen Stellen auftritt, wo es nicht hingehört oder gar störend wirkt. Die Beiwörter sind jetzt zum bloßen Ingrediens der idealen Sphäre geworden, in die alles erhoben wird, was die epische Erzählung berührt. Auch über den Gebrauch der Epitheta hinaus, in Beschreibungen und Schilderungen herrscht dieser preisende, verherrlichende und verklärende Ton. Alles Niedrige, Verächtliche und Häßliche ist in der epi[1/71]

71

sehen Welt wie ausgelöscht. Schon die Alten bemerken, dafi Homer alles, auch die an sich gleichgültigsten Dinge, in diese Sphäre versetzt. Dion von Prusa, der sich des tieferen Zusammenhanges des lobenden Stils mit dem Wesen des Epos wohl kaum noch deutlich bewußt war, stellt Homer in Gegensatz zu dem Tadler Archilochos und meint, die Menschen brauchten zu ihrer Erziehung den Tadel nötiger als das Lob 1 . Sein Urteil interessiert uns hier weniger, da es einem der alten Adelserziehung und ihrem Vorbildkultus konträr entgegengesetzten, pessimistischen Gesichtspunkt entspringt. Seine andersartigen sozialen Voraussetzungen werden wir später kennenlernen. Aber den Tatbestand des epischen Stils und seiner idealisierenden Tendenz kann man gar nicht treffender beschreiben als mit den Worten des für diese formalen Dinge feinfühligen Rhetors. „Homer", schreibt er, „hat fast alles gepriesen, Tiere und Pflanzen, Wasser und Erde, Waffen und Rosse. An nichts, so kann man sagen, vermag er vorüber zu gehen ohne Lob und Preis, sobald er es erwähnt. J a selbst den einzigen von allen, den er geschmäht hat, Thersites, nennt er einen hellstimmigen Redner." Die idealisierende Tendenz des Epos, die mit seiner Herkunft aus dem alten Heldengesang zusammenhängt, unterscheidet es von anderen Literaturformen und gibt ihm in der Geschichte der griechischen Bildung seine bevorzugte Stellung. Alle Gattungen der griechischen Literatur sind hervorgegangen aus den naturhaften Urformen des menschlichen Ausdruckslebens, so ist das Melos entstanden aus dem Volkslied, dessen Formen es variiert und kunstreich fortbildet, der Iambos aus der gleichnamigen dionysischen Festsitte, Hymnos und Prosodion aus dem Gottesdienst, das Epithalamion aus volkstümlichem Hochzeitsbrauch, die Komödie aus dem Komos und die Tragödie aus dem Dithyrambos. Wir können die Urformen, aus denen die Kunstgattungen der Poesie sich entfaltet haben, einteilen in solche, die dem Gottesdienst angehören, andere, die aus dem menschlichen Privatleben und solche, die aus dem Leben der Gemeinschaft entsprungen sind. Den poetischen Ausdrucksformen, welche privaten oder kultischen Ursprungs sind, liegt — jedenfalls von Hause aus — das erzieherische Moment fern. Dagegen der Heldengesang ist 1

72

Dio Prus. or. XXXIII Ii [1/72]

seinem Wesen nach idealbildend, auf die Schaffung heroischer Vorbilder gerichtet. Er steht an erzieherischer Bedeutung in weitem Abstände allen anderen Arten der Poesie voran, gerade dadurch daß er objektiv das Ganze des Lebens spiegelt und den Menschen im Ringen mit dem Schicksal und um ein hohes Ziel zeigt. In den Spuren des Epos wandelte das Lehrgedicht und die Elegie, die ihm beide auch der Form nach nahe verwandt sind. Der erzieherische Geist greift vom Epos auf sie über, später auch auf andere Arten wie den Iambos und das Chorlied. Die Tragödie vollends ist wie im mythischen Stoff so im Geiste ganz die Nachfolgerin des Epos. Nur dem Zusammenhang mit dem Epos, nicht ihrer dionysischen Herkunft verdankt die Tragödie ihre ethischerzieherische Würde. Erwägt man noch, daß auch die großen als Bildungsmächte wirksamen Formen der Prosa wie Geschichtschreibung und philosophische Abhandlung direkt aus der weltanschaulichen Auseinandersetzung mit dem Epos erwachsen sind, so darf man sagen, daß das Epos schlechthin die Wurzel aller höheren griechischen Bildung ist. Wir versuchen nun das normative Element auch im inneren Aufbau des Epos aufzuzeigen. Dafür gibt es scheinbar zwei Wege. Entweder geht man von der vorliegenden abgeschlossenen Form des Gesamtepos aus, ohne auf die Ergebnisse und Fragestellungen der wissenschaftlichen Homer-Analyse irgendwelche Rücksicht zu nehmen, oder wir erschweren uns unseren Weg, indem wir uns im Dickicht der Entstehungshypothesen hoffnungslos verstricken. Beides wäre vom Übel, wir schlagen deshalb einen mittleren Weg ein, der der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung des Epos im Prinzip gerecht wird, aber uns nicht zwingt bis in alle Einzelheiten zu zeigen, wie die Analyse sich unter unserem Gesichtspunkt gestaltet. Unhaltbar ist in jedem Falle auch für den Standpunkt des absoluten Agnostizismus in diesen Fragen eine Betrachtungsweise, die den klaren Tatsachen der Vorgeschichte des Epos nicht wenigstens grundsätzlich Rechnung trägt. Dieser Umstand trennt uns von der antiken Homerauffassung, die, wo sie vom Erziehertum des Dichters spricht, immer sogleich das Ganze der Ilias und Odyssee im Auge hat. Das Ganze muß naturgemäß auch für den modernen Interpreten das Ziel bleiben, selbst wenn die Analyse ihn belehren sollte, daß dieses Ganze erst [U73]

73

der spätere Abschluß der ununterbrochenen dichterischen Arbeit von Generationen an dem unerschöpflichen Stoffe ist. Aber wer überhaupt mit der Möglichkeit rechnet — und das tun wir alle — daß das werdenae Epos ältere Gestaltungen der Sage in mehr oder weniger veränderter Form sich einverleibt hat, ebenso wie auch das fertige Epos noch jüngere Einschübe ganzer Gesänge in sich aufgenommen hat, der muß den Versuch machen, sich die Vorstufen so greifbar wie möglich vorzustellen. Die Ansicht, die man sich von der Natur des ältesten Heldengesanges gebildet hat, muß auf diese Vorstellung von wesentlichem Einfluß sein. Unsere Grundanschauung vom Ursprung der Epik aus uralten Heldenliedern, wie sie auch bei anderen Völkern als früheste Uberlieferung erwähnt werden, legt uns die Annahme nahe, daß die Schilderung von Einzelkämpfen, die Aristie, die mit dem Siege eines berühmten Helden Uber einen bedeutenden Gegner endigt, die älteste Form des epischen Gesanges gewesen ist. Die Einzelkampferzählung ist liir das menschliche Interesse ausgiebiger als die Darstellung von Massenschlachten, denen die volle Anschaulichkeit und innere Lebendigkeit leicht abgeht. Auch die Massenkampischilderung kann nur durch breitere Ausgestaltung von Episoden, in denen einzelne große Helden hervortreten, unser Interesse erregen. Allein tiefere Anteilnahme erweckt stets die Einzelkampferzählung durch das Persönliche und Ethische darin, das sich in der Beschreibung von Massenschlachten schwer entfalten kann, und durch die stärkere innere Verbundenheit ihrer einzelnen Momente zur einheitlichen Kampfhandlung. Die Erzählung der Aristie eines einzelnen Helden enthält immer ein stark protreptisches Element. Episoden dieser Art finden sich nach epischem Vorbild noch in der späteren Geschichtschreibung. In der Ilias bilden sie die Höhepunkte der Kriegsschilderung. Es sind geschlossene Szenen, die auch als Teile des Gesamtepos noch eine gewisse Selbständigkeit bewahren und dadurch erkennen lassen, daß sie einmal Selbstzweck waren oder selbständigen Liedern nachgebildet sind. Der Dichter der Ilias löst die Kampfhandlung vor Troja auf in die Erzählung vom Zorn des Achilleus und seinen Folgen und in eine Anzahl selbständiger Einzelkämpfe, so die Aristie des Diomedes (E), des Agamemnon (Λ), des Menelaos (P), die Monomachie des Menelaos und Paris (Γ), des Hektor 74

[1/74]

und Aias (H), die alle mehr oder weniger in sich bedeutsame Episoden sind. An solchen Szenen hatte das Geschlecht, an das der Heldengesang sich wandte, seine Freude, in ihnen sah es den Spiegel seiner eigenen Ideale. Es ist das neue künstlerische Ziel des Großepos, durch die Einführung einer größeren Anzahl solcher Kampfszenen und durch ihre Verknüpfung zu einer einheitlichen Handlung nicht nur, wie es vorher üblich war, Einzelbilder aus einem als bekannt vorausgesetzten Gesamtgeschehen zu geben, sondern alle berühmten Helden zur Geltung kommen zu lassen. Durch die Zusammenfassung vieler z. T . schon in älteren Einzelliedern gefeierter Taten und Gestalten schafft der Dichter ein riesiges Gemälde, den Kampf um Ilios als Ganzes. Was er in dem Kampfe sieht, kündet sein Werk deutlich: es ist ein gewaltiger Agon der höchsten Arete so vieler unsterblicher Helden. Nicht nur der Griechen, denn auch ihre Gegner sind ein heldenhaft um seine Heimaterde und Freiheit ringendes Volk. „Ein weissagender Vogel ist gut, für die Heimat zu kämpfen", dieses Wort läßt Homer nicht einen Griechen, sondern den Helden der Troer sprechen, der für sein Vaterland fällt und dadurch so warme menschliche Züge gewinnt. Die großen Helden der Achäer verkörpern mehr das Heroische an sich. Vaterland, Weib und Kind sind Motive, die auf ihrer Seite zurücktreten. Es wird wohl gelegentlich gesagt, daß sie ausgezogen sind, um den Frauenräuber zur Rechenschaft zu ziehen, es wird auch der Versuch unternommen, durch direkte Verhandlung mit den Troern Helena wieder in die Gewalt ihres rechtmäßigen Gatten zu bringen und dadurch dem Blutvergießen Einhalt zu tun, wie es einem rationaleren politischen Denken nahelag. Aber von dieser Legitimation wird kein nennenswerter Gebrauch gemacht. Was an den Achäern die Sympathie des Dichters findet, ist nicht die Gerechtigkeit ihrer Sache, sondern ihr unvergänglich leuchtendes Heldentum. Von dem wogenden Hintergrund blutiger Heldensträuße hebt sich in der Ilias ein individuelles Schicksal von rein menschlicher Tragik ab, das Heroenleben des Achill. Die Achilleushandlung wird für den Dichter das innere Band, um die aneinander gereihten Kampfszenen zur poetischen Einheit zu ver[I/75J

75

binden. Der tragischen Gestalt des Achilleus verdankt es die Ilias, daß sie für uns nicht nur eine ehrwürdige Inkunabel urwelthaften Kriegergeistes ist, sondern ein unsterbliches Denkmal ewig menschlicher Lebenserkenntnis und Leidensgröße. Das Großepos bringt nicht nur einen ungeheuren Fortschritt in der Kunst der Komposition eines umfangreichen vielgliedrigen Ganzen, es bedeutet zugleich eine Vertiefung des inneren Gehalts, eine Wendung zum Problem, die die Heldendichtung über ihre ursprüngliche Sphäre emporhebt und dem Sänger eine ganz neue geistige Stellung, ein Erziehertum im höheren Sinne gibt. Aus einem unpersönlichen Künder des Ruhmes der Vorzeit und ihrer Taten wird er jetzt erst zum Dichter im vollen Sinne, zum schöpferischen Deuter der Überlieferung. Geistige Deutung und Gestaltung sind im Grunde eins und dasselbe. Es ist nicht schwer zu begreifen, daß die immer anerkannte überlegene Originalität des griechischen Epos in der Komposition eines einheitlichen Ganzen aus der gleichen Wurzel entspringt, aus der seine erzieherische Wirkung erwächst: aus seinem höheren geistigen Problemgehalt und Problembewußtsein. Die wachsende Freude an der Bewältigung großer Stoffmassen, die ein typischer Zug dieser letzten Entwicklungsstufe des epischen Gesanges ist und sich genau so bei anderen Völkern findet wie bei den Griechen, führt an sich noch nicht notwendig zur Kunst des Großepos hin, und selbst wo das geschieht, verfallt es in diesem Stadium leicht der Gefahr, in breite romanhafte Historienerzählung auszuarten, wo „vom Ei der Leda" an, beginnend mit der Geburtsgeschichte des Helden die alte Märe ermüdend berichtet wird. Die dramatisch konzentrierte, immer anschaulich das Geschehen vergegenwärtigende, „in medias res" gehende Darstellung des homerischen Epos arbeitet nur mit knappen Strichen. Statt einer Geschichte des trojanischen Krieges oder der ganzen Heldenlaufbahn des Achilleus gibt sie mit erstaunlicher Treffsicherheit nur die Krisis, einen Augenblick von repräsentativer Bedeutung und höchster dichterischer Fruchtbarkeit, der es ihr gestattet, den zehnjährigen Krieg mit all seinen Wechselfallen und Kämpfen, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges in einem kurzen Zeitraum zusammenzudrängen. Diese Fähigkeit haben schon die antiken Kunstkritiker mit Recht bewundert. Sie macht Homer 76

[H76J

für Aristoteles und Horaz nicht nur zum klassischen Epiker, sondern überhaupt zum höchsten Vorbild souveräner dichterischer Gestaltungskraft. Er treibt das bloß Historische aus, er entmaterialisiert das Geschehen und läßt sich das Problem ganz aus der ihm innewohnenden inneren Notwendigkeit entfalten. Die Uias setzt ein in dem Augenblick, wo Achill sich zürnend vom Kampf zurückzieht und die Griechen dadurch in höchste Not geraten, wo durch menschliche Kurzsichtigkeit und Schuld nach jahrelangem Kampf die Früchte aller Mühen kurz vor der Erreichung des Zieles verloren gehen, wo infolge des Ausfalls der größten Heldenkraft die übrigen griechischen Helden alle ihr Äußerstes leisten und sich im reinsten Glanz ihrer Tapferkeit zeigen, wo der Gegner, durch das Fernbleiben des Achilleus ermutigt, seine ganze furchtbare Kraft einsetzt und das Schlachtfeld siegreich behauptet, bis durch die wachsende Not der Seinen Patroklos bewogen wird einzugreifen und sein Tod durch Hektors Hand schließlich erreicht, was die Bitten und das Sühneangebot der Griechen nicht erreicht hatten: Achill greift' von neuem ein, um den gefallenen Freund zu rächen, er erschlägt Hektor, rettet die Griechen vor dem Untergang, bestattet mit wilder altertümlich barbarischer Totenklage den Freund und sieht nun dicht vor sich das gleiche Los. Als Priamos sich vor ihm im Staube windet, um die Leiche seines Sohnes bittend, da schmilzt auch des Peliden erbarmungsloses Herz in Tränen bei dem Gedanken an seinen eigenen alten Vater, der auch des Sohnes beraubt ist, schon jetzt, da er noch atmet. Schon der erschreckende Zornesausbruch des Helden, der das ganze festverkettete Geschehen des Epos motiviert, erscheint uns in dem gleichen gesteigerten Lichte, das seine Gestalt überall umgibt: kurzlebiges übermenschliches Heldentum eines herrlichen Jünglings, der bewußt einem langen rühmlosen Leben in Ruhe und Genuß den kurzen und steilen Aufstieg eines heroischen Tatlebens vorzieht, der wahre Megalopsychos, daher nachsichtslos gegen den gleichrangigen Gegner, der die einzige Frucht seines Ringens, die Heldenehre ihm antastet. So beginnt das Gedicht sogleich mit der Umdüsterung der strahlenden Gestalt, und auch das Ende gleicht nicht dem triumphierenden Ausgang einer gewöhnlichen Aristie. Achill wird des Sieges über Hektor nicht froh, [U771

77

in untröstliche Trauer des Helden, in schaurige Totenklage der Griechen und der Troer um Patroklos und Hektor und in die düstere Gewißheit des Siegers über das eigene Schicksal klingt das Ganze aus. Wer den letzten Gesang fortwünscht oder die Handlung fortgeführt sehen möchte bis zum Tod des Achilleus, also aus der Uias eine Achilleis machen möchte oder sie für das ursprünglich Beabsichtigte hält, denkt historisch, vom Stoffe aus, nicht künstlerisch von der Form, vom Problem aus. Die Ilias feiert den Ruhm der größten Aristie des trojanischen Krieges, Achills Sieg über den gewaltigen Hektor, in den sich die Tragik der todgeweihten Heldengröße mit ihrer nur zu menschlichen Verkettung von Schicksal und eigenem Zutun mischt. Zur echten Aristie gehört der Sieg des Helden, nicht sein Untergang. Die Tragik, die darin liegt, daß Achilleus das Werk der Rache für den gefallenen Patroklos an Hektor zu vollstrecken beschließt, obgleich er weiß, daß alsbald nach dem Fall des Hektor ihm selbst der Tod gewiß ist, würde nicht in der Fortfuhrung der Handlung bis zu dieser äußeren Katastrophe ihre Vollendung finden. Sie dient in der Ilias vielmehr dazu, den Sieg des Achilleus innerlich zu steigern und menschlich zu vertiefen. Sein Heroismus ist nicht von der naiven elementaren Art der alten Recken, er gipfelt in der bewußt vollzogenen Wahl einer großen Tat um den im voraus feststehenden Preis des eigenen Lebens: alle späteren Griechen stimmen in dieser Auffassung überein und sehen gerade darin die ethische Größe und die stärkste erzieherische Wirkung des Epos. Seine volle Tragik erlangt Achills heldenhafter Entschluß freilich erst in seiner Verflechtung mit dem Motiv seines Zorns und des vergeblichen Versuchs der Griechen, ihn zu versöhnen, da so seine Weigerung das Eingreifen und den Untergang seines Freundes im Augenblick der griechischen Niederlage selbst herbeifuhrt. Man muß angesichts dieses Zusammenhangs geradezu von einem ethischen Aufbau der Ilias reden. Um seine Linien im einzelnen überzeugend klar zu legen, bedürfte es eindringender Interpretation, die hier nicht gegeben werden kann. Das vielerörterte Problem der Entstehung der homerischen Epen wird allerdings durch den Nachweis eines solches Aufbaus, der naturgemäß die geistige Einheit des Kunstwerks voraussetzt, weder 78

[1/78/

mit einem Schlag gelöst noch aus der Welt geschafft. Aber auch für die Analyse ist es ein heilsames Gegengift gegen die einseitige Tendenz zur Zerkrümelung des Ganzen, wenn wir uns das Vorhandensein fester durchgehender Linien der Handlung wieder mehr zu Bewußtsein führen, eine Tatsache, die gerade von unserem Gesichtspunkte aus notwendig ins hellste Licht treten muß. Die Frage, wer der Schöpfer dieser Architektonik des Epos ist, kann hier außer Betracht bleiben. Gleichviel ob sie mit der ursprünglichen Konzeption bereits verbunden war oder das Ergebnis der nachträglichen Bearbeitung eines späten Dichters ist, in der Ilias wie sie uns vorliegt ist sie schlechterdings nicht zu übersehen und für ihre Absicht und Gesamtwirkung ist sie von fundamentaler Bedeutung. Wir wollen das hier nur an einigen wichtigeren Punkten noch verdeutlichen. Sogleich im ersten Gesang, wo die Ursache der Entzweiung des Achilleus und Agamemnon erzählt wird, die Kränkung des Apollonpriesters Chryses und ihre Folge, der Zorn des Gottes, nimmt der Dichter unzweideutig Stellung. Die Haltung der beiden streitenden Helden ist zwar im folgenden in voller Objektivität erfaßt, aber ganz klar ist sie auch als fehlerhaftes Extrem gekennzeichnet. Zwischen ihnen steht der weise Alte, Nestor, die Sophrosyne in Person. Er sah drei Geschlechter der Sterblichen und spricht wie von hohem Sitze herab zu den eifernden Gegenwartsmenschen über ihre Augenblickserregungen. Die Gestalt Nestors hält die ganze Szene im Gleichgewicht. Schon in dieser Exposition fällt das Stichwort Ate. Zu der Verblendung Agamemnons, des Beleidigers, gesellt sich im neunten Gesang weit schlimmer in ihren Folgen die des Achilleus, der „nicht nachzugeben versteht", sondern bei seinem Zorn blind beharrt und dadurch das menschliche Maß überschreitet. Das spricht er selbst, ills es zu spät ist, reuevoll aus. Jetzt verwünscht er seinen Groll, der ihn verfuhrt hat seiner Heldenbestimmung untreu zu werden, müßig dazusitzen und den teuersten Freund zu opfern. Ebenso beklagt Agamemnon bei der Versöhnung mit Achill die eigene Verblendung in einem breit ausgeführten Gleichnis über das verderbliche Wirken der Ate. Die Vorstellung der Ate ist wie die der Moira im Homer noch durchaus religiös, sie ist eine wirkende göttliche Macht, und der Mensch vermag sich ihr schwer [1/79]

79

zu entziehen. Dennoch erscheint, besonders im neunten Gesang, der handelnde Mensch wenn auch nicht als Herr, so doch in gewissem Sinne als unbewußter Mitgestalter seines Schicksals. Es liegt wohl eine tiefe geistige Notwendigkeit darin, daß gerade der Grieche, dem der heroisch handelnde Mensch das Höchste ist, die tragische Gefahr der Verblendung so dämonisch erlebt und als das ewige Widerspiel des Handelns und Wagens erkannt hat, während die resignierte Weisheit Asiens vor ihr in das Nichthandeln und Nichtherrschen ausweicht. Der Satz Heraklits ήθος άνθρώιτω δαίμων steht als Ziel am Ende des Weges menschlicher Schicksalserkenntnis, den der Dichter der Achilleusgestalt in der Ilias zuerst beschritten hat. Überall im Homer tritt ein umfassendes 'philosophisches' Denken über die menschliche Natur und die ewigen Gesetze des Weltlaufs zu Tage. Es gibt nichts Wesentliches im Menschenleben, was nicht in ihr enthalten wäre. Der Dichter betrachtet auch den Einzelfall gern im Lichte seiner allgemeinen Erkenntnis des Wesens der Dinge. Die Vorliebe der griechischen Poesie für das Gnomische, die Neigung alles was geschieht an einer höheren Norm zu messen, das Ausgehen ihres Denkens von allgemeingültigen Prämissen, der häufige Gebrauch mythischer Exempel als allgemein verbindlicher Typen und Ideale, alle diese Züge haben ihren letzten Ursprung im Homer. Wie das Epos den Menschen sieht, dafür gibt es kein wunderbareres Symbol als die bildlichen Darstellungen auf dem Schild des Achilleus, die die Ilias ausführlich schildert1. Hephaistos stellte auf ihm dar die Erde, den Himmel und das Meer, die unermüdliche Sonne und den Vollmond und alle Sternbilder, mit denen der Himmel bekränzt ist. Er schuf darauf ferner das Bild zweier schöner Städte der Menschen. In der einen gab es Hochzeit, Festschmaus, Brautzug und Hochzeitslieder. Jünglinge drehten sich im Tanz beim Klang von Flöte und Leier, und Frauen standen an den Türen und schauten bewundernd zu. Volk war auf dem Marktplatz versammelt, da gab es einen Rechtsstreit. Zwei Männer stritten über das Wergeid für einen erschlagenen Mann, die Richter aber saßen auf den geglätteten Steinen im heiligen Kreis, das Zepter in den Händen, und fällten den Spruch. Um die andere Stadt lagerten 1

80

Σ 478 ff.

[1/80]

zwei Heere von Kriegsvolk, in Waffenrüstung strahlend, die wollten die Stadt zerstören oder plündern. Aber die Einwohner ergaben sich noch nicht, sondern stellten Weiber, Kinder und Greise als Schutz auf die Zinnen der Mauer. Die Männer aber rückten heinilich aus, sie legten sich in den Hinterhalt am Ufer eines Flusses, wo die Tränke für das Vieh war, und überfielen eine Herde. Darob entspann sich am Flusse ein Kampf mit den herbeieilenden Feinden, Speere flogen hin und her, und im Gewühl sah man Eris und Kydoimos schreiten, die Dämonen des Krieges, und Ker, der Todesdämon in blutigem Gewände, schleppte Verwundete und Tote bei den Füßen durchs Getümmel. Daneben war ein Feld, Pflüger zogen mit ihren Gespannen die Furchen auf und ab, und an dem Feldrain, wo sie wendeten, schenkte ein Mann ihnen zur Labung Wein in einen Becher ein. Dann war ein Landgut abgebildet, da wurde geerntet. Die Schnitter trugen Sicheln in den Händen, die Ähren fielen zu Boden und wurden gebunden zu Garben, und der Gutsherr stand schweigend frohen Herzens dabei, während die Herolde ein Mahl zubereiteten. Ein Weinberg, wo fröhliche Weinernte war, eine stolze Herde gehörnter Rinder mit Hirten und Hunden, eine Weide in schönem Talgrunde mit Schafen und Hürden und Ställen, ein Tanzplatz, wo Jungfrauen und Jünglinge tanzten und sich bei den Händen faßten und ein göttlicher Sänger zur Laute sang, vervollständigten dieses erschöpfende Bild des menschlichen Lebens und seiner ewigen einfachen und großen Bezüge. Und rings im Kreise um das Ganze flöß am Rand des runden Schildes der Okeanos. Die vollkommene Harmonie der Natur und des Menschenlebens, die in der Schildbeschreibung zu Tage tritt, herrscht überall in der homerischen Auffassung der Wirklichkeit. Uberall hält der gleiche große Rhythmus die Fülle der Bewegung zusammen. Kein Tag ist so übervoll von menschlichem Gewühle, daß der Dichter darüber vergäße zu bemerken, wie die Sonne über dem Treiben aufgeht und untergeht, wie nach des Tages Arbeit und Kampf Ermattung folgt und des Nachts der gliederlösende Schlaf die Sterblichen umfangt. Homer ist weder Naturalist noch Moralist. Er ist weder dem chaotischcn Erlebnis des Lebens hingegeben, ohne einen festen Stand ihm gegenüber zu finden, [1/81]

81

noch meistert er es von außen her. Die sittlichen Mächte sind für ihn so wirklich wie die physischen Kräfte. Mit scharfem Blick erfaßt er objektiv die menschlichen Leidenschaften. £ r kennt ihre dämonische Elementargewalt, die stärker ist als der Mensch und ihn mit sich fortreißt. Aber wenn ihr Strom auch oft über seine Ufer tritt, er wird immer wieder durch feste Dämme zurückgehalten. Diç letzten ethischen Schranken sind für Homer wie fur die Griechen überhaupt Gesetze des Seins, nicht Konventionen eines bloßen Sollens. Auf der Durchdringung der Welt mit diesem erweiterten Wirklichkeitssinn, an dem gemessen jeder bloße 'Realismus' unwirklich erscheint, beruht die unbegrenzte Wirkung des homerischen Epos. Mit der Vertiefung des Stoffs ins Allgemeine und Naturnotwendige hängt die Kunst der Motivation im Homer zusammen. Für ihn gibt es überhaupt kein bloß passives Ubernehmen von Überlieferungen, kein einfaches Berichten der Tatsachen, sondern nur innerlich notwendige Entwicklung der Handlung von Stufe zu Stufe, unverbrüchlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Vom ersten Verse an entfaltet sich in beiden Epen die Dramatik der Erzählung in lückenloser Geschlossenheit. „Muse, erzähle den Zorn des Achilleus und seinen Streit mit dem Atriden Agamemnon. Welcher Gott ließ sie so feindlich aneinander geraten?" Wie ein Pfeil trifft die Frage ins Schwarze. Der Bericht vom Zorn des Apollon, der darauf folgt, streng beschränkt auf die wesentlichen Züge, die die Ursache des Unheils angeben, ist an den Anfang des Epos gestellt wie die Ätiologie des peloponnesischen Krieges in dem Geschichtswerk des Thukydides. Die Handlung breitet sich nicht als ein lockeres zeitliches Nacheinander aus, überall gilt für sie das Prinzip des zureichenden Grundes, alles Geschehen ist psychologisch scharf motiviert. Aber Homer ist kein moderner Autor, der alles nur innerlich, als Erlebnis oder Phänomen eines menschlichen Bewußtseins sich entwickeln läßt. In der Welt, in der er lebt, geschieht nichts Großes ohne das Zutun einer göttlichen Macht, und so ist es daher auch im Epos. Die unvermeidliche Allwissenheit des erzählenden Dichters äußert sich bei Homer nicht in der Form, daß er auch von den verborgensten Re82

[1182]

gungen im Innern seiner Personen so spricht als hätte er selbst in ihrer Haut gesteckt, wie unsre Schriftsteller es tun müssen, sondern er sieht überall die Zusammenhänge von Menschlichem und Göttlichem. Es ist nicht immer leicht die Grenze zu bezeichnen, wo diese Vorstellung der Realität im Homer zur bloßen poetischen Darstellungsform wird. Aber sicherlich ist es ganz verfehlt, das Eingreifen der Götter durchweg als bloßes episches Kunstmittel zu erklären. Der Dichter lebt noch nicht in einer Welt bewußter künstlerischer Illusion, hinter der die nackte frivole Aufgeklärtheit und die Banalität des bürgerlichen Alltags steht. Man spürt deutlich in der Art des Eingreifens der Götter in den homerischen Epen eine geistige Entwicklung von mehr äußerlicher und vereinzelter Intervention, die im epischen Stil sehr alt gewesen sein muß, zu beständiger innerer Lenkung des besonderen Menschen durch eine Gottheit, wie Odysseus von Athene durch immer neue Eingebungen geführt wird. Auch für die religiöse und politische Vorstellungsweise des alten Orients sind ja die Götter stets die Handelnden und nicht nur in der Poesie. Sie sind es, die in Wahrheit alles wirken und tun, was die Menschen vollbringen und leiden, so in den Königsinschriften der Perser, Babylonier und Assyrer oder in der Prophetie und Geschichtschreibung der Juden. Immer ist das Interesse der Götter im Spiel, sie nehmen fur diese oder für jene Seite Partei, je nachdem sie ihre Gunst verteilen oder ihren Vorteil wahrnehmen wollen. Jeder macht seinen Gott für Gutes und Schlimmes das ihm widerfahrt verantwortlich, und alle Eingebungen wie aller Erfolg sind sein Werk. Auch in der Ilias sind die Götter in zwei Lager gespalten. Das ist altertümlich gedacht, aber andere Züge sind jung wie das Streben des Dichters, über dem Zwist, in den der Kampf um Ilios auch die Götter versetzt, die Loyalität der Götter untereinander, die Einheit ihres Waltens im Großen und den Bestand ihres Götterstaats nach Möglichkeit zu wahren. Die letzte Ursache für jedes Geschehen ist der Ratschluß des Zeus! Auch in der Achilleustragödie sieht Homer die Vollstreckung seines höchsten Willens. Auf Schritt und Tritt werden die Götter zur Motivation der Handlung herangezogen. [1/83]

83

Das widerspricht nicht der natürlich-psychologischen Auffassung derselben Vorgänge. Die psychologische und die metaphysische Betrachtung eines und desselben Geschehnisses schließen sich keineswegs aus, j a ihr Nebeneinander ist für homerisches Denken das Natürliche. Dadurch erhält das Epos ein eigentümliches Doppelantlitz. Jede Handlung muß der Hörer zugleich vom menschlichen und vom göttlichen Standpunkt aus betrachten. Die Bühne dieses Dramas ist eine regelrecht zweistöckige, beständig verfolgen wir den Verlauf sub specie des menschlichen Tuns und Planens und des höheren Waltens der Weltregierung. Daß dadurch das menschliche T u n notwendig in seiner Begrenztheit, Kurzsichtigkeit und Abhängigkeit von unerforschlicheo übermenschlichen Ratschlüssen erscheinen muß, liegt auf der Hand. Denn dem handelnden Menschen sind diese Zusammenhänge nicht sichtbar wie dem Auge des Dichters. Man braucht nur an das romanisch- und germanisch-christliche Epos des Mittelalters zu denken, das keine Götter als handelnde Mächte kennt und alle Vorgänge deshalb nur von der subjektiven Geschehensseite, als bloße menschliche Aktivität erfaßt, um seinen Unterschied von der dichterischen Wirklichkcitsauffassung bei Homer zu ermessen. Die Verflochtenheit der Götter in die menschlichen Taten und Leiden nötigt den griechischen Dichter, des Menschen Handeln und Schicksal immer in seiner absoluten Bedeutung zu sehen, es in den allgemeinen Weltzusammenhang einzuordnen und an höchsten religiösen und sittlichen Normen zu messen. Das griechische Epos ist weltanschaulich objektiver und hintergründiger als die Epik des Mittelalters. Nur Dante ist auch hier wieder in der Dimension grundsätzlich mit ihm vergleichbar. Das Epos enthält die Philosophie der Griechen schon im Keime in sich. Anderseits tritt gegenüber der rein theomorphen Weltansicht des Orients und seiner Geschehensauffassung, nach der nur die Gottheit handelt und der Mensch nur Objekt ist. der anthropozentrische Charakter der griechischen Denkweise ins hellste Licht. Homer stellt mit größter Entschiedenheit den Menschen und sein Geschick in den Vordergrund des Interesses, aber er betrachtet ihn stets in der Perspektive der höchsten allgemeinen Ideen und Lebensprobleme. 84

[1/84]

In der Odyssee macht sich diese Eigenart der geistigen Struktur des griechischen Epos noch stärker geltend als in der Ilias. Die Odyssee ist das Werk einer Zeit, deren Denken schon in hohem Grade rational und systematisch geordnet war. Jedenfalls ist das vorliegende Ganze der Dichtung in einer solchen Periode abgeschlossen worden und trägt deutlich ihre Spuren an sich. Wenn zwei Völker sich bekriegen und mit Opfern und Gebeten ihre Götter zur Hilfe herbeirufen, kommen diese immer in eine schwierige Lage, wenigstens für ein Denken, dem unbegrenzte Wirkungsweite und unparteiische Gerechtigkeit zum Wesen der göttlichen Macht gehört. So sehen wir in der Ilias ein schon fortgeschrittenes religiöses und sittliches Denken mit dem Problem ringen, den ursprünglich mehr partikularen oder örtlich beschränkten Charakter der meisten Götter mit der Forderung einer einheitlichen sinnvollen Weltleitung in Einklang zu bringen. Die Nähe und Menschlichkeit der griechischen Götter verlockte ein Geschlecht, dessen selbstbewußter Adelsstolz sich mit den Unsterblichen von gleicher Herkunft wußte, sich ihr Leben und Treiben unbefangen und ohne allzu großen Abstand in der Art des eigenen sinnenkräftigen Erdendaseins vorzustellen. Mit diesem Bilde, an dem das abstrakte Erhabenheitsbedürfnis späterer Philosophen so oft Anstoß nahm, kontrastiert in der Ilias ein religiöses Gefühl, dessen Vorstellung von der Gottheit, besonders von der Person des höchsten Weltherrschers den sublimsten Ideen der späteren griechischen Kunst und Philosophie Nahrung geboten hat. Doch erst in der Odyssee finden wir eine durchgehende tiefere Konsequenz und Planmäßigkeit im Walten der Götter. Die Erfindung des Götterrates am Anfang des ersten und fünften Gesanges ist zwar aus der Ilias übernommen, aber der Unterschied zwischen den tumultuarischen Szenen auf dem Olymp, die die Ilias kennt, und dem würdevollen Consilium unnahbarer übermenschlicher Persönlichkeiten in der Odyssee fallt in die Augen. In der Ilias droht es unter den Göttern zu Handgreiflichkeiten zu kommen, Zeus setzt seine Oberhoheit mit Gewaltandrohung durch, menschlich-allzumenschliche Mittel werden von Göttern gegen Götter angewandt, um sie zu überlisten oder ihre Macht auszuschalten. Der Zeus, der den Götter85

rat am Anfang der Odyssee leitet, ist das philosophisch geläuterte Weltgewissen. Er eröffnet seine Betrachtung des vorliegenden Schicksalsfalles damit, daß er ganz allgemein das Problem des menschlichen Leidens aufwirft und auf den unlösbaren Zusammenhang von Schicksal und Schuld hinweist. Diese Thcodizee schwebt über dem ganzen Gedicht. Für den Dichter ist die höchste Gottheit eine über alles Denken und Trachten der Sterblichen erhabene, allwissende Macht. Ihr Wesen ist Geist und Gedanke. Sie ist nicht vergleichbar der kurzsichtigen Leidenschaft, die den Menschen seine Fehltritte begehen und sich in das Netz der Ate verstricken läßt. Das Leiden des Odysseus und die Hybris der Freier, die mit dem Tode gesühnt wird, stellt der Dichter unter diesen sittlich-religiösen Aspekt. Die Handlung verläuft ganz einheitlich von dem so scharf gestellten Problem aus zum Ziele. Es gehört zum Wesen dieses Romans, daß die Folgerichtigkeit des lenkenden höheren Willens, der schließlich alles gerecht und glücklich hinausführt, an den Wendepunkten der Handlung deutlich zum Vorschein kommt. Der Dichter selbst ordnet alles was geschieht in das Bezugssystem seines religiösen Denkens ein. Dadurch erhält jede Gestalt ihren festen Stand. Wahrscheinlich ist dieser strenge ethische Aufbau erst das Werk der letzten Entwicklungsstufe der dichterischen Bearbeitung der Odysseussage. Der Analyse ist hier eine Aufgabe gestellt, die noch der Lösung harrt: den Hervorgang dieser ethisierenden Gestaltung des Stoffes aus den früheren Schichten, soweit man sie überhaupt noch fassen kann, geistesgeschichtlich zu begreifen. Neben der ethisch-religiösen Gesamtidee, wie sie die endgültige Form der Odyssee in großen Zügen beherrscht, macht sich eine unendlich reizvolle Mannigfaltigkeit der geistigen Auffassung geltend, das Märchenhaft-Wunderbare, das Idyllische, das Heroische, das Abenteuerhafte, doch in keiner dieser Arten erschöpft sich die Wirkung der Dichtung ganz. Und wenn man zu allen Zeiten die Einheitlichkeit und strenge Ökonomie ihres Aufbaus als einen ihrer größten Vorzüge empfunden hat, so beruht gerade sie auf der großen Linienführung der sittlich-religiösen Problematik, die sich in ihr entfaltet. 86

[1/86J

Indessen hier berühren wir nur eine Seite einer viel weiter reichenden Erscheinung. Wie Homer das Schicksal des Menschen in den großen Rahmen des Weltgeschehens, in ein festbegrenztes Weltbild einordnet, so stellt er überhaupt seine Gestalten überall in ihre zugehörige Umwelt hinein. Niemals nimmt er den Menschen abstrakt für sich, nur innerlich: alles wird ihm zum vollständigen Bild des konkreten Daseins. Seine Figuren sind nicht bloße Schemen, die gelegentlich zu dramatischem Ausdruck erwachen, sich zu ungeheuren Effekten steigern oder zu Gebärden emporrecken, in denen sie dann plötzlich wieder erstarren. Die Menschen Homers sind so wirklich, daß wir glauben sie mit Augen sehen und mit Händen greifen zu können. Wie sie in ihrem Tun und Denken lückenlos in sich zusammenhängen, so steht ihre Existenz mit der äußeren Welt in strengster Beziehung. Nimmt man etwa Penelope: welche Effekte hätte ein größeres Bedürfnis nach lyrischer Intensität des Gefühls, nach gesteigerter Ausdrucksgebärde aus dieser Figur hervorgelockt. Diese Haltung ist aber naturgemäß schwer länger auszuhalten, für den Betrachter wie für den Gegenstand. Die Personen Homers bleiben stets natürlich und drücken sich und ihr Wesen in jedem Augenblick ganz aus. Sic besitzen einen Grad der Durchgestaltung, eine Allseitigkeit der Verknüpfung, der nichts vergleichbar ist. Penelope ist gleichzeitig die Hausfrau in ihrem Gemach, das verlassene Weib des verschollenen Mannes in seiner Bedrängnis durch die Freier, die Herrin der Mägde, der treuen und der gemeinen, die ängstlich besorgte Mutter des behüteten einzigen Sohnes. Da ist der brave alte Sauhirt, auf den man stets bauen darf, der altersschwache Vater des Odysseus auf seinem kleinen, etwas ärmlichen Ruhesitz fern der Stadt; ihr eigener Vater ist fern und kann nicht helfen. Das ist alles so einfach und notwendig, und in dieser allseitigen Bezogenheit entfaltet die innere Logik der Gestalt sich zu ruhiger plastischer Wirkung. Das Geheimnis der plastischen Kraft der homerischen Gestalten beruht darauf, daß sie in das feste Koordinatensystem eines Lebensraumes von mathematischer Anschaulichkeit und Klarheit hineingestellt sind. Letzten Endes wurzelt die Fähigkeit und das Bedürfnis des homerischen Epos, die von ihm geschilderte Welt als einen in sich [U87]

87

ruhenden vollständigen Kosmos zur Anschauung zu bringen, in dem das Element der Dauer und Ordnung dem des reißenden Wechsels und schicksalhaften Geschehens die Wage hält, in einer nicht weiter abzuleitenden Formbestimmtheit des griechischen Geistes. Für den modernen Beschauer bleibt es ein unfaßiiches Wunder, daß alle charakteristischen Kräfte und Tendenzen des Griechentums, die in seiner weiteren geschichtlichen Entfaltung zur Wirkung gelangt sind, im Homer schon deutlich vorgebildet zu Tage treten. Dieser Eindruck schwächt sich naturgemäß ab, wenn man die Gedichte isoliert sieht. Erst wenn man Homer und die Griechen der Folgezeit zusammenschauend betrachtet, tritt ihre starke Gemeinsamkeit hervor. Ihren tieferen Grund hat sie in den verborgenen Erbeigenschaften der Rasse und des Blutes. Wir empfinden ihnen gegenüber zugleich das Verwandte und Fremde, und gerade in der Erkenntnis dieser notwendigen Verschiedenheit des Artgleichen liegt das Fruchtbare unsrer Berührung mit der griechischen Welt. Doch über dem fur uns nur gefühlsmäßig und intuitiv zu erfassenden Moment des Volkstums und der Rasse, die sich in ihren grundlegenden Eigenschaften durch allen geschichtlichen Wandel des Geistes und durch alle Schicksale hindurch seltsam unverändert erhält, wollen wir nicht die unermeßliche geschichtliche Wirkung vergessen, die die geformte menschliche Welt Homers auf alle späteren Entwicklungen seiner Nation ausüben mußte. Erst durch ihn, den einzigen panhellenischen Urbesitz, ist sie zur Einheit des nationalen Bewußtseins gelangt, und so hat er alle spätere griechische Bildung entscheidend geprägt.

88

[1/88]

HESIODOS UND DAS BAUERNTUM Neben Homer stellten die Griechen als ihren zweiten großen Dichter den Böoter Hesiodos. In ihm schließt sich uns eine von der Adelswelt und ihrer Kultur sehr verschiedene soziale Sphäre auf. Zumal die spätere und bodenständigere der beiden erhaltenen Dichtungen Hesiods, die Erga, geben das anschaulichste Bild vom Leben des Bauerntums im griechischen Mutterlande um das Ende des 8. Jhrh. und ergänzen wesentlich unsere aus dem ionischen Homer gewonnenen Vorstellungen des ältesten griechischen Volkslebens. Von ganz besonderer Bedeutung ist aber dieses Werk für die Erkenntnis des Werdens der griechischen Bildung. Wenn Homer vor allem die fundamentale Tatsache ins hellste Licht stellt, daß alle Bildung ihren Ausgang nimmt von der Formung eines adligen Menschentypus, der durch bewußte Züchtung der Eigenschaften des Helden und Herren entsteht, so offenbart sich im Hesiod die zweite Hauptquelle der Kultur: der Wert der Arbeit. Der Titel 'Werke und Tage', den die Nachwelt dem bäuerlichen Lehrgedicht Hesiods gegeben hat, drückt dies vollkommen aus. Nicht nur der Kampf des ritterlichen Helden mit dem feindlichen Gegner im Felde, auch der stille und zähe Kampf des arbeitenden Mannes mit der harten Erde und mit den Elementen hat seinen Heroismus und züchtet Eigenschaften, die für die Gestaltung des Menschen von ewigem Wert sind. Griechenland ist nicht ohne Grund die Geburtsstätte einer Humanität geworden, in der die Hochschätzung der Arbeit ihre feste Stelle hat. Das sorgenfreie Leben der herrschenden Schicht im Homer darf nicht darüber täuschen, daß dieses Land seine Bewohner von jeher auf die Arbeit angewiesen hat. Das spricht im Hinblick auf reichere Länder und /.1/89]

89

Völker Herodot aus 1 : „In Griechenland ist alle Zeit die Armut einheimisch, aber man holt noch die Arete dazu. Sie wird bewirkt durch Klugheit und starkes Gesetz. Durch sie wehrt Hellas der Armut und der Knechtschaft". Sein von Gebirgen durchzogenes Land mit den vielen engen Tälern und abgeschlossenen Landschaften, in dem große zusammenhängende anbaufahige Ebenen, wie sie Nordeuropa bietet, fast gänzlich fehlen, zwingt den Griechen beständig mit dem Boden zu ringen und ihm das Letzte abzuzwingen was er hergibt. Viehwirtschaft und Ackerbau sind stets die wichtigste und charakteristischste Art der menschlichen Beschäftigung für den Griechen geblieben. Nur an der Küste überwiegt später die Schiffahrt. In älteren Zeiten ist der agrarische Zustand durchaus der herrschende gewesen. Aber nicht nur das Leben des mutterländischen Bauerntums als solches fuhrt Hesiod uns vor Augen, wir erkennen in ihm auch die Wirkung der adligen Kultur und ihres geistigen Ferments, der homerischen Poesie, auf die tieferen Schichten der Nation. Der Prozeß der griechischen Bildung vollzieht sich nicht nur durch die einseitige Übernahme der von einem bevorzugten Stande geschaffenen Gesittung und Geisteshaltung seitens der übrigen Teile des Volkes, sondern jede Schicht liefert ihren eigenen Beitrag dazu. Die Berührung mit der höheren Bildung, die es von der herrschenden Kaste empfangt, weckt in dem dumpfen und rauhen Bauerntum die lebendigste Gegenwirkung. Der gegebene Mittler der höheren Lebensgehalte war für jene Zeit der Rhapsode, der die homerischen Gedichte vortrug. Hesiod erzählt in den bekannten Versen des Proömiums der Theogonie seine Berufung zum Dichter, wie er als einfacher Schafhirt am Fuß des Helikon seine Herde weidete und dort eines Tages die Inspiration der Musen empfing und den Stab des Rhapsoden aus ihrer Hand erhielt. Aber der Rhapsode von Askra hat vor der lauschenden Menge auf den Dörfern nicht nur den Glanz und Schimmer der Verse Homers ausgebreitet. Er wurzelte mit seinem ganzen Denken tief in dem fruchtbaren Erdreich des urwüchsigen bäuerlichen Da» Hcrod. VII 102 90

[1/90]

seins, und wo er durch persönliches Erlebnis über die Rolle des bloßen Homeriden hinauswuchs und zu eigener Gestaltung die Kraft fand, da ward ihm von der Muse gegeben, die eigenen echten Lebenswerte des Bauerntums ans Licht zu heben und zum geistigen Besitz der ganzen Nation zu machen. Den Zustand des flachen Landes zur Zeit des Hesiod vermögen wir uns nach seiner Schilderung deutlich vorzustellen. Wenn man auch die böotischen Verhältnisse in einem so vielgestaltigen Volke wie dem griechischen nicht einfach verallgemeinern darf, sind sie doch sicher in weitem Maße typisch. Die Träger der Macht und der Bildung sind die adligen Gutsherren, aber die Bauern haben daneben eine beträchtliche geistige und rechtliche Selbständigkeit. Von Leibeigenschaft hören wir nichts, und nichts deutet auch nur im entferntesten an, daß diese freien, von ihrer Hände Arbeit lebenden Ackerbauer und Viehzüchter aus einer in den Zeiten der Stämmewanderung unterworfenen Schicht hervorgegangen wären, wie es etwa in Lakonien der Fall ist. Sie kommen alle Tage auf dem Markt und in der λέσχη zusammen und bereden ihre öffentlichen und privaten Angelegenheiten. Kritik am Verhalten der Mitbürger wird freimütig geübt, auch an den vornehmen Herren, und „was die Leute sagen" (φήμη) ist für Ansehen und Fortkommen des einfachen Mannes von entscheidender Wichtigkeit. Nur in der Menge kann sich dieser Stand behaupten und sich Beachtung verschaffen. Als äußeren Anlaß für sein Lehrgedicht nimmt Hesiod den Prozeß mit seinem habgierigen und streitsüchtigen, arbeitscheuen Bruder Perses, der das väterliche Erbteil schlecht verwaltet hat und jetzt wieder mit neuen Forderungen kommt. Das erste Mal hatte er durch Bestechung die Richter für sich gewonnen. Aber der Kampf zwischen Macht und Recht, in den der Prozeß uns hineinschauen läßt, ist offenbar nicht nur eine persönliche Angelegenheit des Dichters. Er macht sich zugleich zum Sprecher der herrschenden Stimmung unter den Bauern. Auch so bleibt seine Kühnheit groß genug, wenn er den ,,Geschenke fressenden" Herren Habsucht und brutalen Gebrauch ihrer Übermacht vorwirft. Mit dem Idealbilde der patriarchalischen [1/91]

91

Adelsherrschaft im Homer ist seine Schilderung nicht zu vereinigen. Natürlich hat es solche Zustände und die Unzufriedenheit, die sie erzeugen, auch früher gegeben, aber fur Hesiod ist die heroische Welt eine andere, bessere Zeit als die Gegenwart, das „eiserne Zeitalter", wie er es in den Erga in düsteren Farben schildert. Nichts ist so bezeichnend für das durch und durch pessimistische Lebensgefiihl des arbeitenden Volkes wie die Geschichte von den fünf Weltaltern, die mit der goldenen Zeit unter der Herrschaft des Kronos beginnen und allmählich in absteigender Linie hinführen zu dem Tiefstand des Rechts, der Sitte und des Glücks der Menschen in der harten Gegenwart. Aidos und Nemesis haben sich verhüllt und die Erde verlassen und sind zu den Göttern auf den Olymp zurückgekehrt. Nichts als Leiden und Zwietracht ohne Ende haben sie den Menschen hinterlassen. Aus solcher Umwelt wird kein reines Ideal menschlicher Bildung geboren, wie unter den glücklicheren Voraussetzungen der adligen Lebensführung. Um so wichtiger ist die Frage, welchen Anteil die Bevölkerung an dem geistigen Besitz der Herrenschicht und an der Ausgestaltung der adligen Kultur zu einer das gesamte Volk umfassenden Bildungsform genommen hat. Entscheidend ist, daß das Land noch nicht von der Stadt erdrückt und entmündigt ist. Die feudale archaische Kultur ist größtenteils ländlich und bodenständig. Das Land ist noch nicht gleichbedeutend mit geistiger Rückständigkeit, wird nicht gemessen an städtischem Maßstabe. 'Bauer' ist noch nicht das Wort für 'ungebildet'. Selbst die Städte der alten Zeit, besonders im griechischen Mutterlande, sind j a hauptsächlich Landstädte und sind es meistens geblieben. Es wächst noch allenthalben auf dem Lande lebendige Sitte, urwüchsiges Denken, frommer Glaube, wie mit jedem Jahre der Acker neue Früchte aus der Tiefe der Erde emporsendet, und noch ist keine gleichmachende städtische Zivilisation und Denkschablone da, die alles Eigenartige und Ursprüngliche erbarmungslos niederwalzt. Naturgemäß geht alles höhere geistige Leben auf dem Lande von der Oberschicht aus. Auf den Sitzen der Adligen ist das 92

II/92J

homerische Epos zuerst vom fahrenden Sänger gesungen worden, wie es schon Ilias und Odyssee schildern. Aber auch Hesiod, der in bäuerlicher Umgebung groß geworden ist und als Bauer gearbeitet hat, ist schon in der Kenntnis Homers aufgewachsen und hat ihn nicht erst als Berufsrhapsode kennen gelernt. Seine Dichtung richtet sich in erster Linie an Menscheñ seines Standes und er darf voraussetzen, daß seine Hörer die Kunstsprache des homerischen Epos verstehen, deren er sich bedient. Nichts offenbart das Wesen des geistigen Prozesses, der durch die Berührung dieser Schicht mit der homerischen Poesie in Gang kommt, so klar wie die Struktur der hesiodischen Dichtung selbst. In ihr spiegelt sich der innere Bildungsweg des Dichters. Wie selbstverständlich nimmt alles, was Hesiod zu dichterischer Gestaltung drängt, die einmal geprägte homerische Form an. Ganze Verse und Versstücke, Worte und Wortverbindungen fließen ein, die dem Homer entlehnt sind. Der Gebrauch epischer Epitheta gehört gleichfalls zu der idealen Ausrüstung, die die Sprache Hesiods von der homerischen übernimmt. Dadurch entsteht ein merkwürdiger Widerspruch zwischen Inhalt und Form der neuen Dichtung. Und doch hat die nüchterne, erdgebundene Existenz der Bauern und Hirten offenbar gerade dieses unvolksmäßigen Elements bedurft, das sie von außen, aus einer ihnen wesensfremden Bildungswelt beziehen mußten, um ihre neuen Empfindungen, ihr eigenes dumpfes Ahnen und Wollen zu der bewußten Helligkeit und zu dem sittlichen Schwung zu steigern, ohne die es niemals imstande gewesen wäre sich überzeugend Ausdruck zu verschaffen. Die Bekanntschaft mit der homerischen Poesie bedeutet für den Menschen der hesiodischen Welt nicht nur einen ungeheuren Zuwachs an formalen Ausdrucksmitteln. Sie öffnet ihm trotz ihres fremdartigen heroischpathetischen Geistes durch die Schärfe und Klarheit, mit der die höchsten menschlichen Lebensprobleme bei Homer erfaßt sind, einen geistigen Ausweg aus der bedrückenden Enge des eigenen harten Daseins in eine freiere Luft des Denkens. Auch was außer dem Homer an geistigem Besitz unter den böotischen Bauern lebendig war, lassen die Gedichte Hesiods uns noch einigermaßen deutlich erkennen. In der großen Sagenmasse der Théogonie hebt sich von dem aus Homer Bekannten

/im]

93

viel Uraltes ab, das wir nur hier erfahren, wenn auch nicht immer zu unterscheiden ist, wai davon schon dichterisch geformt vorlag und was nur mündliche Überlieferung war. Zweifellos ist gerade in der Theogonie der konstruierende Denker in Hesiod besonders stark, um so näher stehen die Erga dem wirklichen Bauerntum und seinem Leben. Auch da aber kann Hesiod plötzlich seinen Gedankengang unterbrechen und lange Mythen erzählen in der Gewißheit, damit auf seine Hörer zu wirken. Auch für das Volk ist der Mythos ein Gegenstand von unbegrenztem Interesse, er regt zu endlosem Erzählen und Nachdenken an, nimmt die ganze Philosophie dieser Menschen in sich auf. Dabei spricht sich schon in der unbewußten Auslese der Sagenstoffe die eigentümliche Geistesrichtung der Bauern aus. Beliebt sind offenbar Mythen, die die pessimistische und realistische Lebensauffassung dieser Menschenklasse ausdrücken oder die Ursachen der sozialen Nöte behandeln, die sie drücken: der Prometheusmythos, in dem Hesiod die Frage nach dem Grund aller Mühe und Arbeit des Menschenlebens beantwortet findet, die Erzählung von den fünf Weltaltern, die den weiten Abstand des eigenen Daseins von der glanzvollen Welt Homers erklärt und die ewige Sehnsucht der Menschen nach besseren Zeiten spiegelt, und der Pandoramythos, aus dem eine dem ritterlichen Denken fremde, nüchterne und mißmutige Bewertung der Frau als der Ursache aller Übel herausgelesen wird. Wir gehen kaum fehl in der Annahme, daß nicht erst Hesiod diese Geschichten unter seinen Landsleuten volkstümlich gemacht hat, wenn auch er sie gewiß erst mit solcher Entschiedenheit in den großen sozialphilosophischen Zusammenhang gerückt hat, in dem sie in seinem Gedicht jetzt stehen. Aber die Art, wie er z. B. die Prometheus- und Pandorageschichte wiedergibt, setzt ihre Bekanntheit bei seinen Hörern schon deutlich voraus. Hinter dieser religiösen und ethisch-sozialen Sagenüberlieferung tritt das Interesse an der im homerischen Epos vorwaltenden Heldensage in der Umwelt Hesiods mehr zurück. Im Mythos hat die ursprüngliche Haltung des Menschen zum Sein Gestalt gewonnen, darum hegt jede Schicht ihren eigenen Sagenbesitz. Daneben bewahrt das Volk nun aber noch seine uralte praktische Weisheit, gewonnen durch die Erfahrung unvor94

[Μαη

denklicher, namenloser Generationen, teils berufliche Ratschläge u n d Kenntnisse, teils sittliche und gesellschaftliche Normen, in kurze Sprüche zusammengepreßt, damit sie sich dem Gedächtnis leicht einprägen. Hesiod hat große Massen dieses kostbaren Gutes in seinen Erga überliefert. Diese Partien des Werkes gehören in ihrer gedrungenen, oft originell geformten Sprache zu den poetisch gelungensten des Gedichts, wenn auch die großen gedanklichen Auseinandersetzungen des ersten Teils persönlich und geistesgeschichtlich interessanter sind. In diesem zweiten Teile steckt die ganze Tradition des Bauernstandes, alte Regeln über Gründung des Haushalts und der Ehe, über Feldbau in den verschiedenen Jahreszeiten, eine Wetterkunde nebst Vorschriften für den richtigen Wechsel der Kleidung und Regeln für die Schifffahrt. Alles dies wird von kernigen Sittensprüchen, Geboten und Verboten am Eingang und am Ende umschlossen. Wir haben hier schon vorgegriffen und von dem Gedichte Hesiods geredet, obgleich es sich zunächst nur darum handelt, die verschiedenartigen Bildungselemente des Bauerntums, für das er dichtet, ins Licht zu stellen. Aber die liegen eben im zweiten Teile der Erga so offen da, daß m a n bloß zuzugreifen braucht. Ihre Form, ihr Inhalt und ihre Anordnung macht sie unmittelbar als volkstümliches Erbgut kenntlich. Hier haben wir das vollkommene Gegenstück zur Adelsbildung. Die Erziehung und Lebensklugheit des Volkes weiß nichts von einer gleichmäßigen Formung des Menschen in der Totalität seiner Persönlichkeit, von der Harmonie des Körpers und Geistes, von allseitiger Tüchtigkeit in Waffen und Wort, Lied und Tat, wie das ritterliche Ideal sie fordert. Dafür durchdringt sich hier eine bodenständige Ethik urkräftig mit dem seit Jahrhunderten unveränderlich feststehenden materiellen Lebensinhalt des Landmanns und mit der alltäglichen Arbeit seines Berufs. Das Ganze ist realer und erdennäher, wenn auch ohne ein höheres ideales Ziel. Erst durch Hesiod kommt das Ideal hinein, das zum Kristallisationspunkt aller dieser Elemente wird und ihre dichterische Gestaltwerdung in der Form des Epos ermöglicht: der Gedanke des Rechtes. Aus seinem Kampf für das eigene Recht gegen die Übergriffe seines Bruders und gegen die Bestechlichkeit der [1/95]

95

adligen Richter entfaltet sich der leidenschaftliche Rechtsglaubc seiner persönlichsten Dichtung, der Erga. Das große Neue ist, daß der Dichter in diesem Werk in eigener Person redet. Er gibt die herkömmliche Objektivität des Epos preis und wird selbst zum Verkünder der Lehre vom Fluch der Ungerechtigkeit und vom Segen des Rechtes. Um diese kühne Wortmeldung zu motivieren, knüpft Hesiod unmittelbar an seinen Rechtsstreit mit dem Bruder Perses an. Ihn redet er an, an ihn richtet er seine Ermahnungen. Er sucht ihn in immer neuen Wendungen zu überzeugen, daß Zeus das Recht schützt, auch wenn die irdischen Richter es beugen, und daß unrecht Gut nicht gedeiht. Doch auch an die Richter, die mächtigen Herren, wendet er sich dann wieder mit der Erzählung von dem Habicht und der Nachtigall und noch an anderen Stellen. Wir werden so lebhaft in die Situation des Prozesses versetzt, in das Stadium, bevor es zur letzten richterlichen Entscheidung kommt, daß der Irrtum naheliegt, als rede Hesiod mitten aus dem Prozeß heraus und als wären die Erga ein Gelegenheitswerk, ganz aus dem Augenblick geboren. Das haben neuere Erklärer denn auch vielfach angenommen. Dazu stimmt es scheinbar, daß nirgendwo vom Ausgang des Handels die Rede ist. Wie hätte der Dichter seine Hörer über ihn im unklaren lassen können, so folgerte man, wenn die Entscheidung bereits gefallen war. Man suchte also in dem Gedicht die Reflexe des wirklichen Prozesses. Man forschte sogar nach Änderungen der Situation, die man denn auch zu finden glaubte, und löste folgerichtig das in seiner altertümlich lockeren Komposition fur uns als Ganzes schwer zu begreifende Werk in eine Folge zeitlich voneinander getrennter „Mahnlieder an Perses" auf. So wurde die Lachmannsche Liedertheorie aus der Homerkritik auf das Lehrgedicht des Hesiod übertragen 1 Nur seltsam, wie mit dieser Auflassung von der Aktualität des Gedichts die breiten Partien sich vereinigen sollen, die rein lehrhafter Natur sind und mit dem Rechtsstreit in keinem Zusammenhang stehen, die aber ebenfalls den Bruder Perses anreden und 1 Für die einheiüiche Betrachtung des Gedichts und das Verständnis seiner Form war ein wichtiger Anfang P. Friedländer, Hermes 48, 558. Die weiteren Darlegungen desselben Verfassers Gott. Gel. Anz. 1931 erschienen erst, nachdem dieses Kapitel abgeschlossen war.

%

[1196]

ihm Belehrung erteilen wie der Bauern- und Schifferkalender und die beiden damit verbundenen Sammlungen von Sittensprüchen. Und welchen Einfluß sollten die ganz allgemein gehaltenen religiösen und sittlichen Lehren über Recht und Unrecht im ersten Teil auf den Gang eines wirklichen Prozesses haben? Hier hilft nur die Einsicht, daß das Ausgehen von dem konkreten Fall des Prozesses, der im Leben des Hesiod offenbar einmal eine große Rolle gepielt hat, für sein Gedicht nur die künstlerische Form ist, in die er seine Ansprache kleidet, um sie wirksam zu machen. Ohne sie wäre die Ichform des Vortrags, ohne sie auch der dramatische Effekt des ersten Teiles nicht möglich. Sie bot sich von selbst, denn in dieser inneren Spannung hatte der Dichter den Kampf um sein Recht wirklich erlebt. Nur deshalb wird der Prozeß nicht bis zu Ende erzählt, weil auf das Tatsächliche für den Zweck des Lehrgedichts nichts ankam. Wie Homer das Schicksal der kämpfenden und leidenden Heroen als ein Drama von Göttern und Menschen schildert, so erlebt Hesiod das nüchtern bürgerliche Geschehen seines Rechtsstreits als einen Kampf der himmlischen und irdischen Gewalten um den Sieg des Rechts. Dadurch erhebt er das an sich unbedeutende reale Ereignis seines Lebens zu dem erhabenen Rang und der Würde eines echten Epos. Freilich in den Himmel kann er seine Hörer nicht wie Homer versetzen, denn die zukünftige Entscheidung des Zeus über ihn selbst und seine Sache kann kein Sterblicher wissen. Er kann Zeus nur im Gebet anrufen, daß er das Recht schütze. Mit Hymnus und Gebet beginnt deshalb das Gedicht. Zeus, der die Mächtigen erniedrigt und die Schwachen erhöht, soll den Spruch der Richter gerade machen, der Dichter selbst übernimmt die aktive Rolle auf Erden: er will dem irregeleiteten Bruder Perses die Wahrheit sagen und ihn von dem verderblichen Wege des Unrechts und Streits abbringen. Zwar auch Eris ist eine Gottheit, der die Menschen ihren Tribut zahlen müssen, mögen sie es auch wider Willen tun. Aber neben der bösen Eris gibt es eine gute, die nicht Streit weckt sondern Wettstreit. Zeus hat ihr in den Wurzeln der Erde ihre Wohnung gegeben. Sie feuert den, der nichts hat und träge dasitzt, zur Arbeit an, wenn er mit Eifersucht den Erfolg seines [1/97]

97

Nachbars sieht, der sich ehrlich müht und es zu etwas bringt. Nun wendet der Dichter sich an Perses, um ihn vor der bösen Eris zu warnen. Nur ein reicher Mann kann sich müßiger Streitsucht ergeben, der seine Scheunen gefüllt hat und sich keine Sorge um seinen Unterhalt zu machen braucht. Er mag dem H a b und Gut fremder Leute nachstellen und auf dem Markte seine Zeit vertun. Hesiod fordert den Bruder auf, diesen Weg nicht noch ein zweitesmal zu betreten sondern sich ohne Prozeß mit ihm zu vergleichen, denn sie haben ihr väterliches Erbe längst geteilt und Perses hat schon mehr als ihm zukam an sich gerissen, indem er die Richter durch Geschenke auf seine Seite brachte. „Toren, sie wissen nicht, wie sehr auf sie der Spruch zutrifft: die Hälfte ist mehr als das Ganze, und welcher Segen schon in dem billigsten Kraut steckt, das die Erde für den Menschen wachsen läßt, in Malve und Asphodelos" 1 . So wendet der Dichter überall die Ermahnung an den Bruder vom konkreten Fall ins Allgemeine. Und schon der Anfang läßt durchblicken, wie für Hesiod die Warnung vor Streit und Ungerechtigkeit und der unerschütterliche Glaube an den Schutz des Rechtes durch die göttliche Macht sich verbindet mit dem zweiten positiven Teil des Gedichtes, der Lehre von der Arbeit des Bauern und des Schiffers und den Sprüchen über das richtige Tun und Lassen des Menschen. Das Bindeglied ist der Grundgedanke des Werkes, der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Arbeit. Die gute Eris mit ihrem friedlichen Arbeitswetteifer ist die einzige Macht, die es auf Erden gibt gegen die Überhandnahme von Neid und Streit. Die Arbeit ist für den Menschen zwar ein hartes Muß, aber sie ist eine Notwendigkeit. Und wer es durch sie auch nur zu kärglichem Unterhalt bringt, dem wird sie doch zu größerem Segen als die ungerechte Gier nach fremdem Gut. Diese Erfahrung des Lebens ist fur den Dichter begründet in den dauernden Gesetzen der Weltordnung, die der Denker Hesiod in der religiösen Vorstellung des Mythos erkennt. Schon im Homer finden sich Ansätze zu einer weltanschaulichen Deutung einzelner Mythen. Das Denken ist dort allerdings noch nicht systematisch unter diesem Gesichtspunkt an die mythische 1

98

Erga 40

[1/98]

Uberlieferung herangegangen, das wagt erst Hesiod in seinem andern großen Werke, der Theogonie. Die Heldensage kam als Gegenstand der kosmologischen und theologischen Spekulation j a auch kaum in Betracht, dagegen bot die Göttersage ihr u m so reichlichere Nahrung. Der erwachende Kausaltrieb fand hier seine Befriedigung in der scharfsinnigen Konstruktion eines vollständigen Aufbaus der Göttergenealogie. Aber auch die drei wesentlichsten Grundbegriffe einer rationalen Lehre vom Werden der Welt stecken sichtbar in den mythischen Vorstellungen der Theogonie vom Chaos, dem gähnenden R a u m , von der Erde und dem Himmel als der Grundlage und der Decke der Welt, die durch das Chaos geschieden sind, und dem Eros als lebenschaffender kosmischer Urkraft. Erde und Himmel sind für jedes mythische Weltbild gegebene Größen, und das Chaos finden wir auch im nordischen Mythos, es ist also offenbar Urbesitz der indogermanischen Rasse. Doch der Eros des Hesiod ist ein spekulativer Gedanke von originaler Prägung und unermeßlicher philosophischer Fruchtbarkeit. In der Titanomachie und in der Lehre von den großen Götterdynastien ist seine theologische Gedankenbildung am Werk, eine sinnvolle Entwicklung der Welt zu konstruieren, in die nun außer den niederen tellurischen und atmosphärischen Kräften der Natur auch die ethischen Mächte sich einordnen. Das Denken der Theogonie begnügt sich also nicht damit, die anerkannten kultisch verehrten Götter zueinander in Beziehung zu setzen, es hält sich nicht an das in der geltenden Religion überlieferungsmäßig Gegebene, sondern es stellt umgekehrt die Gegebenheiten der Religion im weitesten Sinne in Kultus, mythischer Überlieferung und eigenem Innenleben in den Dienst einer systematischen Besinnung der Phantasie und des Verstandes auf die Ursprünge der Welt und des Menschenlebens. Dabei werden alle wirkenden Kräfte als göttliche Mächte vorgestellt, wie es dieser Stufe der geistigen Entwicklung entspricht. Es ist noch durchaus lebendiges mythisches Denken, was uns hier in der Form eines bereits ganz individuellen Dichtertums entgegentritt. Doch wie führend und formgebend das rationale Element in diesem mythischen System ist, beweist das Hinausgehen über den Götterkreis des Homer und des Kultus und der Übergang [1199]

99

von dem bloßen Registrieren und Kombinieren der religiösen Überlieferung zur schöpferischen Deutung und zur freien Erfindung neuer sogenannter Personifikationen, die dem Bedürfnis des neuerwachenden abstrakten Denkens Genüge tun. Diese wenigen Hinweise müssen ausreichen, um den Hintergrund für die Mythen der Erga zu geben, die Hesiod eingelegt hat, um die Notwendigkeit der Mühe und Arbeit im Menschenleben und die Existenz des Übels in der Welt zu erklären. Hier zeigt sich, wie auch schon in der einleitenden Erzählung von der bösen und der guten Eris, daß Theogonie und Erga trotz der Verschiedenheit ihres Gegenstandes für den Dichter nicht einfach lose nebeneinander stehen, sondern daß das Denken des Theologen Hesiod in das des Ethikers übergreift, wie sich in der Theogonie umgekehrt schon der Ethiker deutlich offenbart. Beide Werke erwachsen aus der inneren Einheit des Weltbilds einer Persönlichkeit. Die 'kausale' Denkform der Theogonie wendet Hesiod in der Prometheusgeschichte der Erga auf das praktische, sittliche und soziale Problem der Arbeit an. Einmal muß Arbeit und Mühsal in die Welt gekommen sein, aber in der vollkommenen göttlichen Ordnung der Dinge kann sie nicht von Anfang an begründet gewesen sein. Die Ursache sieht Hesiod in der unheilvollen Tat des Prometheus, die er ganz in moralischem Lichte betrachtet, in dem Raub des göttlichen Feuers. Als Strafe schuf Zeus das erste Weib, die listenreiche Pandora, die Urmutter des Frauengeschlechts. Aus dem Faß der Pandora entschlüpften die Dämonen der Krankheit, des Alters und tausend andere Übel, die jetzt Erde und Meer bevölkern. Der Mythos ist gewaltsam kühn aus der neuen spekulativen Idee des Dichters umgedeutet und an eine so zentrale Stelle gerückt. Seine Verwendung mitten in dem allgemeinen Gedankengang der Erga entspricht dem paradigmatischen Gebrauch des Mythos in den Reden der Personen des homerischen Epos. Diesen Grund fur die beiden umfangreichen mythischen 'Einlagen5 oder 'Abschweifungen' in dem hesiodischen Gedicht hat man nicht richtig erkannt, er ist gleich wichtig für das Verständnis des Inhalts wie der Form. Die Erga sind eine einzige große Lehr- und Mahnrede, genau so wie etwa eine Elegie des Tyr100

[IilOO]

taios oder Solon der Form und der seelischen Haltung nach direkt an die Reden des homerischen Epos anknüpft 1 . Da sind die mythischen Exempla sehr am Platz. Der Mythos ist wie ein Organismus, dessen Seele in dauernder Erneuerung und Veränderung begriffen ist. Diese Veränderung vollzieht der Dichter. Aber er gehorcht dabei nicht bloß eigenmächtiger Willkür. Der Dichter ist der Gestalter einer neuen Lebensnorm für seine Zeit, und er deutet den Mythos aus dieser neuen lebendigen inneren Gewißheit. Der Mythos erhält sich am Leben nur durch die unaufhörliche Metamorphose seiner Idee, die neue Idee aber wird getragen von dem sicheren Vehikel des Mythos. Das gilt schon für das Verhältnis des Dichters zur Überlieferung im homerischen Epos. Es wird aber bei Hesiod noch weit deutlicher, denn hier ist uns die dichterische Individualität in ihren originalen Denkmotiven noch klar erkennbar, weil sie sich zum erstenmal bewußt als Individualität gibt und weil sie so sichtlich die mythische Überlieferung zum Werkzeug ihres eigenen geistigen Willens macht. Diese normative Verwendung des Mythos wird noch verdeutlicht dadurch, daß Hesiod in den Erga unmittelbar neben die Prometheusgeschichte die Erzählung von den fünf Wcltaltern stellt mit der kurzen, fast formlosen, aber für den Sinn der Anführung sehr charakteristischen Übergangsformel 2 : „Doch wenn du willst, so werde ich dir noch eine zweite Geschichte kunstreich bis zum Gipfel vollenden. Du aber nimm sie dir zu Herzen!" D a ß gerade hier beim Übergang vom ersten Mythos zum zweiten Perses angeredet wird war nötig, um dem Hörer den aktuellen lehrhaften Zweck der beiden scheinbar so weit abschweifenden Erzählungen zum Bewußtsein zu bringen. Die Geschichte von dem goldnen Weltalter und den folgenden sich immer mehr verschlimmernden Zeiten soll zeigen, daß die Menschen es wirklich ursprünglich besser hatten als jetzt und 1 D i e Erklärer b e m e r k e n nicht, d a ß der A n f a n g der E r g a n a c h d e m einleitenden G e b e t a n Z e u s , das m i t d e n Worten schließt „ i c h a b e r will d e m Perses d i e W a h r h e i t s a g e n " , in seiner typischen F o r m ουκ άρα μοΰνον έήν d e m E i n g a n g homerischer R e d e n n a c h g e b i l d e t ist. D a v o n h ä n g t aber das V e r ständnis der F o r m des g a n z e n G e d i c h t e s a b : es ist eine einzige verselbständigte u n d z u m Epos erweiterte ' R e d e ' e r m a h n e n d e n Charakters. Die lange Lehrrede des P h o i n i x i m 9. B u c h der Ilias k o m m t d e m schon recht nahe. î Erga 106

[1/101]

101

ohne Mühsal und Leiden lebten. Sie dient als Erläuterung des Prometheusmythos. Daß die beiden Mythen, wenn m a n sie als real nimmt, sich ausschließen, kümmert Hesiod nicht, was für seine völlig ideelle Auffassung des Mythos besonders bezeichnend ist. Als Ursache des zunehmenden Unglücks der Menschen nennt Hesiod wachsende Hybris und Unverstand, Schwinden der Gottesfurcht, Krieg und Gewalttat. I m fünften, dem eisernen Weltalter, in dem der Dichter beklagt selbst leben zu müssen, herrscht nur noch das Faustrecht. Nur der Übeltäter vermag noch sich zu behaupten. Als dritte Geschichte reiht Hesiod die Fabel vom Habicht und der Nachtigall an. Er richtet sie ausdrücklich an die Richter, die mächtigen Herren. Der Habicht raubt die Nachtigall, die 'Sängerin', und auf ihr jämmerliches Klagen antwortet der gefiederte Räuber, während er sie in seinen Krallen in die Lüfte e n t f u h r t 1 : „ U n selige, was nützt dein Geschrei? Jetzt hat dich ein Mächtigerer in der Gewalt, und du folgst mir wohin ich will. An mir allein ist es, ob ich dich fresse oder loslasse". Einen Ainos nennt Hesiod diese Tiergeschichte. Solche Fabeln waren von jeher im Volke beliebt. Sie erfüllten im volkstümlichen Denken eine ähnliche Aufgabe wie das mythische Paradeigma in den Reden des Epos: sie enthalten eine allgemeine Wahrheit. Auch das mythische Beispiel heißt bei Hemer und Pindar noch Ainos. Erst später ist der Begriff auf die Tierfabel beschränkt worden. In dem Wort liegt die anerkannte Geltung des erteilten Ratschlages ausgedrückt. Ainos ist also nicht nur die Tierfabel vom Habicht und der Nachtigall. Dies ist nur das Paradeigma, das er speziell den Richtern gibt. Echter Ainos sind auch die Prometheusgeschichte und der Mythos von den Weltaltern. Dieselbe Anrede nach beiden Seiten, an Perses und an die Richter, wiederholt sich im folgenden Teil des Gedichts, der den Fluch der Ungerechtigkeit und den Segen der Gerechtigkeit durch die packenden religiösen Bilder der gerechten und der ungerechten Stadt veranschaulicht. Dike wird dem Dichter hier eine selbständige Gottheit, die Tochter des Zeus, die bei ihm sitzt und ihm klagt, wenn die Menschen ungerechten Sinn hegen, damit er sie zur Rechenschaft ziehe. Sein Auge sieht 1

102

Erga 202 [II 102]

auch auf diese Stadt und auf den Rechtsstreit, der sich in ihr abspielt. Er wird nicht zulassen, daß die ungerechte Sache triumphiert. Und wieder wendet sich der Dichter an Perses „Beherzige dies alles und höre auf das Recht, vergiß alle Gewalt. Denn das ist der Brauch, den Zeus den Menschen verordnet hat: die Fische und wilden Tiere und die geflügelten Vögel sollen einander fressen, da es unter ihnen kein Recht gibt. Aber den Menschen verlieh er das Recht, das höchste der Güter". Deutlich knüpft diese Unterscheidung des Menschen vom Tiere an das Gleichnis vom Habicht und der Nachtigall an. Unter Menschen sollte nach Hesiods Überzeugung niemals an das Recht des Stärkeren appelliert werden, wie es der Habicht gegenüber der Nachtigall tut. In dem ganzen ersten Teil des Gedichts spricht ein Gottesglaube, der die Rechtsidee in den Mittelpunkt des Lebens stellt. Dieses ideenhafte Element ist natürlich kein originales Gewächs des einfachen altertümlichen Bauernlebens. Es ist in der Gestalt, wie wir es bei Hesiod finden, wohl überhaupt nicht im griechischen Mutterlande zu Hause, sondern setzt ebenso wie der rationale Zug, der in dem Systemtrieb der Theogonie sich geltend macht, die städtischen Verhältnisse und die fortgeschrittene Geistesentwicklung Ioniens voraus. Die älteste Quelle dieser Gedanken ist für uns Homer. Er enthält die ersten Lobpreisungen des Rechts. In der Ilias tritt die Rechtsidee jedoch noch weniger in den Vordergrund als in der Odyssee, der Hesiod zeitlich näher steht. Hier finden wir schon die Vorstellung, daß die Götter die Garanten des Rechtes sind, daß ihre Weltregierung nicht wahrhaft göttlich wäre, wenn sie dem Recht nicht schließlich zum Siege verhülfe. Dieses Postulat beherrscht die ganze Handlung der Odyssee. Auch in der Ilias gibt sich in einem berühmten Gleichnis der Patroklie schon der Glaube zu erkennen, daß Zeus schreckliches Unwetter vom Himmel sendet, wenn die Menschen auf Erden das Recht beugen 2 . Doch 1

Erga 274. Nomos bedeutet an dieser Stelle noch nicht 'Gesetz'. Π 384—393· Es verdient Beachtung, daß die ethisch-rechtliche ZeusIdee sich hier gerade in einem Gleichnisse so ausgeprägt findet wie sonst in der ganzen Ilias kaum. Es ist längst beobachtet, daß in den Gleichnissen das reale Leben, wie der Dichter es aus der Erfahrung kennt, oft durch die streng heroische Stilisierung der epischen Erzählung durchblickt. 2

[1/103]

103

solche Einzelbekenntnisse einer ethischen Gottesvorstellung und selbst die durchgeführte Anschauung der Odyssee sind noch weit entfernt von der religiösen Leidenschaft des Rechtspropheten Hesiodos, der in seinem unbeugsamen Glauben an den Schutz des Rechtes durch Zeus als einfacher Mann des Volkes den Kampf mit seiner Umwelt aufnimmt und uns mit seinem unwiderstehlichen Pathos noch nach Jahrtausenden fortreißt. Den Inhalt seiner Rechtsidee, selbst einzelne charakteristische sprachliche Wendungen übernimmt er von Homer, aber die reformatorische Kraft, mit der er diese Idee in der Wirklichkeit erlebt, ihre absolute Vorherrschaft in seiner Anschauung vom göttlichen Walten und vom Sinne der Welt kündigt eine neue Zeit an: für sie wird der Gedanke des Rechts die Wurzel, aus der eine neue bessere menschliche Gesellschaft erwachsen soll. Die Gleichsetzung des göttlichen Willens des Zeus mit der Idee des Rechts und die Schöpfung der neuen Göttergestalt der Dike, die in so enge Verbindung mit Zeus, dem höchsten Gott, gesetzt wird, sind die unmittelbaren Wirkungen der religiösen Kraft und des sittlichen Ernstes, mit dem die aufsteigenden Stände des Bauern und des städtischen Bürgers die von ihnen vertretene Forderung des Rechtsschutzes empfinden. £s ist unmöglich anzunehmen, daß Hesiod in seinem hinter der überseeischen geistigen Entwicklung sicherlich zurückgebliebenen böotischen Hinterlande als erster diese Forderung erhoben und ihr soziales Pathos ganz aus sich selbst geschöpft hätte. £r hat sie nur im Kampf mit dieser Umwelt besonders heftig erlebt und wurde darum zu ihrem Verkünder. Hesiod erzählt selbst in den Erga wie sein Vater aus dem äolischen Kyme in Kleinasien gänzlich verarmt in Böotien eingewandert war, und man darf vermuten, daß das Gefühl der Freudlosigkeit dieser neuen Heimat, das noch der Sohn so bitter äußert, sich vom Vater auf ihn übertragen hat. Die Familie hat sich in dem elenden Dorf As kra niemals ganz zu Hause gefühlt. Hesiod nennt es „im Winter abscheulich, im Sommer unleidlich und nimmer erfreulich", und was liegt näher als daß er auch die sozialen Verhältnisse Böotiens in seinem Elternhaus von Jugend 1

104

Eiga 633 ff. [I/104J

an mit bewußt kritischem Auge sehen gelernt hat. Den Gedanken der Dike hat er in seine Umgebung hineingetragen. Schon in der Theogonie meldet er sich vernehmlich an Κ Offenbar hat die ethische Götterdreiheit der Hören, Dike Eunomia und Eirene, dort ihre Stellung neben den drei Moiren und den drei Chariten der persönlichen Vorliebe des Dichters zu verdanken. Ebenso wie er bei der Genealogie der Winde, Notos Boreas und Zephyros, sich ausführlich in der Schilderung des Schadens ergeht, den sie dem Schiffer und Landmann bringen 2 , werden die Göttinnen des Rechts, der guten Ordnung und des Friedens als Förderer der „Werke der Menschen" gepriesen. In den Erga durchdringt Hesiod mit seinem Rechtsgedanken den ganzen Lebensinhalt und das Denken des Bauerntums. Durch die Verbindung der Rechtsidee mit dem Gedanken der Arbeit ist es ihm gelungen, in den Erga das Werk zu schaffen, das die geistige Form und den realen Inhalt des Bauernlebens aus einem beherrschenden Gesichtspunkte entfaltet und erzieherisch mobilisiert. Das wird jetzt noch in kurzen Zügen an dem weiteren Aufbau der Erga zu zeigen sein. Unmittelbar an die Mahnung, in die der erste Teil ausklingt, dem Recht zu folgen und von aller Ungerechtigkeit ein für allemal zu lassen, knüpft Hesiod eine neue Anrede des Bruders, jene berühmten Verse, die seit Jahrtausenden losgelöst aus ihrem Zusammenhang von Mund zu Mund gehen 3. Durch sie allein schon ist Hesiod unsterblich. ,,Laß mich dir raten, Perses, du großes Kind, aus richtiger Erkenntnis". Und nun nimmt das Wort des Dichters einen väterlich überlegenen, aber warmen und gewinnenden Ton an. „ Z u m Elend kann man leicht in Scharen hingelangen, glatt ist der Weg, es wohnt nicht weit. Doch vor den Erfolg haben die unsterblichen Götter den Schweiß gesetzt. Lang und steil ist der Pfad dort hinauf und rauh zuerst. Doch wenn du zur Höhe gelangt bist, leicht fallt er dann trotz der Beschwer". Mit „Elend" und „Erfolg" sind die griechischen Worte κακότηΐ und άρετή nicht voll wiederzugeben, aber es ist darin wenigstens ausgedrückt, daß es sich nicht um Schlechtigkeit und Tugend im moralischen Sinne handelt, 1

Theog. 901

[ΐ/ιοη

» Theog. 869

3

Erga 286 fr.

105

wie man im späteren Altertum verstand Der Abschnitt knüpft wieder an die Eingangsworte des ersten Teils von der guten und bösen Eris an. Nachdem der Unsegen des Streites dem Hörer im ersten Teil deutlich vor Augen gestellt worden ist, soll jetzt der Wert der Arbeit gezeigt werden. Sie wird als der beschwerliche aber einzige Weg zur „Arete" gepriesen. Der Begriff umfaßt sowohl, die persönliche Tüchtigkeit wie das was sie hervorbringt, Wohlstand Erfolg Ansehen. Es ist nicht die alte adlige kriegerische Arete, auch nicht die des grundbesit?enden Standes, die den Reichtum zur Voraussetzung hat, sondern die des schaffenden. Mannes, die ihren Ausdruck in einem mäßigen Besitz findet. Damit ist das Stichwort für den zweiten Teil, die eigentlichen Erga, gefallen. Das Ziel ist die Arete, wie der Mann aus dem Volke sie versteht. Er will es zu etwas bringen. Anstelle des ehrgeizigen Wettstreits der ritterlichen Mannestugend, wie die Adelsethik sie fordert, tritt der stille zähe Wetteifer der Arbeit. Im Schweiße seines Angesichts soll der Mensch sein Brot essen, aber das ist kein Fluch für ihn, sondern ein Segen. Nur um diesen Preis ist die Arete feil. Hier ist vollends klar, daß Hesiod sich bewußt vorsetzt, der adligen Zucht, wie das homerische Epos sie spiegelt, eine volkstümliche Erziehung, eine Lehre von der Arete des einfachen Mannes an die Seite zu stellen. Gerechtigkeit und Arbeit sind die Pfeiler, auf denen sie ruht. Aber kann man Arete denn lehren? Diese Grundfrage steht am Anfang jeder Ethik und Erziehung. Kaum ist das Wort Arete ausgesprochen, so wirft Hesiod sie auf. „Gewiß, der allerbeste ist der Mann, der selber alles überlegt und einsieht, was künftig und am Ende das Richtige ist. Doch wacker ist auch, wer einem andern, der ihn richtig belehrt, zu folgen weiß. Nur wer weder selbst erkennt noch sich die Lehren eines andern zu Herzen nimmt, ist ein unbrauchbarer Mensch." Diese Worte stehen nicht ohne Grund zwischen der Nennung des Ziels, der Arete, und dem Anfang der Einzelsprüche, die sich unmittelbar an sie anschließen. Perses und wer immer sonst die Lehre des Dichters hören mag, soll sich willig von ihr fuhren lassen, 1

106

Vgl. Wilamowitz, Sappho und Simonides (Berlin 1913) 169

[H106J

wenn er nicht selbst im eigenen Innern zu erkennen vermag, was ihm frommt und schadet. Damit ist das Recht und der Sinn des ganzen Lehrvortrags festgelegt. In der späteren philosophischen Ethik haben diese Verse als die erste Grundlegung einer ethischen Lehre und Erziehung gegolten. Aristoteles führt sie in vollem Umfang in der Nikomachischen Ethik an, wo er einleitend über den richtigen Ausgangspunkt (άρχή) der ethischen Belehrung h a n d e l t D a s ist ein wichtiger Fingerzeig für das Verständnis ihrer Aufgabe im Zusammenhang der Erga. Auch dort spielt die Frage des Erkennens eine große Rolle. Perses hat selbst nicht die richtige Einsicht, aber der Dichter muß seine Beiehrbarkeit voraussetzen, wenn er überhaupt den Versuch macht, seine eigene Überzeugung ihm mitzuteilen und auf ihn einzuwirken. Der erste Teil lockert den Boden für die Saat der Lehre des zweiten Teils. Er rodet Vorurteile und Irrtümer des Denkens aus, die der Erkenntnis der Wahrheit im Wege stehen. Durch Gewalt, Streit und Unrecht kommt der Mensch nicht zum Ziel. Er muß sich mit seinem Streben in die herrschende göttliche Weltordnung einfügen, um zu wahrem Gedeihen zu gelangen. Ist das einmal innerlich zur Einsicht des Menschen gekommen, dann kann ein anderer durch Belehrung ihm helfen den Weg dahin zu finden. Und nun folgen nach dem allgemeinen Teil, der sie in die bestimmte Situation der Gegenwart hineinstellt, die einzelnen praktischen Lehren des Hesiodos 2 , anhebend mit einer Reihe von Sprüchen, die den hohen Wert der Arbeit preisen. „ D a r u m sei eingedenk meiner Ermahnung und arbeite, Perses, göttlicher Sproß, auf daß der Hunger dich hasse und dich liebe die schönbekränzte züchtige Demeter und deine Scheuer mit Vorrat fülle. Wer untätig lebt, dem zürnen Götter und Menschen. Er gleicht in seinem Sinn den Drohnen, die untätig die mühselige Arbeit der Bienen verzehren. Mögest du rechte Lust haben, geordnete Arbeit in rechtem M a ß zu verrichten, damit die Scheunen dir voll sind von dem was jede Jahreszeit an Vorrat dir beut." „Arbeit ist keine Schande, Untätigkeit ist Schande. Arist. Eth. Nie. A 2, 1095 b 1 0 Die schlagendste Parallele zu diesem Aufbauprinzip der Erga die Spruchsammlung des Theognis (vgl. S. 263). 1

2

[1/107]

bietet

107

Wenn du arbeitest, wird dich bald der Untätige beneiden, sobald du Gewinn hast. Dem Gewinne folgt Achtung und Ansehen. In deiner Lage ist Arbeiten das einzig Richtige, wenn du nur deinen begehrlichen Sinn vom fremden Gut zur eigenen Arbeit hinwendest und für deinen Unterhalt sorgst, wie ich es dir rate." Hesiod spricht dann von der schädlichen Scham des Armen, vom ungerecht errafften und von Gott geschenkten Besitz und geht über zu Einzelvorschriften über Verehrung der Götter, Frömmigkeit und Besitz. Er spricht über das Verhältnis zu Freund und Feind, besonders zu den lieben Nachbarn, über Geben und Nehmen und Sparen, über Vertrauen und Mißtrauen, besonders gegenüber den Frauen, über Erbfolge und Kinderzahl. D a n n folgen als ein in sich geschlossener Komplex die Werke des Bauern und nach ihnen die des Schiffers, an die wieder abschließend eine Sammlung von Einzelsprüchen sich anfügt. Den Schluß bilden die 'Tage'. Wir brauchen diese Teile inhaltlich nicht zu analysieren. Besonders die Lehre von der Berufsarbeit des Bauern und Schiffers — für Böotien lag beides nicht so fern voneinander wie für unser Gefühl — geht so tief in die realen Einzelheiten, daß wir sie" trotz des großen Reizes, den der Einblick in das alltägliche Arbeitsleben jener frühen Zeit hat, hier nicht verfolgen können. Die wunderbare Ordnung, die dieses ganze Leben beherrscht und ihm seinen Rhythmus und seine eigene Schönheit gibt, entspringt aus seiner engen Verbindung mit der Natur und ihrem unveränderlichen, immer wiederkehrenden Lauf. Wie das soziale Gebot der Gerechtigkeit und Redlichkeit und die Lehre von der Unzuträglichkeit des Unrechts im ersten Teile in die sittliche Weltordnung eingebettet ist, so wächst die Arbeits- und Berufsethik des zweiten Teils der Erga aus der natürlichen Daseinsordnung hervor u n d empfangt ihr Gesetz aus ihr. Hesiods Denken scheidet beides noch nicht, sittliche und natürliche Ordnung stammen für ihn gleichermaßen von der Gottheit. Des Menschen ganzes T u n und Lassen in seinem Verhältnis zu den Mitmenschen und zu den Göttern wie in seiner Arbeit ist eine sinnvolle Einheit. Wie bereits bemerkt, schöpft Hesiod den reichen Schatz menschlicher Arbeits- und Lebenserfahrung, den er in diesem 108

[I/Î08J

Teil der Erga vor dem Hörer ausbreitet, aus der tief gewurzelten, Jahrhunderte alten Überlieferung des Volkes. Dieses Heraufsteigen des Unvordenklichen, erdhaft Gewachsenen, seiner selbst noch TJnbewußten ist das eigentlich Ergreifende an dem Gedicht Hesiods und eine Hauptquelle seiner Wirkung. Seine Realitätsfülle in ihrer gedrungenen Kraft stellt das konventionelle Rhapsodentum mancher homerischer Gesänge in den Schatten. Eine neue Welt, deren Reichtum an urwüchsiger menschlicher Schönheit das heroische Epos nur in einigen Gleichnissen und in einzelnen betrachtenden Partien wie der Beschreibung des Achilleusschildes zu ahnen schien, bietet dem Auge ihr frisches Grün dar, der kräftige Geruch der vom Pflug gelockerten Erde umfängt uns und aus den Büschen tönt der Kuckucksruf, der die ländlichen Arbeiter zum Werke antreibt. Wie weit ist das entfernt von der Romantik hellenistischer Großstadt- und Gelehrtenpoesie, die das Idyllische wiederentdeckt. Hesiods Gedicht gibt wirklich das Lebensganze des ländlichen Menschen. Indem er den Gedanken des Rechts als der Grundlage alles sozialen Lebens in diese alte, naturgeborene Berufsund Arbeitswelt hineinbaut, wird er zum Bewahrer und Neuschöpfer ihres inneren Gefügcs. Er zeigt dem arbeitenden Manne sein mühsames gleichförmiges Leben im Spiegel eines ermutigenden höheren Ideals. Er braucht nicht mit Neid auf die bevorrechtete Gesellschaitsschicht zu blicken, aus der bis dahin auch dem Volke alle seine geistige Nahrung gekommen war, sondern findet in seinem eigenen Lebenskreise und in seiner gewohnten Tätigkeit, selbst in ihren Härten einen höheren Sinn und Zweck. In Hesiods Dichtung vollzieht sich vor unseren Augen die geistige Selbstgestaltung einer bis dahin von bewußter Bildung ausgeschlossenen Volksschicht. Sie bedient sich dabei der Vorteile, die die Kultur des höheren Standes ihr bietet, und der geistigen Formkräfte der höfischen Poesie, aber sie schöpft ihren eigentlichen Gehalt und ihr Ethos doch ganz aus dem Urgrund ihres eigenen Lebens. Weil Homer nicht nur Standesdichtung ist, sondern überall aus der Wurzel eines adligen Ideals zu allgemein menschlicher Höhe und Weite des Geistes emporwächst, hat er die Kraft, einen unter ganz anderen Existenzbedingungen lebenden Volksteil zu eigener Kultur zu führen, [1/109]

109

ihn seinen eigenen menschlichen Lebenssinn finden und nach innerem Gesetz gestalten zu lehren. Das ist wahrlich etwas Großes, aber noch größer ist es, daß durch diesen Akt geistiger Selbstformung das Bauerntum aus seiner Isolierung heraustritt und seine Stimme sich auf der Agora der griechischen Nation Gehör verschafft. Wie im Homer die Adelskultur zur höchsten menschlichen Allgemeinwirkung sich vergeistigt, so greift auch die bäuerliche Gesittung im Hesiod schon über die engen Schranken ihrer sozialen Sphäre hinaus. Mag auch noch so viel in seinem Gedichte nur für den Bauer und Landarbeiter anwendbar und verständlich sein, der für die Gesamtheit fruchtbare sittliche Wert dieser Lebensanschauung ist durch das Werk des Dichters ein für allemal gehoben und aller Welt zugänglich gemacht. Die agrarische Gesellschaftsverfassung war freilich nicht berufen, dem Leben des griechischen Volkes sein endgültiges Gepräge zu geben. Ihre eigentümlichste und abschließende Form fand die griechische Bildung erst in der Polis. Was sich von ländlicher bodenständiger Kultur daneben erhielt, trat doch geistig völlig in den Hintergrund. Um so wichtiger war es, daß in Hesiod das griechische Volk zu allen Zeiten einen Erzieher zu dem Ideal der Arbeit und der strengen Rechtlichkeit besaß, das auf diesem ländlichen Boden gewachsen war und das seine Geltung auch unter ganz andersartigen sozialen Verhältnissen behielt. In dem Erziehertum Hesiods liegt die eigentliche Wurzel seines Dichtertums. Es beruht weder auf der Beherrschung der epischen Form noch haftet es an dem Stoff als solchem. Betrachtet man das hesiodische Lehrgedicht nur als die Anwendung der mehr oder weniger originell gehandhabten Sprache und Versform des Rhapsoden auf einen für das Gefühl späterer Geschlechter 'prosaischen* Inhalt, so kommt man zu Zweifeln an dem dichterischen Charakter dieser Werke überhaupt, wie sie ähnlich schon die antike Philologie gegenüber dem späteren Lehrgedicht aussprichtx. Hesiod selbst hat den Rechtsgrund seiner dichterischen Sendung fraglos in seinem prophetischen Willen gefunden, der Lehrer seines Volkes zu werden. Mit 1

110

Anecdota Bcklceri 733, 13 [1/110]

diesen Augen schauten seine Zeitgenossen den Homer an, eine andere Form höherer geistiger Wirksamkeit war für sie nicht vorstellbar außer der des Dichters und Homerikers. Schon an der idealen Form der epischen Sprache haftete untrennbar die Erziehergesinnung des Dichters, wie man sie in der Wirkung Homers an sich selbst verspürte. Indem Hesiod die Nachfolge Homers auf diese Weise antrat, wurde für alle Folgezeit bestimmend, weit über die Grenzen der bloß lehrhaften Poesie hinaus, das Wesen dichterischer Schöpfertätigkeit in ihren bildnerischen, Gemeinschaft aufbauenden Sinn verlegt. Diese aufbauende Kraft erwächst ihr immer nur jenseits alles bloßen moralischen oder sachlichen Belchrungseifers aus einem alles neubelebenden Willen zum Wesen der Dinge, der aus tiefster Erkenntnis geboren ist. Die unmittelbare Bedrohung des Bestandes der altehrwürdigen Ständegemeinschaft durch Hader und Ungerechtigkeit, wie Hesiod sie vor sich sieht, hat ihm den Blick aufgeschlossen für die unantastbaren Grundfesten, auf denen das Ganze des sozialen Lebens ruht und die auch den Einzelnen tragen. Dieser Wesensblick, der überall zu dem ursprünglichen und einfachen Lebenssinn hindurchdringt, ist das was den wahren Dichter ausmacht. Vor ihm gibt es keine an sich prosaischen oder poetischen Stoffe. Wenn Hesiod als erster griechischer Dichter im eigenen Namen zu seiner Umgebung spricht, so steigt er damit aus der Sphäre epischer Ruhmverkündung und Sagendeutung in die Wirklichkeit und den K a m p f der Gegenwart hinab. Daß er die Heroenwelt des Epos als eine idealische Vergangenheit empfindet, spricht sich deutlich in dem Mythos von den fünf Weltaltern aus, wo er sie zur eisernen Gegenwart in Gegensatz stellt. In der Zeit Hesiods begehrt der Dichter unmittelbarer auf das Leben zu wirken. Hier ist zum erstenmal ein Führeranspruch erhoben, der sich weder auf adlige Abkunft stützt noch auf staatlich anerkannte Stellung. Der Vergleich mit den Propheten Israels liegt nahe, und er ist längst gezogen worden. Aber schon bei dem ersten griechischen Dichter, der mit der Forderung auftritt, aus seiner überlegenen Einsicht zu der Gemeinsamkeit öffentlich zu reden, ist der Unterschied deutlich, der das Griechentum als eine neue Epoche der Sozial-

[I/I1IJ

111

geschichte ankündigt. Mit Hesiod beginnt das Führertum des Geistes, das der griechischen Welt ihr Gepräge gibt. Es ist noch der 'Geist' in seinem ursprünglichen Sinne, als der echte spiritus, der göttliche Hauch, den der Dichter, wie er selbst es als reales religiöses Erlebnis schildert, durch die persönliche Inspiration der Musen am Fuße des Helikon empfangen hat. Die Musen selbst sagen von ihrer Eingebung, als sie Hesiod zum Dichter berufen: „Zwar wir wissen viel Lüge zu melden dem Wirklichen ähnlich, Aber wir wissen auch, wenn wir es wollen, die Wahrheit zu künden" x. So steht es im Proömium der Theogonie. Die W a h r h e i t will Hesiod auch nach dem Proömium der Erga in diesem Mahngedicht seinem Bruder verkündigen 8 . Auch dieses Bewußtsein, eine Wahrheit zu lehren, ist gegenüber Homer etwas Neues, und der Mut zur Ichform der Rede muß damit irgendwie zusammenhängen. Es ist die wahre Selbstcharakteristik des griechischen Dichterpropheten, der die irrewandelnden Menschen durch die tiefere Erkenntnis des Zusammenhangs der Welt und des Lebens auf den richtigen Weg führen will. 1

112

Theog. 27

1

Erga 10

[U112]

SPARTANISCHE STAATSERZIEHUNG Die Polis als Bildungsform und ihre Typen Erst in der sozialen Lebensgestaltung der Polis hat die griechische Bildung ihre klassische Form erreicht. Adelsgesellschaft und Bauerntum werden zwar durch die Polis keineswegs einfach abgelöst, die feudale und bäuerliche Lebensform ragt zumal in die ältere Geschichte der Polis überall hinein und besteht neben ihr auch später fort. Aber die geistige Führung geht auf die städtische Kultur über. Auch wo sie sich ganz oder teilweise auf aristokratischer und agrarischer Grundlage aufbaut, bedeutet sie ein neues Prinzip, eine festere und geschlossenere Form des menschlichen Gemeinschaftslebens, die für die Griechen in höherem Maße als irgend eine andere bezeichnend ist. Noch für unsere Sprache sind die von der Polis abgeleiteten Worte 'Politik' und 'politisch' lebendiger Kulturbesitz, sie erinnern daran, daß erst mit der griechischen Polis das erwächst, was wir den Staat nennen, so daß wir das griechische Wort j e nach dem Zusammenhang mit Staat oder Stadt übersetzen müssen. Der Staat ist für die Jahrhunderte vom Ende des patriarchalischen Zeitalters bis zur Gründung des makedonischen Weltreiches durch Alexander fast gleichbedeutend mit der Polis. Obgleich schon die klassische Zeit räumlich ausgedehntere Staatsbildungen hervorgebracht hat, kennt sie solche doch nur als Zusammenfassung einer größeren Anzahl von Stadtstaaten mit größerer oder geringerer Selbständigkeit. Die Polis ist das allbeherrschende Zentrum, von wo aus die Geschichte dieser wichtigsten Periode der griechischen Entwicklung sich organisiert, sie steht daher im Vordergrund der historischen Betrachtung. [1/113]

113

Man würde sich jedoch den Weg zum Verständnis der griechischen Geschichte von vornherein abschneiden, wenn man nach hergebrachter Teilung des Stoffs den Staat dem 'politischen' Historiker und dem Erforscher des Staatsrechts überließe und den Inhalt des geistigen Lebens von ihm trennte. Es ließe sich wohl eine deutsche Bildungsgeschichte für große Zeiträume fast ganz ohne das Politische schreiben, und zentral ist es für sie erst in neuester Zeit geworden. Eben deshalb hat man bei uns lange Zeit auch die Griechen und ihre Kultur vorwiegend vom ästhetischen Gesichtspunkt betrachtet. Aber damit ist der Schwerpunkt gewaltsam verschoben. Er kann nur in der Polis liegen, da sie in sich alle Sphären des geistigen und menschlichen Lebens umfaßt und die Form seines Aufbaus entscheidend bestimmt. Alle Zweige geistiger Tätigkeit wachsen in der frühen Periode des Griechentums unmittelbar aus der einheitlichen Wurzel des Lebens der Gemeinschaft hervor. Man mag es auch vergleichen mit einer Menge von Bächen und Flüssen, die in ein einziges Meer münden: in das Gesamtleben der Bürgerschaft, von dem sie Richtung und Ziel empfangen und das durch unsichtbare unterirdische Adern wieder ihre Quellen speist. Die griechische Polis schildern heißt also das Leben der Griechen in seiner Totalität darstellen. Wenn das auch eine praktisch kaum ausführbare ideale Aufgabe bleibt, wenigstens in der üblichen Art der aufs einzelne gerichteten, zeitlich-linear fortschreitenden Erzählung der geschichtlichen Tatsachen, so muß die Erkenntnis dieser Einheit doch auf jedem Gebiet fruchtbar werden. Die Polis ist der soziale Rahmen für die Geschichte der griechischen Bildung, in den wir die Werke der 'Literatur' bis zum Ausgang der attischen Zeit stellen müssen. Es kann naturgemäß nicht unsere Aufgabe sein, auf die unabsehbare Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen des Polislebens und der politischen Verfassungen einzugehen, die die Disziplin der 'Staatsaltertümer' im Laufe des letzten Jahrhunderts zusammengetragen hat. Zur Konzentration des weitschichtigen Stoffs nötigt schon die Beschaffenheit unserer Quellen, die zwar allerlei wichtige Einzelheiten für die verschiedenen Städte liefern, aber meist nicht gestatten sich von ihrem wirklichen sozialen Dasein eine anschauliche Vorstellung zu bilden. Entscheidend 114

[11114]

ist auch hier für unsere Betrachtung, wie der Geist der griechischen Polis in der Poesie und der ihr nachfolgenden Prosa seinen idealen, den geistigen Charakter der Nation dauernd bestimmenden Ausdruck gefunden hat. Dadurch werden wir von vornherein auf wenige Haupttypen des griechischen Staates verwiesen, die für ihn stellvertretende Bedeutung haben. Schon Plato ist bei dem Versuch, in den 'Gesetzen' die Summe des staatserzieherischen Denkens der hellenischen Vorzeit zu ziehen, in derselben Weise von den Dichtern ausgegangen und ist dabei auf zwei Grundformen gestoßen, die ihm in ihrer Vereinigung das Ganze der politischen Bildung seines Volkes zu repräsentieren schienen: auf den spartanischen Kriegerstaat und den seiner Herkunft nach ionischen Rechtsstaat. Auf sie soll daher besonders eingegangen werden. Wir finden hier die diametrale Verschiedenheit des geistigen Wesens der griechischen Stämme vor als eine Urtatsache des geschichtlichen Lebens der griechischen Nation. Sie ist, in einem noch viel weitergehenden Sinne als für den griechischen Staat, für die Struktur des griechischen Geisteslebens von grundlegender Wichtigkeit, j a das eigentümliche Wesen der griechischen Kultur läßt sich nur aus dieser völkischen Vielgestaltigkeit ganz begreifen, sowohl in der Schärfe der in ihr sich entfaltenden Gegensätze wie in der sie schließlich ideell überwindenden und versöhnenden Harmonie. Bei der ionischen Adelskultur und bei den Verhältnissen des böotischen Bauerntums, die Homer und Hesiod schildern, fiel der Stammescharakter für uns noch kaum ins Gewicht, d a uns kein Vergleich mit anderen Stämmen aus derselben Zeit möglich ist. Die aus der Mischung mehrerer Dialekte entstandene Sprache des Epos beweist zwar, daß das kunstvolle Gebilde der homerischen Poesie bereits auf der Zusammenarbeit verschiedener Volksstämme an Sage, Vers und Sprachstil beruht. Aber Verschiedenheiten ihres geistigen Naturells aus diesen Spuren zu erschließen wäre ebenso ein hoffnungsloses Wagnis, wie es der Forschung niemals gelingen konnte, ganze Lieder von einheitlich äolischer Dialektfärbung aus unserem Homer herauszuschälen. U m so schärfer scheidet sich die dorische und ionische Eigenart in der Form des staatlichen Lebens und

[UU5]

115

in der geistigen Physiognomie der Polis. Beide treffen zusammen in dem Athen des 5. und 4. Jahrhunderts. Während das reale Staatsleben Athens die entscheidenden Einwirkungen von dem ionischen Vorbild empfängt, erlebt in der geistigen Sphäre durch den aristokratischen Einfluß der attischen Philosophie die spartanische Idee eine Wiedergeburt und wird in Piatos Bildungsideal mit dem Grundgedanken des ionisch-attischen Rechtsstaats nach Abstreifung seiner demokratischen Form zu einer höheren Einheit verschmolzen. Das Spartaideal des 4. Jhrh. und die Überlieferung

Sparta nimmt weder in der Geschichte der Philosophie noch in der der Kunst eine selbständige Stellung ein. Während der ionische Stamm z. B. in der Entwicklung des philosophischen und ethischen Bewußtseins eine führende Rolle spielt, sucht man in den Darstellungen der griechischen Ethik und Philosophie nach dem Namen Spartas vergebens. In der Geschichte der Erziehung findet er seinen Platz mit um so größerem Recht. Das Eigentümlichste, das Sparta hervorgebracht hat, ist sein Staat, und der Staat zeigt sich hier zum erstenmal als erzieherische Macht im größten Sinne. Die Quellen unserer Kenntnis dieses merkwürdigen Organismus sind leider z. T. ziemlich trübe. Ein Glück ist es bei alledem, daß die zentrale Idee, die die spartanische Erziehung bis in alle Einzelheiten durchdringt, in den unter dem Namen des Tyrtaios überlieferten Gedichten eine so reine und untrügliche Offenbarung findet. Nur dieser machtvollen Kundgebung verdankt sie es, daß sie sich von ihrem historischen Ursprung loslösen und auf die Nachwelt eine bleibende Wirkung ausüben konnte. Aber im Unterschied zu Homer und Hesiod erfahren wir aus der tyrtäischen Elegie, wie es im Wesen dieser reinen Gedankenpoesie liegt, nichts als das bloße Ideal. Wir sind nicht in der Lage, aus ihr den geschichtlichen Untergrund wiederherzustellen, auf dem das Ideal erwachsen ist. Wir müssen dafür auf spätere Quellen zurückgreifen. Unser Hauptzeuge, Xenophons 'Staat der Lakedämonier', ist ein Produkt der teils philosophischen teils politischen Ro116

[1/116]

mantik des 4. Jhrh. v. Chr., die in dem spartanischen Staat eine Art politischer Uroffenbarung erblickte. Aristoteles' verlorene 'Verfassung der Lakedämonier' können wir nur noch für Einzelheiten aus den Artikeln spätantiker Lexika rekonstruieren, die ihr reiches Material benutzt haben. Ihre Tendenz war zweifellos, ähnlich wie in der Würdigung des spartanischen Staates im zweiten Buche der aristotelischen 'Politik', die kritische Ernüchterung des Urteils im Gegensatz zu der üblichen Apotheose Spartas durch die Philosophen. Der Philolakone Xenophon kennt Sparta immerhin aus intimer persönlicher Erfahrung, während der von dem gleichen romantischen Zauber erfüllte Plutarch in seiner Biographie des Lykurg nur noch am Schreibtisch ältere literarische Quellen von sehr verschiedenem Werte mischt. Bei der Verwertung dieser Zeugen müssen wir uns immer gegenwärtig halten, daß sie durchweg schon der bewußten oder unbewußten Reaktion gegen die moderne Bildung des 4. Jhrh. entsprungen sind. Sie sehen in den glücklich primitiven, altertümlichen Verhältnissen Spartas oft anachronistisch die Überwindung von Mängeln ihrer eigenen Zeit und die Lösung von Problemen, die in Wahrheit für den 'weisen Lykurgos' noch gar nicht existiert hatten. Es ist vor allem unmöglich, das Alter der Einrichtungen Spartas zur Zeit des Xenophon und Agesilaos noch genau zu bestimmen. Die einzige Gewähr für ihren älteren Ursprung liegt in dem vielberufenen zähen Konservatismus, der die Lakonen zum Ideal aller Aristokraten machte und ihnen den Abscheu der Demokraten der ganzen Welt zuzog. Aber auch Sparta hat sich entwickelt, und Neuerungen in der Erziehung sind noch in später Zeit nachweisbar. Aus der 'Politik' des Aristoteles stammt das Urteil, daß die spartanische Erziehung eine einseitige Kriegsdressur sei. Der Vorwurf ist schon dem Plato bekannt, mit Rücksicht auf ihn entwirft er in den 'Gesetzen' sein Bild des lykurgischen Staatsgeistes. Wir müssen die Kritik aus der Zeit verstehen, in der sie geschrieben ist. Spartas seit dem siegreichen Ausgang des peloponnesischen Krieges unbestrittene Hegemonie in Griechenland war nach nicht ganz dreieinhalb Jahrzehnten durch die Katastrophe von Leuktra vernichtet. Die Bewunderung seiner Eunomie, seit Jahrhunderten feststehend, hatte einen schweren [Hl 17]

117

Stoß erhalten. Die Abneigung der Griechen gegen die Unterdrücker war allgemein geworden, seitdem ein unersättliches Machtgelüst von Sparta Besitz ergriffen und seine altehrwürdige Zucht entseelt hatte. Das Geld, einst in Sparta fast unbekannt, war in Strömen in das Land geflossen, und ernste Warner hatten einen alten Orakelspruch 'entdeckt9, daß die Geldgier, sonst nichts, Sparta vernichte» werde. In dieser Zeit kalt berechnender Expansionspolitik im Stile des Lysander, wo lakonische Harmosten auf den Akropolen fast aller griechischen Städte despotisch geboten und alle politische Freiheit der dem Namen nach autonomen Städte unterdrückt war, erschien auch die altspartanische Zucht unwillkürlich in dem Lichte des machiavellistischen Gebrauchs, den das Sparta der Gegenwart von ihr machte. Wir kennen das ältere Sparta zu wenig, um seinen Geist mit Sicherheit zu erfassen. Die neueren Versuche zumal, die klassische Form des spartanischen Staates, den 'lykurgischen' Kosmos, als die Schöpfung einer relativ späten Zeit zu erweisen, sind Hypothesen geblieben. Karl Otfried Müller, der geniale Begründer der Geschichte der griechischen Stämme und Städte, selbst ganz erfüllt von der ethischen Größe des Dorertums, die er gegen den traditionellen Kultus Athens in das hellste Licht zu rücken suchte, hat das altspartanische Kriegertum ganz anders und wahrscheinlich richtig verstanden als die Fortdauer eines hochaltertümlichen Zustandes des dorischen Stammes, der sich in Lakonien durch die besonderen Verhältnisse von den Tagen der Völkerwanderung und ersten Landnahme bis in späte Zeit konserviert habe. Die dorische Wanderung, von der sich eine bestimmte Erinnerung bei den Griechen stets erhalten hatte, war der letzte der aus dem Norden der Balkanhalbinsel in Griechenland eingedrungenen Völkerschübe wahrscheinlich mitteleuropäischer Herkunft, durch deren Vermischung mit der alteingesessenen und fremdrassigen mediterranen Bevölkerung die historischen Griechen entstanden sind. In Sparta hat sich die Eigenart der Einwanderer am reinsten erhalten. Von dem dorischen Stamm hat wohl Pindar sein Ideal des blonden hochrassigen Menschentypus hergenommen, als den er nicht nur den homerischen Menelaos, sondern auch den Nationalhelden 118

[I/Î18J

Achilleus und schlechthin alle „blondhaarigen D a n a e r " der heroischen Vorzeit des Hellenentums sich vorstellt. Auszugehen ist jedenfalls von der Tatsache, daß die Spartiaten nur die spät übergelagerte dünne Herrenschicht der lakonischen Bevölkerung bilden, unter ihnen steht eine arbeitende, freie bäuerliche Volksklasse, die Periöken, und das leibeigene Helotentum, die fast rechtlose Masse der Unterworfenen. Die antiken Berichte geben von Sparta das Bild eines dauernden Kriegslagers. Dieser Charakter ist mehr durch den inneren Zustand des Gemeinwesens bedingt als durch eine nach außen gerichtete Eroberungssucht. Das in historischer Zeit politisch machtlose Doppelkönigtum der Herakliden, das nur im Felde jeweils seine ursprüngliche Bedeutung wiedererlangt, ist ein Rudiment des alten Heerkönigtums aus der Zeit der dorischen Einwanderung, vielleicht aus zwei verschiedenen Schüben herrührend, deren Führer sich nebeneinander behauptet hatten. Die spartanische Volksversammlung ist noch ganz die alte Heergemeinde, es wird nicht debattiert sondern mit J a oder Nein abgestimmt über die Anträge, die der R a t der Alten vorlegt. E r hat das R e c h t , die Versammlung aufzulösen, und kann seine Vorlagen bei Abstimmungen mit unerwünschtem Ergebnis zurückziehen. Das Ephorat ist die mächtigste Behörde des Staates, es schränkt die politischen Befugnisse des Königtums auf ein Minimum ein. Seine Einrichtung stellt einen mittleren Ausweg dar aus dem Dilemma der Machtspannung zwischen Herrscher und Volk, der auch dem Volk nur ein Mindestmaß von Rechten zugesteht und den ererbten autoritativen Charakter des öffentlichen Lebens wahrt. Es ist bezeichnenderweise die einzige Einrichtung, die nicht auf die Gesetzgebung des Lykurg zurückgeführt wurde. Diese angebliche Gesetzgebung ist das Gegenteil dessen, was die Griechen sonst darunter verstanden. Es ist keine Kodiñkation einzelner staats- und zivilrechtlicher Sätze sondern der Nomos im ursprünglichen Sinne, das geltende mündliche Herkommen, von dem nur einige feierlich festgelegte Grundgesetze, die sogenannten Rhetren wie die über die Befugnisse der Volksversammlung, die Plutarch überliefert 1 , schriftlich fixiert waren. 1

[U119J

Plut. Lyc. 6 119

Die antiken Quellen betrachten diesen Z u g nicht als einen Rest primitiver Zustände, sondern erkennen in ihm im Gegensatz zu der Paragraphenmacherei der Demokratie des 4. J h r h . die vorausschauende Weisheit des Lykurg, der die Macht der Erziehung und die Bildung der staatsbürgerlichen Gesinnung wie Sokrates und Plato für wichtiger hielt als geschriebene Bestimmungen. Richtig ist hieran so viel, daß der Erziehung und mündlichen Überlieferung eine um sq größere Bedeutung zukommt, je weniger das Gesetz mit mechanischem Zwange von außen alle Einzelheiten des Lebens regelt. Doch das Bild des großen Staatspädagogen Lykurgos beruht auf der nachträglichen idealisierenden Interpretation der spartanischen Zustände vom Standpunkt des späteren philosophischen Bildungsideals. Durch den Vergleich mit den unerfreulichen Begleiterscheinungen der entarteten späteren attischen Demokratie wurde der philosophische Betrachter dazu verfuhrt, in den spartanischen Einrichtungen die bewußte Erfindung eines genialen Gesetzgebers zu suchen. M a n sah in dem altertümlichen Zusammenleben der spartanischen Männer in den Tischgemeinschaften, in ihrer kriegerischen Organisation nach Zeltgemeinschaften, im Zurücktreten des privaten Lebens hinter dem öffentlichen, in der staatlichen Erziehung der Jugend beiderlei Geschlechts, schließlich in der scharfen Trennung zwischen der ackerbauund gewerbetreibenden Bevölkerung der 'Banausen' und der freien Herrenschicht, die sich in Muße nur ihren staatlichen Pflichten, der kriegerischen Übung und der J a g d widmete, die ziclbewußte Verwirklichung eines philosophischen Erziehungsideals, wie es Plato in seinem 'Staat' aufstellt. In Wahrheit war Sparta für Plato wie für andere spätere Theoretiker der Paideia in vieler Hinsicht das Modell, wenn er ihm auch einen ganz neuen Geist einhauchte. Das große soziale Problem aller späteren Erziehung war die Überwindung des Individualismus und die Formung des Menschen nach einer für die Gesamtheit verpflichtenden Norm. Der spartanische Staat erschien mit seiner strengen Autorität als die praktische Lösung dieses Problems. Gerade in dieser Beziehung hat er Piatos Denken lebenslänglich beschäftigt. Aber auch Plutarch, der von den Erziehungsgedanken Piatos ganz erfüllt ist, kommt auf diesen

120

[1/120]

Punkt immer wieder zurück 1 . „Die Erziehung erstreckte sich bis auf die Erwachsenen. Keiner war frei und durfte leben wie er wollte, sondern wie in einem Lager hatte jeder in der Stadt seine fest geregelte Lebensweise und Beschäftigung mit den Aufgaben des Staates, und man war sich stets bewußt, daß man nicht sich selbst sondern dem Vaterlande gehörte." An einer anderen Stelle 2 schreibt er: „ L y k u r g gewöhnte die Bürger allgemein, weder den Wunsch zu haben noch fähig zu sein ein Eigenleben zu führen, sondern wie die Bienen dauernd verwachsen mit der Gesamtheit und zusammen um den Herrscher geschart, gleichsam aus begeisterter Ehrliebe vom eigenen Ich befreit ganz nur dem Vaterlande zu gehören". V o m Standpunkt der durch und durch individualisierten Bildung des nachperikleischen Athen war Sparta in der Tat ein schwer verständliches Phänomen. So wenig auf die philosophische Deutung der spartanischen Zustände durch unsere Quellen zu geben ist, sind doch die Tatsachen im ganzen richtig beobachtet. Was mit den Augen des Plato oder Xenophon betrachtet als das Werk eines einzigen programmatisch bewußteri und mit überlegener Macht ausgerüsteten Erziehungsgenies erschien, war in Wirklichkeit die Fortdauer einer einfacheren früheren Entwicklungsstufe des Gemeinschaftslebens von besonders zäher stammhafter Bindung und schwach entwickelter Individualisierung. An der Form Spartas haben Jahrhunderte gearbeitet. Nur ausnahmsweise ist der Anteil kenntlich, den eine einzelne Persönlichkeit an dem Prozeß ihrer Entstehung genommen hat. So ist der Name der Könige Theopompos und Polydoros an gewissen staatsrechtlichen Änderungen haften geblieben. O b der Name des Lykurg, an dessen Geschichtlichkeit wohl keine Zweifel gestattet sind, ursprünglich auch mit bestimmten Staatsakten verbunden war, und weshalb dann später die ganze Schöpfung des spartanischen Staates auf seinen Namen gestellt wurde, läßt sich nicht mehr entscheiden. Sicher ist nur, daß die Überlieferung von der 'lykurgischen Verfassung' sekundär ist. Diese Tradition stammt aus einer Zeit, die in dem spartanischen Kosmos ein System bewußter Konsequenz sah und 1

Plut. Lyc. 24

[Um]

2

Plut. Lyc. 25

121

für die es überhaupt a priori feststand, daß der höchste Sinn des Staates die Paideia sei, d. h. ein prinzipienhaft systematischer Aufbau des Lebens aller Individuen nach absoluten Normen. Immer wieder wird die delphische Sanktion der 'lykurgischen Verfassung' betont, im Gegensatz zu dem bloßen Menschengesetz der Demokratie und seiner Relativität. Das ist aus der Tendenz unserer Quellen zu verstehen, die spartanische Zucht als die ideale Erziehung zu erweisen. Die Möglichkeit der Erziehung hing für das ganze 4.Jhrh. letzten Endes an dem Problem, zu einer absoluten Norm des menschlichen Handelns zu gelangen. In Sparta fand man auch dieses Problem gelöst, denn die dortige Ordnung ruhte auf religiöser Grundlage: sie war vom delphischen Gott selbst gutgeheißen oder empfohlen worden. So erweist sich unsere ganze Überlieferung über Sparta und die Verfassung des Lykurg als einheitlich im Geiste einer späteren Staats- und Erzichungstheorie geformt und in diesem Sinne als ungeschichtlich. Den richtigen Gesichtspunkt zu ihrem Verständnis gibt erst die Einsicht, daß sie in der Zeit der Blüte der griechischen Spekulation über Wesen und Grundlagen der Paideia entstanden ist. Wir würden ohne das brennende Interesse, welches diese Erziehungsbewegung an Sparta genommen hat, überhaupt nichts von ihm wissen. Sein ganzes Nachleben in der Geschichte, auch die Erhaltung der Gedichte des Tyrtaios, beruht nur auf der Bedeutung, die die I d e e Sparta als ein unentbehrliches Glied in dem Aufbau der späteren griechischen Paideia dauernd behielt. Was bleibt, wenn wir die philosophische Übermalung entfernen, als historisches Bild zurück? Das von Xenophon geschilderte Ideal enthält so zahlreiche persönlich beobachtete Tatsachen, daß sich auch nach Abzug der historischen und pädagogischen Deutung, die er ihnen gibt, ein durchaus anschauliches Bild des wirklichen Sparta seiner Zeit und seines in Griechenland einzig dastehenden kriegerischen Erziehungsstaats gewinnen läßt. Aber die Entstehungszeit dieses Sparta liegt im Dunkeln, wenn man es nicht mehr als ein einheitliches System auffassen kann, das der Gesetzgeberweisheit des Lykurgos entsprungen ist. Die moderne Kritik hat j a sogar die Existenz des Lykurgos in Frage gestellt. Aber selbst wenn er 122

11U22J

gelebt hat und der Urheber der sogenannten großen Rhetra ist, die Tyrtaios im 7. Jhrh. bereits kennt, so wäre damit für die Herkunft der spartanischen Erziehungsweise, wie Xenophon sie schildert, noch nichts bewiesen. Die Beteiligung der ganzen spartanischen Bürgerschaft an der kriegerischen Erziehung macht sie zu einer Art Adelskaste, und an die altgriechische Adelszuchi erinnert auch sonst vieles in dieser Erziehung. Aber daß man sie auf die Nichtadligen ausgedehnt hat, beweist, daß hier eine Entwicklung vor sich gegangen ist, welche die auch in Sparta ursprünglich vorauszusetzende Adelsherrschaft in diesem Sinne umgebildet hat. Ein friedliches Adelsregiment wie in anderen griechischen Staaten reichte für Sparta nicht aus, seit durch die Unterwerfung der Messenier dauernd ein ganzes freiheitliebendes Volk, das sich auch in Jahrhunderten nicht an seine Knechtschaft gewöhnen konnte, mit Gewalt niedergehalten werden mußte. Das war nur möglich durch die Ausbildung der gesamten spartiatischen Bürgerschaft zu einer bewaffneten Herrenschicht, die von jeder Gewerbetätigkeit frei war. Der Grund zu dieser Entwicklung ist wohl in den Kriegen des 7. Jhrh. gelegt worden, und das gleichzeitige Drängen des Demos nach größeren Rechten, das wir bei Tyrtaios finden, mag sie begünstigt haben. Das spartanische Bürgerrecht blieb immer an die Eigenschaft des Bürgers als Krieger gebunden. Tyrtaios ist für uns der erste Zeuge des politisch-kriegerischen Ideals, das später in der gesamten spartanischen Erziehung seine Verwirklichung fand. Aber er selbst wird nur an den Krieg gedacht haben. Seine Gedichte zeigen deutlich, daß er die spartanische Zucht, wie die spätere Zeit sie kennt, noch nicht als fertig voraussetzt, sondern daß sie erst im Werden ist 1 . Auch für die messenischen Kriege selbst ist Tyrtaios unsere einzige Quelle, da die Tradition der späteren hellenistischen Geschichtschreiber sich der neueren Kritik als ganz oder überwiegend romanhaft erwiesen hat. Den Anlaß zu seiner dichterischen Wirksamkeit gab der große Aufstand der Messenier nach ihrer ersten Unterwerfung durch die dritte vorhergehende Gc1 Die spartanische Zucht, die Agoge, kann daher nicht hier, sondern erst im 2. Bande als Ideal der philolakonischen Erziehungsbewegung des 4. Jhrh. behandelt werden.

[1/123]

123

neration. „Neunzehn Jahre lang haben sie unerbittlich immerfort gekämpft mit geduldigem Herzen, die lanzenbewaffneten Väter unserer Väter; da, im zwanzigsten Jahre, verließen die Feinde ihre fetten Äcker und flohen aus den hohen Bergen von Ithome." Tyrtaios erwähnt auch den alten Theopompos, „unseren von den Göttern geliebten König, dem wir die Eroberung Messeniens verdanken". Er war inzwischen zum Nationalheros geworden. Wir entnehmen diese Worte den Zitaten des Dichters, die die späteren Historiker uns überliefern1. In einem anderen dieser Bruchstücke wird die Knechtschaft der Besiegten in realistischer Weise geschildert2. Ihr Land, dessen Fruchtbarkeit Tyrtaios mehrfach ausmalt, war unter spartanische Besitzer verteilt worden, als deren Leibeigene die alten Eigentümer ein trauriges Leben führten. „Wie die Esel unter schweren Lasten sich schinden, so brachten sie unter dem schmerzhaften Druck des Zwanges ihrer Herrschaft als Abgabe die Hälfte des gesamten Ertrages ihrer Äcker." „Wenn aber einer der Herrschaften starb, so mußten sie noch dazu wehklagend mit ihren Frauen im Leichenbegängnis mitgehen." Solche Erinnerungen an die Zustände vor dem jetzigen Aufstand der Messenier sollten den Mut des spartanischen Heeres aufrichten im Gedanken an den früheren Sieg, aber es zugleich schrecken durch das Bild der Knechtschaft, die seiner wartete, wenn die Feinde, die dies hatten erdulden müssen, jetzt Sieger blieben. Eines der vollständig erhaltenen Gedichte 3 begann: „Ihr seid doch die Nachkommen des niemals besiegten Herakles — so fasset Mut, Zeus hat noch nicht ungnädig seinen Nacken von uns abgewandt. Fürchtet nicht die Macht der Feinde und fliehet nicht! Ihr kennt ja die Werke des tränenreichen Ares und habt Erfahrung im Kriege, ihr seid dabei gewesen bei der Flucht wie bei der Verfolgung". Hier wird ein geschlagenes und entmutigtes Heer aufgerichtet, und so sah auch die antike Legende in Tyrtaios den vom delphischen Apollon den Spartanern als Retter in der Not gesandten Führer. Daß er Feldherr war, hat man lange der späteren antiken Überlieferung geglaubt, bis 1 Tyrt. frg. 4. Ich zitiere die Fragmente der griechischen Lyriker nach der Anthologia Lyrica Graeca ed. E. Diehl (Leipzig 1925). 2 Tyrt. frg. 5 3 Tyrt. frg. 8

124

[U124]

ein jüngst entdeckter Papyrus mit umfangreichen Resten eines neuen tyrtäischen Gedichtes es widerlegt hat, in dem der Dichter in der Wir-Form zum Gehorsam gegen den Führer auffordert. Es ist ein ganz in futurischer Form gehaltenes langes Gedicht, die von der Phantasie des Dichters vorweggenommene Vision eines bevorstehenden Entscheidungskampfes im Stile einer homerischen Schlachtschilderung. Die Namen der altspartanischen Phylen der Hylleer, Dymanen und Pamphyler, die offenbar auch in der Gliederung des Heerbannes noch in Geltung standen, während sie später beseitigt und durch eine neue Einteilung ersetzt wurden, werden aufgeführt, es wird ferner vom Kampf um eine Mauer und von einem Graben geredet, anscheinend handelt es sich um eine Belagerung. Sonst sind konkrete geschichtliche Einzelzüge den Gedichten nicht zu entnehmen, und auch die Alten selbst haben darin offenbar schon keine weiteren Andeutungen historischer Art gefunden. Tyrtaios' Aufruf zur Arete

In den Elegien des Tyrtaios lebt der politische Wille fort, der Sparta groß gemacht hat. Daß er sich in der Poesie seine geistige Gestalt geschaffen hat, ist der stärkste Beweis seiner idealbildenden Kraft, die über die geschichtliche Dauer des spartanischen Staates weit hinaus wirkt und bis heute nicht erloschen ist. So viel Seltsames und Zeitgebundenes der spartanischen Lebensform, wie wir sie in späterer Zeit kennen lernen, im einzelnen auch anhaftet, die Idee Sparta, die das ganze Dasein seiner Bürger erfüllt und auf die alles in diesem Staate mit eiserner Folgerichtigkeit hinstrebt, ist etwas Unvergängliches, weil sie tief in der menschlichen Natur begründet ist. Sie behält ihre Wahrheit und ihren Wert auch dann, wenn ihre ausschließliche Verkörperung in dem gesamten Lebensstil dieses Volkes der Nachwelt als eine Einseitigkeit erscheint. Einseitig erschien die spartanische Auffassung des staatsbürgerlichen Menschen, seiner Aufgabe und seiner Erziehung bereits dem Plato, aber schon er erkannte in der politischen Idee, wie er sie in Tyrtaios' Versen verewigt fand, eine der bleibenden Grundlagen aller staatsbürgerlichen Kultur. Er steht mit dieser Wertung nicht allein sondern drückt nur den Tatbestand der von [11125]

125

ihm vorgefundenen Geisteslage aus. Unbeschadet aller Vorbehalte gegenüber dem wirklichen Sparta jener Zeit und seiner Politik darf man sagen, daß die spartanische Idee damals bereits allgemein diese Anerkennung unter den Griechen genoß. Nicht jeder sah zwar wie die Philolakonen, die es in allen Städten gab, in dem Staat des Lykurg ein unbedingtes Ideal, aber in der Stellung, die Plato dem Tyrtaios in seinem Bildungsaufbau einräumt, konnte jener ein unverlierbarer Allgemeinbesitz aller späteren Kultur werden. Plato ist der große Ordner des geistigen Besitzstandes der Nation, in dessen Synthese die geschichtlichen Mächte des griechischen Geisteslebens sich objektivieren und zu einander in das richtige Verhältnis gesetzt werden sollten. Seither ist an der einmal vollzogenen Einordnung nichts Wesentliches mehr geändert worden. Den ihm angewiesenen Platz in der griechischen Bildung hat Sparta in der späteren antiken Kultur und in der Nachwelt behauptet. Die tyrtäische Elegie ist erfüllt von einem großartigen erzieherischen Ethos. Die Höhe der Forderungen, die hier an den Gemeinsinn und Opferwillen des Bürgers gestellt werden, ist zwar durch den besonderen Augenblick gerechtfertigt, in dem der Dichter sie erhebt: die schwere Notlage Spartas in den messenischen Kriegen. Aber die tyrtäischen Gedichte wären nicht bis in späte Zeit ab die ehrwürdigsten Zeugen spartanischer Staatsgesinnung angesehen worden, wenn man in ihnen nicht den Geist Spartas schlechthin zeitlos ausgeprägt gefunden hätte. Die Normen, die dem Denken und Tun des Einzelnen in diesen Gedichten gesetzt werden, erwachsen nicht aus einer vorübergehenden Höchstanspannung der Ansprüche des Staates, wie der Krieg sie unvermeidlich mit sich bringt, sondern sie sind zur Grundlage des gesamten spartanischen Kosmos geworden. Nirgendwo in der griechischen Poesie liegt der unmittelbare Hervorgang der dichterischen Schöpfung aus dem Leben der wirklichen menschlichen Gemeinschaft so deutlich am Tage wie hier. Tyrtaios ist keine dichterische Individualität in unserem Sinne. Er ist der Sprecher der Allgemeinheit, er kündet, was alle richtig denkenden Bürger als Gewißheit in sich tragen. Der Dichter spricht daher auch mehrfach in der Wir-form: laßt uns kämpfen! laßt uns sterben! Aber auch wo er „ich" sagt, ist es 126

[1/126]

nicht sein subjektives Ich, welches für sich kraft seines künstlerischen oder persönlichen Selbstbewußtseins die Freiheit der Äußerung in Anspruch nimmt, es ist auch nicht das Ich des Befehlshabers, wie man schon im Altertum vielfach angenommen hat (man machte dann aus Tyrtaios einen Feldherrn), sondern es ist das allgemeingültige Ich der „öffentlichen Stimme des Vaterlandes", von der Demosthenes einmal spricht 1 . Aus dem lebendigen Bewußtsein der Gemeinschaft, an die sich seine Anrede richtet, schöpfen seine Urteile über „ehrenh a f t " und „schimpflich" jene Wucht und unentrinnbare Notwendigkeit, die das bloße persönliche Pathos des Redners ihnen niemals verleihen kann. Blieb das enge Verhältnis des Bürgers zur Stadt in den Zeiten des Friedens selbst in einem Staat wie dem spartanischen für das Durchschnittsbewußtsein mehr latent, so brach die Idee des Ganzen im Augenblick höchster Gefahr d a n n plötzlich mit überwältigender Macht hervor. Erst durch die bittere Not der jetzt beginnenden, sich durch Jahrzehnte hinziehenden wechselvollen Kämpfe ist der eiserne Bau des spartanischen Staats endgültig geschmiedet worden. Es bedurfte in diesem schweren Augenblick nicht nur entschlossener militärischer und politischer Führung sondern auch des allgemeingültigen geistigen Ausdrucks der sich an dem Kriegsschicksal entfaltenden neuen menschlichen Werte. Der Künder der Arete ist seit Urzeiten der Dichter, der erstand in der Person des Tyrtaios. Die Legende läßt ihn, wie gesagt, von Apollon gesandt sein. Es gibt keinen treffenderen Ausdruck fïir die geheimnisvolle Tatsache, daß in der Stunde der Not, die seiner bedarf, der geistige Führer plötzlich wirklich da ist. Er gibt der neuen Art der bürgerlichen Arete, die der Augenblick fordert, zum erstenmal ihre gültige dichterische Gestalt. Als formale Leistung gewogen ist die Elegie des Tyrtaios keine durchaus selbständige Schöpfung. Wenigstens die Elemente seiner Form waren dem Dichter gegeben. Die metrische Form des elegischen Distichon ist zweifellos älter. Ihre Ursprünge sind dunkel fur uns und waren es schon für die antike Literaturforschung. Sie knüpft an den Vers des heroischen Epos an und 1

Demosth. or. 18, 170

[1/127]

127

ist wie dieser in damaliger Zeit fähig, jeden Inhalt aufzunehmen. Eine 'innere' Form hat also die Elegie nicht, etwa wie die antiken Grammatiker es sich dachten, die sämtliche Arten der Elegie auf eine einzige Wurzel zurückführen wollten, auf das Klagelied, wozu die spätere literarische Entwicklung der Gattung und eine falsche Etymologie den Anlaß gab. Fest ist in der Form der Elegie außer dem Metrum, das die älteste Zeit nicht einmal durch ein besonderes Wort von dem des Epos unterschied, nur ein einziges Element, die Anrede, sei es an einen einzelnen Menschen oder an eine Mehrzahl. Sie ist der Ausdruck einer inneren Gemeinschaft des Angeredeten mit dem Redenden, und sie ist für das Wesen der Elegie entscheidend. I m Falle des T y r taios sind es die Bürger in ihrer Gesamtheit oder die Jungmannschaft, an die der Dichter sich wendet. Auch in dem scheinbar mehr reflektierend beginnenden Stück (frg. 9) spitzt sich der Gedankengang am Schlüsse zur Befehlsform zu, die sich an alle Mitglieder eines Verbandes richtet, der hier wie sonst nicht näher bezeichnet, sondern als gegeben vorausgesetzt wird. In der mahnenden Anrede drückt sich der erzieherische Charakter der Elegie sinnfällig aus. Sie hat ihn mit dem Epos geineinsam, nur daß er in der Elegie wie in dem Lehrgedicht der hesiodischen Erga zu bewußter und direkter paränetischer Einwirkung auf ein bestimmtes Gegenüber wird. Der mythische Inhalt des Epos spielt in einer idealen Welt, die Anrede der Elegie an wirkliche Personen versetzt uns in die reale Gegenwart des Dichters. Aber mag auch ihr Inhalt dem Leben der Menschen entnommen sein, zu denen sie spricht, so steht doch der Stil des dichterischen Ausdrucks durch das homerische Epos ein für allemal fest, und so kleidet sich auch der Stoff der Gegenwart für den Dichter in die Sprache des Epos. Sie kommt dem Gegenstande des Tyrtaios weit mehr entgegen als dem des Hesiod, der sich in gleicher Lage gegenüber dem Epos befand, denn was ist dem Epos verwandter als blutige Kämpfe und kriegerisches Heldentum. So konnte Tyrtaios dem Homer nicht nur das sprachliche Material, einzelne Worte und Wortverbindungen, j a mitunter selbst ganze Versstücke entlehnen, sondern er fand in den Schlachtschilderungen der Ilias auch schon den Typus ganzer Reden vorgebildet, die eine Kriegerschar zur höchsten 128

[1/128]

Tapferkeit und zum standhaften Ausharren in der Gefahr anfeuern. Diese Paränesen brauchte m a n nur von dem mythischen Hintergrund abzulösen, vor den sie im Epos gestellt sind, und sie in die lebendige Gegenwart zu versetzen. Schon im Epos ging von den Kampfreden eine starke protreptische Wirkung aus. Homer schien in ihnen nicht nur zu den angeredeten epischen Personen, sondern unmittelbar zum Hörer selbst zu sprechen, jedenfalls haben die Spartaner sie so empfunden. Deis mächtige Ethos, das in ihnen lebt, brauchte nur von der idealen Bühne Homers in die kampfdurchtobte Wirklichkeit des Zeitalters der messenischen Kriege herabzusteigen, und die tyrtäische Elegie war geschaffen. Wir verstehen diesen geistigen Hergang um so besser, wenn wir Homer, wie es die Zeit des Tyrtaios und Hesiodos tat, vor allem als den Erzieher der Gegenwart und nicht nur als den Erzähler der Vergangenheit lesen. Tyrtaios fühlte sich mit seinen Elegien ohne Zweifel als echter Homeride. Was aber diesen Reden an die spartanische Nation ihre eigene Größe verleiht, das ist nicht die mehr oder weniger kongeniale Nachahmung des homerischen Vorbilds, sei es im ganzen oder im einzelnen, sondern die geistige Kraft, mit der die Umsetzung der epischen Kunstformen und Inhalte in die Welt der Gegenwart vollzogen wird. So wenig auch zunächst dem Tyrtaios als sein geistiges Eigentum zu bleiben scheint, wenn wir alles homerische Erbgut in Sprache, Vers und Gedanken von seinen Gedichten abziehen, so wächst sein Anspruch auf wirkliche Originalität, sobald wir uns von dem gewonnenen Standpunkte unserer Betrachtung klar machen, wie er überall hinter die überkommenen Formen und hinter die uralten Heroenideale eine völlig neue sittlich-politische Autorität stellt, aus der sie neu erzeugt werden: den Gedanken der Polisgemeinschaft, die alle einzelnen trägt und für die alle leben und sterben. Das homerische Ideal der heroischen Arete wird umgeschmolzen zum Heroismus der Vaterlandsliebe, und mit diesem Geist durchdringt der Dichter die ganze Bürgerschaft. Was er schaffen will, ist ein Volk, ein ganzer Staat von Helden. Der Tod ist schön, wenn ein Mann ihn als Held erleidet; er erleidet ihn als Held, wenn er für sein Vaterland fällt. Erst dieser Gedanke gibt seinem Untergang den idealen Sinn des Opfers der eigenen Person für ein höheres Gut. [1/129]

129

Am deutlichsten offenbart diese Umwertung der Arete das dritte erhaltene Gedicht. Man pflegte es bis vor kurzem aus allerlei formalen Gründen für später zu halten und hat es dem Tyrtaios absprechen wollen. Den ausführlichen Beweis seiner Echtheit habe ich an anderer Stelle geführt 1 . In die sophistische Zeit (5.Jhrh.) kann man es keinesfalls herabrücken. Solon und Pindar kennen es offenbar schon, und Xenophanes hat schon im 6.Jhrh. seinen Hauptgedanken in einem uns erhaltenen Gedicht unverkennbar nach- und umgebildet. Was Plato bewogen hat gerade diese Elegie aus allen ihm noch vorliegenden Gedichten, die auf den Namen des Tyrtaios gingen, als fur den Geist Spartas besonders charakteristisch herauszugreifen, ist noch einigermaßen deutlich Es ist die prinzipielle Schärfe, mit der hier der Dichter das Wesen der spartanischen Arete entwickelt. Wir gewinnen hier einen tiefen Einblick in die geschichtliche Entfaltung dieses Begrifis seit Homer und in die innere Krisis, in die das altadlige Ideal des Menschen in der Periode der aufsteigenden Poliskultur eintritt. Der Dichter läßt die wahre Arete sich abheben von den höchsten anderen Gütern, die nach dem Urteil seiner Zeitgenossen den Wert und das Ansehen eines Mannes ausmachen. „Ich würde einen Mann nicht des bleibenden Gedächtnisses fiir wert halten und nicht von ihm reden, weder um der Tugend seiner Füße noch um seiner Ringkunst willen, und wenn auch seine Größe und Kraft gewaltig wie die der Kyklopen wäre und er den thrakischen Boreas im Lauf besiegte." Das sind lauter Beispiele der agonalen Arete, die das Rittertum seit homerischer Zeit über alles schätzte und die seit den letzten hundert Jahren die Spiele in Olympia wohl auch für nichtadlige Wettkämpfer zum höchsten Maßstab menschlicher Leistung erhoben hatten. Aber auch andere altaristokratische Tugenden führt er daneben an: „Und wenn er auch schöner als Titonos wäre und reicher als Midas und Kinyras und wenn er königlicher wäre als Pelops, des Tantalos Sohn, und eine schmeichelnder redende Zunge hätte als Adrastos, ich würde ihn nicht 1 Vgl. meine Abhandlung Tyrtaios Über die wahre Arete. Sitz. Beri. Akad. 1933, in der die Anschauungen dieses Kapitels von mir eingehend begründet worden sind. * Plat. Leg. 629 A

130

[1/130]

darum ehren, und hätte er auch allen Ruhm der Welt, wenn er nicht kriegerischen Mut besitzt; denn er wird sich im Kampfe nicht bewähren, wenn er es nicht erträgt, das blutige Morden des Krieges mit anzusehen und nicht im Nahkampf dem Gegner auf den Leib rückt. Das ist Arete", ruft der Dichter in heftiger Bewegung aus, „das ist der höchste und ruhmvollste Preis, den man unter Menschen als junger Mann erringen kann. Das ist ein Gut für die Gesamtheit, für die Stadt und die ganze Volksgemeinschaft, wenn ein Mann unter den Vorkämpfern ausharrt und sich jeden Gedanken an Flucht aus dem Kopf schlägt." Man sage nicht, das sei späte Rhetorik — sie findet sich ähnlich auch schon bei Solon. Die Wurzeln der rhetorischen Form reichen tief in die Frühzeit hinab. Die lebhafte Wiederholung wächst aus dem inneren Pathos des Gedankens hervor, in dem das ganze Gedicht gipfelt: was ist wahrer Mannes wert? Die ungeheuer wirksame Häufung der Verneinungen, die das erste Dutzend Verse füllt und die Spannung des Hörers aufs höchste steigert, schlägt bewußt allen geltenden Anschauungen ins Gesicht, und nachdem der Dichter alle die hohen Ideale des altgriechischen Adels um eine Stufe tiefer gerückt hat, ohne sie doch darum ganz zu leugnen oder aufzugeben, verkündet er als ein wahrer Prophet des neuen nüchtern-strengen Bürgersinns: es gibt nur einen einzigen Maßstab der wahren Arete, das ist der Staat und was ihm nutzt und schadet. Folgerichtig mündet seine Botschaft in den Preis des 'Lohnes', den solche selbstaufopfernde Staatsgesinnung dem Menschen bringt, gleichviel ob er im Kampfe fällt oder als Sieger im Triumphe zurückkehrt. „Wer aber unter den Vorkämpfern fällt und sein liebes Leben verliert, nachdem er seine Stadt, seine Mitbürger und seinen Vater mit Ruhm bedeckt hat, wenn er von vielen Geschossen vorn durch die Brust und den buckligen Schild und durch den Panzer getroffen daliegt, den beklagt allzumal jung und alt, und in schmerzlicher Sehnsucht trägt die ganze Stadt um ihn Leid, und sein Grabhügel und seine Kinder sind unter den Menschen geehrt und seine Kindeskinder und sein späteres Geschlecht, und nimmer geht sein edler Ruhm noch sein Name zugrunde, sondern ob er gleich unter der Erde liegt, wird er unsterblich." Was ist der Ruhm der homerischen Heroen, den [1/131]

131

der epische Sänger verkündet, so weit er sich auch über die Erde verbreitet, gegen den R u h m des einfachen spartanischen Kriegers, der so tief in der bürgerlichen Gemeinschaft des Staates verwurzelt ist, wie es Tyrtaios in diesen Versen schildert. Die den Menschen so streng bindende Gemeinschaft, die im ersten Teil des Gedichtes nur fordern zu wollen schien, wird hier zur Geberin alles idealen Wertes ihrer Bürger. Der Politisierung des Begriffes der heroischen Arete folgt im zweiten Teil die Politisierung der Idee des heroischen Ruhmes, der fur die Anschauung des Epos ihr unzertrennlicher Begleiter ist. Seine Garantin wird jetzt die Polis; in ihrer die flüchtige Gegenwart überdauernden Lebensgemeinschaft ist der „Name" des Helden, an dem seine Fortdauer hängt, sicher geborgen. Der frühe Grieche kennt noch keine Unsterblichkeit der 'Seele', mit dem leiblichen Tode ist der Mensch selbst gestorben. Die Psyche bedeutet bei Homer eher das Gegenteil, das leibhaftige Abbild des menschlichen Selbst, den zum Hades fahrenden Schatten, der ein bloßes Nichts ist. Aber wer sich durch das Opfer des Lebens über die Grenzen der bloß menschlichen Existenz zu höherem Sein erhoben hat, dem verleiht die Polis die Unsterblichkeit seines idealen Ich, seines „Namens". Seither hat die heroische Ruhmesidee für die Griechen stets diesen politischen Klang behalten. Der politische Mensch erreicht seine Vollendung in der Fortdauer seines Gedächtnisses in der Gemeinschaft, für die er lebte oder starb. Erst mit zunehmender Entwertung des Staates, j a des ganzen Diesseits und mit wachsender Steigerung des Wertgefuhls der individuellen Seele, die im Christentum ihren Höhepunkt erreicht, wird die Verachtung des Ruhms eine sittliche Forderung der Philosophen. Noch für die Staatsgesinnung des Demosthenes und Cicero ist es nicht so gewesen. In der Elegie des Tyrtaios stehen wir am Anfang der Entwicklung der Polisethik. Wie sie den gefallenen Helden im Tode schützend in die Mitte der Gemeinschaft nimmt, so erhöht sie auch den siegreich heimkehrenden Krieger. „Jung und alt ehrt ihn, sein Leben bringt ihm viel Auszeichnung und Ansehen, keiner mag ihn schädigen oder in seinem Rechte kränken. Wenn er ein alter Mann ist, schaut man ehrfürchtig auf ihn, und alles macht ihm Platz, wo immer er sich zeigt." In der engen Gemeinschaft der frühgriechischen Polis sind das nicht nur schöne Worte. Dieser 132

[Hl

32]

Staat ist zwar klein, aber er hat in seinem Wesen etwas Heroisches und zugleich echt Menschliches. Für das Griechentum und für die ganze Antike ist der Held die höhere Form des Menschen schlechthin. Derselbe Staat, der hier als die ideale Macht im Leben seiner Bürger erscheint, tritt in einem anderen Gedicht des Tyrtaios drohend und schreckend auf. Dort wird dem rühmlichen Tod auf dem Schlachtfeld das Unglück des unsteten Lebens gegenübergestellt, wie es das unvermeidliche Los des Mannes ist, der seine Bürgerpflicht im Kriege nicht erfüllt und daher seine Heimat verlassen muß. Er irrt mit Vater und Mutter, mit seinem Weibe und seinen kleinen Kindern in der Welt umher. Allen Menschen, zu denen er kommt, ist er in seiner Armut und Bettelhaftigkeit ein Fremdling, der mit feindseligen Augen angesehen wird. Er schändet sein Geschlecht und entehrt seine edle Gestalt, und was ihm folgt, ist Rechtlosigkeit und Erniedrigung. Hier ist die unerbittliche Logik der Forderungen des Staates an Gut und Blut seiner Glieder mit unvergleichlich drastischer Kraft veranschaulicht. So realistisch wie die Ehrung des Tapfern in der Heimat ist das erbarmungslose Schicksal des Vaterlandsflüchtigen in der Fremde geschildert. Es macht keinen Unterschied, ob wir ihn als verbannt denken, wenn die außergewöhnliche Not des Staates wirklich solche Strafen für die Flucht im Kampfe vorübergehend erforderlich machte, oder an die freiwillige Landesflucht dessen, der dem Kriegsdienst entgehen will und daher als Pfahlbürger in einer andern Stadt lebt. Durch die Verbindung idealer Hoheit mit brutaler Übermacht, die den Staat in diesen sich ergänzenden Bildern charakterisiert, kommt er dem Wesen der Götter nahe und ist von den Griechen auch so empfunden worden. Auch die Begründung der neuen Bürgertugend auf das Allgemeinwohl ist für griechisches Denken kein reiner Utilitarismus materieller Art, sondern dieses Allgemeine, die Polis, steht auf religiösem Grund. Gegenüber der Arete des Epos ist das neue politische Arete-Ideal eben auch der Ausdruck einer veränderten religiösen Verfassung des Menschen. Der Staat wird zum Inbegriff aller menschlichen und göttlichen Dinge. Es kann uns nicht wundern Tyrtaios in einer anderen Elegie, der im Altertum hochberühmten 'Eunomia', als innerpolitischen /.1/133J

133

Mahner und Vertreter der wahren Staatsordnung zu finden. Er prägt dem Volke das Grundprinzip der spartanischen 'Verfassung' ein, wie sie uns unabhängig hiervon in der in dorischer Prosa abgefaßten altertümlichen Rhetra überliefert ist, die Plutarch im 'Leben Lykurgs' erhalten hat. Tyrtaios ist unser Kronzeuge für die frühe Entstehung dieser kostbaren historischen Urkunde, die er in seiner Elegie im wesentlichen poetisch paraphrasiert 1 . Der Dichter ist offenbar immer mehr in die Rolle des Staatserziehers hineingewachsen, so daß er in den uns vorliegenden Gedichten den ganzen spartanischen Kosmos in Krieg und Frieden umspannt. Dies interessiert uns hier mehr als die überlieferungs- und verfassungsgeschichtlichen Fragen, die sich an die beiden voneinander abweichenden Parallelfassungen des für die altspartanische Geschichte hochwichtigen Gedichts knüpfen. Die gedankliche Form der Begründung der Eunomia ist sowohl für Tyrtaios' persönliche Stellung wie als historischer Gegensatz zu dem politischen Geiste Ioniens und Athens bedeutsam. Während sich dort bald niemand mehr an die Autorität der bloßen Überlieferung und des Mythos gebunden fühlt, sondern man danach strebt, die Verteilung der staatlichen Rechte nach Maßgabe eines, wie man glaubte, möglichst allgemeingültigen sozialen und rechtlichen Denkens zu regeln, leitet- Tyrtaios die spartanische Eunomie nach alter Weise von göttlichem Fug ab und sieht in diesem Ursprung ihre höchste und unantastbare Gewähr. „Zeus der Kronide selbst, der Gemahl der schönbekränzten Hera, hat den Herakliden diese Stadt gegeben. Mit ihnen zusammen haben wir den windigen Erineos verlassen und sind auf die weite Pelopsinsel gekommen." Hält man dieses Stück zusammen mit der größeren Versreihe, in der der Dichter in der Hauptsache die alte Rhetra wiedergibt, so ist der Sinn seines Zurückgreifens auf die mythistorischen Anfange des spartanischen Staates zur Zeit der ersten dorischen Einwanderung völlig durchsichtig. Die Rhetra begrenzt die Rechte des Volks gegenüber der Macht der Könige und des Rates der Alten. Auch dieses Grund1 Die von Eduard Meyer, Forsch, zur alten Geschichte Bd. I 226 geäußerten Zweifel an der Echtheit der tyrtäischen Eunomia halte ich fur unbegründet.

134

[1/134]

gesetz leitet Tyrtaios von göttlicher Autorität ab, es ist vom Orakel des delphischen Apollon sanktioniert oder gar angeordnet worden. Wenn das Volk, das sich nach dem siegreichen aber schweren Kriege seiner Kraft bewußt geworden war und als Lohn seiner Opferbereitschaft politische Rechte gefordert haben wird, auf diesem Wege zu weit geht, so will Tyrtaios es daran erinnern, daß es nur den Königen, den 'Herakliden', sein Recht auf das Land verdankt. Ihnen hatte Zeus die Stadt nach dem alten Staatsmythos verliehen, der die dorische Einwanderung im Peloponnes als die Rückkehr der Herakliden bezeichnete. Die Könige sind also das einzige rechtliche Band, das den gegenwärtigen Zustand mit jenem staatsbegründenden göttlichen Schenkungsakt der Vorzeit verbindet. Durch das delphische Orakel ist die rechtliche Stellung der Könige dauernd festgelegt. Tyrtaios' Eunomia will die authentische Interpretation der staatsrechtlichen Grundlagen des spartanischen Kosmos geben. Seine Konstruktion, die einem halb rationalen halb mythischen Denken entspringt, setzt das starke Königtum der messenischen Kriege voraus. Tyrtaios ist, das zeigt sein Gedicht über die wahre Bürgertugend, keineswegs ein Reaktionär. Wenn er dort sucht eine Staatsethik anstelle der Adelsethik zu setzen und für die Einbeziehung des Bürgers als Krieger in den Staat kämpft, so ist das weit eher revolutionär zu nennen. Aber von Volksherrschaft ist es weit entfernt. Das Volk, wie die Eunomia es zeigt, ist die Heergemeinde, die über jeden vom Rate vorgelegten Antrag mit J a oder Nein abstimmt, ohne selbst Redefreiheit zu genießen. Das ließ sich nach dem Krieg wahrscheinlich schwer aufrecht erhalten, aber man hat sich offenbar der volkstümlichen Autorität bedient, die Tyrtaios sich als geistiger Führer im Krieg erworben hatte, um die „richtige Ordnung" als Damm gegen weitergehende Forderungen des Volkes aufzurichten. Der Tyrtaios der 'Eunomia' gehört Sparta, der Tyrtaios der Kriegselegien gehört der ganzen griechischen Welt. An dem Bilde eines neuen bürgerlichen Heroentums, das hier in Krieg und Not mitten in einer sonst nicht allzu heroischen Welt voll sozialer Parteikämpfe hervorbrach, hatte sich das Feuer echter Poesie neu entzündet. Daß sie den Staat in seinem schicksal[II135]

135

haften großen Daseinsmoment erfaßt hatte, sicherte ihr fortan ihren Platz neben den Idealen des homerischen £pos. Wir besitzen aus wohl nicht viel früherer Zeit eine kriegerische Elegie des ionischen Dichters Kallinos von Ephesos, die durch ihre Form und Gedankenfuhrung zum Vergleich mit Tyrtaios herausfordert. Das Verhältnis beider Dichter ist nicht völlig klar, es ist möglich, daß sie ganz unabhängig von einander sind. Kallinos ruft seine Mitbürger zu tapferer Gegenwehr gegen die Feinde auf — ein Fragment eines andern Gedichts läßt uns schließen, daß es die Kleinasien durchschwärmenden Raubscharen der barbarischen Kimmerier waren, die auch das lydische Reich überschwemmt haben. Hier erwächst in der gleichen Lage aus den gleichen gegebenen Voraussetzungen ein verwandtes dichterisches Erzeugnis. Wir finden bei Kallinos dieselbe Abhängigkeit in allem Formalen von Homer und dieselbe Durchdringung der epischen Form mit dem Geiste städtischen Gemeinschaftsgefühls. Doch was fur den Ephesier und seine unpolitischen Mitbürger nur ein einmaliges Sichaufraffen war, wurde in Sparta dauernde Haltung und Erziehungsform. Tyrtaios hat seine Bürgerschaft für immer mit dem neuen Gemeinschaftsgedanken erfüllt, und der Heroismus, den er lehrte, gab dem spartanischen Staat sein historisches Géprâge. Als Erzieher zur heroischen Staatsidee wuchs er über die Grenzen Spartas bald hinaus. Wo immer bürgerliche Mannhaftigkeit unter Griechen gepflegt oder vom Staate gefordert wurde, wo immer es galt, das Gedächtnis der Helden zu ehren, blieb Tyrtaios der klassische Dichter dieser 'spartanischen' Gesinnung, auch in nichtspartanischen und selbst in spartafeindlichen Staaten wie Athen 1 . In den Grabepigrammen des 5. Jhrh. aufgefallene Krieger und in den öffentlichen Leichenreden des 4. Jhrh., die der athenische Staat für seine Gefallenen halten ließ, tönen seine Verse wieder. Bei den Symposien werden sie zur Flöte vorgetragen, attische Redner wie Lykurgos prägen sie der Jugend ebenso ins Herz wie die Gedichte Solons, und Plato nimmt für die Stellung, die er dem Kriegerstande in seinem Idealstaat gibt, Tyrtaios zum Vorbild, indem er befiehlt 1 Vgl. die Geschichte der Nachwirkung des Tyrtaios in der griechischen Geistes- und Staatsgeschichte in meiner Abhandlung a. O. S. 556—568.

136

[H136]

den Krieger höher zu achten als den Sieger von Olympia Er berichtet in den 'Gesetzen', daß auch im Sparta des 4 . J h r h . Tyrtaios noch immer als höchste Offenbarung des dorischen Staatsgeistes gilt, der der öffentlichen Erziehung der Bürger das Ziel weist: die Bildung zu kriegerischer Tüchtigkeit. Alle Spartaner seien mit ihr „gesättigt" 2 . E r zeigt, daß sich mit ihm auch jeder Nichtspartaner auseinandersetzen muß, der wie er selbst diese Auffassung vom Wesen des Staates und der höchsten Vortrefflichkeit des Menschen nicht als vollständig und endgültig ansieht. Die Entwicklung konnte nicht bei Tyrtaios stehen bleiben. Aber gerade dort, wo die Auseinandersetzung des griechischen Geistes über die wahre Arete ihren Fortgang nimmt, finden wir regelmäßig, daß sie an die mit soviel Leidenschaft vorgetragenen umwälzenden Gedanken des Tyrtaios anknüpft und den Gehalt ihrer neuen Forderungen immer wieder in die alte Form seines Gedichts über die wahre Tugend prägt. Das ist echt griechische Art der 'Bildung'. Die einmal geprägte Form lebt als ein Gültiges auch auf späterer und höherer Stufe fort, und an ihr hat jedes Neue sich zu bewähren. So hat der Philosoph Xenophanes 3 von Kolophon hundert J a h r e später den Tyrtaios umbildend zu zeigen gesucht, daß nur die Kraft des Geistes den höchsten Rang im Staate einzunehmen verdiene, während Plato diese Entwicklung fortführend neben und über die Tapferkeit die Gerechtigkeit setzt 4 und fordert, in dem idealen Staate, den er in den 'Gesetzen' aufbaut, Tyrtaios in diesem Sinne „umzudichten", um ihn dem Geiste dieses Staates anzupassen. Piatos Kritik richtet sich im übrigen weniger gegen T y r taios als gegen die Auswüchse des spartanischen Machtstaats der Gegenwart, der in dieser Kriegsdichtung seine Stiftungsurkunde sah. Es fällt auf, daß selbst seine größten Bewunderer in diesem späteren, starr und einseitig gewordenen Sparta keine Spur musischen Geistes zu entdecken vermochten. Xenophons Schweigen und Plutarchs mißlungene Anstrengungen, diese Lücke auszufüllen, führen eine beredte Sprache. Wir brauchen aus dieser 1 2 3 4

Plat. Pol. 465 D—466 A Plat. Leg. 629 Β Xenophanes frg. a Diehl Plat. Leg. 660 E

[1/137]

13 7

Not keine Tugend zu machen. Glücklicherweise sind wir trotz unsrer fragmentarischen Überlieferung noch imstande zu zeigen, daß das echte alte Sparta der Heldenzeit des 7.Jhrh. für ein reicheres Leben Raum gehabt hat und von der späteren Geistesarmut, die das geschichtliche Bild Spartas so stark bestimmt hat, völlig frei war. Mag Tyrtaios auch die Wehrhafìigkeit — und mit Recht — höher schätzen als die bloße gymnastische Bildung des Körpers, so beweist doch die Liste der olympischen Sieger im 7.—6.Jhrh. zumal seit der erfolgreichen Beendigung der messenischen Kriege, daß Sparta auch in diesen friedlichen Wettkämpfen das Höchste leistete, denn die spartanischen Namen überwiegen weitaus die der anderen beteiligten Staaten. Doch auch künstlerisch und musisch schließt dieses ältere Sparta sich gegen das freudige Leben der übrigen Griechen nicht in mißmutiger Strenge ab, wie es später für wahrhaft spartanisches Wesen gehalten wird. Die Ausgrabungen haben gerade für jene frühe Zeit die Reste lebhafter Bautätigkeit und einer von ostgriechischen Vorbildern beeinflußten Kunst ans Licht gebracht. Das stimmt zu der Einführung der in Ionien entstandenen Elegie durch Tyrtaios. Um die gleiche Zeit holte man den großen Musiker Terpandros von Lesbos, den Erfinder der siebensaitigen Kithara nach Sparta, um die Chöre an den Götterfesten zu leiten und im Sinne seiner grundlegenden Neuerungen umzugestalten. Das spätere Sparta hat an der terpandrischen Weise zäh festgehalten und jede Änderung als Staatsumwälzung abgelehnt. Aber gerade in dieser Erstarrung zeigt sich noch, in welchem Maße man im älteren Sparta musische Bildung als Formung des ganzen menschlichen Ethos empfand. Man schließt daraus zurück auf die Zeit, wo diese künstlerischen Kräfte in voller ursprünglicher Lebendigkeit wirksam gewesen waren. Die umfangreichen Reste der Chordichtung des aus Sardes gebürtigen, doch in Sparta eingebürgerten Lyrikers Alkman vervollständigen das Bild des archaischen Sparta in willkommener Weise. Er muß in seiner neuen Heimat eine für ein ganzes Leben ausreichende Tätigkeit gefunden haben. Tyrtaios hatte sich in Sprache und Form noch ganz homerisch gegeben, Alkman führt selbstbewußt den lakonischen Dialekt in die Chorlyrik ein. Seine für spartanische Mädchenchöre geschriebenen Verse sprühen von 138

[1/138]

dem schalkhaften Übermut und der realistischen Kraft der dorischen Rasse, die in der Elegie des Tyrtaios nur in Einzelzügen die homerische Stilisierung zu durchbrechen wagte. Mit ihrer Anrede an bestimmte, mit Namen genannte Jungfrauen des Chors, deren Preis sie verkündigen und auf deren kleine Ehrgeize und Eifersüchte sie neckend anspielen, versetzen Alkmans Lieder uns mit der gleichen lebendigen realistischen Empfindung mitten in das Treiben an den musischen Agonen im alten Sparta, in denen auch der Wetteifer des weiblichen Geschlechts nicht hinter den Männern zurückblieb. Das freiere Auftreten der Frau im öffentlichen und privaten Leben Spartas, das den von Asien beeinflußten Ioniern und den darin von ihnen abhängigen Athenern auffiel, ist schon hier deutlich zu spüren. Dieser Zug ist wie so manche andere Eigentümlichkeit dorischer Stammesart in Sitte und Sprache ein treu bewahrter Rest der hier lebendiger als sonst in Hellas fortwirkenden Vorzeit der eingewanderten Herrenrasse.

[1/139}

139

DER RECHTSSTAAT UND SEIN BÜRGERIDEAL Der Beitrag des übrigen Griechentums zur Bildung des politischen Menschen ist weniger scharf umgrenzt als der Anteil Spartas, schon dadurch daß man keinen bestimmten Staat anzugeben vermag, in dem die entscheidenden Schritte geschehen wären. Erst in dem Athen des beginnenden 6. Jhrh. betreten wir wieder den Boden sicherer Überlieferung, denn dort hat der neue Geist, der vom Staate Besitz ergreift, in den dichterischen Schöpfungen Solons seinen Niederschlag gefunden. Aber dieser attische Rechtsstaat setzt eine lange Entwicklung voraus, tritt doch Athen am spätesten von allen großen griechischen Städten in die Geschichte ein. Solons Abhängigkeit von der ionischen Kultur, die sich auf Schritt und Tritt verrät, läßt uns nicht zweifeln, daß auch der Ursprung der neuen politischen Gedanken in dem kritischsten und geistig beweglichsten Lande der griechischen Welt, in Ionien zu suchen ist. Leider sind wir über die politischen Verhältnisse der Kolonien nur sehr schlecht unterrichtet. Wir sind auf Rückschlüsse angewiesen, die man auf Grund der späteren Zustände und ähnlicher Vorgänge an anderen Orten ziehen kann. Eine politische Dichtung in dem Sinne des Tyrtaios und Solon hat es in Ionien anscheinend nicht gegeben mit Ausnahme des Kallinos, von dem schon gesprochen worden ist. Wir haben kein Recht, dieses Fehlen der politischen Poesie fìir Zufall zu halten. Es ist offenbar tiefer in der Natur des ionischen Stammes begründet. Die Ionier wie überhaupt die Griechen Kleinasiens entbehrten der aufbauenden politischen Kraft und haben nirgendwo eine dauerhafte, geschichtlich wirksame Staatenbildung aufzuweisen. Zwar haben auch sie in der Zeit ihrer Einwande140

[U140J

rung, deren Erinnerung im homerischen Epos fortlebt, ihr Heldenalter erlebt, und es wäre irrig, sie sich von Anfang an als das weichliche und üppige Volk vorzustellen, als das wir sie aus der Zeit kurz vor den Perserkriegen kennen. Ihre Geschichte bleibt dauernd von blutigen Kämpfen erfüllt, und ihre Dichter Kallinos, Archilochos, Alkaios und Mimnermos sind wahrlich ein kriegerisches Geschlecht. Aber nirgendwo ist der Staat für sie das eigentlich Letzte wie in Sparta und Athen. Die Rolle der Ionier in der Geschichte des griechischen Geistes besteht in der Losbindung der individuellen Kräfte, auch im politischen Leben. Aber wenn der ionische Kolonialstaat im ganzen auch nicht die Fähigkeit besitzt, diese neuen Kräfte sich einzuordnen und sich durch sie zu stärken, so sind doch in ihm zum erstenmal die politischen Gedanken zum Durchbruch gekommen, die dann in den fester gefügten Verhältnissen des Mutterlandes den Anstoß zur folgereichsten Neugestaltung des Staates gegeben haben. Die frühesten Reflexe des Polislebcns in Ionien finden wir in dem homerischen Epos. Der Kampf der Griechen um Troja bot freilich keine unmittelbare Gelegenheit zur Schilderung einer griechischen Stadt, denn die Troer sind für Homer Barbaren, aber unwillkürlich stellen sich Züge einer ionischen Polis ein, wenn der Dichter die Verteidigung Trojas erzählt, und Hektor der Vaterlandserretter ist sogar das Vorbild für Kallinos und Tyrtaios geworden. Hier und besonders bei Kallinos (S. 136) scheinen wir dem spartanischen Ideal ganz nahe zu kommen. Allein der ionische Stadtstaat lenkte früh in eine andere Richtung ein, und sie ist gleichfalls im Epos schon angedeutet. An der einzigen Stelle, wo die Ilias das Bild einer Stadt im Frieden zeigt, in der jungen Beschreibung des Achilleusschildes, finden wir im Mittelpunkt der Stadt auf dem Markte eine Gerichtsszene dargestellt, wo „die Alten" auf den glatten Steinen im heiligen Kreise sitzen und Recht sprechen Die adligen Geschlechter haben also schon weitgehenden Anteil an der Rechtsprechung, die ursprünglich Sache des Königs gewesen war. Das berühmte Wort gegen die Vielherrschaft beweist, daß es noch Könige gab, sie hatten aber wohl oft schon schweren Stand. Auch die Schild1

[1/141]

Σ 504 141

beschreibung erwähnt ein Krongut und spricht von einem König, der bei der Bestellung des Ackers befriedigt zuschaut Aber er ist wohl nur ein adliger Gutsbesitzer, denn das Epos nennt auch die adligen Herren oft mit dem Titel Basileus. Die agrarische Lebensform des Mutterlandes, welche die Voraussetzung der Grundherrschaft ist, dauerte in den Kolonien zunächst unverändert fort. Ein anderes Beispiel ist der Phäakenkönig AIHnoos. Er fuhrt unter den Geronten des Rats nur den Ehrenvorsitz, obgleich er legitimer Erbkönig ist. Der Übergang vom Königtum zur Adelsherrschaft lag also nicht mehr fern, dabei blieb das Amt des Basileus als oberster Priester oder eponymer Beamter mitunter bestehen, ohne daß sonst besondere Rechte an dem Titel hafteten. Diese Entwicklung kennen wir am besten aus Athen, sie ist aber auch an anderen Orten nachgewiesen. In Athen wird das Königtum der Kodriden allmählich zur Schattenexistenz herabgedrückt und macht der Adelsherrschaft Platz, die wir noch zu Solons Zeit finden. Wie lange nach der Einwanderung diese typische Entwicklung in Ionien sich im einzelnen vollzogen hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Enge des Küstensaumes, auf dem sich die immer neu herbeiströmenden Scharen der Einwanderer zusammendrängten, und die Unmöglichkeit einer weiteren Ausdehnung in das Binnenland, das in den Händen politisch noch nicht straff zusammengefaßter doch wehrhafter Barbarenvölker wie der Lyder, Phryger und Karer war, wies die Küstenstädte mit zunehmender Sicherheit des Seeverkehrs mehr und mehr auf den Seehandel hin. Auch hier war zunächst der besitzende Adel, der sich umzustellen wußte, der Unternehmer. Der koloniale Grieche war von Anfang an ein weniger bodenständiger Schlag gewesen, nachdem er sich vom Mutterlande losgelöst hatte. Die Odyssee spiegelt bereits den ungeheuer erweiterten überseeischen Gesichtskreis und den neuen menschlichen Typus des ionischen Seefahrers. Odysseus ist nicht so sehr der kampflustige Ritter wie die Verkörperung der in die Ferne schweifenden Abenteurerlust und Entdeckerfreude und der klugen Weltgewandtheit des Ioniers, der sich in edlen Ländern zu bewegen gewohnt ist und sich in jeder Lage 1

142

Σ 556 [II142]

zu helfen weiß. Der Blick der Odyssee reicht östlich bis Phönikien und Kolchis, südlich bis nach Ägypten, westlich nach Sizilien und zu den westlichen Äthiopen und nach Norden über das schwarze Meer bis zum Lande der Kimmerier. Ganz üblich ist die Erzählung vom Zusammentreffen des Seefahrers mit Scharen phönikischer Schiffer und Kaufleute, deren Handel das ganze Mittelmeer umfaßte und den Griechen die gefahrlichste Konkurrenz machte. Ein echtes Seefahrerepos war auch die Argonautenfahrt mit ihren Wundererzählungen über ferne Länder und Völker, die sie berührte. Der ionische Handel wuchs mit der rasch fortschreitenden gewerblichen Entwicklung der kleinasiatischen Städte, die die agrarische Lebensweise immer mehr zurückdrängte. Er erfuhr einen entscheidenden Aufschwung durch die Einfuhrung der Goldprägung aus dem benachbarten Lydien und durch das Aufkommen des Geldverkehrs anstelle des Tauschhandels. Das sichere Zeichen der Übervölkerung der für unsere Begriffe kleinen Seestädte Ioniens ist, daß sie wie das Mutterland im 8.—6. Jahrhundert an der Kolonisation der Küsten des Mittelmeers, der Propontis und des Pontos führenden Anteil nahmen. Die erstaunliche Zahl der von einer einzigen Stadt wie Milet ausgesandten Kolonien zeugt uns mangels sonstiger geschichtlicher Tradition von ionischer Expansionskraft und Unternehmungslust und von dem pulsierenden Leben, das in den kleinasiatischen Griechenstädten dieser Zeit geherrscht hat. Freier Weitblick, rasche Beweglichkeit und persönliche Initiative sind die hervorstechenden Merkmale des neuen Menschen, der hier entstand. Mit den veränderten Formen des Daseins mußte ein neuer Geist aufkommen, die Erweiterung des Horizonts und das Gefühl der eigenen Tatkraft öffneten einem kühneren Flug der Gedanken die Bahn. Der Geist der selbständigen Kritik, dem wir in der individuellen Poesie des Archilochos wie in der milesischen Philosophie in Ionien begegnen, mußte auch im öffentlichen Leben sich hervorwagen. Wir besitzen keine Nachrichten über die inneren Kämpfe, die hier früher als sonst irgendwo in der Griechenwelt ausgefochten sein müssen. Aber die Reihe der Zeugnisse, die das R e c h t als Grundlage der menschlichen Gesellschaft preisen, reicht in der ionischen [1/143]

143

Literatur von den jüngeren Teilen des £pos über Archilochos und Anaximander bis zu Heraklit herab. Diese hohe Schätzung des Rechts bei Dichtern und Philosophen eilt der Wirklichkeit nicht vorauf, wie es an sich denkbar wäre, sondern ist offensichtlich nur der Reflex der fundamentalen Wichtigkeit dieser Errungenschaft im öffentlichen Leben jener Zeit vom 8. bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts. Von Hesiod an stimmt dann auch der Chor der mutterländischen Dichter ein, alle anderen übertönend Solon von Athen. Alle Rechtsprechung hatte bisher unbestritten in der Hand des Adels gelegen, der ohne geschriebenes Gesetz nach dem Herkommen urteilte. Bei der wachsenden Verschärfung des Gegensatzes zwischen Adel und Gemeinfreien, die sich aus der Hebung der wirtschaftlichen Lage der nichtadligen Bevölkerung ergeben mußte, führte das leicht zu politischem Mißbrauch des Richteramts und zu der Forderung des Volkes nach geschriebenem Recht. Hesiods Vorwürfe gegen die bestechlichen adligen Richter, die das Recht beugen, sind die notwendige Vorstufe dieser allgemeinen Forderung. Durch sie wird das Wort Recht, Dike, die Parole des Ständekampfes. Die Geschichte der Kodifikation des Rechts in den einzelnen Städten zieht sich durch Jahrhunderte hin, und wir wissen sehr wenig von ihr. Es kommt hier aber mehr auf das Prinzip als solches an. Geschriebenes Recht bedeutet so viel wie gleiches Recht für alle, hoch und niedrig. Als Richter sollten wohl nach wie vor Adlige, nicht Leute aus dem Volke bestellt werden, aber sie sollten in Zukunft in ihrem Urteil an feste Normen der Dike gebunden sein. Den älteren Zustand zeigt Homer. Er bezeichnet das Recht meist noch mit einem anderen Worte: Themis. Den homerischen Königen hat Zeus „Szepter und Themis" verliehen. Die Themis ist der Inbegriff der richterlichen Hoheit der früheren Könige und adligen Herren. Nach seiner sprachlichen Wurzel bedeutet dieses Wort die „Satzung". Der Richter der patriarchalischen Zeit sprach Recht nach der von Zeus stammenden Satzung, deren Norm er frei aus der Uberlieferung des Gewohnheitsrechts und aus eigener Erkenntnis schöpfte. Der Begriff der Dike ist etymologisch undurchsichtig. Er stammt aus der griechischen 144

[1/144]

Prozeßsprache und ist an sich wohl eben so alt wie die Themis 1 . Man sagte „Dike geben und nehmen" von den streitenden Parteien, wobei Strafentscheidung und Strafvollzug noch in eins zusammengefaßt werden. Der Schuldige „gibt Dike", was ursprünglich so viel bedeutet wie Schadensersatz; der geschädigte Teil, dessen Recht durch das Urteil wiederhergestellt wird, „nimmt Dike", der Richter „teilt Dike zu". Die Grundbedeutung von Dike ist hiernach ungefähr soviel wie der zukommende Anteil. Daneben bezeichnet es konkret den Prozeß, das Urteil und die Strafe, allein die anschauliche Bedeutung ist in diesem Falle nicht wie gewöhnlich die ursprüngliche sondern die abgeleitete. Der höhere Sinn, den das Wort im Polisleben der nachhomerischen Zeit erlangt, entwickelt sich nicht aus diesen mehr technisch veräußerlichten Bedeutungen sondern aus dem normativen Element, das in jenen allbekannten, uralten Formeln gerichtlicher Rede liegt. Es bezeichnet den zukommenden Anteil, auf den man Anspruch hat, dann das Prinzip selbst, das diesen Anspruch verbürgt und auf das man sich stützen kann, wenn die Hybris, die ursprünglich das feststehende Wort für die rechtswidrige Handlung ist, einen Menschen schädigt. Wenn Themis sich mehr auf die autoritäre Stellung des Rechts bezog, auf sein Gesetzt- und Gültigsein, zielt Dike auf seine gerichtliche Durchsetzbarkeit. Man versteht, daß Dike in einer Zeit des Kampfes um die Rechtsansprüche eines Standes, der bisher das Recht immer nur als Themis d. h. als ein autoritär Gesetztes und Gültiges von oben hatte hinnehmen müssen, mit Notwendigkeit das hauptsächliche Schlagwort werden mußte. Die Berufung auf die Dike wird jetzt immer häufiger, leidenschaftlicher, fordernder. In der Herkunft dieses Wortes lag aber noch ein weiteres Moment, das es für diesen Kampf prädestinierte, das der Gleichheit. Es muß von Anfang an im Keim darin gelegen haben, was 1 D a s f ü r seine Z e i t sehr verdienstliche, aber z u w e n i g historische B u c h R . Hirzeis T h e m i s , D i k e und V e r w a n d t e s ( L e i p z i g 1907) ist in m a n c h e r H i n sicht veraltet, a b e r i m m e r noch eine F u n d g r u b e des Materials. Eine wertvolle Skizze der ideengeschichtlichen E n t w i c k l u n g g i b t V . E h r e n b e r g , D i e R e c h t s i d e e i m frühen G r i e c h e n t u m (Leipzig 1921). D e r V e r s u c h δίκη v o n 6ikeTv ( — werfen) a b z u l e i t e n u n d daraus a u f eine A r t des Gottesurteils als U r b e d e u t u n g z u schließen ( = der W u r f ) , scheint mir m i ß l u n g e n .

[1/145]

145

wir wieder am besten aus der ursprünglichen volkstümlichen Denkweise verstehen, die forderte Gleiches mit Gleichem zu vergelten, das Gleiche zurückzugeben, was man empfangen hat, und fiir zugefügten Schaden gleichen Ersatz zu leisten. Daß diese Grundanschauungen ganz und gar der sachenrechtlichen Sphäre entsprungen sind, liegt auf der Hand und stimmt mit dem typischen rechtsgeschichtlichen Befund bei anderen Völkern überein. Zu allen Zeiten blieb fiir griechisches Denken dieses ursprüngliche Moment der Gleichheit in dem Wort Dike mitenthalten. Noch die philosophische Staatslehre späterer Jahrhunderte geht hiervon aus und sucht nur nach einer neuen Auslegung des Gleichheitsbegriffes, der in seiner letzten mechanischen Fassung, wie er sie auf dem staatsrechtlichen Boden der Demokratie erhielt, der aristokratischen Anschauung des Plato und Aristoteles von der Verschiedenwertigkeit der Menschen äußerst widerstreben mußte. Für die ältere Zeit ist die Forderung des gleichen Rechts ein höchstes Ziel gewesen 1 . Bei jedem noch so geringfügigen Streit um Mein und Dein bedurfte es des Maßes, um den Anteil jeder Partei gerecht zu bemessen. Hier wiederholt sich auf rechtlichem Boden das Problem, welches die gleiche Zeit für den wirtschaftlichen Austausch der Güter durch Einführung einer festen Maß- und Gewichtsnorm löste: man suchte nach dem richtigen 'Maß' für den Anteil am Recht und fand es in der im Begriffe der Dike selbst liegenden Forderung der Gleichheit. Gewiß täuschte man sich noch über die Vieldeutigkeit dieser Norm, aber das machte sie praktisch vielleicht gerade zum Schlagwort im politischen Kampf geeignet. Man konnte darunter verstehen die bloße Gleichheit der Nichtgleichberechtigten d. h. der Nichtadligen vor dem Richter oder vor dem Gesetz, soweit 1 V g l . Solon frg. 24,18—19. A u c h in Hesiods Dike liegt schon die gleiche Auffassung. Solon fußt ohne Zweifel auf ionischen Gedanken. Der frühe Ursprung der Forderung gleichen Rechts vor dem Gesetz bzw. dem Richter könnte z u der Vermutung fuhren, daß der Gedanke der Isonomie, der erst im 5.Jhrh. öfter begegnet und dort durchweg die demokratische Gleichheit bedeutet, älter ist als unsere spärlichen Zeugnisse und ursprünglich jenen andern Sinn gehabt hat (anders Ehrenberg 124, Hirzeis Herleitung a. O . 240 von der 'Aufteilung des Besitzes' scheint mir unhistorisch und entspricht nicht einmal der Ansicht der extremen griechischen Demokratie).

146

[1/146]

es ein solches gab; des weiteren aber auch die aktive Beteiligung an der Rechtsprechung oder die verfassungsmäßige Gleichheit der Stimme jedes Einzelnen in den Angelegenheiten des Staates, schließlich den gleichen Anteil des einfachen Bürgers an den leitenden Ämtern, wie die Aristokratie ihn besaß. Wir stehen hier also in den Anfangen einer Entwicklung, die in ihrem Verlauf bei immer weiter getriebener Mechanisierung und Ausdehnung des Gedankens der Gleichheit zur Demokratie hingeführt hat. Doch sie liegt nicht notwendig in der Forderung des gleichen Rechts für alle oder des geschriebenen Gesetzes. Beides hat es auch in oligarchischen und monarchischen Staaten gegeben, anderseits ist es für die extreme Demokratie charakteristisch, d a ß in ihr nicht das Gesetz, sondern die Masse den Staat beherrscht. Es sollten noch Jahrhunderte vergehen, bis in Griechenland diese Staatsform sich entwickelte und weiter ausbreitete. Es entsteht zunächst eine Reihe von Vorstufen. Die ältesten darunter zeigen noch eine Art von Adelsherrschaft. Aber sie ist nicht mehr dieselbe wie ehedem, nachdem einmal die Dike eine Plattform des öffentlichen Lebens geschaffen hatte, auf der Hoch und Gering sich als 'Gleiche' gegenüberstanden. Auch der Adel mußte sich dem neuen Ideal des Politen öffnen, das der Rechtsgesinnung entsprang und sie zum Maßstab nahm. Wie oft hat nicht in den kommenden Zeiten des sozialen Kampfes und der gewaltsamen Revolution der Adel selbst bei ihr Schutz suchen müssen. In der Sprache selbst kündigt sich die Bildung des neuen Ideals an. Man hatte zwar seit ältester Zeit eine Anzahl von Wörtern zur Bezeichnung bestimmter konkreter Arten von Delikten wie Ehebruch, Mord, R a u b , Diebstahl, aber es fehlte ein allgemeiner Begriff für die Eigenschaft, derzufolge m a n diese Übertretungen meidet und die richtige Grenze innehält. Hierfür prägt die neue Zeit das Abstraktum 'Gerechtigkeit', Dikaiosyne, ähnlich wie m a n in jener Zeit höchster Wertschätzung der agonalen Tugenden wie Ringkunst, Faustkampf usw. die entsprechenden, im Deutschen fehlenden Substantiva schuf 1 . Das neue Wort entsprang der fortschreitenden Verinner1 Das Adjectiv δίκαιο;, das eine Vorstufe zu dieser Abstraktbildung ist, begegnet schon in der Odyssee und an einigen jungen Stellen der Ilias. Das

[U147]

14 7

lichung des Rechtsempfindens und seiner Vergegenständlichung zu einem eigenen Typus des Menschen, einer besonderen Arete. Ursprünglich waren Aretai Vorzüge jeder Art, die man hat oder genießt. Durch die Gleichsetzung der Arete des Mannes mit der Tapferkeit war dann ein ethisches Moment in den Vordergrund getreten, dem sich alle einzelnen Vorzüge, die ein Mensch außerdem noch haben mochte, unterordnen und dem sie dienen sollten. Die neue Dikaiosyne war mehr objektiver Art. Sie wurde jetzt die Arete schlechthin, zumal seitdem man in dem geschriebenen Gesetz das untrügliche Kriterium für Recht und Unrecht zu besitzen glaubte. Durch die geschriebene Feststellung des Nomos d. h. des für alle geltenden Rechtsbrauches erhielt der allgemeine Begriff der Gerechtigkeit einen greifbaren Inhalt. Sie bestand nun in dem Gehorsam gegen das staatliche Gesetz, wie später die christliche 'Tugend' in dem Gehorsam gegen die göttlichen Gebote besteht. So erwächst hier eine neue Kraft der Menschenbildung in dem durch die Lebensgemeinschaft der Polis erzeugten Rechtswillen, ähnlich wie auf der früheren adligen Stufe in dem ritterlichen Ideal der kriegerischen Bravour. In den Elegien des Tyrtaios war dieses alte Ideal durch den spartanischen Staat übernommen und zur allgemeinen Bürgertugend erhoben worden1. In dem aus schweren inneren Verfassungskämpfen erwachsenden neuen Rechts- und Gesetzesstaat konnte dieser spartanische, rein kriegerische Typus nicht als die einzige, alles umfassende Verwirklichung des politischen Menschen gelten. Aber wie der Aufruf des ephesischen Dichters Kallinos an seine unkriegerischen Mitbürger zur Verteidigung gegen die ins Land hereingebrochenen Barbaren zeigt, war männliche Wehrhaftigkeit auch im ionischen Staat im entscheidenden Augenblick nicht zu entbehren, sie verändert nur ihre Stelle im Gesamtbereich der Arete. Tapferkeit vor dem Feinde bis zur Hingabe des Lebens für das Vaterland wird jetzt eine Forderung, die das Gesetz an die Bürger stellt und deren Nichterfüllung es mit schwerer Strafe ahndet, Substantiv gibt es bei Homer noch nicht, ττσλαισμοσύνη oder τταλαιμοσύνη gebrauchen Homer, Tyrtaios und Xenophanes, ττυκτοσύνη scheint eine Neubildung des Xenophanes. 1 Vgl. S. 130 ff.

148

[1/148]

aber sie ist eben nur eine Forderung unter anderen. Wer gerecht ist in dem konkreten Sinn, den dieses Wort für das politische Denken der Griechen seither besitzt, d. h. wer dem Gesetz gehorsam ist und sich nach seinem Vorbild richtet 1 , der tut auch seine Schuldigkeit im Kriege. Das freie alte Ideal der heroischen Arete des homerischen Helden wird zur strengen Staatspflicht, der alle Bürger in gleicher Weise unterliegen, genau so wie die Achtung vor den Grenzen von Mein und Dein. Unter den berühmten Dichtersprüchen des 6.Jhrh. findet sich der von den späteren Philosophen öfter zitierte Vers, daß in der Gerechtigkeit alle Tugend zusammengefaßt sei. Damit ist das Wesen des neuen Gesetzesstaates eben so knapp wie erschöpfend definiert 2 . Mit dem Begriff der Gerechtigkeit als der alle Forderungen umfassenden und erfüllenden Arete des vollkommenen Bürgers ist alles Frühere überboten, aber die früheren Stufen der Arete sind nicht dadurch zunichte gemacht, sondern sie sind in der höheren neuen Form aufgehoben. Dies ist der Sinn der Forderung Piatos in den 'Gesetzen', im idealen Staate müsse das Gedicht des Tyrtaios, das die Tapferkeit als höchste Arete preist, „umgedichtet" und anstelle der Tapferkeit die Gerechtigkeit gesetzt werden 3 . Plato will die spartanische Tugend damit nicht ausschließen sondern nur an die ihr zukommende Stelle rücken und ordnet sie der Gerechtigkeit unter. Tapferkeit im Bürger^ krieg sei anders zu bewerten als gegen den Landesfeind 4 . Plato gibt für das Enthaltensein der gesamten Arete in dem Ideal des gerechten Mannes ein sehr aufschlußreiches Beispiel. Seine gewöhnliche Ausdrucksweise unterscheidet vier 'Tugenden': Tapferkeit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Besonnenheit. Wir sehen hier davon ab, daß im 'Staat' und auch sonst öfter statt der Frömmigkeit die philosophischere Weisheit erscheint. Dieser Kanon der vier sogenannten platonischen Tugenden begegnet schon ebenso bei Aischylos als der Inbegriff der wahren Bürger1 Die Auffassung der Gerechtigkeit als Gehorsam gegen die Gesetze ist im 5. und 4. Jhrh. allgemein; vgl. den neugefundenen Antiphon Oxyrh. Pap. X I n. 1364 col. ι (1—33) Hunt, Diels Vorsokr.« Bd. I I S. X X X I I , dazu die Stellen bei Hirzel a. O . 199 A . 1, besonders Plat. Kriton 54 B. 2 Phokylides frg. 10 ~ Theogn. 147 3 Plat. Leg. 660 E 4 Plat. Leg. 629 C ff.

[U149]

149

tugend. Plato hat ihn von der althellenischen Polisethik einfach übernommen1. Aber die Vierzahl dieses Kanons hindert ihn nicht anzuerkennen, daß in der Gerechtigkeit die ganze Arete enthalten ist 2 . Bei Aristoteles wiederholt sich diese Erscheinung in der Nikomachischen Ethik. Er unterscheidet eine weit größere Zahl von Aretai als Plato, aber wo die Rede auf die Gerechtigkeit kommt, spricht er von einem doppelten Begriff dieser Tugend: einer Gerechtigkeit im engeren Sinne, der juristischen, und einer allgemeinen, die die Gesamtheit der sittlichen und politischen Normen in sich schließt. In dieser erkennen wir unschwer den Gerechtigkeitsbegriff des althellenischen Gesetzesstaates wieder. Aristoteles beruft sich denn auch ausdrücklich für ihn auf den vorhin angeführten Vers, daß in der Gerechtigkeit alle Tugend enthalten sei3. Das Gesetz regelte mit seinen Vorschriften das Verhältnis des Bürgers zu den Göttern des Staates, zu den Mitbürgern und zu den Landesfeinden. Der Ursprung der philosophischen Ethik des Plato und Aristoteles aus der altgriechischen Polisethik war den späteren Zeiten, die sie als die Ethik schlechthin und daher als zeitlos zu betrachten gewohnt waren, nicht mehr bekannt. Als man sich in den christlichen Kirchen mit ihr auseinanderzusetzen begann, fand man es seltsam, daß Plato und Aristoteles als sittliche Tugenden Tapferkeit und Gerechtigkeit nennen. Mit dieser Urtatsache des sittlichen Bewußtseins der Griechen mußte man sich abfinden. Für ein Geschlecht ohne politische Gemeinschaft, ohne Staat im antiken Sinne und vom Standpunkt bloßer religiöser Individualethik war das nicht verständlich, j a ein reines Paradoxon, und man verfaßte ergebnislose Doktordissertationen über die Frage, ob und warum die Tapferkeit eine Tugend sei. Für uns ist die bewußte Aufnahme der alten Polisethik in die spätere philosophische Ethik, durch die sie auf die Nachwelt weiter1 Aesch. Sept. 610. Wilamowitz hat den Vers wegen seines, wie er glaubte, platonischen Tugendkanons fur unecht erklärt und in seiner Ausgabe des Aischylos getilgt, aber später diese Athetese -widerrufen; vgl. meine Vortragsreihe Piatos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung, Die Antike Bd. 4 (1928) 163, und Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato, Rede zur Reichsgründungsfeier der Universität Berlin (1934) S. 5. 1 Plat. Pol. 4 3 3 Β 3 Arist. Eth. Nie. E s , 11 29 b 27

150

[I/1Í0J

wirkt, ein durchaus naturgemäßer geistesgeschichtlicher Prozeß. Denn keine Philosophie lebt von der reinen Vernunft, sie ist nur die begrifflich sublimierte Form der geschichtlich gewachsenen Bildung und Gesittung. Jedenfalls trifft dies für die Philosophie des Plato und Aristoteles zu: sie ist nicht ohne die griechische Kultur und die griechische Kultur nicht ohne sie zu verstehen. Der hier vorweggenommene geschichtliche Vorgang der Übernahme der älteren Polisethik und ihres menschlichen Ideals durch die Philosophie des 4. Jhrh. v. Chr. findet seine genaue Analogie in der Zeit der Entstehung der Poliskultur. Auch diese hat bereits die ihr vorangehenden Stufen in sich aufgenommen. Sie machte sich nicht nur die heroische Arete Homers zu eigen sondern auch die agonalen Tugenden, das ganze Erbteil der Adelszeit, wie das übrigens auch die spartanische Staatserziehung in der Zeit tut, in der wir sie kennen lernen. Die Polis ermutigt den Wettbewerb ihrer Bürger an den olympischen und anderen Wettkämpfen und krönt die heimkehrenden Sieger mit den höchsten Ehren. Wenn früher der Sieg nur das Geschlecht des Siegers berühmt machte, so diente er zu den Zeiten wachsenden Solidaritätsgefühls der ganzen Bürgerschaft ad maiorem patriae gloriam. Wie an den gymnastischen Wettkämpfen gibt die Polis ihren Söhnen auch Anteil an der musischen Überlieferung der Vorzeit und an der Pflege der Künste. Sie schafft 'Isonomie' nicht nur auf dem Gebiet des Rechts sondern auch hinsichtlich der höheren Güter des Lebens, die die adlige Kultur geschaffen hatte und die jetzt Allgemeinbesitz der Bürgerschaft werden. Die ungeheure Macht der Polis im Leben des Einzelnen war begründet in der Idealität des Polisgedankens. Der Staat wurde ein eigenes geistiges Wesen, er sog alle höheren Gehalte des menschlichen Daseins in sich auf und teilte sie als seine Gaben wieder aus. Wir denken heute in diesem Zusammenhange zunächst an den Anspruch des Staates auf die Leitung der Erziehung seiner Bürger im jugendlichen Alter. Aber die staatliche Erziehung der Jugend wurde erst durch die Philosophie des 4. Jhrh. gefordert; von den älteren Staaten hat nur Sparta auf die Jugendbildung unmittelbar Einfluß genommen. Trotzdem ist der Staat auch außerhalb Spartas schon in der Zeit der werdenden Poliskultur der Erzieher seiner Bürger gewesen, dadurch

[UM]

151

daß er die gymnastischen und musischen Agone an den Festen der Götter als eine Art idealer Selbstdarstellung ansah und sie in seinen Dienst zog. Sie sind die höchste Repräsentation der geistigen und körperlichen Bildung jener Zeit. Mit Recht nennt Plato die Gymnastik und Musik die „alte Bildung" (άρχαία παιδεία). Die Pflege dieser ursprünglich adligen Kultur durch die Städte in Gestalt großer und kostspieliger Konkurrenzen brachte nicht nur dem Wettkampfwesen und den musischen Interessen den lebhaftesten Aufschwung. Im Wetteifer um sie bildete sich eigentlich erst der wahre Gemeingeist aus. Dem griechischen Städter ist seither der Stolz auf die Zugehörigkeit zu seiner Polis selbstverständlich. Zur vollen Bezeichnung eines Hellenen gehört außer seinem Namen und dem seines Vaters immer der seiner Vaterstadt. Wie im modernen Nationalgefühl so lag auch im Bewußtsein der Polisangehörigkeit fur den Griechen ein idealer Wert. Die Polis als das Ganze der bürgerlichen Gemeinschaft gibt viel, sie kann aber auch das Höchste fordern. Mit gewaltiger Rücksichtslosigkeit setzt sie sich gegenüber den Individuen durch und prägt ihnen ihren Stempel auf. Sie wird jetzt die Quelle aller geltenden Lebensnormen für die Bürger. Der Wert des Menschen und seines Tuns wird ausschließlich an ihrem Wohl und Wehe gemessen. Das ist der fast paradoxe Erfolg des mit so unglaublicher Leidenschaft geführten Kampfes um das Recht und die Gleichheit des Individuums: im G e s e t z schmiedet sich der Mensch eine neue strenge Fessel, die die auseinanderstrebenden Kräfte weit fester zusammenhält und zentralisiert als die alte Gesellschaftsordnung es jemals vermocht hatte. Der Staat drückt sich objektiv im Gesetz aus, das Gesetz wird König, wie die Griechen später sagten 1 , und dieser unsichtbare Herrscher zieht nicht nur die Rechtsübertreter zur Rechenschaft und wehrt den Übergriffen der Stärkeren, er greift auch positiv mit seiner Regelung in alle Bezirke des Lebens ein, die früher der Willkür des Einzelnen offenlagen. Er errichtet Schranken und Wegweiser bis in die internsten Angelegenheiten des Privatlebens und des sittlichen 1 Das Wort ist geprägt von Pindar (frg. 169 Schröder), es hat in der griechischen Literatur eine Geschichte erlebt, die E. Stier, Nomos Basileus, Beri. Diss. 1927 verfolgt.

152

[I! 152]

Betragens seiner Bürger. Die Entwicklung des Staates führt also durch den K a m p f um das Gesetz zur Entfaltung neuer, differenzierterer Lebensnormen. Darin liegt die Bedeutung des neuen Staates für die Formung des Menschen. Plato sagt mit Recht, daß jede Staatsform ihren besonderen Menschentypus ausbildet, und sowohl er wie Aristoteles verlangen von der Erziehung im vollkommenen Staate, daß sie in allem das Gepräge seines Geistes trage 1 . „Erzogen im Ethos der Gesetze" lautet die häufig wiederkehrende Formulierung dieses Ideals bei den großen attischen Staatstheoretikern des 4 . J h r h . 2 . Sie läßt die unmittelbare erzieherische Bedeutung der Aufrichtung einer allgemein gültigen Rechtsnorm durch das geschriebene Gesetz deutlich erkennen. Das Gesetz bedeutet die wichtigste Stufe auf dem Wege der griechischen Bildung vom bloßen aristokratischen Standesideal zur grundsätzlich und philosophisch erfaßten Idee des Menschen. Überall knüpft die philosophische Ethik und Erziehung später inhaltlich und formell an die älteren Gesetzgebungen an. Sie erwächst nicht im luftleeren R a u m des reinen Denkens sondern durch die begriffliche Bearbeitung der geschichtlichen Substanz der Nation, wie dies schon von der Philosophie des Altertums selbst anerkannt worden ist. I m Gesetz fand das Erbe der rechtlichen und sittlichen Normen des griechischen Volkes seine allgemeinste und bindendste Form. Piatos philosophisches Erziehungswerk gipfelt darin, daß er in seinem letzten größten Werk zum Gesetzgeber wird, und Aristoteles erhebt am Schluß der Ethik den R u f nach dem Gesetzgeber, um sein Ideal zu verwirklichen. Das Gesetz ist auch insofern eine Vorstufe der Philosophie, als seine Schöpfung bei den Griechen durchweg das Werk einzelner überragender Persönlichkeiten ist. Sie wurden mit Recht als die Erzieher ihres Volkes betrachtet, und es ist für griechisches Denken charakteristisch, daß die Gesetzgeber oft neben die Dichter und die Bestimmungen des Gesetzes neben die Aussprüche der Dichter-

1 Plat. Pol. 544 D , Arist. Pol. Γ ι , 1 2 7 5 0 3 * Plat. Leg. 625 A , 751 C , Epist. 3 3 5 D, Isokr. Paneg. 82, de pace 102; vgl. Arist. Pol. θ ι , 1 3 3 7 a ' 4

[1/153]

153

Weisheit gestellt wurden, weil beide ihrem

Wesen nach verwandt

erschienen 1 .

Die spätere Kritik des Gesetzes, wie sie in der Zeit der entartenden Demokratie durch die überstürzte und despotische Gesetzmacherei der Städte aufkam, war damals noch nicht am Platze. Im Gegensatz zu dieser Skepsis sind alle älteren Denker einig im Lobe des Gesetzes. Es ist fur sie die Seele der Polis. „ U m sein Gesetz soll das Volk kämpfen wie um seine Mauer", sagt Heraklit 2 . Hier erscheint hinter dem Bild der sichtbaren Stadt mit ihren schützenden Ringmauern die unsichtbare Polis, deren festes Bollwerk das Gesetz ist. Aber schon früher findet sich eine sehr charakteristische Spiegelung der Rechtsidee in der Naturphilosophie des Anaximandros von Milet um die Mitte des 6. Jhrh. Er überträgt die Vorstellung der Dike aus dem sozialen Leben der Polis in die Natur und erklärt den ursächlichen Zusammenhang des Werdens und Vergehens der Dinge als einen Rechtsstreit, in dem sie einander Buße und Schadenersatz zahlen müssen fur ihre Ungerechtigkeit nach dem Richtspruch der Zeit 8 . Hier ist der Ursprung der philosophischen Idee des Kosmos, auch dieses Wort bezeichnet j a ursprünglich die rechtliche Ordnung des Staates und jeder Gemeinschaft. Die kühne Projektion des staatlichen Kosmos in das Universum, die Forderung also, daß nicht nur im Menschenleben sondern auch in der Natur des Seienden Isonomie und nicht Pleonexie das herrschende Prinzip sein müsse, zeigt schlagend, wie flir diese Epoche das neue politische Erlebnis von Recht und Gesetz das Zentrum alles Denkens, die Grundlage der Existenz und die eigentliche Quelle ihres Glaubens an den Sinn der Welt geworden war. In seiner Bedeutung für die philosophische Weltdeutung muß dieser geistige Übertragungsprozeß noch besonders gewürdigt werden. Hier sollte nur kurz gezeigt werden, welches Licht er auf die Sphäre des Staates und auf das neue Ideal des politischen Menschen wirft. Aber zugleich wird deutlich, wie tief die Entstehung des philosophischen Bewußtseins in Ionien mit den Ur1 Vgl. meine Abhandlung Solons Eunomie, Sitz. Beri. Alead. 1926, 70. Gesetzgeber als 'Schriftsteller' Plat. Phaedr. 357 D ff, mit den Dichtern zusammengestellt 378 C ff. * Heraklit frg. 44 Diels » Anaximandros frg. 9 (vgl. S. 317 ff.)

154

[I/1S4J

Sprüngen des Gesetzesstaats zusammenhängt. Ihre gemeinsame Wurzel ist das Welt und Leben in ihrer wesenhaften Gestaltung ergründende und deutende allgemeine Denken, das von hier ausgeht und die griechische Kultur immer vollständiger durchdringt. Zum Schluß soll die Wendung zum neuen Polisstaat, die sich in Ionien anbahnt, in ihrer entscheidenden Bedeutung für die Entwicklung der altgriechischen Adelskultur zu der Idee einer 'allgemein-menschlichen Bildung' gekennzeichnet werden. Das was hier gesagt werden soll, trifft — wie ich ausdrücklich bemerken möchte — für die ersten Anfänge der Polisgeschichte allerdings noch nicht in vollem Umfange zu, sondern es nimmt die Bilanz der ganzen Entwicklung vorweg, deren Grundlagen wir hier analysiert haben. Aber es ist gut, schon hier unser Augenmerk auf die prinzipielle Tragweite dieser geschichtlichen Wendung zu richten und sie dauernd im Auge zu behalten. Indem der Staat den Menschen in seinen politischen Kosmos hineinstellt, gibt er ihm neben dem Privatleben eine Art zweiter Existenz, den ßio$ πολιτικός. Jeder gehört nun gewissermaßen zwei Ordnungen an, das Eigene (ϊδιον) und das Gemeinsame (κοινόν) im Leben des Bürgers scheiden sich scharf voneinander. Der Mensch ist nicht bloß 'Idiot', sondern auch 'Polit'. Er bedarf jetzt neben seiner Berufstüchtigkeit einer allgemeinen Bürgertugend, der -πολιτική άρετή, die ihn zum einträchtigen und verständnisvollen Zusammenwirken mit den anderen in demselben Lebensraum der Polis befähigt. Es ist klar, warum das neue politische Menschenbild nicht wie die Volkserziehung des Hesiodos an den Gedanken der menschlichen Arbeit anknüpfen konnte. Der Aretebegriff Hesiods war ganz erfüllt von dem realen Lebensinhalt und dem Berufsethos des arbeitenden Standes, an den er sich wandte. Wenn wir von der heutigen Gegenwart aus den Entwicklungsgang der griechischen Erziehung überblicken, würden wir geneigt sein zu denken, die neue Bewegung hätte dieses hesiodische Programm nur aufzunehmen brauchen: sie hätte statt der allgemeinen Persönlichkeitsbildung des Adels einen neuen Begriff der Volksbildung hervorgebracht, der jeden Menschen nach seiner speziellen Arbeitsleistung bewertet, und hätte das Wohl des Ganzen darin gesucht, daß jeder Einzelne [I/1ÍÍJ

155

sein Werk möglichst vollkommen verrichtet, wie es der Aristokrat Plato in dem von wenigen geistig überlegenen Menschen geleiteten Autoritätsstaat seiner 'Politela' fordert. Sie hätte mit der volkstümlichen Lebensweise und Erwerbsart sympathisierend erklären können, daß Arbeit keine Schande bringt, sondern für jeden Menschen die alleinige Grundlage seiner bürgerlichen Geltung ist. Allein die tatsächliche Entwicklung ist unbeschadet der Anerkennung dieser wichtigen sozialen Tatsache doch völlig anders verlaufen. Das Neue, das die sich schließlich durchsetzende allgemeine Politisierung des Menschen brachte, war die Forderung an jeden Einzelnen, aktiv in den Staat und das öffentliche Leben einzutreten und sich seiner Pflichten als Bürger bewußt zu werden, die durchaus verschieden waren von denen seiner privaten Berufssphäre. Diese 'allgemeine', politische Tüchtigkeit hatte bisher nur der Adel gehabt. Er hatte seit unvordenklichen Zeiten die Macht ausgeübt und besaß dadurch eine unvergleichliche, auch jetzt noch unentbehrliche Schule. Der neue Staat konnte diese Arete nicht vernichten wollen, wenn er sein eigenes Interesse richtig verstand, sondern mußte nur ihren Mißbrauch zu Eigennutz und Ungerechtigkeit verhindern. Jedenfalls dem Ideal nach war es so, wie noch Perikles bei Thukydides ausspricht. So knüpft also die politische Bildung in dem freien Ionien genau wie in dem strengen Sparta an die ältere Adelserziehung an d. h. an ein Ideal der Arete, das den ganzen Menschen und alle seine Kräfte umfaßte. Das nahm der hesiodischen Arbeitsethik nichts von ihrer Berechtigung, aber für den Politen als solchen war das höchste Ziel das gleiche, das schon Phoinix den Achilleus gelehrt hatte: ein Sprecher der Reden zu sein und ein Wirker der Taten. Wenigstens die führenden Leute des aufsteigenden Bürgertums mußten diese Stufe erklimmen, und auch die große Masse mußte bis zu einem gewissen Grade für den Gedanken dieser Arete empfanglich gemacht werden. Diese Entwicklung war außerordentlich folgenreich. Man erinnert sich, daß das Verhältnis der technischen Berufstüchtigkeit zur politischen Bildung ja eben das Problem werden sollte, bei dem später Sokrates mit seiner Kritik der Demokratie einsetzte. Es war für Sokrates den Steinmetzsohn, den einfachen 156

[1/156]

Mann des arbeitenden Volkes, ein aufregendes Paradoxon, daß zwar der Schuster, der Schneider und der Tischler zur Ausübung ihres biederen Handwerks eines besonderen Sachwissens bedürfen, dagegen der Politiker nur eine allgemeine Bildung von ziemlich unbestimmtem Inhalt haben solle, obgleich sein 'Handwerk' es mit soviel wichtigeren Dingen zu tun habe. Es ist klar, daß das Problem so erst von einer Zeit formuliert werden konnte, für die es eine selbstverständliche Voraussetzung war, daß die politische Arete ein Können und Wissen sein müsse. Das Fehlen dieses speziellen Sachverständnisses erschien von hier aus betrachtet dann geradezu als das Wesen der Demokratie. In Wahrheit war aber für den ältesten griechischen Polisstaat die politische Tugend noch durchaus kein überwiegend intellektuelles Problem gewesen. Wir haben vorhin bereits gezeigt, was man damals unter Bürgertugend verstand. Der neue Rechtsstaat war soeben aufgerichtet, und die eigentliche Tugend des Bürgers bestand in der freiwilligen Unterordnung aller ohne Unterschied des Ranges und der Herkunft unter die neue Autorität des Gesetzes. In diesem älteren Begriffe der politischen Tugend überwog das Ethos noch durchaus den Logos. Gesetzestreue und Disziplin waren wichtiger für ihn als die Frage, wieviel der gemeine Mann von der geschäftlichen Leitung und von den Zielen des Staates verstand. Von einer Mitwirkung in diesem Sinne war keine Rede. Der älteste Polisstaat war für seine Bürger der Garant aller idealen Grundlagen des Lebens, ττολιτεύεσθαι hieß teilnehmen an dem allgemeinen Wesen, es hatte aber auch ganz einfach die Bedeutung 'leben', denn beides war eins und dasselbe. Niemals später ist der Staat in höherem Maße identisch gewesen mit der Würde und dem Wert des Menschen. Wenn Aristoteles den Menschen ein politisches Lebewesen genannt hat, also ihn durch seine Staatlichkeit vom Tier unterscheidet, so ist diese Gleichung der kumanitas, des Menschseins mit dem Staat nur aus dem Lebensgefiige der älteren griechischen Poliskultur verständlich, für die das Gemeinwesen eben der Inbegriff alles höheren Lebens, j a selbst göttlich war. Einen Gesetzeskosmos nach diesem althellenischen Modell, in dem der Staat der Geist selbst ist und alle geistige Kultur sich auf den Staat als ihr Ziel [U157J

157

bezieht, entwirft Plato in den 'Gesetzen'. Er bestimmt dort 1 das Wesen aller wahren Bildung oder Paideia im Gegensatz zu dem Spezialwissen der Berufsmenschen, der Kaufleute, Krämer und Schiffsreeder als die „Erziehung zur Arete, die den Menschen mit dem Trieb und Verlangen erfüllt, ein vollkommener Staatsbürger zu werden, der sowohl zu herrschen wie sich beherrschen zu lassen weiß auf der Grundlage des Rechtes." Plato hat hier den u r s p r ü n g l i c h e n S i n n d e r 'allg e m e i n e n ' B i l d u n g im Geiste der frühgriechischen Polis getreu wiedergegeben. Er hat zwar die sokratische Forderung einer politischen Techne in seinen Begriff der Bildung aufgenommen, aber er denkt dabei nicht an ein besonderes Fachwissen, das dem Wissen des Handwerkers ähnlich ist. Die wahre Bildung ist für Plato eine 'allgemeine', weil der Sinn fur das Politische der Sinn fur das Allgemeine ist. Der Gegensatz zwischen realer Berufskunde und idealer politischer Bildung, die auf den ganzen Menschen zielt, hat seinen letzten Ursprung, wie wir früher zeigten, in dem altgriechischen Adelstypus. Er erhielt aber erst in der Poliskultur seine tiefere Bedeutung, weil hier diese Geistesform auf die übrige Bürgerschaft übertragen und die aristokratische Bildung zur allgemeinen Formung des politischen Menschen wurde. Der ältere Polisstaat ist nach der Adelsbildung die nächste nicht fortzudenkende Stufe in der Entwicklung des 'humanistischen' Ideals einer allgemein-menschlichen, ethischpolitischen Bildung, j a man darf sagen, daß dies recht eigentlich seine geschichtliche Mission gewesen ist. Die weitere Entwicklung vom frühgriechischen Polisstaat zur Massenherrschaft, die von ganz anderen Kräften bedingt war, ist fur das Wesen dieser Bildung keineswegs entscheidend, da sie durch alle politischen Wandlungen hindurch, die sie durchlaufen mußte, ihren ursprünglichen aristokratischen Charakter wahrte. Man darf ihren Wert weder an dem einzelnen Führergenie messen, dessen Entstehung stets Ausnahmebedingungen unterliegt, noch an ihrer Brauchbarkeit fur die Masse, auf die sie nicht ohne verflachende Wirkung für beide Teile übertragen werden kann. Von solchen Versuchen hat sich der gesunde Sinn der Griechen 1

158

Plat. Leg. 643 E

[1/158]

durchweg fern gehalten. Die Unentbehrlichkeit des Ideals der allgemeinen politischen Arete beruht auf der Notwendigkeit der immer neuen Heranbildung einer führenden Schicht, ohne die kein Volk und kein Staat, gleichviel welcher Verfassung, bestehen kann.

[1/159]

159

DIE SELBSTFORMUNG DES INDIVIDUUMS IN DER IONISCH-ÄOLISGHEN DICHTUNG Der Neubau des Staates auf der gemeinsamen Grundlage des Rechts fur alle schuf den neuen Menschentypus des Bürgers und machte die Ausprägung einer allgemeingültigen Norm des bürgerlichen Lebens zur dringendsten Notwendigkeit fur die neue Gemeinschaft. Aber wenn das Ideal der frühgriechischen Adelsgesellschaft im Epos seinen objektiven Ausdruck gefunden hatte, wenn Hesiod die nüchterne Weisheit der bäuerlichen Lebenserfahrung und Arbeitsethik, Tyrtaios die strengen Forderungen des spartanischen Staatsgeistes in ihren Dichtungen zu bleibender Gestalt geformt hatten, so vermissen wir zunächst einen entsprechenden vollwertigen Ausdruck der neuen Polisidee in der zeitgenössischen Poesie. So bereitwillig auch die Poliskultur die frühere Bildung, wie wir sahen, in sich aufnahm und mit ihr die hohe Poesie als Mittel ihrer idealen Selbstdarstellung in ihren Dienst zog, nicht anders als Musik und Gymnastik der adligen Vorzeit, so war doch keine Rede von einer Verkörperung ihres besonderen Wesensgehalts in eigenen dichterischen Schöpfungen, die mit der schon klassisch gewordenen Poesie der Vergangenheit hätten wetteifern können. Zu erwähnen sind hier nur die im konventionellen epischen Stil gehaltenen Stadtgründungsgeschichten, aber nirgendwo scheint eines dieser in der Zeit der frühgriechischen Poliskultur noch selteneren Kunstprodukte sich zu der Bedeutung eines wahren Staatsepos erhoben zu haben, wie der Römer Vergil sie dem letzten und größten Werk dieser Gattung, der Aeneis zu geben gewußt hat. 160

[1/160]

Seinen wahrhaft revolutionären Ausdruck fand das Ethos des neuen Staates zunächst überhaupt nicht in dichterischer Form sondern gerade in der Schöpfung der Prosa. Denn nicht weniger als das bedeutet das schriftlich niedergelegte Gesetz. Das Charakteristische der neuen Entwicklungsstufe der menschlichen Gemeinschaft ist eben dies, daß der politische Kampf um die ideale Norm des streng rechtmäßigen Lebens und Tuns mit größter Entschiedenheit zur Festlegung ihrer Gebote in klaren allgemeingültigen Sätzen drängt. Neben dieser so heftig empfundenen sittlichen Forderung trat das Bedürfnis nach anschaulicher dichterischer Gestaltung des neuen Menschen anfanglich ganz zurück. Der Gesetzesstaat ist schon rationalem Geist entsprossen und hat als solcher zur Poesie keine ursprüngliche Verwandtschaft. Die dichterisch fruchtbaren Momente des Polislebens schienen in Homer, Kallinos, Tyrtaios bereits erschöpft. Die ganze Breite des bürgerlichen Alltags blieb der erhabenen Poesie notwendig unzugänglich, Solons innerpolitisches Heroentum aber, das die Quelle einer neuen hohen Dichtung werden sollte, ist in keines Ioniers oder Äolers Sinn gekommen. Dafür öffnet sich im engsten persönlichen Umkreis des Menschen, von allem Politischen entfernt, der Poesie ein neues Reich des Erlebens, in das wir sie sich begierig vertiefen sehen. In diese Welt führt uns die elegische und iambische Dichtung der Ionier und die äolische Lyrik ein. Die Dynamik des individuellen Lebenswillens, deren Spannung wir im Formwandel des Staates mehr indirekt an ihrer umgestaltenden Wirkung auf das Leben der Gemeinschaft spüren, offenbart sich hier in der Aussprache ihrer bewegenden Motive in ihrer unmittelbaren Innerlichkeit. Ohne den Einblick in diese geistigen Vorgänge würde uns die wesentlichste Voraussetzung für das Verständnis der politischen Umwälzungen fehlen. Die kausalen Zusammenhänge zwischen Geistigem und Materiellem sind, zumal bei dem völligen Mangel an irgendwelcher Überlieferung über den wirtschaftlichen Zustand der Zeit, für uns hier wie meist in Dunkel gehüllt, aber für die Bildungsgeschichte kommt es mehr auf die geistige Gestalt an, die der Mensch der neuen Epoche sich zu geben vermocht und auf die Spur, die er vermöge dessen in der weiteren [1/161J

161

Entwicklung hinterlassen hat. Und diese Spur des ionischen Geistes ist allerdings nicht fortzudenken aus der griechischen und der Menschheitsgeschichte. Die Dichter sprechen zum erstenmal im eigenen Namen eigene Gefühle und Ansichten aus. Das Gemeinwesen bleibt bei ihnen ganz im Hintergrund. Auch wo sie Politisches berühren (und das geschieht nicht selten), tritt es uns nicht als Achtung heischende allgemeine Norm entgegen wie bei Hesiodos, Kallinos, Tyrtaios und Solon, sondern als ausgesprochen persönliche Parteileidenschaft wie bei Alkaios oder als Pochen des Einzelnen auf s e i n Recht wie bei Archilochos. Selbst die streitenden Tiere in der Fabel berufen sich dort gegenseitig auf „ihr Recht", ein humorvolles Abbild der menschlichen Verhältnisse. Allerdings hat die offene Aussprache der eigenen Gedanken des Dichters in dieser neuen Poesie immer die Polis und ihren gesellschaftlichen Aufbau zur Voraussetzung. In ihm ruht das Individuum in seiner Gebundenheit wie in seiner Freiheit, sei es daß diese Beziehung unausgesprochen bleibt, oder sei es daß der Dichter sich mit seiner persönlichen Meinung ausdrücklich an die Mitbürger wendet, wie es gerade Archilochos beständig tut. Es ist höchst bezeichnend für die Art der Individualität, die sich in dieser Dichtung zum erstenmal mit erstaunlicher Ungezwungenheit zu regen beginnt, daß sie sich nicht in moderner Weise äußert als die nur nach innen schauende, in sich selbst versenkte Empfindung des Ichs in seiner Weltverbundenheit oder Weltgelöstheit, als das Ausströmen des reinen Gefühls. Vielleicht ist diese moderne bewußte Art der dichterischen Individualität nur eine Rückkehr der Kunst zu der ursprünglichen Naturform der naiven Selbstäußerung des individuellen Gefühls, wie sie sich bei Menschen verschiedenster Zeit und Rasse und zweifellos schon auf frühster Kulturstufe findet. Uberhaupt ist nichts törichter als die Vorstellung, als ob erst die Griechen individuelles Empfinden und Denken in die Welt gebracht hätten, da die ganze Welt vielmehr fast ausschließlich von dieser Art des Denkens und Empfindens erfüllt ist. Sie sind auch nicht die Ersten oder die Einzigen, die dieser Individualität künstlerische Form gegeben haben, das zeigt besonders eindrucksvoll die von den Modernen als so tief verwandt empfundene Lyrik der Chinesen. 162

LH 162]

Aber gerade sie läßt uns auch den Wesensunterschied der frühgriechischen Individualität erfassen. Das Denken und Fühlen des griechischen Dichters bleibt innerhalb der neu eroberten Ich-Sphäre doch wieder irgendwie auf ein Normatives, Seinsollendes bezogen. Das wird im einzelnen noch genauer zu zeigen sein. Es ist gar nicht leicht begrifflich scharf zu erfassen, was wir bei Archilochos und seinesgleichen unter Individualität eigentlich zu verstehen haben, wenn diese Bezeichnung sich auch seit langem eingebürgert hat. Es ist sicher nicht das nachchristliche, moderne Ich-Gefühl der sich ihres innerlichen Wertes bewußten Einzelseele. Das Ich wird bei den Griechen stets im lebendigen Zusammenhang mit der ganzen umgebenden Welt, mit der Natur wie mit der menschlichen Gesellschaft erfaßt, nicht aus ihr herausgelöst und isoliert. Das .nimmt den Äußerungen dieser Individualität das ausschließlici Subjektive, vielmehr könnte man sagen, daß in einer Poesie wie der des Archilochos das einzelne Ich die ganze gegenständliche W«lt und ihre Gesetze auszudrücken und in sich darzustellen gelernt hat. Das griechische Individuum erlangt seine Freiheit und den Spielraum zu selbstbewußter Bewegung nicht dadurch, d a ß es einfach dem Subjektiven die Zügel schießen läßt, sondern dadurch, daß es sich geistig objektiviert. In dem Maße wie es sich dem äußeren Gesetz als eine Welt für sich gegenüberstellt, entdeckt es sozusagen seine eigenen inneren Gesetze. Wir betrachten diesen Vorgang, dessen Tragweite für die Formgeschichte des abendländischen Geistes unmittelbar einleuchtet, nun an einzelnen Beispielen. Einen parallelen Vorgang haben wir schon an einer anderen Stelle, bei der Entstehung der Elegie des Kallinos und Tyrtaios beobachtet. Dort stellten wir die bildungsgeschichtlich denkwürdige Tatsache fest, daß das spartanische Staatsbürgerideal seine dichterische Ausprägung findet, indem die homerische Paränese, die die Helden zur Tapferkeit anfeuerte, aus dem Epos unmittelbar in die wirkliche, erlebte Gegenwart versetzt wird. Was dort für die ganze Bürgerschaft, für das Heer der Spartaner gilt, wiederholt sich bei Archilochos für die eigene Person des Dichters. In den Elegien erscheint er selbst oder seine Umgebung immer wieder als Träger homerischer Rollen, Schicksale und Betrachtungen. In diesen formalen [1/163]

163

und inhaltlichen Transpositionen wird uns der große Bildungsprozeß, der sich damals durch die innere Besitzergreifung des Epos an der einzelnen Persönlichkeit vollzieht, handgreiflich klar. Auch die Emporhebung des Individuums auf die Stufe einer freieren Geistes- und Lebenshaltung ist in erster Linie der formenden Einwirkung Homers zu verdanken. Wenn Archilochos sich vorstellt als „Diener des Herrschers Enyalios", der sich zugleich auf die „liebliche Gabe der Musen" versteht 1 , so pflegen wir als das Entscheidende und Neue das kühne Selbstbewußtsein dieses Ich zu empfinden, das sich in seinem merkwürdigen Doppelberuf als Kriegsmann und Dichter mit Recht als etwas Einzigartiges fühlt. Aber wir müssen uns dabei doch auch erinnern, daß es ein Prozeß geistiger Selbstformung ist, wenn der Dichter seiner eigenen realen Person hier das heroische Gewand der epischen Ausdrucksform überstreift, oder wenn er von den Kämpfen gegen die „speerberühmten Gebieter Euboias", in denen er seinen Unterhalt als Landsknecht verdient, stolz als von dem „Getümmel des Ares" redet und von dem „seufzerreichen Werk der Schwerter" 2. Er trinkt seinen Wein und ißt sein Brot in homerischer Heldenpose „auf den Speer gestützt", durch den er sich ernährt 3. Das alles sagt von sich ein Mann, der doch wohl nicht adliger Herkunft ist. Das Epos gibt seinem ganzen Leben, Tun und Denken den Stil. Nicht immer fühlt er sich freilich dieser anspruchsvollen Rolle völlig gewachsen. Die Individualität des Archilochos äußert sich nicht nur darin, daß er sein zufälliges Ich zu der idealen Norm emporhebt und in sie hinein bildet, die er von Homer übernimmt, sondern dieses Sich selbst mit dem Ideal gleichen' und an ihm messen führt notwendig dazu, mit dem scharfen objektiven Blick des Griechen auch die Stellen zu erspähen, wo diese schwere archaische Heldenrüstung um das schlotternde Gebein der eigenen unzulänglichen Menschlichkeit nicht paßt. Diese Selbsterkenntnis kann der unbesieglichen Munterkeit des Archilochos nicht einmal Abbruch tun, sie wird umgekehrt für Archil, frg. ι frg. 3. M a n beachte auch die episierenden Namensformen, deren Archilochos sich in der A n r e d e von Bekannten seines Kreises bedient: ΚηρυKÌ5r|s, ΑΙσιμΙδηΐ, ΑΙσχυλΙδης. 3 frg. 2 1

2

164

[11164

f

ihn ein neues Motiv der Selbstäußerung und humorvollen Selbstbehauptung auch gegenüber den unerreichbaren Ansprüchen der herkömmlichen Ideale. Mögen die homerischen Heroen den Verlust ihres Schildes als den Tod ihrer Ehre empfinden und lieber das Leben darangeben als diese Schmach erleiden: hier ist der Punkt, wo der neuzeitliche Heros von Paros seine entschiedenen Vorbehalte macht, und er ist sicher, unter seinen Zeitgenossen die Lacher auf seiner Seite zu haben, wenn er dichtet: „An meinem Schild freut sich jetzt einer der feindlichen Saier, den ich als untadeliges Waffen unfreiwillig am Strand zurückgelassen habe. Doch ich selbst entkam j a dem Ende des Todes. Fort denn mit diesem Schild! Ich werde mir einen besseren kaufen" 1 . Die köstliche Mischung des modernen naturalistischen Humors, der sich illusionslos bewußt ist, daß man auch als Held sein Leben nur einmal zu verlieren hat, mit den erhaben tönenden epischen Floskeln vom „untadligen Waffen" und vom „Ende des Todes" wird hier zur Quelle der unfehlbar komischen Wirkung. Unter ihrem Schutz darf sich der tapfere Ausreißer den wirklich recht frechen Schluß leisten, der durch seine verblüffende Aufrichtigkeit allem die Krone aufsetzt: Ich werde mir einfach einen besseren kaufen! Was ist schließlich auch ein Schild anderes als ein Stück gegerbter Ochsenhaut mit etwas blankem Metallbeschlag! Solche Transformation des Heroischen ins Natürlich-Allzunatürliche erscheint unglaublich kühn, aber auch hierin war schon das spätere Epos vorangegangen. Was ist es anderes, wenn Achilleus in dem letzten Gesang der Ilias den gramvollen Priamos, nachdem er ihm die Leiche seines erschlagenen Sohnes herausgegeben hat, zu essen und zu trinken einlädt mit dem Hinweis auf das Beispiel der Niobe, die doch den tiefsten Mutterschmerz erdulden mußte: „Auch Niobe mußte, als sie sich an Tränen gesättigt, wieder der Speise gedenken" 2 . Wir sind alle nur Menschen. Auch das Heroentum hat seine Grenzen. Wie hier die Tragik des Natürlichen, so durchbricht bei Archilochos seine Komik die strenge heroische Norm. Doch irgendwie kreist das Denken der Griechen immer um die rechte Norm und setzt 1

[1/165]

frg. 6

2

ω 6o2 165

sich mit ihr auseinander, sei es um sie gegenüber der Natur als das Höhere zur Geltung zu bringen, sei es um der Natur dem Ideal gegenüber ihr Recht zu wahren. Es ist noch ein langer Weg von diesen ersten Äußerungen beginnender Lockerung der strengen Fesseln ritterlicher Konvention und Standesehre, die eben als Norm für Landsknechte nicht taugt, bis zu der philosophischen Revolution des sittlichen Denkens, die die „Natur" als die wahre und allein gerechtfertigte Norm des Verhaltens verkündigen sollte. Aber in dem kecken persönlichen Sichhinwegsetzen des Archilochos über alle Schranken des gewohnten Anstände — und dies spricht sich überall bei ihm mit unverhüllter Offenherzigkeit aus — steckt bereits das Bewußtsein, nicht nur der Unverschämtere, sondern auch der Natürlichere und Ehrlichere gegenüber den strenger durch die Sitte Gebundenen zu sein. Häufig ist auch, was uns auf den ersten Blick bei Archilochos als reiner Subjektivismus erscheint, nur der Ausfluß einer veränderten allgemeinen Anschauung von Schicklich und Anstößig und einer in diesem Falle berechtigten Rebellion gegen die Götter der öffentlichen Meinung und die Macht der Überlieferung. Es handelt sich dabei nicht nur um ein bequemes Umgehen hergebrachter Normen, sondern es ist der ernste Kampf um eine neue. Die älteste Gesellschaftsordnung kannte keine höhere Instanz des Urteils über den Menschen als die öffentliche Fama. Sie ist einfach inappellabel. In dem gewaltigen Respekt vor ihr begegnet sich die Adelswelt des Homer mit der hesiodischen Moral der Bauern und Handwerker 1 . Archilochos bezeichnet eine freiere Stufe der Entwicklung, wenn er sich gegenüber dem Urteil des Demos über Recht und Unrecht, Ruhm und Schaiîde durchaus selbständig fühlt 2 . „Wenn man sich um die Nachrede der Leute kümmern wollte, dann würde kein Mensch sehr viel Annehmlichkeit von seinem Leben haben". Gewiß hat •bei dieser Emanzipation die Bequemlichkeit der menschlichen Natur ihre nicht zu unterschätzende Rolle gespielt, die Begrün1 l)ic homerische A d e l s c t h i k d r o h l mit der S c h a n d e . lockt m i t d e m R u h m . D i e R ü c k s i c h t a u f die N a c h r e d e des D e m o s π 75, τ 5 2 7 , ω 2θθ g e h ö r t zur bürgerlichen M o r a l , d i e im j ü n g e r e n E p o s einwirkt. Hes. E r g a 763 erhebt g a r die P h r m e zur G ö t t i n . 2 f'R· 9

166

[U166J

dung weist ziemlich unmißverständlich darauf hin. Eine gewisse Läßlichkeit war überall im Gefolge der neuen Freiheit und Natürlichkeit. Aber nicht nur hedonistische Gründe führten zur Auflehnung gegen die Macht der öffentlichen Nachrede der Bürgerschaft, Archilochos' Kritik geht zum schärfsten prinzipiellen Angriff auf sie über. Da sagt man, daß die Polis den Namen eines um sie verdienten Mannes über seinen Tod hinaus in ehrenvollem Andenken halte — so verkündigten es j a alle Dichter von Homer an als den sicheren Lohn des Verdienstes — aber „bei den Leuten dieser Stadt findet keiner nach seinem Tode noch Ehrfurcht und ehrende Erinnerung. Wir laufen, so lange wir leben, der Gunst des Lebenden nach, dem Toten aber geht es stets sehr ü b e l " 1 . Ein andres Bruchstück zeigt deutlicher, was damit gemeint ist. Der Dichter denkt an die üble Nachrede, die sich gerade d a n n aus ihren dunklen Schlupflöchern hervorwagt, wenn keiner sich mehr vor dem Betroffenen zu fürchten braucht. „Unedel ist es, die Toten zu schmähen" 2 . Wer so die Psychologie der F a m a durchschaut und die niedrige Sinnesart der großen Masse erkannt hat, der hat damit auch die unbedingte Achtung vor der Stimme der Allgemeinheit eingebüßt. Der Sinn der Menschen ist so wandelbar wie der Tag, den Zeus heraufführt, so lehrte schon Homer. Archilochos stellt auch diese homerische Erkenntnis mitten in das ihn umgebende Leben hinein 3 . Was kann man denn von solchen Eintagswesen Großes erwarten? Die alte Adelsethik durfte in der F a m a noch eine höhere Macht verehren, sie verstand darunter etwas anderes: den R u h m großer Taten und seine freudige Anerkennung im Kreise der Edelgesinnten. Auf das Gerede der schmähsüchtigen Masse übertragen, die alles Große an ihrem eigenen kleinen Maßstab mißt, wird dieser Sinn zum Unsinn. So erzeugt der neue Geist der Polis als notwendiges Gegengift gegen die größere Hemmungslosigkeit des Redens und Tuns die öffentliche Kritik. Archilochos ist nicht n u r durch Zufall der erste und größte Vertreter des vyôyoç in der Poesie, der gcfürchtete T a d l e r 4 . 1

frg. frg. ' frg. 4 Dio 2

[It

167]

64; vgl. Kallin. frg. 1, 17, Tyrt. 9, 23 fr. 65 68 (vgl. σ 136) Prus. or. 33, 12

167

Man hat etwas voreilig seine ganze Iambendichtung, die zum guten Teil tadelnden Inhalts ist, auf Rechnung seiner persönlichen Charakteranlage gesetzt. Wenn irgendwo in der griechischen Dichtung, so glaubt man sich bei dieser Gattung berechtigt, auf eine rein psychologische Erklärung zu sinnen und das Gedicht als unmittelbaren Erguß der unerfreulichen Subjektivität seines Schöpfers zu verstehen. Dabei übersieht man, daß das Aufkommen des literarischen Spottgedichts im frühgriechischen Polisleben eine fur die zunehmende Bedeutung des Demos charakteristische Zeiterscheinung ist. Der Iambos war von Hause aus ein öffentlicher Brauch bei den Dionysosfesten und viel mehr eine allgemeine Entladung der Volksstimmung ills die Ausgeburt persönlicher Ranküne eines Einzelnen. Es sagt genug, daß der Iambos sich in späterer Zeit am naturgetreuesten in der älteren attischen Komödie erhält und fortsetzt, in der der Dichter notorisch als der Sprecher der öffentlichen Kritik auftritt. Damit streitet nicht die andere ebenso gewisse Tatsache, daß er wie bereits Archilochos nicht nur der Sprecher, sondern mitunter auch der Widersprecher der allgemeinen Meinung ist. Beides hängt mit seinem Berufe in der Öffentlichkeit zusammen. Wäre es richtig, daß sich im Iambos nur ein ausgelassenes Ich produzierte und von aller Welt Beachtung für sich forderte, so wäre es unerklärlich, wie aus derselben Wurzel der philosophisch lehrhafte Iambos des Semonides oder der politisch beratende des Solon sich entwickeln konnte. Sieht man genauer zu, so ist diese paränetische Seite schon in der Iambendichtung des Archilochos neben der tadelnden und kritischen vollkommen ausgebildet und steht offenbar mit ihr in innerem Zusammenhang. Wir finden bei ihm zwar keine mythischen Beispiele und Vorbilder angeführt wie in der Paränese des Epos, aber dafür tritt uns hier eine andere Form der Lehrrede entgegen, die höchst bezeichnend ist für die Sphäre, welcher seine Paränese entspringt: die Fabel. „Ich will euch eine Fabel erzählen", so fängt die Geschichte vom Affen und vom Fuchs an 1 . Ähnlich die vom Fuchs und Adler: „Es gibt eine Fabel der Menschen, die lautet so" 2. Die Fabel finden wir nicht in den heroisch stilisierten Elegien ' frg. 81

168

2

frg. 89

[U168J

des Archilochos, sondern nur in den l a m b e n . Schon in den Erga des Hesiod haben wir sie als ein altüberliefertes Bestandstück volkstümlicher Lehrrede aufgezeigt 1 . D e r Strom dieser Paräncse ist offensichtlich bei Archilochos in die ebenfalls volkstümliche Iambendichtung eingemündet. A u c h noch in einem weiteren Falle können wir aus dem Zusammentreffen des Iambos mit Hesiod auf die ursprüngliche F o r m des Spottgedichts schließen, das ist der T a d e l der Weiber bei Scmonides von Amorgos, einem weit geringeren Kunstgenossen des Archilochos 2 . M a n hat bei Hesiod aus d e m mehrfach bei ihm begegnenden Motiv auf Weiberfeindschaft und auf einen persönlichen Lebensroman des Dichters schließen wollen, dessen bittere Erfahrungen sich hier vordrängten 3 . A b e r der Spott über die Weiber und ihr ganzes Geschlecht gehört ohne Zweifel zu dem allerältcsten Bestand volkstümlicher Spottreden bei öffentlichem A n l a ß . Seine Wiederholung bei Scmonides wird nicht nur papierene N a c h a h m u n g Hesiods sein, sondern sie knüpft an den echten alten Iambos an, der keineswegs nur in der V e r u n g l i m p f u n g und öffentlichen A n p r a n g e r u n g unbeliebter Einzelpersonen bestanden haben dürfte. Beides, das persönliche Schmähen und die Spottlust gegen eine ganze G a t t u n g wie die faulen und nichtsnutzigen Weiber — am entsprechenden Gegenstück wird es wohl auch nicht gefehlt haben, es hat nur bis auf Aristophanes keinen Dichter gefunden — hat im alten Iambos seinen Platz g e h a b t 4 . Das Wesen der echten volksmäßigen Schmähung, des ψόγος, ist aus den uns erhaltenen literarischen U m f o r m u n g e n und Weiterbildungen naturgemäß nur mit Vorsicht zu erschließen, aber zweifellos hat er ursprünglich eine soziale Funktion gehabt, die noch deutlich g r e i f b a r ist. Es ist weder moralischer T a d e l in unserem Sinne noch willkürlich-persönliche R a n k ü n e , die einfach an j e d e m unschuldigen O p f e r ihr M ü t c h e n kühlen durfte. V o r dieser D e u t u n g bewahrt uns schon die Öffentlichkeit des Angriffs, die die selbstverständliche Voraussetzung seiner Wirkung S. 102 Sem. frg. 7; vgl. Hes. Theog. 590, Erga 83, 373 3 Ed. Schwartz, Sitz. Beri. Akad. 1915, 144 4 Gegenseitige Spöttereien von Männern und Weibern sind ausdrücklich bezeigt beim Fest der Demeter in Pellene Paus. V I I 27, 9, beim Apollonfest auf Anaphe Apoll. Rhod. I V 1726. 1

2

[1/169]

169

wie seiner Daseinsberechtigung war. Der Komos des Dionysos, wo alle Zungen gelöst sind, war die Gelegenheit, wo stadtkundige blutige Wahrheiten hinausgeschleudert werden konnten. Gegen den Mißbrauch solcher Freiheit, so oft es dazu kommen mochte, hat das öffentliche Empfinden einen durchaus gesunden Instinkt. Und welchen idealen oder künstlerischen Wert hätte der rein persönliche Haß- und Wutausbruch auch in der schönsten Form gehabt? Man hätte den Archilochos gewiß nicht noch jahrhundertelang neben Homer — wie Heraklits 1 Wort es bezeugt — bei allen musischen Agonen als Lehrer der Griechen zu Wort kommen lassen, wenn diese innere Beziehung zu dem allgemeinen Bewußtsein der Mitwelt nicht in den Gedichten fortwirkend zu spüren gewesen wäre. Dafür spricht auch schon der wiederholte Appell an die Mitbürger, der sich gerade in den lamben findet. Die lamben des Catull und Horaz, die mit schonungsloser Kritik zu öffentlichen Ärgernissen ihrer Zeit Stellung nehmen und sich auch dort wenigstens an eine ideale Allgemeinheit wenden, wo sie nur eine einzelne verhaßte Person dem Spott preisgeben, müssen hier unsere auf dürftigen Bruchstücken des Archilochos sich aufbauende Vorstellung ergänzen 2 . Nach der ganzen Entwicklung, die der Iambos seit Archilochos in der frühgriechischen Dichtung genommen hat, können wir nicht bezweifeln, daß in diesen kritischen Auseinandersetzungen mit Menschen, Urteilen und Einflüssen, die aus irgendwelchen Gründen die öffentliche Aufmerksamkeit erregen, nicht belanglose Subjektivität das Maul aufreißt, sondern ein anerkannt Überlegener das Wort ergreift. Die starke Wirkung dieser neuen Poesie entsprang aus einem tieferen Bedürfnis der Zeit. Es kam damit zum erstenmal ein Element in die griechische Dichtung, das von dem hohen Stil 1 Heraklit frg. 42 Diels * Für Kallimachos' literarische Imitation der archilochischen l a m b e n ist das schlecht anzunehmen. Wir haben jüngst eine etwas umfangreichere Probe dieser Kunst wiedergefunden. Die hochverdienten Herausgeber des Florentiner Papyrus G . Vitelli und M . Norsa (Atene e R o m a Serie I I I vol. I) halten das Gedicht freilich für einen Iambos des Archilochos selbst, aber die gelehrten Reminiszenzen aus diesem Dichter, die Metrik und die geistreiche Pointierung der Sprache scheinen mir nur auf Kallimachos zu passen (vgl. jetzt G . Pasquali, Studi Italiani 1933). In v. 7 ff. scheint mir das platonische Gleichnis des Seelengespanns aus dem 'Phàidros' zur Schilderung der heftigen Leidenschaft verwendet.

170

[U170]

der homerisch-epischen Form, wie ihn auch die Elegien des Archilochos noch zeigen, seltsam absticht. Gerade diese neue Art ist ein Tribut des poetischen Stils an den Geist der Polis, deren gewaltige Leidenschaften nicht allein mit dem Epainos der homerischen Adelserziehung zu bändigen waren. Denn wie bereits die Alten bemerkt haben: die „gemeine Natur" des Menschen braucht als Stachel den Tadel mehr als das Lob. Wie volkstümlich dieses Amt des Tadlcrs war, fühlt man bei Archilochos noch an der beifallssicheren Art des Auftretens. Er wagt sich selbst an die größten Autoritäten der Stadt, an Strategen und Demagogen heran und ist stets im voraus des günstigen Echos seiner Kritik gewiß. Aber auch in seiner Heiratsgeschichtc mit Neobule und in den leidenschaftlich höhnischen Angriffen auf ihren Vater Lykambes, der die Bewerbung des Dichters zurückgewiesen hat, ist deutlich, daß die ganze Stadt als Publikum gegenwärtig gedacht wird. Der Dichter ist Richter und Ankläger in einer Person. „Vater Lykambes, wer hat dir so den Verstand verrückt, du warst doch früher ganz gescheit, jetzt aber bist du offen ein Gelächter für alle Leute unserer Stadt." Selbst hier ist der Tadel in seiner Form noch paränetisch 1 . Freilich war der Spott gegen persönliche Feinde eine starke Versuchung, dem subjektiven Gefühl hemmungslos die Zügel schießen zu lassen. Der auf einem Papyrus vor einigen Jahrzehnten gefundene längere Iambos, den man mit Recht dem großen Hasser zuschreibt 2 , läßt diese Kraft in der schwelgenden Ausmalung der zukünftigen Leiden, die er dem von ihm verwünschten Feinde zudenkt, sich schrankenlos ergehen. Pindar, der Meister erzieherischen Lobes adliger Tugend spricht: „Ich sah aus der Ferne meist in hilfloser Not den tadelsüchtigen Archilochos, wie er an schwerscheltenden Feindschaften sich mästet" 3 . Aber selbst jenes reine Haßgcdicht ist doch, wie der wirkungsvolle Schluß überraschend zeigt, aus g e r e c h t e m H a ß entsprungen, wenigstens hält Archilochos ihn dafür: „Das möchte ich sehen, denn er hat mir Unrecht getan und hat unsere Schwüre mit Füßen getreten, er, der einst mein Freund war". Ein einzelner Vers, der sich erhalten hat, macht einem Angeredeten 1

/H171J

frg. 88

frg. 79

Pind. Pyth. II 55

171

den Vorwurf: „Du hast ja keine Galle, die die Leber brennt!" 1 Der Vers, der aus einem uns unbekannten Zusammenhang entnommen ist, geht jedenfalls auf eine dem Archilochos unerträgliche Eigenschaft, die Unfähigkeit zu gerechtem Zorn, die bekanntlich auch der peripatetischen Ethik später als sittliches Manko erscheint2. Die Stelle wirft ein helles Licht auf die gesamte Haßdichtung des Archilochos. Sie bestätigt wie der Schluß des Haßgedichts gegen den falschen Freund den Eindruck: die lamben des Archilochos enthalten ein stark normatives Element. Gerade das Bewußtsein, einen Maßstab von mehr als individueller Gültigkeit an die Menschen anzulegen, die er tadelt, gibt ihm die Fähigkeit, so frei aus sich herauszutreten. Von hier aus erklärt sich dann die Leichtigkeit, mit der der Iambos vom Spottgedicht ins Lehrhafte oder in die Reflexion übergeht. Zu den lehrhaften und reflektierenden Stücken wenden wir uns nun. Was wir hinsichtlich des Verhältnisses zu Homer früher bemerkt haben, findet sich auch in diesen die Weltanschauung des Archilochos enthüllenden Gedichten. Er mahnt seine Freunde zum männlich geduldigen Ausharren im Unglück oder er rät den Göttern alles anheimzustellen. Tyche und Moira gibt den Menschen alles3. Oft richtet die Gottheit im Unglück die Menschen, die schon platt auf der Erde lagen, unversehens wieder auf, oft wirft sie auch die fest auf ihren Füßen stehenden um, daß sie rücklings hinstürzen. Das alles sind Aussagen, denen wir später noch oft im griechischen Denken begegnen, wo von der Macht der Tyche die Rede ist. Die Religiosität des Archilochos hat ihre Wurzel in dem Tycheproblem. Sein Gotteserlebnis ist Tycheerlebnis. Diese Betrachtungen sind ihrem Inhalt nach und zum Teil bis aufs Wort aus dem Homer genommen, aber der Kampf des Menschen mit dem Schicksal ist hier aus der großen Welt der Heroen in die Alltagsregion der Gegenwart versetzt. Sein Schauplatz ist das Leben des Dichters, der 1 Ich habe das rein örtlich vorgestellte χολήν έφ' ήττατι frg. 96 frei nach Hör. sat. I 9, 66 (ähnlich od. I 13, 4) paraphrasiert. 2 Vgl. Arist. frg. 80 Rose, wo die Stellen aus Seneca, Philodem und Cicero gesammelt sind, wo diese Ansicht lur Aristoteles bezeugt ist. Ihre Zuweisung zu dem verlorenen Dialog Politikos ist freilich grundlos (vgl. Rose, Arist. Pseudep. 114). 3 frg. 7, 8 und 58

172

[H172J

sich a m Vorbild des Epos selbst als leidender und handelnder Mensch bewußt wird und seine eigene Existenz mit d e m G e h a l t der epischen Weltanschauung erfüllt. J e freier und bewußter das menschliche Ich die Schritte seines Denkens und Handelns lenken lernt, u m so fester fühlt es sich mit dem Problem des Schicksals verkettet. Die Entwicklung des Tychegedankens hält bei den Griechen seither immer gleichen Schritt mit der Entwicklung des Problems der menschlichen Freiheit. N a c h einem Höchstmaß der U n a b hängigkeit streben heißt aber auf vieles verzichten, was d e m Menschen als G a b e der T y c h e zuteil wird. U n d so finden wir bei Archilochos nicht zufällig z u m erstenmal in voller Deutlichkeit das persönliche Bekenntnis eines innerlich freien Menschen zu einer bestimmten selbstgcwähltcn Lebensform, eine richtige ' L e b e n s w a h r in den berühmten Versen, in denen der Sprecher es ablehnt, nach den Reichtümern des Gygcs zu streben, die Grenze zwischen Mensch und Gott mit seinen Wünschen zu überschreiten und die H a n d nach der M a c h t der Tyrannis auszustrecken 1 . „ D e n n fern ist sie von meinen A u g e n . " Aus welcher Erkenntnis solche stolze Bescheidung fließt, zeigt die einzigartige Anrede des Dichters an sich selbst. Dieser erste größere M o n o l o g der griechischen Literatur findet seine Motivierung durch Ü b e r t r a g u n g der crmahnenden Anrede an einen anderen Menschen, wie sie in der Elegie und i m Iambos üblich ist, auf die eigene Person, die sich dabei gleichsam in den R e d e n d e n und seinen denkenden und wollenden Geist spaltet. A u c h dafür kennt die Odyssee schon ein Beispiel, an das Archilochos im G e d a n k e n und in der Situation anknüpft". A b e r was hat er aus d e m vielzitierten Wort des Odysseus gemacht: „ G e d u l d e dich fein, mein H e r z , schon Hündischeres hast du ertragen!" Er ruft seinen M u t auf, aus d e m Strudel auswegloser Leiden, in die er versunken ist, aufzutauchen, den Feinden kühn die Brust entgegenzuwerfen und sicher auftretend sich zur W e h r zu setzen. „ W e d e r sollst du als der Sieger vor aller Welt dich brüsten, noch sollst du als Besiegter zu Hause dich hinwerfen und j a m m e r n , sondern freue dich über das was freuenswert ist, 1 2

{1/173}

frg. 22 frg. 67 (vgl. υ i8)

173

gib dem Unglück nicht zu sehr nach und erkenne, welcher Rhythmus die Menschen in seinen Banden hält." Die Betrachtung, aus der dieses souveräne Ethos fließt, erhebt sich hier über den unmittelbar dem Leben abgelauschten rein praktischen Ratschlag des Maßhaltens zu der allgemeinen Anschauung eines „Rhythmus" in allem menschlichen Dasein 1 . Auf sie gründet Archilochos seine Mahnung zur Selbstzügelung und die Warnung vor jedem Überschwang der Gefühlshingabe an Freude und Schmerz, d. h. für ihn: an das von außen, vom Schicksal kommende Glück oder Unglück. In diesem „Rhythmus" meint man schon etwas zu spüren von dem Geist der ionischen Naturphilosophie und Geschichtsbetrachtung, die zuerst zu einer objektiven Anschauung des Gesetzmäßigen im natürlichen Lauf des Daseins vordrang. Herodot spricht geradezu von dem „Kyklos der menschlichen Dinge", dabei empfindet er vor allem das Auf und A b des menschlichen Glücks 2 . Das Auf und A b darf jedoch nicht dazu verführen, nun in dem „Rhythmus" bei Archilochos das Fließende zu sehen, das für modernes Gefühl wohl die natürliche Wirkung des Rhythmischen ist und sich sogar auf eine sprachliche Ableitung von ρέω, 'fließen' zu stützen pflegt. Sie wird durch die klaren Tatsachen der Wortgeschichte widerlegt, die beweist, daß die spezielle Anwendung des Wortes auf Tanzbewegung und Musik, von der wir unser Fremdwort Rhythmus überkommen haben, sekundär ist und die Grundbedeutung eher verdeckt. Wir müßten vielmehr erst einmal die Frage aufwerfen, wie denn der Grieche das Wesen von Tanz und Musik empfunden hat. Das aber wird blitzartig erhellt durch die Grundbedeutung, wie der Vers des Archilochos sie sehr schön zeigt. Daß der Rhythmus die Menschen „hält" — ich habe geradezu übersetzt „in Banden hält" — schließt jeden Gedanken an einen Fluß der Dinge aus. Wir denken an den Prometheus des Aischylos, der in dem Eisengeflecht seiner Fesseln regungslos festgehalten ist und von sich sagt: Ich bin hier in diesen „Rhythmus" gebannt, oder an Xerxes, von dem Aischylos 1 Ich gebe die ionische Wortform £υσμό$ bei Archilochos (frg. 67 a, 7) der Einfachheit halber durch unser „ R h y t h m u s " wieder, das die latinisierte attische Form ist. 1 Herod. I 207 (vgl. I 5)

174

[1/174]

sagt, er habe den Fluß des Hellespont in Fesseln gelegt und den Wasserweg über ihn „in eine andere Gestalt (Rhythmus) geb r a c h t " d. h. in eine Brücke umgestaltet und ihm feste Bande umgelegt 1 . Hier ist Rhythmus gerade das was der Bewegung, dem Fluß die Schranke, das Feste auferlegt, und das ist es, was auch für Archilochos einzig paßt. So spricht auch Demokrit im echten alten Sinne vom Rhythmus der Atome und versteht darunter nicht etwa ihre Bewegung, sondern, wie bereits Aristoteles treffend den Sinn wiedergibt 2 , ihr „Schema". Und so haben richtig auch schon die antiken Erklärer bei Aischylos das Wort interpretiert. Offenbar ist es nicht eine bildliche Übertragung vom Musikalischen her, wenn die Griechen vom Rhythmus eines Baus oder einer Statue reden, und die Uranschauung, die der griechischen Entdeckung des Rhythmus in Tanz und Musik zugrunde liegt, ist gleichfalls nicht das Fließen, sondern umgekehrt Halt und feste Begrenzung der Bewegung. Wir schauen bei Archilochos das Wunder einer neuen persönlichen Bildung, die auf bewußter Erkenntnis einer letzten naturgegebenen festen Grund- und Gleichform des Menschenlebens beruht. Ein bewußtes Sicheinfügen in ihre Grenzen, frei von der Autorität bloßer Überlieferung, kündigt sich an. Das menschliche Denken nimmt seine Sache selbst in die Hand, und wie es im Zusammenleben der Polis das allgemein Gültige gesetzlich festzulegen strebt, so dringt es über diese Außengrenze nun bereits in die Sphäre des menschlichen Innern vor, um auch das Chaos der Leidenschaften da drinnen in feste Schranken zu schließen. Für dieses Suchen ist in den folgenden Jahrhunderten die Poesie der eigentliche Schauplatz, erst später und in zweiter Linie tritt die Philosophie hinzu. Der Weg der Poesie über Homer hinaus ist bei Archilochos in seiner geistigen Zielrichtung deutlich erkennbar. Die Dichtung der neuen Zeit ist geboren aus dem inneren Bedürfnis des sich freier bewegenden Individuums nach fortschreitender Ablösung des allgemein menschlichen Problemgehalts von dem mythischen Inhalt des Epos, der bis dahin sein einziger Träger gewesen war. Indem die Dichter den ideellen und problematischen Gehalt des Epos sich im wahren 1 1

Aesch. Prom. 241 ώδ' έρρύθμισμαι, Pers. 747 πόρον μετερρύθμι^ε Arist. Metaph. A 4, 985 b 16

[H175]

175

Sinne des Wortes „ z u eigen" machten, verselbständigten sie ihn zu besonderen neuen Dichtungsgattungen in Elegie und Iambos und bildeten ihn in persönliches Leben um. V o n der ionischen Dichtung der auf Archilochos folgenden anderthalb Jahrhunderte haben wir gerade so viel, um zu erkennen, daß sie sich durchweg in diesen Bahnen bewegt, doch keiner kommt an geistigem Umfang dem großen Bahnbrecher gleich. Es ist vor allem die reflektierende Form des archilochischen Iambos und der Elegie, die bei den Späteren weiterwirkt. Die erhaltenen lamben des Semonides von Amorgos sind ausgesprochen lehrhaft. Der erste zeigt mit seiner Anrede die Wendung der Gattung zum unmittelbar Erzieherischen deutlich a n 1 . „Mein Sohn, das Ende aller Dinge hat Zeus in seiner Hand und fügt es wie er will. Die Menschen aber haben keine Einsicht. Als Eintagswesen leben wir wie Tiere auf der Weide, unwissend, wie die Gottheit ein jedes Ding zu Ende führen wird. Alle leben nur von Hoffnung und Selbsttäuschung, und ihr Sinnen ist auf Unerreichbares gerichtet. Alter, Krankheit, T o d auf dem Schlachtfeld oder in den Wogen des Meeres ereilen den Menschen, noch ehe er sein Ziel erreicht hat. Andere wieder enden durch Selbstmord." Wie Hesiod klagt der Dichter, daß kein Unglück den Menschen fehle 2 . Unzählige Unheilsgeister, unerwartete Leiden und Schmerzen gehen unter ihnen um. „Wenn sie auf mich hörten, würden wir nicht unser eigenes Unglück lieben -— auch da hören wir Hesiod durch 3 — und uns nicht selbst quälen, indem wir nach unheilvollen Schmerzen streben." In einer Elegie, die fast das gleiche Thema wie dieser Iambos behandelt 4 , wird deutlich, was Semonides in dem verlorenen Schlußteil des Gedichts den Menschen riet. Der Grund ihrer verblendeten Jagd nach dem eigenen Unglück ist, daß sie ihrer Hoffnung auf ein Leben ohne Ende die Zügel schießen lassen. „Eins, das Schönste, hat der Mann von Chios gesagt: wie der Semon. frg. ι Hes. Erga ioo 3 Hes. Erga 58. Hesiodeisch ist auch 29, 10 (Erga 40). ' frg. 29, die Zurückführung des Gedichts durch Bergk auf den A m o r giner Semonides — es ist bei Stobaios unter dem N a m e n des berühmteren Simonides von Keos überliefert — gehört zu den gesicherten Ergebnissen philologischer Kritik. 1

2

176

[ I I 176]

Blätter Geschlecht, so ist auch das der Menschen. Doch sie empfangen zwar mit den Ohren diese Kunde, aber sie nehmen sie nicht zu Herzen. Denn jedem wohnt die Hoffnung inne, die im Herzen der Jugend wächst. So lange sie noch in der Blüte der Jahre stehen, haben die Sterblichen einen leichten Sinn und planen viel Unausführbares. Denn keiner denkt an Alter und Tod, und solange er gesund ist, macht er sich keine Sorgen um Krankheit. Toren, die so denken und nicht wissen, daß den Sterblichen nur eine kurze Spanne der Jugend und des Daseins beschieden ist. Du aber merke dies und laß es dir gefallen, im Hinblick auf das Lebensende deiner Seele etwas Angenehmes zu gönnen." Die Jugend erscheint hier als die Quelle aller überspannten Illusionen und zu weit gehenden Unternehmungen, weil ihr noch die homerische Weisheit fehlt, die bedenkt, wie kurz das Leben ist. Eigenartig und neu klingt die Folgerung, die der Dichter aus diesem Satze zieht, die Mahnung, das Angenehme des Lebens rechtzeitig zu genießen. Das stand nicht im Homer. Es ist die Losung eines Geschlechts, für das die hohen Forderungen des heroischen Zeitalters viel von ihrem tiefen Ernst verloren haben, und das daher aus den Lehren der Vorzeit das herausliest, was seiner eigenen Lebensauffassung am meisten entgegenkommt. Das war die Klage über die Kürze des menschlichen Lebens. Aus der Welt des Heroenmythos in die mehr naturhaft empfindende Gegenwart des Dichters übertragen, muß diese Einsicht statt tragischen Heldentums glühenden Lebensdurst wirken. Je strenger die Polis das Leben der Bürger unter den Zwang des Gesetzes beugte, um so notwendiger forderte der 'politische Bios' als Ergänzung ein Lockerlassen der Zügel im privaten Lebenskreise. Es ist das, was später Perikles 1 in seiner idealen Charakteristik des athenischen Staates in der Leichenrede als den Unterschied der freien attischen Menschlichkeit von der allzu starren spartanischen Gebundenheit hinstellt: „Wir nehmen es unserem Nächsten nicht übel, wenn er sich einmal für sich vergnügt, und lassen es ihn nicht durch entrüstete Mienen bitter entgelten". Diese Bewegungsfreiheit ist der notwendige Spiel1

Thuk. II 37, 2

[U1771

177

räum, den das alle bindende Gesetz der Polis dem Lebenstrieb des Einzelnen läßt, und es ist nur zu menschlich, d a ß der Drang nach Ausdehnung des individuellen Daseinsraumes für die große Menge in dieser Zeit sich als das Verlangen des Einzelnen nach stärkerem bewußtem Lebcnsgcnuß darstellt. Ein eigentlicher Individualismus ist das nicht. Es kommt nicht zum Konflikt mit den überindividuellen Mächten. Aber innerhalb ihrer Schranken weitet und dehnt sich fühlbar die Sphäre des persönlichen Glücksbedürfnisscs aus. Das Gewicht seines Anteils fällt schwerer als bisher in die Wagschalc der Lebensbilanz. In der attischen Kultur der pcriklcischen Zeit ist diese Abgrenzung der beiden Lebensräumc vom Staate und von der Öffentlichkeit grundsätzlich anerkannt, aber sie hat einmal ihre Anerkennung erkämpfen müssen, und dieser Schritt ist in Ionien getan worden. Dort entsteht zum erstenmal eine hcdonische Poesie, die das Recht des Verlangens nach sinnlichem Glück und Schönheit und den Unwert eines Lebens, das dieser Güter ganz entbehrt, mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit verkündigt. Wie Semonides von Amorgos tritt Mimnermos von Kolophon in seinen Elegien als Lehrer des vollen Lebensgenusses auf. Was bei Archilochos mehr als gelegentlicher Durchbruch einer starken Natürlichkeit und als persönliche Augenblicksstimmung wirkt, erscheint bei seinen beiden Nachfolgern als letzte Lebensweisheit. Es wird zur Forderung für alle, j a zum Ideal eines Lebens, zu dem sie die Menschen hinführen wollen. O h n e die goldene Aphrodite kein Leben, kein Genuß! Lieber möchte ich tot sein, ruft Mimnermos, wenn ich mich nicht mehr d a r a n erfreuen dürfte 1 . Nichts wäre verkehrter als sich einen Dichter wie Mimnermos •— von Semonides haben wir eine zu geringe Auswahl, um uns von seiner Persönlichkeit ein vollständiges Bild zu machen — als dekadenten Genießer vorzustellen. Unter seinen Gedichten schlagen einige ausgesprochen politische und kriegerische Töne an, sie zeugen in eigentümlich kraftvoll gespannten homerischen Versen von ritterlicher Überlieferung und Gesinnung 2. Aber daß die Poesie den Bezirk des persönlichen Lebensgenusses in ihre Grenzen 1 2

178

M i m n . frg. ι frg. 12 - 1 4

[1/178]

miteinbezieht, ist etwas Neues und für die menschliche Bildung Bedeutsames. Wie das zunehmende Leiden des Menschen unter seiner Abhängigkeit vom Schicksal, von den „Gaben des Zeus", die man nur so hinnehmen kann, wie einem das Los fällt, so beweist auch die immer stärker anschwellende Klage der nachhomerischen Dichtung über die Kürze des Lebens und die Flüchtigkeit des sinnlichen Genusses, daß man mehr und mehr alle Dinge unter dem Gesichtspunkt der individuellen Lebensrechte ansieht. J e weiter man aber den Forderungen des Natürlichen die Tore öffnet, je bereitwilliger man in seinen Genuß untertaucht, um so tiefere Resignation muß den Menschen ergreifen. Tod, Alter, Krankheit, Mißgeschick und was sonst ihn umlauert, wachsen zu riesengroßen Drohungen empor, und wer sich durch den Genuß des Augenblicks ihnen zu entziehen sucht, trägt doch unablässig den Stachel im Herzen 1 . Geistesgeschichtlich betrachtet ist die hedonische Poesie einer der wichtigsten Wendepunkte in der griechischen Entwicklung. Man braucht sich nur zu entsinnen, daß sich dem griechischen Denken das Problem des Individuums in der Ethik und im Aufbau des Staates stets in der Form dargestellt hat, daß das Motiv des Angenehmen (ηδύ) über das Edle (καλόν) die Oberhand zu gewinnen sucht. In der Sophistik bricht der offene Konflikt dieser beiden Triebkräfte alles menschlichen Handelns aus, und Piatos Philosophie gipfelt in der Überwindung des Anspruchs der Lust, das höchste Gut des menschlichen Lebens zu sein. U m die Gegensätze so auf die Spitze zu treiben, wie es im 5. J h r h . geschah, um sie so zu überwinden, wie es in der attischen Philosophie von Sokrates bis Plato erstrebt wurde, und um sie schließlich so zur Harmonie zu führen, wie es Aristoteles' Ideal der menschlichen Persönlichkeit forderte, mußte das menschliche Verlangen nach voller Lebensfreude und bewußtem Genuß gegenüber der Forderung des καλόν, wie das Epos und die ältere Elegie sie vertritt, erst einmal in grundsätzlicher Form seine Bejahung finden. Dies geschieht in der ionischen Poesie seit Archilochos. Der Sinn der geistigen Entwicklung, die sich in ihr vollzieht, ist unverkennbar zentrifugal. Sie entbindet die Kräfte und lockert das soziale 1

[U179]

frg. 2—6 179

Gefüge der Polis mindestens so stark, wie sie durch die Errichtung der Gesetzesherrschaft zu seiner Festigung beigetragen hat. Solche Forderungen zur öffentlichen Aussprachc und Anerkennung zu bringen, bedurfte es der lehrhaften Form der Reflexion, die der nacharchilochischen Elegie und Iambcndichtung eigentümlich ist. Die Hedonik tritt in ihr nicht als zufällige individuelle Lebensstimmung eines Einzelnen auf, sondern die Dichter begründen in allgemeinen Sätzen das 'Recht' des Individuums auf Lebensgenuß. Auf Schritt und Tritt wird man bei Semonides und Mimnermos daran erinnert, daß es die Zeit ist, wo die rationale Betrachtung der Natur ihren Anfang nimmt und die milesische Naturphilosophie entsteht. Das Denken macht nicht Halt vor den Fragen des Menschenlebens, wie die herkömmliche Behandlung dieser Epoche in der Philosophiegeschichte es erscheinen lassen könnte, die sich meist auf die kosmologische Seite beschränkt. Es ergreift die Poesie, die seit jeher die Trägerin der ethischen Ideen gewesen war, und haucht ihr seinen Geist ein. Auch hier treten uns jetzt Probleme entgegen, die als solche erörtert werden. Der Dichter tritt als Lebensphilosoph vor seine Hörer. Die erhaltenen Gedichte des Semonides sind nicht mehr impulsive Selbstäußerungen wie bei Archilochos, die unter Umständen auch in die Form der Reflexion übergehen können, sondern reine Lehrvorträge über ein bestimmtes Thema, und Mimnermos ist zwar ein weit stärkerer Künstler als Semonides, teilt aber in den meisten seiner erhaltenen Fragmente mit jenem den betrachtenden Charakter. Die Poesie wahrt so auch bei ihrem Übergang vom Heroischen zum privat Menschlichen ihre erzieherische Haltung. Während die nacharchilochische Poesie Ioniens um die Wende des 7.—6. J h r h . sich in der Form allgemeingültiger Reflexion über die natürlichen Lebensrechte des Menschen ausläßt, bricht in der äolischen Lyrik der Lesbier Sappho und Alkaios das individuelle Innenleben selbst hervor. A m nächsten kommt diesem im Bereich des griechischen Geisteslebens einzigartigen Phänomen die Form der Selbstäußerung bei Archilochos, die nicht nur allgemein Gedachtes sondern wirklich persönlich Erlebtes mit der farbigen Nuance der individuellen Empfindung gibt. Archilochos ist in der Tat als Vorstufe der äolischen Lyrik nicht fortzudenken, allein 180

[1/180]

selbst in seinen Haßgedichten, in denen seine Subjektivität sich so leidenschaftlich ergießt, orientiert sie sich noch an einer allgemeinen Norm des ethischen Empfindens. Die äolische Lyrik geht besonders bei Sappho darüber hinaus, sie wird zur Aussprache des reinen Gefühls. Es ist freilich unverkennbar, daß durch Archilochos die Sphäre des Individuellen zu einer Bedeutsamkeit erhoben und mit einer Fülle der Ausdrucksmöglichkeiten bereichert ist, die auch der geheimsten Regung der Seele den Ausweg der freien Mitteilung öffnet. Durch Archilochos ist eine Sicherheit in der allgemeingültigen Gestaltung des scheinbar völlig Subjektiven und Gestaltlosen erreicht, aus der bei Sappho die bewundernswerte Gabe erwächst, auch das Persönlichste zum ewig Menschlichen zu steigern, ohne ihm den Reiz des unmittelbar Erlebten zu rauben. Das Wunder der Selbstformung der menschlichen Innerlichkeit in der äolischen Lyrik ist nicht geringer als die gleichzeitige Schöpfung der Philosophie oder des Rechtsstaats durch die kleinasiatischen Griechen. Aber dieses Wunder erkennen heißt nicht die Augen verschließen gegen die enge Verflechtung auch dieser Art der griechischen Poesie in die äußere Umwelt. Wie Archilochos mit jedem seiner bluterfüllten Verse ganz in dem Leben steht, das ihn umgibt, so ist auch die Dichtung des Alkaios und der Sappho, wie uns die reiche Auswahl verschiedenartiger Stücke lehrt, die uns die Funde der letzten Jahrzehnte beschieden haben, durchweg an Anlässe des äußeren Lebens gebunden, und das Gedicht ist für einen bestimmten Kreis von Menschen geschrieben. Damit hängt zunächst das Konventionelle zusammen, das wir jetzt in dieser Poesie so gut wie bei Pindar schärfer zu sehen gelernt haben. Aber der lebendige Zusammenhang der alkäischen Trinkliederdichtung mit dem Symposion der Männer, des sapphischen Hochzeits- und Liebeslieds mit dem musischen Kreise der jungen Gefährtinnen, der sich u m die Dichterin schart, gewinnt von unserem Standpunkte noch eine tiefere und positivere Bedeutung. Das Symposion ist mit seinem zwanglosen Verkehr, aber auch mit seiner hohen geistigen Tradition für die Männerwelt die Hauptstätte der freien Entfaltung des neuen individuellen Gebahrens und Sichgebens. Daher ist die männliche Individuali[1/181]

181

tat hauptsächlich getragen von dem breiten Strom der sympotischen Dichtung, den die Zeit aus vielen Quellen hervorbrechen läßt und in den alle starken seelischen Regungen münden. Die Trinklieder des Alkaios zeigen in ihren erhaltenen Bruchstücken ein reiches Bild, das jede Art der Gefühlsäußerung und denkenden Betrachtung umfaßt. Eine große Gruppe dient der leidenschaftlichen, von archilochischem Haß erfüllten politischen Meinungsäußerung wie die wilden Ausbrüche gegen den erschlagenen Tyrannen Myrsilos. Erotische Bekenntnisse wagen sich im vertrauten Freundeskreis offen ans Licht, das bedrängte Herz von der Last seines Geheimnisses zu erleichtern. Freundesrat, aus tiefem Ethos geboren, läßt den wachsenden Wert solcher persönlichen Lebensbande als fester Halt der schwankenden Einzelexistenz ahnen. Naturstimmungen, deren erste Regungen wir bereits bei Archilochos antreffen, zeigen die Natur, die diese Menschen sehen, nicht mehr als objektiv geschautes oder genossenes Bild, wie der homerische Hirte von hoher Bergeswarte in der Einsamkeit der Nacht erschauernd die Sternenpracht des Himmels über sich erblickt, sondern die Veränderung der Atmosphäre oder der Jahreszeit, die Ubergänge vom Licht zum Dunkel, von der Stille zum Sturm, von der Winterstarre zum belebenden Frühlingshauch werden zum Spiegelbild der Bewegungen in der menschlichen Seele, zum Ausdruckssubstrat der Affekte. Fromme, heitere oder resignierte Betrachtungen über Weltlauf und Schicksal verbinden sich in ganz neuartiger Weise mit einer philosophischen Zecherstimmung, die im dionysischen Rausch alle persönliche Lebensschwere bçgrâbt. So verleugnet auch die individuelle Stimmung dieser Lyrik nicht den Zusammenhang mit der Gemeinschaft der Menschen, aber diese wird eben auf den persönlichen Kreis eingeengt, in dem der Einzelne sich selbst auszusprechen vermag. Neben der Trinkpoesie steht die kultische Form des Hymnos oder Gebets, aber sie ist ebenfalls nur eine andere Urform der menschlichen Selbstäußerung, auf die die Dichtung zurückgreift. Gerade im Gebet steht der Mensch in seiner Vereinzelung als nacktes Ich dem Sein in ursprünglicher Haltung gegenüber. Die Anrede an die göttliche Macht als unsichtbar gegenwärtiges Du wird dem Betenden mehr und mehr zum Organ, seine eigenen Gedanken auszusprechen oder seine 182

[1/182]

Empfindung frei ohne menschliche Ohrenzeugen auszuströmen, wie es am schönsten Sapphos Gebete zeigen. Es ist als hätte der griechische Geist dieser Frau bedurft, um den letzten Schritt in die Welt der neuen Innerlichkeit des subjektiven Gefühls hinüber zu tun. Daß das etwas ganz Großes war, haben die Griechen empfunden, wenn sie Sappho nach Piatos Wort als die zehnte Muse verehrten. Weibliches Dichtertum ist nichts Ungewöhnliches in Hellas, aber keine ihrer Kunstgenossinnen hat neben Sappho ihren Platz gefunden, sie bleibt etwas Einzigartiges. Verglichen mit dem inhaltlichen Reichtum der Dichtung des Alkaios ist Sapphos Lyrik eng begrenzt. Es ist die Welt der Frau, die sie umschließt, aber auch diese nur in dem Ausschnitt, den das gemeinsame Leben der Dichterin im Kreise ihrer Mädchen ausfüllt. Die Frau als Mutter, als Geliebte und als Gattin des Mannes, wie sie am häufigsten in griechischer Poesie erscheint und von Dichtern jeder Zeit verherrlicht worden ist, weil sie in dieser Gestalt in der männlichen Phantasie lebt, taucht nur gelegentlich beim Eintritt oder Scheiden eines der Mädchen ihrer Schar in Sapphos Liedern auf. Sie ist für Sappho nicht Gegenstand der dichterischen Inspiration. Die Frau tritt in den Kreis ein als junges Mädchen, das der Mutter zu entwachsen beginnt. In der Obhut der ehelosen Frau, deren Leben gleich einer Priesterin ganz dem Dienst der Musen gewidmet ist, empfangt sie die Weihe des Schönen in Reigentanz, Spiel und Gesang. Niemals ist griechisches Dichter- und Erziehertum so vollkommen eins gewesen wie in diesem Thiasos musischer Weiblichkeit, dessen geistige Peripherie wohl schwerlich mit dem Umfang der eigenen Lyrik Sapphos zusammenfiel, sondern alles Schöne der Vorzeit mit umfaßte. Dem männlich-heroischen Geist der Überlieferung gesellte Sappho die Glut und Größe der weiblichen Seele in ihren eigenen Liedern, in denen das eigentümliche Hochgefühl des gleichgestimmten Gemeinschaftslebens ihrer Umgebung vibriert. Eine Art idealer Zwischenwelt schiebt sich hier zwischen Elternhaus und Eintritt in die Ehe ein, die wir nicht anders denn als Bildung der Frau zum höchsten Adel weiblichen Seelentums begreifen können. Die Existenz des sapphischen Kreises setzt die erzieherische Auffassung der Poesie voraus, [1/183]

183

die den Griechen ihrer Zeit selbstverständlich war, aber das Neue und Große ist, daß die Frau in diese Welt Einlaß begehrt und sich als Frau ihren Platz in ihr und ihren eigenen Anteil an ihr erobert. Denn eine Eroberung ist es zu nennen, daß der Dienst der Musen hier der Frau erschlossen und dieses Element in ihren persönlichen Werdegang verschmolzen wird. Nirgendwo aber vollzieht sich diese wesenhafte Verschmelzung, die im eigentlichen Sinne zur Formung des Menschen wird, ohne die die Kräfte der Seele entbindende Macht des Eros, und die Parallele zwischen dem platonischen und sapphischen Eros drängt sich von selbst auf. Dieser weibliche Eros, dessen dichterische Blüten uns durch die Zartheit ihres Duftes und den Schmelz ihrer Farben entzücken, hat die Kraft gehabt, echte Gemeinschaft zwischen Menschen zu stiften. Er kann also nichts Stimmunghaftes gewesen sein, sondern muß die Seelen, die er erfüllte, in einem Dritten, Höheren vereinigt haben. In der sinnlichen Charis des Spiels und Tanzes war es gegenwärtig, es war verkörpert in der Hoheit der Gestalt, die als Vorbild in der Mitte ihrer Gefährtinnen stand. Die sapphische Lyrik hat ihre Höhepunkte in dem heißen Werben um ein noch unaufgeschlossenes herbes Mädchenherz, dem Abschied von einer geliebten Freundin, die den Kreis verlassen muß, um in die Heimat zurückzukehren oder dem Manne zu folgen, der sie zur Frau begehrt — was in jener Zeit nichts mit Liebe zu tun hat — oder endlich in dem sehnsüchtigen Gedenken an eine entrissene Gefährtin, die in der Ferne am Abend im stillen Garten wandelnd vergeblich den Namen der verlorenen Sappho ruft. Es ist durchaus müßig und steht dem Modernen nicht an, über die Natur dieses Eros unbeweisbare psychologische Erklärungen zu ersinnen oder umgekehrt mit moralischer Entrüstung über solche Blasphemie die Empfindungen des sapphischen Kreises als den Geboten christlich-bürgerlicher Sitte durchaus entsprechend zu erweisen. Die Gedichte schildern die Pathologie des sapphischen Eros als eine das innere Gleichgewicht erschütternde Leidenschaft, die eben so stark die Sinne wie die Seele gefangen nimmt. Was uns angeht ist weniger die Feststellung des Vorhandenseins der sinnlichen Seite in der sapphischen Erotik als die Empfindungsfülle, die durch ihre den ganzen Men184

[1/184]

sehen ergreifende Macht entbunden wird. Nirgendwo reicht die männliche Liebesdichtung der Griechen auch nur entfernt an die seelische Tiefe dieser Poesie heran. Die männliche Polarität von Geist und Sinnen hat erst spät dem Erotischen eine Bedeutung eingeräumt, die tiefer ins Seelische eindringt und das ganze Leben zu erfüllen vermag. Man hat diese Wandlung des männlichen Empfindens als hellenistische Feminisierung charakterisiert, jedenfalls war in der Frühzeit nur die Frau solcher umfassend sinnlich-seelischen Hingebung fähig, die für unser Gefühl allein den Namen Liebe verdient. Für die Frau steht das Liebeserlebnis im Mittelpunkt ihres Daseins, und nur sie erfaßt es mit der Einheit ihrer ungeteilten Natur. I m Verhältnis zum Manne mochte das für jene Zeit, der der Begriff der Liebesehe noch fremd war, schwerer erreichbar sein, wie anderseits auch die Liebe des Mannes in ihrer höchsten Vergeistigung sich nicht im Verhältnis zur Frau dichterisch dargestellt hat sondern in der Form des platonischen Eros. Es wäre ein Anachronismus, die metaphysische Übersinnlichkeit des sehnsüchtigen Aufschwungs der platonischen Seele zur Idee, die das Geheimnis ihres Eros ist, in Sapphos immer sinnennahes Empfinden hineinzudeuten. Aber daß bei ihr die Seele tief in Mitleidenschaft gezogen ist, das ist ihr mit Plato gemeinsam. Daraus entspringt das große Leiden, das der Dichtung Sapphos den zarten Reiz der bestrickenden Traurigkeit, aber auch den höheren Adel echt menschlicher Tragik gibt. Die Sage, die sich früh ihrer Gestalt bemächtigte, hat das Rätsel, das ihre Person und Gefühlswelt birgt, durch die Erzählung von der unglücklichen Liebe zu einem schönen Mann, Phaon, gedeutet und ihre Tragik in dem dramatischen Sprung vom leukadischen Felsen versinnbildlicht. Allein der Mann bleibt ihrer Welt völlig fern, er erscheint höchstens als der Freier eines ihrer geliebten Mädchen am Ausgangstor dieser Welt und wird mit fremden Augen betrachtet. Die Vorstellung, daß er die götterglciche Seligkeit genießt, der Geliebten gegenüber zu sitzen und ihrer lieblichen Stimme, ihrem Sehnsucht erweckenden Lachen zu lauschen, ruft in Sappho die Erinnerung an ihre eigenen Gefühle in der Nähe des geliebten Wesens wach. Diese Stimme, dieses Lachen machen ihr das Herz im Busen starr vor

[Ii 185]

185

Erregung. „Wenn ich dich auch nur sehe, kommt kein Ton mehr aus meinem Munde, meine Zunge ist gebrochen, ein feines Feuer läuft mir unter der Haut hin, vor den Augen wird es mir schwarz, die Ohren brausen, der Schweiß fließt an mir herab, Zittern befällt mich ganz, fahler bin ich als Gras, fast bin ich anzuschauen wie eine Tote." Sapphos allerhöchste Kunst liegt in der volksliedhaft unpathetischen Schlichtheit und sinnlich unmittelbaren Wirklichkeit des geschilderten inneren Erlebnisses. Wo gibt es bis auf Goethe in der abendländischen Kunst etwas Vergleichbares? Wenn wir glauben dürfen, daß dieses Lied für die Hochzeit der Schülerin gedichtet ist und daß Sappho in dieser Form eine so unvergleichlich persönliche Sprache führt, so bedarf es keines weiteren Beispiels, um zu zeigen, wie hier aus tiefstem eigenen Fühlen die Konvention des Stils und der Sprache zum reinen Ausdruck der Individualität umgeschmolzen ist. Gerade die Einfachheit der Situation lockt, so scheint es, die feinsten Schattierungen des Gefühls ans Licht, die ihr erst wirkliche Bedeutung verleihen. Aber es ist wohl kein Zufall, daß dieser Individualität nur die Frau fähig war, und die Frau nur durch die größte Kraft, die ihr gegeben ist, durch die Liebe. Als deren Künderin tritt Sappho in den Kreis der dichtenden Männer. Wie ein Symbol dieses ihres einzigartigen Berufs ist der Eingang einer vor wenigen Jahrzehnten aufgefundenen Ode: „Die einen sagen, das Schönste auf Erden sei ein Geschwader von Reitern, andere meinen eins von Kriegern zu Fuß, noch andere eins von Schiffen. Ich aber sage: das Schönstc ist das geliebte Wesen, nach dem das Herz sich sehnt."

186

[H186]

SOLON UND DIE ANFÄNGE DER POLITISCHEN BILDUNG ATHENS Als letzter der Mitspieler in dem geistigen Konzert der hellenischen Stämme setzt um das Jahr 600 Attika ein, zunächst scheinbar nur gelehrig die Themen der anderen, vor allem der stammverwandten Ionier aufnehmend und variierend, aber bald sie selbständig zu höherer Einheit verwebend und sie seiner eigenen, immer klarer und voller sich durchringenden Melodie dienstbar machend. Ihre Höhe erreicht die attische Kraft erst hundert Jahre später in der Tragödie des Aischylos, und wenig hätte gefehlt, daß wir sie erst dort kennen gelernt hätten. Für das ganze 6. Jhrh. haben wir nichts als die nicht ganz unerheblichen Bruchstücke der Gedichte Solons, aber deren Erhaltung ist freilich auch kein bloßer Zufall. In dem Bau der attischen Bildung blieb Solon für Jahrhunderte eine der tragenden Säulen, solange es einen attischen Staat und ein selbständiges geistiges Leben in ihm gab. Seine Verse wurden den Knaben von früher Jugend an in die Seele geprägt und von den Rednern vor Gericht und in der Volksversammlung als der klassische Ausdruck attischen Bürgergeistes immer wieder beschworen 1 . So währte ihre lebendige Wirkung bis zu der Zeit, wo mit dem Hinsinken der Macht und Herrlichkeit des attischen Reiches ein rückschauendes Verlangen nach der Größe der Vergangenheit erwachte und die historische und grammatische Gelehrsamkeit eines neuen Zeitalters die Konservierung der Reste übernahm. Sie hat auch Solons poetische Selbstzeugnisse als geschichtliche Urkunden von 1 Vgl. meine Abhandlung Solons Eunomie, Sitz. Beri. Akad. 1926 S. 69—71, auf die sich auch sonst die Anschauungen, die ich in diesem Kapitel vortrage, gründen.

[II

187]

187

hohem Wert ihren Schätzen einverleibt. Es ist noch nicht allzulange her, daß auch wir sie vorwiegend mit diesen Augen betrachtet haben. Denken wir uns für einen Augenblick in die Lage, in die uns der Verlust jeder Spur der solonischen Gedichte versetzt hätte. Ohne sie würden wir kaum imstande sein zu begreifen, was an der großen attischen Poesie des tragischen Zeitalters, ja an dem gesamten Geistesleben Athens gerade das Merkwürdigste und Großartigste ist: die vollkommene Durchdringung aller geistigen Produktion mit dem Gedanken des Staates. In dieser höchstentwickelten Bewußtheit der gemeinschaftgebundenen und gemeinschaftbildenden Funktion alles individuellen geistigen Schaffens prägt sich eine so beherrschende Stellung des Staates im Leben seiner Bürger aus, wie wir sie sonst nur in Sparta treffen. Aber das spartanische Staatsethos entbehrt bei aller Größe und Geschlossenheit seines Lebensstils doch der eigenen geistigen Regung und erweist sich mit der Zeit immer deutlicher als unfähig, einen neuen inneren Gehalt in sich aufzunehmen: es verfällt allmählich der Erstarrung. Die ionische Polis andererseits hat zwar mit ihrem Rechtsgedanken das organisatorische Prinzip eines neuen Gesellschaftsbaues gebracht und zugleich mit der Durchbrechung der Standesprivilegien die "bürgerliche Freiheit, die dem Einzelnen den Spielraum zu ungehemmter Entfaltung verschaffte. Aber indem sie so dem Menschlichen und allzu Menschlichen Platz gab, hatte sie nicht die bindenden Kräfte zu entwickeln vermocht, dem neuemporquellenden Reichtum individueller Regsamkeit im Aufbau der Gemeinschaft ein höheres Ziel zu weisen. Zwischen der erzieherischen Kraft, die in der neugeschaffenen Gesetzesordnung des politischen Lebens sich ausprägte, und der ungehemmten Denk- und Redefreiheit der ionischen Dichter fehlte noch das Band, das sie zusammenhielt. Erst die attische Kultur hat beide Kräfte, die vorwärtstreibende des Individuums und die bindende der staatlichen Gemeinschaft, ins Gleichgewicht gesetzt. Bei aller inneren Verwandtschaft mit Ionien, dem Attika geistig und politisch so viel verdankt, bleibt dieser Grundunterschied zentrifugaler ionischer Bewegungsfreiheit und zentripetaler attischer Aufbaukraft durchweg deutlich erkennbar. Daraus erklärt es sich, 188

[U188J

daß die entscheidenden Gestaltungen des Griechentums im Bereich der Erziehung und Bildung erst auf attischem Boden erwachsen sind. Die klassischen Denkmäler politischer Kultur der Griechen von Solon bis zu Plato, Thukydides und Demosthenes sind sämtlich Schöpfungen des attischen Stammes. Sie konnten nur da entstehen, wo ein starker Sinn für die Forderungen des Lebens der Gemeinschaft sich alle übrigen Formen des Geistes unterzuordnen, aber sie auch innerlich an sich zu binden vermochte. Der erste Repräsentant dieses echt attischen Wesens ist Solon, er ist zugleich sein vornehmster Schöpfer. Denn mag auch ein ganzes Volk hier zur Vollbringung des Ungewöhnlichen durch seine harmonische Geistesanlage vorherbestimmt gewesen sein, entscheidend war es doch für die weitere Entwicklung, daß ihm sogleich in seinen Anfängen die Persönlichkeit erwuchs, die imstande war dieser Anlage die Form zu geben. Die politische Geschichtschreibung pflegt die historischen Männer nach ihrem greifbaren Erfolg zu beurteilen, sie wertet Solon daher hauptsächlich nach der realpolitischen Seite seines Verfassungswerks, der Seisachthie. Für die Geschichte der griechischen Bildung kommt vor allem in Betracht, was er als politischer Lehrer seinem Volke weit über die Lebensdauer seines zeitgeschichtlichen Einflusses hinaus bedeutet hat, und eben das ist es auch, was ihm für die Nachwelt bleibende Bedeutung gibt. So tritt für uns der Dichter Solon in den Vordergrund. Er enthüllt uns erst die Motive seiner politischen Taten, die sich durch die Größe ihrer ethischen Gesinnung hoch über das Niveau der Parteipolitik erheben. Wir sprachen von der Bedeutung der Gesetzgebungen für die Bildung des neuen politischen Menschen. Die Gedichte Solons sind dafür die anschaulichste Erläuterung. Sie haben für uns noch den besonderen Wert, daß hier hinter der unpersönlichen Allgemeinheit des Gesetzes die geistige Gestalt des Gesetzgebers hervortritt, in der sich die von den Griechen so lebendig empfundene erzieherische Kraft des Gesetzes auch für uns sichtbar verkörpert. Die altattische Gesellschaft, aus der Solon hervorging, erhielt ihr Gepräge immer noch durch den grundbesitzenden Adel, dessen Herrschaft damals an anderen Orten zum Teil schon gebrochen war oder zu Ende ging. Der erste Schritt zur

[1/189]

189

Kodifikation des attischen Blutrechts, die sprichwörtlich gewordenen 'drakonischen' Gesetze hatten eher eine Befestigung der herkömmlichen Verhältnisse als einen Bruch mit der Tradition bedeutet. Auch Solons Gesetze wollten die Adelsherrschaft als solche nicht beseitigen. Erst die Reform des Kleisthenes hat nach dem Sturz der Tyrannis der Peisistratiden gewaltsam mit ihr aufgeräumt. Daß die hochgehenden Wogen der sozialen und politischen Sturmflut, die die Umwelt überschwemmt hatten, an Attikas offenen Küsten sich brachen, erscheint dem wie ein Wunder, der an das spätere Athen und seine unruhige Neuerungssucht denkt. Aber seine Bewohner sind damals noch nicht die allen fremden Einflüssen zugänglichen Seefahrer der späteren Jahrhunderte, wie Plato sie schildert. Attika ist noch ein rein agrarisches Land. Das Volk, an der Scholle haftend, keineswegs leicht beweglich, wurzelt in väterlicher Religion und Sitte. Daß wir uns die unteren Schichten darum nicht unberührt von den neuen sozialen Ideen vorzustellen brauchen, lehrt das Beispiel Böotiens, das schon ein Jahrhundert vor Solon seinen Hesiodos gehabt hatte und dessen feudalistischer Zustand doch unerschüttert blieb bis in die Blütezeit der griechischen Demokratie. Was aus der dumpfen Masse an Forderungen und Beschwerden empordrängte, setzte sich nicht so leicht in zielbewußte politische Tat um. Das geschah erst da, wo die überlegene Bildung der Oberschicht selbst der Nährboden für solche Gedanken wurde und ein Adliger aus Ehrgeiz oder tieferer Einsicht der Masse zu Hilfe kam und ihre Führung übernahm. Die rosseliebenden vornehmen Grundherren, die wir auf den archaischen Vasenbildern bei feierlichem Anlaß, vor allem bei den Leichenbegängnissen ihrer Standesgenossen ihre leichten Wägelchen kutschieren sehen, standen dem arbeitenden hörigen Bauerntum als kompakte Macht gegenüber. Selbstsüchtiger Kastengeist und hochmütige Absperrung der Vornehmen und Besitzenden gegen die Geringeren zogen einen festen Damm gegen die Forderungen der bedrückten Bevölkerung, deren vielfach verzweifelte Lage Solons großer Iambos erschütternd schildert. Die Bildung des attischen Adels ist durchaus ionisch, sowohl in der Kunst wie in der Poesie herrscht der landfremde 190

[11190]

überlegene Geschmack und Stil. Daß sich dieser Einfluß auch auf die Lebensführung und -Auffassung erstreckte, ist nur natürlich; es war eine Konzession an das volkstümliche Gefühl, wenn Solons Gesetze den asiatischen Prunk und die Klageweiber verboten, die bis dahin bei den Leichenbegängnissen der vornehmen Herren üblich gewesen waren. Erst der blutige Ernst der Perserkriege hat hundert Jahre später in Kleidung, Haartracht und Lebensführung endgültig die Vorherrschaft des ionischen Vorbilds in Attika gebrochen, die άρχαία χλιδή, von deren modisch üppiger kleinasiatischer Geziertheit die archaischen Bildwerke, die aus dem Perserschutt der Akropolis ans Licht gestiegen sind, uns erst wieder eine ganz lebendige Vorstellung gegeben haben. Für Solons eigne Zeit ist neuerdings die stehende Göttin des Berliner Museums als vollgültige Repräsentantin der hochgemuten, standesbewußten Frauenwelt dieser altattischen Aristokratie dazugetreten. Die Durchtränkung des Mutterlandes mit der ionischen Kultur mußte viel Neues, das als schädlich empfunden wyrde, mit ins Land bringen, aber das darf nicht hindern zu sehen, daß überhaupt erst durch die Befruchtung des attischen Wesens durch den ionischen Geist der Drang zur Gestaltung einer eigenen geistigen Form in dem archaischen Attika erwacht ist. Insbesondere wäre die politische Bewegung, die von der Masse der wirtschaftlich Schwachen ausging, ohne die Anregungen des ionischen Ostens nicht denkbar, mit ihr die überragende Führergestalt Solons, in der sich gleichfalls Attisches und Ionisches untrennbar durchdringt. Solon ist für diesen folgenreichen historischen Bildungsvorgang neben dem wenigen, was die spätere geschichdiche Erinnerung aufbewahrt hat, und neben den Resten der gleichzeitigen attischen Kunst unser eigentlich klassischer Zeuge. Seine Dichtungsformen, Elegie und Iambos, sind ionischen Ursprungs. Seine engen Beziehungen zur zeitgenössischen ionischen Poesie werden durch das Gedicht an Mimnermos von Kolophon ausdrücklich bestätigt. Seine Sprache in den Gedichten ist ein Ionisch, das mit attischen Formen gemischt ist, das Attische selbst ist in dieser Zeit eben noch nicht für die hohe Poesie gebrauchsfähig. Ionisch ist zum Teil auch der Gedankenbesitz seiner Dichtung, aber hier strömt Eigenes und Fremdes zusammen und verbindet sich zur Aussprache eines großartig lII

191]

191

Neuen, für das die übernommene ionische Form ihm die innere Freiheit und die wenn auch nicht überall ganz mühelose Meisterschaft des Ausdrucks gibt. In den politischen Gcdichten 1 , deren Entstehung sich von der Zeit vor der Gesetzgebung bis in die Jahre der sich vorbereitenden Tyrannis des Peisistratos und der Eroberung der Insel Salamis, also durch ein halbes Jahrhundert erstreckt, hat Solon der Poesie mit einem Schlage jene erzieherische Größe wiedergegeben, die sie einst bei Hesiod und Tyrtaios gehabt hatte. Seine Anrede an die Mitbürger — sie ist die feste Form seiner Ansprache — quillt aus einem von verantwortungserfülltem Gemeinschaftsgefühl leidenschaftlich bewegten Herzen. Nirgendwo schlägt die Dichtung der Ionier von Archilochos bis Mimnermos solche Töne an mit Ausnahme des einen Kallinos, der in der Stunde der Kriegsgefahr die Heimatliebe und das Ehrgefühl seiner ephesischen Mitbürger aufgerufen hatte. Die politische Dichtung Solons ist nicht aus diesem homerischen Heroengeist geboren, es ist ein ganz neues Pathos, aus dem sie hervorbricht. Jede im wahren Sinne neue Zeit eröffnet der Dichtung neue Quellbezirke in der menschlichen Seele. Wir sahen, wie in jener Zeit gewaltiger Wandlungen in Gesellschaft und Wirtschaft im Streit um den möglichst großen Anteil an den Gütern der Welt die Idee des Rechts dem suchenden Denken der Menschen einen festen Halt bot. Hesiod hatte als erster im Kampf gegen die Begehrlichkeit seines habsüchtigen Bruders die Dike als göttliche Schutzmacht angerufen. Er hatte sie als Hüterin der Gemeinde gegen den Unsegen der Hybris gepriesen und ihr in seinem Glauben den Platz neben dem Thron des höchsten Zeus angewiesen. Mit der ganzen krassen Realistik der frommen Phantasie wird von ihm der Fluch der Ungerechtigkeit ausgemalt, die die Schuld eines Einzelnen über die ganze Stadt bringt: Mißernte, Hungersnot, Pestilenz, Fehlgeburt, Krieg und Tod, während das Kontrastbild der gerechten Stadt in den hell leuchtenden Farben des göttlichen Segens schimmert: die Felder tragen Korn, die Weiber gebären Kinder, die ihren Eltern 1 Vgl. Solons Eunomie, Sitz. Beri. Akad. a. O. 71 ff. für das Verhältnis zu Homer, Hesiod und der Tragödie sowie für die Interpretation der politischen Gedichte Solons.

192

[11192]

ähnlich sind, die Schiffe bringen sicher den Gewinn nach Hause, Frieden und Reichtum herrscht rings im Lande. Auch der Politiker Solon lebt im Glauben an die Macht der Dike, und das Bild, das er von ihr entwirft, trägt sichtlich hesiodische Farben. Man darf glauben, daß Hesiods unbeirrbarer Rechtsglaube in den Ständekämpfen der ionischen Städte schon eine Rolle gespielt hatte und für die um ihre Mitberechtigung ringende Schicht eine Quelle der inneren Widerstandskraft geworden war. Solon ist nicht der Wiederentdecker der hesiodischen Gedanken — dessen bedurfte es nicht — sondern ihr Fortbildner. Auch für ihn steht fest, daß das Recht seine unerschütterliche Stelle im göttlichen Gefüge der Welt hat. Er wird nicht müde zu betonen, daß es unmöglich ist sich über das Recht hinwegzusetzen, weil es sich schließlich doch immer siegreich durchsetzt. Die Strafe kommt früher oder später und stellt den notwendigen Ausgleich her, wo menschliche Hybris die gerechten Grenzen überschritten hat. Diese Überzeugung verpflichtet Solon, als Warner seiner in verblendetem Interessenkampf sich aufreibenden Mitbürger aufzutreten. Er sieht die Stadt mit schnellen Schritten dem Abgrund zueilen und will den drohenden Untergang aufhalten 1 . V o n Gewinnsucht getrieben bereichern sich die Führer des Volkes auf ungerechtem Wege, sie schonen weder Staats- noch Tempelgut und achten nicht die ehrwürdigen Grundfesten der Dike, die schweigend alles Vergangene und Gegenwärtige schaut, doch mit der Zeit unfehlbar kommt zu strafen. Sehen wir aber, wie Solon die Strafe denkt, so wird klar, was ihn von dem religiösen Realismus des hesiodischen Rechtsglaubens trennt. Die göttliche Strafe ist für ihn nicht Mißernte und Pestilenz wie für Hesiod, sondern sie vollzieht sich immanent durch die Störung des sozialen Organismus, die eine jede Verletzung des Rechts bewirkt 2 . In einem solchen Staat bricht Parteihader und Bürgerkrieg aus, die Menschen rotten sich in Versammlungen zusammen, die nur Gewalttat und Ungerechtigkeit kennen, große Scharen von Mittellosen müssen ihr Vaterland verlassen und wandern in die Schuldknechtschaft. Und ob auch einer diesem Unheil aus1 2

frg· 3

V g l . Solons Eunomie a. O . 79

[II 193]

193

weichen möchte und sich in den geheimsten Winkel seines Hauses verkröche, das allgemeine Unheil findet ihn doch, es „springt über die Hofmauer" und verschafft sich £inlaß. Niemals in der Welt ist die Verflochtenheit des Einzelnen und seines Schicksals in das Leben des Ganzen anschaulicher und packender geschildert worden als in diesen Worten des großen Warnungsgedichtes, das offenbar der Zeit vor der Berufung Solons zum „Versöhner" angehört. Das soziale Übel ist wie eine ansteckende Krankheit, die überall hin ihren Weg findet. Sie kommt unentfliehbar über jede Stadt, ruft Solon, die solchen Bürgerzwist wachruft. Hier spricht nicht prophetische Vision, sondern politische Erkenntnis. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung des Rechts und der Störung des sozialen Lebensprozesses ist hier zum erstenmal objektiv als allgemeingültiger Satz ausgesprochen, und diese Erkenntnis ist es, die Solon zu reden treibt. „Dies befiehlt mir mein Geist die Athener zu lehren" schließt die Schilderung der Ungerechtigkeit und ihrer Folgen für den Staat, und mit religiösem Schwung malt er in Erinnerung an Hesiods Kontrastbilder der gerechten und der ungerechten Stadt das lichte Gegenbild der Eunomia aus, mit dem seine Botschaft verheißungsvoll endet. Auch die Eunomia ist ihm wie Dike eine Gottheit — Hesiods Theogonie 1 nennt sie Schwestern — , und auch ihre Wirkung ist eine immanente: sie offenbart sich nicht in irgendwelchen äußeren Segensgaben des Himmels, in Fruchtbarkeit der Fluren und Uberfluß aller Art wie bei Hesiod, sondern in dem Frieden und der Harmonie des gesellschaftlichen Kosmos. Solon erfaßt hier und an anderen Stellen ganz klar den Gedanken einer inneren Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens. Wir tun gut uns zu erinnern, daß zu derselben Zeit in Ionien die milesischen Naturphilosophen Thaies und Anaximander die ersten kühnen Schritte taten auf dem Wege zur Erkenntnis eines bleibenden Gesetzes in dem ewigen Werden und Vergehen der Natur. Es ist hier wie dort der gleiche Drang zur schauenden Erfassung einer immanenten Ordnung in dem Lauf der Natur und des menschlichen Lebens und damit eines inneren Sinnes 1

194

Hes. Theog. 90a

[1/194]

u n d einer inneren Norm des Wirklichen. Solon setzt den Gedanken eines gesetzmäßigen Zusammenhanges von Ursache und Wirkung in der Natur unverkennbar voraus und stellt dazu die Gesetzmäßigkeit des sozialen Vorganges ausdrücklich in Parallele, wenn er an anderer Stelle 1 sagt: „Aus der Wolke kommt Schnee und Hagel, nach dem Blitz folgt notwendig der Donner, und durch zu mächtige Männer geht eine Stadt zugrunde, und der Demos kommt in die Hände eines Alleinherrschers." Die Tyrannis, d. h. die auf die Masse des Volkes gestützte Herrschaft eines einzelnen Adelsgeschlechts und seines Oberhauptes über alle übrigen adligen Geschlechter, das war für die attische Eupatridengesellschaft die furchtbarste Gefahr, die Solon an die Wand malen konnte, denn in diesem Augenblick war es mit ihrer J a h r hunderte alten Vorherrschaft im Staate zu Ende. Von der Gefahr der Demokratie spricht Solon bezeichnenderweise noch nicht. Sie liegt bei der politischen Unreife der Masse damals noch fern. Erst die Tyrannis hat ihr durch den Sturz des Adels den Weg gebahnt. Diese Erkenntnis bestimmter Gesetzmäßigkeiten des politischen Lebens konnte der Athener mit Hilfe ionischer Denkvorbilder leichter fassen als irgend jemand vor ihm, denn ihm lagen die Erfahrungen der politischen Entwicklung von mehr als hundert J a h r e n aus zahlreichen griechischen Städten des Mutterlandes und der Kolonien vor, in denen sich mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit die gleichen Prozesse abgespielt hatten. Athens spätes Eintreten in diese Entwicklung machte es ihm möglich, zum Schöpfer der vorausschauenden politischen Erkenntnis zu werden, und dieses Lehrertum bleibt Solons dauernder Ruhm. Aber fur die menschliche Natur bleibt es bezeichnend, daß trotz dieser überlegenen frühzeitigen Einsicht der Durchgang durch die Tyrannis sich für Athen dennoch als eine Notwendigkeit erwies. Wir verfolgen noch jetzt in den erhaltenen Gedichten Solons das Wachstum dieser Erkenntnis von der ersten Warnungsbotschaft bis zu dem Augenblick, wo die politischen Ereignisse die klare Voraussicht des auf einsamer Höhe der Erkenntnis stehenden Mannes bestätigt haben und die Tyrannis eines Einzelnen und seines Geschlechts, des Peisistratos, sich verwirklicht 1

[1/195]

frg. io 195

hat 1 . „Wenn ihr Schlimmes erfahren habt wegen eurer Schwäche, so legt den Göttern nicht die Schuld daran zur Last. Denn ihr selbst habt diese Leute groß werden lassen, indem ihr ihnen die Macht gegeben habt, und deswegen seid ihr schimpflicher Knechtschaft verfallen." Die Worte knüpfen offensichtlich an den Anfang der Warnungselegie an, die wir oben besprochen haben. Auch dort hieß es: „Unsere Stadt wird nicht durch die Schickung des Zeus und nach dem Ratschluß der seligen Götter zugrunde gehen, denn Pallas Athene, ihre hochgemute Hüterin, hat ihre Hände über sie gebreitet, sondern die Bürger selbst wollen in ihrer Geldgier aus Unverstand die Stadt ruinieren." 2 Was hier angedroht wird, ist in dem späteren Gedicht eingetroffen. Solon entlastet sich vor seinen Mitbürgern, indem er deutlich auf seine frühere Voraussage des kommenden Unheils hinweist, und rollt die Frage der Schuld auf. Wenn er es an beiden Stellen fast mit den gleichen Worten tut, so beweist dies, daß es sich fur ihn hier um einen Grundgedanken seiner Politik handelt, modern gesprochen um die Frage der Verantwortung, oder griechisch: um den Anteil des Menschen an seinem Schicksal. Dieses Problem war zum erstenmal im homerischen Epos gestellt worden, am Anfang der Odyssee, wo der Herrscher Zeus in der Götterversammlung die unberechtigten Klagen der Sterblichen zurückweist, die den Göttern an allem Mißgeschick des menschlichen Lebens die Schuld zuschieben. Fast mit den gleichen Worten wie bei Solon heißt es dort, daß nicht die Götter sondern die Menschen selbst durch ihren Unverstand ihre Leiden vergrößern 3. Solon hat bewußt an diese homerische Theodizee angeknüpft. Die älteste griechische Religion erblickt in allem menschlichen Unglück eine von den höheren Mächten gesandte unentfliehbare Ate, gleichviel ob es von außen kommt oder ob es im eigenen Willen und Trieb des Menschen seine Wurzel hat. Demgegenüber stellt die philosophische Reflexion, die der Odysseedichter dem Zeus als höchstem Träger der Weltregierung in den Mund legt, bereits eine spätere Stufe der ethi1

2

frg. 8

frg- 3

3 α 32 ff". Vgl. a. O. 73.

196

zum

folgenden

meine Ausführungen Solons Eunomie

[1/196]

sehen Entwicklung dar. Hier wird scharf unterschieden zwischen einer Ate im Sinne übermächtiger, unvorhersehbarer göttlicher Schicksalsfügung und einer Selbstverschuldung des handelnden Menschen, durch die er sein Unglück über das ihm vom Schicksal zugemessene Teil hinaus vermehrt. Als wesentlich erscheint für die letztere das Moment des Vorherwissens, des unrichtigen Handelns mit wissendem Willen. Hier ist der Punkt, wo Solons eigenes Denken über die Bedeutung des Rechts für ein gesundes Leben der menschlichen Gemeinschaft in die homerische Theodizee einmündet und ihr einen neuen Inhalt gibt. Was sich als allgemeingültige Erkenntnis der politischen Gesetzmäßigkeiten dem Menschen erschlossen hat, trägt in sich eine Verpflichtung für den Handelnden. Die Welt, in der Solon lebt, läßt der göttlichen Willkür nicht mehr den gleichen Spielraum wie der Glaube der Ilias. In dieser Welt herrscht eine strenge Rechtsordnung, und ein großer Teil der Schicksale, die der homerische Mensch passiv aus der Hand der Götter entgegennahm, muß Solon auf die Rechnungsseite der menschlichen Selbstschuld überschreiben. Die Götter sind in diesem Falle nur die Vollstrecker der sittlichen Ordnung, die geradezu als mit ihrem Willen identisch betrachtet wird. Statt sich wie die ionischen Lyriker seiner Zeit, die nicht minder tief von der Frage des Leidens in der Welt bewegt sind, in schwermütigen und resignierten Klagen über das Schicksal des Menschen und seine Unentrinnbarkeit zu ergehen, ruft Solon den Menschen zu verantwortungsbewußtem Handeln auf und gibt selbst in seiner politischen und sittlichen Haltung ein Vorbild dieses Handelns, das sowohl von der unverbrauchten Lebenskraft wie von dem moralischen Ernst des attischen Wesens das stärkste Zeugnis ablegt. Im übrigen fehlt auch bei Solon keineswegs das kontemplative Element. Gerade die große vollständig erhaltene Elegie, das Gebet an die Musen, nimmt das Problem der Selbstschuld wieder auf und bestätigt seine Bedeutung für Solons ganzes Denken 1 . Es wird hier in den Zusammenhang einer allge1

[1/197]

frg. ι 19 7

meinen Betrachtung alles menschlichen Strebens und Schicksals gestellt, die noch deutlicher als die politischen Gedichte erkennen läßt, wie tief dieser handelnde Staatsmann im Religiösen wurzelt. Das Gedicht zeigt die uns besonders aus Theognis und Pindar, doch auch schon aus der Odyssee vertraute alte Adelsethik mit ihrer traditionellen Hochschätzung des materiellen Besitzes und des gesellschaftlichen Ansehens, aber sie ist hier ganz durchdrungen von der strengen solonischen Rechtsanschauung und Theodizee. Im ersten Teil der Elegie schränkt Solon den natürlichen Wunsch nach Reichtum durch die Forderung ein, daß er auf gerechte Weise erworben sein müsse. Nur der Besitz, den die Götter geben, ist beständig, der durch Unrecht und Gewalt erlangte ist nur ein fruchtbarer Nährboden für die Ate, die nicht lange auf sich warten läßt. Wie überall bei Solon tritt hier der Gedanke hervor, daß Unrecht sich immer nur eine kurze Weile behauptet, mit der Zeit kommt in jedem Fall die Dike. Die mehr sozial-immanente Auffassung der „göttlichen Strafe", die wir in den politischen Gedichten fanden, tritt hier hinter dem religiösen Bilde der „Vergeltung des Zeus" zurück, die wie ein Frühlingssturm plötzlich hereinbricht. Er zerstreut jählings die Wolken, wühlt die Tiefen der See auf bis auf den Grund, stürzt sich auf die Felder und verwüstet das mühsame Werk menschlichen Fleißes; dann aber fahrt er wieder zum Himmel empor, die Sonne leuchtet herab mit ihren Strahlen über das fette Erdreich, und rings ist keine Wolke mehr zu sehen — so ist auch die Vergeltung des Zeus, der keiner entgeht. Der eine büßt früher, der andere später, und wenn der Schuldige der Strafe entrinnt, so entgelten Kinder und Kindeskinder unschuldig an seiner Statt. Wir stehen hier bereits mitten in dem religiösen Gedankenkreis, aus dem hundert Jahre später die attische Tragödie erwächst. Aber nun wendet sich die Betrachtung des Dichters jener anderen Ate zu, die durch kein menschliches Sinnen und Trachten abzuwenden ist. Wir erkennen: so weit auch die Rationalisierung und Ethisierung des Bereichs menschlichen Handelns und Schicksails in dem Zeitalter Solons fortgeschritten ist, es bleibt ein Rest übrig, der bei diesem Versuch, der göttlichen Weltregierung ihr Exempel im einzelnen nachzurechnen, nicht 198

[1/198]

aufgeht. „Wir Sterblichen denken so, Gute und Schlechte, daß wir erreichen werden 1 was wir hoffen, bis dann das Unglück kommt, dann klagen wir. Der Kranke hofft gesund zu werden, der Arme reich. Jeder trachtet nach Geld und Gewinn, jeder auf anderem Wege, als Kaufmann und Schiffer, als Bauer, als Handwerker, als Sänger oder Seher. Aber auch der kann das kommende Unglück, obgleich er es voraussieht, nicht abwenden." Hier blickt aus der archaisch-anreihenden Gedankenführung des Gedichtes der für den zweiten Teil entscheidende Gesichtspunkt hervor: Die Moira macht alles menschliche Streben von Grund auf unsicher, mag es auch noch so folgerichtig und ernsthaft sein, und d i e s e Moira ist auch durch Vorherwissen nicht abzuwenden, wie der Eintritt des selbstverschuldeten Unglücks im vorhergehenden ersten Teil. Daher trifft sie Gute und Schlechte ohne Unterschied. Das Verhältnis unseres Erfolgs zu unserem Streben ist durch und durch irrational. Gerade wer es gut machen möchte, erntet oft Mißerfolg, und wer es falsch anfängt, den läßt die Gottheit den Folgen seiner Torheit entschlüpfen. Ein Risiko bleibt bei allem menschlichen Tun. Die Anerkennung dieser Irrationalität des menschlichen Erfolgs hebt aber für Solon die Verantwortlichkeit des Handelnden für die Folgen schlechter Taten nicht auf, der zweite Teil der Elegie widerspricht für sein Denken keineswegs dem ersten. Aus der Unsicherheit des Erfolgs auch des besten Strebens folgt für ihn nicht Resignation und nicht Verzicht auf eigenes Mühen. Das war die Folgerung des ionischen Dichters Semonides von Amorgos gewesen, der darüber klagt, daß die Sterblichen so viel unnütze Mühe und Kraft an unerreichbare illusionäre Ziele verschwenden und sich in Schmerz und Sorge aufreiben, anstatt zu resignieren und aufzuhören, in blindem Hoffen ihr eigenes Unglück zu begehren 2. Gegen ihn wendet sich der Athener Solon am Schluß seiner Elegie offensichtlich. Statt den Weltlauf von der menschlichen und sentimentalen Seite zu nehmen, versetzt er sich objektiv an die Stelle der Gottheit und fragt sich 1 frg. i, Í4. Ich habe den ungefähr zu ergänzenden Sinn eingesetzt, da der Text an dieser Stelle verderbt ist. » Vgl S. 176

[1/199]

199

und seine Hörer, ob, was fur menschliches Denken keine Vernunft hat, von diesem höheren Standpunkt aus nicht verständlich und gerechtfertigt erscheint. Es liegt im Wesen des Reichtums, der ja doch der Gegenstand alles Trachtens der Menschen ist, daß er in sich weder Maß noch Ziel hat. Gerade die Reichsten unter uns beweisen das, ruft Solon, denn sie trachten nach dem Doppelten. Wer sollte sie alle mit ihrem Wünschen satt kriegen? Da gibt es nur eine Lösung, die über die Köpfe der Menschen hinweggeht. Die Götter geben uns den Gewinn, aber sie nehmen ihn auch wieder. Denn wenn der Dämon der Verblendung sich ihm gesellt, dann schafft er wieder einen Ausgleich, und so geht der Besitz in immer andere Hände über. Es war nötig, das Gedicht ausführlich zu würdigen, da es Solons sozialethische Weltanschauung enthält. Die Gedichte, in denen er sein Gesetzgebungswerk nachträglich rechtfertigt, zeigen deutlich den engen Zusammenhang seines praktischpolitischen Wollens mit diesen religiösen Gedanken. Die Deutung der göttlichen Moira als notwendiger Ausgleich der nie zu beseitigenden Besitzunterschiede zwischen den Menschen zeichnet ihm auch als Politiker normativ die Linie seines Handelns vor. Alle seine Taten und Äußerungen lassen das Streben nach einem solchen gerechten Ausgleich zwischen Überfluß und Mangel, Übermacht und Ohnmacht , Vorrecht und Rechtlosigkeit als beherrschendes Motiv seiner Reformen erkennen. So konnte er es zwar keiner Partei ganz recht machen, in Wahrheit aber verdanken ihm beide, Reiche und Arme, was sie an Macht behaupteten oder hinzugewannen. Solon findet für diese seine gefahrliche Stellung nicht so sehr über als mitten zwischen den Parteien immer neue packende Bilder. Er ist sich bewußt, daß seine Stärke ausschließlich in der unangreifbaren sittlichen Autorität seiner uneigennützigen, streng gerechten Persönlichkeit liegt. Während er das selbstsüchtige Treiben der geschäftigen Parteiführer mit dem Abschöpfen des Rahms von der Milch oder mit dem Einziehen des gut gefüllten Netzes vergleicht Bildern, die für die Vorstellungskraft attischer Bauern und Fischer

1

200

frg. 23 und

25

[1/200]

von drastischer Verständlichkeit waren, greift er für seine eigene Haltung zu vornehmster homerischer Stilisierung, die sein Selbstgefühl als heroischer Vorkämpfer hell beleuchtet. Da hält er bald seinen Schild schirmend vor beide Parteien und läßt keine von beiden siegen, bald tritt er furchtlos zwischen beide Fronten in den mittleren Raum, wo die Speere hin und wider fliegen, oder er beißt sich wie der Wolf durch die ihn wütend umkläffende Meute 1 . Die tiefste Wirkung geht von den Gedichten aus, in denen er im Namen seines eigenen Ich redet, weil von diesem Ich überall die sieghafte Macht der Persönlichkeit ausstrahlt, am leuchtendsten in dem großen Iambos 2, in dem er Rechenschaft ablegt „vor dem Richterstuhl der Zeit". Das ungesucht Quellende der anschaulichen Bilder, die hier an unserem Auge vorbeiziehen, der schöne Schwung des brüderlichen Empfindens für jede menschliche Kreatur, die Stärke des Mitleidens machen das Gedicht zum persönlichsten Dokument unter allen erhaltenen politischen Fragmenten. Niemals hat ein führender Staatsmann höher über jedem bloßen Machtgelüst gestanden als Solon, der nach Beendigung seines gesetzgeberischen Werks das Land auf lange Zeit verließ und auf Reisen ging. Es selbst wird ja nicht müde zu betonen, daß er seine Stellung nicht ausgenützt habe, um die Tyrannis zu erlangen oder sich zu bereichern, wie es die meisten an seiner Statt getan haben würden, und er will sich gerne dafür der Dummheit zeihen lassen. In der novellistisch ausgestalteten Geschichte von Solon und Kroisos hat Herodot das Bild dieses Unabhängigen festgehalten. Das ist der weise Solon, den auch der Anblick des asiatischen Despoten inmitten seiner dem Griechen Schwindel erregenden Reichtümer nicht einen Augenblick schwankend machen kann in der Überzeugung, daß der einfachste attische Landmann auf seiner Scholle, der im Schweiße seines Angesichts für sich und seine Kinder das tägliche Brot erringt und nach lebenslanger treuer Erfüllung seiner Pflichten als Vater und Bürger an der Schwelle seines Alters gewürdigt wird, im 1 frg. 5; 24, 27 und 25, 8. Zur Herstellung des Textes vgl. meinen Aufsatz Hermes 64 (1929) 30 ff.

2

frg- 24

[II201]

201

Kampf für sein Vaterland zu sterben, glücklicher ist als alle Könige der Welt. Die Geschichte atmet eine ganz einzigartige Mischung ionischer Freizügigkeit und Reiselust, die „um des Schauens willen" die Welt durchwandert, und attischer staatsbürgerlicher Bodenständigkeit. Es ist von höchstem Reiz, diese Mischung, das Erzeugnis der beginnenden Auseinandersetzung des attischen Wesens mit der ionischen Bildung, durch die erhaltenen Bruchstücke der nicht-politischen Gedichte zu verfolgen. Sie sind der Ausdruck einer Geistesreife, die auf die Zeitgenossen einen solchen Eindruck gemacht hat, daß sie Solon unter die sieben Weisen zählten. Voranstehen mögen die berühmten Verse, in denen er antwortet auf die Klagen des ionischen Dichters Mimnermos über die Leiden des Alters und auf seinen sehnlichen Wunsch, schon mit sechzig Jahren zu sterben, ohne Krankheit und Schmerz kennengelernt zu haben. „Wenn du mir jetzt noch folgen magst, so streiche dies und zürne mir nicht, daß ich etwas Besseres als du gefunden habe, und dichte um, du ionische Nachtigall, und singe so: Achtzigjährig möge mich die Moira des Todes ereilen." 1 Die Reflexion des Mimnermos war ein Ausfluß jener freien ionischen Geisteshaltung, die sich über das Leben stellt und fähig ist, es aus einer bestimmten subjektiven Lebensstimmung als Ganzes zu wägen und, wo es seinen Wert verliert, seinen Abbruch zu wünschen. Aber mit der Lebenswertung des Ioniers ist Solon nicht einverstanden. Seine gesunde attische Kraft und unverbrauchte Lebensfreude wehrt sich gegen die überfeinerte weltschmerzliche Müdigkeit, die schon mit sechzig Jahren die Grenze setzen will, weil sie den Schmerzen und Beschwerden des menschlichen Daseins hilflos gegenübersteht. Für Solon ist das Altern kein leidvolles allmähliches Hinsterben. Die unverwüstliche Jugendkraft läßt den immer noch grünen Baum seiner beglückenden Lebenserfahrung mit jedem Jahre neue Blüten treiben. Er will auch nichts wissen von einem unbeweinten Tode, sondern wünscht den Seinen, wenn er einst stirbt, Schmerzen und Seufzer zu bereiten. Auch hier ist es ein be-

1 frg. 22. Die witzige Anrede λιγυαστάδη ist unübersetzbar. Der Ersatz, den ich versucht habe, bleibt natürlich ein Spiel·. Vgl. Mimn. frg. 6.

202

[H202J

rühmter ionischer Dichter, Semonides von Amorgos, dem er widerspricht. Der hatte gelehrt, das Leben sei so kurz und reich an Mühen und Schmerzen, daß wir uns nicht länger als einen Tag um einen Gestorbenen kümmern s o l l t e n A u c h Solon denkt nicht günstiger über die Lustbilanz des menschlichen Lebens. In einem Bruchstück heißt es: „Kein Mensch ist glücklich. Mühebeladen sind alle Sterblichen, auf die die Sonne herabblickt." 2 Wie Archilochos und alle ionischen Dichter leidet er unter der Unsicherheit des Menschenloses: „Der Sinn der unsterblichen Götter ist den Menschen ganz verborgen." 3 Aber dem steht gegenüber die Freude an den Gaben des Daseins, an Kindernachwuchs, an kraftvollem Sport, Reiten und Jagen, an Wein und Sang, an der Freundschaft mit anderen Menschen und an dem Sinnenglück der Liebe 4. Die innere Genußfähigkeit erscheint Solon als nicht geringerer Reichtum denn Gold und Silber, Landbesitz und Rosse. Es kommt nicht darauf an, wieviel einer einmal besessen hat, wenn er in den Hades hinab muß, sondern was das Leben ihm von seinen Gütern gegeben hat. Das Hebdomadengedicht, das uns vollständig erhalten ist, baut das ganze Menschenleben in zehn Jahrsiebenten auf 5 . Jeder Altersstufe gibt es ihre besondere Stellung innerhalb des Ganzen. Es spricht aus ihm echt griechischer Sinn für den Rhythmus des Lebens. Er gestattet nicht die eine Stufe mit der andern zu vertauschen, weil jeder ihr eigner Sinn innewohnt und daher jeder etwas anderes angemessen ist, sondern folgt mit seinem Wechsel von Aufstieg, Höhe und Niedergang dem allgemeinen Gange der Natur. Es ist derselbe neue Sinn für die innere Gesetzmäßigkeit in den Dingen, der Solons Stellung zu den rein menschlichen wie zu den politischen Fragen bestimmt. Was er ausspricht, klingt wie die griechische Weisheit meist sehr einfach. Das Natürliche ist immer einfach, wenn man es erkennt. „Aber es ist das Schwerste von allem, der Einsicht unsichtbares Maß wahr1

3

Semon. frg. 2

frg. 15

frg. 17 * frg. 12—14 5 frg. 19 3

[Ii203]

203

zunehmen, das allein aller Dinge Grenzen in sich trägt." Auch das sind Worte Solons. Sie scheinen wie vorbestimmt dazu, uns den rechten Maßstab für seine Größe in die Hand zu geben x. Die Begriffe des Maßes und der Grenze, die für die griechische Ethik von so grundlegender Bedeutung werden sollten, zeigen deutlich das Problem an, das für Solon und seine Zeit bewußt im Mittelpunkt steht: die Gewinnung einer neuen Lebensnorm durch die Kraft der inneren Erkenntnis. Ihr Wesen läßt sich nur aus der Versenkung in die Gesamtheit seiner Äußerungen, seiner Persönlichkeit und seines Lebens verstehen. Definieren läßt es sich nicht. Für die Menge genügt es sich an die Gesetze zu halten, die ihr vorgeschrieben werden. Aber der sie vorschreibt, bedarf selbst eines höheren Maßstabs, der nirgendwo geschrieben steht. Die so seltene Wesenseigenschaft, die ihn diesen Maßstab finden läßt, nennt Solon „Gnomosyne", weil sie stets die Gnome eingibt, die die richtige Einsicht und zugleich den festen Willen bezeichnet, sie zur Geltung zu bringen. Dies ist der Punkt, von dem aus wir die Einheit seiner inneren Welt begreifen müssen. Diese Einheit war ihm nicht gegeben. Wir finden in Ionien die Gedanken des Rechts und des Gesetzes im öffentlichen Leben zwar bereits in Geltung, die in Solons politischem und religiösem Denken die beherrschende Angelegenheit sind, aber sie scheinen dort, wie wir früher sahen, keinen dichterischen Repräsentanten gefunden zu haben. Die andere Seite des ionischen Geisteslebens, die in der ionischen Dichtung um so stärker zu ihrem Rechte kommt, ist die des individuellen Lebensgenusses und der persönlichen Lebensweisheit. Auch mit ihr ist Solon tief vertraut. Das Neue ist die innere Vereinigung beider Hemisphären, die wir in seinen Gedichten vollzogen sehen. Sie fügen sich zum Bilde eines menschlichen Lebensganzen von seltener Vollständigkeit und Harmonie zusammen, das zugleich in der Persönlichkeit seines Schöpfers seine vollkommenste Verkörperung findet. Der Individualismus ist überwunden, aber die Individualität ist gerettet, ja eigentlich über1

204

frg. 16 [1/204]

haupt erst ethisch begründet. Solon ist durch seine Bindung von Staat und Geist, Gemeinschaft und Individuum wirklich der erste Attiker. Er hat durch sie den bleibenden Typus des attischen Menschen für die gesamte künftige Entwicklung seines Volksstammes vorbildlich ausgeprägt.

[1/205]

205

DAS PHILOSOPHISCHE DENKEN UND DIE ENTDECKUNG DES KOSMOS Die Ursprünge des philosophischen Denkens bei den Griechen pflegen wir im altgewohnten Rahmen der 'Philosophiegeschichte' zu betrachten, wo die 'Vorsokratiker' seit Aristoteles' Zeiten als die problemgeschichtliche und systematische Grundlage der klassischen attischen Philosophie d. h. des Platonismus ihre feste Stellung einnehmen. In neuerer Zeit ist dieser denkgeschichtliche Zusammenhang oft zurückgetreten gegenüber dem Streben, diese Denker als ursprüngliche Philosophen in ihrer Einzigkeit jeden für sich zu begreifen, wodurch ihre Bedeutung noch wesentlich gesteigert worden ist. In dem A u f b a u der Geschichte der griechischen Bildung muß sich die Perspektive verschieben. Es ist zwar klar, daß auch in ihr die älteren Denker einen hervorragenden Platz beanspruchen dürfen, anderseits kommt ihnen unmittelbar in der Bildung ihrer Zeit nicht die gleiche Bedeutung zu wie etwa für das ausgehende 5. Jhrh. Sokrates, dem Erzieher schlechthin, oder für das 4. Jhrh. dem Plato, der als erster das Wesen der Philosophie in der Erziehung eines neuen Menschen sah. In der Zeit der Vorsokratiker liegt die Führerrolle der Bildung der Nation noch unbestritten bei den Dichtern, zu denen sich jetzt die Gesetzgeber und Staatsmänner neu hinzugesellen. Erst mit den Sophisten tritt darin eine Änderung ein. Sie scheiden sich daher scharf von den Naturphilosophen und Ontologen der früheren Periode. Die Sophisten sind ein im eigentlichsten Sinne bildungsmäßiges Phänomen. Sie können überhaupt nur in einer Geschichte der Erziehung ihre volle Würdigung finden, während der theoretische Gehalt ihrer

206

11/206J

Lehre im allgemeinen gering ist. Die herkömmliche Philosophiegeschichte weiß darum auch von jeher nicht viel mit ihnen anzufangen. Wenn umgekehrt in unserem Bilde die großen theoretischen Naturphilosophen und ihre Systeme nicht einzeln im Zusammenhang der Problemgeschichte behandelt werden können, müssen sie doch als großartige Zeiterscheinungen hier ihre Würdigung finden, und das Grundsätzliche und Bahnbrechende ihrer neuen Geisteshaltung muß in seiner Bedeutung für die weitere Entwicklung der Wesensform des griechischen Menschen erfaßt werden. Endlich ist der Punkt zu bestimmen, wo der abseits von den Kämpfen um die Gestaltung der wahren menschlichen Arete entspringende Strom dieser reinen Spekulation in jene umfassende Bewegung einmündet und über ihren persönlichen Träger hinaus zur menschenbildenden Macht innerhalb des sozialen Ganzen zu werden beginnt. Die zeitliche Grenzlinie, wo der Durchbruch des rationalen Denkens anhebt, ist schwer zu ziehen, sie würde mitten durch das homerische Epos hindurchgehen, doch die Durchdringung rationaler Elemente mit dem 'mythischen Denken' ist dort noch so eng, daß eine Loslösung kaum möglich sein würde. Eine Analyse des Epos unter diesem Gesichtspunkt würde zeigen, wie rationales Denken schon früh den Mythos ergreift und in ihm zu wirken anfängt. Die ionische Naturphilosophie setzt an das Epos lückenlos an. Dieser strenge organische Zusammenhang gibt der griechischen Geistesgeschichte ihre architektonische Geschlossenheit und Einheit, während z. B. die Entstehung der mittelalterlichen Philosophie nicht an das ritterliche Epos anknüpft, sondern auf der schulmäßigen Übernahme der antiken Philosophie an den Universitäten beruht, welche in Mittel- und Westeuropa Jahrhunderte hindurch weder auf die adlige noch auf die ihr folgende bürgerliche Kultur einen Einfluß übt. (Die große Ausnahme ist Dante, der theologische, ritterliche und bürgerliche Bildung in sich vereinigt.) Es ist wirklich nicht leicht zu sagen, wodurch sich die Lehre des homerischen Dichters daß der Okeanos der Ur1

2 201 (302), 246

[1/207/

207

sprung aller Dinge sei, von der des Thaies unterscheidet, für dessen Ansicht vom Wasser als Urprinzip der Welt die anschauliche Vorstellung des unerschöpflichen Weltmeeres zweifellos mitbestimmend war. In Hesiods Theogonie waltet allenthalben der eigenwilligste konstruktive Verstand und die ganze Folgerichtigkeit rationaler Ordnung und Fragestellung. Anderseits steckt in seiner Kosmologie noch eine ungebrochene Kraft mythenbildender Anschauung, die weit über die Grenze hinaus, bei der wir gewohnt sind das Reich der 'wissenschaftlichen' Philosophie zu beginnen, in den Lehren der 'Physiker' wirksam bleibt, und ohne die wir die staunenswerte weltanschauliche Produktivität dieser ältesten Wissenschaftsperiode gar nicht begreifen könnten. Die verbindenden und scheidenden Naturkräfte in der Lehre des Empedokles, Liebe und Haß, sind von der gleichen geistigen Herkunft wie der kosmogonische Eros des Hesiod. Der Beginn der wissenschaftlichen Philosophie fällt also weder mit dem Anfang des rationalen noch mit dem Ende des mythischen Denkens zusammen. Urechte Mythogonie treffen wir noch im Kerne der Philosophie des Plato und Aristoteles 1 wie im platonischen Seelenmythos oder in der aristotelischen Anschauung von der Liebe der Dinge zu dem unbewegten Beweger der Welt. Mythische Anschauung ohne jedes formende Element des Logos ist noch blind, und logische Begriffsbildung ohne jeden lebendigen Kern ursprünglicher mythischer Anschauung wird leer, so könnte man in sinngemäßer Umprägung eines Satzes von K a n t sagen. V o n diesem Standpunkt aus muß man die Geschichte der Philosophie der Griechen als den Prozeß der fortschreitenden Rationalisierung des ursprünglichen, im Mythos ruhenden religiösen Weltbildes betrachten. Denken wir dieses Bild als in konzentrischen Daseinskreisen sich aufbauend von der Äußerlichkeit der Peripherie bis zur Innerlichkeit des Zentrums, so verläuft der Prozeß der Besitzergreifung der Welt durch das rationale Denken in Form eines schrittweise vor sich gehenden Eindringens von den äußeren Sphären in die tiefer nach innen liegenden, bis der Mittelpunkt, die Seele, bei 1

208

V g l . meinen Aristoteles S. 48, 50, 152 u. ö. [I/208J

Plato und Sokrates erreicht ist und von diesem Punkte her eine rückläufige Bewegung einsetzt bis zum Ausgang der antiken Philosophie im Neuplatonismus. Gerade der platonische Seelenmythos hat in sich die Kraft gehabt, der restlosen Auflösung des Seins in das Rationale Widerstand zu leisten, j a von sich aus den rationalisierten Kosmos von innen her neu zu durchdringen und fortschreitend sich zu unterwerfen. Hier setzt dann die Aufnahme der christlichen Religion ein, die gleichsam ein gemachtes Bett vorfand. Es ist ein oft erörtertes Problem, wie es kommt, daß die griechische Philosophie mit der Frage nach der Natur und nicht mit dem Menschen beginnt. Um sich diese sehr bedeutsame und folgenreiche Tatsache verständlich zu machen, hat man versucht die Geschichte zu korrigieren und die Anschauungen der ältesten Naturphilosophen aus dem Geiste der religiösen Mystik herzuleiten. Aber dadurch wird das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben. Es löst sich auf, sobald wir erkannt haben, daß es nur aus der falschen Verengung des Horizontes auf die sogenannte Philosophiegeschichte entstanden ist. Nehmen wir zu der Naturphilosophie hinzu, was in der ionischen Poesie seit Archilochos und in den solonischen Dichtungen auf ethischpolitischem und religiösem Gebiet an aufbauender Gedankenarbeit geleistet ist, so wird klar, daß wir nur die trennenden Schranken zwischen Poesie und Prosa abbrechen müssen, um ein volles Bild des werdenden philosophischen Denkens zu erhalten, das auch den Bereich des Menschlichen mitumschließt. Nur daß die Staatsauifassung ihrer Natur nach immer unmittelbar praktisch bleibt, während die Forschung nach der Physis oder Genesis, dem „Ursprung", um der „Theoria" selbst willen getrieben wird. Theoretisch wurde das Problem des Menschen von den Griechen erst erfaßt, nachdem sich an den Fragen der Außenwelt, vor allem der Medizin, und der mathematischen Anschauung der Typus einer exakten Techne gebildet hatte, der der Erforschung des inneren Menschen als Vorbild dienen konnte. Wir werden dabei an das Wort Hegels erinnert: Der Weg des Geistes ist der Umweg. Während die Seele des Orients in ihrer religiösen Sehnsucht unmittelbar in den Abgrund des Gefühls untertaucht, aber dort nirgendwo festen [1/209]

209

Boden findet, entdeckt das Auge des an der Gesetzmäßigkeit des äußeren Kosmos gebildeten Griechengeistes in der Folge bald auch das innere Gesetz der Seele und gelangt zur objektiven Anschauung eines inneren Kosmos. Diese Entdeckung hat im kritischen Augenblick der griechischen Geschichte den A u f b a u einer neuen Erziehung des Menschen auf der Grundlage des philosophischen Erkennens, wie Plato ihn sich als Ziel setzte, überhaupt erst möglich gemacht. Es liegt also in der Priorität der Naturphilosophie vor der Philosophie des Geistes ein tiefer geschichtlicher 'Sinn', der gerade vom Standpunkt der Bildungsgeschichte aus deutlich zutage tritt. Das aus der Tiefe hervorbrechende Denken der großen alten Ionier ist nicht bewußtem erzieherischem Wollen entsprungen, aber es stellt sich mitten im Zerfall des mythischen Weltbildes und im Chaos der Gärung einer neuen menschlichen Gemeinschaft aufs neue dem in Frage gestellten Sein unmittelbar gegenüber. Was an der menschlichen Gestalt der ersten Philosophen, die sich jedoch selbst noch nicht diesen platonischen Namen beilegten, am stärksten ins Auge fällt, ist ihre eigentümliche Geisteshaltung, die vollkommene Hingabe an die Erkenntnis, die Vertiefung in das Sein um seiner selbst willen, die den späteren Griechen und sicher auch schon den Zeitgenossen als etwas gänzlich Paradoxes erschien, aber doch zugleich die höchste Bewunderung erregte. Die gelassene Unbekümmertheit des Forschers um die Dinge, die den übrigen Menschen wichtig sind, um Geld, Ehre, j a selbst um Haus und Familie, seine scheinbare Blindheit für den eigenen Vorteil und seine Gleichgültigkeit gegen die Sensationen des Marktes haben zur Bildung jener bekannten Anekdoten über die eigenartige Lebensstimmung der ältesten Denker geführt, die dann besonders in der platonischen Akademie und in der peripatetischen Schule mit Eifer gesammelt und weitergeleitet worden sind als Beispiele und Muster des βίος θεωρητικός, den Plato als die wahre 'Praxis' des Philosophen lehrte l . In diesen Anekdoten ist der Philosoph der große, etwas unheimliche, aber doch liebenswerte Sonderling, der sich von der Gemeinschaft der übrigen Menschen ab1 V g l . meine Abhandlung über Ursprung und Kreislauf des philosophischen Lebensideals, Sitz. Beri. Akad. 1928, 390 ff.

210

[II210]

hebt oder geflissentlich absondert, um seinen Studien zu leben. Er ist weltfremd wie ein Kind, täppisch und unpraktisch und existiert außerhalb der Bedingungen von R a u m und Zeit. Der weise Thaies fällt beim Beobachten irgendwelcher Himmelserscheinungen in den Brunnen, und seine thrakische Magd verspottet ihn, er wolle die Dinge am Himmel betrachten und sehe nicht einmal, was vor seinen Füßen liege. Pythagoras, befragt wofür er lebe, antwortet: Für die Betrachtung des Himmels und der Gestirne. Anaxagoras, der beschuldigt wird, sich um seine Angehörigen und um seine Vaterstadt nicht zu kümmern, weist mit der Hand gen Himmel: Da ist mein Vaterland. Gemeint ist das den Menschen unverständliche Aufgehen in der Erkenntnis des Kosmos, der „Meteorologie", wie man damals noch in einem weiteren und tieferen Sinne sagte d. h. der Wissenschaft von den Dingen in der Höhe. Das T u n und Treiben des Philosophen ist übertrieben und verstiegen für das Empfinden des Volkes, und volkstümlich ist es bei den Griechen, sich den Grübler als einen unseligen Menschen vorzustellen, weil er περιττοί ist 1 . Das ist unübersetzbar, es streift aber sichtlich an Hybris, denn der Denker überschreitet die Neidgrenze, die dem Menschengeiste von den Göttern gezogen ist. Kühne und einsame Existenzen dieser Art, die ihrem Wesen nach immer etwas vereinzeltes blieben, konnten überhaupt nur in Ionien erwachsen, in einer Atmosphäre größter persönlicher Bewegungsfreiheit. Dort ließ man diese ungewöhnlichen Leute in Frieden, während sie in anderen Gegenden Anstoß erregten und auf Schwierigkeiten stießen. In Ionien gelangten Männer vom Schlage des Thaies von Milet schon früh zur Popularität, man überlieferte mit Interesse ihre mündlichen Aussprüche und erzählte Anekdoten von ihnen. Das beweist eine starke Resonanz, die auf ein gewisses ahnendes Verständnis für die Zeitgemäßheit solcher Erscheinungen und ihrer neuen Ideen schließen läßt. Anaximander war der erste, so viel wir wissen, der die Kühnheit hatte, seine Gedanken in ungebundener Rede aufzuzeichnen und zu verbreiten, d. h. so wie ein Gesetzgeber seine Tafeln schrieb. Damit streift der Philosoph den privaten Cha1

[H211]

Vgl. Arist. Metaph. A 2, 983 » 1

211

rakter von seinen Gedanken ab, er ist kein Ιδιώτη? mehr. Er erhebt den Anspruch auf allgemeines Gehör. Wenn wir aus dem Stil wissenschaftlicher ionischer Prosa der Folgezeit einen Rückschluß auf die Art des anaximandrischen Buches wagen dürfen, so gab er wohl in der Ichform s'einen Widerspruch gegen die geltende Meinung seiner Volksgenossen kund. Hekataios von Milet fángt seine genealogische Schrift mit den großartig naiven Worten an: „Hekataios von Milet spricht so: Die Reden der Griechen sind viele und lächerliche, ich aber, Hekataios, sage folgendes." Heraklit beginnt lapidar: „Für diesen Logos, obgleich er immer ist, haben die Menschen kein Verständnis, weder bevor sie ihn hören noch wenn sie ihn gehört haben. Obzwar alles nach diesem Logos geschieht, gleichen sie doch Unerfahrenen, so oft sie ihre Erfahrungen zu machen suchen mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, indem ich jegliches nach seiner Natur zerlege und angebe, wie es sich verhält." Der Wagemut solcher selbständigen Verstandeskritik an dem herrschenden Weltbild stellt sich gleichartig neben die Kühnheit der ionischen Dichter, die frei ihre eigenen Gefühle und Gedanken über das menschliche Leben und ihre Umwelt auszusprechen beginnen: beide sind Erzeugnisse des erwachenden Individuums. Das rationale Denken wirkt, wie es in diesem Stadium zunächst scheint, als Sprengstoff. Die ältesten Autoritäten büßen ihre Geltung ein. Richtig ist nur, was „ich" mir mit triftigen Gründen erklären, wovon „mein" Denken sich Rechenschaft geben kann. Die ganze ionische Literatur von Hekataios und Herodot, dem Schöpfer der Länder- und Völkerkunde und dem Vater der Geschichte, bis zu den für Jahrtausende grundlegenden Schriften der ionischen Ärzte ist von diesem Geist erfüllt und bedient sich dieser charakteristischen Ichform der Kritik. Aber gerade im Durchbruch des rationalen Ich vollzieht sich die folgenreichste Überwindung des Individuums, tritt im Begriff der Wahrheit ein neues Allgemeingültiges in die Erscheinung, dem jede Willkür sich beugen muß. Der Ausgangspunkt des naturphilosophischen Denkens des 6. Jhrh. war die Frage nach dem Ursprung, der „Physis", die deshalb der ganzen geistigen Bewegung und der von ihr erzeugten Form der Spekulation den Namen gegeben hat. Das ist nicht 212

[I/2Î2J

unberechtigt, wenn wir dabei nur immer der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes eingedenk sind und nicht die moderne Vorstellung von Physik hineinmischen, denn jene nach unserem Sprachgebrauch metaphysische Fragestellung blieb tatsächlich stets das treibende Motiv, und was man an physikalischer Kenntnis und Beobachtung dazunahm, ordnete sich dem durchaus unter. Gewiß bedeutete dieser Vorgang mittelbar auch die Geburt der rationalen Naturwissenschaft, aber sie blieb zunächst in die metaphysische Betrachtung gleichsam eingehüllt und kam erst allmählich dazu, sich zu verselbständigen. In dem griechischen Begriff der Physis liegt eben beides noch ungeschieden darin: die Frage nach dem Ursprung, die das Denken zwingt über die sinnlich gegebenen Erscheinungen hinauszugehen, und die Erfassung alles dessen, was aus diesem Ursprung geworden und nun vorhanden ist (τά όντα), durch erfahrungsmäßige Erkundung (ΐστορίη). Es ist ebenso selbstverständlich, daß der eingeborene Forschungstrieb der reise- und beobachtungsfreudigen Ionier dazu beitrug, die Fragestellung in die Tiefe zu treiben, wo letzte Probleme sich auftaten, wie daß die einmal gestellte Frage nach Wesen und Ursprung der Welt das Bedürfnis nach Erweiterung der Tatsachenkenntnis und Erklärung der Einzelerscheinungen fortschreitend steigerte. Bei der Nähe Ägyptens und der vorderasiatischen Länder ist es mehr als wahrscheinlich, und dies ist auch durchaus einwandfrei überliefert, daß die fortgesetzte geistige Berührung der Ionier mit der älteren Zivilisation dieser Völker nicht nur zur Übernahme ihrer technischen Errungenschaften und Feststellungen in Landesmessung, Nautik und Himmelsbeobachtung führen mußte, sondern auch die Aufmerksamkeit des geistig regsamen Seefahrer- und Kaufmannsstammes auf die tieferen Fragen lenkte, die jene Völker in ihren Weltentstehungsmythen und Göttergeschichten anders als die Griechen beantworteten. Etwas prinzipiell Neues ist es aber, wenn die Ionier die empirische Kunde der Himmels- und Naturerscheinungen, die sie vom Orient übernahmen und vermehrten, selbständig in den Dienst jener letzten Frage nach dem Ursprung und Wesen der Dinge stellten und dadurch denjenigen Bereich des Mythos, wo dieser unmittelbar an die Realität der sinnlich gegenwärtigen [1/213

J

213

Erschcinungswclt stieß, den Weltentstehungsmythos, dem theoretischen und kausalen Denken unterwarf. Dies ist der Moment der Entstehung der wissenschaftlichen Philosophie, sie ist ganz und gar die historische Tat der Griechen. Ihre Ablösung vom Mythos geht zwar nur allmählich vor sich, aber ihren wissenschaftlich-rationalen Charakter beweist schon die äußere Tatsache, daß sie als eine einheitliche Gedankenbewegung auftritt, die von einer Mehrzahl selbständig denkender, aber aneinander anknüpfender Persönlichkeiten getragen wird. Der Zusammenhang der Entstehung der ionischen Naturphilosophie mit Milet, der Metropole der ionischen Kultur, wird deutlich durch die Reihe der drei ersten Denker Thaïes Anaximander und Anaximenes, dessen Lebenszeiten an die Zerstörung Milets durch die Perser (Anfang des 5.Jhrh.) heranreicht. Ebenso sinnfällig wie die jähe Unterbrechung einer durch drei Generationen sich fortsetzenden höchsten Geistesblüte durch den brutalen Eingriff des äußeren historischen Schicksals ist in dieser stolzen Reihe großer Männer die Kontinuität ihrer Forschungsarbeit und ihres geistigen Typus, die man etwas anachronistisch als „milesische Schule" bezeichnet hat. Aber Fragestellung und Erklärungsweise bewegen sich bei den Dreien wirklich in einer bestimmten Richtung. Sie hat der griechischen Physik bis auf Demokrat und Aristoteles ihre Grundbegriffe geliefert und ihren Weg vorgezeichnet. Es sei der Geist dieser archaischen Philosophie am Beispiel der imposantesten Gestalt unter den milesischen Physikern, des A n a x i m a n d e r verdeutlicht. Er ist der einzige, von dessen Weltanschauung wir eine genauere Vorstellung gewinnen. In Anaximander offenbart sich eine erstaunliche Spannweite des ionischen Denkens. Er war der Urheber eines Weltbildes von wahrhaft metaphysischer Tiefe und strenger konstruktiver Einheit. Derselbe Mann aber war der Schöpfer der ersten Erdkarte und der wissenschaftlichen Geographie. Auch die Anfänge der griechischen Mathematik reichen in die Zeit der milesischen Philosophen zurück. Anaximanders Erd- und Weltbild ist ein Triumph des geometrischen Geistes. Es ist wie das sichtbare Symbol einer monumentalen Gradlinigkeit, die dem ganzen Wesen und Denken 214

[1/214]

des archaischen Menschen eigen ist. Die Welt Anaximanders baut sich in streng mathematischen Proportionen auf. Die Erdscheibe des homerischen Weltbildes ist für ihn nur trügerischer Schein, die tägliche Bahn der Sonne von Ost nach West läuft in Wahrheit unter der Erde weiter und führt im Osten wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Die Welt ist also keine Halbkugel sondern eine vollständige Kugel, im Zentrum liegt die Erde. Die Bahn nicht nur der Sonne sondern auch der Gestirne und des Mondes ist kreisförmig. Der äußerste Kreis ist der der Sonne, er beträgt das 27 fache, darunter der Mondkreis das i8fache des Erddurchmessers. Der Fixsternkreis ist der unterste, er beträgt also — der Text unseres Berichtes ist an dieser Stelle zerstört 1 — offenbar das 9fache des Erddurchmessers. Dieser selbst ist das 3 fache der Höhe der Erde, die die Gestalt eines flachen Cylinders hat. Dieser ruht nicht, wie das mythische Denken naiv annimmt, auf einer soliden Grundlage, sie wächst nicht aus unsichtbaren, in die Tiefe reichenden Wurzeln wie ein Baum 2 in die Luft empor, sondern sie schwebt frei im Weltraum. Es ist nicht der Luftdruck, der sie trägt, sondern sie hält sich im Gleichgewicht durch ihren nach allen Seiten gleichen Abstand von der Himmelskugel. Die gleiche mathematisierende Tendenz beherrscht das im Laufe mehrerer Forschergenerationen zustande gekommene Erdkartenbild, dem noch Herodot teils folgt teils widerspricht, und dessen Urheber er kollektiv als „die Ionier" bezeichnet. Ohne Frage schöpft er in erster Linie aus dem Werk des Hckataios von Milet, der ihm zeitlich am nächsten steht 3 , aber gerade pinakographisch steht dieser, wie ausdrücklich überliefert ist 4 , auf den Schultern Anaximanders, und gerade der schematisierende A u f b a u der Erdkarte paßt zu Anaximanders geometri1 V g l . T a n n e r y , P o u r l'histoire de la science hellène (Paris 1 8 8 7 ) S. 91 ' E r d w u r z e l n I l e s . E r g a 10, w o W i l a m o w i t z , H c s . E r g a 43 einfach die E r d t i e f e versteht, vgl. a b e r T h e o g . 728. 8 1 2 . Die orphischt: K o s m o g o n i c des P h c r e k y d c s (frg. 2 Dicls), die z. T . an uralte mythische A n s c h a u u n g e n a n k n ü p f t , spricht v o n einer ,,geflügelten F i c h t " . Sie kombiniert bereits das freie S c h w e ben, das A n a x i n i a n d e r lehrt. mit der V o r s t e l l u n g des B a u m e s , der seine W u r zeln i m U n e n d l i c h e n hat (vgl. H . Dicls, A r c h i v f. G e s c h . d. Phil. X ) . Bei P a r m c n i d e s frg. 1 5 a heißt die E r d e ..im Wasser w u r z e l n d " . = V g l . F . J a c o b y , R c a l e n z y k l . V I I 2702 f i • Anax. fig. b

[1/215]

215

schem Aufriß des Weltgebäudes und der Erdgestalt besser als zu dem Reisenden und Forscher Hekataios, der Länder und Völker durch Autopsie erkundet und vor allem den Einzelerscheinungen zugewandt ist. Herodot könnte nicht von „den Ioniern" sprechen, wenn er nicht wüßte, daß Hekataios gerade in dieser konstruktiven Art Vorgänger gehabt hatte. Ich trage daher kein Bedenken, den Grundriß des kartographischen Schemas, das wir aus Herodot, Skylax und anderen Autoren für Hekataios erschließen können, auf Anaximander zurückzuführen. Die Erdoberfläche teilt sich in zwei ungefähr gleichgroße Hälften, Europa und Asien. Ein Teil der letzteren wurde scheints als Libyen abgetrennt. Die Grenzen bilden mächtige Ströme. Europa wird außerdem von der Donau, Libyen vom Nil fast genau halbiert Herodot macht sich lustig über den konstruktiven Schematismus des Erdbildes der älteren ionischen Karten: sie zeichneten die Erde kreisrund, wie auf der Drehbank geformt und rings vom Okeanos, dem äußeren Weltmeer umflossen, das doch wenigstens im Osten und Norden noch kein menschliches Auge erschaut habe 2 . Damit ist der geometrisch-apriorische Geist dieser Weltkonstruktion ganz witzig charakterisiert. Die Zeit Herodots ist damit beschäftigt, ihre Lücken durch neue Tatsachen zu füllen und ihre Gewaltsamkeiten zu mildern oder zu beseitigen. Sie läßt nur bestehen, was empirisch wirklich festgestellt ist. Aber der große Wurf und die schöpferische Genialität ist doch auf Seiten Anaximanders und jener originalen Bahnbrecher, die ihre den Menschengeist inspirierende Erkenntnis einer durchgängigen Ordnung und Gliederung im Aufbau der Welt in der Ideensprache der von ihnen eben erst ergründeten mathematischen Zahlenproportionen auszudrücken suchten. Das Urprinzip, das Anaximandros an die Stelle des von Thaies dafür ausgegebenen Wassers setzt, das Unbegrenzte (άπειρον), zeigt dasselbe kühne Hinausgehen über die sinnliche Erscheinung. Alle Naturphilosophen sind überwältigt von dem ungeheuren Schauspiel des Werdens und Vergehens der Dinge, deren farbige Gestalt das menschliche Auge wahrnimmt. Was 1 2

216

Her. II 3 3 > I V 49 Her. I V 36

[1/216]

ist das Unerschöpfliche, woraus alles wird und wohin es wieder vergeht? Thaies glaubt, es sei das Wasser, das zu Luft verdunstet oder zu Festem gefriert, gleichsam versteint. Seine Wandlungsfähigkeit drängt sich auf. Aus dem Feuchten stammt alles Leben auf der Welt. Wir wissen nicht, welcher der alten Physiker zuerst gelehrt hat, daß auch das Feuer der Gestirne, wie noch die Stoiker glauben, sich von den Dünsten nähre, die aus dem Meere aufsteigen. Anaximenes hielt die Luft, nicht das Wasser für das Ursprüngliche und suchte so vor allem das Leben im All zu erklären; die Luft beherrsche die Welt wie die Seele den Körper, und auch die Seele sei Luft, Atem, Pneuma. Anaximander redet v o m Apeiron, das kein bestimmtes Element ist, sondern „alles in sich umschließt und alles steuert". Dies scheint sein eigener Ausdruck zu s e i n A r i s t o t e l e s nahm an ihm Anstoß, weil man von der „ M a t e r i e " besser sagen könne, sie sei in allem beschlossen, als sie umschließe alles. A b e r andere Epitheta, die vom Apeiron in dem aristotelischen Bericht gebraucht werden wie „unsterblich" und „unvergänglich" zeigen den Sinn des Aktivs unmißverständlich, und „steuern" kann nur ein Gott das All. So ist denn auch überliefert, daß das Apeiron, das immer neue Welten aus sich gebiert und in sich zurücknimmt, von dem Philosophen selbst als das Göttliche bezeichnet wurde. Der Hervorgang der Dinge aus dem Apeiron sei eine Ausscheidung aus dem uranfänglichen Allverein der Gegensätze, die sich in dieser Welt bekämpfen. Hierher gehört dann jenes großartige Wort, das einzige, das uns von Anaximander direkt überliefert ist: „Woraus aber dem Seienden sein Ursprung sei, dahinein müsse auch sein Untergang sein nach Schicksalsbestimmung. Denn es müsse eines dem andern (άλλήλοις) Strafe und Buße zahlen nach dem Richterspruch der Z e i t " . Seit Nietzsche und Erwin Rohde ist über diesen Satz viel geschrieben und viel Mystisches in ihn hineingedeutet worden 2 . Das Dasein der Dinge als solches, die Individuation soll ein Sündenfall, ein Abtrünnigwerden vom ewigen Urgrund sein, frg. 15 frg. g. Eine Ernüchterung der Auffassung brachte J . Burnet, Early Greek Philosophy (2. A . igo8) deutsch. Ausg. 44, doch er scheint mir der Großartigkeit der anaximandrischen Idee und ihrem philosophischen Sinn nicht gerecht zu werden. 1

2

[H217J

217

für das die Kreaturen Buße leiden müßten. Seitdem der richtige Text hergestellt ist (durch Aufnahme des in den alten Ausgaben fehlenden αλλήλοις) sollte es klar sein, daß es sich um etwas ganz anderes, um den Ausgleich der Pleonexie der Dinge handelt. Nicht das Dasein ist eine Schuld, das ist eine ungriechische Auffassung sondern Anaximander stellt sich leibhaftig vor, daß die Dinge unter sich im Streit liegen wie die Menschen vor Gericht. Wir sehen eine ionische Polis vor uns. Wir sehen den Markt, wo das Recht gesprochen wird, und den Richter, der auf dem Stuhle sitzt und die Buße festsetzt (τάττει). Er heißt Zeit. Wir kennen ihn aus Solons politischer Gedankenwelt, sein A r m ist unentfliehbar. Was einer der Streitenden zu viel vom anderen genommen hat, wird ihm unweigerlich wieder entzogen und dem gegeben, der zu wenig erhielt. Solons Gedanke war der: die Dike ist nicht abhängig von der menschlichen, irdischen Rechtsprechung, sie kommt auch nicht von außen als einmaliger Eingriff einer göttlichen Strafgerechtigkeit, wie es die ältere Religion Hesiods sich vorstellte, sondern sie ist ein immanent in dem Geschehen selbst sich vollziehender Ausgleich, der daher auf jeden Fall kommt, und eben diese ihre Unentrinnbarkeit ist die „Strafe des Zeus", die „göttliche Vergeltung". Anaximander geht viel weiter. Er sieht diesen ewigen Ausgleich nicht nur im Menschenleben, sondern in der ganzen Welt, an allen Wesen sich verwirklichen. Die in der menschlichen Sphäre sich zeigende Immanenz seines Vollzugs drängt ihm den Gedanken auf, daß die Dinge der Natur, ihre Kräfte und Gegensätze gleichfalls einer immanenten Rechtsordnung unterworfen sind wie die Menschen und daß nach ihr sich ihr Aufstieg und Untergang vollzieht. In dieser Form scheint sich — vom modernen Standpunkt her gesehen — der ungeheure Gedanke einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit in der Natur anzukündigen. Aber es handelt sich nicht um die bloße Gleichförmigkeit des Kausalablaufs im abstrakten Sinne unserer heutigen Wissenschaft. Was Anaximander in seinen Worten formuliert, ist eher eine Weltnorm als ein Naturgesetz im modernen Sinne zu nennen. Die Erkennt1

218

A u c h der orphische Mythos Arist. frg. 60 R . besagt etwas anderes.

[1/218]

nis dieser Norm des Geschehens in der Natur hat einen unmittelbar religiösen Sinn 1 . Sie ist nicht bloße Beschreibung von Tatsachen, sie ist Rechtfertigung des Wesens der Welt. Die Welt erweist sich durch sie als ein 'Kosmos' im großen, zu deutsch: als eine Rechtsgemeinschaft der Dinge. Sie behauptet ihren Sinn gerade im unablässigen, unentrinnbaren Werden und Vergehen, d. h. in dem was für den Lebensanspruch des naiven Menschen das Allerunbegreiflichste und am schwersten zu Ertragende in diesem Dasein ist. O b Anaximander selbst das Wort Kosmos in diesem Zusammenhang schon gebraucht hat, ist uns nicht bekannt. Bei seinem Nachfolger Anaximcnes findet es sich schon, wenn das Fragment echt ist 2 . Der Sache nach ist die Kosmosidee, wenn auch nicht genau in dem späteren Sinne, zweifellos durch die anaximandrische Vorstellung der im Naturgeschehen waltenden ewigen Dike im Prinzip gegeben. Wir können daher das Weltbild Anaximanders mit Fug als die innere Entdeckung des Kosmos bezeichnen. Denn nirgendwo anders als in den Tiefen des Menschengeistes war diese Entdeckung zu machen. Sie hat nichts zu schaffen mit Fernrohren und Sternwarten oder irgendwelcher anderen Art rein empirischer Forschung. Derselben inneren Kraft der Intuition ist die Vorstellung der Unendlichkeit der Welten entsprungen, die die Überlieferung dem Anaximander zuschreibt 3 . Ohne Frage schließt der Kosmosgedanke der Philosophie einen Bruch mit den gewohnten religiösen Vorstellungen in sich. Aber dieser Bruch ist der Durchbruch zu einer neuen überwältigenden Anschauung der Göttlichkeit des Seins inmitten des Grauses der Vergänglichkeit und Vernichtung, von welchem jenes neue Geschlecht, wie die Dichter zeigen, sich bedrängt sah. In dieser Geistestat liegen die Keime unabsehbarer philosophischer Entwicklungen. Bis auf den heutigen T a g ist j a der Begriff des Kosmos eine der wesentlichsten Kategorien unseres Weltverstehens geblieben, wenn er auch in seiner modernen naturwissenschaftlichen Verwendung immer mehr seinen meta1 Die hier gegebene Interpretation habe ich ausführlicher begründet in einem noch ungedruckten Vortrag über das Fragment des Anaximander (vgl. Sitz. Beri. Akad. 1924, 227). * Anaximcnes frg. 2. Die Echtheit bezweifelt K . Reinhardt. 3 Meine gegenüber dieser Überlieferung in der 1. Auflage dieses Werkes noch geübte Skepsis m u ß ich angesichts der Darlegungen von R . Mondolfo, L'infinito nel pensiero dei Greci (Firenze 1934) S. 4 5 " . fallen lassen.

[U219]

219

physischen Ursinn verloren hat. Gerade in Hinsicht auf die Bildung des griechischen Menschen aber faßt der Gedanke des Kosmos die Bedeutung der älteren Naturphilosophie mit symbolischer Sinnfälligkeit zusammen. Wie Solons ethisch-rechtlicher Begriff des Schuldigseins aus der Theodizee des Epos hergeleitet wird \ so erinnert die Weltgerechtigkeit Anaximanders daran, daß der griechische Begriff der Ursache (αΙτία), der für das neue Denken grundlegend wurde, ursprünglich mit dem Schuldbegriff eins ist und erst von der rechtlichen Zurechnung auf die physikalische Kausalität übertragen worden ist. Dieser geistige Vorgang hängt mit der analogischen Übertragung der aus dem Rechtsleben entlehnten Begriffssippe Kosmos, Dike und Tisis auf das Naturgeschehen eng zusammen. In das Hervorwachsen des Kausalitätsproblems aus dem Problem der Theodizee läßt das Fragment Anaximanders uns einen tiefen Blick tun. Seine Dike ist der Beginn des Prozesses der Projektion der Polis in das Weltall. Eine ausdrückliche Inbezugsetzung der menschlichen Welt- und Lebensordnung zu dem 'Kosmos' des außermenschlichen Seins finden wir bei den milesischen Denkern allerdings noch nicht. Sie lag auch nicht in der Richtung ihrer Fragestellung, die, vom Menschen zunächst völlig absehend, nur der Erforschung des ewigen Urgrunds der Dinge zugewandt war. Aber indem das Beispiel der menschlichen Daseinsordnung ihnen als Schlüssel zu der Interpretation der Physis diente, trug das von ihnen geschaffene Weltbild von Anfang an den Keim einer zukünftigen neuen Harmonie des ewigen Seins mit der menschlichen Lebenswelt und ihren Werten in seinem Schöße. Ein ionischer Denker ist auch der Samier P y t h a g o r a s , obschon er in Unteritalien wirkte. Sein geistiger Typus ist eben so schwer faßbar wie seine historische Persönlichkeit. Sein Bild hat sich mit der Entwicklung der griechischen Kultur in der Überlieferung fortgesetzt gewandelt und schillert zwischen wissenschaftlichem Entdecker, Politiker, Erzieher, Ordensgründer, Religionsstifter und Wundertäter. Heraklit hat ihn als Viel2 wisser verachtet , ähnlich wie den Hesiod, Xenophanes und Hekataios, und doch offenbar in einem besonderen Sinne, wie 1

2

220

Vgl. Solons Eunomie, Sitz. Beri. Alead. 1926, 73

frg. 4° [U22Q]

jeden der Genannten. Gemessen an der großartigen geistigen Geschlossenheit Anaximanders behält die Verbindung verschiedenartiger Wesenselemente in Pythagoras in der Tat etwas Einmaliges und Zufalliges, welche Vorstellung man sich auch von dieser Mischung machen möge. Die neuere Mode, ihn als eine Art von Medizinmann hinzustellen, wird j a keinen Anspruch auf ernstliche Widerlegung erheben. Der Tadel der Polymathie läßt darauf schließen, daß die späteren „sogenannten Pythagoreer", wie Aristoteles sie nennt, doch wohl im Recht waren, wenn sie die Anfange ihrer Art von Wissenschaft, die sie im Unterschied zu der ionischen „Meteorologie" schlechthin als Mathemata d. h. „die Studien" bezeichneten, auf Pythagoras zurückführten. Der sehr allgemeine Name umfaßt in der Tat ganz Heterogenes: die Zahlenlehre und die Elemente der Geometrie, die Anfangsgründe der Akustik und Musiktheorie und das Wissen jener Zeit über die Bewegungen der Gestirne, wozu bei Pythagoras sicher noch die Kenntnis der milesischen Naturphilosophie getreten sein wird. Daneben steht für uns ganz unvermittelt die der religiösen Sekte der Orphiker verwandte Lehre von der Seelenwanderung, die für die Person des Pythagoras sicher bezeugt ist und von Herodot auch für die älteren Pythagoreer als typisch bezeichnet wird. Mit ihr verbindet sich, was an ethischen Vorschriften auf den Stifter zurückgeht. Der ordensmäßige Charakter der von ihm gegründeten Gemeinschaft steht dem Herodot f e s t s i e hat bis zu ihrer politischen Verfolgung und Ausrottung in Unteritalien gegen Ende des 5 . J h r h . , also über hundert Jahre zusammengehalten. Die pythagoreische Auffassung der Zahl als Prinzip der Dinge ist in der streng geometrischen Symmetrie des anaximandrischen Kosmos vorgebildet. Von der reinen Arithmetik her ist sie nicht zu verstehen. Sie entsprang nach der Überlieferung aus der Entdeckung neuer Gesetzmäßigkeiten in der Natur, nämlich des Verhältnisses der Schwingungszahl zur Länge der Saiten der Leier. Aber um die Herrschaft der Zahl auf den ganzen Kosmos und auf die Ordnung des menschlichen Lebens auszudehnen, bedurfte es der kühnsten Verallgemeinerung jener Beobachtung, die an der mathematischen Symbolik der milesischen 1

Her. IV 95

[U2211

221

Naturphilosophie zweifellos eine Stütze fand. Mit mathematischer Naturwissenschaft im heutigen Sinne hat die pythagoreische Lehre nichts zu tun. Die Zahl bedeutet ihr sehr viel mehr, sie bedeutet nicht die Zurückführung der Naturvorgänge auf errechenbare quantitative Verhältnisse, sondern die verschiedenen Zahlen sind das qualitative Wesen ganz verschiedener Dinge, des Himmels, der Ehe, der Gerechtigkeit, des Kairos u. s. w. Andererseits ist es wohl eine unstatthafte Materialisation dieser ideenhaften Gleichung von Zahl und Seiendem, wenn Aristoteles sagt, nach den Pythagoreern bestünden die Dinge aus Zahlen im Sinne der Materie. Näher dürfte ihren Denkmotiven die Erklärung desselben Aristoteles kommen, daß sie in den Zahlen viele Ähnlichkeiten mit den Dingen zu erblicken glaubten und größere als in Feuer, Wasser, Erde, den Prinzipien, aus denen die bisherige Spekulation alles ableitete 1 . Die wichtigste Erläuterung der Anschauung der Pythagoreer finden wir auf einer späteren Stufe der philosophischen Entwicklung, in dem für unser Denken zunächst so seltsamen Versuch des späten Plato, seine Ideen auf Zahlen zurückzuführen. Aristoteles kritisiert daran die qualitative Auffassung des rein Quantitativen. Damit scheint er uns fast eine Trivialität auszusprechen, allein man hat richtig darauf hingewiesen, daß im griechischen ZahlbegrifF ursprünglich dieses qualitative Moment darinliegt und daß die Abstraktion des rein Quantitativen erst allmählich vor sich geht*. Vielleicht würde die Herkunft der Zahlwörter und ihre merkwürdig verschiedene sprachliche Bildung uns hierüber weitere Aufschlüsse geben, wenn man dem anschaulichen Element, das ohne Zweifel in ihnen steckt, auf die Spur kommen könnte. Wie die Pythagoreer dazu kamen, die Macht der Zahl so hoch zu werten, wird auch durch die hochgestimmten Aussprüche anderer Zeitgenossen verständlich. So nennt Prometheus bei Aischylos die Erfindung der Zahl das Meisterstück seiner kultur1 Vgl. Arist. Metaph. A 5, wo die Zeit dieser 'Pythagoreer' bestimmt wird als gleichzeitig mit bzw. vor Leukipp, Demokrit und Anaxagoras. Damit kommt man nahe an die Zeit des Pythagoras (6. Jhrh.) heran, von dem Aristoteles absichtlich keine Aussagen macht (die Ausnahme Metaph. A 5, 986 a 30 ist Interpolation). 1 J . Stenzel, Zahl und Gestalt bei Piaton und Aristoteles (3. A. Leipz. 1933), der aber die Pythagoreerfrage aus dem Spiel läßt.

222

[112221

schöpferischen Weisheit. 1 Die Entdeckung der Herrschaft der Zahl in verschiedenen wichtigen Bereichen des Seins öffnete dem nach dem Sinn der Welt forschenden Geiste eine weitere neue Bahn zu der Erkenntnis, daß in den Dingen selbst von Natur eine Norm liegt, auf die man sein Augenmerk richten müsse, und ließ ihn in einer uns spielerisch erscheinenden Spekulation die Zurückiuhrung jedes Dinges auf ein zahlmäßiges Prinzip fordern. So ist mit einer dauernden und unendlich fruchtbaren Erkenntnis wie so oft deren Mißbrauch in der Praxis eng verbunden. Alle großen Aufstiegzeiten der rationalen Erkenntnis weisen diese kühne Selbstüberschätzung auf. Vor dem pythagoreischen Denken vermag nichts stand zu halten, was sich nicht schließlich als Zahl erklären ließe. Mit der Mathematik tritt ein wesentliches neues Element der griechischen Bildung in die Erscheinung. Ihre einzelnen Teile bilden sich zuerst selbständig aus. Auch die erzieherische Fruchtbarkeit eines jeden von ihnen wird schon früh erkannt, aber erst auf einer späteren Stufe treten sie in Wechselwirkung miteinander, und es baut sich ein Ganzes aus ihnen auf. Die Bedeutung des Pythagoras als Erzieher wird von der späteren legendären Überlieferung stark in den Vordergrund gerückt. Dabei hat Plato ohne Zweifel das Vorbild geliefert, nach ihm wurde Leben und Wirken des Pythagoras von Neupythagoreern und Neuplatonikern frei ausgestaltet, und was die Neueren unter diesem Titel in behaglicher Breite darstellen, ist fast nur diese kritiklos hingenommene spätantike Erbauungsweisheit. Aber ein Kern historischer Wahrheit liegt dieser Auffassung doch zugrunde. Es handelt sich dabei nicht um eine bloße persönliche Lebensstimmung, sondern das erzieherische Ethos wurzelt in dem objektiven Wesen der neuen, in unsrer Tradition durch Pythagoras repräsentierten Erkenntnisse. Es strahlt besonders von der normativen Seite der mathematischen Forschung aus. Man braucht nur an die Bedeutung der Musik fiir die frühgriechische Bildung und an die nahe Beziehung der pythagoreischen Mathematik zur Musik zu erinnern, um zu sehen, daß aus dem Einblick in die Zahlengesetze der Tonwelt alsbald die erste philo1

Aesch. Prom. 459

11/223]

223

sophische Theorie der erzieherischen Wirkung der Musik entspringen mußte. Die Verbindung zwischen Musik und Mathematik, die Pythagoras gestiftet hat, ist seither fester Besitz des griechischen Geistes geblieben. Gerade aus dieser Ehe sind die für das bildnerische Denken der Griechen fruchtbringendsten und weittragendsten Begriffe erwachsen. Mit einem Male ergießt sich über alle Gebiete des Daseins jetzt ein Strom neuer normativer Erkenntnisse, der sich offenbar aus dieser Quelle nährt. Das 6 . J h r h . ist die Geburtsstunde für alle jene wunderbaren Grundbegriffe des griechischen Geistes, die uns wie eine A r t Symbol seiner tiefsten Eigenart geworden sind und von seinem Wesen unabtrennbar zu sein scheinen. Sie waren nicht von Anfang an vorhanden, sondern sind in geschichtlich notwendiger Folge ans Licht getreten. Die neue Einsicht in die Struktur der Musik ist einer der entscheidenden Augenblicke in dieser Entwicklung. Die Erkenntnis des Wesens von Harmonie und Rhythmus, die ihr entsprungen ist, würde allein genügen, den Griechen die Unsterblichkeit in der Geschichte der menschlichen Bildung zu sichern. Die Möglichkeit der Anwendung dieser Erkenntnis auf alle Lebensgebiete ist fast unbegrenzt. Wie in der lückenlosen Kausalität des solonischen Rechtsglaubens tut sich hier eine zweite Welt strenger Gesetzmäßigkeit auf. Wenn Anaximander die Welt als einen Kosmos der Dinge schaut, in dem eine unverbrüchliche absolute Rechtsnorm herrscht, so stellt sich der pythagoreischen Weltbetrachtung das Prinzip dieses Kosmos als Harmonie dar. W a r dort die — im Sinne des 'Rechts' der Existenz — kausale Notwendigkeit des Geschehens in der Zeit erfaßt, so wird in der Idee der Harmonie mehr die strukturhafte Seite der kosmischen Gesetzlichkeit bewußt. Die Harmonie drückt sich im Verhältnis der Teile zum Ganzen aus, dahinter steht der mathematische Begriff der Proportion, die sich dem Denken der Griechen in geometrisch anschaulicher Form darstellt. Wenn von der Harmonie der Welt gesprochen wird, so ist das ein komplexer Begriff, in dem sowohl die musikalische Bedeutung enthalten ist, die Vorstellung des schönen Zusammenklangs der Töne, wie die Vorstellung zahlenmäßiger Strenge, geometrischer Regelmäßigkeit und tektonischer 224

[U224J

Gliederung. Unabsehbar ist die Wirkung des Harmoniegedankens auf alle Seiten des griechischen Lebens in der Folgezeit. Er ergreift die bildende und bauende Kunst wie die Dichtung und Rhetorik, die Religion und Ethik. Überall erwacht das Bewußtsein, daß es auch im produktiven und praktischen Tun des Menschen eine strenge Norm des Passenden (-πρέπον, άρμόττον) gibt, die man ebensowenig wie die des Redits ungestraft übertritt. Nur wer die unumschränkte Herrschaft dieser Begriffe im griechischen Denken der klassischen und Spätzeit nach allen Seiten übersieht, macht sich von der normschaffenden Wirkung der Entdeckung der Harmonie eine zutreffende Vorstellung. Die Begriffe des Rhythmus, des Maßes, des Verhältnisses stehen mit ihr in engem Zusammenhang oder empfangen durch sie bestimmteren Inhalt. Wie von dem Gedanken des Kosmos gilt auch von Harmonie und Rhythmus, daß ihre Entdeckung in der „Natur des Seienden" die notwendige Vorstufe ist zu ihrer Übertragung auf die Innenwelt des Menschen und auf die Probleme des Lebensaufbaus. Wir wissen nicht, welches das innere Band zwischen, der mathematischen und musikalischen Spekulation und der Seelenwanderungslehre des Pythagoras war. Wie das philosophische Denken jener Zeit schon seiner Natur nach metaphysisch ist, so dringt mit dem aus dem Bereich des Irrationalen stammenden Seelenmythos religiöser Glaube von außen herein. Wir wollen hier die verwandte Lehre der Orphiker mit heranziehen, wahrscheinlich war sie die Quelle für die Seelenvorstellung des Pythagoras. Auch die späteren Philosophen zeigen sich von ihr mehr oder minder stark berührt. Das 6.Jhrh., das nach dem auflösenden Naturalismus des 7. die Zeit der entscheidenden Kämpfe um einen neuen geistigen Lebensaufbau ist, bedeutet nicht nur durch den Ernst des philosophischen Ringens sondern auch religiös einen gewaltigen Aufschwung. Die orphische Bewegung ist eines der mächtigsten Zeugnisse dieser aus dumpfer Volkstiefe neu hervorbrechenden Innerlichkeit. Im Suchen nach einem höheren Sinn des Lebens berührt sie sich mit dem Bemühen des rationalen Denkens um die philosophische Erfassung einer objektiven 'Weltnorm' im kosmischen Sein. Der dogmatische Gehalt des orphischen Glau-

[H22i]

225

bens ist freilich nicht sehr erheblich, die Neuzeit hat ihn stark überschätzt und viel Spätantikes hineingedeutet, um ein Bild zu gewinnen, das ihren a priori feststehenden Begriffen von einer Erlösungsreligion genügte. Doch im orphischen Seelenglauben dämmert ein neues menschliches Lebensgefiihl auf und eine neue Form der Selbstgewißheit. Im Gegensatz zum homerischen Seelenbegriff liegt im orphischen ein ausgesprochen normatives Element. Der Glaube an die göttliche Herkunft der Seele und an ihre Unvergänglichkeit schließt die Forderung ihrer Reinhaltung in ihrem gegenwärtigen leibgebundenen Erdenzustand in sich. Der Gläubige fühlt sich zur Rechenschaft über sein Leben verpflichtet. Wir sind dem Gedanken der Rechenschaft schon bei Solon begegnet. Dort war es die soziale Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Staatsganzen, hier stoßen wir auf eine zweite Quelle der ethischen Rechenschaftsforderung: die religiöse Reinheitsidee. Die ursprünglich nur rituell gedachte Reinheit wird jetzt ins Sittliche umgedeutet. Sie ist nicht mit der asketischen Reinheit des späteren Spiritualismus zu verwechseln, dem der Leib an sich böse ist, aber gewisse Ansätze der Enthaltungsaskese sind schon in der Orphik und bei den Pythagoreern vorhanden, vor allem die Vorschrift der Enthaltung von aller Fleischkost. Auch die Entwertung des Leibes beginnt schon mit der schroffen Entgegensetzung von Leib und Seele, die aus der Vorstellung der Herabkunft der Seele als göttlicher Gast in diese irdische Sterblichkeit folgt. Doch wurde Reinhaltung und Befleckung von den Orphikern anscheinend ganz im Sinne der Innehaltung oder Übertretung des staatlichen Gesetzes verstanden. Auch im altgriechischen „heiligen Recht" gab es den Begriff des Reinen. Man brauchte seinen Geltungsbereich nur weiter auszudehnen, dann konnte die orphische Reinheitsidee den gesamten Inhalt des herrschenden Nomos in sich aufnehmen. Das bedeutet dann freilich nicht ihre Auslieferung an eine bürgerliche Ethik im modernen Sinne, denn der griechische Nomos ist göttlichen Ursprungs, auch in seiner neuen, äußerlich rationalen Form. Aber er erhält durch seine Einschmelzung in die orphische Reinheitsidee eine neue, vom Heil der göttlichen Einzelseele aus gesehene Begründung. Die offenbar sehr schnelle Ausbreitung der orphischen Be226

[1/226]

wegung in Griechenland und in den Kolonien erklärt sich nur dadurch, daß sie einem tiefen Bedürfnis des Menschen dieser Zeit entgegenkam, das die kultische Religion nicht befriedigen konnte. Auch die übrigen frischen religiösen Impulse der Zeit, die ungeheuer steigende Macht des Dionysoskultes und die apollinische Lehre von Delphi offenbaren das Anwachsen des persönlichen religiösen Bedürfnisses. Die enge Nachbarschaft, die Apollon und Dionysos im delphischen Kultus einigte, bleibt zwar religionsgeschichtlich ein Rätsel, doch die Griechen haben offensichtlich in diesen beiden polaren Gegensätzen etwas Gemeinsames gefühlt, und das liegt zu der Zeit, wo wir sie dort nebeneinander finden, in der Weise ihrer Wirkung auf das Innere des Gläubigen. Kein andrer Gott griff so tief in das persönliche Verhalten ein wie diese beiden. Man möchte glauben, daß die begrenzende, ordnende und klärende Macht des apollinischen Geistes die Menschen kaum so tief bewegt hätte, wenn nicht die alle bürgerliche Eukosmie erschütternde, seelenaufwühlendc dionysische Erregung ihr den Boden gelockert hätte. Die delphische Religion ist damals innerlich so lebendig, daß sie sich fähig erweist, alle aufbauenden Kräfte der Nation an sich zu ziehen und in ihren Dienst zu stellen. Die „sieben Weisen" wie die mächtigsten Könige und Tyrannen des 6. J h r h . erkennen den weissagenden Gott als die höchste Instanz des richtigen Rates an. Im 5. J h r h . sind Pindar und Herodot am tiefsten vom delphischen Geist ergriffen und seine Hauptzeugen. Selbst in seiner Blütezeit im 6. J h r h . hat er seinen Niederschlag nicht in bleibenden religiösen Urkunden gefunden. Aber in Delphi hat die griechische Religion damals als erzieherische Macht ihren höchsten Einfluß erreicht, der sich weit über die Grenzen von Hellas hinaus erstreckte. Berühmte Aussprüche weltlicher Weisen wurden dem Apollon geweiht, denn sie erschienen nur wie ein Echo seiner göttlichen Weisheit, und an der Pforte seines Tempels ermahnte den Eintretenden das Wort „Erkenne dich selbst", das die Lehre der Sophrosyne, die Mahnung, die Grenzen des Menschen im Auge zu halten, mit der den Geist der Zeit kennzeichnenden gesetzgeberischen Kürze einprägt. Man begreift die griechische Sophrosyne schlecht, wenn man sie als Ausdruck einer angeborenen Natur, einer durch [1/227]

227

nichts störbaren harmonischen Wesensart versteht. Um das einzusehen braucht man sich nur zu fragen, warum sie gerade in jener Zeit so gebietend hervortritt, vor deren Fuße plötzlich alle Abgründe des Daseins in ungeahnter Tiefe wieder aufbrachen, vor allem die des menschlichen Innern. Das apollinische Maß ist nicht die Losung spießbürgerhafter Ruhe und Sattheit. Der individualistischen Selbstentschränkung des Menschen wird damit ein Damm gezogen, es wird zum schwersten Frevel am Göttlichen, nicht „Menschliches zu denken", sondern allzu hoch zu streben. Der ursprünglich nur der irdischen Rechtssphäre angehörige, ganz konkret gedachte Begriff der Hybris, die nichts anderes besagte als das Gegenteil der Dike, erweitert sich jetzt nach der religiösen Seite. Er schließt jetzt auch die Pleonexie des Menschen gegenüber der Gottheit mit ein, j a dieser neue Begriff der Hybris wird zum klassischen Ausdruck des religiösen Gefühls der Zeit der Tyrannen. Dies ist die Bedeutung, in der das Wort in unsere Sprache übergegangen ist; zusammen mit der Anschauung vom Neide der Götter hat es die Vorstellungen weiterer Kreise von griechischer Religion lange Zeit am stärksten bestimmt. Das Glück der Sterblichen ist wandelbar wie der Tag, so soll auch des Menschen Sinn nicht auf zu Hohes gerichtet sein. Aber das Glücksbedürfnis des Menschen schafft sich aus dieser tragischen Erkenntnis einen Ausweg in die Welt seines Inneren, sei es in die Selbstentrückung dionysischen Rausches, der sich auch so als das Komplement apollinischen Maßes und apollinischer Strenge erweist, sei es in den orphischen Glauben, daß des Menschen bestes Teil die „Seele" ist und daß sie zu höherem und reinerem Los bestimmt ist. Wenn der nüchternernste Blick des wahrheitsuchenden Geistes in die Tiefe der Natur eben damals dem Menschen das Bild des unaufhörlichen Werdens und Vergehens vor Augen führt, wenn er ihm nichts anderes zeigt als das Walten eines um den Menschen und sein kleines Dasein unbekümmerten Weltgesetzes, das mit seiner ehernen „Gerechtigkeit" über unser kurzes Glück hinwegschrcitet, so erwacht im Herzen des Menschen die innere Gegenkraft, der Glaube an seine göttliche Bestimmung. Die Seele, das von keinem Naturerkennen Faßbare in uns und dingfest zu 228

[II228]

machende, erklärt sich für einen Fremdling in dieser unwirtlichen Welt und sucht nach einer ewigen Heimat. Die Phantasie des Einfältigen malt sich Bilder eines Zukunftslebens im Jenseits in sinnlichen Freuden, der Geist des Edlen ringt um seine Selbstbehauptung inmitten des Strudels der Welt im Hoffen auf Erlösung durch Vollendung seines Weges. Beide aber sind einig in der Gewißheit ihrer höheren Bestimmung, und der Fromme, der im Jenseits anlangt, wird als Kennwort an der Pforte jener Welt den Glauben bekennen, auf den hin er gelebt und das Leben getragen hat: „Auch ich bin göttlichen Geschlechts" Auf den orphischen Goldplättchen, die wir als Totenpaß für die Reise ins Jenseits in unteritalischen Gräbern mehrfach gefunden haben, stehen diese Worte als Legitimation eingegraben. In der Entwicklung des menschlichen Persönlichkeitsbewußtseins war der orphische Seelenbegriff eine wesentliche Stufe. Die philosophische Anschauung des Plato und Aristoteles von der Göttlichkeit des Geistes und die Unterscheidung des bloß sinnenhaften Menschen von seinem eigentlichen Selbst, das zu vollenden sein Beruf ist, wäre ohne ihn nicht zu denken. Es genügt, auf einen einzigen Philosophen wie Empedoklps zu verweisen, der von orphischem Göttlichkeitsbewußtsein erfüllt ist, um die fortdauernde Affinität der neuen Religion mit den Fragen des philosophischen Denkens zu beweisen, die bei Pythagoras zuerst sichtbar wird. Empedokles hat gerade in seinem orphischen Gedicht, den 'Reinigungen', Pythagoras verherrlicht. In Empedokles durchdringen sich der orphische Seclenglaube und die ionische Naturphilosophie. Seine Synthese zeigt sehr aufschlußreich die gegenseitige Ergänzung dieser beiden Anschauungswelten in einer und derselben Person. Wie ein Symbol dieser Ergänzung ist das Bild, das Empedokles von dem Hin- und Hergeworfenwcrden der Seele im Wirbel der Elemente gibt: Luft, Wasser, Erde und Feuer stoßen sie aus und schleudern sie sich gegenseitig zu. „So bin auch ich jetzt ein von Gott Verbannter und irrend Umherschweifender" 2. Die Seele findet in dem Kosmos der Naturphilosophie nirgendwo den ihr zukommenden Platz, aber sie rettet sich in ihre religiöse Selbstgewiß1 2

[Ii229]

Diels, Vorsokratiker* II 175 (Orpheus frg. 17 fr.). Empcd. frg. 115, 13 229

hcit. Erst wo sie sich wie bei Heraklit mit dem philosophischen Kosmosgedanken selbst verbindet, kann dieser dem metaphysischen Bedürfnis des religiösen Menschen voll genügen. Mit dem zweiten der großen ionischen Auswanderer, die im griechischen Westen ihr Wirkungsfeld fanden, X e n o p h a n e s von Kolophon, verlassen wir die Reihe der strengen Denker. Die milesische Naturphilosophie ist aus der reinen Forschung entsprungen. Indem Anaximander seine Lehre als Buch zugänglich macht, vollzieht seine Spekulation jedoch bereits die Wendung zur Öffentlichkeit. Pythagoras ist Stifter eines Bundes, der sich die Verwirklichung der Lebensvorschriften des Meisters zum Ziel setzt. Das sind Ansätze zum Erzieherischen, das der philosophischen Theoria von Haus aus fern lag. Aber sie griff mit ihrer Kritik so tief in alle geltenden Anschauungen ein, daß ihre Abkapselung von dem übrigen Geistesleben unmöglich war. Wie die Naturphilosophie von der gleichzeitigen Bewegung in Staat und Gesellschaft die fruchtbarsten Anregungen erhielt, so gab sie das Empfangene vielfaltig zurück. Xenophanes ist Dichter, in ihm ergreift der philosophische Geist Besitz von der Poesie. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß er beginnt eine Bildungsmacht zu werden, denn die Dichtung bleibt nach wie vor der eigentliche Ausdruck der Bildung der Nation. Die Totalität der menschlichen Wirkung der Philosophie, die Verstand und Gefühl gleichmäßig erfaßt, wird in ihrem Drängen nach dichterischer Form sichtbar, zugleich ihr Anspruch auf geistige Herrschaft. Die neue von Ionien kommende Prosa dehnt ihren Bereich nur allmählich aus und hat nicht den gleichen Widerhall, schon weil sie durch den Dialekt an einen engeren Kreis gebunden ist als die Poesie, die sich der Sprache Homers bedient und dadurch panhellenisch ist. Und panhellenisch ist die Wirkung, die Xenophanes für seine Gedanken erstrebt. Selbst ein strenger Begriffsdenker wie Parmenides oder ein Naturphilosoph wie Empedokles greifen zur hesiodischen Form des Lehrgedichts, vielleicht durch den Vorgang des Xenophanes ermutigt, der zwar weder ein eigentlicher Denker war noch jemals ein Lehrgedicht über die Natur geschrieben hat, wie man es ihm vielfach nachsagt, aber doch ein Bahnbrecher der dichterischen Darstellung philosophischer 230

[1/230]

Lehre wurde indem er in seinen Elegien und den Sillen, einer neuen Art von Spottgedicht, die aufgeklärten Ansichten der ionischen Physik volkbekannt machte und in ihrem Geiste den offenen K a m p f gegen die herrschende Bildung aufnahm. Die Bildung — das hieß vor allem Homer und Hesiod. Xenophanes spricht es selbst aus: von Homer haben alle von altersher gelernt 2 . Er ist deshalb das Zentrum des Angriffs im K a m p f um eine neue Bildung. Die Philosophie hat das homerische Weltbild durch eine natürliche und regelmäßige Erklärung der Erscheinungen ersetzt. Xenophanes' dichterische Phantasie ist ergriffen von der Größe dieser neuen Weltanschauung. Sie bedeutet ihm den Bruch mit dem Polytheismus und Anthropomorphismus der Götterwelt, die Homer und Hesiod den Griechen — nach Herodots bekanntem Wort — geschaffen haben. Alle Schändlichkeiten habeti sie auf ihre Götter gehäuft, ruft Xenophanes, stehlen, ehebrechen und einander betrügen3. Sein Gottesbegriff, den er mit dem enthusiastischen Pathos der neuen Wahrheit verkündet, fällt mit dem Weltall zusammen. Es gibt nur einen Gott, der weder an Gestalt noch an Geist den Sterblichen vergleichbar ist. Er ist ganz Sehen, ganz Hören, ganz Denken. O h n e Anstrengung, nur durch das reine Denken, hat er das All in der Gewalt. Er eilt nicht geschäftig hin und her wie die Götter des Epos, sondern er ruht unbewegt in sich. Menschenwahn ist es, d a ß die Götter geboren werden und d a ß sie Menschengestalt und -Kleidung haben. H ä t t e n Rinder, Pferde und Löwen H ä n d e und könnten damit malen wie die Menschen, sie würden der Götter Gestalten und Körper nach ihrem Bilde malen: als Rinder und als Pferde. Die Neger glauben an stumpfnasige und schwarzfarbige Götter, die Thraker an blauäugige und rothaarige 4 . Die ganzen 1 Auf das Verhältnis des Xenophanes zu Parmenides gehe ich hier nicht ein; ich gedenke es demnächst anderweitig zu behandeln. K . Reinhardt, Parmenides (Bonn 1916) hat die gewöhnliche Ansicht widerlegt, die in Xenophanes den Begründer des Eleatismus sah, macht ihn aber, wie mir scheint, nicht mit Recht nun umgekehrt von Parmenides abhängig. Seine populäre Philosophie scheint mir überhaupt kein bestimmtes System vor Augen zu haben, auch nicht in seiner Lehre von dem einen Gott-All. Zur Frage des Lehrgedichts vgl. Burnet a. O. 102. 1 Xenoph. frg. 9 Diehl 3 frg. 10—11 4 frg. 19—22, 12—14

[1/231}

231

Vorgänge der Außenwelt, die die Menschen als Wirkungen der Götter auffassen und vor denen sie zittern, beruhen auf natürlichen Ursachen. Der Regenbogen ist nur eine farbige Wolke, das Meer ist der Mutterschoß aller Gewässer, Winde und Wolken. „Aus Erde und Wasser sind wir alle entstanden." „Erde und Wasser ist alles, was wird und wächst." „Aus Erde wird alles und zur Erde kehrt alles zurück." Die Kultur ist nicht ein Geschenk der Götter an die Sterblichen, wie es der Mythos lehrt, sondern die Menschen selbst haben durch ihr Suchen alles gefunden und immer mehr vervollkommnet 1 . Von allen diesen Gedanken ist nicht ein einziger neu. Anaximander und Anaximenes haben im Prinzip nicht anders gedacht, sie sind die eigentlichen Schöpfer dieser natürlichen Weltanschauung. Aber Xenophanes ist ihr feuriger Vorkämpfer und Verkünder. Sie hat ihn nicht nur mit ihrer alles Alte zermalmenden Wucht, sondern auch mit ihrer neuschöpferischen religiösen und sittlichen Kraft erfaßt. Mit dem beißenden Spott über die Unzulänglichkeiten des homerischen Welt- und Gottesbildes geht bei ihm der Aufbau des neuen würdigeren Glaubens zusammen. Gerade die umwälzende Wirkung der neuen Wahrheit für Leben und Glauben des Menschen macht sie zur Grundlage einer neuen Erziehung. Der Kosmos der Naturphilosophie wird in rückläufiger Bewegung der geistigen Entwicklung jetzt zum Urbild der Eunomie in der menschlichen Gemeinschaft, in ihm wird die Polisethik metaphysisch verankert. Xenophanes hat noch andere als philosophische Gedichte geschrieben, ein Epos 'Gründung Kolophons' und eine 'Gründung der Kolonie Elea'. In dem ersteren hat der unstete Mann, der in einem seiner Gedichte als Greis von 92 Jahren auf ein ruheloses Wanderleben von 67 Jahren zurückblicken konnte 2 , das wahrscheinlich mit der Auswanderung von Kolophon nach Unteritalien begann, seiner alten Heimat ein Denkmal gesetzt. Vielleicht war er an der Gründung von Elea selbst beteiligt gewesen. Jedenfalls steckte auch in diesen anscheinend unpersönlichen Werken mehr eignes Fühlen als es üblich war. Die philosophischen Gedichte sind ganz aus dem persönlichen Er1 8

232

frg. 23—29; 16 Diehl frg· 7 [V232]

lebnis der neuen, tief erregenden Lehren geboren, die er aus Kleinasien in seine großgricehischc und sizilische Umgebung mitbrachte. M a n hat Xenophancs als Rhapsoden aufgefaßt, der auf offenem Markte den Homer rezitierte, im engeren Kreis aber seine eignen Spottgedichte gegen Homer und Hesiod vortrug. Das verträgt sich schlecht mit der Einheit seiner Persönlichkeit, die j e d e m seiner erhaltenen Worte ihr unverkennbares Siegel aufdrückt. Es beruht auch nur auf Mißdeutung der Überlieferung. E r stellt seine Gcdichte mitten in die Öffentlichkeit seiner Zeit, wie das große Gelagegedicht z e i g t 1 . Es ist das feierliche Bild des archaischen Symposion, das noch von tiefernster religiöser Weihe erfüllt ist. J e d e r kleine Zug des kultischen Hergangs, auf den des Dichters Auge trifft, wird in seiner Schilderung zu höherer Bedeutung geadelt. Das Symposion ist noch die Stätte hoher Überlieferung von den großen Taten der Götter und den Vorbildern männlicher Tugend. D a befiehlt X e n o phanes zu schweigen von häßlichem Götterzwist und Kämpfen der Titanen, Giganten und Kentauren — Erfindungen der V o r zeit, wie andere Sänger sie beim Mahle gerne verherrlichten, vielmehr die Götter zu ehren und das Gedächtnis der wahren Arete lebendig zu halten. Was er mit der Ehrung der Götter meint, hatte er in anderen Liedern gesagt, wir entnehmen nur dieser Äußerung, daß die Kritik der hergebrachten Göttervorstellung in seinen erhaltenen Gedichten Gelagepoesie war. Sie ist von dem erzieherischen Geist des archaischen Symposion durchdrungen. Mit dem Gedanken der Arete, der dort seine Pflege findet, verbindet sich ihm die neue reinere Gottesverehrung und die Erkenntnis der ewigen Ordnung im Weltall. I h m wird die philosophische Wahrheit die Führerin zur wahren menschlichen Arete. Ein zweites größeres Gedicht, das derselben Frage gilt, ist hier einzuordnen. Es zeigt Xenophanes im leidenschaftlichen K a m p f um die Geltung seines neuen Aretebegriffs 2 . Dieses Gedicht ist ein bildungsgeschichtliches Dokument ersten Ranges, wir können deshalb seine genauere Besprechung hier nicht umgehen. Es versetzt uns in eine von der sozial aufgelockerten 1 2

[H233]

frg. ι Diehl frg. 2 233

ionischen Heimat des Dichters grundverschiedene Welt von altertümlich aristokratischem Gesellschaftsgefüge. Das ritterliche Mannesideal des Olympioniken steht auch hier in ungeschwächter Geltung, wie es in Pindars Chorliedern zu derselben Zeit noch einmal in tiefem Glanz aufleuchtet, um dann mehr und mehr zu verblassen. Xenophanes ist durch den Einbruch der Meder in Kleinasien und durch den Untergang seiner Vaterstadt vom Schicksal in diese ihm wesensfremde Welt des griechischen Westens verschlagen, in der er während der fast sieben Dezennien seit seiner Auswanderung doch niemals Wurzel gefaßt hat. Man hat in allen Städten Griechenlands, in denen er auftrat, seine Verse bewundert, seine neuen Lehren mit Staunen vernommen. Er hat wohl auch an der Tafel vieler Reichen und Vornehmen gesessen, wie ihn die bekannte Anekdote in witzigem Gespräch mit dem Tyrannen Hieron von Syrakus zeigt, aber nirgendwo findet in dieser Umgebung der geistige Mensch als solcher die selbstverständliche Würdigung und hohe soziale Achtung, die er in dem heimatlichen Ionien genießt: er bleibt vereinzelt. Nirgendwo in der Geschichte der griechischen Kultur sehen wir klarer mit eigenen Augen den unabwendbaren feindlichen Zusammenstoß der althellenischen Adelsbildung und des neuen philosophischen Menschen, der hier zum erstenmal um seinen Platz in der Gesellschaft und im Staate ringt und mit einem eigenen Ideal der menschlichen Bildung hervortritt, das allgemeine Anerkennung heischt. Sport oder Geist, in diesem Entweder •— Oder liegt die ganze Stoßkraft des Angriffs. Zwar scheint der Angreifer an den starren Mauern der Tradition abprallen zu müssen, aber sein Kampfruf klingt wie Siegesjubel, und die weitere Entwicklung hat seiner Zuversichtlichkeit Recht gegeben: sie hat die Alleinherrschaft des agonalen Ideals gebrochen. Xenophanes ist nicht imstande wie Pindar in jedem olympischen Wettsieg, sei es im Ring- oder Faustkampf, im Lauf oder Wagenrennen die Offenbarung göttlicher Arete des Siegers zu sehen. „Die Stadt überhäuft den Sieger in den Wettkämpfen mit Ehren und Geschenken, und doch ist er dessen nicht so würdig wie ich, ruft er aus, denn besser als die Kraft der Männer und Rosse ist doch unsere Weisheit! Es ist ein falscher 234

[U234]

Brauch, der uns so urteilen läßt. Die bloße Körperkraft der Weisheit vorzuziehen, ist nicht gerecht. Denn mag auch eine Polis einen hervorragenden Faustkämpfer unter ihren Bürgern haben oder einen Sieger im Pentathlon oder im Ringkampf, so ist sie darum noch lange nicht in richtiger Ordnung (εύνομίη), und welchc Freude hat die Stadt von einem Wettsieg in Pisa, er füllt j a doch nicht ihre K a m m e r n . " Diese Begründung des Wertes der philosophischen Erkenntnis ist für uns überraschend, aber sie zeigt nur von neuem mit überwältigender Klarheit, daß die Polis und ihr Heil der Maßstab schlechthin aller Werte ist. A n diesem Punkt mußte Xenophanes einsetzen, \venn er den philosophischen Menschen gegenüber dem bisherigen Manncsidcal zur Anerkennung bringen wollte. Wir erinnern uns jenes Gedichts des Tyrtaios, in dem er einst den unbedingten Vorrang der spartanischen Bürgertugend, der kriegerischen Tapferkeit, vor allen anderen Vorzügen des Menschen, insonderheit vor den agonalen Tugenden des Olympioniken verkündet hatte. „Dies ist ein gemeinsames Gut für die ganze Polis", so hatte er gesagt, und zum erstenmal hatte sich in diesen Versen der Geist der politischen Ethik gegen das altritterliche Ideal erhoben. Im Namen der Polis war dann später die Gerechtigkeit als höchste Tugend gepriesen worden, als der Rechtsstaat an die Stelle des Alten trat. Im Namen der Polis proklamiert jetzt Xenophanes seine neue Form der Arete, die geistige Bildung (σοφίη). Sie hebt alle früheren Ideale auf, indem sie sie in sich aufhebt und sich unterordnet. Es ist die K r a f t des Geistes, die im Staate Recht und Gesetz, richtige Ordnung und Wohlstand schafft. Xenophanes hat die Elegie des Tyrtaios bewußt zum Vorbild genommen und in ihre für seinen Zweck so passende Form den neuen Gehalt seines Denkens hineingegossen 1 . Mit dieser Stufe hat die Entwicklung des politischen Aretebegriffs ihr Ziel erreicht: Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, endlich die Weisheit — das sind die Eigenschaften, die noch für Plato der Inbegriff der bürgerlichen Arete sind. In der Elegie des Xenophanes meldet die neue „Geistestugend" der σοφία, die in der philosophischen Ethik

1

II1235]

V g l . meinen Tyrtaios, Sitz. Beri. A k a d . 1932, 557

235

eine so große Rolle spielen sollte, zum erstenmal ihre Forderung an. Die Philosophie hat ihre Bedeutung für den Menschen, das heißt für die Polis entdeckt. Der Schritt von der reinen Anschauung der Wahrheit zum Anspruch auf die Kritik und Führung des menschlichen Lebens ist getan. Xenophanes ist kein originaler Denker, aber für die Geistesgeschichte seiner Zeit ist er eine wichtige Gestalt. Das Kapitel : Philosophie und Menschenbildung wird durch ihn eröffnet., Noch Euripides bekämpft die traditionelle Überschätzung des Athletentums bei den Griechen mit Waffen, die er von Xenophanes nimmt, und Piatos Kritik der erzieherischen Verwertung der homerischen Mythen bewegt sich auf derselben Linie. Ρ arme ni des von Elea zählt unter die Denker höchsten Ranges, aber seine Bedeutung in bildungsgeschichtlicher Hinsicht kann eigentlich nur im Zusammenhang der ganzen überaus fruchtbaren und weitreichenden Geschichte der Nachwirkung seiner grundlegenden Denkmotive gewürdigt werden. Er begegnet uns auf allen Stufen der philosophischen Entwicklung der Griechen wieder, und darüber hinaus bezeichnet er bis heute als Archeget einen der bleibenden Typen philosophischer Geisteshaltung. Neben der milesischen Naturphilosophie und der pythagoreischen Zahlenspekulation tritt mit ihm eine dritte Grundform des griechischen Denkens in die Erscheinung, deren Bedeutung über die Grenzen der Philosophie tief in das gesamte geistige Leben hineinreicht: das Logische. In der älteren Naturphilosophie regieren andere Geisteskräfte: die vom Verstände geleitete und kontrollierte Phantasie, der den Griechen auszeichnende plastische und architektonische Sinn, der die sichtbare Welt mit seinen Mitteln zu gliedern und zu ordnen trachtet, und ein symbolhaftes, das außermenschliche Sein aus dem menschlichen Leben heraus deutendes Denken. Das Weltall des Anaximander ist geschautes Sinn-Bild des kosmischen Werdens und Vergehens, über dessen streitenden Gegensätzen die ewige Dike sich als Herrscherin behauptet. Das begriffliche Denken tritt hier dagegen noch ganz zurück 1 . Die Sätze des Parmenides sind ein streng logisches Gefüge, er1 Abweichend sieht K . Reinhardt, dessen Buch über Parmenides ich viel verdanke, S. 253 in der Ableitung der Prädikate „unsterblich und

236

[H236]

füllt von dem Bewußtsein zwingender Stringenz der Gedankenfolge. Es ist durchaus kein Zufall, daß die erhaltenen Bruchstücke seines Werks die ersten umfangreicheren und zusammenhängenden philosophischen Satzreihen sind, die uns in griechischer Sprache überliefert sind. Der Sinn dieses Denkens wird überhaupt nur in dem Denkvorgang als solchen sichtbar und mitteilbar, nicht in dem ruhenden Bild, das sein Erzeugnis ist. Die Kraft, mit der Parmenides seine Fundamentallehren dem Hörer einhämmert, entspringt nicht dem dogmatischen Überzeugungseifer, sondern der in ihnen triumphierenden Denknotwendigkeit. Auch für Parmenides ist die Erkenntnis einer absoluten Ananke — er nennt sie auch Dike oder Moira, offenbar bewußt an Anaximander anknüpfend — das höchste Ziel, wohin menschliches Forschen vorzudringen vermag. Aber wenn er von der Dike spricht, die das Seiende fest in ihren Banden hält und es nicht locker läßt, so daß es weder werden noch vergehen kann, so meint er nicht nur, daß seine Dike die entgegengesetzte Funktion hat wie die des Anaximander, die sich gerade im Werden und Untergang der Dinge offenbart. Die Dike des Parmenides, die alles Werden und Vergehen von seinem Sein fernhält und es unbeweglich in sich beharren läßt, ist die im B e g r i f f des Seins selbst liegende Notwendigkeit, die als „Rechtsanspruch" des Seins gedeutet wird. In den immer wieder eingeschärften Sätzen: das Seiende ist, das Nichtseiende ist nicht; das Seiende kann nicht nicht sein, das Nichtseiende kann nicht sein, drückt sich für Parmenides der Denkzwang aus, der von der Erkenntnis der Unvollziehbarkeit des logischen Widerspruches ausgeht. Dieses Zwingende des im reinen Denken Erfaßten ist die große Entdeckung, die die Philosophie des Eleaten beherrscht. Sie bestimmt die durchweg polemische Form, in der er seine Gedanken entwickelt. Für ihn selbst freilich ist das, was uns in seinen Hauptsätzen als die Entdeckung eines logischen Gesetzes erscheint, eine gegenständliche und inhaltliche Erkenntnis, die ihn mit der ganzen bisherigen Naturphilosophie in Konflikt unvergänglich" aus dem Wesen des Apeiron bei Anaximander bereits den ersten Ansatz zur rein logischen Entwicklung der Prädikate des Seins bei Parmenides.

[1/237]

237

bringt. Wenn es wahr ist, daß das Sein niemals nicht ist und das Nichtseiende niemals ist, so wird dadurch für Parmenides, wie schon gesagt, das Werden und Vergehen unmöglich. Der Augenschein lehrt allerdings etwas anderes, und ihm hatten die Naturphilosophen blindlings getraut, wenn sie das Seiende aus Nichtseiendem werden und in Nichtseiendes sich auflösen ließen. Es ist die Meinung, die im Grunde alle Menschen teilen, weil sie alle dem Zeugnis der Augen und Ohren trauen statt ihr Denken zu befragen, das allein zu untrüglicher Gewißheit führen kann. Das Denken ist des Menschen geistiges Auge und Ohr, wer ihm nicht folgt, ist dem Blinden und Tauben ähnlich und verwickelt sich in ausweglosen Widerspruch. Er muß am Ende Sein und Nichtsein für dasselbe und nicht dasselbe halten. Wer das Seiende aus dem Nichtseienden herleitet, setzt an den Anfang das schlechthin Unerkennbare, denn was nicht ist, kann nicht erkannt werden: wahrer Erkenntnis muß ein Gegenstand entsprechen. So muß der Wahrheitsuchende sich von der sinnlichen Welt des Werdens und Vergehens, die ihn zu so denkunmöglichen Voraussetzungen führt, abkehren und sich dem reinen Sein zuwenden, das er im Denken erfaßt. „Denn dasselbe ist Denken und Sein." Die größte Schwierigkeit des reinen Denkens liegt stets darin, zu irgend einer inhaltlichen Erkenntnis seines Gegenstandes zu gelangen. Parmenides zeigt sich in den erhaltenen Abschnitten seines Werkes bemüht, aus seinem neuen strengen Begriff des Seins eine Anzahl von Bestimmungen abzuleiten, die ihm wesenhaft zukommen: Merkzeichen nennt sie der Philosoph auf dem Wege der Forschung, den das reine Denken uns führt. Das Sein ist ungeworden, daher unvergänglich, ganz und einzig, unerschütterlich, ewig, allgegenwärtig, einheitlich, zusammenhängend, unteilbar, gleichartig, in sich unbegrenzt und geschlossen. Es ist vollkommen deutlich, daß alle positiven und negativen Prädikate, die Parmenides von seinem Seienden aussagt, am Gegenbild der älteren Naturphilosophie gewonnen sind und aus der peinlichen kritischen Auseinandersetzung mit ihren Denkvoraussetzungen stammen. Es ist hier nicht der Ort, dies im einzelnen zu zeigen. Die Möglichkeiten unseres Verstehens sind leider gerade bei Parmenides durch die Lücken238

[I/238J

haftigkeit unseres Wissens von der älteren Philosophie beschränkt. Sicher ist, d a ß auf Anaximander durchweg Bezug genommen ist, daneben mag pythagoreisches Denken als Zielpunkt der Angriffe des Parmenides in Betracht kommen, obgleich wir hier nur aufs Raten angewiesen sind. Eine systematische Interpretation des parmenideischen Versuchs, die Naturphilosophie von seinem neuen Standpunkt aus als Ganzes aus den Angeln zu heben, kommt hier nicht in Frage, so wenig wie eine Entwicklung der Aporien, in die das Denken durch die konsequente Verfolgung seines Weges geriet. Mit ihnen ringen vor allem die Schüler des Parmenides, von denen dem Zenon und Melissos durchaus selbständige Bedeutung zukommt. Die Entdeckung des reinen Denkens und der strengen Denknotwendigkeit erscheint bei Parmenides als die Erschließung eines neuen, j a des einzig gangbaren „Weges" zur Wahrheit. Das Bild des richtigen Weges (όδόΐ) der Forschung kehrt immer wieder, und obwohl es noch ganz Bild ist, hat es doch schon fast terminologischen Klang, besonders in der Gegenüberstellung des richtigen und des irrigen Weges, wo es der Bedeutung „Met h o d e " sich nähert. Dieser grundlegende wissenschaftliche Begriff hat hier seine Wurzeln. Parmenides ist der erste Denker, der das Problem der philosophischen Methode bewußt gestellt und die beiden Hauptwege, in die die Philosophie sich seither spaltet, Wahrnehmung und Denken, klar geschieden hat. Was nicht auf dem Wege des Denkens erkannt ist, ist nur „Meinung der Menschen". Alles Heil beruht auf der Umwendung von der Welt der Meinung zu der Welt der Wahrheit. Parmenides hat diese Wendung als etwas Gewaltsames und Schweres, aber Großes und Befreiendes an sich selbst erfahren. Sie gibt d e m Vortrag seiner Gedanken den großartigen Schwung und das religiöse Pathos, das ihn über die Grenzen des Logischen hinaus menschlich ergreifend macht. Denn das ist das Schauspiel des nach Erkenntnis ringenden Menschen, der sich zum erstenmal von der sinnlichen Erscheinung der Wirklichkeit frei macht und im Geiste das O r g a n für die Erfassung der Totalität und Einheit des Seienden entdeckt. Mochte diese Erkenntnis auch mit noch so viel Problematischem verwachsen sein, es ist durch sie eine Grundkraft griechischer Weltgestaltung und Menschenbildung ans Licht [1/239]

239

getreten. Jede Zeile des Parmenides ist durchpulst von dem aufrüttelnden Erlebnis dieser Wendung des menschlichen Forschens zum reinen Gedanken. Aus ihm erklärt sich der Aufbau seines Werkes in den zwei schroff entgegengesetzten Teilen, der „Wahrheit" und der „Meinung". Aber auch das alte Rätsel löst sich von hier aus, wie sich die spröde Logik des Parmenides mit seinem Gefühl als Dichter vereinigt. Man macht es sich zu leicht, wenn man glaubt, daß zu jener Zeit schlechthin jeder Stoff der Behandlung im Verse Homers und Hesiods fähig gewesen sei. Parmenides wird zum Dichter durch das enthusiastische Gefühl, der Träger einer Erkenntnis zu sein, die ihm als eine Offenbarung der Wahrheit selbst zuteil geworden ist. Das ist etwas anderes als Xenophanes' keckes persönliches Auftreten: das Gedicht des Parmenides ist erfüllt von einer stolzen Bescheidenheit, und so unerbittlich und strenge fordernd er in der Sache ist, so sehr weiß er sich selbst nur empfangend und begnadet von einer höheren Macht, der er in Ehrfurcht gegenübersteht. Das Proömium ist das unvergängliche Bekenntnis dieser philosophischen Inspiration. Sehen wir näher zu, so ist das Bild des „wissenden Mannes", der zur Wahrheit fährt, der Sphäre des Religiösen entnommen. Der Text ist an der entscheidenden Stelle verderbt, aber der ursprüngliche Wortlaut läßt sich, wie ich glaube, noch wiedergewinnen. Der „wissende Mann" ist der Eingeweihte, der zur Schau der Mysterien der Wahrheit berufen ist. Unter diesem Symbol wird die neue Seinserkenntnis begriffen, der Weg aber, der ihn „unversehrt" — so schreibe ich — ans Ziel führt, ist der Weg des Heils 1 . Diese Übertragung aus der Vorstellungswelt der damals zu hoher Bedeutung aufsteigenden Mysterien ist für das metaphysische Selbstbewußtsein der Philosophie sehr bezeichnend. Wenn gesagt worden ist, daß dem Parmenides Gott und Gefühl gleichgültig sind gegenüber dem rigorosen Denken und seinen Forderungen, so muß das dahin umgeprägt werden, daß dieses Denken und die Wahrheit, die es erfaßt, selbst etwas wie Religion für 1 frg. ι , 3. D a ß der Weg zur Wahrheit den wissenden Mann 'durch alle Städte' fuhrt (κατά ττάντ' άστη φέρει »ΙΕότα φώτα) ist ein unmögliches Bild, wie oft bemerkt worden. Wilamowitz' Vorschlag κατά πάντα τατή ist wenig glücklich, κατά ττάντ' ámvf) ist, wie ich nachträglich sehe, schon von Meinecke gefunden, sicher keine schlechte Empfehlung.

240

[1/240]

ihn bedeuten. Aus diesem Gefühl seiner höheren Sendung hat er im Proömium seines Gedichts dann als erster dem Bilde des Philosophen leibhaftige Menschengestalt zu geben vermocht, die Gestalt des „wissenden Mannes", den die Töchter des Lichts fern vom Pfade der Menschen den strengen Weg zum Haus der Wahrheit geleiten. Hatte die Philosophie nach der Lebensnähe, die sie mit Xenophanes' aufklärerisch-erzieherischer Haltung erreicht, in Parmenides scheinbar ihre ursprüngliche Ferne von den menschlichen Dingen noch überboten, da in seinem Seinsbegriff alles konkrete Einzeldasein und so auch der Mensch verschwindet, so vollzieht sich in H e r a k l i t von Ephesos in dieser Hinsicht der vollkommenste Umschwung. Die philosophiegeschichtliche Tradition hat ihn lange unter die Naturphilosophen eingereiht und sein Urprinzip, das Feuer, mit dem Wasser des Thaies und der Luft des Anaximenes in eine Reihe gestellt. Schon die bedeutungsgeladene Prägnanz der oft aphorismenhaften Rätselrede des „Dunklen" hätte sein mühsam gebändigtes Temperament vor der Verwechslung mit einem nur der Ergründung der Tatsachen hingegebenen Forschertum beschützen sollen. Nirgendwo findet sich bei Heraklit die Spur einer rein lehrhaften Betrachtung der Erscheinungen oder auch nur der Schatten einer rein physikalischen Theorie. Was man so deuten könnte, steht in größerem Zusammenhang, es ist nicht Selbstzweck. Heraklit steht — das ist keine Frage •— unter dem überwältigenden Eindruck der Naturphilosophie. Ihr Gesamtbild der Wirklichkeit, der Kosmos, das unaufhörliche Auf und Ab des Werdens und Vergehens, der unausschöpfliche Urgrund, aus dem es emporsteigt und in den es wieder versinkt, der Kreislauf der immer wechselnden Gestalten, die das Seiende durchwandert, das alles ist in seinen großen Zügen fester Besitz seines Denkens. Aber wenn die Milesier und noch rigoroser der mit ihnen ringende Parmenides zur objektiven Anschauung des Seins sich selbst möglichst von diesem distanziert und die Welt des Menschen im Bilde der Natur ausgelöscht hatten, so ist bei Heraklit das Menschenherz das leidenschaftlich fühlende und leidendtätige Zentrum, in dem die Radien aller Kräfte des Kosmos zusammentreffen. Der' Weltlauf ist in seinem Walten für ihn [1/241]

241

kein fernes erhabenes Schauspiel, in dessen Betrachtung versunken der Geist sich vergißt und selbst zur Totalität des Seienden wird, sondern das kosmische Geschehen geht mitten durch diesen Betrachter hindurch. Er ist sich bewußt, daß all sein Reden und T u n nichts als die Wirkung dieser Macht in ihm ist, wenn auch die meisten Menschen nicht wissen, daß sie bloßes Werkzeug in der Hand einer höheren Ordnung sind. Dies ist das große Neue, das mit Heraklit in die Erscheinung tritt. Das Bild des K o s m o s 1 ist von seinen Vorgängern vollendet, der ewige Widerstreit des Seins und Werdens ist dem Menschen aufgegangen: jetzt stürzt sich mit ungeheurer Wucht auf ihn die Frage, wie denn der Mensch inmitten dieses Ringens sich behauptet. Während der sich selbst nährende Forschungstrieb der buntschichtigen milesischen 'Historie' in Hekataios und anderen ähnlich gerichteten Zeitgenossen immer neuen Weltstoff mit seiner rationalistischen Kinderklugkeit ruhelos und heißhungrig ergreift und sich einverleibt, Länder, Völker und Überlieferungen der Vorzeit, spricht Heraklit das herbe Wort: „Vielwisserei lehrt nicht Einsicht haben" und wird zum Schöpfer einer Philosophie, deren ganze umwälzende Bedeutung in dem einen tiefsinnigen Ausspruch beschlossen ist: „ I c h habe mich selbst erforscht" 2. Es gibt keinen großartigeren Ausdruck für die Wendung der Philosophie zum Menschen, die in Heraklit vor sich geht. Kein Denker vor Sokrates erregt so unsere persönliche Teilnahme wie Heraklit. Er steht auf der vollen Entwicklungshöhe der ionischen Denkfreiheit, und wir sind versucht ein Wort wie das soeben angeführte zunächst als Beweis eines höchst gesteigerten Ichbewußtseins zu verstehen. Das herrisch Hochfahrende im Auftreten Heraklits, der aus uradligem Hause stammt, erscheint auf den ersten Blick wie eine durch eigenen Geist zu wahrer Bedeutung gesteigerte aristokratische Arroganz. Aber die Selbsterforschung, von der er redet, hat nichts zu tun mit psychologischer Vertiefung in seine persönliche Eigenart. Sie 1 D e r feste S p r a c h g e b r a u c h Heraklits (frg. 30, 7 5 , 89) hinsichtlich des Wortes K o s m o s deutet darauf, d a ß es f ü r ihn ein von d e n V o r g ä n g e r n ü b e r k o m m e n e r B e g r i f f ist. A n d e r s K . R e i n h a r d t a. O . 50. ' D i e zahlreichen Z i t a t e v o n Heraklitworten sind i m folgenden n i c h t m e h r in F o r m v o n A n m e r k u n g e n bezeichnet.

242

[U242]

bedeutet neben geistig-sinnlicher Anschauung und logischem Denken, den beiden bisher begangenen Wegen der Philosophie, die Erschließung einer neuen Welt der Erkenntnis durch das Zurückgehen der Seele in sich selbst. Mit dem Wort Heraklits, daß er sich selbst erforscht habe, hängt ein anderer Satz innerlich zusammen: „Der Seele Grenzen wirst du nicht ausfindig machen, so weit du auch gehen magst, so tiefen Logos hat sie." Das erstmalige Gefühl der Tiefendimension des Logos und der Seele ist für sein Denken charakteristisch. Seine ganze Philosophie ist aus dieser neuen Erkenntnisquelle geflossen. Der Logos des Heraklit ist nicht das begriffliche Denken (νοείν, νόημα) des Parmenides, dessen reine analytische Logik die bildliche Vorstellung einer inneren seelischen Grenzenlosigkeit ausschließt. Der Logos Heraklits ist eine Erkenntnis, aus der gleichermaßen „Reden und T u n " entspringt. Sehen wir uns nach einem Beispiel für diese besondere Art der Erkenntnis um, so ist es nicht das Denken, welches lehrt, daß das Seiende niemals nicht sein kann, sondern jener Tiefblick, der aufleuchtet in einem Satze wie: ,,Das Ethos ist dem Menschen Dämon". Es ist wichtig und bezeichnend, daß schon im ersten Satze seines Buches, der uns glücklicherweise erhalten ist, diese produktive Beziehung der Erkenntnis zum Leben ausgesprochen wird. Dort ist von Worten und Werken die Rede, an denen die Menschen sich versuchen, ohne den Logos zu begreifen, der allein lehrt „wach zu tun", was die, die ihn nicht haben, „im Schlafe tun". Ein neues wissendes Leben also soll der Logos geben. Er umspannt die gesamte Sphäre des Menschlichen. Heraklit ist der erste Philosoph, der den Begriff der φρόνηση einführt und mit der σοφία gleichsetzt, d. h. die Erkenntnis des Seins hängt für ihn zusammen mit der Einsicht in die menschliche Wertordnung und Lebensführung, sie schließt sie bewußt in sich. Die prophetische Form seiner Rede empfängt ihre innere Notwendigkeit durch den Anspruch des Philosophen, den Sterblichen die Augen über sich selbst zu öffnen, ihnen den Urgrund des Lebens zu entschleiern, sie aus dem Schlafe aufzurütteln. Auf diesen Beruf des Deuters oder Dolmetschers weisen zahlreiche Ausdrücke Heraklits immer wieder hin. Natur und Leben sind ein Griphos, ein Rätsel, ein delphisches Orakel, ein Si[1/243]

243

byllenspruch, man muß ihren S i n n herauszulesen wissen. Heraklit fühlt sich als der Rätsellöser, der philosophische Oedipus, der der Sphinx ihr Rätsel entreißt; denn „die Natur liebt es, sich zu verstecken". Das ist eine neue Form des Philosophierens, ein neues Selbstbewußtsein des Philosophen: es ist nur in Worten und Bildern, die aus der i n n e r e n Erfahrung geschöpft sind, aussagbar. Auch der Logos ist nur im Bilde bestimmbar. Die Art seiner Allgemeingültigkeit, die Wirkung, die er ausübt, das Bewußtsein, das er in dem hervorruft, den er erfüllt, ist für Heraklit am klarsten in seinem Lieblingsgegensatz des Wachenden und Träumenden ausgedrückt. Er weist auf ein wesentliches Kriterium des Logos hin, das ihn von dem Geisteszustand der Menge unterscheidet: er ist das „Gemeinsame" (ξυνόν), der einheitliche und gleiche Kosmos, der nur unter den „Wachenden" besteht, während der „Schlafende" seine besondere Welt, seine eigene Traumwelt für sich hat, die aber eben eine Traumwelt ist. Man soll diese soziale Gemeinsamkeit des heraklitischen Logos nicht zum bloßen bildlichen Ausdruck der logischen Allgemeingültigkeit verflachen. Die Gemeinsamkeit ist das höchste Gut, das die Polisethik kennt, sie hebt die Sonderexistenz der Individuen in sich auf. Was anfangs als höchstgesteigerter Individualismus bei Heraklit erschien, seine fordernde diktatorische Haltung, erweist sich jetzt als das Gegenteil, als die bewußte Überwindung der schwankenden individuellen Willkür, in die sich das ganze Leben zu verlieren drohte. Dem Logos soll man folgen, in ihm ist über dem Gesetz der Polis ein noch höheres, noch umfassenderes „Gemeinsames" aufgerichtet, auf das man sein Leben und Denken stützen, mit dem man sich „stark machen" kann, „wie eine Polis durch das Gesetz". „Die Menschen freilich leben so, als hätten sie jeder seine Privatvernunft". Gerade hier zeigt sich, daß es sich nicht nur um eine fehlende Erkenntnis theoretischer Art handelt, sondern um das ganze Sein der Menschen, um ihr praktisches Verhalten, das dem gemeinsamen Geist des Logos nicht entspricht. Wie in der Polis gibt es auch im All ein Gesetz. Zum erstenmal begegnet hier dieser einzigartige griechische Gedanke. In ihm 244

[H244]

erscheint das politische Erziehertun griechischer Gesetzgeberweisheit gleichsam in die höhere Potenz erhoben. Das Gesetz, das Heraklit das göttliche nennt, erfaßt nur der Logos, aus ihm „nähren sich alle Menschengesetze". Der heraklitische Logos ist der Geist als kosmisches Sinnorgan. Was im Keim schon in der T a t des anaximandrischen Weltbildes beschlossen gewesen war, entfaltet sich im Bewußtsein Heraklits zu der Konzeption des um sich selbst und u m seine Wirkung und Stellung in der Weltordnung wissenden Logos. In ihm lebt und denkt das gleiche „Feuer", das den Kosmos als Leben und Denken durchdringt. Durch seine göttliche Abkunft ist er imstande, in das göttliche Innere der Natur einzudringen, aus dem er selbst stammt. So wird der Mensch, nachdem die vorheraklitische Philosophie den Kosmos entdeckt hat, von Heraklit als ein selbst durch und durch kosmisch bestimmtes Wesen in den neu errichteten Weltbau hineingestellt. U m als ein solches Wesen sein Leben zu führen, bedarf es der willigen Erkenntnis und Befolgung der kosmischen Gesetzesnorm. Wie Xenophanes die „Weisheit" als höchste Menschentugend gepriesen hatte, weil sie der Quell der Gesetzesordnung in der Polis ist, so gründet Heraklit ihren Herrschaftsanspruch darauf, d a ß sie die Menschen lehre, in ihrem Reden und T u n der Wahrheit der N a t u r und ihres göttlichen Gesetzes zu folgen. Das über gewöhnliches menschliches Verstehen sinnvolle Walten der kosmischen Weisheit erfaßt Heraklit in der originalen Lehre von den Gegensätzen und von der All-Einheit. Auch die Gegensatzlehre knüpft zum Teil an konkrete physikalische Vorstellungen der milesischen Naturphilosophie an, aber sie schöpft ihre lebendige Kraft letztlich doch nicht aus den Anregungen andrer Denker, sondern aus einer unmittelbaren Anschauung des menschlichcn Lebensprozesses, die Geistiges und Physisches in eigentümlich komplexer Einheit als eine beide Hemisphären umspannende Biologie zusammensieht. „ L e b e n " aber ist nicht nur das menschliche sondern ebenso das kosmische Sein. Nur als Leben verstanden verliert es seinen scheinbaren Widersinn. Der anaximandrische Weltgedanke hatte das Werden und Vergehen als das ausgleichende Walten einer ewigen Gerechtigkeit begriffen, richtiger als einen R e c h t s [U245]

245

s t r e i t der Dinge vor dem Richtstuhl der Zeit, wo eins dem andern Buße zahlen m u ß für seine Ungerechtigkeit und Pleonexie. Der Streit wird für Heraklit schlechthin der „Vater aller Dinge". Nur im Streit stellt die Dike sich her. Der neue pythagoreische Harmoniegedanke hilft jetzt die anaximandrische Einsicht sinnhaft zu deuten. „Gerade das Auseinanderstrebende vereinigt sich, aus dem Verschiedenen entsteht die schönste Harmonie." Das ist ein Gesetz, das offenbar den ganzen Kosmos beherrscht. Sattheit und Mangel, die Ursachen des Krieges, gibt es in der ganzen Natur. Sie ist von lauter Gegensätzen erfüllt: T a g und Nacht, Sommer und Winter, Hitze und Kälte, Krieg und Frieden, Leben und Tod lösen sich in ewigem Wechsel ab. Alle Gegensätze des kosmischen Lebens schlagen beständig ineinander um. Sie leisten einander Schadensersatz, um beim Bild des Rechtsstreites zu bleiben. Der ganze „Prozeß" der Welt ist ein Tausch (άμοιβή), des einen Tod ist immer des anderen Leben, ein ewiger Weg auf und ab. „Sich wandelnd ruht es sich aus." „Lebendiges und Totes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes sind im Grunde eins und dasselbe. Dieses ist umschlagend jenes und jenes wieder dieses." „ H a t einer nicht mich, sondern meinen Logos vernommen, so ist es weise zuzugestehen, d a ß alles eins ist." Das Symbol des Heraklit für den Zusammenklang der Gegensätze im Kosmos ist Bogen und Leier. Durch die „gegeneinander gespannte Zusammenfügung" verrichten beide ihr Werk. Der allgemeine Begriff, der der philosophischen Sprache hier noch fehlt, ist der der Spannung, für ihn tritt das Bild ein. Von Spannung ist die heraklitische Einheit erfüllt. Die biologische Intuition, die in diesem genialen Gedanken liegt, ist von unbegrenzter Fruchtbarkeit. Sie ist gerade in unserer Zeit erst richtig gewürdigt worden. U m das Neue und Wesentliche festzuhalten, das Heraklit für die Bildung des griechischen Menschen bedeutet, wollen wir auf die weitere philosophische Interpretation der Gegensatzund Alleinheitslehre an dieser Stelle verzichten und insbesondere die schwierige Frage ihres Verhältnisses zu Parmenides ganz beiseite lassen. Gegenüber den früheren Denkern erscheint Heraklit als der erste philosophische Anthropologe. Seine Philo246

[11246]

sophie vom Menschen ist sozusagen der innerste von drei konzentrischen Ringen, in denen sich seine Philosophie darstellen läßt: um den anthropologischen Ring legt sich der kosmologische, um diesen der theologische. Diese Ringe sind jedoch in Wahrheit nicht voneinander zu trennen, am allerwenigsten ist unter ihnen der anthropologische von dem kosmologischen und theologischen unabhängig denkbar. Der Mensch des Heraklit ist ein Teil des Kosmos, er unterliegt als solcher dem Gesetz des Ganzen wie alle anderen Teile. Aber indem er kraft des ihm eigenen Geistes das ewige Gesetz des All-Lebens bewußt in sich trägt, vermag er teilzunehmen an der höchsten Weisheit, deren Ratschluß das göttliche Gesetz entspringt. Die Freiheit des griechischen Menschen besteht darin, daß er sich als Glied dem Ganzen der Polis und seinem Gesetz einordnet. Das ist eine andere Freiheit als die des modernen Individualismus, die sich immer an ein übersinnliches Allgemeines angeknüpft weiß, durch das der Mensch noch einer höheren Welt angehört als der diesseitigen des Staates. Die philosophische Freiheit, zu der Heraklits Denken sich aufschwingt, bleibt darin durchaus dem Wesen des polisverbundenen griechischen Menschen treu, daß er sich als Glied einer gleichsam allumfassenden 'Gemeinschaft' aller Wesen bewußt wird und sich ihrem Nomos unterwirft. Der religiöse Sinn fragt nach dem persönlichen Lenker dieses Alls, auch für Heraklit gilt das. „Eins, das allein Weise, will und will nicht Zeus genannt werden." Wenn dagegen das politische Empfinden des Griechen jener Zeit geneigt ist, Alleinherrschaft als Tyrannis anzusehen, so weiß Heraklits Denken beides miteinander zu versöhnen, weil Gesetz ihm nicht Majorität bedeutet, sondern den Ausfluß einer höchsten Erkenntnis. „Gesetz ist es auch, dem Ratschluß eines Einzigen zu gehorchen." Heraklits Eindringen in den Sinn der Welt ist die Geburt einer neuen höheren Religion, eines geistigen Verstehens der Wege der höchsten Weisheit. Das Leben und Handeln aus diesem Verständnis nennt der Grieche φρονΕΐν, zu dieser Besinnung führt Heraklits Prophetic auf dem Wege des philosophischen Logos. Die älteste Naturphilosophie hatte das religiöse Problem nicht ausdrücklich gestellt, ihr Weltbild [1/247]

247

zeigte die vom Menschen abgekehrte Ansicht des Seins. Die orphische Religion war in diese Lücke getreten und hatte an die Wesensverwandtschaft der Seele mit dem Göttlichen glauben gelehrt inmitten des vernichtenden Strudels des allgemeinen Werdens und Vergehens, in den die Naturphilosophie den Menschen hineinzustürzen schien. Aber die Naturphilosophie bot in dem Gedanken des Kosmos und der ihn beherrschenden Dike einen Kristallisationspunkt für das religiöse Bewußtsein, und eben dort setzt Heraklit mit seiner Interpretation des Menschen ein, indem er ihn ganz in den kosmischen Aspekt stellt. Anderseits ist die orphische Seelenreligion in dem heraklitischen Begriff der Seele gleichsam auf eine höhere Stufe erhoben: durch ihre Verwandtschaft mit dem „ewiglebenden Feuer" des Kosmos ist die philosophische Seele fähig, die göttliche Weisheit zu erkennen und in sich zu hegen. So erscheint der Gegensatz des kosmologischen und des religiösen Denkens des 6 . J h r h . in der Synthese Heraklits, der an der Schwelle des neuen J a h r h u n derts steht, aufgehoben und zur Einheit geführt. Wir bemerkten früher, daß der Kosmosgedanke der Milesier eher eine Weltnorm bedeute als ein Naturgesetz in unserem Sinne. Heraklit hat diesen seinen Charakter in seinem „göttlichen Nomos" bis zur Kosmosreligion gesteigert und hat in der Weltnorm die Lebensnorm des philosophischen Menschen gegründet.

248

¡1/248]

KAMPF UND VERKLÄRUNG DES ADELS Die Wirkung der ionischen K u l t u r auf das Mutterland und den griechischen Westen haben wir bisher nur in dem religiösen und politischen K a m p f des solonischen A t h e n und in d e m scharfen Zusammenstoß des ionischen Aufklärers Xenophanes mit der Volksreligion und dem agonalen Manncsideal des griechischen Adels kennen gelernt. E n g und beschränkt stellt der Angreifer diese Anschauungen dar, rückständig, robust und wissensfeindlich die Schicht der Gesellschaft, die ihr T r ä g e r ist. A b e r sie hat d e m Ansturm des Neuen abgesehen von ihrer äußeren M a c h t geistig starken Widerstand zu leisten vermocht, und es ist nicht zu übersehen, d a ß die dichterische Produktion des gesamten Mutterlandes seit Solon, der in der A u f n a h m e ionischer Gedanken von allen am weitesten geht, das einheitliche Bild einer leidenschaftlichen Reaktion bildet. Die zwei Hauptvertreter dieser Gegenbewegung u m die Wende des 6. z u m 5 . J h r h . , Pindar von T h e b e n und Theognis von M e gara, sind von schroffem Standesbewußtscin erfüllt. Sie wenden sich an den Kreis der adligen Herrenschicht, die politisch dem ionischen Wesen abwehrend und verschlossen gegenüber steht. A b e r die Adelswelt des Pindar und Theognis schläft nicht mehr in ungestörtem Frieden, sie ist von dem Wellengang der neuen Zeit umbrandet und m u ß sich mühsam kämpfend behaupten. A u s diesem materiellen und geistigen Daseinskampf ist die tiefe und radikale Besinnung des Adels auf seine ureigenen Werte geboren, der wir bei beiden Dichtern begegnen. Wir müssen sie trotz der individuellen Verschiedenheit ihres Geistes und der Unvergleichbarkeit ihrer rein künstlerischen Bedeutung unter diesem Gesichtspunkt zusammenfassen. Ihre Poesie stellt sich

[1/249]

249

trotz der formalen Zugehörigkeit des Pindar zur Gattung der Chorlyrik und des Theognis zur Spruchdichtung als eine bildungsgeschichtliche Einheit dar. In ihr verkörpert sich das zum höchsten Gefühl seiner besonderen Vorzüge erwachte Selbstbewußtsein des Adels, das was wir im eigentlichen Sinne als das adlige Bildungsideal dieser Zeit bezeichnen können. Der mutterländische Adel ist durch diese bewußte, maßgebende Gestaltung seines höheren Menschenbildes dem Ioniertum und seiner ins Individuelle und Natürliche auseinanderstrebenden inneren Haltung an erzieherischer Wucht und Geschlossenheit ungeheuer überlegen. Denn wie für Hesiod, Tyrtaios und Solon ist auch für Pindar und Theognis im Gegensatz zu der naiven Natürlichkeit, mit der das Geistige in all seinen Formen in Ionien auftritt, dieses bewußte erzieherische Ethos charakteristisch. Es ist ohne Frage durch den Zusammenstoß zweier so unvereinbarer feindlicher Welten gesteigert, aber dies kann kaum der einzige und nicht einmal der Hauptgrund dafür sein, daß die eigentlich großen Repräsentanten des bewußten griechischen Erziehertums ziemlich ausnahmslos den Stämmen des Mutterlandes angehören. Die längere Dauer der Adelsherrschaft und der adligen Kultur, die der Quellpunkt des höheren Bildungswillens der Nation war, in den Landschaften des Mutterlandes mag wesentlich dazu beigetragen haben, daß hier nichts Neues aufkommen konnte, ohne dem Bisherigen ein bestimmtes Ideal, eine fertige Form des Menschen entgegenzusetzen. Wenn es in der von persönlichem Geistesstolz geschwellten Polemik des Xenophanes gegen die alten feudalen Anschauungen so scheinen konnte, als hätten sie sich längst überlebt, so entfalten sie bei Theognis und Pindar plötzlich eine staunenswerte neue sittliche und religiöse Kraft. Sie lassen uns ihre standesmäßige Bedingtheit zwar niemals vergessen, aber ihre Wurzeln senken sich durch diese oberste Schicht in eine Tiefe des Menschlichen hinab, die sie vor jedem Veralten bewahrt. Die zähe Energie ihrer geistigen Selbstbehauptung darf freilich nicht darüber täuschen, daß es eine sterbende Welt war, für die Pindar und Theognis kämpften. Ihre Dichtung brachte keine Renaissance des Adels im äußeren politischen Sinne hervor, aber sie bedeutet die Verewigung seiner 250

[V250]

Idee in dem schicksalhaften Augenblick ihrer höchsten Gefahrdung durch die neuen Mächte der Zeit und die Einverleibung seiner sozial aufbauenden Kräfte in den allgemeinen Besitz der griechischen Nation. Daß wir heute von dem Leben und gesellschaftlichen Zustand des griechischen Adels im 6.—5. Jhrh. überhaupt ein Bild haben, verdanken wir ausschließlich der Poesie. Alles was die bildende Kunst und die äußerst spärliche geschichtliche Überlieferung hinzufügen, bleibt doch nur eine stumme Illustration dessen, was die Dichter uns in seinem inneren Wesen erschließen. Freilich ist gerade hier das Zeugnis der Kunst in Plastik, Architektur und Vasenmalerei besonders wichtig, aber es spricht erst zu uns, wenn wir sie im Lichte der Poesie und als Ausdruck ihrer Ideale betrachten. Für uns ergibt sich die Notwendigkeit des Verzichts auf eine äußere Geschichtc der sozialen Entwicklung, von der wir auch hier lediglich lokale Bruchstücke, einige wenige Hauptetappen für einige wenige Hauptorte erkennen können. Das Einzige, was wir klar zu verfolgen imstande sind, bleibt der Gang des griechischen Geistes, wie er in seiner schriftlichen Hinterlassenschaft sich ausprägt, so viel wir auch hier eingebüßt haben. Dafür besitzen wir in Theognis und Pindar zwei in ganz verschiedenem Sinne höchst charakteristische Vertreter. Das neuerliche Hinzutreten eines bis dahin fast unbekannten Chorlyrikers wie Bakchylides hat nur gezeigt, daß wir für unseren Zweck nicht über Pindar hinauszugehen brauchen. Theognis möge als der möglicherweise ältere der beiden Dichter hier den Vortritt haben. Das bietet zugleich den Vorteil, daß wir zuerst in die schwierige soziale Lage Einblick gewinnen, in der sich der Adel in dieser Zeit z. T . befindet, denn in der Dichtung des Theognis tritt sie stark in den Vordergrund, während wir bei Pindar die Adelskultur mehr von der Seite ihres religiösen Glaubens und ihres höchsten Ideals männlicher Vollkommenheit schauen. Die

Überlieferung des

Theognisbuchs

Es läßt sich nicht vermeiden zuerst über die Überlieferung des Theognisbuchs zu reden, die sehr schwierig liegt, und bei der Umstrittenheit fast jeder Tatsache die eigene Stellungnahme [1/251]

251

ausdrücklich zu begründen 1 . Ich würde diese philologischen Dinge, so interessant sie an sich sind, nicht so ausführlich zu Wort kommen lassen, wenn die Art, wie der Dichter uns überliefert ist, nicht gleichzeitig einen tiefen Einblick in die Geschichte des eigenartigen Stücks griechischer Bildung eröffnete, welches mit der Nachwirkung des Theognis untrennbar verbunden ist. Schon das 4.Jhrh. dürfte die Sammlung im wesentlichen abgeschlossen vor sich gehabt haben, die uns unter dem Namen des Theognis durch einen reinen Zufall überliefert ist. Die neuere Forschung hat ein erhebliches Maß von Scharfsinn und gelehrter Arbeit auf die Analyse dieses seltsamen Buches verwandt. Es ist in der vorliegenden Form schwerlich durch das läuternde Feuer der alexandrinisch-philologischen Kritik hindurchgegangen, sondern hat dem praktischen Gebrauch bei den Symposien des 5. und 4.Jhrh. gedient, bis es mit dem allmählichen Absterben dieses wichtigen Zweiges des „politischen" Lebens der Griechen emeritiert und nur noch als literarisches Kuriosum gelesen und fortgepflanzt wurde. Auf den Namen des Theognis ist es gestellt worden, weil ein Buch dieses Dichters darin als Grundstock einer Blütenlese von Sprüchen und Gedichten verschiedener Dichter früherer und späterer Zeit (vom 7.—5. Jhrh.) gedient hat. Sie alle sind zum Klang der Flöte beim Gelage vorgetragen worden. Die Änderung und Verballhornung des ursprünglichen Wortlauts an vielen Stellen zeigt, wie auch die berühmtesten Verse schließlich zersungen wurden. Daß die Auswahl der Dichter nicht über das 5. Jhrh. herabgeht, hängt aber auch mit dem politischen Absterben des Adels zusammen. Offenbar waren es vor allem adlige Kreise, in denen diese Poesie fortlebte, denn nicht nur die theognideischen Gedichte der Sammlung sondern auch manche anderen Stücke darin atmen einen sehr demosfeindlichen Geist, und man könnte sich das Buch am besten in den adligen Hetärien Athens zur Zeit des Kritias in Gebrauch denken, aus denen das Pamphlet über die Verfassung Athens hervorgegangen ist und denen auch Plato von Geburt nahe stand. Die Verbindung von Symposion und 1 Die folgenden Ausführungen setzen sich mit R . Reitzenstein, Epigramm und Skolion (1893) und mit F.Jacoby, Theognis, Sitz. Beri. A>ad. 1931 auseinander.

252

[11252]

Eros, die sein 'Gastmahl' in der höchsten Form zeigt, spiegelt sich deutlich auch in der Geschichte der Theognideensammlung, denn das sogenannte zweite Buch, in Wirklichkeit ein locker angehängtes selbständiges Liederbuch, hat den Eros zum Gegenstand, der bei diesen Gelegenheiten gefeiert wurde. Glücklicherweise sind wir nicht nur auf unser stilistisches und geistiges Feingefühl für die individuellen Unterschiede der einzelnen Verfasser und Zeitalter angewiesen, wenn wir das Eigentum des Theognis von dem der anderen Dichter der Sammlung zu scheiden suchen. Viele Stücke sind als Verse bekannter Dichter, die wir noch besitzen, ohne weiteres kenntlich, in anderen Fällen müssen wir uns mit mehr oder minder sicheren Spuren begnügen. Das Buch des Theognis steht am Anfang und hebt sich schon durch seine Form von den bloß locker aneinander gereihten Auszügen aus anderen Dichtern ziemlich deutlich ab. Es ist allerdings ebenfalls kein zusammenhängendes Gedicht sondern eine Spruchsammlung, und nur dieser sein Charakter hat es überhaupt möglich gemacht, daß das Fremde sich daran ansetzte. Aber die Spruchsammlung des Theognis bildet eine innere Einheit. Trotz der äußeren relativen Selbständigkeit der Einzelsprüche, aus denen sie besteht, läßt sich ein Gedankenfortschritt in ihr bemerken, und sie hat ein Proömium und einen Schluß der sich deutlich von dem folgenden abhebt. Eine besondere Hilfe gewährt uns bei der Herausschälung dieses echten alten Theognisbuches abgesehen von dem unverkennbaren Geist seines schroffen Junkertums die Form der immer wiederkehrenden Anrede des Dichters an den geliebten Jüngling, an den er seine Lehren richtet, Kyrnos, den Sohn des Polypaos, einen Sprossen aus adligem Geschlecht. Solche Anrede finden wir schon in Hesiods Mahngedicht an Perses, in den Versen der Iambiker und in der Lyrik der Sappho und des Alkaios. Weil Theognis seine Lehren in Form von Einzclsprüchen gibt, wiederholt sich die Anrede „Kyrnos" oder „Sohn des Polypaos" in seinem Buch viel öfter, wenn auch nicht bei jedem Spruch. Dieselbe Form ist auch in altnordischer Spruchpoesie nachzuweisen, wo immer in einigem Abstand der Name des Angere1

v. 237—254

IH 25 3]

253

deten wiederkehrt. Die Nennung des Namens Kyrnos dient uns wie eine Art Leitfossil bei der Ausgrabung der echten Theognisschicht, durch die er sich ganz hindurchzieht. Er findet sich aber nicht nur bis zu dem Punkte, an dem wir das ursprüngliche Schlußgedicht des alten Spruchbuchs erkennen, sondern begegnet auch noch in den Partien, die sich daran anschließen. Aber während er in dem Spruchbuch des Theognis in dicht gedrängter Reihe vorkommt, taucht er hier nur noch an vereinzelten Stellen, dann meist mehrmals kurz nacheinander auf, so daß man annehmen muß, daß diese Einzelstellen, wenn sie echt sind, aus dem ursprünglich vollständigeren Spruchbuch des Theognis herausgenommene Zitate sind. Da es zum Teil Stücke sind, die auch im Text des alten Spruchbuchs noch stehen, was in einer und derselben Gedichtsammlung nicht gut möglich war, so ist klar, daß die jetzt dem Theognis angehängten Partien ursprünglich einmal ein selbständiges Buch waren, worin neben anderen Dichtern auch Stücke aus Theognis standen. Das war eine Blütenlese, hergestellt zu einer Zeit, als Theognis schon klassisch geworden war, spätestens gegen Ende des 5. oder Anfang des 4.Jhrh. Die Existenz solcher Anthologien in der Schule wird von Plato in den 'Gesetzen' für jene Zeit ausdrücklich bezeugt 1 . Es wird sie auch zum Gebrauch bei den Symposien gegeben haben. Später wurden die verschiedenen Bücher, die wir jetzt lesen, zu unserer Sammlung zusammengeschoben, wie man es richtig genannt hat. Wie roh man dabei verfahren ist, erhellt daraus, daß niemand sich auch nur die Mühe gemacht hat, die Dubletten zu entfernen, die dadurch entstanden, wenn man sie überhaupt bemerkt hat. Wir dürfen unser Bild des Theognis also nicht nur auf das zusammenhängend überlieferte Buch der Kyrnossprüche gründen, sondern müssen auch die verstreuten Kyrnossprüche der an dieses angehängten späteren Sammlung heranziehen. In jedem Falle aber ist das Buch der Kyrnossprüche unser eigentliches Fundament, auf dessen Festigkeit alles ankommt. Sie soll deshalb noch genauer geprüft werden, ehe wir die Frage erörtern, ob aus der übrigen Sammlung außer den darin enthaltenden Kyrnossprüchen für Theognis noch etwas zu gewinnen ist. 1

254

Plat. Leg. 811 Λ [I/2S4J

Woher wissen wir überhaupt, daß das Kyrnosbuch eine Dichtung des Theognis ist? Sein Name und damit sein Anspruch darauf wäre genau so spurlos in dieser oder irgend einer andern allgemeinen Liedersammlung untergegangen wie der Name so vieler anderer in ihr enthaltener berühmter Dichter, wenn Theognis nicht einen besonderen Kunstgriff" angewandt hätte, um diesem Schicksal zu entgehen, das einem Verfasser sympotischer Gedichte mit großer Wahrscheinlichkeit drohte. Er hat im Proömium seinen Namen verewigt und sich so nicht nur vor Vergessenheit geschützt, sondern auch seinem geistigen Eigentum seinen Stempel oder — wie er es selbst nennt — sein Siegel aufgedrückt. Hören wir seine eigenen Worte 1 . ,,Kyrnos, nach einem klugen Gedanken, den ich habe, soll diesen Versen mein Siegel aufgedrückt sein, dann werden sie niemals heimlich gestohlen werden, und keiner wird für das Gute, wenn es da ist, Schlechteres eintauschen, sondern jeder wird sagen: Das sind die Verse des Theognis von Megara, er ist berühmt unter allen Menschen. Nur den Leuten hier in unserer Stadt vermag ich noch nicht allen zu gefallen. Kein Wunder, Sohn des Polypaos, denn auch Zeus kann es nicht allen recht machen, ob er nun Regen schickt oder Trockenheit." Hochgesteigertes künstlerisches Selbstbewußtsein und der Anspruch auf Wahrung des geistigen Eigentums sind eine Zeiterscheinung, die wir auch in der bildenden Kunst jener Tage antreffen, so wenn der Bildhauer oder der Vasenmaler seinen Namen auf sein Erzeugnis schreibt. An dem betont traditionalistischen Aristokraten muß uns dieser Zug zum Individuellen besonders interessieren, weil er ihn vom Zeitgeist doch tiefer berührt zeigt, als es dem eigenen Bewußtsein entspricht. Daß er mit dem Aufdrücken seines Siegels die Einverleibung seines Namens in seine Gedichte gemeint hat, geht aus seinen Worten einwandfrei hervor. Es liegt erstens in dem Begriff des Siegels, denn man siegelt mit dem Zeichen oder Namen des Eigentümers, zweitens steht es da, denn seinen Worten über die Absicht, den Versen sein Siegel aufzudrücken, folgt unmittelbar die Namensnennung. Namensnennung des Dichters im Anfang des Werkes war zwar nicht absolut neu für jene Zeit, aber das Beispiel He1

v. 19—23

[U255]

255

siods im Proömium der Theogonie hatte keine Nachfolger gefunden, und nur ein unmittelbarer Vorläufer des Theognis, der Spruchdichter Phokylides von Milet hatte eine solche Erfindung gemacht, u m seine Sprüche als sein Eigentum zu kennzeichnen, offenbar weil diese Art von Versen leicht Allerweltsbesitz wurden wie das Sprüchwort. Werden doch berühmte Verse aus Phokylides und Theognis von späteren Schriftstellern geradezu als „Sprüchwort" ohne Verfasser zitiert. Phokylides' Sprüche waren freilich dieser Gefahr besonders ausgesetzt, denn es waren Einzelsprüche ohne innern Zusammenhang. Sie sollten jeder für sich weitergegeben werden können, daher setzte der Dichter seinen Namen vor jeden einzelnen Spruch. Der erste Vers beginnt bei ihm stets mit den Worten: „Auch dies ist ein Spruch des Phokylides". Nach seinem Vorbild hat der Peisistratossohn Hipparch, als er für die Hermen der attischen Landstraßen seine Sinnsprüche dichtete, jeden mit den Worten begonnen: „Dies ist ein Mal des Hipparch", u m dann fortzufahren: „Nimmer betrüge den Freund", oder „Wandle, Gerechtes im Sinn" 1 . Das hatte Theognis nicht nötig, denn seine Sprüche bildeten wie gesagt ein zusammenhängendes Ganzes, das als solches überliefert werden sollte: die ererbte Erziehungsweisheit des adligen Standes. Theognis rechnet mit der Verbreitung seines Buches „bei allen Menschen, über Land und Meer", wie er sowohl im Proömium als auch im Epilog ausspricht. U m sein Eigentumsrecht an diesem Buch und seinem Inhalt zu wahren, genügte für Theognis wie fur jeden Autor des eben in jener Zeit entstehenden neuen Prosabuches die Nennung des Verfassernamens am Anfang des Werkes. Heutige Autoren brauchen dieses Mittel nicht, denn Name und Titel stehen auf dem Titelblatt. Das gab es in den Zeiten des ausgehenden 6. J h r h . v. Chr. noch nicht, es gab also nur den Ausweg, den noch Hekataios Herodotos Thukydides einschlugen: sie beginnen mit der Nennung ihres Namens und mit der Angabe ihres Vorhabens. I n den medizinischen Schriften, die unter dem Sammelnamen des Hippokrates uns überliefert sind, gibt es diese individuelle Herkunftsbezeichnung nicht, daher ist und bleibt die Verfasserschaft dieser Schriften für uns ein Geheimnis. I n 1

256

'Plat.' Hipparch. 228 C [V256]

der Poesie hat sich die Erfindung des „Siegels" nicht durchgesetzt wie in der Prosa. Wir finden sie nur im kitharodischen Nomos des 5.Jhrh., wo der Ausdruck „Siegel" für die Namensnennung des Dichters technisch feststeht. Ob das von Theognis hergenommen ist, vermögen wir nicht zu sagen. Es ist nun neuerdings angesichts der Schicksale, die das Buch des Theognis in der Überlieferung erlitten hat, gesagt worden, er habe seine Absicht nicht anders erreichen können als indem er jeden Spruch einzeln siegelte, man hat daher das „Siegel" auf die Anrede „Kyrnos" beziehen wollen 1 . Das wäre für uns freilich angenehm, wir könnten dann scheinbar mit einem Schlag und auf mechanische aber eben darum objektive Weise die Echtheitsfrage lösen, während sie ohne ein solches Kriterium immer ziemlich verwickelt bleiben muß. Aber Theognis konnte noch nicht voraussehen, in welchen Nöten sich der philologische Kritiker nach zweieinhalb Jahrtausenden befinden würde, wenn es einmal nur noch ein einziges Exemplar seines Buches gäbe. Denn das ist unsere Situation gegenüber der einzigen antiken Handschrift, von der unsere Uberlieferung des Theognis abhängt. Er hoffte, sein Buch würde immer in aller Händen sein, an die Jahrtausende konnte er nicht gut denken. Er konnte erst recht nicht damit rechnen, daß sein Spruchbuch schon nach loo Jahren für den symposiastischen Gebrauch mitleidlos gekürzt, exzerpiert und schließlich mit vielen anderen ungenannten Autoren zu einem Kommersbuch verschmolzen werden würde. A m allerwenigsten aber konnte er ahnen, daß die Einverleibung seines Namens in das Proömium seines Gedichts, statt ihn vor geistigem Diebstahl zu schützen, ihn umgekehrt unberechtigterweise einst als den Verfasser all der fremden namenlosen Gedichte erscheinen lassen würde, die in diesem Sammelbuch mit ihm vereinigt sind. Doch freuen wir uns, daß das Siegel seiner Namensnennung im Anfang seines Gedichts uns noch instand setzt, seine Persönlichkeit, die unter der Masse des herrenlosen Guts verschüttet liegt, wieder ans Licht zu ziehen. Das wäre bei keinem der anderen Dichter möglich, die die Sammlung birgt, insofern hat er seine Absicht doch erreicht. 1 Jacoby a. O. 3 1 , vgl. jetzt M. Pohlenz, Gott. Gel. Nachr. 1933, dessen Aufsatz ich erst nach der Niederschrift erhielt.

[H257]

257

Die Deutung des Siegels auf die Anrede an Kyrnos ist aber auch aus inneren Gründen unhaltbar. J e mehr man sich in .das Kyrnosbuch vertieft, desto unmöglicher scheint es, die mit der Kymos-Anrede versehenen Sprüche von den übrigen zu trennen, da beide miteinander zu einem einzigen Gedankengang verflochten sind. Die Unsicherheit, daß wir unter den Sprüchen ohne Kyrnosnamen, auch wenn sie in dem alten Spruchbuch stehen, Unechtes mit in Kauf nehmen, ist grundsätzlich nicht zu leugnen, und tatsächlich hat sich unmittelbar vor dem Epilog des Spruchbuchs, jenseits dessen das Fremde anfangt, ein Stück aus Solon eingenistet. Aber dieses Stück stört den Gedankenfortschritt so sehr, daß wir es, auch ohne es als solonisch nachweisen zu können, als einen Fremdkörper ausscheiden würden. Ohne inhaltliche und formale Kritik können wir hier so wenig wie sonst irgendwo auskommen, und daß selbst der Kyrnosname, zumal wo er außerhalb des Spruchbuchs vorkommt, kein absoluter Schutz gegen Unechtheit ist, wird wohl allgemein zugestanden. Wir müssen uns unser Bild von Theognis also in erster Linie auf Grund des vollständigen Buchs der Kyrnossprüche machen, wo er eine durchaus faßbare Gestalt gewinnt. Dazu sind die verstreuten Kyrnossprüche in der an das Spruchbuch angehängten Sammlung zu nehmen mit der natürlichen Einschränkung, daß die Kritik hier mehr in der Luft schwebt, weil wir diese Sprüche nicht in ihrem sie schützenden ursprünglichen Zusammenhang lesen, wodurch ihr Wert fur uns leider stark verringert wird. Von dem Rest gilt, daß wir mit unseren Mitteln leider nicht imstande sind, etwa darin steckende Theognisstücke auszusondern. Besonderer Erwähnung bedürfen nur noch die schönen, wahrscheinlich dem Proömium eines selbständigen Gedichtbuchs entnommenen Gedichte eines megarischen Dichters, die man meist als theognideisch ansieht und deren symposiastischen Frohsinn das Wetterleuchten des drohenden Ungewitters der Perserinvasion durchzuckt. Sind sie von Theognis, so hat er um 490 oder 480 noch gelebt. Die innerpolitischen Zustände Megaras, die das Kyrnosbuch schildert, passen nach unserer freilich sehr geringen Kenntnis nicht recht in diese Zeit, sie weisen eher auf die Mitte des 6. Jhrh., und in diese Zeit (544) 258

[11258]

setzt die antike wissenschaftliche Chronologie den Dichter. Das bleibt für uns leider unkontrollierbar. Die Gedichte der Perserzeit selbst geben wenig Anhalt; sie atmen anscheinend einen anderen Geist als das Kyrnosbuch, und die Art, wie ihr Verfasser es benutzt, läßt die Annahme eines zweiten von Theognis verschiedenen megarischen Dichters nicht so abwegig erscheinen, wie man sie gefunden hat. Doch ist die Basis zweier geringfügiger Berührungen dieser späten Gedichte mit dem Proömium des Theognis zu schmal, um darauf eine so einschneidende Hypothese mit Sicherheit gründen zu können. Die Kodifizierung der adligen Erziehungstradition Der Form nach gehört das Theognisbuch in dieselbe Gattung wie die Bauernweisheit der hesiodischen 'Werke und Tage' und die Sprüche des Phokylides. Es sind ΐπτοθηκαι, „Lehren" 1 . Das Wort begegnet am £nde des Proömiums, unmittelbar vor Beginn der eigentlichen Lehrsprüche: „Dich aber, Kyrnos, will ich, weil ich dir wie ein Freund gesinnt bin, solches lehren, wie ich es selbst, als ich noch ein Knabe war, von den Edlen gelernt habe." Es ist also wesentlich fur seine Lehre, daß sie nicht individuelle Gedanken des Theognis sondern die Überlieferung seines Standes gibt. Ein erster Versuch, die sittlichen Gebote der alten Adelszucht in Versen niederzulegen, war das schon erwähnte Gedicht 'Chirons Lehren' gewesen (S. 50). Phokylides gibt allgemeine praktische Lebensregeln. A n seinem Gegensatz (wie andererseits an dem des Hesiod) wird das Neue des Theognis besonders deutlich. Er will die ganze Adelserziehung in seinem Gedicht lehren, jene geheiligten Vorschriften, die bisher nur mündlich von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben worden sind. Das ist ein bewußtes Gegenstück zu der bäuerlichen Überlieferung, die Hesiod in den 'Erga' kodifiziert hat. Der angeredete Jüngling ist mit dem Dichter durch die Bande des Eros verknüpft. Das ist für Theognis offenbar die Grundvoraussetzung ihres erzieherischen Verhältnisses, sie soll ihm 1

(ι9'3)

I n diesen Zusammenhang stellte sie P. Friedländer, Hermes Bd. 43 572. v g l · Theogn. v. 27.

[Ii259]

259

auch in den Augen der Schicht, welcher beide angehören, etwas Typisches geben. Es ist bezeichnend, daß wir das erstemal, wo wir die Kultur des dorischen Adels von nahem sehen, dem männlichen Eros als einem so beherrschenden Phänomen begegnen. Wir wollen hier nicht in eine Erörterung des gerade in unseren Tagen viel besprochenen Problems eintreten, da es nicht unsere Absicht ist, den Zustand der Gesellschaft um seiner selbst willen zu schildern. Es muß nur die Stelle gezeigt werden, wo diese Erscheinung im Leben des griechischen Volkes ihren Platz und ihre Wurzel hat, das aber heißt erkennen, daß der Eros des Mannes zum Jüngling oder Knaben ein zeitgeschichtliches Wesenselement im Aufbau der frühgriechischen Adelsgesellschaft ist, das mit ihren sittlichen und ständischen Idealen unauflösbar verbunden ist. Man hat von dorischer Knabenliebe gesprochen, insofern mit Recht, als sie dem ionischen und attischen Volksempfinden, wie vor allem die Komödie zeigt, immer mehr oder weniger fremd geblieben ist. Die Lebensformen der Oberschicht übertragen sich naturgemäß immer mehr auf das besitzende Bürgertum, so auch der παιδικός Ιρως, aber die Dichter und Gesetzgeber, die ihn in Athen wie etwas Selbstverständliches erwähnen oder preisen, sind doch besonders Adlige, von Solon angefangen, in dessen Gedichten die Knabenliebe neben Frauenliebe und adligem Sport als eines der höchsten Lebensgüter genannt wird, bis zu Plato. Der panhellenische Adel ist eben vom dorischen aufs stärkste beeinflußt. Wenn schon in Griechenland selbst und bereits in klassischer Zeit dieser Eros trotz größter Verbreitung auf eine so verschiedene Beurteilung stieß, weil er an bestimmte soziale und historische Voraussetzungen gebunden war, so erleichtert dies dem modernen Betrachter das Verständnis für die bekannte Tatsache, daß eine in weiten Kreisen des hellenischen Volkslebens verpönte oder deklassierte Form der Erotik in anderen sozialen Schichten eine so grundverschiedene Entwicklung genommen hat und sich für sie mit den höchsten Empfindungen für männliche Vollkommenheit und männlichen Wesensadel verband. Es ist ohne weiteres einleuchtend, wie eine helle Bewunderung vornehm gewachsener Gestalt, ebenmäßiger Bildung und 260

[1/260]

edler Bewegung gerade in einer Menschenrasse entspringen konnte, die seit unvordenklicher Zeit diese Werte als die höchsten Vorzüge des Mannes anzusehen gewohnt war und sie in unausgesetztem, mit heiligem Ernst betriebenen Wettkampf unter Einsatz ihrer letzten Körper- und Seelenkraft zu immer höherem Stande emporzüchtete. Es lag in dem Erglühen fiir den beneidenswerten Träger solcher Eigenschaften ein ideales Moment, eine Liebe zur Arete. Die durch den Eros Verbundenen bewahrte tiefere Aidos vor allem niedrigen Tun, und höherer Schwung beflügelte sie bei jeder ehrenvollen Handlung. Der spartanische Staat hat den Eros als wichtigen Faktor bewußt in seine άγωγή eingestellt, und das Verhältnis des Liebenden zu seinem Geliebten konnte sich an erzieherischer Autorität mit dem der Eltern zum Kinde vergleichen, j a war diesem in dem Lebensalter, wo der junge Mensch sich zum erstenmal von der Familienautorität und -Tradition zu lösen beginnt und zum Manne heranreift, sogar in vieler Hinsicht überlegen. Niemand wird die zahlreichen Versicherungen dieser erzieherischen Macht des Eros bezweifeln, deren Geschichte in Piatos Symposion gipfelt. Die Adelslehre des Theognis, die in demselben Lebenskreise wurzelt, ist ganz diesem erzieherischen Drang entsprungen, dessen erotische Seite wir über seinem leidenschaftlichen sittlichen Ernst leicht übersehen. Am Schluß des Spruchbuchs bricht sie mit leidvoller Bitterkeit hervor. „Ich habe dir Flügel gegeben, mit denen du fliegen wirst über Land und Meer. Bei allen Festen und Freudenfeiern wirst du im Munde der Leute sein, reizende Jugend wird zur Flöte deinen Namen hell erklingen lassen, und auch nach deinem Abstieg in den Hades wirst du durch ganz Hellas und über die Inseln des Meers hinwandeln, den künftigen Menschen ein Lied, so lange Erde und Sonne sind. Ich aber gelte dir so gar nichts, daß du wie einen kleinen Knaben mit Reden mich betrügst." Lange Zeiten hindurch war die vom Eros beseelte strenge „Eukosmie" dieser adligen Symposien durch keinen Sturm bewegt worden. Doch das ist anders geworden in den Tagen des Theognis. Den Kampf des Adels um seine Stellung, die entweder von den empordrängenden Volksschichten oder von der Tyrannis bedroht ist, hat Solons Dichtung uns kennen gelehrt. [1/2611

261

Dort erscheint der Adel als einseitige Partei, seine politische Führung als Miß Wirtschaft und als die Ursache uferloser, den Staat gefährdender Forderungen der allzu lange unterdrückten Masse. Aus dieser Gefahr war die solonische Staatsethik geboren, die aus politischem Denken die Extreme meistert und den Staat vor der Tyrannis zu bewahren sucht. Auch Theognis* Dichtung hat den Ständekampf zur Voraussetzung. Er stellt an den Anfang seiner Sprüche mehrere größere Gedichte, die die soziale Lage im ganzen beleuchten. Das erste ist eine Elegie im solonischen Stil, sichtlich in Stimmung, Gedanken und Sprache von dem Vorbild des großen Atheners beherrscht Aber während Solon, selbst ein Sohn des Adels, den eignen Stand anklagt, den er ebenso in seinen Schwächen kennt wie er seine Vorzüge liebt, macht Theognis die andere Partei allein fïir die Unruhe und Ungerechtigkeit verantwortlich, von denen die Stadt erfüllt ist. Die Lage in Megara hat sich offenbar zu ungunsten des alten grundbesitzenden Stadtadels entwickelt. Die Führer beugen das Recht, verderben das Volk, wirtschaften in ihre Tasche und sind lüstern nach immer wachsender Macht. Der Dichter sieht die Stadt, die noch ruhig ist, in Bürgerkrieg sich entzweien. Ein Tyrann wird das Ende sein. Das einzige Mittel zur Rettung, das Theognis zu kennen scheint, die Rückkehr zur gerechten Ungleichheit der Adelsherrschaft, liegt außerhalb jeder Möglichkeit. Ein zweites Gedicht vervollständigt das trübe Bild 2. „Die Stadt ist zwar noch dieselbe, aber die Leute sind andere geworden. Menschen, die von Gericht und Gesetz keine Ahnung hatten, deren Lenden das grobe Ziegenfell scheuerte, das sie als Kleid trugen, und die draußen vor der Stadt wie das Wild lebten, das sind jetzt die vornehmen Leute, Kyrnos, und die früher etwas waren, sind jetzt arme Teufel. Es ist ein unerträglicher Anblick! Sie lachen heimlich über einander und betrügen sich und kennen keine feste N o m , die ihnen sagt, was edel und unedel ist, weil sie keine Tradition haben. Kyrnos, mache keinen von diesen Leuten um irgend eines Zweckes willen zu deinem Freund. Begegne ihnen höflich, wenn du mit ihnen redest, aber 1 1 V. 3 9 — 5 2

v. 53-58

262

¡1/262]

in ernste Angelegenheiten laß dich niemals mit ihnen ein, denn dann wirst du die Sinnesart dieser jammervollen Kerle kennen lernen und erfahren, daß im Leben auf sie kein Verlaß ist. Betrug, Hinterlist und Heimtücke ist das, was diese rettungslose Gesellschaft liebt." Es würde uns viel fehlen, wenn wir dieses Dokument des Hasses und der Verachtung, doch auch des stärksten Ressentiments nicht hätten. Wir müssen es mit der ersten Elegie zusammennehmen, um zu sehen, wie klassenmäßig einseitig hier Solons Idee der Gerechtigkeit als der Wurzel aller sozialen Ordnung interpretiert wird. Aber solche Gerechtigkeit von dem Vertreter der gestürzten alten Herrenschicht zu erwarten wäre zu viel verlangt, und auch für unparteiisches Gefühl gibt der Appell des jetzt Unterdrückten an die Rechtsidee dem Bilde, das er von der Lage des Staates entwirft, ein Pathos, das der dichterischen Kraft nicht entbehrt. Der am Iambos genährte Realismus seiner Kritik teilt der gehobenen Form der Elegie neue innere Lebendigkeit mit. Fast noch wichtiger als Solons Vorbild für die Schilderung der herrschenden Ungerechtigkeit ist das der hesiodischen Erga, die sichtlich den Aufbau des Theognisbuches in zwei Hauptteilen, die von Proömium und Epilog zusammengehalten werden, beeinflußt haben. Das ist nicht nur formal zu verstehen, sondern ergibt sich aus der Ähnlichkeit der inneren Situation. Wie bei Hesiod die Arbeitsethik des Bauern mit ihren allgemeinen Lehren aus dem aktuellen Erlebnis des Streits zwischen dem Dichter und seinem Bruder Perses um Mein und Dein, also ebenfalls um die Gerechtigkeit erwächst, so entspringt die Adelslehre des Theognis seinem geistigen Kampf gegen die soziale Revolution. Die Anklage wegen Beugung des Rechts erfüllt den ersten Teil bei Hesiod wie bei Theognis. Er ist bei beiden in mehreren größeren Gedankenzusammenhängen entwickelt. Die Parallele ist schlagend auch fur den zweiten Teil des Theognisbuchs, der mit seinen kurzen Sprüchen der Spruchweisheit der Erga nachgebildet ist. Die Analogie wird nicht dadurch gestört, daß bei Theognis auch im zweiten Teil einzelne größere Stücke sich finden, die sich vom mehrzelligen Spruch zur Reflexionsform einer kurzen Elegie erweitern. Wie hier beidemal zeitlos Gültiges sich aus dem 11/263]

263

persönlichen Drang und der Not des Augenblicks gestaltet, das ist echt archaische Art. Der Mangel an künstlerischem Gleichgewicht der Teile des Werkes, das so zustande kommt, wird für unser modernes Gefühl durch den Gewinn an individueller Innerlichkeit und Kraft der Empfindung ersetzt, so sehr daß wir leicht in den Irrtum verfallen, das Herausstreben dieser bewegten Innerlichkeit aus ihrer subjektiven Sphäre zur allgemeinen Norm zu verkennen und überall nur Bekenntnisse zu hören, wo Erkenntnisse gehört sein wollen. Die zweite der Elegien des ersten Teils führt schon zu der Spruchsammlung selbst, dem eigentlichen Kodex der Adelsethik hinüber, wenn sie die Ungerechtigkeit und das hinterlistige Treiben der jetzt herrschenden Klasse darauf zurückführt, daß sie keinerlei Maßstäbe 1 des Edlen und Unedlen kenne. Das ist es gerade, was der Dichter den Kyrnos lehren will, damit er sich durch wahrhaft adlige Zucht und Haltung von der Masse unterscheide. Die Maßstäbe hat nur, wer die Tradition hat. Es ist an der Zeit, sie dadurch der Welt zu erhalten, daß der Mann ersteht, der sie in die dauernde Form prägt. So mag sie dem gutgearteten jungen Menschen ein Führer dazu sein, ein wahrer Edelmann zu werden. Der Dichter warnt vor dem Umgang mit den Schlechten (κακοί, δειλοί), das ist für ihn ein konkreter Begriff, der alles umfaßt, was nicht adliger Zucht entstammt, wie andererseits die Edlen (άγαθοί, έσβλοί), sich nur unter seinesgleichen finden. Das ist ein Hauptgedanke seiner Erziehung, den er sogleich bei der Ankündigung seiner Absicht, die Lehren der Vorfahren zu überliefern, gleichsam als Axiom aufstellt und mit dem dann wieder der Spruchteil beginnt. Dazwischen — zwischen Ankündigung und Spruchweisheit — steht der politische Teil. Er gibt die aktuelle Begründung für die Forderung: halte dich an die Edlen, mische dich nicht unter die Gemeinen, indem er das Bild ihrer Verdorbenheit in dunklen Farben malt. Was Theognis unter dem Umgang mit den Edlen versteht, zeigt im Großen das Beispiel seiner eigenen Unterweisung, denn sie ist getragen von dem 1 ν. 60 γνωμαι, eigentlich maßgebliche Urteile, wobei man an die geprägten Gnomen des Spruchteils denkt.

264

[1/264]

Autoritätsanspruch wahren Adels, den der Dichter für seine eigene Person erhebt. Dem Gedankengang des Sprurhtcils im einzelnen zu folgen, ist nicht unsere Aufgabe. Jedes Wort, das der Dichter spricht, jede Forderung, die er aufstellt, empfängt ihren besonderen Nachdruck, ihre eigentümliche Dringlichkeit durch die Gegenwärtigkeit der Gefahr, in die sie durch die vorangehende Schilderung der sozialen Verhältnisse hineingestellt ist. Theognis beginnt mit einer ganzen Kette von Gnomen, die vor der Freundschaft mit Schlechten und Unedlen warnen, weil sie unzuverlässig und treulos sind. Er rät nur wenige Freunde zu haben, Männer, die hinter dem Rücken nicht anders sprechen als ins Gesicht und an denen man im Unglück eine Stütze hat. Jede Umwälzung erzeugt in der Gemeinschaft eine Vertrauenskrise. Die Gleichgesinnten schließen sich enger zusammen, denn Verrat schleicht auf edlen Wegen. Theognis spricht es selbst aus: ein zuverlässiger Mann ist Gold wert in der Zeit der politischen Zwietracht. Ist das noch die alte Adelsethik? Gewiß hatte sie die idealen Freundschaften, Theseus und Peirithoos, Achilleus und Patroklos als Vorbilder aufgestellt, und die Hochschätzung des guten Beispiels gehört zum ältesten Bestände aristokratischer Erziehung. Aber hier wird unter dem Zwang der verzweifelten politischen Lage des Adels die alte Lehre vom hohen Wert des guten Beispiels und edlen Umgangs zum Lobe der politischen Hetärie, zur Parteiethik. Das folgt schon aus der beherrschenden Stellung der Forderung des richtig gewählten Umgangs und der erprobt zuverlässigen Gesinnung als Vorbedingung jeder Freundschaft, an der Spitze der theognideischen Erziehung. Möglich daß der Dichter selbst bereits so von seinen Eitern gelehrt worden war, denn der Kampf seines Standes hatte schon eine lange Geschichte. In jedem Fall hatte dieser soziale Kampf aus der Adelsethik etwas anderes gemacht, mit der größeren Strenge war auch die größere Enge gekommen. So grundverschieden auch diese Adelsethik in ihrer Wurzel von der neuen, die sozialen Gegensätze überbrückenden Staatsethik ist, wie Solon sie vertritt, muß der Adel sich doch jetzt dem Ganzen irgendwie einfügen. Er kann sich als den heimlichen, zu Unrecht gestürzten Staat [11265]

265

im Staate fühlen, den es wieder aufzurichten gilt, aber er bleibt doch nüchtern betrachtet eine bloße Partei, die um ihre Machtstellung kämpft, wobei ihr Streben nach innerem Zusammenhalt sich des angeborenen Standesgefühls bedient, um der Zerbröckelung vorzubeugen. Die alte Forderung des guten Umgangs wird zur politisch betonten Exklusivität. Das ist eine Folge der Schwäche, doch es ist nicht zu verkennen, daß die Forderung der Treue, mag sie auch in erster Linie standespolitische Gesinnungstreue bleiben, und der unbedingten Aufrichtigkeit als Grundlagen der Freundschaft hohe Werte erzeugt hat, die auch sittlichen Gehalt in sich tragen. Hier liegen die Wurzeln des Korpsgeistes, von ihm aus ist das Urteil gesprochen: „Die neuen Leute lachen heimlich über einander, wenn sie sich betrügen." Mit der Höhe des solonischen Staatsdenkens kann sich diese Standeserziehung nicht messen, doch wir dürfen nicht an dem Ernst ihrer Forderung zweifeln, die Gleichung άγαθός = adlig durch die Tat zu erweisen. Theognis sieht in der so verstandenen Vornehmheit die Stärke seines Standes, sein letztes Bollwerk im Kampf um seine Existenz. Was wir an den Vorschriften über den rechten Umgang beobachten ist eine durchgehende Erscheinung in der ganzen Erziehung des Theognis. Diese Adelsethik ist durchaus das Erzeugnis der neuen sozialen Verhältnisse. Dabei darf die Entwicklung des Standes zu einer Partei nicht zu eng im Sinne eines bestimmten politischen Tätigseins verstanden werden. Der Adel ist nur zum engen defensiven Zusammenschluß gezwungen. Im öffentlichen Leben kann diese Minderheit sich augenblicklich überhaupt nicht durchsetzen, Theognis rät seinem jungen Freunde daher zur bewußten äußeren Anpassung an die bestehenden Zustände. „Gehe den mittleren Weg, wie ich es tue." Das ist nicht die heroische Mittelstellung Solons zwischen den kämpfenden Extremen, sondern das Sichhindurchschlängeln mit dem mindesten Einsatz persönlichen Risikos. Kyrnos soll verschlagenen Sinnes sein und schillerndes Wesen zur Schau tragen. Er soll sein wie der Polyp, der die Farbe des Felsens annimmt, an dem er sich festsaugt, und seine Farbe beständig wechseln. Das ist die Mimicry des Kampfs ums nackte Dasein, der Demos gilt eben als Feind. Die moralische Schwierigkeit dieses Kampfes 266

[I/266J

liegt darin, daß er seiner Natur nach kein offener ist, aber Theognis glaubt, daß ein edler M a n n dabei doch immer ein edler Mann bleibt, j a sogar daß er auch „für den hohlköpfigen Demos eine feste Burg ist, obgleich er wenig Ehre von ihm erfahrt". Das sind keine Widersprüche, es ergibt sich notwendig aus der Lage, in der sich der Adel befindet. Aber die alte Adelsethik ist es nicht. Neu und grundstürzend ist vor allem die Krisis des Aretebegriffs, die mit dem eigentlichen Kern der politischen Umwälzung, der Umschichtung des wirtschaftlichen Lebens zusammenhängt. Die Stellung des alten Adels beruhte auf dem Grundbesitz. Durch das Aufkommen der Geldwirtschaft ist er erschüttert. Wir wissen nicht, ob noch politische Ursachen hinzutraten, jedenfalls ist der Adel zur Zeit des Theognis zum Teil verarmt, und ein neuer plebejischer Reichtum drängt zu politischer Macht und gesellschaftlichem Ansehen empor. Der altaristokratische Begriff der Arete war durch diesen Wechsel des Besitzes miterschüttert, denn sie hatte stets gesellschaftliche Geltung und äußere Lebensgüter mitumfaßt, ohne die manche spezifischen Wesenseigenschaften des vornehmen Mannes wie Freigebigkeit und Großartigkeit des Auftretens gar nicht zur Wirkung kommen konnten. Selbst für den einfachen Bauern war es selbstverständlich, d a ß Reichtum Arete und Ansehen verschafft, wie Hesiod ausspricht, und die Verbindung beider Begriffe zeigt, daß in der frühgriechischen Arete die soziale Geltung und äußere Stellung immer mitgedacht werden muß. Die Auflösung dieses Aretebegriffs ging von der neuen Staatsethik aus. Uberall freilich, wo der altadlige Aretebegriff angegriffen oder umgewandelt wird, bei Tyrtaios und Solon vor allem, stellt sich heraus, wie fest gerade der Reichtum (όλβος, ttàoutos) mit ihm verbunden war und wie schwer er sich aus dieser ursprünglichen Einheit zu lösen vermochte. Tyrtaios hatte die neue politische Arete, die fur das mit Messenien ringende Sparta vor allem in der soldatischen Tapferkeit bestand, höher gewertet als den Reichtum und alle adligen Lebensgüter, Solon die höchste politische Tugend des neuen Rechtsstaates, die Gerechtigkeit. Aber er hatte doch als ein Kind der alten Anschauungen um Reichtum, wenn auch nur u m gerechten [U267]

267

Reichtum, zu den Göttern gebetet und seine Hoffnung auf Arete und Ansehen darauf mitgegründet. Für sein soziales Denken war die Ungleichheit des Besitzes keine schlechthin widergöttliche Einrichtung, denn es gibt für ihn noch anderen Reichtum als Geld und Gut, den die Natur dem Menschen in dem Gebrauch seiner gesunden Glieder und in der Lebensfreude mitgegeben hat. Wenn er die Wahl zwischen Arete und Reichtum hätte, so würde er der ersten den Vorzug geben. Wie revolutionär und dabei positiv und stark das alles gedacht ist, lehrt der Vergleich mit Theognis, der nicht müde wird die Armut zu beklagen und zu verwünschen und ihr eine unbegrenzte Macht über die Menschen zutraut. Freilich hat er sie am eigenen Leibe kennen gelernt, und so schwer er an ihr trägt, gibt es doch Werte, die ihm höher stehen als der Besitz, j a denen zuliebe er auf ihn sogar freiwillig zu verzichten fordert. Er hat an den verhaßten Neureichen nur zu sehr die Erfahrung gemacht, daß Geld und Gemeinheit sich gut miteinander vertragen, und er muß Solon Recht geben, der dann die gerechte Armut vorzieht. Hier ist die Umwertung des altadligen Aretebegriffs unter dem Druck der Zeitverhältnisse vollkommen klar. Bei Solon ist sie aus innerer Freiheit geboren. Theognis hat sich mit Solons Anschauungen über Besitz und Arete leidenschaftlich auseinandergesetzt, das ist auf Schritt und Tritt zu spüren, wie in den politischen Elegien des ersten Teils mit Solons Eunomie, so hier mit der großen Musenelegie, die das Verhältnis des menschlichen Strebens nach Besitz und des Erfolgs unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung sieht. Ihre beiden miteinander in großartiger Spannung stehenden Teile hat Theognis in zwei selbständigen Gedichten variiert und dadurch allerdings die tiefsinnige Rechtfertigung des göttlichen Waltens, die bei Solon beide Teile zusammenhält, z e r s t ö r t U m ein religiöses Erkennen dieser Art ist es ihm nicht zu tun, ja er ist dessen überhaupt nicht fähig. Solons erster Gedankengang, der das Wirken Gottes in der Tatsache erkennt, daß Unrechtes Gut auf die Dauer nicht gedeiht, ruft in Theognis eine mehr subjektive 1 Dem ersten Teil der solonischen Musenelegie (frg. i) entspricht Theogn. 197—208, dem zweiten Theogn. 133—14a.

268

[1/268]

Reflexion wach: gewiß, er stimmt Solon zu, aber die Menschen lassen sich immer wieder dadurch täuschen, daß die Strafe manchmal gar so lange auf sich warten Iäßt. Da spürt man die Ungeduld dessen, der auf die himmlische Rache an seinen Parteigegnern wartet und sich sagt, daß er sie vielleicht nicht mehr selbst erleben wird. In der freien Variation des zweiten Teils der solonischen Elegie sieht Theognis wieder nicht das Problematische, das darin liegt, wenn trotz dieser strengen göttlichen Gerechtigkeit, deren Bild Solon im ersten entworfen hat, das Streben des Guten so oft mißlingt, die Fehler des Toren aber keine schlechten Folgen haben. Der sittliche Widerspruch darin reizt sein Nachdenken nicht, geschweige daß er sich wie Solon auf die Seite der Gottheit zu stellen vermag, um von diesem höheren Standpunkt aus die Notwendigkeit eines überindividuellen Ausgleichs in dem Chaos der menschlichen Bestrebungen und Wünsche zu begreifen. Auch hier findet Theognis in Solons Betrachtung nur den Anstoß zu einer resignierten subjektiven Stimmung. Er ist nach seinen Erfahrungen ganz davon durchdrungen, daß der Mensch weder für seinen Erfolg noch für sein Mißgeschick jemals selbst die Verantwortung trägt. Dem Menschen bleibt nichts anderes übrig als sich in den Willen der Götter zu ergeben, er selbst kann nichts zu seinem Schicksal beitragen. Selbst im Reichtum, Erfolg und Ansehen liegt der Keim des Unheils verborgen, heißt es in anderem Zusammenhang, deshalb soll man nur um eines beten, um Tyche. Was nützt einem gemeinen Menschen das Geld, wenn es ihm zuteil wird, da sein Sinn doch nicht „gerade" ist! Es kann ihn nur ins Verderben stürzen. Nur das was übrig bleibt, wenn man von dem wahrhaft adligen Menschen den Reichtum wegdenkt, der innere Adel sozusagen, wird jetzt die Arete, und wie wenige haben sie. Man hat geglaubt, Theognis könne nicht so „moralisieren", aber gerade, weil er in Ehren verarmter Adel ist, hat er hierin solonisch denken gelernt. Es ist auch nicht richtig, daß der schöne Spruch nicht ihm gehören könne: „In der Gerechtigkeit ist alle Tugend enthalten, und jeder ist ein adliger Mann, der gerecht ist". Mag er den Gedanken von einem Nichtaristokraten wie Phokylides übernommen haben, er konnte gar nicht anders als [11269]

269

das Prinzip sich aneignen, das die nach der Macht drängende Masse auf ihre Fahne geschrieben hatte und das sie doch in ihren Taten mit Füßen trat, wie er überzeugt war. Gerade dieses Prinzip wurde jetzt zur Waffe des ungerecht unterdrückten früheren Herrenstandes, der einst allein „Gesetz und Recht gekannt" hatte und der auch jetzt noch nach der Ansicht des Dichters der einzige Träger wirklicher Gerechtigkeit war. Das ist gewiß eine Verengung des Ideales der Gerechtigkeit als der wahren Tugend vom Staatlichen ins Ständische, aber für Theognis hat sie nichts Befremdendes. Auch für Pindar ist die Gerechtigkeit ein unerläßlicher Bestandteil, j a die höchste Blüte adliger Gesittung geworden. Hier hat eben doch der Geist der neuen Polisethik die alten Ideale überwunden. Es gab nur noch eine letzte Schranke, das war der unerschütterliche Glaube an das Blut. Darum fordert Theognis seine Reinerhaltung als höchste Pflicht. Hier erhebt er seine Stimme gegen törichte und gesinnungslose Standesgenossen, die glauben ihrem herabgekommenen Besitz durch Heirat mit den Töchtern reicher Plebejer aufhelfen zu können oder ihre Töchter den Söhnen von Emporkömmlingen geben. „Bei der Wahl der Zuchttiere, der Widder, Esel und Hengste suchen wir nur die Edelsten aus, aber unser eignes Blut ist uns für solche Verbindungen nicht zu schade. Der Reichtum mischt die Geschlechter" 1 . Auch dieser schroff betonte Rassen- und Zuchtwahlgedanke ist ein Zeichen, daß die Adelsethik in eine neue Periode eingetreten ist. Sie wird zum bewußten Kampf gegen die nivellierende Übermacht des Geldes und der Masse. Es ist natürlich, daß ζ. B. in Athen, wo so gewaltige Gesamtaufgaben zu lösen waren, die tieferen Geister, obwohl sie großenteils adlig waren, bei der bloßen Reaktion nicht stehen bleiben konnten. Schon Solon war darüber hinausgewachsen. Aber wo immer es einen um seine Existenz und seine Sonderart kämpfenden Adel gab, hat er in der Erziehungsweisheit des Theognis von Megara seinen Spiegel gefunden. Viele seiner Gedanken sind im Kampf des Bürgertums mit dem Proletariat auf späterer Stufe wieder aufgelebt, und letzten Endes steht und fällt sein Glaube mit der Frage der Berechtigung und Notwendigkeit 1

270

v. 183 ff. [V270J

eines Adels überhaupt, gleichgültig ob es der des Blutes ist oder irgend einer anderen höheren Tradition. Der Rassenzuchtgedanke, der spezifisch aristokratisch ist, hat in der Antike selbst vor allem in Sparta und bei den großen Staatserziehern des 4. Jhrh. seine weitere Ausbildung gefunden, wo er eingehender zu behandeln sein wird. Er hat dort das ständisch Beschränkte abgestreift und verbindet sich mit der Forderung der staatlichen Erziehung des gesamten Volkes. Pindars Adelsglaube Aus dem zähen Kampf des Adels um seine soziale Stellung, wie er sich nicht nur in dem kleinen Megara abgespielt hat, führt Pindar auf die heroischen Gipfel altgriechischen Adelslebens. Wir dürfen die Problematik dieser Kultur, in die Theognis uns blicken läßt, hier eine Zeit lang vergessen, denn wir betreten die Schwelle einer höheren Welt. Pindar ist die Offenbarung einer uns fernen, doch zu Ehrfurcht und Bewunderung zwingenden Größe und Schönheit. Er zeigt das Ideal des hellenischen Rassenadels in den Augenblicken seiner höchsten Verklärung, wie es aus mythischen Zeiten in die nüchtern ernste Gegenwart des 5. Jhrh. hineinragend doch die Kraft hat, immer wieder bei den Wettkämpfen in Olympia und Pytho, in Nemea und am Isthmos von Korinth die Blicke von ganz Hellas auf sich zu lenken und alle Gegensätze der Stämme und Landschaften in dem alle einigenden Hochgefühl seiner Triumphe vergessen zu lassen. Von hier muß man das Wesen der altgriechischen Aristokratie sehen, um zu erkennen, daß ihre Bedeutung für die Formung des griechischen Menschen nicht in der eifersüchtigen Konservierung altererbter ständischer Vorrechte und Vorurteile und in der Ausbildung einer wie auch immer verinnerlichten Besitzethik aufgeht. Der Adel ist der Schöpfer des hohen Menschenideals, das noch heutigen Tages in den Werken der griechischen bildenden Kunst der archaischen und klassischen Periode auch dem ferner stehenden Bewunderer sinnlich gegenwärtig ist, wenn es auch oft mehr von außen angestaunt als innerlich verstanden wird. Das Wesen dieses agonalen Menschen, den die Kunst uns in der kraftvoll harmonischen Bildung seiner edlen Gestalt schauen läßt, gewinnt für uns in [U271]

271

Pindars Dichtung inneres Leben und Sprache und wirkt in seiner Seelenstärke und seinem religiösen Ernst noch heute mit geheimnisvoll anziehender Gewalt, wie sie nur dem Einmaligen, Unwiederholbaren in der Geschichte des Menschengeistes eignet. Denn einmalig begünstigt und unwiederholbar war der Augenblick, wo die gottesvolle Diesseitswelt des althellenischen Glaubens in der über das irdische Maß zur „Vollkommenheit" gesteigerten Menschengestalt den Gipfel des Göttlichen sah und wo in den menschengestaltigen Götterbildern zugleich das Ringen des Sterblichen nach Annäherung an dieses Vorbild, das dem Künstler erst das Auge für das Gesetz dieser Vollkommenheit aufgetan hatte, seine Weihe und Heiligung empfing. Pindars Poesie ist archaisch, aber sie ist es noch in einem anderen Sinne als die Werke seiner Zeitgenossen und selbst älterer vorklassischer Dichter. Solons Iambos erscheint daneben in Sprache und Empfindung durchaus modern. Das Bunte, Überreiche, logisch schwer Übersehbare des pindarischen Gedichts ist nur die 'zeitgemäße' äußere Gewandung einer tief innerlichen Altertümlichkeit, die in dem ganzen Sein des Menschen, in der strengeren Gebundenheit seiner geistigen Haltung, in dem Anderssein seiner geschichtlichen Lebensform ihren Grund hat. Bei Pindar überkommt uns, wenn wir von der 'älteren' Kultur Ioniens aus uns ihm nähern, das Gefühl, aus der Einheit der vom homerischen Epos ausstrahlenden und geradlinig zur individuellen Lyrik und Naturphilosophie der Ionier hinführenden Geistesentwicklung herauszufallen und in eine andere Welt verschlagen zu sein. Wie sich bei Hesiod, der im übrigen ein so gelehriger Schüler Homers und des ionischen Denkens war, oft plötzlich der Blick in die unter den Fundamenten des Epos begrabene mutterländische Vorzeit öffnet, so und noch viel mehr sind wir bei Pindar von einer Welt umgeben, von der das Ionien des Hekataios und Herakleitos schon nichts mehr weiß, j a sie ist in manchem Betracht innerlich altertümlicher als Homer und seine menschliche Gesittung, auf die schon die ersten Strahlen des früh aufgehenden Gestirns des ionischen Denkens gefallen sind. Denn so viel auch pindarischer Adelsglaube mit dem alten Epos gemein hat, erscheint 272

[II272]

doch bei Homer fast schon nur wie ein heiteres Spiel, was für Pindar wieder blutiger Ernst ist. Das hat seinen Grund natürlich ζ. T . in dem Unterschiede der epischen Poesie und des pindarischen Hymnos, der als religiöses Gebot kündet, was jene als farbiges Leben erzählt. Aber dieser Unterschied der dichterischen Haltung entspringt nicht nur aus der Form und dem Anlaß der Gedichte als etwas äußerlich Gegebenem, sondern aus der tieferen inneren Gebundenheit Pindars an diese von ihm dargestellte aristokratische Sphäre. Nur weil sein eigenes Wesen ihr entstammte und aus ihr genährt ist, konnte er ihrer Idee so zwingende Gestalt geben, wie sie sie in seiner Dichtung gefunden hat. Pindars Werk hat im Altertum einen wesentlich größeren Umfang gehabt als der auf uns gekommene Teil seines Nachlasses. Erst in neuerer Zeit hat uns ein glücklicher Fund, der dem Boden Ägyptens entrissen wurde, von seiner verloren gegangenen religiösen Poesie eine Vorstellung gegeben. Sie überwog der Masse nach bei weitem die Siegeshymnen oder Epinikien, wie man sie später genannt hat, aber sie war fur ihn nicht wesenhaft von ihnen unterschieden. Denn auch in den Liedern auf die Sieger in den Wettkämpfen von Olympia, Delphi, am Isthmos und bei Nemea tritt der religiöse Sinn des Agons überall hervor, und der beispiellose Wetteifer, der dort entfaltet ward, war ein Gipfel des religiösen Lebens der adligen Welt. Das eigentümliche Treiben der althellenischen Gymnastik im weitesten Umfang dieses Begriffs ist seit den frühesten Jahrhunderten, in die wir mit unserer Überlieferung hinaufreichen, mit den Festen der Götter verbunden. Vielleicht waren Leichenspiele für Pelops in Olympia der Ursprung der dortigen Feste, ähnlich wie die zu Ehren des Patroklos, die die Ilias beschreibt. Daß auch Leichenspiele in periodischer Wiederkehr gefeiert werden konnten, ist auch sonst bezeugt wie für Adrastos in Sikyon, wo die Agone freilich einen anderen Charakter hatten. Solche alten Wettkämpfe mögen früh in den Dienst des olympischen Zeus übergegangen sein. Auf die Existenz von Wagenrennen an dieser Stätte uralter Kulte lange vor der Zeit, in die die Uberlieferung über die Entwicklung der olympischen Spiele den ersten Sieg des Koroibos im Stadionlauf setzt, lassen 111273]

273

die unter den Fundamenten des älteren Heiligtums gefundenen Weihgeschenke in Gestalt von Pferden schließen. Nach dem Vorbild von Olympia bildeten sich im Verlauf der archaischen Jahrhunderte die drei anderen panhellenischen periodischen Agone, die in Pindars Zeit neben dem in Pisa stehen, ohne ihn an Bedeutung jemals ganz zu erreichen. Die Entwicklung der Wettkampfarten vom einfachen Wettlauf bis zu dem vielgestaltigen Programm, das die pindarischen Siegeshymnen spiegeln, wird von der spätantiken Tradition in zeitlich genau festgelegten Etappen berichtet, doch die Gewähr dieser Nachrichten ist nicht unbestritten. Aber weder die Geschichte der Agone noch die technische Seite der Gymnastik braucht uns hier zu kümmern. Daß die Agonistik ursprünglich nur dem Adel eigentümlich war, liegt in der Natur der Sache und wird durch die Poesie bestätigt. Für Pindars Anschauung ist dies eine wesentliche Voraussetzung. Obwohl die gymnastischen Wettkämpfe zu seiner Zeit schon lange kein Vorrecht eines Standes mehr waren, nahmen die alten Geschlechter nach wie vor führend an ihnen teil. Sie hatten den Besitz, der die Muße und die Mittel zu dauerndem Training gab. Beim Adel war nicht nur die Hochschätzung des Agons traditionell, auch die zu ihm erforderliche Seelen- und Körperbeschaffenheit erbte sich hier am leichtesten fort, wenn auch mit der Zeit bürgerliche Sieger in den Wettbewerb eintreten mochten, bei denen dieselben Bedingungen erfüllt waren. Erst später läuft das Berufsathletentum dieser durch Jahrhunderte beharrlichen Strebens und unbeirrbarer Tradition hochgezüchteten Rasse in den Kampfspielen den Rang ab, und erst seit dieser Zeit findet die Klage des Xenophanes über die Uberschätzung roher ungeistiger „Körperkraft" ein spätes aber nachhaltiges Echo. In dem Augenblick, wo der Geist als etwas dem Körper schlechthin Entgegengesetztes oder gar Feindliches empfunden wird, ist das Ideal der alten Agonistik unrettbar erniedrigt und büßt seine beherrschende Stellung im griechischen Leben ein, wenn sie auch als Sport noch Jahrhunderte lang weiterbesteht. Nichts ist ihr ursprünglich fremder als der nur intellektuelle Begriff der „körperlichen" Kraft oder Ertüchtigung. Die für uns unwiederbringlich verlorene Einheit des Leiblich-Seeli274

[1/274]

sehen, die wir in den hohen Werken der griechischen bildenden Kunst verehren, weist uns den Weg zum Verständnis der menschlichen Höhe des agonalen Ideals, wenn ihm auch die Wirklichkeit keineswegs durchweg entsprochen hat. Wie weit ihr gegenüber Xenophanes im Recht ist, läßt sich schwer ahnen, aber so viel lehrt die Kunst, daß er für dieses hohe Ideal als solches nicht der rechte Interpret ist, dessen Verkörperung nächst dem Bilde der Gottheit die vornehmste Aufgabe der ganzen religiösen Kunst jener Epoche ist. Pindars Hymnendichtung verbindet sich mit den höchsten Augenblicken im Leben des agonalen Menschen, dem Sieg in Olympia oder einem anderen der großen Wettkämpfe. Der Sieg ist die Voraussetzung des Gedichts, es steht im Dienst seiner Feier und wird meistens bei oder kurz nach der Heimkehr des Siegers von einem Chor junger Mitbürger des Gefeierten gesungen. Diese Gebundenheit des Siegeslieds an den äußeren Anlaß erscheint bei Pindar religiös bedingt wie in den Götterhymnen. Das ist nicht das Selbstverständliche. Nachdem sich in Ionien im Anschluß an das von Anfang an nicht kultische Epos eine individuelle Poesie gebildet hatte, in der der Mensch den Ausdruck seiner Gefühle und Gedanken suchte, hatte ein freierer Geist auch die seit den ältesten Zeiten gleichberechtigt neben dem Heldengesang stehende kultische Dichtung, den Hymnos ergriffen, der zum Preis eines Gottes gesungen wurde. Das führte zu mannigfachen Abwandlungen seiner alten konventionellen Form, sei es daß der Dichter einem eignen religiösen Gedanken Aufnahme gewährte und dadurch dem Liede persönliche Ausdruckskraft gab, oder sei es daß Hymnos und Gebet zur bloßen Form wurden, um die verborgenen tiefsten Gefühle des menschlichen Ich einem übermenschlichen Du gegenüber frei aussprechen zu können, wie es die Lyrik der Ionier und Aeoler tut. Ein weiterer Schritt, der von dem fortschreitenden Selbstgefühl des Individuums auch im Mutterlande zeugt, war die Übertragung des Hymnos aus dem Dienst der Götter auf die Verherrlichung einzelner Menschen, die gegen Ende des 6. Jhrh. sich nachweisen läßt. Hier wird der Mensch selbst Gegenstand des Hymnos. Natürlich war das nicht bei jedem Beliebigen, sondern nur bei dem gottähnlichen Olympionikentum möglich, aber die [11275]

275

Verweltlichung des Hymnos ist doch unverkennbar, und durch und durch weltlich war die „ums Geld sich verschenkende Muse" des großen zeitgenössischen Dichtervirtuosen Simonides von Iulis auf Keos, der diese Siegeshymnen als Spezialität neben vielen anderen Arten profaner Gelegenheitspoesie pflegte, und seines ihm und Pindar nacheifernden unbedeutenderen Neffen Bakchylides. Bei Pindar erst wird der Siegeshymnos zu einer Art religiöser Dichtung. Indem er aus seiner altadligen Auffassung des Agons den um die Vollendung seines Mannestums ringenden Menschen und Sieger unter den Aspekt einer bestimmten sittlich-religiösen Deutung des Lebens stellt, wird er der Schöpfer einer lyrischen Poesie von unerhörter Tiefe des menschlichen Gehalts, wenn sie vom festlich besonnten Gipfel auf des sterblichen Loses Bedeutung und rätselvolles Geschick hinabblickt, und es gibt keinen Dichter von souveränerer Freiheit als diesen gedankenschweren Meister einer neuen kultischen Kunstübung von selbstgeschaffener frommer Gebundenheit. Nur in dieser Form hat für ihn der Hymnos auf den menschlichen Sieger ein Existenzrecht. Wenn er ihn seinen handwerksstolzen Erfindern durch diese Wesensumwandlung entrissen und sich zu eigen gemacht hat, so konnte er das nur wagen im hohen Selbstgefühl seiner allein wahren Auffassung der ehrwürdigen Dinge, um die es sich hier handelte. Sie unter den Menschen seiner andersgearteten und -gesinnten Zeit wieder zur Geltung zu bringen, gab der Hymnos Epinikos Gelegenheit, und die neue Liedform selbst erlangte durch ihre Beseelung mit dem echten Adelsglauben jetzt erst ihre 'wahre Natur'. Weit entfernt davon, in dem Verhältnis zu dem gefeierten Sieger eine des Dichters unwürdige Abhängigkeit zu empfinden oder sich gar tatsächlich von seinen Wünschen wie ein Handwerker abhängig zu machen, kennt er ebensowenig den Geisteshochmut der Herablassung, sondern er steht immer auf der gleichen Höhe wie der Sieger, sei er König, Edelmann oder schlichter Bürger. Dichter und Sieger gehören für Pindar zusammen, und so erneut sich in ihm nach seiner eigenen Deutung dieses zu seiner Zeit immerhin merkwürdigen Verhältnisses der ursprüngliche Sinn ältesten Sängertums, der nichts anderes war als den Ruhm großer Taten zu künden. Damit gibt er dem Gesang den heroischen Geist zurück, 276

11/276]

aus dem er zuerst in Urzeiten quoll, und erhebt ihn über den bloßen Bericht des Geschehenen wie über den verschönten Ausdruck des bloßen Gefühls zum Lob des Vorbildhaften. Die Bindung an den wechselnden, scheinbar zufälligen und äußerlichen Anlaß wird ihm zur größten Stärke seiner Dichtung: der Sieg fordert das Lied. Dieser normative Gedanke ist fur Pindar die Grundlage seines Dichtertums. In immer neuen Wendungen kehrt er bei ihm wieder, wenn er „die dorische Phorminx vom Wandpflock langt" und die Saiten erklingen läßt. „Jeglich Ding dürstet nach andrem, aber Wettkampfsieg liebet am meisten Gesang, der Kränze und Mannestugenden schicklichsten Begleiter." Er nennt es „der Gerechtigkeit Blüte", den Edlen zu preisen, j a das Lied wird häufiger als eine „Schuld" bezeichnet, die der Dichter dem Sieger gegenüber hat. Die Areta — dieses Wort können wir bei Pindar nicht anders als in der strengen dorischen Lautform seiner Sprache schreiben — die Areta, die im Siege triumphiert, will nicht „schweigend am Boden versteckt" werden, sie heischt Verewigung im Wort des Sängers. Pindar ist der echte Dichter, bei dessen Berührung sich alle Dinge dieser alltäglich und schaal gewordenen Welt wie durch einen Zauber immer wieder in ihre quellfrische ursprüngliche Sinnhaftigkeit zurückverwandeln. „Das Wort" sagt er in dem Lied auf den Aigineten Timasarchos, den Sieger im Knabenringkampf, „das Wort lebt länger als Taten, wenn die Zunge es mit dem Gelingen, das die Chariten schenken, aus tiefem Herzen schöpft." Wir haben zu wenig von älterer griechischer Chorlyrik, um Pindars Stellung in ihrer Geschichte zuversichtlich zu bestimmen, aber es scheint, daß er damit etwas Neues geschaffen hat, und es wird niemals gelingen, seine Dichtung aus ihr 'abzuleiten'. Die artistische Lyrisierung des Epos in der älteren Chorpoesie, die vom Epos vor allem den mythischen Stoff übernimmt und ihn in lyrische Form umsetzt, bewegt sich in entgegengesetzter Richtung, so viel auch Pindars Sprache ihr im einzelnen verdanken wird. Wir könnten bei ihm eher von einer Wiedergeburt des episch-heroischen Geistes und seines echten Heldenlobs in der Lyrik sprechen. Es kann vollends keinen größeren Kontrast zu der freien Aussprache des Einzelnen in der ionischen und äolischen Dichtung von Archilochos bis Sappho geben als diese [II277]

2 77

Unterordnung der Dichtung unter ein religiöses und gesellschaftliches Ideal und die fast priesterhafte Hingabe des Dichters an den mit ganzer Seele ergriffenen Dienst dieses letzten aus der Vorzeit noch lebendigen Heldentums. Aus dieser Auffassung Pindars vom Wesen seiner Dichtung empfangt auch ihre Form neues Licht. Die philologische Erklärung der Hymnen hat sich um diese Frage viel bemüht. Zum erstenmal hat August Boeckh in seinem großen Pindarwerk den Dichter sowohl aus der vollen Kenntnis seiner geschichtlichen Umwelt wie aus der inneren Intuition seines Geistes zu verstehen versucht. Er suchte in dem schwer übersehbaren Gedankengewoge des pindarischen Siegesliedes nach der in ihm sich verbergenden Einheit der Idee. Das führte in der Anwendung zu unhaltbaren Konstruktionen, und so wirkte es befreiend, als Wilamowitz und seine Generation diesen Weg verließen und sich lieber der vielgestaltigen Fülle hingaben, die die Gedichte dem sinnlichen Augenschein bieten. Die Einzelerklärung hat ihre Fortschritte im Pindar zum guten Teil dieser Resignation zu verdanken. Aber das Kunstwerk als Ganzes bleibt ein unabweisbares Problem, und gerade bei einem Dichter, der seine Kunst so streng an eine einzige ideale Aufgabe bindet, ist die Frage doppelt berechtigt, ob es eine Einheit der Form in seinen Siegesliedern gibt, die über die bloße Einheit des Stils hinausgeht. Im Sinne eines starren Schematismus des Aufbaus gibt es sie zweifellos nicht, aber jenseits dieser reinen Selbstverständlichkeit beginnt die Frage ja überhaupt erst ein höheres Interesse zu gewinnen. An ein genialisches Sichtragenlassen durch die Phantasie, wie die Sturm- und Drangzeit aus ihrer eigenen Bewußtheit es Pindar zutraute, wird heute niemand mehr glauben, und wenn man dieser Auffassung gegenüber der Gesamtform des pindarischen Hymnos unbewußt immer noch Raum gibt, so stimmt das schlecht zu der Betonung des Handwerklichen, das man etwa seit einer Generation neben dem Originalen in seiner Kunst schärfer zu sehen gelernt hat. Gehen wir aus von dem unaufhebbaren Zusammenhang von Sieg und Lied, wie er sich uns herausgestellt hat, so gab es flir Pindar zunächst verschiedene Möglichkeiten, wie die dichterische Phantasie sich ihres Gegenstandes bemächtigen konnte. 278

[1/278J

Sie konnte den realen Hergang des Ringkampfs oder Wagenrennens, die Erregung der Zuschauermenge, das Wirbeln des Staubs, das Knirschen der Räder als Impression der Sinne festhalten, etwa wie es Sophokles in der Elektra in der dramatischen Schilderung des delphischen Wagenrennens durch den Boten getan hat. Pindar scheint diese Seite kaum zu beachten, es ist von ihr stets nur in kurz andeutenden typischen Hinweisen und ganz nebenher die Rede. Auch dabei wird mehr der Mühsal des Kampfes gedacht als das sinnliche Phänomen beschrieben, denn der Blick des Dichters ist ganz auf den Menschen gerichtet, der den Sieg errungen h a t 1 . Der Sieg ist ihm die Offenbarung der höchsten menschlichen Areta, und weil Pindar ihn so sieht, bestimmt sich von daher auch die Form seines Liedes. Es kommt alles darauf an, diese Art seines Sehens sich bewußt zu machen, denn letzten Endes ist auch für den griechischen Künstler, obgleich er durch den Zwang der Gattung strenger gebunden ist, die Form seiner inneren Anschauung die Wurzel seiner besonderen Darstellungsform. Pindars eignes dichterisches Bewußtsein ist für uns der beste Führer. Er sieht sich im Geiste mit der bildenden und Baukunst wetteifern und entnimmt ihrer Sphäre gern seine Bilder. Seine Poesie erscheint ihm in der Erinnerung an die reichen Schatzhäuser der griechischen Städte in Delphis geweihtem Bezirk als ein Thesauros von Hymnen. Wie er in grandiosen Proömien seine Gesänge gelegentlich als die säulengeschmückte Fassade eines Palastes vor sich schaut, so hat er im Eingang des fünften nemeischen Liedes seine Stellung zu dem als Sieger gefeierten Menschen mit der eines Bildhauers zu seinem Gegenstande verglichen. „ I c h bin kein Bildhauer, der unbeweglich auf ihrem Sockel stehende Bildwerke schafft." Gerade aus diesem „ich bin nicht" spricht das Gefühl, etwas Ähnliches zu leisten, und daß er sich bewußt ist nichts Geringeres sondern Größeres zu schaffen, lehrt die Fortsetzung, „sondern auf allen Schiffen und im kleinen Kahn wandle hin, süßes Lied, von Aigina und melde, daß Lam1 Wilamowitz, Pindaros (Berlin 1922) S. 118 hat der» Unterschied klar gesehen, erwähnt ihn j e d o c h nur nebenbei. Diese T a t s a c h e m u ß aber notwendig z u m Ausgangspunkt des ganzen Pindarverständnisses g e m a c h t werden, nicht nur was die Adelsethik betrifft, sondern ebenso f ü r die dichterische F o r m , f ü r die W i l a m o w i t z aus dieser Erkenntnis noch nicht die Folgerungen zieht.

[U279]

279

pons kraftgewaltiger Sohn Pytheas an den Nemeen den Kranz des Pankration ersiegt hat." Der Vergleich lag nahe, weil der Bildhauer der pindarischen Zeit außer den Götterstatuen nur Bildnisse von Siegern im Wettkampf schuf. Aber die Ähnlichkeit geht noch weiter. Die Siegerbildnisse der gleichzeitigen Plastik zeigen dasselbe Verhältnis zu der Person des Verherrlichten. Sie geben nicht seine persönlichen Züge sondern das Ideal der männlichen Gestalt, wie das Training zum Wettkampf sie gebildet hat. Pindar konnte keinen passenderen Vergleich für seine Kunst finden, denn auch sie hat den Menschen nicht als Individuum im Auge, sondern feiert in ihm den Träger der höchsten Areta. Beides entspringt unmittelbar aus dem Wesen des Olympionikentums selbst und der ihm zugrundeliegenden Anschauung vom Menschen. Der Vergleich findet sich noch ein zweites Mal, wir wissen nicht ob in bewußter Anlehnung an Pindar, nämlich bei Plato, wo er in der 'Politela' den Sokrates, nachdem er das ideale Bild der Arete der zukünftigen Philosophenherrscher in seinem Geist geformt hat, einem Bildhauer vergleicht. An einer andern ähnlichen Stelle des 'Staats', wo dessen alle Wirklichkeit hinter sich lassender Vorbildcharakter grundsätzlich ausgesprochen wird, ist diese Art des idealbildenden Philosophierens mit der Kunst des Malers verglichen, der nicht wirkliche Menschen sondern ein Ideal der Schönheit schafft. 1 Hier offenbart sich der tiefe, schon den Griechen selbst bewußte Zusammenhang der griechischen Kunst, besonders der bildenden und ihrer Götter- und Siegerstatuen mit dem geistigen Vorgang der Prägung des höchsten menschlichen Ideals in der pindarischen Poesie und später in der platonischen Philosophie . Sie sind von der gleichen Gesinnung erfüllt. Pindar ist der Bildhauer in der höheren Potenz, er formt aus seinen Siegern die Urbilder der Areta. Pindars völliges Verwachsensein mit diesem Beruf erkennt man erst durch den Vergleich mit seinen Zeit- und Kunstgenossen, den keïschen Dichtern Simonides und Bakchylides. Bei beiden war der Preis der männlichen Tugend konventionelles Zubehör des Siegesliedes. Überdies ist aber Simoni1 'Sokrates' verglichen mit dem Bildhauer Plat. Pol. 540 C, vgl. auch 361 D; der Vergleich mit dem Maler von Idealgestalten (παραδείγματα) 472 D.

280

[1/280]

des voll von persönlichen Betrachtungen, die zeigen, wie auch unabhängig von diesem Anlaß die Arete für die Zeit des beginnenden 5. Jhrh. ein Problem zu werden beginnt. Er findet schöne Worte für ihre hohe Seltenheit auf dieser Erde. Sie wohnt auf schwer zu erklimmenden Felsenhöhen, vom heiligen Chor flinker Nymphen umhegt. Nicht jedes Sterblichen Auge kann sie erschauen, wenn nicht Schweiß ihm, die Seele ätzend, aus dem Innern gedrungen ist. Zum erstenmal begegnet hier als Ausdruck für diese „Mannestugend" das Wort ανδρεία, offenbar noch in einer ganz allseitigen Bedeutung. Sie wird erläutert durch das berühmte Skolion des Simonides auf den adligen Thessaler Skopas. Da tritt ein Begriff der Arete in Erscheinung, der Körper und Geist zugleich u m f a ß t „ E i n Mann von wahrer Arete zu werden ist schwer, an Händen und Füßen und Geist rechtwinklig ohne Fehl gebaut." Die hohe bewußte Kunst, die in ihr steckt und strenger Norm unterliegt, wird in einem solchen Wort den Zeitgenossen offenkundig gemacht, die dafür einen besonderen neuen Sinn gehabt haben müssen. Von da aus verstehen wir das Problem, das Simonides in dem Skolion aufwirft. Das Schicksal verstrickt den Menschen oft in auswegloses Unglück, das ihn nicht zur Vollendung gelangen läßt. Nur die Gottheit ist vollkommen. Der Mensch kann es nicht sein, wenn der Finger des Schicksals ihn berührt. Nur wen die Götter lieben und wem sie Glück senden, der kommt zur Arete. Darum preist der Dichter jeden, der nicht freiwillig das Häßliche tut. „Wenn ich aber unter denen, die diese Erde nährt, einen Menschen finde, der ganz untadlig ist, so werde ich ihn euch melden." Simonides von Keos ist ein hochbedeutsamer Zeuge des geistigen Vorganges, wie die in der ionischen Lyrik seit Archilochos sich entfaltende und dauernd steigernde Bewußtheit der Schicksalsabhängigkeit des Menschen in all seinem Tun in die alte Adelsethik eindringt, die er in seinen Siegesliedern wie Pindar zu vertreten hat. In Simonides schneiden sich mehrere und sehr wesensverschiedene Linien der Tradition; das ist es, was ihn besonders interessant macht. Er steht in der Fortsetzung 1

Simon, frg. 37 und 4 Diehl

///281]

281

sowohl der ionischen wie der äolischen und dorischen Kultur und ist der typische Vertreter der um das Ende des 6. Jhrh. fertigen neuen panhellenischen Bildung. Aber eben darum ist er trotz seiner Unersetzlichkeit für die Geschichte der Problematik der griechischen Arete-Idee, um derentwillen Sokrates sich in Piatos 'Protagoras' mit den Sophisten um die Interpretation seines Skolions streitet, kein voller Repräsentant der Adelsethik im Sinne Pindars. So viel er für eine Geschichte der Areteauffassung zur Zeit des Pindar und Aischylos ausgibt, kann man von diesem großen Artisten doch nicht sagen, daß die Angelegenheit fur ihn mehr war als ein unerschöpflich interessanter Gegenstand der Betrachtung. Er ist der erste Sophist. Für Pindar aber ist sie nicht nur die Wurzel seines Glaubens sondern auch das gestaltende Prinzip seiner dichterischen Form. Was sie in sich aufnimmt an gedanklichen Elementen und was sie von sich ausstößt, bestimmt sich durch seine Zugehörigkeit zu der großen Aufgabe, den Sieger als Träger der Arete zu besingen. Wenn irgendwo in griechischer Poesie, so erwächst bei Pindar das Verständnis für die Kunstform aus der Anschauung der menschlichen Norm, die sie verkörpert. Dies kann nicht im einzelnen ausgeführt werden, denn es ist hier nicht unsere Aufgabe, Analyse der Form um ihrer selbst willen zu treiben 1 . Aus der weiteren Verfolgung der pindarischen Idee des Adelsmenschen werden sich Ausblicke auf das Problem der Gedichtform noch mehrfach von selbst eröffnen. Mit der adligen Auffassung der Areta ist für Pindar ihre Verknüpfung mit den Taten der berühmten Vorfahren gegeben. Überall steht der Sieger bei ihm im Licht der stolzen Überlieferungen seines Geschlechts. Er macht den Ahnen Ehre, wie sie ihm von ihrem Glanz mitteilen. Es liegt in dieser Einreihung keine Minderung des Verdienstes für den gegenwärtigen Träger des hohen Erbes. Die Areta ist überhaupt nur darum göttlich, 1 Meine in diesem Kapitel dargelegten, in der Paideiavorlesung seit langem vorgetragenen Anschauungen gaben W. Schadewaldt, Der A u f b a u des pindarischen Ëpinikion (Halle 1928) die Anregung, sie für die Formanalyse fruchtbar zu machen. Den Mythengebrauch Pindars hat er nicht mitbehandelt. Das hat inzwischen, wiederum durch Schadewaldts Buch angeregt, L . Iiiig nachgeholt in seiner Kieler Dissertation: Zur Form der pindarischen Erzählung (Berlin 1932).

282

[I/282J

weil ein Gott oder Heros der Urvater des Geschlechts gewesen ist; von ihm geht die Kraft aus, die sich in der Folge der Generationen immer neu in den Einzelnen offenbart. Eine eigentlich individuelle Auffassung kommt dabei nicht in Betracht, denn das göttliche Blut ist es, das alles Große wirkt. Daher mündet fast jeder Lobpreis eines Helden für Pindar in den Preis seines Blutes, seiner Vorfahren. Ihr Lob hat seine feste Stelle in den Epinikien. Mit der Einreihung in diesen Chor tritt der Sieger neben Götter und Heroen. „Welchen Gott, welchen Heros, welchen Mann werden wir preisen?" beginnt das zweite olympische Gedicht. Neben Zeus, dem Olympia heilig ist, neben Herakles, den Stifter der Olympiade, stellt es Theron, den Herrscher von Akragas, den Sieger mit dem Viergespann, ,,die stadterhaltende Zier des Geschlechts seiner Väter mit Namen von edlem Klang". Nicht immer freilich ist lauter Gutes und Glückliches von dem Geschlecht des Siegers zu melden. Die menschliche Freiheit und religiöse Tiefe des Dichters zeigt sich am schönsten dort, wo auf die hohen Tugenden der Menschen der Schatten gottgesandten Leides fallt. Wer handelnd lebt, m u ß leiden, das ist Pindars Glaube, ist griechischer Glaube überhaupt. Das Handeln in diesem Sinne kommt gerade den Großen zu, nur von ihnen kann man es in vollem Sinne aussagen, sie sind auch die wahrhaft Leidenden. So hat der Aion dem Geschlecht Therons und seiner Väter als Lohn echtbürtiger Tugenden Plutos und Charis beschert, aber er hat es auch in Schuld und Leiden verstrickt. „Die kann auch die Zeit nicht mehr ungeschehen machen, aber Vergessen, Latha, mag ihnen wohl zu Teil werden, wenn ein guter Daimon über ihrem Lose waltet. Denn von edlen Freuden sei's auch widerspenstig gebändigt stirbet das Leid, wenn Gottes Moira reichen Gedeihens hohes Glück emporschickt." Wie Glück und Gedeihen des Geschlechts ist auch seine Areta zuletzt von den Göttern gegeben. Daher ist es für Pindar ein schweres Problem, wie es kommt, daß sie oft nach einer Reihe ruhmvoller Träger generationenweise aussetzt. Dies erscheint wie eine unbegreifliche Unterbrechung in der Kette der Bezeugungen der göttlichen Kräfte eines Geschlechts, die die Gegenwart des Dichters mit der Heroenzeit verbindet. Die neue Zeit, die die Areta des Blutes nicht mehr kennt, wird auf solche un[1/283]

283

tüchtigen Vertreter des Geschlechts hingewiesen haben. Im sechsten nemeischen Gedicht ergeht Pindar sich über dieses Aussetzen der menschlichen Areta. Der Menschen und der Götter Geschlecht sind weit von einander getrennt, und doch atmen wir beide dasselbe Leben, das wir von derselben Mutter Erde empfangen haben. Aber unsere Macht ist von der der Götter geschieden: der Sterblichen Geschlecht ist nichts, der Himmel aber, wo die Götter thronen, ist ein ewig unerschütterlicher Sitz. Und doch gleichen wir sei es an großem Sinn sei es an Art den Unsterblichen, trotz der Unsicherheit unseres Loses. So beweist jetzt der Sieger im Ringkampf der Knaben, Alkimidas, was an göttergleicher Kraft in seinem Blute steckt. In seinem Vater schien sie auszusetzen, er aber wandelt wieder in den Spuren des Vaters seines Vaters, Praxidamas, der ein großer Sieger in Olympia, am Isthmos und zu Nemea war. Auch er hatte durch seine Siege die Vergessenheit seines Vaters Sokleides beendigt, der' der ruhmlose Sohn eines ruhmreichen Vaters war. Es ist wie mit den Feldern, die abwechselnd bald den Menschen den Jahresunterhalt schenken, bald wieder ausruhen. Gerade die aristokratische Ordnung beruht auf dem Nachwuchs hervorragender Repräsentanten. Daß es auch im Wachstum der Geschlechter eines Hauses eine Mißernte, eine Aphorie gibt, ist eine griechischem Denken immer naheliegende Anschauung, die wir bei dem Autor Vom Erhabenen in nachchristlicher Zeit wieder antreffen, wo er die Ursache des Aussterbens der großen geistigen Schöpfernaturen in der Epigonenzeit erörtert. So führt Pindars stetes Gedenken an die Vorfahren, deren Macht über die Lebendigen im griechischen Mutterlande nicht nur an der persönlichen Erinnerung, sondern an der Nähe ihrer fromm geehrten Gräber hing, eine ganze Philosophie mit sich voll tiefer Besinnung über Verdienst, Glück und Leid im Wechsel der Generationen eines mit den höchsten Erdengütern gesegneten, mit den edelsten Gaben ausgestatteten, von den höchsten Uberlieferungen getragepen Menschentums. Die Geschichte der adligen Häuser seiner Zeit gab dazu reichen Stoff. Aber vor allem liegt für Pindar in dem Gedanken an die Vorfahren doch etwas anderes, der große erzieherische Antrieb des Vorbilds. Das Lob der Vorzeit und ihres Heldentums ist seit Homer 284

[1/284]

ein Grundzug aller Adelserziehung. Wenn das Lob der Areta vornehmlich das Werk des Dichters ist, so ist er der Erzieher im erhabensten Sinne. Pindar hat diese Sendung mit höchster religiöser Bewußtheit ergriffen, darin unterscheidet er sich von dem unpersönlichen homerischen Sängertum. Seine Helden sind gegenwärtig lebende und ringende Menschen. Er stellt sie in die Welt des Mythos hinein. Das bedeutet für Pindar: er stellt sie in eine Welt idealer Vorbilder, deren Glanz auf sie überstrahlt und deren Lob sie strebend zu gleicher Höhe emporziehen und ihre besten Kräfte wecken soll. Das gibt dem Mythengebrauch bei Pindar seinen besonderen Sinn und Wert. Der Tadel, wie der große Archilochos ihn in seinen Gedichten geübt hat, gilt Pindar als unedel 1 . Seine Neider scheinen dem König Hieron von Syrakus hinterbracht zu haben, daß der Dichter sich tadelnd über ihn geäußert habe. In dem Sendschreiben seines zweiten pythischen Liedes weist Pindar, seiner Dankesschuld bewußt, dies weit von sich. Aber indem er im Lobe beharrt, weist er selbst dem Könige, der sich nicht auf der Höhe seiner Würde gezeigt hat, als er Einflüsterungen das Ohr lieh, ein Vorbild, dem er nacheifern soll. Er erspart es dem Herrscher, etwas Höheres über sich zu sehen. Aber er soll sich vom Dichter sagen lassen, was sein wahres Selbst sei, und hinter dem soll er nicht zurückbleiben. An dieser Stelle erreicht Pindars Vorbildgedanke den Punkt seiner größten Vertiefung. Der Satz „Werde der du bist" wirkt wie die Summe seines ganzen Erziehertums. Das ist der Sinn aller mythischen Vorbilder, die er den Menschen vorhält, daß sie sich durch sie ihr eignes erhöhtes Wesensbild zeigen lassen. Immer wieder wird offenbar, wie tief der sozial- und geistesgeschichtliche Wesenszusammenhang dieser Adelspaideia mit dem erzieherischen Geist der platonischen Ideen-Philosophie ist. Sie erscheint in ihm verwurzelt, wie sie anderseits aller ionischen Naturphilosophie fremd ist, mit der sie durch die Philosophiegeschichte einseitig fast ausschließlich verkettet wird. Von Pindar wird man in den Einleitungen unserer Platoausgaben gewiß kein Wort finden, stattdessen erben sich darin die UrstofFe der Hylozoisten im Zustand äußerster Verkrustung wie eine ewige Krankheit fort. 1

Pyth. II 54

[1/285]

285

Zu der pindarischen Art des Lobes, wie er es gegenüber König Hieron übt, gehört kein geringerer Freimut als zur Kritik, und es verpflichtet mehr. Nehmen wir jetzt das einfachste Beispiel erzieherischen Lobes im Pindar, um das Gesagte anschaulich zu machen, die sechste pythische Ode. Der Angeredete, Thrasybulos, der Sohn des Xenokrates, des Bruders des Tyrannen Theron von Akragas, ist noch ein ganz junger Mann, der nach Delphi gekommen ist, um das Gespann seines Vaters dort laufen zu lassen. Seinen Sieg feiert Pindar in einem kurzen Liede, das die Sohnesliebe des Thrasybulos preist. Sie ist für die alte ritterliche Ethik nächst der Ehrfurcht vor Zeus, dem Herrn des Himmels, das vornehmste Gebot. Chiron der weise Kentaur, das Urbild eines Heldenerziehers, hat diese Lehren schon dem Peliden Achilleus eingeprägt, als er in seiner Obhut aufwuchs. Der Berufung auf diese ehrwürdige Autorität folgt die Nennung des Nestorsohnes Antilochos, der vor Troja für seinen greisen Vater das Leben hingab im Kampfe wider Memnon, den Führer der Aithiopen. „Doch von den heutigen ist am meisten Thrasybulos nach seines Vaters Richtschnur gegangen." Hier ist in das Lob der Sohnestugend verflochten das mythische Vorbild des Antilochos, dessen Tat kurz erzählt wird. So greift Pindar immer wieder für jeden besonderen Fall in den Mythos als in den großen Schatz der Paradeigmata hinein, aus dem sein Dichterwissen schöpft. Die Durchdringung des Gegenwärtigen mit dem Mythischen erweist sich überall als eine einzigartige idealisierende und verwandelnde Kraft. Der Dichter lebt und webt ganz in einer Welt, in der der Mythos realer ist als idles andere, und gleichviel ob er für den alten Adel singt oder ob er neuzeitliche, frisch emporgestiegene Tyrannen oder Bürgersöhne ohne Ahnenreihe als Sieger feiert, sie alle hebt die Stufe des Rufyms, die sie damit betreten, zu gleicher Göttlichkeit empor, sobald der Dichter sie mit dem Zauberstabe seines Wissens um den höheren Sinn dieser Dinge berührt. In dem Philyriden Chiron, dem weisen Kentauren, dem Heldenlehrer, schafft Pindars erzieherisches Bewußtsein sich selbst das mythische Gegenbild. Es tritt uns auch sonst noch bei ihm entgegen, so in dem an mythischen Beispielen reichen dritten nemeischen Gedicht. Dort sind die Ahnherren des aigi286

[1/286]

netischen Siegers selbst die Vorbilder: Peleus Telamón Achilleus. Von dem letzteren schweift des Dichters Sinn wieder zur Höhle des Chiron, wo er erzogen ward. Aber gibt es für den Glauben, daß die Areta im Blute liegt, überhaupt eine Erziehung? Pindar hat mehrfach zu dem Problem Stellung genommen. Im Grunde war es schon im Homer aufgeworfen, in dem Gesänge der Ilias, der dem Achilleus den Phoinix als Erzieher gegenüberstellt, um dann im entscheidenden Augenblick dessen große Mahnrede wirkungslos an dem verhärteten Herzen des Helden abprallen zu lassen. Aber dort ist es das Problem der Lenkbarkeit des eingeborenen Charakters, bei Pindar ist es die moderne Frage, ob die wahre Tugend des Mannes erlernbar sei oder im Blute liege. Wir erinnern uns hier der bei Plato immer wiederkehrenden gleichlautenden Frage. Sie ist im Kampf der altadligen Anschauung mit dem Geist der rationalen Aufklärung zuerst so formuliert worden. Pindar verrät überall, wie er ihr nachgegrübelt hat, seine Antwort gibt er in dem dritten nemeischen Liede: Volles Gewicht hat nur, wem rühmlicher Wert Angeboren ist. Wer nur besitzt Was er erlernt, ein schwankender Schattenmann, Niemals tritt der auf mit wirklichem Fuß, Sondern von tausend hohen Dingen mit unreifem Sinn Kostet er nur. Achilleus setzte den Chiron in Erstaunen durch die Proben seines angeborenen Heldensinnes, die er, ohne jemals einen Lehrer gehabt zu haben, schon als Knabe ablegte. So meldete die Sage. Sie, die nach Pindar alles weiß, gab also auf jene Frage die richtige Antwort, daß es Erziehung nur geben kann, wo angeborene Areta vorhanden ist, wie bei den erlauchten Zöglingen Chirons, Achilleus Iason Asklepios, deren der gute Kentaur „pflag in allem Schicklichen fÖrdersam". In der Prägnanz jedes dieser Worte liegt die gewogene Erkenntnis eines langen Sinnens über diese Probleme. Sie beweist, wie bewußt und entschlossen die adlige Welt in dieser Krisenzeit ihre Stellung verteidigt. Unlernbar wie die Areta des Olympioniken ist die Kunst des Dichters, die aus der gleichen göttlichen Quelle fließt. Sie [U287J

287

ist ihrem Wesen nach „Wißtum". Das Wort σοφία ist bei Pindar die stehende Bezeichnung des Dichtergeistes. Eine eigentliche Übersetzung ist unmöglich; es kommt darauf an, was ein jeder als Inbegriff des pindarischen Geistes und seiner Wirkung empfindet, und das ist weltverschieden. Wer nur den reinen Kunstverstand in ihm sieht, der schöne Gedichte machen kann, wird es ästhetisch verstehen. Homer hatte den Zimmermann σοφός genannt, und das Wort kann im Griechischen des 5.Jhrh. noch durchaus die Bedeutung dessen haben, der irgend einer Sache technisch kundig ist. Daß es ein größeres Gewicht hat, wenn Pindar es ausspricht, muß jeder fühlen. In jener Zeit ist es längst für das höhere Wissen des Menschen gebräuchlich, der eine überragende Erkenntnis besitzt, eine Einsicht in das, was der Mann aus dem Volk das Ungemeine nennt, und der man sich willig beugt. Ein so Besonderes war auch das Dichterwissen des Xenophanes, der seine grundstürzende Kritik der geltenden Weltanschauung in seinen Gedichten stolz „mein Wißtum" nennt. Hier fühlt man die Unmöglichkeit, zwischen Form und Gedanken zu scheiden, erst beides in seiner Einheit ist die σοφία. Und wie sollte es vollends bei Pindars gedankentiefer Kunst anders sein. Der „Prophet der Musen" ist der Künder der „Wahrheit", er „schöpft aus tiefem Herzen". Er richtet über den Wert der Menschen und scheidet die „wahre Rede" der mythischen Überlieferung von lügnerischer Ausschmückung. Der Träger der göttlichen Sendung der Musen steht neben Königen und Großen als ein Gleichberechtigter auf den Höhen der Menschheit. Ihn gelüstet nicht nach dem Beifall der Masse. „Möge es mir vergönnt sein, mit den Edlen Umgang zu pflegen und ihnen zu gefallen" schließt das zweite pythische Gedicht an König Hieron von Syrakus. Aber wenn die „Edlen" die Großen dieser Welt sind, so wird der Dichter damit nicht zum Höfling, er bleibt der „gradzüngige Mann, der unter jeglichem Regiment am besten fahrt, unter der Tyrannis wie dort wo der freche Haufe herrscht, und wo die geistig Überlegenen eine Stadt behüten" 1 . Wissen findet er nur bei den Edlen, insofern ist seine Dichtung im tiefsten Sinne esoterisch. „Ich trage unter dem Arme geschwinder Geschosse viel 1

288

Pyth. II 86

ί1/288]

im Köcher, die sprechen nur zu Verstehenden, und immer bedürfen der Dolmetschen sie. Weise ist, wer durch Geblüt vieles weiß, doch die nur Gelernten mögen frech im Chor ihrer Zungen wie Raben vergeblich krächzen wider den göttlichen Vogel des Zeus." 1 Die „Dolmetschen", deren seine Lieder, die „Pfeile", bedürfen, sind die großen Seelen, die aus eignem Wesen der höheren Einsicht teilhaftig sind. Das Bild des Adlers findet sich bei Pindar nicht nur an dieser Stelle. Das dritte nemeische Lied schließt: „Es ist aber hurtig der Aar unter allem Gefieder, der ergreifet geschwind aus der Ferne ihn ereilend mit den Fängen den blutigen Fraß. Doch die krächzenden Dohlen nähren im Niedrigen sich". Der Adler wird Pindar zum Symbol seines dichterischen Selbstbewußtseins. Es ist kein bloßes Bild mehr sondern eine metaphysische Qualität des Geistes selbst, wenn er als sein Wesen das Oben, die unnahbare Höhe empfindet und die ungehemmt freie Bewegung im Reich des Äthers über dem niederen Bereich, wo die krächzenden Dohlen ihre Nahrung suchen. Dieses Symbol hat seine Geschichte gehabt von Pindars jüngerem Zeitgenossen Bakchylides bis zu dem herrlichen Verse des Euripides: „Der ganze Äther steht dem Flug des Adlers frei." In ihm sucht Pindars persönliches geistiges Adelsbewußtsein seinen Ausdruck, und dieser Adelstitel des Dichters ist für uns doch der wahrhaft unvergängliche. Freilich der Glaube an die Areta des Blutes verläßt ihn auch hier nicht, er erklärt ihm die abgrundtiefe Kluft, die er empfindet zwischen seiner Dichterkraft, die er im Geblüte trägt, und dem Wissen der „Gelernten" (μαθόντε$). Mag man über die Adelslehre vom Blute denken wie man will, die Kluft zwischen eingeborenem Wesensadel und allem nur angelernten Wissen und Können, die Pindar aufgerissen hat, wird sich nicht wieder schließen, weil sie in Wahrheit und zu Recht besteht. Er hat dieses Wort dicht vor der Eingangspforte des Zeitalters der griechischen Kultur aufgepflanzt, das dem Lernen eine so ungeahnte Ausdehnung und dem Verstand die größte Bedeutung geben sollte. Wir treten damit aus der Adelswelt heraus und vertrauen uns wieder dem großen Strom der Geschichte an, der an ihr 1

[U289]

Ol. II 83

289

vorüberrauscht, während sie mehr und mehr stillzustehen scheint. Pindar selbst ist über sie hinausgewachsen — nicht der Gesinnung aber der Wirkung nach — in den großen Gedichten, in denen er als Dichter von bereits anerkannter panhellenischer Bedeutung die Wagensiege der mächtigen Tyrannen Siziliens Theron und Hieron feiert und sie und ihre jungen Staatsschöpfungen nobilitiert, indem er sie mit dem ehrwürdigen Prunk seiner altaristokratischen Ideale verbrämt und damit zugleich deren Geltung erhöht. Wir werden das vielleicht als geschichtlichen Widersinn empfinden, obgleich alle ahnenlose usurpierte Macht sich von jeher mit dem vornehmen Hausrat vergangener Größe zu schmücken liebt. Pindar selbst hat in diesen Gedichten das Aristokratisch-Konventionelle am stärksten überwunden, und seine persönliche Stimme spricht nirgendwo vernehmlicher als hier. In der Erziehung der Könige sieht er die letzte und höchste Aufgabe, die dem Adelsdichter in der neuen Zeit zufällt. A u f sie konnte er wie später Plato zu wirken hoffen, von ihnen mochte er erwarten, sie würden in der veränderten Welt die politischen Wunschbilder hochhalten, die ihn beseelten und der Dreistigkeit der Masse Dämme ziehen. So steht er einsam als Gast am glänzenden Hofe des Karthagerbesiegers Hieron von Syrakus neben den großen „Gelernten" der Zunft, Simonides und Bakchylides, wie später Plato am Hof des Dionysios neben den Sophisten Polyxenos und Aristippos. V o n einem Großen nur, der zu Hieron kam, wüßten wir gern, ob sich sein W e g einmal mit dem Pindars gekreuzt hat, als er in Syrakus die 'Perser' zum zweitenmal aufführte: Aischylos von Athen. Inzwischen hatte das Heer des kaum 20 Jahre alten athenischen Volksstaates die Perser bei Marathon geschlagen und er entschied bei Salamis durch seine Flotte, seinen Feldherrn und den Elan seines politischen Geistes den Sieg für die Freiheit aller Griechen Europas und Kleinasiens. Pindars Vaterstadt stand in diesem nationalen Kampfe in schimpflicher Neutralität abseits. Wenn wir in seinen Liedern nach einem Echo des heroischen Schicksals suchen, das in ganz Hellas neue Zukunftskräfte weckte, so vernehmen wir in dem letzten isthmischen Gedicht nur das tiefe Aufatmen des in angstvoller Erwartung zwiespältigen Herzens Zuschauenden, der nun durch einen gnädigen

290

[1/290]

Gott den über Thebens Haupte drohenden „Stein des Tantalos" abgewendet sieht, man weiß nicht, ob die Persergefahr oder den H a ß der griechischen Sieger, deren Sache Theben verraten hatte und deren Rache es zu zerstören drohte. Nicht Pindar sondern sein großer Nebenbuhler, der vielwendige Inselgrieche Simonides, ist der klassische Lyriker der Perserkriege geworden, der mit dem ganzen Glanz und der ganzen anpassungsfähigen Geschmeidigkeit seiner alle Dinge gleich spielend meisternden, aber kühlen Form jetzt für die Griechenstädte die bestellten Grabgedichte auf ihre Gefallenen schrieb. Pindars Zurücktreten hinter ihm in dieser Zeit erscheint uns wie ein tragisches Mißgeschick, doch war es vielleicht tiefer begründet, daß er dabei verharrte, einem anderen Heldentum zu dienen. Das siegreiche Griechenland hat in seinen Versen doch etwas dem Geist von Salamis Verwandtes gespürt, und Athen liebte den Dichter, der es mit dem dithyrambischen Anruf gegrüßt hatte: „ O glänzende veilchenbekränzte, liederberühmte Feste von Hellas, herrlich Athen, du göttliche Stätte". In der ihm innerlich fremden Welt, die hier entstand, gerade hier sollte sein nationales Fortleben gesichert sein, und doch lag ihm die Feindin Athens, das reiche stammverwandte Aigina, die Stadt der seefahrenden alten Rheder- und Kaufherrenhäuser mehr am Herzen. Aber die Welt, der sein Herz gehörte und die er verklärt hat, war zum Untergang reif. Es scheint fast ein Lebensgesetz des Geistes zu sein, daß die großen historischen Formen der menschlichen Gemeinschaft erst, wenn ihr Leben zu Ende gelebt ist, die Kraft haben ihr geistiges Ideal abschließend und aus einer letzten Tiefe der Erkenntnis zu gestalten, als ob sich ihr unsterbliches Teil von dem sterblichen trennte. So bringt im Untergang die griechische Adelskultur Pindar hervor, so der griechische Polisstaat Plato und Demosthenes, so die mittelalterliche Hierarchie der Kirche, als sie ihre Höhe überschritten hat, Dante.

[U291]

291

DIE KULTURPOLITIK DER TYRANNEN Die Blüte der adligen Poesie führte schon in das 5.Jhrh. herab, doch zwischen Adelsherrschaft und Volksstaat schiebt sich als Übergang die Tyrannis, die für die Geschichte "der Bildung nicht minder folgenreich war als für die Entwicklung des Staates und deshalb hier ihre Stelle finden muß, nachdem wir sie bereits mehrfach berührt haben. Die sizilische Tyrannis, für deren Vertreter Hieron und Theron Pindar seine großen Gedichte schrieb, ist eine Erscheinung für sich, wie schon Thukydides richtig sah. Auf diesem vorgeschobenen Posten des Griechentums gegenüber der immer weiter um sich greifenden See- und Handelsmacht Karthago hat sich die 'Alleinherrschaft' auf griechischem Boden am längsten behauptet, während in Hellas selbst mit dem Sturze der athenischen Peisistratiden 510 diese Periode der politischen Entwicklung ihren Abschluß gefunden hat. Die sizilische Tyrannis beruhte auf ganz anderen Bedingungen als die aus innerpolitischen sozialen Notwendigkeiten erwachsene des Mutterlandes und des östlichen Kolonialgriechentums. Sie war zum mindesten ebenso stark militärischer und außenpolitischer Exponent des Handelsimperialismus der großen und mächtigen sizilischen Städte wie Akragas Gela und Syrakus, wie sie eine Begleiterscheinung der Auflösung der alten Adelsherrschaft und des Emporkommens der Masse war. Auch später hat die sizilische Tyrannis der Dionyse sich nach einem Halbjahrhundert demokratischer Entwicklung mit innerer Notwendigkeit aus nationalen Gründen neu gebildet, und das war es, was ihr auch in Piatos Augen ihr geschichtliches Daseinsrecht gab. Versetzen wir uns von hier zurück in die Lage Athens und 292

[11292]

der reichen Städte am Isthmos u m die Mitte des 6. Jhrh., wo im Mutterlande die Entwicklung zur Tyrannis zum Durchbruch gekommen war. Athen war die letzte Station dieser Entwicklung gewesen, die Solon in seinen Altersgedichten noch herannahen und schließlich zur Tatsache werden sah, nachdem er sie seit langem vorausgesagt hatte. Selbst ein Sohn des attischen Adels, hatte er die ererbten Anschauungen seiner Kaste kühn durchbrochen und ein neues menschliches Lebensbild in seinen Gesetzen vorgezeichnet, in seinen Gedichten hingestellt und in seinem T u n vorgelebt, dessen Erfüllbarkeit nicht mehr von den Privilegien des Blutes und Besitzes abhing. Bei seiner Mahnung zur Gerechtigkeit gegen das bedrückte arbeitende Volk hatte ihm allerdings nichts ferner gelegen als die Demokratie, die ihn später als ihren Vater in Anspruch nahm. Er wollte nur die sittliche und wirtschaftliche Gesundung der Grundlagen des alten Adelsstaates, an dessen nahen Untergang er ursprünglich gewiß nicht gedacht hat. Aber der Adel hatte aus der Geschichte und hat auch von Solon nichts gelernt. Nach dessen Rücktritt von seinem Amte entbrannte der Parteikampf mit neuer Heftigkeit. Die Archontenliste lehrte schon den Aristoteles, daß in diesen Jahrzehnten, über die wir gar nichts wissen, mehrfach abnorme Störungen der staatlichen Ordnung vorgekommen sein müssen, denn es finden sich J a h r e ganz ohne Archon, und einer hat versucht sein Amt zwei Jahre zu behalten. Der Adel der Küste, des Landesinnern und der ärmeren bergigen Distrikte Attikas, der sogenannten Diakria, war in drei Cliquen gespalten, an deren Spitze die mächtigsten Geschlechter standen. Alle drei suchten auch im Volke Anhang zu gewinnen. Offenbar begann dieses jetzt ein Faktor zu werden, mit dem zu rechnen war, obgleich oder eben weil es bei stärkster Unzufriedenheit politisch nicht organisiert und führerlos war. Peisistratos, der Führer der Adelspartei der Diakrier, wußte die anderen Geschlechter, die wie die Alkmeoniden ζ. T. weit reicher und mächtiger waren, mit großem Geschick in eine ungünstige Situation zu manövrieren, indem er sich auf das Volk stützte und ihm Zugeständnisse machte. Nachdem er mehrere vergebliche Versuche unternommen hatte, die Macht in seine Hände zu bringen und einige Male verbannt worden war, gelang es ihm endlich mit Hilfe einer persönlichen [11293]

293

Schutzgarde, die nicht militärisch mit Lanzen sondern mit festen Stöcken bewaffnet war, die Herrschaft zu ergreifen, die er in langer Regierung so festigte, daß er sie bei seinem Tode an seine Söhne ohne Störung der Nachfolge vererben konnte. Die Tyrannis ist von größter Bedeutung als geistige Zeiterscheinung wie als treibende Kraft des tiefgreifenden bildungsgeschichtlichen Prozesses, der mit der Zersetzung der Adelsherrschaft und dem Übergang der politischen Macht an das Bürgertum im 6. Jhrh. einsetzt. An der athenischen Tyrannis, über die wir am genauesten unterrichtet sind, ist dies in typischer Weise zu beobachten, wir müssen daher bei ihr verweilen. Doch es bedarf zuvor eines Überblicks über die vorhergegangene Entwicklung dieser eigentümlichen sozialen Erscheinung in dem übrigen Griechenland. Wir wissen über die Tyrannis in den meisten Städten, fur die sie bezeugt ist, leider nicht viel mehr als den Namen und einzelne Taten ihrer Inhaber. Über die Art ihrer Entstehung und deren Ursachen erfahren wir selten etwas, noch seltener über die Persönlichkeiten und den Charakter ihrer Herrschaft. Aber die erstaunliche Gleichmäßigkeit, mit der diese Erscheinung vom 7. Jhrh. an in der ganzen hellenischen Welt auftritt, läßt auf gleiche Ursachen schließen. In den uns näher bekannten Fällen des 6. Jhrh. ist der Ursprung der Tyrannis mit den großen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen dieser Zeit verknüpft, deren Wirkungen wir in unserer Uberlieferung vor allem bei Solon und Theognis kennen lernen. Die zunehmende Verbreitung der Geldwirtschaft neben und anstelle der Naturalwirtschaft wirkte revolutionierend auf den adligen Grundbesitz, der bis dahin die Grundlage der politischen Ordnung gewesen war. Der bei der alten Wirtschaftsform beharrende Adel geriet gegenüber den Besitzern der neuen Vermögen, die aus Handel und Gewerbe erwuchsen, jetzt vielfach in Nachteil, und die wirtschaftliche Umstellung des Teils der älteren Herrenschicht, der sich auf den Handel verlegte, schuf zwischen den alten Geschlechtern selbst neue Klüfte. Einzelne Familien verarmten und konnten ihre gesellschaftliche Rolle nicht mehr aufrecht erhalten, wie Theognis lehrt, andere wie die Alkmeoniden in Attika sammelten einen solchen Reichtum an, daß ihre Übermacht ihren eignen

294

[1/294]

Standesgenossen unerträglich wurde und sie selbst dem Anreiz nicht widerstehen konnten, sie auch politisch geltend zu machen. Das verschuldete Kleinbauern- und Pächtertum auf den adligen Gütern wurde durch eine harte Schuldgesetzgebung, die dem Grundbesitzer jedes Recht über die Leibeigenen gab, radikalisiert, und unzufriedene Adlige, die sich zu Führern dieser politisch hülflosen Masse machten, konnten leicht die Macht an sich reißen. Die Verstärkung des Anhangs der adligen Besitzer durch die zu allen Zeiten gleich unsympathische Schicht der neureichen Emporkömmlinge war politisch und moralisch ein zweifelhafter Gewinn, denn die Kluft zwischen der besitzlosen Masse und der alten Kulturschicht wurde dadurch nur vergrößert und zu dem rein materiellen brutalen Gegensatz von arm und reich vereinfacht, der unerschöpflichen Stoff zur Agitation gab. Die Existenz der Tyrannen wurde dadurch ermöglicht, daß der Demos ohne solche Führung die Zwangsherrschaft des Adels nicht abschütteln konnte, aber meist vollkommen zufrieden war, wenn ihr Sturz erreicht war, denn das positive Ziel der souveränen Macht des 'freien Volkes' lag der durch Jahrhunderte an Dienst und Gehorsam gewöhnten Masse noch fern. Sie war dazu damals noch viel weniger fähig als zur Zeit der großen Demagogen, ohne die sie auch später niemals auskommen konnte und deren Abfolge Aristoteles daher mit Recht in der 'Verfassung der Athener' als Leitfaden seiner Geschichte der attischen Demokratie benutzt. Wir begegnen der Tyrannis ziemlich gleichzeitig im Mutterland wie in Ionien und auf den Inseln, wo man natürlich aus Gründen der geistigen und politischen Entwicklung gerne ihre ersten Anfänge suchen möchte. In Milet, Ephesos und auf Samos finden wir um das J a h r 600 oder wenig später die politische Macht im Besitze bekannter Tyrannen, die ζ. T . mit ihresgleichen in Hellas enge Verbindung unterhalten. Denn die Tyrannen sind, obgleich eine rein innerpolitische Erscheinung oder vielleicht eben deswegen, von vornherein durch eine internationale Solidarität untereinander verbunden, die sich oft auf Heiratsverbindungen stützt. Sie nehmen damit die im 5. Jhrh. so gewöhnliche gesinnungsmäßige Solidarität der Demokratien und der Oligarchien vorweg. Damit entsteht — merkwürdig genug — ///295]

295

zum erstenmal eine weitschauende auswärtige Politik, die ζ. B. in Korinth, Athen und Megara auch zu KoloniegrUndungen führt. Für diese Kolonien ist es typisch, daß sie in engerem Zusammenhang mit ihrer Metropolis stehen als die früheren Gründungen dieser Art. So dient Sigeion direkt als athenischer Stützpunkt am Hellespont, und Periander schafft fUr Korinth ähnliche Stützpunkte am ionischen Meer in Kerkyra, das er unterwirft, und in der thrakischen Gegend in Potidäa, das er neu gründet. In Griechenland stehen Korinth und Sikyon an der Spitze der Entwicklung, denen später Megara und Athen folgen. Die athenische Tyrannis kam mit Hilfe des Tyrannen von Naxos zustande, den dann wieder Peisistratos stützte. Auch auf £uboia ist die Tyrannis früh zu Hause. Etwas später setzt sie sich wie bemerkt auf Sizilien durch, wo sie dann ihre größte Macht entfalten sollte. Der einzige bedeutende sizilische Tyrann des 6. J h r h . ist Phalaris von Akragas, der die Blüte dieser Stadt begründete. In Griechenland ist die größte Erscheinung unter den Tyrannen zweifellos, so viel Gutes sich auch über Peisistratos sagen läßt, Periander von Korinth. Sein Vater Kypselos hatte nach dem Sturz des Adelsregiments der Bakchiaden eine Dynastie begründet, die sich mehrere Generationen hindurch behauptete. Ihre Glanzperiode war die Herrschaft des Periander. Während Peisistratos' historische Bedeutung darin liegt, daß er die künftige Größe Athens vorbereitet hat, ist Korinth durch Periander auf eine Höhe geführt worden, von der es nach seinem Tode herabsank, ohne sie jemals wieder zu erreichen. In den anderen Gegenden Griechenlands hielt sich die Aristokratie. Sie stützte sich nach wie vor auf den Grundbesitz, an einzelnen Orten wie in dem reinen Handelsplatz Aigina auch auf große Vermögen. Nirgendwo hat die Tyrannis sich länger als zwei bis drei Generationen gehalten. Sie wird meist durch den politisch erfahrenen und zielstrebigen Adel wieder gestürzt, aber der Nutznießer des Umschwungs ist er nur selten; meistens kommt es bald zur Volksherrschaft wie in Athen. Der Hauptgrund des Sturzes der Tyrannen ist in der Regel, wie Polybios in seiner Theorie des Kreislaufs der Verfassungen auseinandersetzt, die Unfähigkeit der Söhne und Enkel, die nur die Macht aber selten auch die geistige Kraft ihrer Väter erben, und der Mißbrauch der 296

[1/296]

durch Volksfreundschaft gewonnenen Macht zu despotischer Willkür. Die Tyrannis wird zum Volksschreck der gestürzten Aristokraten, den sie an ihre demokratischen Nachfolger vererben. Aber der Tyrannenhaß ist nur eine einseitige Erscheinungsform der unmittelbaren Kampfstimmung und Reaktion. In jedem Griechen steckte nach Burckhardts witzigem Wort ein Tyrann, und Tyrann zu sein war für jeden ein so selbstverständlicher T r a u m des Glücks, d a ß Archilochos seinen zufriedenen Schuster nicht besser zu charakterisieren weiß als durch das Geständnis, daß er nicht nach der Tyrannis strebe. Dem Griechen ist die Herrschaft eines einzelnen Mannes von wirklich überragender Tüchtigkeit stets als „der Natur gemäß" (Aristoteles) erschienen, und er hat sich ihr mehr oder minder freiwillig gefügt. Die ältere Tyrannis ist ein Mittelding zwischen dem patriarchalischen Königtum der Urzeit und dem Demagogentum der demokratischen Periode. Unter Aufrechterhaltung der äußeren Formen des Adelsstaats suchte der Herrscher möglichst viele Befugnisse in seiner H a n d und im Kreise seiner Anhängerschaft zu vereinigen, wobei er sich auf eine meist nicht große aber schlagfertige Militärmacht stützte. Staaten, die nicht aus sich selbst eine arbeitsfähige und gesetzmäßige Ordnung hervorbringen, welche vom Willen der Gesamtheit oder einer starken Mehrheit getragen ist, können nur von einer bewaffneten Minorität beherrscht werden. Die Unpopularität dieses dauernd sichtbaren und auch durch längere Gewöhnung nicht zu versüßenden Zwanges mußte der Tyrann versuchen durch peinliche Wahrung der äußeren Formen der Ämterbesetzung, durch systematische Züchtung persönlicher Loyalität und durch volksfreundliche Wirtschaftspolitik aufzuwiegen. Peisistratos erschien gelegentlich sogar selbst vor dem Richter, wenn er in irgendeine Streitsache verwickelt wurde, u m die unumschränkte Herrschaft von Recht und Gesetz zu beweisen, was dem Volk großen Eindruck machte. Die alten Adelsgeschlechter wurden auf alle Weise niedergehalten, besonders gefahrliche adlige Konkurrenten schickte man in die Verbannung oder stellte ihnen ehrenvolle Aufgaben außerhalb des Landes, wie Peisistratos den Miltiades bei seiner sehr verdienstlichen Eroberung und Kolonisierung des Chersones unterstützt haben soll. Aber auch das Volk wollte [1/297]

297

er sich nicht in der Stadt konzentrieren und zu einer gefährlichen organisierten Macht werden lassen. Wirtschaftliche und politische Gründe wirkten bei Peisistratos zusammen zur grundsätzlichen Begünstigung des flachen Landes, die ihn dort sehr beliebt machte. Die Tyrannis wurde noch nach vielen Jahren das „Leben unter Kronos" d. h. das goldene Zeitalter genannt, und es waren allerhand sympathische Anekdoten über die persönlichen Besuche des Herrschers auf dem Lande und seinen Verkehr mit der arbeitenden einfachen Bevölkerung im Umlauf, deren Herz er durch seine Leutseligkeit und durch die niedrigen Steuern für immer gewonnen hatte. Politische Klugheit und echtes instinktsicheres Agrariertum waren in dieser Politik untrennbar gemischt. Er wußte den Leuten in ihren Rechtshändeln sogar den Weg in die Stadt zu ersparen, indem er selbst als Friedensrichter regelmäßig auf das Land kam und seine Termine hielt. Ein so anschaulichcs Bild der inneren Politik der Tyrannen vermögen wir leider nur für Peisistratos zu zeichnen und auch hier nur, weil schon Aristoteles auf Grund der älteren attischen Chroniken, die er benutzte, es so vorgezeichnet hat. Das starke wirtschaftliche Moment in diesem Bilde wird niemand übersehen. Es ist das eigentlich Entscheidende, alles Politische ist nur Notlösung, für den Augenblick berechnet. Das Verlockende des neuen Zustands ist der Erfolg, der aber ist nur dem allmächtigen persönlichen Regime eines wirklich befähigten Mannes zuzuschreiben, der seine Kraft ganz in den Dienst des Volkswohls stellt. Ob es überall so gewesen ist, mag man bezweifeln, aber wir dürfen auch eine Form wie die Tyrannis nur nach ihren besten Vertretern beurteilen. Nach dem Erfolg bewertet war sie eine Periode raschen und glücklichen Aufstiegs. In geistiger Hinsicht läßt sich das Auftreten der Tyrannen in der Entwicklung des 6. Jhrh. mit dem ihrer politischen Gegenspieler, der großen Gesetzgeber und Aisymneten vergleichen, die an manchen Orten mit außerordentlicher Vollmacht eingesetzt wurden, um dauernde Bestimmungen zu erlassen oder augenblicklich verworrene Zustände zu ordnen. Diese Männer wirkten auf die allgemeine Kultur hauptsächlich durch die Schaffung der idealen Norm des Gesetzes, das die politische Betäti298

[1/298;

gung der Bürger nicht ausschließt, während der Tyrann die Initiative des Einzelnen ausschaltet und selbst überall handelnd hervortritt. E r ist kein Erzieher der Bürgerschaft zur allgemeinen politischen Arete, aber er wird in anderem Sinne Vorbild. Der Tyrann ist das Prototyp des späteren leitenden Staatsmannes, wenn ihm auch dessen Verantwortlichkeit fehlt. E r gibt zum erstenmal das Beispiel einer vorausschauenden weitsichtigen Berechnung der Ziele und Mittel eines planmäßigen Handelns nach außen und innen, also wahrer Politik. Der Tyrann ist die spezifische Erscheinungsform der erwachenden geistigen Individualität auf staatlichem Gebiet, wie es in den benachbarten Sphären der Dichter und der Philosoph sind. Als im 4 , J h r h . später das allgemeine Interesse für das bedeutende Individuum aufkommt und die neue Literaturgattung der Biographie erzeugt, sind Dichter, Philosophen und Tyrannen die Lieblingsgegenstände ihrer Schilderung. Unter den sogenannten sieben Weisen, wie sie seit dem beginnenden 6. J h r h . zur Berühmtheit kamen, sind neben Gesetzgebern, Dichtern und anderen Männern dieser Art auch Tyrannen wie Periander und Pittakos. Besonders kennzeichnend ist, daß fast alle Dichter der Zeit ihre Existenz an den Höfen der Tyrannen finden. Die Individualität ist noch keine Massenerscheinung, d. h. allgemeine Geistesverflachung, sondern wahre innere Unabhängigkeit. U m so mehr suchen die vorhandenen selbständigen Köpfe unter sich Verbindung. Die Sammlung der Kultur in solchen Zentren bringt eine mächtige Intensivierung des geistigen Lebens mit sich, die nicht nur auf den engen Kreis der eigentlich Schaffenden beschränkt bleibt, sondern auf die ganze Umgebung übergreift. Solcher A r t war die Wirkung der Musenhöfe des Polykrates von Samos, der Söhne des Peisistratos in Athen, des Periander von Korinth, des Hieron von Syrakus, um nur die allerglänzendsten Namen zu nennen. In Athen kennen wir die Verhältnisse der Tyrannenzeit noch etwas genauer und können ermessen, was die Ausstrahlung der Bildung vom Hofe der Herrscher in Künsten, Poesie und religiösem Leben für die Entwicklung Attikas bedeutet. Hier wirken Anakreon, Simonides, Pratinas, Lasos, Onomakritos. Hier sind die Ursprünge des komischen und tragischen Bühnenspiels, des gesteigerten musikalischen Lebens

[1/299]

299

des 5. Jhrh., der großen Homerrezitationen, die Peisistratos für das von ihm glanzvoll neu ausgerichtete Nationalfest der Panathenäen anordnete, der großen dionysischen Feste, des bewußten attischen Kunstlebens in Plastik, Architektur und Malerei. Erst in dieser Zeit erhält Athen jenen Charakter der Musenstätte, den es dauernd bewahrt hat. Ein Geist höherer Unternehmungsfreudigkeit und gesteigerter Genußfähigkeit strömt von dem Hofe aus. Hipparch, ein jüngerer Sohn des Peisistratos, wird in dem unter Piatos Werken überlieferten, aber unechten Dialog dieses Namens als der erste Ästhet geschildert, er ist „Erotiker und Kunstliebhaber". Es war tragisch, daß der Dolch der Tyrannenmörder im Jahre 5 1 4 gerade diesen politisch harmlosen, lebensfrohen Menschen traf. So lange er lebte, ging es den Dichtern gut und nicht nur denen, die wie Onomakritos im Interesse der Dynastie Orakelverse fälschten oder dem modischen Bedürfnis des Hofs nach einer neuen geheimkrämerischen mystischen Religiosität durch Verfertigung ganzer Epen unter dem Namen des Orpheus Nahrung gaben. Die Tyrannen mußten den kompromittierten Mann schließlich öffentlich fallen lassen, erst in der Verbannung haben sie sich wiedergefunden. Aber die SkandalafFäre mindert nicht die Verdienste der Dynastie um die Literatur. Seither flutet durch die attischen Symposien der unerschöpfliche Strom aller Art von Poesie und Musenkult. Die Tyrannen haben den Ehrgeiz, an den Nationalspielen der Hellenen mit ihren Renngespannen als Sieger gefeiert zu werden. Sie lassen jeder Art agonalen Wetteifers ihre Pflege angedeihen. So sind sie ein mächtiger Hebel des Aufschwungs der allgemeinen Kultur im Leben ihrer Zeit. Es ist behauptet worden, daß die großartige Entfaltung der religiösen Feste und die Fürsorge für die Künste, die zum typischen Bild des griechischen Tyrannen gehört, nur der Absicht entsprungen sei, die unruhige Masse von der Politik abzulenken und sie ungefährlich zu beschäftigen. Selbst wenn solche Nebenabsichten im Spiele sind, so beweist doch die bewußte Konzentration auf diese Aufgabe, daß damals ihre Pflege als ein wesentlicher Teil des Gemeinwesens und der öffentlichen Tätigkeit galt. Der Tyrann wies sich dadurch als wahrer 'Politikos' aus und vertiefte zugleich das Gefühl der Bürger für die Größe und den Wert

300

[1/300J

ihrer Vaterstadt. Das öffentliche Interesse an diesen Dingen war zwar nichts schlechthin Neues, aber es wurde durch die systematische Förderung von beherrschender Stelle aus und mit großen Mitteln plötzlich ungeheuer gesteigert. Die staatliche Kulturpflege war ein Zeichen der Volksfreundlichkeit der Tyrannen. Sie ging später nach ihrem Sturz auf den demokratischen Staat über, der darin lediglich dem Beispiel seiner Vorgänger folgte, und seither ist ein höher entwickelter Staatsorganismus ohne planmäßige Aktivität in dieser Richtung überhaupt nicht mehr zu denken. Freilich diese kulturellen Aufgaben des Staates bestanden damals noch überwiegend in der Verklärung der Religion durch die Künste und in der Begünstigung der Künstler durch den Herrscher, und diese vornehme Verpflichtung brachte den Staat niemals in Konflikt mit sich selbst. Das war nur möglich von seiten einer Dichtung, die tiefer in das öffentliche Leben und Denken eingriff, als die lyrischen Poeten am Hof der Tyrannen dies j e zu tun vermochten, oder durch Wissenschaft und Philosophie, die es zu jener Zeit in Athen noch nicht gab. Von einer Verbindung der älteren Tyrannis mit philosophischen Persönlichkeiten hören wir nichts. Um so stärker hat sie zur allgemeinen Verbreitung und öffentlichen Geltung der Künste und der musischen und gymnastischen Bildung des Volkes beigetragen. Wenn es uns so scheint als hätte ,das Mäcenatentum mancher Renaissancetyrannen und späteren Fürstenhöfe bei allen Verdiensten um das geistige Leben ihrer Zeit doch oft etwas Forciertes und als sei diese Art von Kultur nicht wahrhaft gewachsen und weder in einer Aristokratie noch im Volke tiefer verwurzelt, sondern mehr der Luxus einer kleinen Schicht, so darf nicht vergessen werden, daß es auch bei den Griechen etwas Ähnliches schon gegeben hat. Die griechischen Tyrannenhöfe am Ende der archaischen Zeit sind die ersten Medizeer gewesen, auch in dem Sinne daß sie Bildung als etwas vom übrigen Leben Abgesondertes, als die Creme eines gehobenen menschlichen Daseins genossen und an das Volk, dem sie fremd war, mit freigebiger Hand verschenkt haben. Das hatte der Adel niemals getan, aber die Kultur, die er hatte, ließ sich auch nicht in dieser Weise übertragen. Darin lag auch nach dem Verlust seiner [1/301J

301

politischen Macht seine bleibende Bedeutung im Bildungsaufbau des Volkes. Doch offenbar liegt es im Wesen des Geistigen selbst, sich immer leicht abzusondern und sich eine Eigenwelt zu schaffen, in der es günstigere äußere Bedingungen der Produktion und Wirkung findet als mitten im harten und gleichgültigen Kampf des täglichen Lebens. Die vom Geist Bevorzugten lieben es, sich an die Mächtigen dieser Welt zu wenden oder wie Simonides, wohl das bedeutendste Mitglied des peisistratischen Kreises, es in der Anekdote ausdrückt: die Weisen müssen zu den Türen der Reichen gehen. Mit zunehmender Verfeinerung kommen Kunst und Wissenschaft immer mehr in Versuchung, sich nur an die wenigen Kenner zu halten und selbst kennerhaft zu werden. Das Gefühl des Privilegiertseins pflegt obendrein beide auch in ihrer Gesinnung, selbst bei gegenseitiger Verachtung, zu verbinden. So war es am £nde des 6. Jhrh. in Griechenland. Zufolge der Entwicklung des geistigen Lebens in Ionien ist die Poesie der spätarchaischen Zeit im allgemeinen nichts irgendwie sozial Gebundenes mehr. Theognis und Pindar, die überzeugungsmäßig Adelsdichter sind, bilden eine Ausnahme und sind darin schon wieder modern und dem Aischylos verwandter, dessen Boden der attische Staat der Perserkriegszeit ist. Diese Dichter bedeuten, wenn auch von verschiedenen Voraussetzungen herkommend, die Überwindung der ganzen virtuosen Kunst der Tyrannenzeit, zu der sie ähnlich stehen, wie Hesiodos und Tyrtaios zu dem Epos des späten Rhapsodentums gestanden haben. Die Künstler, die Polykrates von Samos, Periander von Korinth und die Söhne des Peisistratos in Athen um sich scharen, die Musiker und Dichter vom Typus des Anakreon, Ibykos, Simonides, Lasos, Pratinas mitsamt ihren Kollegen von der bildenden Kunst, sind eben im prägnanten Sinne des Wortes „Künstler", ein Geschlecht für sich, Menschen von zauberhaftem musischem Können, die jeder Aufgabe gewachsen sind und sich in jeder Gesellschaft mit Sicherheit bewegen, aber nirgendwo mehr wurzeln. Wenn der Hof zu Samos seine Pforten schließt und Polykrates der Tyrann unter dem Schwert des Persers fällt, so schlägt Anakreon sein Quartier am Hofe des Hipparchos in Athen auf, der ihn durch einen Fünfzigruderer abholen läßt, und wenn 302

[U302]

auch der letzte Sproß der Peisistratiden Athen verlassen m u ß und in die Verbannung zieht, so siedelt Simonides nach Thessalien an den fürstlichen Hof der Skopaden über, bis auch dort die Decke des Saales einstürzt und das ganze Geschlecht erschlägt. Es ist fast symbolisch, wenn die Dichteranekdote auch dort Simonides als den einzigen Überlebenden nennt. Als achtzigjähriger Greis noch geht er an den Hof des Tyrannen Hieron von Syrakus. So wie die ganze Existenz ihrer Träger war auch die Bildung, die sie vertraten. Sie konnte ein kluges und schönheitliebendes Volk wie das athenische unterhalten und ergötzen, doch in innerster Seele konnte sie es nicht bewegen. Wie die parfümierten ionischen Gewänder und die üppigen Haarschöpfe mit den hineingesteckten goldenen Zikaden die athenischen Männer dieser letzten Jahrzehnte vor Marathon modisch zierten, so zierte die bildende Kunst und die wohlklingende Poesie der Ionier und Peloponnesier am Hof der Tyrannen die Stadt Athen. Sie erfüllte die Luft mit den Keimen alles Musischen und mit dem Gedankenreichtum aller griechischen Stämme und schuf so die Atmosphäre, in der der große attische Dichter erwachsen konnte, der dem Genius seines Volkes in der Stunde seines Schicksals gerecht wurde.

[1/303]

303

ZWEITES BUCH

HÖHE UND KRISIS DES ATTISCHEN GEISTES

DAS DRAMA DES AISCHYLOS Aischylos hat die Zeit der Tyrannen noch als Knabe erlebt, er ist zum Manne herangewachsen unter der neuen Volksherrschaft, die nach dem Sturz der Peisistratiden den nun ausbrechenden Streit des Adels um die Macht nach kurzer Zeit beendigte. Zwar war es die alte Eifersucht des unterdrückten Adels, die den Untergang der Tyrannen herbeigeführt hatte, aber die Rückkehr zu der vor Peisistratos herrschenden feudalen Anarchie war doch unmöglich. Einer der aus der Verbannung zurückgekehrten Alkmeoniden, Kleisthenes, der sich wie Peisistratos gegen den übrigen Adel auf den Demos stützte, tat den letzten Schritt zur Beseitigung der Adelsherrschaft. Er ersetzte die alte Ordnung der vier attischen Phylen, die jede ihre Geschlechtsverbände durch das ganze Land erstreckt hatten, durch das abstrakte Prinzip der rein regionalen Einteilung Attikas in zehn Phylen, die die alten Zusammenhänge des Bluts zerriß und ihre politische Macht durch ein auf diesem neuen Phylensystem aufgebautes demokratisches Wahlrecht vernichtete. Das bedeutete das Ende des Geschlechterstaats, wenn auch nicht des geistigen und politischen Einflusses der Aristokratie. Im athenischen Volksstaat haben bis zu Perikles' Tod Adlige die Führung behalten, und auch der führende Dichter des jungen Staates, Aischylos der Sohn des Euphorion, war wie der erste große Vertreter attischen Geistes hundert Jahre zuvor, Solon, ein Sproß des Landadels. Er stammte aus Eleusis, für dessen Mysterienkult Peisistratos eben damals das neue Heiligtum gebaut hatte. Die Komödie hat sich an der Vorstellung einer engen Verbindung der Jugend des Dichters mit der ehrwürdigen eleusinischen Göttin gefreut, das war ein witziger Kontrast zu Euripides, dem „Sohn [U307]

307

der Gemüsegöttin", wenn Aristophanes 1 den Aischylos in den Wettkampf gegen den Verderber der Tragödie eintreten läßt mit dem frommen Gebet: Demeter, die du auferzogest meinen Geist, O laß mich würdig deiner heiligen Weihen sein. Welckers Versuch, Aischylos' persönliche Frömmigkeit aus einer angeblichen Mysterientheologie abzuleiten, ist zwar heute überwunden, eine Ahnung des Richtigen wird eher in der Anekdote stecken, Aischylos sei angeklagt worden, auf der Bühne das heilige Geheimnis der Mysterien der Öffentlichkeit preisgegeben zu haben; er sei aber vom Gericht freigesprochen worden, weil er beweisen konnte, daß er es unwissentlich getan habe 2 . Aber auch wenn er, ohne die Weihen empfangen zu haben, die Erkenntnis der göttlichen Dinge aus der Tiefe seines eigenen Geistes schöpfte, bleibt das Gebet an Demeter eine Charakteristik von unsterblicher Wahrheit in seiner männlichen Demut und gläubigen Kraft. Es läßt uns den Verlust jeder Kunde vom Leben des Dichters leichter verschmerzen, wenn wir sehen, daß schon eine Zeit, die ihm noch so nahe war und ihn so tief empfand, sich lieber mit dem Mythos begnügte, der seine Gestalt umgab. Für ihn war Aischylos, was das Grabepigramm in großartiger Schlichtheit ausspricht: es ruft als Zeugen dafür, daß er das Höchste im Leben vollbracht habe, nur den Hain von Marathon an. Seine Dichtung erwähnt es nicht. Auch diese 'Inschrift' ist nicht historisch, sie gibt nur in stilgerechter Kürze das ideale Bild des Mannes, wie ein späterer Dichter es sah. Schon die Zeit des Aristophanes hätte so die Gesinnung des Aischylos aussprechen können, denn schon fur sie war er der „Marathonkämpfer", der geistige Repräsentant der ersten, von dem höchsten sittlichen Wollen erfüllten Generation des neuen attischen Staates. Selten ist in der Geschichte eine Schlacht so sehr um einer Idee willen geschlagen worden wie die von Marathon und Salamis. Daß Aischylos in der Seeschlacht mitgekämpft hat, würden wir annehmen müssen, auch wenn Ion von Chios 3 es nicht 1 1

Aristoph. Frösche 886 Arist. Eth. Nie. Γ 2, i m » io; vgl. Anonym, comm. in Eth. Nie. p. 145 Heylbut, Clemens Strom. II 60, 3 3 Schol. Pers, 429 308

[1/308]

in seinen Reiseberichten eine Generation später erzählt hätte; denn die Athener hatten die Stadt verlassen und waren πανδημεί, „mit dem ganzen Volk" an Bord der Schiffe gegangen. Die Erzählung des Boten in den 'Persern' ist der einzige Bericht eines wirklichen Augenzeugen des geschichtlichen Dramas, in dem der Grund zur künftigen Macht Athens gelegt wurde und zu seiner freilich niemals ans Ziel gelangten Herrschaft über die Nation. Doch so hat erst Thukydides, nicht Aischylos diesen Kampf gesehen 1 . Für ihn war er die Offenbarung der Weisheitstiefe der die Welt beherrschenden ewigen Gerechtigkeit. Eine kleine Schar, die der Kampf für die nationale Unabhängigkeit zu einem neuen Heldentum entflammte, hatte gefuhrt von der geistigen Überlegenheit eines athenischen Mannes die Myriaden des Xerxes geschlagen, deren Sinn die Knechtschaft entmannt hatte. Europae succubuit Asia. Tyrtaios' Geist war wiedergeboren aus der Idee der Freiheit und des Rechts. Die Zeit des ältesten Dramas des Aischylos ist nicht aufs Jahrzehnt bestimmbar, daher wissen wir nicht, ob die Religion der gewaltigen Zeusgebete in den 'Hiketiden' schon vor den Perserschlachten in ihm lebte. Die Wurzeln seines Glaubens sind dieselben wie die der Religion Solons, der sein geistiger Führer war. Aber an dem, was dieser Glaube bei Aischylos an tragischer Mächtigkeit gewonnen hat, müssen wir jenem aufrüttelnden und reinigenden Sturm seinen Anteil geben, wie er in der Persertragödie für alle Zeiten fUhlbar geworden ist. Die beiden Erlebnisse der Freiheit und des Siegs sind die festen Bande, durch die diesen Sohn der ausgehenden Tyrannenzeit sein solonischer Rechtsglaube an die neue Ordnung gefesselt hat. Der Staat ist der ideale Raum, nicht nur der zufallige Schauplatz seiner Dichtung. Aristoteles sagt mit Recht, daß die Personen der älteren Tragödie noch nicht rhetorisch sondern politisch reden. Noch in seinem grandiosen Abgang, dem Schluß der 'Eumeniden' mit dem inbrünstigen Flehen seiner feierlichen Segensgebete fur das attische Volk und den unversehrten Bestand seiner göttlichen Ordnung offenbart Aischylos den wahrhaft politischen Charakter seiner Tragödie. In ihm ist ihr Erziehertum begründet, das zugleich sittlich, religiös, menschlich ist, 1

Thuk. I 74

¡1/309]

309

weil alles dies der Staat in neuer großer Weise umfaßt. Wenn Aischylos in diesem Erziehertum dem Pindar verwandt ist, so ist doch der Athener von dem Thebaner in seiner Art tief verschieden. Pindar ersehnte die Wiederherstellung der Adelswelt und ihrer Herrlichkeit aus dem Geiste traditioneller Gebundenheit. Die Tragödie des Aischylos ist die Auferstehung des heroischen Menschen aus dem Geist der Freiheit. Der Weg von Pindar zu Plato, von der Aristokratie des Blutes zur Aristokratie des Geistes und der Erkenntnis, scheint so nah und notwendig. Doch er führt nur über Aischylos. Wieder ist es der gute Genius des attischen Volkes gewesen, der ihm wie in Solons Tagen auch in der Zeit seines Eintritts in die Weltgeschichte den Dichter hat erstehen lassen, der das Eisen noch glühend schmiedete. Die Durchdringung von Staat und Geist zur vollkommenen Einheit gibt der neuen Form des Menschen, die hier geboren wird, ihre klassische Einmaligkeit, denn selten entspringt beides aus dem gleichen Sinn. Es ist schwer zu sagen, ob dabei der Geist den Staat oder der Staat den Geist mehr gefördert hat, doch fast möchte das letztere scheinen, wenn man unter Staat nicht an die Behörde denkt, sondern an das alle Menschen gleich tief erfassende Ringen der Bürgerschaft Athens um Erlösung von dem Chaos eines Jahrhunderts durch den mit höchstem Einsatz aller sittlichen Kräfte gewollten und verwirklichten politischen Kosmos. Das Staatserlebnis wird eben schließlich doch im Sinne Solons die Macht, die alle menschlichen Strebungen zusammenbindet. Der Glaube an die Idee des Rechts, der den jungen Staat beseelte, schien im Sieg seine göttliche Weihe und Bestätigung zu empfangen. Hier erst erwuchs die eigentliche und wahre Bildung des athenischen Volkes. Mit einem Schlag ist alles abgefallen, was an verweichlichender Überfeinerung und übersättigter Üppigkeit sich dem attischen Wesen während der letzten Jahrzehnte eines fast allzuraschen und äußerlichen materiellen Fortschritts angehängt hatte. Wie die ionische Gewänderpracht aus der Mode verschwindet und dem einfachen dorischen Männerkleid Platz machen muß, weicht auf den Gesichtern der Menschen, die die bildende Kunst dieser Jahrzehnte geschaffen hat, das nichtssagende konventionelle Lächeln des ionischen Bildungs- und 310

[1/310]

Schönheitsideals einem tiefen, fast mürrischen Ernst. Erst die folgende Generation, die Generation des Sophokles, hat zwischen beiden Extremen das Gleichgewicht der klassischen Harmonie gefunden. Was die Adelskultur dem Volke nicht mitgeben konnte und die Einwirkung einer höheren fremden Kultur allein aus sich nicht vermocht hatte, vollbrachte jetzt das eigene historische Schicksal. Es pflanzte die fromme und kühne Gesinnung des Sieges durch die Kunst eines hohen Dichters, der sich doch ganz als Glied seines Volkes fühlte, der Gesamtheit ein und ließ sie im gemeinsamen dankbaren Hochgefühl die trennenden Klüfte der Geburt und der Bildung überfliegen. Das Größte, das jetzt Athener ihr Eigen nannten, sei es an geschichtlicher Erinnerung oder an geistigem Besitz, gehörte ein für allemal nicht mehr einem einzigen Stande sondern dem ganzen Volk. Alles Frühere mußte dagegen verblassen, es fiel ihm von selber jetzt zu. Nicht Verfassung oder Wahlrecht, sondern der Sieg ist der Schöpfer der attischen Volkskultur des 5. Jhrh. A u f diesem Boden, nicht auf dem der Adelsbildung älteren Stils ist das perikleische Athen aufgebaut worden. Sophokles, Euripides und Sokrates sind Bürgersöhne gewesen. Der erstere stammte von dem gewerbetreibenden Stand ab, Euripides' Eltern hatten einen kleinen Bauernhof, Sokrates' Vater war ein biederer Steinmetz in einem kleinen Vorort. Bei wachsender Radikalisierung der Volksherrschaft seit der Entrechtung des Areopags, der zur Zeit des Aischylos noch das eigentliche Schwergewicht des Staates war, machte der Gegensatz der adligen Gesellschaft und Kultur sich später wieder stärker fühlbar, und diese Schloß sich immer mehr ab. Doch das darf nicht aus der Zeit des Kritias in die J a h r e nach Salamis hinaufverlegt werden. In den Tagen des Themistokles, Aristeides und Kimon waren Volk und Adel durch große gemeinsame Aufgaben verbunden: den Wiederaufbau der Stadt, den Bau der langen Mauern, die Befestigung des delischen Bundes und die Beendigung des Krieges über See. Etwas von dem hohen Flug und der Schwungkraft, aber auch von der Entsagungsfahigkeit, Bescheidenheit und Ehrfurcht des aischyleischen Geistes glauben wir in dem Athenertum jener J a h r zehnte zu spüren, an das sich die neue Dichtform der Tragödie wandte.

[H311]

311

Die Tragödie hat der griechischen Poesie die große Einheit alles Menschlichen wiedergegeben, darin kann sie nur mit dem homerischen Epos verglichen werden. Trotz der überreichen Fruchtbarkeit der dazwischen liegenden Jahrhunderte wird sie an Fülle des Stoffs und der Gestaltungskräfte wie an Umfang der schöpferischen Leistung nur durch das Epos erreicht. Sie erscheint wie eine Wiedergeburt des dichterischen Genius der griechischen Nation, aber von Ionien ist dieser jetzt auf Athen übergegangen. Epos und Tragödie sind wie zwei gewaltige Gebirgsformationen, die der ununterbrochene Zug der zu ihnen gehörigen niederen Bergketten verbindet. Wenn wir den Gang der Entwicklung der griechischen Poesie seit dem Absterben des Epos, also seit ihrem ersten Höhepunkt, als den Ausdruck der fortschreitenden Gestaltung der großen geschichtlichen Mächte betrachten, durch die sich die Formung des Menschen vollzieht, so gewinnt das Wort Wiedergeburt einen bestimmteren Sinn. In der nachhomerischen Dichtung sehen wir allenthalben eine zunehmende Entfaltung des reinen Gedankengehalts, sei es als normative Forderung der Allgemeinheit oder als persönlicher Ausdruck des Individuums. Die meisten dieser Formen der Poesie sind zwar aus dem Epos hervorgegangen, aber bei ihrer Loslösung vom Epos wird der Mythos, der im Epos diese Gehalte verkörperte und an dem sie hafteten, entweder ganz abgestreift wie bei Tyrtaios Kallinos, Archilochos Semonides, Solon Theognis und meist bei den Lyrikern und Mimnermos, oder er wird in den mythoslosen Gedankengang des Dichters in Gestalt vereinzelter mythischer Beispiele hineingezogen wie in Hesiods 'Erga', bei den Lyrikern und in den pindarischen Mythen. Ein großer Teil dieser Dichtung ist reine Paränese und besteht in allgemeinen Vorschriften und Ratschlägen. Ein anderer ist betrachtenden Inhalts. Auch das Lob, das im Epos nur den Taten mythischer Heroen galt, wird jetzt wirklichen Menschen der Gegenwart zuteil, solche sind auch der Gegenstand der rein gefühlsmäßigen Lyrik. Wenn die Poesie so während der nachhomerischen Periode der immer umfassender und stärker werdende Ausdruck des eigentlichen geistigen Lebens der Gegenwart wird, des sozialen wie des individuellen, so war dies nur durch die Abkehr von der Helden312

[Ii312]

sage möglich, die ursprünglich neben dem Götterhymnos der einzige Gegenstand des Gesanges gewesen war. Anderseits behauptet trotz des überwiegenden Strebens, den Ideengehalt des Epos in die Wirklichkeit der Gegenwart zu übertragen und dadurch die Poesie in immer höherem Maße zur unmittelbaren Deuterin und Führerin des Lebens zu machen, auch in der nachhomerischen Zeit der Mythos seine Bedeutung als unerschöpfliche Quelle poetischer Gestaltung. Entweder wird er nur als ein Element der Idealität verwendet, indem der Dichter Gegenwärtiges durch Zurückbeziehung auf mythische Parallelen adelt und sich dadurch eine eigene Sphäre höherer Wirklichkeit schafft, wie in dem erwähnten Gebrauch der mythischen Beispiele in der Lyrik. Oder der Mythos bleibt als ein Ganzes Gegenstand der Darstellung, wobei sich dann im Wechsel der Zeiten und Interessen die verschiedensten Gesichtspunkte ergeben und dem entsprechend die Darstellungsformen ganz verschieden sein können. So ist bei den Epikern des sogenannten Kyklos das rein stoffliche Interesse an den Sagen des troischen Kreises vorwaltend. Den Verfassern fehlte das Verständnis für die künstlerische und geistige Größe der Ilias und Odyssee, man wollte nur hören, was vorher und nachher geschehen sei. Diese Epen im mechanisch erlernten epischen Stil — der sich übrigens auch im Homer selbst schon in jüngeren Gesängen vielfach findet — verdanken einem Geschichtsbedürfnis ihre Entstehung; da die ganze Frühzeit die Erinnerungen der Sage für wirkliche Geschichte nimmt, war diese Historisierung unausbleiblich. Die Katalogpoesie, die dem Hesiod zugeschrieben wurde, weil man hier einen Namen hatte, bei dem sich Verwandtes fand, befriedigt das Bedürfnis des Rittertums nach Ableitung der adligen Stammbäume von Göttern und Heroen, geht also noch einen Schritt weiter in der Historisierung des Mythos: er wird zur Vorgeschichte der Gegenwart. Beide Arten der Epik leben neben der mythoslosen Poesie des 7. und 6. J h r h . fort. Ohne mit ihr an lebendiger Bedeutung konkurrieren zu können, erfüllen sie doch ein Bedürfnis der Zeit, für die Homer und der Mythos nun einmal der Hintergrund ihres gesamten Daseins ist. Sie sind sozusagen die Gelehrsamkeit dieser Epoche. Ihre direkte Fortsetzung finden sie in den ionischen Prosabear[1/313]

313

beitungen des Mythenstoffs mit oder ohne genealogische Absicht, in Akusilaos, Pherekydes und Hekataios. Die dichterische Form war in der Tat längst ganz Nebensache geworden, im Grunde war sie nur noch ein Zopf. Die wenigen Reste der prosaischen „Logographen" wirken weit frischer und moderner. Sie suchen durch ihre Erzählungskunst das Interesse an dem Stoff wieder zu beleben. Während die Auflösung der epischen Form in die Prosa den Prozeß der fortschreitenden Verstofflichung und Historisierung des Mythos besonders drastisch vor Augen führt, vollzieht sich in der Chordichtung, die im griechischen Westen in Sizilien entsteht, eine neue künstlerische Gestaltung der Heldensage, ihre Umsetzung aus der epischen in die lyrische Form. Hier handelt es sich aber nicht um ein neues Ernstnehmen der Sage. Stesichoros von Himera steht ihr mit eben so kühler rationaler Kritik gegenüber wie Hekataios von Milet. Sie ist für die Chorlyrik vor Pindar überhaupt nicht Selbstzweck, wie sie es für das Epos gewesen war, sondern idealischer Stoff fur musikalische Komposition und chorale Aufführung. Logos, Rhythmos und Harmonia wirken als gestaltende Kräfte zusammen, aber der Logos ist die geringste unter ihnen. Er ist der Geführte, die Musik ist die Führende und erregt das eigentliche Interesse. Es ist eine Auflösung des Mythos in eine Anzahl lyrisch wirksamer Empfindungsmomente und deren Verbindung in sprunghaft fortschreitender balladischer Erzählung zu dem ausgesprochenen Zweck der Vertonung, wodurch der eigentümliche Eindruck der Leere und Unvollständigkeit entsteht, den die Reste dieser Poesie ohne Musik auf den heutigen Leser machen. Auch die erzählende Verwendung des Mythos im einfachen lyrischen Gedicht wie bei Sappho soll nur eine Stimmung erwecken. Sie macht ihn zum Substrat des künstlerischen Gefühls, jedenfalls ist das das einzig Wirksame daran, und auch das bleibt für uns in dieser Form ziemlich unzugänglich. Was wir von Ibykos in der Gattung gefunden haben, ist vollends leeres Stroh und interessiert nur um des großen Namens willen. Trotz dieser Selbstbehauptung des Mythos in Poesie und Prosa, zu der seine kunstgewerbliche Verwendung in der Vasenmalerei des 6.Jhrh. eine schlagende Parallele bietet, ist er nir314

[11314]

gendwo mehr der Träger der großen, die Zeit bewegenden Ideen. Soweit er nicht ganz verstofflicht ist sondern noch eine ideale Funktion ausübt, ist sie konventioneller und dekorativer Art. Wo wirkliche geistige Bewegung in der Poesie hervorbricht, geschieht es nicht am Mythos sondern in rein gedankenhafter Form. Man könnte sich von hier aus eine Weiterentwicklung denken, die in immer zunehmender Ablösung des weltanschaulichen Gehalts von der Poesie in der Richtung der jungen philosophischen und erzählenden Prosa der Ionier in gerader Linie weiterginge und ausmündete in der Umsetzung der sämtlichen gedankenmäßigen und reflektierenden Dichtformen des 6. Jhrh. in paränetische oder untersuchende prosaische λόγοι über Arete, Tyche, Nomos und Politeia, wie sie dann die Sophistik tatsächlich hervorgebracht hat. Aber die Griechen des Mutterlandes waren noch nicht so weit, daß dieser Weg des ionischen Geistes für sie gangbar war, und die Athener sind ihn überhaupt niemals wirklich gegangen. Hier war die Poesie innerlich noch nicht so rationalisiert, daß jener Übergang selbstverständlich wurde. Sie hatte im 6.Jhrh. gerade im Mutterlande ihren hohen Beruf als ideale Lebensmacht neu erfaßt, den sie in Ionien verloren hatte. Was die gewaltigen Erschütterungen, durch die der friedsame und fromme attische Stamm in das geschichtliche Leben hineingeschleudert worden war, in der Seele dieses Volkes geweckt hatte, war gewiß nicht weniger 'philosophisch' als die ionische Wissenschaft und Vernunft. Aber dieses neugeschaute Lebensganze konnte nur von einer erhabenen Dichtung in geistgewordenen religiösen Symbolen der Welt gezeigt werden. Das sehnsüchtige Suchen des durch den Zerfall der alten Ordnung und des Väterglaubens unsicher gewordenen, durch unbekannte neuerwachte Seelenkräfte beunruhigten 6. Jhrh. nach einer neuen Norm und Gestalt des Lebens war nirgendwo umfassender und tiefer gewesen als in dem Lande Solons. Nirgendwo fand sich ein gleicher Grad zarter innerer Erregbarkeit zusammen mit solcher Vielfalt geistiger Anlagen und der Unverbrauchtheit noch fast dumpfer Jugend. Dieser Boden hat das Wundergewächs der Tragödie gezeitigt. Von allen Wurzeln des griechischen Geistes ist es genährt und getragen, aber die mächtige Hauptwurzel senkt es in die Tiefe 11/315]

315

der Ursubstanz aller Dichtung und alles höheren Lebens der griechischen Nation hinab, in den Mythos. In einer Zeit, deren stärkste Kräfte vom Heroischen immer weiter abzuführen schienen, einer Zeit der reflektierenden Erkenntnis und der gesteigerten Leidensfähigkeit, wie die ionische Literatur sie zeigt, erwächst aus eben diesen Wurzeln ein neuer, innerlicher gewordener Geist des Heroischen, der sich dem Mythos und dem in ihm Gestalt gewordenen Sein auf unmittelbare Weise urverwandt fühlt. Er haucht seinen Schemen wieder Leben ein und gibt ihnen die Sprache zurück, indem er sie von dem Blute seines Opfers trinken läßt. Ohne dies ist das Wunder dieser Auferweckung nicht zu erklären. Die neueren Versuche einer geschichtlichen Ableitung und Wesensbestimmung der Tragödie, die von philologischer Seite gemacht worden sind, gehen an dieser Frage vorbei. Sie veräußerlichen das Problem, indem sie das schöpferische Neue aus irgendwelchen formgeschichtlichen, rein literarischen Prozeduren herleiten und etwa glauben, der dionysische Dithyrambos habe dadurch „ernste Form angenommen", daß ein erfinderischer Kopf ihm die alte Heldensage als Inhalt gab. Die attische Tragödie sei nichts als ein Stück dramatisierter Heldensage, von einem attischen Bürgerchor gespielt. Die mittelalterliche Poesie aller Kulturvölker des Abendlandes ist reich an Dramatisierungen der Heiligen Geschichte, aber aus ihnen hat sich doch keine Tragödie entwickelt, bis das Bekanntwerden der antiken Vorbilder sie möglich machte. Auch aus der dramatisierten griechischen Heldensage wäre kaum mehr geworden als eine neue kurzlebige artistische Spielart der Chorlyrik, die uns wenig anginge und keiner Entwicklung iahig gewesen wäre, wenn nicht die Heldensage auf eine höhere Stufe des heroischen Geistes, aus dem sie entsprungen war, transponiert worden wäre und sie dadurch neue künstlerische, gestaltbildende Kraft empfangen hätte. Wir haben von der ältesten Form der Tragödie leider keine genaue Vorstellung und können deshalb nur von der Höhe ihrer Entwicklung aus urteilen. In ihrer fertigen Gestalt, die wir bei Aischylos vorfinden, erscheint sie als die Wiedergeburt des Mythos aus der neuen Anschauung der Welt und des Menschen, die durch und seit Solon im attischen Geiste erwacht 316

[1/316]

war und in Aischylos den höchsten Spannungsgrad ihrer religiösen und sittlichen Problematik erreicht. Eine vollständige Entstehungsgeschichte der Tragödie zu geben liegt unserer Absicht fern wie überhaupt jede Vollständigkeit. Soweit sie hier in Betracht kommt, wird die älteste Entwicklung der Gattung noch im Zusammenhang mit dem Problem des tragischen Ideengehalts berührt werden. Man kann eine so vielseitige Geistesschöpfung von den verschiedensten Gesichtspunkten betrachten. Was wir zu geben versuchen, ist lediglich eine Würdigung der Tragödie als geistiger Objektivation der neuen Gestalt des Menschen, die sich in dieser Zeit bildet, und der erzieherischen Kraft, die von dieser unvergänglichen Leistung des griechischen Geistes ausstrahlt. Die Masse der erhaltenen Werke der griechischen Tragiker ist so erheblich, daß wir das Problem aus einem gehörigen Abstand sehen müssen, wenn nicht ein besonderes Buch über die Tragödie aus ihm erwachsen soll, wie das in ähnlicher Weise auch vom Epos und von Plato gilt. Eine Behandlung der Tragödie von diesem Standpunkt ist allerdings eine notwendige Forderung, da nur eine Betrachtungsweise ihr gerecht wird, die bewußt davon ausgeht, daß sie die höchste Manifestation eines Menschentums ist, für das Kunst, Religion und Philosophie noch eine unteilbare Einheit sind. Eben diese Einheit ist es, die die Beschäftigung mit den Äußerungen jener Epoche zu einem reinen Glück für den Betrachter macht und derentwegen sie uns vor aller bloßen Geschichte der Philosophie, Religion oder Literatur so bevorzugt erscheint. Die Zeiten, wo die Geschichte der menschlichen Bildung sich ganz oder überwiegend in den getrennten Bahnen dieser Geistesformen bewegt, sind notwendig einseitig, mag die Einseitigkeit noch so tief geschichtlich bedingt sein. Es ist als hätte die Poesie, die erst von den Griechen zu dieser schwer zu behauptenden Höhe ihres geistigen Rangs und Berufs emporgefuhrt worden ist, noch einmal ihren ganzen Reichtum und ihre Macht in der verschwenderischsten Fülle offenbaren wollen, ehe sie die Erde verließ und auf den Olymp zurückkehrte. Ein ganzes Jahrhundert unbestrittener Hegemonie hat die attische Tragödie erlebt, das mit dem Aufstieg, der Blüte und ¡1/317]

317

dem Niedergang der irdischen Macht des attischen Staates zeitlich und schicksalhaft zusammenfallt. An ihm ist die Tragödie zu ihrer volksmächtigen Größe emporgewachsen, wie die Komödie sie spiegelt; seine Herrschaft hat die Weite ihres Widerhalls in der griechischen Welt wesentlich mitbestimmt, auch durch die Verbreitung, die das attische Reich der attischen Sprache gegeben hat, und schließlich hat sie die geistige und sittliche Zersetzung, an der der Staat nach dem richtigen Urteil des Thukydides zugrunde ging, ebenso vollenden helfen, wie sie ihn auf seinem höchsten Gipfel verklärt und in seinem Aufstieg ihm innerlich Halt und Kraft gegeben hat. Vom rein künstlerischen oder psychologischen Standpunkt gesehen muß die Entwicklung der Tragödie von Aischylos über Sophokles zu Euripides — auf die zahlreichen Mitproduzenten, die die Schöpfertätigkeit dieser Großen erzeugte, kommt hier nichts an — ganz anders bewertet werden, aber die Geschichte der menschlichen Bildung in dem tieferen Sinn dieses Wortes läßt den Prozeß durchaus so erscheinen, wie ihn die gleichzeitige Komödie, dieser Spiegel des öffentlichen Gewissens, ohne an die Nachwelt zu denken reflektiert. Denn niemals hat das Empfinden der Zeitgenossen Wesen und Wirkung der Tragödie nur artistisch aufgefaßt. Sie war ihnen so sehr die Königin, daß sie sie für den Geist des Ganzen verantwortlich machten, und wenn auch selbst die größten Dichter für unser geschichtliches Denken nur die Repräsentanten und nicht schlechthin die Schöpfer dieses Geistes sind, so ändert das nichts an der Verantwortlichkeit ihres Führertums, die man im athenischen Volksstaat noch größer und ernster empfand als die verfassungsmäßig festgelegte der beständig wechselnden politischen Führer. Die Eingriffe des platonischen Staats in die Freiheit der Dichtung, die liberalem Denken so unbegreiflich und unerträglich sind, können nur von hier aus verstanden werden. Und doch kann diese verantwortliche Auffassung des tragischen Dichters nicht die ursprüngliche gewesen sein, wenn wir an das rein genießende Verhältnis der peisistratischen Zeit zur Poesie zurückdenken. Sie hat sich erst an der Tragödie des Aischylos gebildet, sein Schatten ist es, den Aristophanes aus der Unterwelt heraufbeschwört als das einzige Mittel, um in dem Staate seiner 318

[1/318]

Zeit, der keine platonische Zensur kannte, die Dichtung zu ihrer wahren Aufgabe zurückzurufen. Seit der Staat die Aufführungen an den Dionysosfesten veranstaltete, war die Tragödie immer mehr Volkssache geworden. Die attischen Festspiele sind das unerreichte Urbild eines Nationaltheaters, um das die deutschen Dichter und Bühnenleiter unserer klassischen Zeit sich so heiß doch vergeblich bemüht haben. Zwar der inhaltliche Zusammenhang der Dramen mit dem Kultus des Gottes, zu dessen Verherrlichung sie dienten, war gering. Dionysischer Mythos ging selten über die Orchestra, wie in der Lykurgie des Aischylos, die die homerische Sage vom Frevel des thrakischen Königs Lykurgos gegen den Gott Dionysos darstellte wie später Euripides in den 'Bakchen' die Pentheussage. Eigentlich dionysisches Treiben paßte besser in das burlesk komische Satyrdrama, das als ältere Form des dionysischen Festspiels sich daneben behauptete und noch immer nach jeder tragischen Trilogie vom Volke gefordert wurde. Aber echt dionysisch war an der Tragödie die schaupielerische Ekstase. Sie war, das Element der suggestiven Wirkung auf die Zuhörer, welche die Leiden der Menschen, die auf der Orchestra dargestellt wurden, wie erlebte Wirklichkeit miterlitten. Das galt noch mehr von den Bürgern, die den Chor stellten und das ganze Jahr, während dessen sie für die Aufführung probten, mit ihrer Rolle innerlich verwuchsen. Der Chorgesang ist die höhere Schule des älteren Griechentums gewesen, lange bevor es Lehrer gab, die in die Poesie einführten, und seine Wirkung wird durchweg tiefer gewesen sein als die des bloß verstandesmäßigen Lernens. Das Institut der Chorodidaskalie bewahrt in seinem Namen nicht umsonst den Anklang an Schule und Unterricht. Durch die Feierlichkeit und Seltenheit, durch die Beteiligung des Staates und der ganzen Bürgerschaft, durch den eifervollen Ernst der Vorbereitung und die Spannung des ganzen Jahres auf den neuen 'Chor' (so sagte man), den der Dichter eigens für diesen Tag geschaffen hatte, schließlich durch den Wettstreit mehrerer Dichter um den Preis wurden diese Aufführungen der Höhepunkt im Leben der Stadt. In der festlich gehobenen Seelenverfassung, in der man sich zu Ehren des Dionysos in der Frühe des Morgens versammelte, [I/319J

319

waren Geist und Sinnen dem Eindruck des fremdartig ernsten Schauspiels der neuen Kunst in freudiger Aufnahmebereitschaft hingegeben. Der Dichter fand noch kein literarisch blasiertes Publikum sich gegenüber auf den einfachen Holzbänken um die glattgetretene Erde des runden Tanzplatzes, sondern er fühlte in seiner Kunst der Psychagogie die Macht, ein ganzes Volk in einem Augenblicke zu bewegen, so wie kein Rhapsode mit den Gesängen Homers es jemals vermochte. Der tragische Dichter wurde zur politischen Größe, und der Staat griff ein, als ein älterer Kunstgenosse des Aischylos, Phrynichos, ein Schicksal der Gegenwart, an dem die Athener sich nicht unschuldig fühlten, die Einnahme Milets durch die Perser, als Tragödie darstellte und das Volk zu Tränen hinriß. Nicht geringer war die Wirkung der mythischen Dramen, denn nicht die Beziehung auf die gemeine Wirklichkeit war die Ursache der seelischen Gewalt dieser Poesie. Sie erschütterte die ruhige und behagliche Sicherheit des philiströsen Daseins durch eine dichterische Sprachphantasie von ungekannter Kühnheit und Erhabenheit der Gesichte, deren dithyrambische Spannung in den Chören, unterstützt durch den Rhythmus des Tanzes und der Töne, ihre höchste dynamische Steigerung erfuhr. Durch die bewußte Entfernung von der Sprache des Tages erhob sie den Hörer über sich selbst in eine Welt höherer Wahrheit. Die Menschen nannte diese Sprache „Sterbliche" und „Eintagsgeschöpfe", nicht nur aus konventioneller Stilisierung: Wort und Bild waren vom lebendigen Odem einer neuen heroischen Religion beseelt. „ O der als erster der Griechen du ehrwürdige Worte getürmt hast", so ruft das Geschlecht der Enkel den Schatten des Dichters an. Man empfand das Gewagte des feierlich tragischen „Schwalls", wie er dem nüchternen Alltag erschien, doch als den angemessenen Ausdruck aischyleischer Seelengröße. Nur die atemraubende Gewalt dieser Sprache ist imstande, den Verlust der Musik und des Bewegungsrhythmus fur uns einigermaßen abzugleichen. Dazu kam die Wirkung des Geschauten, die wiederherstellen zu wollen müßige Kuriosität wäre. Die Erinnerung daran kann hoch' stens den Zweck haben, in der Phantasie des heutigen Lesers 320

[1/320]

das den Stil der griechischen Tragödie verfälschende Bühnenbild des geschlossenen Theaters zerstören zu helfen, wozu doch schon der bannende Anblick einer tragischen Maske genügt, wie die griechische Kunst sie häufig gebildet hat. I n ihr ist der Wesensunterschied der griechischen Tragödie von aller späteren Dramatik sichtbar verkörpert. Ihr Abstand von der gemeinen Wirklichkeit ist so groß, daß die parodierende Ubertragung ihrer Worte auf Situationen des täglichen Lebens von jetzt ab für das verfeinerte Stilempfinden griechischer Ohren eine unerschöpfliche Quelle der Komik wird. Denn alles ist im Drama in eine Sphäre gesteigerter Gestalten und andachtvollen Schauers entrückt. Die überwältigende unmittelbare Wirkung auf Sinne und Gefühl wurde dem Hörer zugleich bewußt als die Ausstrahlung der inneren dramatischen Kraft, die das Ganze durchdrang und beseelte. Die Konzentration eines ganzen Menschenschicksals in dem kurzen wuchtigen Geschehensablauf, den das Drama umfaßt, vor den Augen und Ohren des Zuschauers bedeutet im Vergleich mit dem Epos einen ungeheuren Zuwachs an augenblicklicher Erlebnisstärke der Wirkung. Die Zuspitzung des dargestellten Geschehens zur Schicksalswende war in der Erlebnishaftigkeit der dionysischen Ekstase von Anfang an begründet, anders als im Epos, das die Sage um ihrer selbst willen erzählte und das erst in der letzten Phase seiner Entwicklung sich einer tragischen Gesamtauffassung gefügt hatte, wie es unsere Ilias und Odyssee zeigen. Die älteste Tragödie war aus den dionysischen Bockschören, an die ihr Name noch erinnert, dadurch entstanden, daß ein Dichter in der dithyrambischen Begeisterung den künstlerisch fruchtbar zu machenden Seelenzustand erkannte, der zu der lyrisch empfindenden Konzentration des Mythos, wie die ältere sizilische Chorlyrik sie kennt, die dramatische Vergegenwärtigung und die Versetzung der Sänger in das fremde Ich des Handelnden hinzubrachte. So wurde der Chor vom lyrischen Erzähler zum Schauspieler und damit selbst zum Träger der Leiden, die er bis dahin nur teilnehmend berichtet und mit seinen Gefühlen begleitet hatte. Eine eigentliche, dem Leben nachgebildete detaillierte Handlung mimisch darzustellen, lag überhaupt nicht im Wesen die[1/321]

321

ser ältesten Form der Tragödie, dazu war der Chor gänzlich ungeeignet. Es konnte sich nur darum handeln, ihn zu einem möglichst vollkommenen Instrument der lyrischen Gefühlsbewegungen auszubilden, die ein über ihn hereinbrechendes Geschehen in ihm hervorrief und die er durch Gesang und Tanz ausdrückte. Die begrenzten Möglichkeiten dieser Ausdrucksformen konnte der Dichter nur dadurch voll ausnutzen, daß er durch mehrmaligen jähen Wechsel des Geschicks eine möglichst vielseitige und kontrastreiche Skala der lyrischen Ausdrucksmomente für den Chor schuf, wie es noch das älteste Stück des Aischylos, die 'Schutzflehenden' zeigt, in dem der Chor der Danaiden durchaus noch der eigentliche Schauspieler ist. Hier begreift man auch, warum es notwendig wurde, zum Chor einen Sprecher hinzuzufügen; er hatte nur die Aufgabe, durch sein Auftreten und seine Meldungen, gelegentlich auch durch sein eigenes Erklären oder Tun wechselnde Situationen herbeizuführen, die das dramatisch erregende Auf und Ab der lyrischen Ergießungen des Chors motivierten. So erlebt der Chor „von der Freude zu Schmerzen und von Schmerzen zur Freude tieferschütternden Übergang". Der Tanz ist der Ausdruck seines Jubeins, seiner Hoffnung, seiner Dankbarkeit; Schmerz und Verzweiflung strömt er aus im Gebet, das ja bereits in der individuellen Lyrik und Reflexion der älteren Poesie jeder Art von Aussprache des bewegten Innern dient. Schon in dieser ältesten Tragödie, die keine Aktion sondern ganz Passion war, mußte durch die Macht der „Sympatheia", durch das Mitleiden des Hörers mit dem leidenden Chor die Aufmerksamkeit auf das Geschick gelenkt werden, das diese Erschütterungen des Menschenlebens erzeugte und das von den Göttern gesandt war. Ohne dieses Problem der Tyche oder Moira, das dem Bewußtsein jener Zeit durch die ionische Lyrik so nahe gebracht war, hätte sich aus dem ältesten 'Dithyrambos mit mythischem Inhalt' niemals eine Tragödie im wahren Sinne entwickelt. Die rein lyrische Form des Dithyrambos, die nur einen einzelnen dramatischen Moment der Sage als seelischen Ausdruck gestaltet, ist uns ja in mehreren Beispielen neuerdings bekannt geworden. Von hier bis zu Aischylos war noch ein Riesenschritt. Gewiß war dazu wesentlich 322

[11322]

die Vermehrung der Sprecher, die zur Folge hatte, daß der Chor nicht mehr Selbstzweck blieb und die Sprecher Mitträger, schließlich sogar Hauptträger der Handlung wurden. Aber die technische Verbesserung war nur das Mittel, um in dem dargestellten Geschehen, das auch jetzt in erster Linie ein Leiden des Menschen blieb, die höhere Idee des Waltens der göttlichen Mächte auf großartigere und vollkommenere Weise zur Erscheinung zu bringen. Erst durch das Hervorbrechen dieser Idee wird das neue Spiel eigentlich 'tragisch', wobei es nutzlos ist nach einer allgemeingültigen Begriffsbestimmung zu suchen, die mindestens den ältesten Dichtern ganz fern lag. Ist doch der Begriff des Tragischen erst von der fertigen Gattung der Tragödie nachträglich abgeleitet. Will man der Frage: was ist an der Tragödie das Tragische an sich einen Sinn zugestehen, was man durchaus bejahen wird, so ist sie für jeden der großen Tragiker verschieden zu beantworten, und eine allgemeine Definition könnte dies nur verwischen. Am ehesten läßt sich die Frage geistesgeschichtlich beantworten. Die sinnfällig gegenwärtige Darstellung des Leidens durch die gesungenen und getanzten Ekstasen des Chors, aus der sich durch Hinzutritt mehrerer Sprecher die Darstellung eines in sich geschlossenen menschlichen Schicksalsverlaufs entwickelte, wurde einer hierzu innerlich seit langem vorgeschrittenen Zeit zum Brennpunkt ihres religiösen Fragens nach dem Geheimnis des gottgesandten Leidens im Leben des Menschen. Gerade das Miterleben der Entladung des Schicksals, die schon Solon dem Gewitter verglichen hatte, forderte die höchste seelische Kraft des Menschen zum Widerstand heraus und rief gegen Furcht und Mitleid, die unmittelbaren psychologischen Wirkungen des Erlebten, den Glauben an die Sinnhaftigkeit des Daseins als letzte Reserve auf. Die spezifisch religiöse Wirkung des Erlebnisses des menschlichen Schicksals, wie die Tragödie des Aischylos sie in die Darstellung des Geschehens selbst aufgenommen hat und im Zuschauer erweckt, ist das was wir im Sinne seiner Kunst als das Tragische bezeichnen können. Wir müssen alle modernen Begriffe vom Wesen des Dramatischen oder des Tragischen völlig beiseite stellen und unser ganzes Augenmerk auf diesen [1/323]

323

Punkt richten, wenn wir uns der Tragödie des Aischylos nähern wollen. Die Vergegenwärtigung des "Mythos durch die Tragödie ist nicht nur sinnlich sondern radikal. Sie erstreckt sich nicht nur auf die äußere Dramatisierung, die aus Erzählung miterlebte Handlung macht, sondern greift auch auf das Geistige, auf die Auffassung der Personen über. Allgemein werden die überlieferten Geschichten ganz aus den inneren Voraussetzungen der Gegenwart begriffen. Wenn die Nachfolger des Aischylos, vor allem Euripides, darin immer weiter gingen, bis sich die mythische Tragödie schließlich verbürgerlichte, so liegen die ersten Keime dieser Entwicklung schon in ihren Anfängen, denn auch Aischylos gestaltet die Menschen der Sage, die ihm oft nichts als die bloßen Namen und die leeren Umrisse einer Handlung bot, nach dem Bilde, das er in sich trug. So ist der König Pelasgos in den 'Schutzflehenden' ein moderner Staatsmann, dessen Handeln durch die Entscheidung der Volksversammlung bestimmt wird und der sich auf sie beruft, wenn rasches Eingreifen von ihm verlangt wird. Der Zeus des 'gefesselten Prometheus' ist das Urbild des modernen Tyrannen, wie die Zeit des Harmodios und Aristogeiton es sieht. Auch der Agamemnon des Aischylos wirkt sehr unhomerisch, er ist wie ein echter Sohn des Zeitalters der delphischen Religion und Ethik von beständiger Furcht vor irgend einer Hybris umschwebt, die er als Sieger in der Fülle der Macht und des Glücks begehen könnte. Er ist ganz erfüllt von dem solonischen Glauben, daß die Übersättigung Hybris gebiert und daß Hybris zum Verderben führt. Solonisch gedacht ist es erst recht, daß er der Ate dennoch nicht entgeht. Prometheus wird aufgefaßt als der gestürzte erste Ratgeber des eifersüchtigen und mißtrauischen jungen Tyrannen, der ihm zwar die Befestigung seiner noch neuen und mit Gewalt errungenen Herrschaft verdankt, aber seine Macht nicht länger mit ihm teilen will, als Prometheus sie eigenmächtig zur Verwirklichung geheimer Pläne zur Rettung der leidenden Menschen zu verwenden sucht. Mit dem Politiker verschmilzt Aischylos in seiner Prometheusgestalt den Sophisten, wie es die wiederholte Anrede des Helden mit diesem damals noch ehrenvollen Wort beweist. 324

[1/324]

Auch Palamedes war in dem verlorenen Drama als Sophist gezeichnet. Beide zählen in starkem Selbstgefühl die Künste auf, die sie erfunden haben, um den Menschen zu nützen. Prometheus wird mit der neuesten geographischen Kenntnis unbek; mnter ferner Länder ausgestattet. Sie war zur Zeit des Aischylos noch etwas Seltenes und Geheimnisvolles, das die Phantasie der Hörer begierig aufnahm. Doch die langen Aufzählungen von Ländern Flüssen Völkern im gefesselten und befreiten Prometheus dienen nicht nur als dichterischer Schmuck, sie charakterisieren zugleich die Allwissenheit des Sprechers. Wir sind damit bereits zur Gestaltung der Reden gekommen, für die sich dasselbe erweisen läßt wie für die Personen des Dramas. An den geographischen Reden des Sophisten Prometheus ist schon offenbar geworden, daß ihre Formung ganz im Dienst der Gestaltung der Person steht, die sie hält. Ähnlich ist es, wenn im Prometheus der alte Okeanos die weisen Ratschläge, die er dem leidenden Freunde erteilt, um ihn zur Nachgiebigkeit gegen die Ubermacht des Zeus zu bewegen, zum guten Teile geprägter alter Spruchweisheit entnimmt. In den 'Sieben gegen Theben' hört man einen modernen Feldherrn seine Anordnungen treffen. Der Prozeß des Muttermörders Orestes vor dem Areopag in den 'Eumeniden' konnte als wichtigste geschichtliche Quelle des attischen Blutrechts ausgenutzt werden, weil er ganz mit dessen Gedanken bestritten wird, und für die Segenslieder der Schlußprozession hat die Liturgie staatlicher Götterdienste und ihre Gebetssprache das Vorbild geliefert. Von solcher Modernisierung des Mythos im größten Maßstab hatte weder das späte Epos noch die Lyrik etwas gewußt, wenn die Dichter auch oft genug die Überlieferung der Sage geändert hatten, je nachdem ihr Zweck es erforderte. Unnötige Änderungen des eigentlichen Hergangs, wie der Mythos ihn erzählte, hat Aischylos nicht vorgenommen, aber indem er das, was dort bloßer Name war, zur plastischen Gestalt formte, mußte sich der Mythos der Idee fügen, die der Gestalt erst die innere Struktur gab. Was für Personen und Reden gilt, trifft im großen für den Aufbau der ganzen Tragödie zu. Die Gestaltung folgt hier wie dort der Seinsansicht, die dem Dichter wesentlich ist und die [1/325]

325

er in seinem Stoff wiederfindet. Das klingt vielleicht wie eine Banalität und ist es doch nicht. Bis auf die Tragödie hatte es noch keine Poesie gegeben, die den Mythos schlechthin als Ausdruck einer Idee darstellte und die Mythen danach auswählte, wie weit sie sich zu diesem Zweck eigneten. Denn es war keineswegs so, daß jedes beliebige Stück Heldensage dramatisiert werden konnte und das dann eine Tragödie war. Aristoteles berichtet, daß mit der fortschreitenden Ausbildung tragischer Form nur noch ganz wenige Stoffe aus dem großen Reichtum der Sage die Dichter lockten, diese wenigen aber wurden fast von jedem Dichter bearbeitet Die Mythen von Oedipus und dem thebanischen Königshause oder vom Schicksal der Atriden — Aristoteles zählt noch einige andere auf — trugen ihrer Natur nach schon den Keim der künftigen Gestaltung in sich, sie waren potentielle Tragödien. Das Epos hatte die Sage um ihrer selbst willen erzählt, und selbst wo in den jüngeren Schichten der Ilias eine durchgehende Idee hervortritt, unter deren Aspekt das Ganze gestellt wird, kann sich ihre Herrschaft über die verschiedenen Teile des Epos doch nicht mehr gleichmäßig durchsetzen. In der Lyrik, soweit sie mythische Stoffe wählt, handelt es sich um die Hervorkehrung der lyrischen Momente des Gegenstandes. Erst das Drama macht die Idee des menschlichen Schicksals und seines Ablaufs mit seinem notwendigen Aufstieg und Abstieg, mit Peripetie und Katastrophe zu seinem formenden Prinzip, dem es seinen festen Aufbau verdankt. Welcker hat zuerst zu zeigen vermocht, daß Aischylos meistens nicht einzelne Tragödien schuf sondern in Form von Trilogien komponierte. Die Aufführung von je drei Stücken eines Dichters ist auch später üblich geblieben, als man diese Form aufgab. Wir wissen nicht, ob die Dreizahl der Stücke erst daher rührt, daß man von der Trilogie als Normalform ausging oder ob Aischylos aus der Not eine Tugend gemacht hat und deshalb alle drei Dramen, die der Staat verlangte, in den Dienst eines einzigen zusammenhängenden Stoffs gestellt hat. In jedem Falle aber ist klar, aus welchem inneren Grund 1

326

Arist. Poet. 13, 1453 a 19

[I/326J

er zu seiner trilogischen Großkomposition gelangt ist. Der solonische Glaube, den der Dichter teilt, sah eins der schwersten Probleme in dem Forterben des Geschlechtsfluchs von den Vätern auf die Söhne und oft genug von den Schuldigen auf die Unschuldigen. Dieses Schicksal, das durch mehrere Generationen hindurchschlägt, hat der Dichter in der Orestie und in den argivischen und thebanischen Königsdramen in der Einheit einer Trilogie zu umspannen gesucht. Sie war auch da anwendbar, wo sich das Geschick eines einzelnen Helden in mehreren Handlungsstufen vollzog wie im gefesselten, befreiten und fackeltragenden Prometheus. Die Trilogie ist als Ausgangspunkt für das Verständnis der Kunst des Aischylos besonders geeignet, weil sie sinnfällig zeigt, daß es sich nicht um die Person handelt sondern um ein Schicksal, dessen Träger gar nicht notwendig ein Einziger zu sein braucht, sondern eben so gut ein ganzes Geschlecht sein kann. Der Mensch ist im aischyleischen Drama noch nicht selbst Problem, er ist der Schicks aisträger, das Schicksal ist das Problem. Vom ersten Verse an ist die Atmosphäre bei Aischylos gewitterhaft geladen, sie steht unter dem Druck des Dämons, der auf dem ganzen Hause lastet. Aischylos ist der größte Meister der tragischen Exposition unter allen Dramatikern der Weltliteratur. In den Schutzflehenden, den Persern, den Sieben gegen Theben, dem Agamemnon ist der Hörer sofort im Bann des in der Luft hängenden Schicksals, das dann mit unwiderstehlicher Gewalt hereinbricht. Nicht die Menschen sind die eigentlich Handelnden sondern die übermenschlichen Mächte. Mitunter nehmen sie wie in dem Schlußstück der Orestie geradezu selbst den Menschen das Spiel aus den Händen und führen es unter sich zu Ende. Stets aber sind sie wenigstens unsichtbar gegenwärtig und ihre Gegenwart ist deutlich zu spüren. Man kann den Gedanken an die Giebelskulpturen zu Olympia, die so sichtlich tragisch empfunden sind, gar nicht unterdrücken. Auch da steht die Gottheit in der Hoheit ihrer Macht im Mittelpunkt des Kampfes der Menschen und lenkt alles nach ihrem Willen. Gerade in der beständigen Hineinziehung von Gott und Schicksal zeigt sich die Hand des Dichters. Im Mythos fand [U327]

327

er das nicht vor. Was auch immer geschieht, steht für ihn unter dem allbeherrschenden Problem der Theodizee, wie es Solon im Anschluß an das jüngere Epos in seinen Gedichten entwickelt hatte. Die verborgenen Gründe des göttlichen Waltens zu erforschen ringt sein Geist unaufhörlich. Ein Hauptproblem war für Solon der ursächliche Zusammenhang des Unglücks mit der eigenen Schuld des Menschen. In seiner großen Elegie, die sich mit dieser Frage beschäftigt, sind zum erstenmal die Gedanken ausgesprochen, die die Tragödie des Aischylos erfüllen Das Epos hatte in seinem Begriff der Verblendung, der Ate, die göttliche und menschliche Kausalität des Unglücks noch als Einheit gefaßt: das Irren des Menschen, das ihn in sein Verderben fuhrt, ist die Wirkung einer dämonischen Macht, der niemand zu widerstehen vermag. Sie treibt Helena ihren Gemahl und ihr Haus zu verlassen und mit Paris zu entfliehen. Sie läßt Achilleus sein Herz und seinen Sinn verhärten gegen die seine verletzte Ehre wiederherstellenden Erklärungen der Abordnung des Heeres und gegen die Mahnungen seines greisen Lehrers. Die Entwicklung des menschlichen Selbstbewußtseins vollzieht sich in der Richtung der fortschreitenden Verselbständigung des menschlichen Erkennens und Wollens gegenüber den höheren Einflüssen. Damit wächst der Anteil des Menschen an seinem Geschick, den er sich selbst zuzurechnen hat. Schon in der jüngsten Schicht des homerischen Epos, in dem ersten Gesang der Odyssee, versucht der Dichter eine Abgrenzung des göttlichen und des eigenen Anteils der Menschen an ihrem Unglück und spricht die Weltregierung frei von der Schuld an allem Unheil, in das der Mensch wider besseres Wissen hineinrennt. Solon hat diesen Gedanken vertieft durch seinen großartigen Rechtsglauben. Für ihn ist 'Recht' jenes immanente göttliche Prinzip der Welt, dessen Verletzung sich notwendig und unabhängig von aller menschlichen Justiz rächen muß. Ist diese Erkenntnis erst dem Menschen zum Bewußtsein gekommen, so schiebt sie ihm einen großen Teil der Verantwortung für sein Unglück zu. Im selben Maße wächst die sittliche Erhabenheit der Gottheit, die der Hüter der Weltgerechtigkeit wird. Aber 1

328

Sol. frg. ι (vgl. S. 198) [1/328]

welcher Mensch kann die Wege Gottes wirklich verstehen? Er glaubt wohl in diesem oder jenem Falle ihren Gründen nachkommen zu können, aber wie oft gibt die Gottheit gerade dem Toren und dem Schlechten gutes Gelingen und läßt das ernste Bemühen des Rechtschaffenen scheitern, auch bei bestem menschlichen Denken und Planen. Dieses „unvorhersehbare Unheil" läßt sich nicht aus der Welt wegdisputieren, es ist der untilgbare Rest jener alten Ate, von der Homer spricht und die neben der selbstverschuldeten immer ihre Wahrheit behält. Eine besonders enge Verbindung zeigt sie nach menschlicher Erfahrung mit dem, was die Sterblichen Glück nennen, das leicht in tiefstes Leid umschlägt, weil es den Menschen zur Hybris geradezu verleitet. In der Unersättlichkeit des Triebes, der immer das Doppelte dessen begehrt was er hat, es sei so groß wie es will, lauert die dämonische Gefahr. So kann das Glück und jeglicher Besitz nicht lange bei seinem Nutznießer bleiben, und sein ewiger unsteter Wechsel liegt in seiner eigenen Natur. Solons Überzeugung von einer göttlichen Ordnung der Welt hatte gerade in dieser für die Menschen schmerzlichen Erkenntnis ihre stärkste Stütze gefunden. Auch Aischylos ist ohne diese Überzeugung, die man besser eine Erkenntnis als einen Glauben nennt, nicht zu denken. Wie unmittelbar die aischyleische Tragödie aus dieser Wurzel erwächst, zeigt am einfachsten ein Drama wie die 'Perser'. Es ist dadurch merkwürdig, daß es keiner Trilogie angehört. Das hat für uns den Vorteil, daß wir hier die Tragödie auf engstem Raum in geschlossener Einheit sich entfalten sehen. Außerdem sind die 'Perser' ein Unicum durch das Fehlen des mythischen Stoffes. Der Dichter hat ein Geschichtsereignis, das er selbst erlebt hat, zur Tragödie gestaltet. Das gibt uns die Gelegenheit zu sehen, was ihm an einem Stoff überhaupt im Sinne der Tragödie wesentlich ist. Die 'Perser' sind alles andere als 'dramatisiçrte Geschichte'. Es ist kein im billigen Sinne patriotisches Theaterstück, im Rausch des Sieges geschrieben. Aus tiefster Sophrosyne und Erkenntnis der Grenzen des Menschen macht Aischylos noch einmal das Volk der Sieger, das sein andächtiger Hörer ist, zum Zeugen des erschütternden weltgeschichtlichen Schauspiels der persischen Hybris und der göttlichen Tisis, die [U329J

329

zermalmend auf die siegesgewisse Übermacht der Feinde herabstürzt. Geschichte wird hier selbst zum tragischen Mythos, weil sie Größe hat und weil die menschliche Katastrophe das göttliche Walten so sichtlich offenbart. Man hat sich naiv darüber gewundert, weshalb die Dichter nicht öfter 'historische Stoffe' bearbeitet hätten. Der Grund ist einfach: weil die gewöhnliche Geschichte die Bedingung nicht erfüllt, die eine griechische Tragödie stellt. Die 'Perser' zeigen, wie sehr die äußere dramatische Realität des Geschehens als solche für den Dichter zurücktritt. Die Wirkung des Schicksals auf die Seele des Erlebenden ist ihm alles. Aischylos steht in dieser Hinsicht der Geschichte nicht anders gegenüber als dem Mythos. Aber auch das Leidenserlebnis ist nicht um seiner selbst willen da. Gerade darin sind die 'Perser', wenn auch in der einfachsten Form, die der Dichter kennt, der Urtypus einer aischyleischen Tragödie. Das Leiden trägt in sich die Kraft der Erkenntnis. Das ist urvolkstümliche Weisheit. Das Epos kennt sie noch nicht als beherrschendes dichterisches Motiv. Für Aischylos hat sie eine tiefere und damit zentrale Bedeutung gewonnen. Es gibt Zwischenstufen wie das „Erkenne dich selbst" des delphischen Gottes, das die Erkenntnis der Grenzen des Sterblichen fordert, wie Pindar aus seiner apollinischen Frömmigkeit sie immer wieder gelehrt hat. Auch für Aischylos ist dieser Gedanke wesentlich, besonders in den 'Persern' tritt er stark hervor. Aber er erschöpft nicht seinen Begriff des φρονείν, der tragischen Erkenntnis durch die Kraft des Leidens. In den 'Persern' schafft er dieser Erkenntnis ihre eigene Verkörperung, denn das ist der Sinn der Totenbeschwörung des alten weisen Königs Dareios, dessen Vermächtnis Xerxes der Erbe in eitler Hoffart vertan und verschleudert hat. Die Totenhügel auf den Schlachtfeldern Griechenlands — prophezeit der ehrwürdige Schatten des Dareios — werden künftigen Geschlechtern stumme Mahner sein, daß dem Sterblichen niemals Hochmut frommt \ „Denn wenn die Hybris aufblüht trägt als Ähre sie Verblendung, deren Ernte reich an Tränen ist. Und wenn ihr schauet solchen Lohn ob solchem Tun, gedenket an Athen und Hellas, und es möge nicht 1

330

Pers. 819 [1/330]

des Dämons Gabe, die er hat, verachtend nach andrem einer sich gelüsten lassen und am Boden hin verschütten eigenes großes Glück. Zeus droht als Rächer übermäßig prahlerischer Hoffart und er fordert strenge Rechenschaft." Hier zeugt der solonische Gedanke fort, daß gerade wer das Meiste besitzt nach dem Doppelten seine Hand ausstreckt. Aber was bei Solon nur denkende Betrachtung über die Unvollendbarkeit des in sich grenzenlosen menschlichen Strebens ist, wird bei Aischylos zum Pathos des Miterlebens der dämonischen Verlockung und der menschlichen Verblendung, die ihr auf dem Weg zum Abgrund widerstandslos folgt. Die Gottheit ist ihm heilig und gerecht wie dem Solon, und unantastbar ist ihre ewige Ordnung. Aber er findet für die 'Tragik' des Menschen, der durch seine Blindheit ihrem Strafgericht verfallt, erschütternde Töne. Schon im Eingang der 'Perser' steigt in dem Chor im gleichen Atemzuge, wo er der Herrlichkeit und Macht des in den Krieg gezogenen Perserheeres sehnsüchtig stolz gedenkt, das unheimliche Bild der Ate schreckhîift auf. „Aber des Gottes listsinnendem Trug . . . welcher sterbliche Mann kann ihm entrinnen? . . . Freundlich zuerst redet ihn an, dann aber lockt ihn in das Netz Ate, daraus kein Entrinnen mehr ist." Und „vor Furcht zerfleischt" sich sein „schwarzgewandetes Herz" 1 . Vom Netz der Ate, aus dem nicht mehr herauszukommen ist, spricht auch der Schluß des 'Prometheus'. Dort freilich ist es der Götterbote Hermes, der die Okeaniden warnt und ihnen die Schuld zuschiebt, wenn sie durch ihr unerschütterliches mitleidiges Festhalten an dem von den Göttern Verworfenen, den in wenigen Augenblicken der Abgrund verschlingen wird, wissend und freiwillig mit ins Verderben stürzen2. In den.'Sieben gegen Theben' erblickt der Chor in seiner Klage über die feindlichen Brüder, die dem Fluch des Vaters Oedipus verfallen sind und vor den Toren im Kampfe Mann gegen Mann beide den Tod gefunden haben, eine schaurige Vision: „ A m Ende aber stimmten die Fluchgöttinnen den hellstimmigen Siegesgesang an, als das ganze Geschlecht mit Vernichtung geschlagen war. Es ragt das Siegesmal der Ate hochaufgerichtet an dem Tor, wo sie erschlagen 1 2

[H331J

Pers. 93 Prom. 1071 vgl. Solons Eunomie, Sitz. Beri. Akad. 1926,75

331

wurden und wo des Schicksals Dämon, nachdem er beide besiegt, zur Ruhe k a m " 1 . Die aischyleische Schicksalsidee ist alles andere als das Statuieren eines Exempels: das lehrt die Sprache dieser ungeheuren Bilder, die das Wirken der Ate seiner Phantasie entlockt. Kein anderer hat vor ihm das Dämonische ihres Wesens mit ähnlicher sinnlicher Kraft erlebt und ausgesprochen. Hier wird auch dem unerschütterlichsten Glauben an die ethische Macht der Erkenntnis aufgehen müssen, daß die Ate doch immer die Ate bleibt, gleichviel ob ihr Fuß, wie es bei Homer heißt, über der Menschen Häupter wandelt oder ob, wie Heraklit lehrt, das eigene Ethos des Menschen Daimon ist 2. Für die Tragik des Aischylos ist, was wir den Charakter nennen, keineswegs wesentlich. In der Spannung zwischen dem Glauben an die Lückenlosigkeit der gerechten Weltordnung und der Erschütterung über die dämonische Grausamkeit und Hinterlist der Ate, durch die der Mensch verführt wird diese Ordnung zu verletzen, um dann als notwendiges Opfer für ihre Wiederherstellung zu fallen, liegt erst das Ganze der aischyleischen Schicksalsidee beschlossen. Solon ging aus von dem Unrecht als der sozialen Pleonexie, er forschte nach, wo es seine Ahndung fand, und er sah seine Erwartung stets bestätigt. Aischylos geht aus von dem tragisch erschütternden Erlebnis der Tyche im Menschenleben, doch seine innere Gewißheit führt sein Suchen nach ihrem zureichenden Grunde immer wieder zu dem Glauben an die Gerechtigkeit der Gottheit zurück. Diese Verschiebung der Akzente dürfen wir über der Einigkeit des Aischylos und Solon nicht überhören, wenn wir verstehen wollen, warum derselbe Glaube sich bei dem einen so ruhig und betrachtsam, bei dem anderen so dramatisch gewaltig und Überwinderhaft ausspricht. Die problematische Spannung des aischyleischen Glaubens tritt in den anderen Tragödien stärker hervor als in den 'Persern', wo der Gedanke des göttlichen Strafgerichts über die menschliche Hybris sich doch ziemlich einfach und ungebrochen entfaltet. Am deutlichsten wird sie in den großen Trilogien, soweit wir einen Einblick in sie gewinnen. Das ist bei dem ältesten Stück, 1 2

332

Sept. 952 Τ 93, Herakl. frg. 119 [1/332J

das wir besitzen, den 'Schutzflehenden' nicht der Fall, da sie das erste Drama der Trilogie darstellen und die beiden anderen Stücke verloren sind. Außer der vollständig erhaltenen Orestie ist es am ehesten in der Labdakidentrilogie möglich, da wir hier glücklicherweise gerade das letzte Stück haben, die 'Sieben gegen Theben'. I n der Orestie ist nicht nur die schöpferische Sprachphantasie und Aufbaukunst des Dichters sondern auch die Spannkraft seiner religiös-sittlichen Problematik auf dem Gipfel, und es ist kaum begreiflich, daß er dieses gewaltigste und männlichste dramatische Werk, das die Geschichte kennt, im Greisenalter kurz vor seinem Tode vollendet hat. Ganz unverkennbar ist zunächst die Untrennbarkeit des ersten Stückes von den folgenden beiden. Es für sich allein aufzuführen ist streng genommen eine Barbarei, von den 'Eumeniden' ganz zu schweigen, die überhaupt nur als gigantisches Finale existenzfähig sind. Der 'Agamemnon' ist so wenig ein autarkes Kunstwerk wie die 'Schutzflehenden', er ist durchaus Stufe für das zweite Stück. Der Geschlechtsfluch, der auf dem Hause der Atriden lastet, ist diesmal nicht um seiner selbst willen dargestellt, woraus sich eine Trilogie koordinierter Fluchdramen ergeben hätte, die jedes das Schicksal einer anderen Generation dargestellt hätten, etwa mit einem Orest an dritter Stelle und Agamemnon als Mittelstück. Statt dessen steht im Mittelpunkt, nachdem das erste Stück die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, Orests Verstrickung in ausweglose unfreiwillige Schuld durch die von Apollon selbst geforderte Erfüllung seiner Blutrachepflicht gegen die eigene Mutter, ein tragisches Problem von einzigartiger ausgesuchter Antinomie, und das ganze Schlußstück ist der Lösung dieses durch Menschenwitz nicht lösbaren Knotens durch das Wunder eines göttlichen Gnadenakts gewidmet, der zugleich mit dem Freispruch des Täters das Institut der Blutrache, ein furchtbares Überbleibsel des alten Geschlechterstaats, aufhebt und den neuen Gesetzesstaat als alleinigen Hüter des Rechts einsetzt. Die Schuld Orests ist in keiner Weise in seinem Charakter begründet, als solcher ist er vom Dichter gar nicht beabsichtigt. Er ist schlechthin nur der blutrachepflichtige unglückliche Sohn, auf den im Augenblick, wo er mannbar wird, als Fluch die unselige [1/333]

333

Tat wartet, die ihn vernichten wird, noch ehe er das Leben gekostet hat, und zu der der Gott von Delphi ihn immer erneut antreibt, wenn er sich von diesem unverrückbaren Ziele irgendwie ablenken läßt. So ist er nichts als der Träger des seiner harrenden Schicksals. Es gibt keine vollkommenere Offenbarung des Problematikers Aischylos als dieses Werk. Es stellt den Konflikt der göttlichen Mächte selbst dar, die das Recht schirmen. Der lebendige Mensch ist nur die Stelle, wo sie Vernichtung bringend aufeinanderstoßen, und auch der schließliche Freispruch des Muttermörders geht am Schluß unter in der allgemeinen Versöhnung der miteinander streitenden alten und neuen Götter und in den Segensgesängen, die die Gründung der neuen Rechtsordnung des Staates und die Verwandlung der Erinyen in Eumeniden mit ihrer weihevollen Musik als feierlicher Ausklang begleiten. Der solonische Gedanke, daß die Unschuldigen für die schuldigen Väter büßen müssen, schafft in den 'Sieben gegen Theben* einen Schluß der Trilogie der thebanischen Königsdramen, der an düsterer Tragik nicht nur des brudermörderischen Ausgangs wegen der Orestie in mancher Hinsicht überlegen ist. Die Brüder Eteokles und Polyneikes fallen als Opfer des Fluches, der auf dem Hause der Labdakiden lastet. Aischylos hat ihn durch die Schuld des Ahnherrn motiviert, und ohne Zweifel hätte sein frommes Gefühl ohne diesen Hintergrund einen Vorgang, wie er in dem erhaltenen Schlußstück dargestellt wird, völlig unmöglich gefunden. Aber was sich in den 'Sieben' abspielt, ist doch alles andere als der von frommer Sittlichkeit geforderte erbarmungslose Vollzug der lückenlosen göttlichen Strafordnung. Der ganze Nachdruck liegt auf der Tatsache, daß die unerbittliche Kausalität der alten Schuld hier einen Menschen in den Untergang reißt, der ein besseres Los durch seine hohe Tugend als Herrscher und als Held verdient hätte und dem unsere Sympathie vom ersten Augenblick an zufliegt. Polyneikes bleibt ein Schatten, um so bewußter ist Eteokles, der Schützer seiner Stadt, gezeichnet. Persönliche Arete und überpersönliches Schicksal sind hier in höchster Gegensatzspannung; insofern ist das Stück ein äußerster Kontrast zu den 'Persern' mit ihrer lapidaren einfachen Logik von Schuld und Strafgericht. Es ist als könnte die 334

[II334]

Schuld im dritten Gliede der Vorfahren kaum noch als Ankerkette diese ungeheure Last der Leiden halten. Die innere Bedeutung des versöhnenden Schlußbildes in den 'Eumeniden' wächst, wenn wir den unversöhnten Ausgang der 'Sieben' voll empfinden. Gerade in der Antinomie dieses Dramas liegt seine Kühnheit. Bei absoluter Wahrung der Voraussetzungen der höheren Gerechtigkeit, deren Walten wir im Sinne des Dichters nicht nach dem Ergehen des Individuums beurteilen dürfen, sondern nur im Blick auf das Ganze ahnen lernen, stellt Aischylos den Hörer hier doch vor allem unter den menschlich erschütternden Eindruck des unentfliehbar fortwirkenden Dämons, der sein Werk bis zum harten Ende führt und dem ein Held wie Eteokles gefaßt und in großer Haltung entgegengeht. Das große Neue ist die tragische Bewußtheit, mit der Aischylos den letzten Sprossen des Geschlechts in den sicheren Tod gehen läßt. Durch sie ist eine Gestalt geschaffen, die ihre höchste Arete überhaupt erst im tragischen Falle offenbart. Eteokles wird fallen, aber er wird, wenn er in den Tod geht, seine Vaterstadt erretten vor Eroberung und Knechtschaft. Uber der schmerzvollen Botschaft seines Todes sollen wir den Jubel der Rettung nicht überhören. So erwächst aus dem lebenslangen Ringen des Aischylos mit dem Problem des Schicksals hier die befreiende Erkenntnis einer tragischen Größe, zu der der leidende Mensch sich noch im Augenblick seiner Vernichtung erhebt. Indem er sein schicksalgeweihtes Leben dem Heil des Ganzen zum Opfer bringt, versöhnt er selbst uns mit dem, was an dem Untergang der echten Arete auch dem frömmsten Sinn sinnlos erscheint. In den 'Sieben gegen Theben' ist das Epochemachende gegenüber dem älteren Typus der Tragödie wie den 'Persern' oder den 'Schutzflehenden', daß hier zum erstenmal in den uns erhaltenen Stücken ein Held im Mittelpunkt der Handlung steht. In den älteren Dramen war der Chor der Hauptspieler und das Subjekt der Handlung. Der Chor in den 'Sieben' trägt nicht wie die Danaiden in den 'Schutzflehenden' individuelles Gepräge, er vertritt nur das traditionelle Element der Wehklage und der tragischen Furcht, die die Atmosphäre [1/335]

335

der Tragödie ausmachen. Es sind einfach Weiber mit Kindern in Panik inmitten der belagerten Stadt. Vom Hintergrunde des weibischen Zagens hebt sich der Held ab durch die ernste und überlegte Kraft seines männlichen Handelns. Wenn die griechische Tragödie von Haus aus mehr ein Leiden als ein Handeln ist, so leidet Eteokles, indem er bis zum letzten Atemzuge handelt. Auch im 'Prometheus' steht eine Einzelgestalt im Vordergrund, nicht nur durch ein Drama sondern die ganze Trilogie hindurch. Wir können nur nach dem einen Stück urteilen, das uns überliefert ist. Der 'Prometheus' ist die Tragödie des Genies. Eteokles fällt als Held, aber weder sein Herrschertum noch sein Kriegertum ist die Quelle seiner Tragik, geschweige daß sie aus seinem Charakter entspränge. Sie kommt von außen. Leiden und Verfehlung des Prometheus haben ihren Ursprung in ihm selbst, in seinem Wesen und Tun. „Freiwillig, j a freiwillig fehlte ich, ich leugn' es nicht. Den anderen zu helfen schuf ich selbst mir Q u a l " 1 . Der 'Prometheus' gehört also einer völlig anderen Dimension an als die meisten der erhaltenen Dramen. Dennoch ist seine Tragik nicht persönlich im individuellen Sinn: sie ist schlechthin die Tragik des geistigen Schöpfertums. Dieser Prometheus ist das freie Erzeugnis der Dichterseele des Aischylos. Für Hesiod war er einfach der Frevler gewesen, der fur die Missetat des Feuerraubs von Zeus bestraft wird. In dieser Tat entdeckt Aischylos mit der Kraft einer Phantasie, die die Jahrhunderte nach ihm niemals genug dankbar und verehrungsvoll bewundern können, den Keim zu dem unvergänglichen Menschheitssymbol seiner Prometheusgestalt: des Lichtbringers der leidenden Menschheit. Das Feuer, diese Götterkraft, wird ihm zum Sinnbild der Kultur. Prometheus ist der kulturschaffende Geist, der die Welt erkennend durchdringt und sie durch die Organisation ihrer Kräfte seinen Zwecken, seinem Willen dienstbar macht, der ihre Schätze erschließt und das tastende, schwankende Leben der Menschen auf sichere Grundlagen stellt. Höhnisch redet der Bote der Götter und ihr Scherge, der ihn in Fesseln schlägt, 1

336

Prom. a66

[1/336]

der Dämon der rohen Gewalt Prometheus als Sophisten, als den Meister der Erfindung an. Die Kulturentstehungstheorie ionischer Denker und Aufklärer mit ihrem triumphierenden Aufstiegsbewußtsein, der rechte Gegensatz zu der resignierten Lehre des Bauern Hesiodos von den fünf Weltaltern und ihrem zunehmenden Verfall, hat Aischylos die Farben geliehen für das Ethos seines Geisteshelden. Er ist getragen vom Fluge seiner Schöpferphantasie und Erfindungskraft und beseelt von hilfreicher Liebe zu den leidenden Menschen. Das Leiden ist im 'Prometheus' das Gattungsmerkmal des Menschengeschlechts geworden. In das lichtlose troglodytenhafte Höhlendasein dieser Eintagsgeschöpfe hat er den Strahl der Kultur gebracht. Wenn es noch eines Beweises bedarf, daß dieser wie zum Hohn auf seine Taten an den Felsen geschmiedete Gott für Aischylos der Menschheit eigenes Los verkörpert, so ist es das Leiden, das er mit ihr teilt und das sich in ihm vertausendfacht. Wer wollte sich vermessen zu sagen, wie weit hier die bewußte Symbolik vom Dichter getrieben ist. Das individuell Begrenzte, das allen mythischen Gestalten der griechischen Tragödie eigen ist und sie wie Menschen erscheinen läßt, die wirklich einmal irgendwo gelebt haben, ist an Prometheus nicht in gleichem Maße zu spüren. Alle Jahrhunderte haben in ihm den Repräsentanten der Menschheit empfunden, sie haben an seiner Statt sich selbst an den Felsen geschmiedet gefühlt und oft in den Aufschrei seines ohnmächtigen Hasses eingestimmt. Wenn Aischylos ihn auch vor allem als lebensfähige dramatische Figur beabsichtigt hat, so lag in seiner Grundkonzeption, der U m · deutung des Feuerraubs, doch von vornherein ein philosophisches Element von einer menschheitumfassenden Tiefe und Großartigkeit der Idee, die der menschliche Geist bis in Äonen niemals erschöpfen wird. Es war dem Griechentum vorbehalten, dieses Symbol des leidend ringenden Heroismus alles menschlichen Schöpfertums als höchsten Ausdruck der Tragik seines eigenen Wesens hervorzubringen. Nur das Ecce homo, das mit seinem Leiden an der Sünde der Welt aus einem völlig anderen Geist entsprungen ist, hat ein neues eigenes Sinnbild der Menschheit von ewiger Gültigkeit zu schaffen vermocht, ohne der Wahrheit des anderen etwas zu nehmen. Nicht umsonst ist der 'Prometheus' 11/337]

337

von jeher das Lieblingsstück der Dichter und Philosophen aller Völker unter den Werken der griechischen Tragödie gewesen, und er wird es immer bleiben, solange noch ein Funke prometheischen Feuers im Menschengeiste glüht. Die bleibende Größe dieser aischyleischen Schöpfung ist gewiß nicht in irgendwelchen theogonischen Geheimnissen zu suchen, auf deren Enthüllung im zweiten verlorenen Teil die offenen und versteckten Drohungen des Prometheus vorzudeuten scheinen, sondern in der heroischen Geisteskühnheit der Prometheusgestalt selbst, deren tragisch fruchtbarsten Moment zweifellos der 'gefesselte Prometheus' bietet. Daß der 'befreite Prometheus' eine Ergänzung dieses Bildes bringen mußte, ist eben so sicher wie unser Unvermögen, über sie irgend etwas Bestimmtes zu ermitteln. O b und wie der Zeus des Mythos, den das erhaltene Drama als gewalttätigen Despoten schildert, sich dort in den Zeus des aischyleischen Glaubens verwandelte, den die Gebete im 'Agamemnon' und in den 'Schutzflehenden' als die ewige Weisheit und Gerechtigkeit preisen, läßt sich nicht sagen. Wir möchten wissen, wie der Dichter selbst die Gestalt seines Prometheus gesehen hat, dessen Verfehlen für ihn gewiß nicht in dem Raub des Feuers als Vergehen gegen das Eigentum der Götter lag, sondern entsprechend der geistigen und symbolischen Bedeutung, die diese Tat für Aischylos hat, in einer tiefer liegenden tragischen Mangelhaftigkeit der Wohltat, die Prometheus mit seiner wunderbaren Gabe der Menschheit erwiesen hatte. Die Aufklärung aller Zeiten träumt von dem Sieg der Erkenntnis und der Künste über die dem Menschen feindlichen Mächte außen und innen. Mit diesem Glauben setzt sich Aischylos im 'Prometheus' nicht auseinander, wir hören nur den Helden selbst die Wohltat des Aufstiegs aus der Nacht zur Helligkeit des Fortschritts und der Gesittung rühmen, deren die Menschheit mit seiner Hilfe teilhaftig geworden ist, und wir sind Zeugen der scheuen Bewunderung des Chors der Okeaniden für seine göttliche Schöpferkraft, wenngleich nicht der Zustimmung zu seiner Tat. Um Prometheus seine Erfindungen zum Heil der Menschen so rühmen zu lassen, daß er uns mit seinem Glauben fortreißt, muß der Dichter sich dem Hochflug dieser Hoffnungen und der Größe des prometheischen Genius willig hingegeben 338

[1/338]

haben. Aber das Los des Menschenbildners und Kulturschöpfers sieht er nicht im Strahlenglanz des Enderfolges. Die Selbstherrlichkeit und der Eigenwille des schöpferischen Geistes kennen keine Grenze, das spricht wiederum der Chor aus. Prometheus hat sich von seinen Brüdern den Titanen getrennt, er hat die Hoffnungslosigkeit ihrer Sache eingesehen, weil sie nur die rohe Kraft anerkennen und nicht begreifen wollen, daß nur des Geistes Witz die Welt regiert (so faßt Prometheus die Überlegenheit der neuen olympischen Weltordnung über die in den Tartaros gestürzten Titanen auf). Aber in seiner maßlosen Liebe, die die leidende Menschheit gewaltsam aus den ihr von dem Herrscher der Welt vorgeschriebenen Bahnen reißen möchte, und in dem stolzen Ungestüm seines Schöpferdranges bleibt er selbst ein Titane, j a sein Geist ist, wenn auch auf höherer Stufe, titanischer als die Natur seiner rohen Brüder, die in einem Fragment aus dem Anfang des 'befreiten Prometheus' von Zeus aus ihren Fesseln erlöst und versöhnt zu dem Ort seiner Leiden sich nahen, wo er schauerlichere Marter erduldet als sie je gekannt. Wieder ist es ebenso unmöglich die Symbolik zu verkennen wie sie ganz zu Ende zu denken, da uns die Fortführung fehlt. Den einzigen Fingerzeig gibt die fromme Bescheidung des Chors 1 im 'gefesselten Prometheus': „Ich erschaure, sehe ich dich von tausend Leiden zermürbt. Denn vor Zeus nicht zitternd treibst eigenen Sinns du allzu sehr Menschendienst, Prometheus. Aber wie ist die Huld selbst dir so huldlos, o Freund. Sprich, wo ist dir Abwehr? Wo der Vergänglichen Hülfe? Sähest du nicht die kurzatmende traumgleiche Ohnmacht, die der Menschen bündes Geschlecht in Fesseln hält? Nimmer werden hinaus der Sterblichen Wahnwünsche schreiten über die festgefügte Ordnung des Zeus". So fuhrt die Tragödie des titanischen Kulturschöpfers den Chor durch Furcht und Mitleid zur tragischen Erkenntnis, wie er selbst in den folgenden Worten ausspricht 2 : „Dies erkannte ich, da dein vernichtendes Schicksal ich geschaut, Prometheus". Die Stelle ist von höchster Bedeutung fur die aischyleische Auffassung von der Wirkung der Tragödie. Was der Chor von sich 1

Prom. 539

/.1/339]

1

Prom. 553

339

selbst sagt, empfindet der Zuschauer als sein eigenes Erlebnis und soll es so empfinden. Diese Verschmelzung von Chor und Zuschauer ist eine neue Stufe in der Entwicklung der chorischen Kunst des Aischylos. In den 'Schutzflehenden' ist der Danaidenchor noch der eigentliche Schauspieler, es gibt daneben noch keinen anderen Helden. Daß dies das ursprüngliche Wesen des Chors ist, hat mit klarer Entschiedenheit zuerst Friedrich Nietzsche in seinem genialen, aber vielfach noch Unvereinbares mischenden Jugendwerk 'Die Geburt der Tragödie' ausgesprochen. Aber diese Entdeckung darf nicht verallgemeinert werden. Als statt des Chors ein einzelner Mensch der Träger des Schicksals wurde, mußte die Funktion des Chors sich verschieben. Immer mehr wird er jetzt zum „idealen Zuschauer", wenn auch seine Beteiligung an der Handlung dauernd erstrebt wird. Daß die griechische Tragödie einen Chor hat, der den tragischen Erlebnisgehalt des dramatischen Geschehens auf der Orchestra in seinen Liedern mitleidend objektiviert, ist eine der stärksten Wurzeln ihrer erzieherischen Macht. Der Chor des 'Prometheus' ist ganz Furcht und Mitleid und verkörpert darin die Wirkung der Tragödie in einer Weise, daß Aristoteles für seine berühmte Definition dieser Wirkung kein besseres Muster hätte finden können. Obgleich der Chor mit dem Leiden des Prometheus so sehr zur Einheit verschmilzt, daß er am Schlüsse trotz der göttlichen Warnung lieber in unendlichem Mitleid mit ihm im Abgrund versinkt, reinigt sich in jenem Chorlied, in dem er sich vom Gefühl zur Betrachtung erhebt, sein tragischer Affekt zur tragischen Erkenntnis. Er erreicht damit das höchste Ziel, zu dem die Tragödie fuhren will. Denn was der Chor im 'Prometheus' ausspricht, daß es eine höchste Erkenntnis gibt, zu der der Weg nur durch das Leiden führt, ist der Urgrund der tragischen Religion des Aischylos. Alle seine Werke ruhen in dieser großen geistigen Einheit. Der Bogen schlägt sich vom 'Prometheus' leicht rückwärts über die 'Perser', wo der Schatten des Dareios diese Erkenntnis verkündigt, zu der leidensvollen Gedankentiefe der Gebete in den 'Schutzflehenden', in denen die Danaiden in ihrer Bedrängnis um das Verstehen der unerforschlichen Wege des Zeus ringen, und nach vorwärts zur 'Orestie', wo in dem feierlichen Gebet 340

[H34Q]

des Chors im 'Agamemnon' der persönliche Glaube des Dichters seine erhabenste Form gefunden hat 1 . Die herzergreifende Innerlichkeit dieses lebenslang in schweren Zweifeln ringenden Glaubens, der um den Segen des Leidens kämpft, trägt in sich eine monumentale Kraft des Ausdrucks von wahrhaft reformatorischer Tiefe und Wucht. Sie ist prophetisch, und sie ist doch noch mehr als dies. Mit ihrem „Zeus, wer du auch bist" steht sie anbetend vor dem letzten der Tore, hinter denen sich das ewige Geheimnis des Seins verborgen hält, der Gott, dessen Wesen nur in seinen Wirkungen leidend geahnt werden kann, „der zur Besinnung den Sterblichen den Weg gebahnt, der zum Gesetz erhob: Durch Leiden Lehre. Statt des Schiaß auf das Herz tropft die Pein eingedenk der Schuld. Auch den Widerwilligen überkommt so des Geists Gesundung. Doch es ist wohl der Götter Huld, daß sie so gewaltsam an dem heiligen Steuer thronen". In dieser Erkenntnis allein findet der tragische Dichter die Ruhe seines Herzens wieder, wenn er die „Last des Zweifels von ihm wälzen" will. In diesem Zusammenhang kommt ihm befreiend der zum reinen Symbol sich wandelnde Mythos zu Hilfe, der den Zeus als Uberwinder der titanischen Urwelt und ihrer hybrisstrotzenden herausfordernden Kraft feiert. Die gegen alle Verletzungen immer von neuem sich herstellende Ordnung überwindet das Chaos. Das ist der Sinn des Leidens, auch wo wir es nicht begreifen. So erfahrt das fromme Herz in sich gerade durch die Macht des Leidens die Herrlichkeit des göttlichen Triumphs. Nur der hat wahrhaft erkannt, der wie der Aar in den Lüften aus vollem Herzen einstimmen kann in den Siegesschrei, der mit allem was Odem hat entgegenjauchzt Zeus dem Überwinder. Dies ist die Bedeutung der Harmonia des Zeus im 'Prometheus', die der Sterblichen Wünsche und Gedanken niemals überschreiten und in die auch die Titanenschöpfung der menschlichen Kultur sich am Ende einfügen muß. Und es ist von hier betrachtet im tiefsten sinnvoll, wenn am Ende dieses Dichterlebens am Schluß der Orestie das Bild des staatlichen Kosmos erscheint, in dem sich alle Gegensätze versöhnen müssen und der selbst in dem 1

Ag. 160

[1/341]

341

ewigen Kosmos ruht. In diese Ordnung hineingestellt entfaltet auch die neue Gestalt des 'tragischen Menschen', die die Kunst der Tragödie schuf, ihre verborgene Harmonie mit dem Sein und erhebt sich in heroisch gesteigerter Leidensfahigkeit und Lebenskraft auf eine höhere Stufe des Menschtums.

342

[1/342]

DER TRAGISCHE MENSCH DES SOPHOKLES Sophokles und Aischylos muß man in einem Atem nennen, wenn von der attischen Tragödie als erzieherischer Macht die Rede ist. Sophokles hat bewußt die Nachfolge des älteren Dichters übernommen, und das Urteil der Zeitgenossen, fur die Aischylos der ehrwürdige Heros und geistesmächtige Meister des athenischen Theaters war und blieb, erkannte Sophokles den Platz an seiner Seite zu. Diese Art der Betrachtung liegt nun einmal tief in der griechischen Auffassung vom Wesen der Poesie begründet, die nicht in erster Linie die einmalige Individualität in ihr sucht sondern sie als eine selbständige fortzeugende Kunstform ansieht, die auf einen anderen Träger übergeht und fur ihn gleichsam der fertige Maßstab bleibt. Man kann das gerade an einer Schöpfung wie der Tragödie verstehen lernen, die, einmal ans Licht getreten, in ihrer beherrschenden Stellung etwas Verpflichtendes für den Geist der Mit- und Nachwelt hat, das alle vorhandenen Kräfte zum edelsten Wetteifer anspornt. Dieses Agonale in aller dichterischen Produktivität der Griechen wächst in dem Maße, wie die Kunst Mittelpunkt des öffentlichen Lebens und Ausdruck der geltenden geistigen und staatlichen Ordnung wird, es muß daher beim Drama seinen höchsten Grad erreichen. Nur so erklärt sich der ungeheure Zudrang konkurrierender Dichter zweiten und dritten Ranges zum dionysischen Wettkampf. Den heutigen Menschen setzt es immer aufs neue in Erstaunen, wenn er erfahrt, von welchem Trabantenschwarm die wenigen ihre Zeit überdauernden Großen, von deren Werken sich etwas erhalten hat, auf ihrem Wege zu Lebzeiten umringt gewesen sind. Der Staat rief diesen Wettbewerb durch seine Aufführungen und Preisverteilungen nicht eigentlich [1/343]

343

hervor sondern lenkte ihn nur in feste Bahnen, mag er ihn auch zugleich dadurch ermutigt haben. Es konnte nicht fehlen, daß durch dieses lebendige Vergleichen von Jahr zu Jahr, ganz abgesehen von der Konstanz des Handwerklichen in aller Kunst und besonders in der griechischen, sich eine ununterbrochene Kontrolle der neuen Kunstform auch nach der geistigen und sozialen Seite ergab, die zwar der künstlerischen Freiheit keinen Eintrag tat, aber das öffentliche Urteil äußerst wachsam machte gegen jede Minderung des großen Erbes und gegen jeden Verlust an Tiefe und Stärke der Wirkung, den es erlitt. Das ist das wenn auch nicht uneingeschränkte Maß von Berechtigung, das dem Vergleich dreier so verschieden gearteter und in vieler Hinsicht ganz unvergleichbarer Geister wie der drei großen athenischen Tragiker zukommt. Im einzelnen wirkt es immer wieder als ungerecht, wenn nicht geradezu töricht, Sophokles und Euripides als Nachfolger des Aischylos zu betrachten, weil ihnen damit Maßstäbe aufgezwungen werden, die von einer ihnen fremden und in ihre Zeit nicht passenden Größe genommen sind. Der beste Nachfolger ist immer, wer unbeirrt seinen Weg geht, wenn er in sich selbst die Kraft zu eigener Leistung trägt. Gerade die Griechen waren stets geneigt neben dem Ruhm des Bahnbrechers den des Vollenders gelten zu lassen, j a als den höheren anzuerkennen und die höchste Originalität nicht in der erstmaligen, sondern in der vollkommensten Gestaltung einer Kunst zu erblicken 1 . Aber indem der Künstler seine Kraft an der einmal geprägten Form, die er vorfindet, entwickelt und insofern ihr verdankt, muß er sie auch als Maßstab über sich anerkennen und sich danach beurteilen lassen, ob er durch sein Werk ihre Geltung erhält, verringert oder hebt. Da zeigt sich nun, daß diese Entwicklung nicht einfach von Aischylos zu Sophokles und von diesem zu Euripides fortläuft, sondern daß Euripides in gewisser Weise ebenso als unmittelbarer Nachfolger des Aischylos gelten kann wie Sophokles, der ihn sogar überlebt hat. Beide setzen das Werk des alten Meisters in ganz verschiedenem Geiste fort, und es ist nicht unbegründet, wenn die Forschung der letzten Generation stark betont hat, daß die 1

344

Vgl. Isokr. Paneg. 10 [II344]

Berührungsfläche zwischen Euripides und Aischylos weit größer ist ab die des Sophokles mit einem der beiden anderen. Es ist nicht ohne Recht, daß Euripides der Kritik des Aristophanes und seiner Gesinnungsgenossen als der Verderber nicht der sophokleischen Kunst sondern der Tragödie des Aischylos gilt. An sie hat er wieder angeknüpft und er hat ihre Wirkungsbreite wahrlich nicht geschmälert sondern unendlich ausgedehnt. Erreicht hat er es dadurch, daß er dem krisenhaften Geiste seiner Zeit die Türe öffnete und die moderne Problematik an die Stelle der religiösen Gewissenszweifel des Aischylos setzte. Im Vorwalten des Problematischen liegt bei aller Schärfe ihrer Gegensätze die Verwandtschaft des Euripides mit Aischylos. Von hier gesehen schien Sophokles fast aus der Entwicklung herauszufallen und beiseite zu stehen. Die leidenschaftliche Innerlichkeit und persönliche Erlebnishaftigkeit jener beiden großen Kunstgenossen schien ihm zu fehlen, und man glaubte aus seiner kunstvollen Formstrenge und abgeklärten Objektivität das bewundernde Urteil des Klassizismus, das in Sophokles den Gipfel des griechischen Dramas sah, jetzt zwar historisch erklären zu können, aber es zugleich auch als Vorurteil überwunden zu haben. So wandte sich fast gleichzeitig die Vorliebe der Wissenschaft und der moderne psychologische Zeitgeschmack, dem sie folgte, dem geistestiefen, wenn auch noch ungeschlachten Archaismus der Anfänge und dem raffinierten Subjektivismus der Spätzeit der attischen Tragödie zu, die man lange vernachlässigt hatte. Als man endlich daran ging die Stellung genauer zu bestimmen, die dem Sophokles bei so veränderter Konstellation zufiel, mußte man das Geheimnis seines Erfolges auf einem anderen Gebiete suchen und fand es in seinem reinen Künstlertum, das, aufgewachsen mit der großen Theaterentwicklung seiner Jugend, deren Gott Aischylos gewesen war, stets seines Wurfes sicher ist und die bühnengerechte Wirkung als oberstes Gesetz anerkennt 1 . Ist dieser Sophokles mehr als ein wenn auch noch so wichtiger Teil des ganzen Dichters, so wäre die Frage 1 Tycho v. Wilamowitz-MoellendorfF hat in seinem Buch Die dramatische Technik des Sophokles (Berlin 1917), das nach dieser Richtung in den letzten Jahrzehnten den stärksten Fortschritt des Verständnisses bedeutet, zugleich die Grenze sichtbar gemacht, bis zu der man auf diesem Wege gelangen kann.

[H345 ]

345

berechtigt, wie er den Platz des Vollenders verdient, den nicht erst der Klassizismus sondern das Altertum selbst ihm eingeräumt hat. Besonders aber wird seine Stellung in einer Geschichte der griechischen Bildung fragwürdig, die die Poesie grundsätzlich nicht unter bloß ästhetischem Gesichtspunkt anschaut. Ohne Zweifel steht Sophokles an Kraft der religiösen Verkündigung hinter Aischylos zurück. Auch Sophokles hat eine stille und tief verwurzelte Frömmigkeit in- sich getragen, aber seine Werke sind nicht in erster Linie fordernder Ausdruck dieses Glaubens. Die Unfrömmigkeit des Euripides — im Sinne der Tradition — tritt viel bekennerischer auf ab die unerschütterliche, aber in sich ruhende Gläubigkeit des Sophokles. Vom Problem aus ist er nicht in seiner wahren Stärke zu erfassen, so viel ist der Kritik der neueren Wissenschaft zuzugeben, obgleich er als Fortbildner der aischyleischen Tragödie auch der Erbe ihres Gedankengehalts ist. Wir müssen in der Tat von seiner Wirkung auf der Bühne ausgehen. Die ist freilich mit der Erfassung seiner klugen und überlegenen Technik noch nicht erschöpft. Daß Sophokles als Vertreter der zweiten Generation, der überall die Aufgabe der bewußten Verfeinerung und der Fingerspitzenarbeit zufallt, technisch den alten Aischylos auf der ganzen Linie schlägt, könnte fast als selbstverständlich erscheinen. Wie aber ist es zu erklären, daß der verständliche Versuch der neueren Zeit, ihren veränderten Geschmack auch in der Praxis durchzusetzen und die Stücke des Aischylos und Euripides auf der modernen Bühne heimisch zu machen, über einzelne Experimente vor mehr oder minder eingeweihtem Zuhörerkreise nicht hinausgekommen ist und daß Sophokles, gewiß nicht aus klassizistischem Vorurteil, der einzige griechische Dramatiker ist, der sich auf dem Spielplan unserer Theater dauernd behauptet? Die Tragödie des Aischylos vermag die undramatische Erstarrung der in ihr vorherrschenden Chöre, wenn sie stehend sprechen und Gesang und Tanz fehlen, auf der modernen Bühne auch durch die innere Wucht der Gedanken und der Sprache nicht zu überwinden, die euripideische Dialektik aber weckt zwar in erschütterten Zeiten wie der unsrigen ein verwandtes Echo, doch was ist wandelbarer als die aktuelle Problematik der bürgerlichen Gesellschaft — wir brauchen 346

[I/346J

nur daran zu denken, wie weit Ibsen oder Zola, die im übrigen durchaus nicht mit Euripides zu vergleichen sind, heute hinter uns liegen, um zu begreifen, daß, was die Stärke der Wirkung des Euripides in seiner Zeit war, für uns eher eine unüberwindliche Schranke bleibt. Was an Sophokles auf den heutigen Menschen den gleichen unauslöschlichen Eindruck macht, der seine Unvergänglichkeit in der Weltliteratur bedingt, sind seine Gestalten. Fragt man, welche von den Geschöpfen der tragischen Dichter der Griechen unabhängig von der Bühne und unabhängig vom Zusammenhang des Dramas, in dem sie stehen, in der Phantasie der Menschen leben, so steht Sophokles weitaus an erster Stelle. Dieses losgelöste Weiterleben der Gestalt als solcher ist der Augenblickswirkung der bloßen schön gestellten Bühnenhandlung und -Haltung, die man Sophokles nachgesagt hat, niemals erreichbar. Vielleicht ist nichts unserer Zeit schwerer zu verstehen als das Rätsel der gelassen schlichten, natürlichen Weisheit, die diese wirklichen Menschen von Fleisch und Blut, erfüllt von gewaltigen Leidenschaften und zartester Empfindung, von heldisch trotziger Größe und zugleich wahrer Menschlichkeit, als unseresgleichen und doch umhaucht vom Adel unnahbarer Hoheit hingestellt hat. Nichts ist an ihnen erklügelt oder künstlich übersteigert. Spätere Zeiten haben die Monumentalität vergebens im Gewaltsamen, Kolossalen, Effektvollen gesucht. Hier bei Sophokles wächst sie in den natürlichen Proportionen zwanglos vor uns auf. Echte Monumentalität ist immer einfach und selbstverständlich. Ihr Geheimnis besteht darin, daß sie alles Unwesentliche und Zufällige von der Erscheinung abstreift, so daß nichts als deren dem gewöhnlichen Auge verhülltes inneres Gesetz in vollkommener Klarheit von ihr ausstrahlt. Die Menschen des Sophokles kennen nicht die erdhafte, wie aus dem Boden gewachsene Gedrungenheit aisehyleischer Gestalten, die neben ihnen leicht unbeweglich, j a starr erscheinen, noch mangelt ihrer Bewegtheit je das Gewicht wie so manchen euripideischen Bühnenfiguren, bei denen wir ungern von 'Gestalt' sprechen, weil sie sich nicht über die theaterhafte Zweidimensionalität von Kostüm und Deklamation zu wirklich körperlichem Dasein verdichten. Zwischen Vorgänger [1/347]

347

und Nachfolger steht Sophokles als der geborene Gestaltenschöpfer, der sich wie mühelos mit der Schar seiner Gebilde umgibt oder richtiger, den sie umgeben. Denn nichts ist der wahren Gestalt so fremd wie die Willkür einer launenhaften Phantasie. Alle sind aus einer Notwendigkeit geboren, die weder die leere Allgemeingültigkeit des Typus noch die einmalige Bestimmtheit des individuellen Charakters ist, sondern die Wesenhaftigkeit selbst, die dem Wesenlosen entgegengesetzt ist. Man hat oft die Parallele zwischen Dichtung und bildender Kunst gezogen und jeden der drei Tragiker mit einer anderen Entwicklungsstufe der plastischen Form in Verbindung gebracht. Alle diese Vergleiche haben leicht etwas Spielerisches, um so mehr je pedantischer man sie durchführt. Wir selbst haben die Stellung der Gottheit in der Mitte der olympischen Giebelskulpturen symbolisch mit der zentralen Stellung des Zeus oder des Schicksals in der archaischen Tragödie verglichen, doch dieser Vergleich war ein rein ideeller, er bezog sich nicht auf die plastische Qualität der Gestalten des Dichters. Wenn wir dagegen Sophokles den Plastiker der Tragödie nennen, ist eben diese Qualität gemeint, die er mit keinem anderen teilt, was einen durchgeführten Vergleich der Tragiker mit dem Wandel der plastischen Form von vornherein ausschließt. Wie die dichterische beruht die bildnerische Gestalt auf der Erkenntnis letzter Gesetze, womit dann freilich jede Parallele ihr Ende hat; denn die spezifischen Gesetze des seelischen Seins sind der raumgebundenen Struktur der tast- und sichtbaren Körperlichkeit nicht vergleichbar. Doch wenn die bildende Kunst dieser Zeit als höchstes Ziel den Ausdruck eines seelischen Ethos in ihrer Darstellung des Menschen sucht, scheint verklärend auf ihre Werke ein Schimmer aus jener inneren Welt zu fallen, die die Dichtung des Sophokles zum erstenmal erschlossen hat. Am ergreifendsten findet man den Abglanz dieser Menschlichkeit auf den gleichzeitigen Denkmälern attischer Gräber. Mögen sie auch als Werke einer Kunst zweiten Ranges hinter der Ausdrucks- und Wesensfülle des sophokleischen Dichtwerks zurückbleiben, so läßt doch die Sammlung des Künstlers vor demselben inneren menschlichen Sein, die aus der Stille dieser Werke 348

11/348)

leuchtet, uns erkennen, daß Dichtung und Kunst von der gleichen Gesinnung beseelt sind. Sie richtet ihr Bild des ewig Menschlichen furchtlos und heiter auf gegenüber Leid und Tod und bekennt damit ihre eigentliche und wahre religiöse Gewißheit. Als bleibendes Denkmal des attischen Geistes in seiner Reife stellt die Tragödie des Sophokles sich neben die bildende Kunst des Pheidias, beide zusammen repräsentieren die Kunst des perikleischen Zeitalters. Blickt man von hier zurück, so erscheint die ganze frühere Entwicklung der Tragödie auf dieses Ziel hingewandt. Auch von dem Verhältnis des Aischylos zu Sophokles kann man dies sagen, nicht aber von dem des Sophokles zu Euripides oder gar zu den Epigonen der tragischen Poesie, die es noch im 4. Jhrh. gibt. Sie alle sind ein Ausklang, und was in Euripides groß und zukunftsvoll ist, weist über die Poesie bereits hinaus in ein philosophisches neues Reich. So kann man Sophokles als klassisch bezeichnen im Sinne des Höhepunkts der geschichtlichen Entwicklung der Tragödie, die in ihm „ihre Natur" erreicht, wie Aristoteles sagen würde. Aber er ist klassisch noch in einem anderen und einmaligen Sinne, der dieser Bezeichnung eine höhere Würde gibt als die des bloßen Vollenders einer literarischen Gattung. Das ist seine Stellung innerhalb der Geistesbewegung des Griechentums, als deren Ausdruck wir hier die Literatur vor allem betrachten. Als der fortschreitende Objektivationsprozeß der Formung des Menschen betrachtet, gipfelt die Entwicklung der griechischen Dichtung in Sophokles. Erst von hier aus ist das, was wir über die tragischen Gestalten des Sophokles sagten, ganz zu verstehen und weiter zu vertiefen. Ihre Vorzüge entspringen nicht dem Bereich des bloß Formalen sondern wurzeln in einer tieferen Schicht des Menschlichen, in der sich Ästhetisches, Ethisches, Religiöses durchdringt und wechselseitig bedingt. Diese Erscheinung ist in der griechischen Kunst zwar keineswegs vereinzelt, wie unser Weg durch die ältere Poesie gelehrt hat. Aber Form und Norm sind in der Tragödie des Sophokles auf besondere Weise miteinander eins, sie sind es vorzüglich in seinen Gestalten, von welchen schon der Dichter selbst kurz und treffend gesagt hat, es seien Idealgestalten, nicht Menschen der gemeinen

[11349]

349

Wirklichkeit, wie Euripides sie darstelle 1 . Der Menschenbildner Sophokles gehört der Geschichte der Bildung des Menschen wie kein zweiter griechischer Dichter und in einem ganz neuen Sinne an, in seiner Kunst offenbart sich zum erstenmal das erwachte Bewußtsein menschlicher Bildung. Das ist etwas von erzieherischer Wirkung im Sinne Homers wie von erzieherischem Willen im Sinne des Aischylos ganz Verschiedenes. Es setzt das Vorhandensein einer menschlichen Gesellschaft voraus, für die 'Bildung', menschliches Geformtsein rein an sich, ein höchstes Ideal geworden ist, das aber ist erst möglich, wo nach dem Durchgang eines Geschlechts durch schwere innere Kämpfe um den Sinn des Schicksals, Kämpfe von der Tiefe des Aischylos, schließlich das Menschliche als solches in die Mitte des Seins gerückt ist. Die Kunst der sophokleischen Gestaltenschöpfung ist bewußt von dem Ideal einer menschlichen Haltung inspiriert, das das eigentümliche Erzeugnis der Kultur und Gesellschaft der Zeit des Perikles ist. Indem Sophokles diese neue Haltung in der Tiefe ihres Wesens erfaßte, wie er selbst es in sich getragen haben muß, hat er die Tragödie humanisiert und zum unvergänglichen Muster menschlicher Bildung in dem unnachahmlichen Geiste ihrer Schöpfer gemacht. Man könnte sie fast eine Bildungskunst nennen, wie es — freilich unter weit künstlicheren Zeitbedingungen — als vereinzelte Station Goetheschen Ringens um die Form in Leben und Kunst der 'Tasso' ist, wenn nicht unser Wort Bildimg durch allerlei Assoziationen eine Gefahr der Verflauung in sich schlösse, von der wir uns niemals ganz frei zu machen vermögen. Man muß kurant gewordene Gegensätze der Literaturwissenschaft wie 'Bildungserlebnis' und 'Urerlebnis' ganz fern halten, um zu ermessen was Bildung im originalen griechischen Sinne, d. h. als die Urschöpfung und das Urerlebnis der bewußten Menschenformung ist, um ihre die Phantasie eines großen Dichters beflügelnde Macht zu verstehen. Die schöpferische Begegnung von Poesie und Bildung in diesem Sinne ist eine einmalige weltgeschichtliche Konstellation. Die in den Perserkriegen schwer errungene Einheit von 1

350

Arist. Poet. 25, i46o b 34 11/350]

Volk und Staat, über der sich der geistige Kosmos der aischyleischen Tragödie wölbt, hat in Athen, wie wir früher ausgeführt haben, den Grund zu einer die Gegensätze von Adelskultur und Volksleben überbrückenden bodenständigen neuen Bildung gelegt. In dem Leben des Sophokles scheint die Eudämonie der Generation, die auf dieser Grundlage Staat und Kultur der perikleischen Zeit aufgebaut hat, in einzigartiger Weise versinnbildlicht. Die Tatsachen sind zwar allbekannt, aber sie sind bedeutsamer als was gewissenhafte Forschung an persönlichen Einzelheiten seines äußeren Lebensganges sonst ermitteln kann. Es ist wohl nur eine Legende, daß Sophokles als schöner Jüngling im Siegesreigen von Salamis tanzte, wo Aischylos mitgekämpft hatte, aber es sagt viel, daß das Leben des Jüngeren erst in dem Augenblick eigentlich begann, wo der Sturm vorüber war. Sophokles steht auf dem schmalen steilen Grat der nur zu schnell überschrittenen Mittagshöhe des attischen Volkes. Sein Werk ist umspielt von der wolkenlosen Heiterkeit und Windstille, ευδία und γαλήνη, des unvergleichlichen Welttages, dessen Morgen mit dem Siege von Salamis anbricht. Er schloß seine Augen, kurz bevor Aristophanes den Schatten des großen Aischylos beschwor, um seine Stadt vor dem Untergang zu schirmen. Den Fall Athens hat er nicht mehr erlebt. Er schied nach dem letzten noch einmal große Hoffnungen erweckenden Sieg Athens in der Arginusenschlacht, und nun lebt er drunten — so stellt Aristophanes kurz nach seinem Tode ihn dar •— in ebenso ausgeglichener Harmonie mit sich und der Welt, wie er auf Erden gelebt hat. Es ist schwer zu sagen, wie viel von dieser Eudämonie er der Gunst seiner vom Schicksal bevorzugten Zeit verdankt, wie viel daneben der eigenen glücklichen Natur, und was an ihr das Werk bewußter Kunst und jener stillen geheimnisvollen Weisheit ist, der gegenüber bisweilen genialisches Gebaren seine Hilf- und Verständnislosigkeit durch die verlegene Geste der Geringschätzung auszudrücken liebt. Wahre Bildung ist immer nur das Werk dieser drei vereinigten Kräfte, im tiefsten Grunde ist und bleib* sie ein Rätsel. Es ist das Wunderbare an ihr, daß man sie nicht erklären, geschweige denn machen, sondern daß man nur zeigen kann: hier ist sie. [1/351]

351

Wenn wir vom Athen des Perikles nichts anderes wtißten, würden wir aus dem Leben und der Gestalt des Sophokles schließen, daß in seiner Zeit bewußte Bildung zum Menschen zum erstenmal entsprungen sei. Man rühmt die Art seines Umgangs, für diese Form schuf jene Zeit das neue Wort „urban", άστεϊος. Zwei Jahrzehnte später ist es in voller Geltung bei allen attischen Prosaschriftstellern, bei Xenophon, den Rednern und Plato, und der damit bezeichnete Typus des zwanglos freien, verbindlichen Verkehrs mit anderen Menschen und auserlesenen persönlichen Benehmens wird von Aristoteles analysiert und beschrieben. Das hat die attische Gesellschaft der Zeit des Perikles zur Voraussetzung. Es gibt keine schönere Illustration für die Charis dieser feinen attischen Bildung, die dem schulmeisterlichen Sinne dieses Wortes so sehr entgegengesetzt ist, als die witzige Erzählung eines dichterischen Zeitgenossen, des Ion von Chios von jener wahren Begebenheit aus dem Leben des Sophokles, wo er als Mitstratege des Perikles der hohe Gast einer ionischen Kleinstadt ist. Er hat beim Festmahl den Literaturlehrer des Orts zum Nachbarn, der ihn im Vollgefühl seiner Kenntnis mit der pedantischen Kritik des schönen alten Dichterzitates quält: „Es leuchtet auf Purpurwangen das Licht der Liebe", an dessen poetischer Farbengebung er Anstoß nimmt. Wie da die weltmännische Überlegenheit und menschliche Anmut des Dichters sich aus der Klemme zu ziehen weiß, indem er den phantasiearmen Realisten zur allgemeinen Erheiterung seiner völligen Verständnislosigkeit für den an sich so schönen Beruf der Dichtererklärung überführt und zum handgreiflichen Beweis dafür, daß er selbst seinen unfreiwilligen Feldherrnberuf denn doch immer noch besser verstehe, sein listiges „Strategem" gegen den reizenden Knaben ausführt, der ihm gerade den mit Wein gefüllten Becher reicht, ist ein unvergeßlicher Zug im Bilde des Menschen Sophokles wie der attischen Gesellschaft seiner Zeit, der hier nicht fehlen darf. Wir stellen neben das Dichterporträt dieser wahren Anekdote, das in Geist und Haltung zu der lateranischen Sophoklesstatue paßt, das Periklesporträt des Bildhauers Kresilas. Es gibt nicht den großen Staatsmann und trotz des Helms 1

352

Athen. XIII 603 e

[1/352]

auch nicht nur den Feldherrn wieder. Wie Aischylos iiir die Nachwelt stets der Marathonkämpfer und treue Bürger seiner Stadt ist, so verkörpern Kunst und Anekdote in Sophokles und Perikles den Inbegriff des höchsten Adels attischer Kalokagathie, wie es dem Geiste ihrer Zeit entspricht. In dieser Form lebt ein empfindliches helles Bewußtsein von dem, was in jedem Falle menschlich richtig und angemessen ist, das sich in höchster Beherrschung des Ausdrucks und in vollendetem M a ß als eine neue innere Freiheit zu erkennen gibt. Es gibt in ihr nichts Geschraubtes und Krampfhaftes, ihre Leichtigkeit ist von allen anerkannt und bewundert, doch keiner vermag sie nachzuahmen, wie Isokrates einige Jahre später sie beschreibt. Es gibt sie nur in Athen. Das noch Überstiegene der aischyleischen Ausdrucks- und Empfindungskraft weicht einer natürlichen Abgewogenheit und Proportion, die wir ebenso in der bildenden Kunst des Parthenonfrieses wie in der Sprache der sophokleischen Menschen als ein Wunder fühlen und genießen. Es ist nicht definierbar, was dieses offene Geheimnis eigentlich ist, aber keinesfalls ist es etwas rein Formales. Es wäre j a auch überaus seltsam, daß dieselbe Erscheinung sich zugleich in der Plastik und in der Poesie zeigt, es muß ihr etwas Überpersönliches, den charakteristischen Vertretern der Zeit Gemeinsames zugrunde liegen. Es ist die Ausstrahlung eines endlich beruhigten, endlich mit sich selbst einig gewordenen Seins, wie es schön jener Vers des Aristophanes ausdrückt: ein Sein, dem auch der T o d nichts anhaben kann, kraft dessen er „ d o r t " derselbe bleiben muß wie „hier", εύκολος 1 . Man kann diese Dinge nicht ärger trivialisieren, als wenn man sie rein ästhetisch als bloße schöne Linie oder rein psychologisch als bloße harmonische Natur deutet und so die Symptome mit dem Wesen verwechselt. Es ist nicht nur im Zufall des persönlichen Temperaments begründet* daß Sophokles der Meister der mittleren Töne ist, welche dem Aischylos nicht gelingen. Nirgendwo ist die Form als solche so unmittelbar der adäquate Ausdruck, j a die Offenbarung des Seins und seiner "metaphysischen Sinnhaftigkeit. A u f die Frage nach

1

Aristoph. Frösche 82

[1/353]

353

dem Wesen und Sinn dieses Seins antwortet Sophokles nicht wie Aischylos mit einer Weltanschauung, einer Theodizee, sondern mit der Form seiner Rede selbst, mit der Gestalt seiner Menschen. Wer niemals aus dem Chaos und der Unruhe des Lebens im Augenblick, wo alle feste Form sich auflöst, die Hand nach diesem Führer ausgestreckt hat, um durch die Wirkung einiger sophokleischer Verse sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, der wird das freilich kaum verstehen. Was sie in Klang und Rhythmus empfinden lassen, das Maß, ist für Sophokles das Prinzip des Seins, es bedeutet die fromme Anerkennung einer in den Dingen selbst liegenden Gerechtigkeit, die zu achten das Zeichen der letzten Reife ist. Nicht umsonst spricht der Chor der sophokleischen Tragödie immer wieder von dem Unmaß als der Wurzel alles Übels. In der religiösen Gebundenheit an diese Erkenntnis des Maßes hat die prästabilierte Harmonie der bildenden und dichtenden Kunst des Sophokles und Pheidias ihren tiefsten Grund. Uns dünkt dieses Bewußtsein, von dem die ganze Zeit erfüllt ist, ein so selbstverständlicher Ausdruck der zutiefst in allem griechischen Wesen angelegten, im Metaphysischen begründeten Sophrosyne, daß auf die Verherrlichung des Maßes durch Sophokles von allen Seiten der griechischen Welt ein vielstimmiges Echo zu antwbrten scheint. Neu ist in der Tat der Gedanke keineswegs, aber für die geschichtliche Wirkung und absolute Bedeutung eines Gedankens ist niemals seine Neuheit entscheidend sondern einzig die Tiefe und Mächtigkeit, mit der er ergriffen und gelebt wird. Die Entwicklung der griechischen Idee des Maßes als eines höchsten Wertes ist von Sophokles aus wie von einem Gipfel zu überschauen. Sie bewegt sich auf ihn zu und findet durch ihn ihre klassische dichterische Formung als göttliche Macht, die Welt und Leben beherrscht. Der enge Zusammenhang von menschlicher Bildung und Maß in dem Bewußtsein der Zeit läßt sich noch von einer anderen Seite her erweisen. Im allgemeinen sind wir zwar darauf angewiesen, das Wesen der künstlerischen Gesinnung der griechischen Klassik aus ihren Werken selbst zu entnehmen, und sie bleiben in jedem Fall unsere vornehmsten Zeugen. Aber sowie es an ein Erfassen der letzten und am schwersten faß354

[1/354]

baren Gestaltungstendenzen so reicher und vieldeutiger Schöpfungen des menschlichen Geistes geht, ist es ein gerechtfertigtes Verlangen, sich der richtigen Richtung unseres Weges durch zeitgenössische Zeugnisse zu versichern. Von Sophokles selbst werden zwei Aussprüche überliefert, die freilich ihre historische Gewähr letzten Endes auch wieder nur durch ihre Ubereinstimmung mit unserem eigenen intuitiven Eindruck seiner Kunst empfangen. Der eine ist der schon vorhin zitierte, der die Personen des Sophokles im Gegensatz zu dem Realismus des Euripides als Idealgestalten charakterisiert. In einem anderen Wort grenzt der Künstler sein eigenes dichterisches Schaffen von dem des Aischylos ab, indem er diesem die- Bewußtheit im Treffen des Richtigen abspricht, die ihm für sich selbst wesentlich scheint l . Nimmt man beide Aussprüche zusammen, so setzen sie ein besonderes Bewußtsein der Normen voraus, nach denen der Dichter gestaltet und die Menschen so darstellt „wie sie sein sollen". Gerade ein solches Bewußtsein der idealen Norm des Menschen ist nun aber der Zeit der beginnenden Sophistik eigentümlich. Die Frage der Arete des Menschen wird von der Seite des Erziehungsproblems her mit ungeheurer Intensität aufgenommen. Der Mensch „wie er sein soll" ist das große Thema der Zeit und das Ziel aller Bestrebungen der Sophisten. Bis dahin hatte allein die Dichtung die menschlichen Lebenswerte begründet. Sie konnte von dem neuen erzieherischen Wollen nicht unberührt bleiben. Hatten Aischylos oder Solon der Poesie die mächtige Wirkung dadurch gegeben, daß sie sie zum Schauplatz ihres inneren Kampfes mit Gott und Schicksal machten, so wendet sich Sophokles, dem Bildnertriebe seiner Zeit folgend, dem Menschen selbst zu und verlegt das Normhafte in die Darstellung der menschlichen Gestalt. Gewisse Anfänge dieser Entwicklung finden wir schon bei dem späten Aischylos, wenn er, um die Tragik zu erhöhen, dem Schicksal Gestalten wie Eteokles Prometheus Agamemnon Orest gegenüberstellt, denen ein starkes Moment der Idealität innewohnt. Hier knüpft Sophokles an, er bildet seine Hauptfiguren als Träger höchster Arete, wie sie den großen Erziehern seiner Zeit vorschwebte. Wo die Priorität liegt, bei der Poesie oder 1

Athen. I a2 a—b

[1135η

355

bei dem Bildungsideal, läßt sich nicht entscheiden, es ist aber für eine Poesie wie die des Sophokles überhaupt belanglos. Das Entscheidende ist, daß Poesie und Menschenbildnertum sich bewußt demselben Ziele zuwenden. Die Menschen des Sophokles sind aus einem Schönheitsempfinden geboren, dessen Quelle eine bis dahin unerhörte Durchseelung der Gestalt ist. In ihr kommt das neue Ideal der Arete zur Erscheinung, das zum erstenmal bewußt die „Psyche" zum Ausgangspunkt aller menschlichen Bildung macht. Dieses Wort erhält im Lauf des 5. Jhrh. einen neuen Klang, eine erhöhte Bedeutung, die freilich erst bei Sokrates ihr ganzes Gewicht empfangt. Die „Seele" wird jetzt objektiv als das Zentrum des Menschen erkannt. Von ihr strahlt all sein Tun lind seine Haltung aus. Die bildende Kunst hatte längst die Gesetze des menschlichen Leibes entdeckt und sie zum Gegenstand des eifrigsten Studiums gemacht. Sie hatte in der „Harmonie" des Leibes das Prinzip des Kosmos wiedergefunden, dessen das philosophische Denken sich zuvor im All vergewissert hatte. Vom Kosmos aus kommt der Grieche jetzt auch zur Entdeckung des Seelischen. Es brodelt nicht erlebnishaft als chaotische Innerlichkeit hervor, sondern wird umgekehrt als der letzte noch übrige Bereich des Seins, der noch nicht mit der kosmischen Idee durchdrungen war, gesetzlicher Ordnung unterworfen. Wie der Körper hat offenbar auch die Seele ihren Rhythmus und ihre Harmonie. Es taucht jetzt der Gedanke einer s e e l i s c h e n G e f o r m t h e i t auf, den man versucht ist bei Simonides zuerst mit voller Klarheit ausgesprochen zu finden wenn er die Arete mit den Worten umschreibt „an Händen und Füßen und Geist rechtwinklig ohne Fehl gebaut". Aber von diesem ersten Aufleuchten der Vorstellung eines seelischen in Form Seins, das dem körperlichen Ideal der agonalen Ausbildung analog ist, war es noch ein erheblicher Schritt bis zu der Theorie der Bildung, die Plato dem Sophisten Protagoras wohl mit geschichtlichem Recht zuschreibt 2 . In ihr ist der Formungsgedanke mit innerer Folgerichtigkeit durchgeführt, er ist aus einem poetischen Bild ein erzieherisches Prinzip 1 2

356

Sim. frg. 4, 2 Piai. Prot. 326 Β

[I/356J

geworden. Protagoras spricht dort von der Bildung der Seele zu wahrhafter Eurhythmie und Euharmostie. Die richtige Harmonie und der richtige Rhythmus soll in ihr erzeugt werden durch die Berührung mit den Werken der Poesie, in denen diese Normen Gestalt angenommen haben. Auch in dieser Theorie ist das Ideal seelischer Formung vom Leiblichen aus gesehen, aber weniger von der agonalen Arete her wie bei Simonides als von der bildenden Kunst und vom künstlerischen Formungsakt her. Aus diesem anschaulichen Bereich stammen auch die Normbegriffe der Eurhythmie und Euharmostie. Die Idee der Bildung konnte nur in dem klassischen Volk der bildenden Kunst entspringen. Auch das Gestaltideal des Sophokles kann dies Vorbild nicht verleugnen. Erziehung, Dichtung und bildende Kunst stehen in jener Zeit in engster Wechselwirkung; keine von ihnen ist denkbar ohne die anderen. Bildung und Poesie sehen in dem Drang der Plastik zur Gestaltschöpfung ihr Vorbild und sie nehmen die gleiche Richtung auf die Ιδέα des Menschen wie die Kunst; die Kunst empfängt ihrerseits durch die Bildung und die Poesie die Richtung auf das Seelische. In allem aber verrät sich eine höhere Wertung des Menschen, der für alle drei der Mittelpunkt des Interesses ist. Diese anthropozentrische Wendung des attischen Geistes ist die Geburtsstunde der „Humanität", nicht in dem sozial-gefühlsmäßigen Sinne der Menschenliebe, die der Grieche Philanthropie nennt, sondern als Besinnung auf die wahre Wesensgestalt des Menschen. Dafür ist besonders bezeichnend, daß zum erstenmal auch die Frau als vollwertige Repräsentantin des Menschlichen neben dem Manne auftritt. Die zahlreichen Frauengestalten des Sophokles, Antigone Elektra Deianeira Tekmessa lokaste, von weiblichen Nebenfiguren wie Klytaimestra Ismene Chrysothemis ganz abzusehen, lassen die Höhe und Weite des sophokleischen Menschentums im hellsten Licht erscheinen. Die Entdeckung der Frau ist die notwendige Folge der Entdeckung des Menschen als des eigentlichen Gegenstandes der Tragödie. Von hier aus verstehen wir den Wandel der tragischen Kunst von Aischylos zu Sophokles. Äußerlich fallt in die Augen, daß die Form der Trilogie, die bei dem älteren Dichter die Regel ist, von dem Nachfolger aufgegeben wird. Sie wird ab[1/357]

357

gelöst durch das Einzeldrama, in dessen Mittelpunkt der handelnde Mensch steht. Aischylos hatte die Trilogie benötigt, um die ganze epische Geschehensmasse eines zusammenhängenden Schicks alsverlaufs, der oft nur in der Verkettung der Leiden mehrerer aufeinander folgender Geschlechter darzustellen war, dramatisch zu umfassen. Sein Blick war auf den Gesamtverlauf des Schicksals gerichtet, weil nur in diesem Ganzen der gerechte Ausgleich des göttlichen Waltens sichtbar wurde, den der Glaube und das sittliche Gefühl im Schicksal des Einzelnen so oft vermißt. Damit rücken die Personen, mögen sie auch der Ausgangspunkt unserer Teilnahme an dem Geschehen sein, an eine mehr untergeordnete Stelle, und der Dichter ist gezwungen sich immer wieder gleichsam in die Rolle der die Welt lenkenden höheren Macht zu versetzen. Bei Sophokles tritt die Forderung der Theodizee zurück, die das religiöse Denken der Zeit von Solon bis Theognis und Aischylos beherrscht. Tragisch ist ihm gerade die Unumgänglichkeit und Ausweglosigkeit des Leidens. Das ist der notwendige Anblick des Schicksals, von der Seite des Menschen gesehen. Damit ist die religiöse Weltanschauung des Aischylos keineswegs aufgegeben, der Akzent liegt nur nicht mehr auf ihr. Das kann besonders deutlich das Beispiel eines frühen Werks wie der Antigone des Sophokles zeigen, wo diese Weltansicht noch stark hervortritt. Der selbstverschuldete Geschlechtsfluch des Hauses der Labdakiden, den Aischylos in der thebanischen Trilogie in seiner vernichtenden Wirkung durch mehrere Generationen verfolgt hatte, steht auch bei Sophokles als letzte Ursache im Hintergrund. Antigone fallt als sein letztes Opfer wie in den 'Sieben' des Aischylos Eteokles und Polyneikes. Sophokles läßt sogar Antigone und ihren Gegenspieler Kreon ihr Schicksal selbst herbeiführen helfen, indem sie kräftig handelnd eingreifen, und der Chor wird nicht müde von der Überschreitung des Maßes zu reden und beiden ihren eignen Anteil an ihrem Unglück vorzuhalten. Aber wenn diese Momente auch im Sinne des Aischylos das Schicksal zu rechtfertigen geeignet sind, ist doch alles Licht auf der Gestalt des tragischen Menschen gesammelt, und man hat das Gefühl, daß er ganz um seiner selbst willen 358

[11358]

da ist. Das Schicksal soll nicht als selbständiges Problem die Aufmerksamkeit auf sich hin und von ihm ablenken, es gehört irgendwie wesenhaft zur Gestalt des leidenden Menschen, ist ihm nicht nur von außen aufgenötigt. Antigone ist von Natur für ihren Leidensweg bestimmt, man kann wohl sagen auserkoren, denn ihr bewußtes Leiden wird ein eigener neuer Adel. Dieses zum Leiden auserwählt Sein, wofern man dabei nicht christlichen Vorstellungen Raum gibt, zeigt sich sogleich im ersten Gespräch des Prologs zwischen Antigone und ihrer Schwester. Ismenes mädchenhafte Zartheit bebt vor dem selbstgewählten Untergang zurück, obgleich ihre schwesterliche Liebe gewiß nicht geringer ist, wie ihre falsche Selbstbezichtigung vor Kreon und ihr verzweifelter Wunsch, mit der verurteilten Schwester in den Tod zu gehen, bald rührend beweist. Dennoch ist sie keine tragische Figur. Sie dient dazu Antigone zu heben, und wir gestehen dieser ein tieferes Recht zu, Ismenes gefühlshafte Bereitwilligkeit zum Mitleiden in diesem Augenblick zurückzuweisen. Wie schon Aischylos in den 'Sieben' die Tragik des Eteokles dadurch steigert, daß er ihn, den schuldlos in das Schicksal seines Hauses hineingerissenen, mit heldischen Zügen ausstattet, übertreffen sich in Antigone alle Vorzüge ihres edlen Geschlechts. Dieses Leiden der Hauptfigur wird durch den ersten Gesang des Chors vor einen allgemeinen Hintergrund gestellt. Der Chor stimmt einen Hymnos an auf die Größe des Menschen als Schöpfer aller Künste, der die gewaltigen Kräfte der Natur durch die Macht des Geistes bezwingt und als höchste aller Gaben die staatenbildende Kraft des Rechts empfangen hat: so hat ein Zeitgenosse des Sophokles, der Sophist Protagoras die Entstehung der menschlichen Kultur und Gesellschaft in der Theorie k o n s t r u i e r t u n d das prometheische Hochgefühl des Aufstiegs, das diesen ersten Versuch einer natürlichen Entwicklungsgeschichte des Menschen beherrscht, spüren wir auch im majestätisch wogenden Rhythmus des sophokleischen Chors. Doch mit der dem Sophokles eigentümlichen tragischen 1 Auch Protagoras s c h e i d e t in d e m M y t h o s v o n der K u l t u r e n t s t e h u n g bei Plat. Prot. 322 A a u s d r ü c k l i c h die technischen K ü n s t e v o n der höheren K u l t u r s t u f e des Staats u n d R e c h t s .

[1/359]

359

Ironie führt man in dem Augenblick, wo der Chor eben Recht und Staat verherrlicht hat und den Gesetzesübertreter streng aus aller menschlichen Gemeinschaft verbannt, Antigone gefesselt herbei. Sie hat durch die Erfüllung des ungeschriebenen Gesetzes der einfachsten Geschwisterpflicht bewußt gegen den die Staatsmacht tyrannisch übersteigernden Erlaß des Königs verstoßen, der die Bestattung ihres im Kampfe gegen sein eigenes Vaterland gefallenen Bruders Polyneikes bei Todesstrafe verbot, und im selben Moment erscheint im Geiste der Hörer das Bild des Menschen in einem anderen Licht, und jener stolze Hymnos verstummt vor der aufblitzenden tragischen Erkenntnis der Schwäche und Nichtigkeit des Menschen. Es war ein tiefer Gedanke Hegels, in der Antigone den tragischen Konflikt zweier sittlichen Prinzipien zu sehen, des staatlichen Gesetzes und des Rechtes der Familie. Aber wenn die prinzipienhafte Strenge seiner Staatsgesinnung uns den König trotz ihrer starken Überspannung näher bringt und Antigones Leidenstrotz die ewigen Gesetze der Pietät gegen die Übergriffe des Staates mit der hinreißenden Überzeugungskraft echter revolutionärer Leidenschaft verteidigt, liegt der Hauptakzent doch nicht auf diesem allgemeinen Problem, das dem Dichter der sophistischen Zeit nahe genug lag, um den Gegensatz der beiden Hauptfiguren zu idealisieren. Auch was sonst über Hybris, Maßlosigkeit und Unverstand gesagt wird, steht mehr an der Peripherie und nicht wie bei Aischylos im Mittelpunkt. Ihre Verflechtung in das tragische Leiden wirkt immer am Helden unmittelbar verständlich, und statt ihn richterlich ins Unrecht zu setzen, macht sie die Unentfliehbarkeit des Schicksals, in das die Götter den Menschen führen, gerade an edleren Naturen sichtbar. Die Irrationalität dieser „Ate", die schon Solons Gerechtigkeitssinn beunruhigt hatte und an der die ganze Zeit sich zergrübelt, ist für Sophokles die tragische Voraussetzung, nicht das tragische Problem. Während Aischylos das Problem zu lösen versucht hatte, nimmt Sophokles die Ate als gegeben hin. Aber seine Stellung zu der Tatsache des unentfliehbaren gottgesandten Leidens, das die ältere griechische Lyrik seit ihren ersten Anfängen beklagt hatte, ist darum doch nicht die der bloßen Passivität, und am allerwenigsten 360

[1/360]

gilt für ihn das resignierte Wort des Simonides, daß der Mensch seine Arete notwendig einbüßen müsse, wenn auswegloses Mißgeschick ihn niederwirft 1 . Die Steigerung seiner großen Leidenden ins menschlich Hohe ist sein J a zu dieser Wirklichkeit, deren Sphinxrätsel kein sterblicher Geist löst. Im Leiden, j a selbst in der völligen Vernichtung seines irdischfen Glückes oder seiner gesellschaftlichen und physischen Existenz erhebt sich der tragische Mensch bei Sophokles erst zur wahrhaften Menschengröße. Der sophokleische Mensch wird in seinem Leiden das wunderbar fein abgestimmte Instrument, auf dem des Dichters Hand alle Töne des tragischen Ailinos anschlagen kann. Um es zum Klingen zu bringen, setzt er alle Mittel seiner dramatischen Phantasie in Bewegung. Wir empfinden die Tragödie des Sophokles gegenüber der des Aischylos als eine ungeheure Erhöhung der dramatischen Wirkung. Allein dies hat seinen Grund nicht darin, daß Sophokles das Geschehen um seiner selbst willen im realen Sinne shakespearescher Dramatik an Stelle des altehrwürdigen Chortanzes setzt. Die auch dem rohesten Naturalismus imponierende Wucht, mit der die Handlung des Oedipus abrollt, könnte ein solches Mißverständnis erwecken, und vielleicht verdankt er diesem Mißverständnis zum guten Teil seine immer neue Inszenierung auf der modernen Bühne, aber niemals wird von diesem Standpunkt aus die wunderbar abgewogene Architektonik sophokleischer Szenenführung verständlich. Sie entspringt nicht der äußeren Folgerichtigkeit des materiellen Geschehens, sondern einer höheren künstlerischen Logik, die in kontrastreich sich steigernder Auftrittsfolge den Blick in das innere Wesen der Hauptgestalt nach allen Seiten öffnet. Das klassische Beispiel dafür ist Elektra. Die Erfindungskraft des Dichters schafft durch kühne Kunstgriffe immer neue Retardationen und Zwischenfalle, um Elektra die ganze Skala innerer Übergänge des Gefühls bis zur vollendeten Verzweiflung durchleben zu lassen, aber er hält auch beim heftigsten Ausschwingen des Pendels das Ganze vollkommen im Gleichgewicht. Den Gipfel erreicht diese Kunst in der Szene 1

Sim. frg. 4, 8—io

[U361J

361

der Wiedererkennung Elektras und Orests, wo durch das Mittel der absichtlichen Verstellung des heimgekehrten Retters, die erst allmählich ihre Hülle fallen läßt, Elektras Schmerz alle Stufen zwischen Himmel und Hölle durchläuft. Die Dramatik des Sophokles ist die der seelischen Bewegung, die in der harmonischen Linienführung der Handlung ihren inneren Rhythmus entfaltet. Sie hat ihre Quelle in der menschlichen Gestalt, zu der sie als zu einem Letzten und Höchsten immer wieder hinführt. Alle dramatische Handlung ist für Sophokles nur Wesensentfaltung des leidenden Menschen, der sein Schicksal und damit sich selbst erfüllt. Auch für diesen Dichter ist die Tragödie ein Organ höchster Erkenntnis, aber sie ist nicht das φρονεϊν, in dem Aischylos die Ruhe des Herzens fand. Sie ist die tragische Selbsterkenntnis des Menschen, die das delphische γνώθι σεαυτόν bis zur Einsicht in die schattengleiche Nichtigkeit der menschlichen Kraft und des irdischen Glückes vertieft. Aber diese Selbsterkenntnis umfaßt auch das Wissen von der unzerstörbaren, überwindenden Größe des leidenden Menschen. Das Leiden der sophokleischen Gestalten ist ein wesentlicher Teil ihres Seins. Niemals hat der Dichter die Verschmelzung von Mensch und Schicksal zur unauflöslichen Einheit ergreifender und geheimnisvoller dargestellt als in der größten seiner Gestalten, zu der seine Liebe ihn im hohen Alter noch einmal zurückkehren ließ. Als aus der Heimat verstoßener blinder Greis irrt Oedipus bettelnd in der Welt umher an der Hand seiner Tochter Antigone, auch einer Lieblingsgestalt, die den Dichter niemals verließ. Nichts ist so bezeichnend für das Wesen der sophokleischen Tragik wie das Mitleben des Dichters mit seinen eigenen Gestalten. Der Gedanke hat ihn nicht losgelassen, was aus Oedipus wird. Gerade er, über den die Last des Leidens der ganzen Welt hereingebrochen zu sein schien, war von Anbeginn eine Gestalt von fast symbolischer Kraft: er wird der leidende Mensch schlechthin. Einst auf der Höhe seines Lebens hatte Sophokles sein stolzes Genügen darin gefunden, Oedipus hinzustellen mitten in den Orkan der Vernichtung. Er hatte ihn vor dem Auge des Zuschauers stehen lassen in dem Augenblick, wo er sich selbst verflucht und verzweifelnd wünscht sein 362

/I/362J

ganzes Dasein auszulöschen, wie er das Licht seiner Sehkraft mit eigener Hand ausgelöscht hat. Wo die tragische Gestalt als solche vollendet ist, schneidet der Dichter scharf den Faden ab, nicht anders als in der Elektra. U m so bedeutsamer ist es, daß Sophokles kurz vor seinem Tode den Oedipusstoff noch einmal aufgenommen hat. Freilich würde man enttäuscht, wollte man ein Zuendeführen des Problems von diesem zweiten Oedipus erwarten. Wer die leidenschaftliche Selbstverteidigung des greisen Oedipus so deuten wollte, in der er immer wieder ausspricht, daß er unwissend seine Taten begangen habe, würde Sophokles euripideisch mißverstehen. Weder das Schicksal noch Oedipus wird freigesprochen oder angeklagt. Und doch scheint der Dichter hier das Leid von einem höheren Punkte aus zu sehen. Es ist ein letztes Wiedersehen mit dem alten ruhelosen Wanderer, kurz bevor er das Ziel erreicht hat. Seine edle Natur ist in ihrer immer noch ungestümen Kraft trotz Unglück und Alter ungebrochen. Ihr Bewußtsein hilft ihm sein Leiden tragen, diesen langjährigen unzertrennlichen Weggenossen, der ihm bis zur letzten Stunde treu bleibt. Sentimentaler Rührung gibt dieses herbe Bild keinen Raum. Doch das Leiden macht Oedipus ehrwürdig. Der Chor fühlt seinen Schauder, doch noch mehr seine Hoheit, und der König von Athen empfängt den blinden Bettler ehrenvoll wie einen erlauchten Gast. Er soll nach einem Götterspruch im attischen Boden die letzte Ruhe finden. Der Tod des Oedipus selbst ist in Geheimnis gehüllt. Er geht allein ohne Führer in den Hain, und niemand sieht ihn mehr. Unbegreiflich wie die Wege des Leidens, die die Gottheit Oedipus führt, ist das Wunder der Erlösung, das ihn am Ziel erwartet. „Die Götter, die dich schlugen, richten nun dich auf." Keines Sterblichen Auge darf dieses Mysterium schauen. Es wird nur dem durch das Leiden Geweihten zuteil. Die Weihe des Leidens bringt ihn dem Göttlichen nahe, man kann nicht sagen wie, und sie trennt ihn von den übrigen Menschen. Nun ruht er auf dem Hügel Kolonos in der geliebten Heimat des Dichters im immergrünen Hain der Eumeniden, wo im Gebüsch die Nachtigall flötet. Keines Menschen Fuß betritt die Stätte, aber von ihr geht ein Segen aus über das attische Land. [1/363/

363

DIE SOPHISTEN Die Sophisten als bildungsgeschichtliches Phänomen In die Zeit des Sophokles fällt der erste Aufichwung einer für die Folgezeit unschätzbar wichtigen geistigen Entwicklung, die im vorigen bereits berührt werden mußte, der Ursprung der im engeren Sinne sogenannten Bildung, der „Paideia". Erst in dieser Zeit hat das Wort, das im 4.Jhrh. und während des Hellenismus und der Kaiserzeit seine Geltung und seinen Begriñsumfang immer weiter ausdehnte, die Beziehung auf die höchste menschliche Arete erhalten und wurde aus „Kinderzucht" — diesen einfachen Sinn hat es noch bei Aischylos, wo es sich zuerst findet1 — zum Inbegriff des idealen körperlichen und seelischen Geformtseins der Kalokagathie, die jetzt zum erstenmal bewußt auch eine eigentliche Geistesbildung einschließt. Für Isokrates, Plato und ihre Zeit steht diese umfassende neue Bedeutung der Bildungsidee schon fest. Freilich hatte die Arete von Anfang an mit der Frage der Erziehung eng zusammengehangen. Mit der geschichtlichen Entfaltung, die das Ideal der menschlichen Arete im Wandel der Entwicklung des sozialen Ganzen durchmachte, mußte auch der Weg zu ihm sich ändern, und überhaupt mußte das Denken nachdrücklich auf die Frage gelenkt werden, welcher Weg der Erziehung dazu einzuschlagen sei. Die grundsätzliche Klarheit dieser Fragestellung, ohne die die Entstehung der einzigartigen griechischen Idee der Menschenbildung undenkbar wäre, hat die ganze stufenreiche geschichtliche Entwicklung zur Voraussetzung, die wir von der ältesten adligen Areteauffassung bis zu dem politischen Ideal des Rechtsstaats-Menschen 1

364

Aesch. Sept. 18

[1/364]

verfolgt haben. Die Form der Begründung und Übermittlung der Arete mußte für die Adelszucht eine andere sein ids für den hesiodischen Bauer oder für den Bürger der Polis, so weit es für den letzteren überhaupt etwas derartiges gab. Denn wenn wir von Sparta absehen, wo sich seit den Tagen des Tyrtaios eine eigenartige Erziehung der Bürger, die Agogë, ausgebildet hatte, die in Griechenland nirgendwo ihresgleichen fand, so geschah an anderen Orten von Staats wegen nichts, was der alten Adelserziehung, wie die Odyssee oder Theognis und Pindar sie zeigen, ähnlich sah oder sie ersetzen konnte, und die private Initiative kam erst ganz allmählich nach. Es war ein großer Nachteil der neuen bürgerlich-städtischen Gesellschaft gegenüber der aristokratischen, daß mit den neuen Idealen des Menschen und des Bürgers noch keine bewußte Erziehung zu diesem Ziel gegeben war, so weit man auch im Prinzip über die adlige Ansicht hinaus zu sein glaubte. Die technische Berufsausbildung, die der Vater dem Sohn vererbte, wenn dieser ihm in seinem Handwerk oder Gewerbe folgte, konnte niemals die körperlich-geistige Gesamtbildung ersetzen, die der adlige καλός κάγαθός besaß und die auf einer idealen Gesamtanschauung des Menschen beruhte. Die Forderung einer neuen Erziehung, die den Polismenschen zum Ziel nahm, muß schon früh erhoben worden sein. Auch hier mußte der neue Staat die Nachfolge antreten. Er mußte auf den Spuren der alten Adelszucht, die an ihrem aristokratischen Rassestandpunkt zäh festhielt, die neue Arete zu verwirklichen suchen, die etwa im athenischen Staate jeden freigeborenen Bürger von athenischer Abstammung zum bewußten Gliede der staatlichen Gemeinschaft machte und ihn befähigte, dem Wohl des Ganzen zu dienen. Es war bloß ein erweiterter Begriff der Blutsgemeinschaft, der der Stammeszugehörigkeit, an die Stelle des alten adligen Geschlechterstaats getreten. Eine andere Grundlage als diese kam nicht in Frage. So kräftig auch das Individuum in jener Zeit bereits sich regt, so undenkbar wäre es gewesen, seine Erziehung auf etwas anderes als auf die Gemeinschaft des Stammes und Staates zu gründen. Für dieses oberste Axiom aller Bildung des Menschen ist die Entstehung der griechischen Paideia das Musterbeispiel. Das gegebene Ziel war [H365J

365

die Überwindung des altadligen Erziehungsprivilegiums, das die Arete nur denen zugänglich glaubte, denen sie im götterhaften Blute liegt. Das konnte einem folgerichtig rationalen Denken, wie es sich in jener Zeit immer mehr durchsetzte, nicht schwer fallen. Es schien nur einen Weg zu geben, der zu diesem Ziel führte, das war die bewußte Formung des Geistes, an deren unbegrenzte Kraft die neue Zeit zu glauben geneigt war. Pindars hochgemuter Spott über die 'Gelernten' störte sie wenig. Die politische Arete konnte und durfte vom adligen Blut nicht abhängig sein, wenn nicht die Hineinziehung der Massen in den Staat, die doch unaufhaltsam schien, ein Irrweg sein sollte. Und wenn der moderne Polisstaat die körperliche Arete des Adels durch Übernahme der Gymnastik sich zu eigen gemacht hatte, weshalb sollte es nicht ebenso möglich sein die ererbten Führereigenschaften dieser Schicht, die nicht zu leugnen waren, auf geistigem Wege durch bewußte Erziehung zu erzeugen? So wird der Staat des 5 . J h r h . mit geschichtlicher Notwendigkeit zum Ausgangspunkt der großen Erziehungsbewegung, die diesem und dem folgenden Jahrhundert überwiegend das Gepräge gibt, und in der der abendländische Kulturgedanke seinen Ursprung hat. E r ist, wie die Griechen ihn verstanden, durch und durch erzieherisch-politisch. Aus dem tiefsten Lebensbedürfnis des Staates ist die Erziehungsidee entstanden, die das Wissen, die gewaltige neue Geistesmacht jener Zeit, als menschenformende Kraft erkennt und in den Dienst dieser Aufgabe stellt. Es ist dabei für unsre Stellung belanglos, ob wir die demokratische Verfassungsform des attischen Staates als solche bejahen, aus welcher diese Probleme im 5. J h r h . erwachsen sind. Ohne Zweifel ist der Durchgang durch die politische Aktivierung der Masse, die die Ursache und ein Kennzeichen der Demokratie ist, eine notwendige geschichtliche Voraussetzung für die Bewußtwerdung der ewig gültigen Fragen, die das griechische Denken in jener Phase seiner Entwicklung in tiefer Besinnung sich selbst vorgelegt und der Nachwelt gestellt hat. Auch für uns sind sie aus derselben Entwicklung entsprungen und wieder aktuell geworden. Probleme wie das der Erziehung zum politischen Menschen und der Führerbildung, der Freiheit und der Autorität erwachsen nur auf dieser Stufe der geistigen Entwicklung und

366

[1/366]

erhalten nur hier ihre ganze Dringlichkeit und schicksalhafte Bedeutung. Sie haben nichts zu tun mit primitiven geschichtlichen Daseinsformen, mit einem Zustande des Herden- und Stammeslebens, das noch keine Individualisierung des menschlichen Geistes kennt. Keines der Probleme, die auf dem Boden jener Staatsform des 5. Jhrh. entstanden sind, beschränkt sich daher in seiner Bedeutung auf den Geltungsbereich der stadtstaatlichen griechischen Demokratie. Es sind die Probleme des Staates schlechthin. Der Beweis dafür ist, daß das von den Verhältnissen der Demokratie ausgehende Denken der großen griechischen Staatserzieher und -Philosophen durch die dort gemachten Erfahrungen alsbald zu Lösungen kommt, die über die gegebene Form des Staates kühn hinweggehen und für jede ähnliche Lage von unerschöpflicher Fruchtbarkeit sind. Der Weg der Erziehungsbewegung, in deren Betrachtung wir jetzt eintreten, sollte von der alten Adelskultur weg in einem weitgeschlagenen Bogen am Ende bei Plato, Isokrates und Xenophon zur Wiederanknüpfung an die alte aristokratische Tradition und Arete-Idee führen und zu ihrer Wiederbelebung auf vergeistigter Grundlage. Doch davon ist das frühe und mittlere 5. Jhrh. noch weit entfernt. Hier galt es zunächst einmal umgekehrt die Enge der alten Anschauungen zu durchbrechen: ihre mythische Voraussetzung des Blutvorzuges, der sich doch nur dort noch als berechtigt und wahr erweisen konnte, wo er sich als Geistesvorzug und als sittliche Kraft bewährte, als σοφία und δικαιοσύνη. Xenophanes zeigt, wie stark von Anfang an das Eindringen der „Geisteskraft" in das Bild der Arete mit dem Politischen zusammenhing, und wie es mit der richtigen Ordnung und dem Wohl des Staatsganzen begründet wurde. Auch bei Heraklit wurde, wenn auch in anderem Sinne, das Gesetz in dem „Wissen" verankert, dem es seinen Ursprung verdankt, und der irdische Träger dieses göttlichen Wissens macht Anspruch auf eine besondere Stellung in der Polis oder gerät in Gegensatz zu ihr. Freilich gerade diese großen Beispiele für das Aufkommen des neuen Problems Staat und Geist, das die Voraussetzung für die Existenz der Sophisten war, zeigen mit voller Deutlichkeit, wie die Uberwindung des alten Blutadels und seines Anspruchs durch den Geist sofort an Stelle der alten eine neue Spannung [1/367]

367

schafft. Das ist das Verhältnis der starken geistigen Persönlichkeit zur Gemeinschaft, das bis an das Ende des Polisstaates alle Denker beschäftigt hat, ohne daß sie damit fertig wurden. I m Falle des Perikles hat dieses Problem eine für das Individuum wie fur die Gemeinschaft glückliche Lösung gefunden. Vielleicht hätte das Erwachen der bahnbrechenden geistigen Individualität und ihres unbequemen Selbstbewußtseins an sich doch nicht den Anstoß zu einer so starken Bildungsbewegung wie der Sophistik gegeben, die die Forderung der Begründung der Arete auf das Wissen zum erstenmal in weite Kreise trägt und die Öffentlichkeit damit erfüllt, wenn nicht die öffentliche Welt selbst das Bedürfnis nach Ausdehnung des bürgerlichen Horizonts und nach geistiger Schulung des Einzelnen verspürt hätte. Dieses Bedürfnis wird immer sichtbarer seit dem Eintritt Athens in das internationale Geschehen in Wirtschaft, Verkehr und Staat nach den Perserkriegen. Athen verdankte seine Rettung einem einzigen Manne und seiner geistigen Überlegenheit. Wenn es ihn auch nach dem Siege nicht mehr lange ertrug, weil seine Macht mit der archaischen „Isonomie" nicht vereinbar war und als kaum verhüllte Tyrannis empfunden wurde, so drängte doch die Logik der Entwicklung zu der Einsicht, daß die Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung des.Staates immer deutlicher abhängig wurde von der Frage der richtigen Führerpersönlichkeit. Sie war in der Tat das Problem der Probleme gerade für die Demokratie, die sich selbst ad absurdum führen mußte, sobald sie mehr sein wollte als die streng geregelte Form des politischen Vollzuges und zur wirklichen Herrschaft der Masse über den Staat wurde. Das Ziel der Erziehungsbewegung, die die Sophisten heraufführten, war von vornherein nicht Volksbildung sondern Führerbildung. Es war im Grunde nur das alte Problem des Adels in neuer Form. Gewiß gab es nirgendwo so viele Möglichkeiten fur jedermann, auch fur den einfachen Bürger, wie in Athen, sich die Grundlagen einer elementaren Bildung zu erwerben, auch ohne daß der Staat die Schule in die Hand nahm. Aber die Sophisten wenden sich von vornherein nur an eine Auslese. Zu ihnen kommt nur, wer sich zum Politiker bilden und einst seine Stadt leiten will. Ein solcher muß, um den Forderungen der Zeit 368

///368J

zu genügen, nicht nur wie Aristeides das alte politische Ideal der Gerechtigkeit erfüllen, wie es von jedem beliebigen Bürger verlangt werden kann. Er soll Gesetze nicht nur befolgen, sondern selbst durch Gesetze den Staat lenken, wozu er außer der in jedem Falle unentbehrlichen Erfahrung, zu der nur das Hineinwachsen in die Praxis des politischen Lebens verhilft, einer allgemeinen Einsicht in das Wesen der menschlichen Dinge bedarf. Die Haupteigenschaften des Staatsmannes lassen sich freilich nicht erwerben. Tatkraft, Geistesgegenwart und Voraussicht, die Thukydides an Themistokles vor allem· rühmt 1 , sind angeboren. Aber die Gabe schlagfertiger, überzeugender Rede kann ausgebildet werden. Sie ist schon bei den adligen Geronten, die den Staatsrat im homerischen Epos bilden, die eigentliche Herrschertugend und behauptet sich in diesem Rang auch in der ganzen Folgezeit. Hesiod sieht in ihr eine Kraft, die die Musen dem König verleihen und durch die er jede Versammlung mit sanftem Zwange lenkt 2. Da steht die Beredsamkeit bereits gleichgeordnet der Museninspiration des Dichters. Dabei ist wohl in erster Linie an die richterliche Fähigkeit des entscheidenden und begründenden Wortes gedacht. Im demokratischen Staat der Volksversammlungen und der Redefreiheit wurde die Redegabe erst recht unentbehrlich, ja das eigentliche Steuerruder in der Hand des Staatsmannes. Die klassische Zeit nennt den Politiker schlechthin den Rhetor. Das Wort hat noch nicht die rein formale Bedeutung der späteren Zeit sondern umfaßt das Sachliche mit. Daß der einzige Inhalt aller öffentlichen Beredsamkeit der Staat und seine Angelegenheiten sind, versteht sich damals von selbst. An diesem Punkt mußte jede politische Führerbildung einsetzen. Sie wird mit innerer Notwendigkeit Ausbildung zum Redner, wobei dem griechischen Wort Logos und seiner Bedeutung entsprechend ein recht verschiedener Grad der Durchdringung des Formalen und Sachlichen denkbar ist. Von hier aus wird es verständlich und sinnhaft, wenn sich ein ganzer Stand von Erziehern bildet, der sich öffentlich anbietet, die 'Tugend* — wie man früher übersetzte — gegen Geld zu lehren. Diese 1 Thuk. I 138, 3 • Hes. Theog. 96

[1/369]

369

falsche Modernisierung des griechischen Begriffs der Arete trägt wesentlich die Schuld daran, daß der Anspruch der Sophisten oder Wissenslehrer, wie die Zeitgenossen und bald auch sie selbst ihren Beruf nannten, dem heutigen Menschen vielfach von vornherein als unsinnige naive Anmaßung erscheint. Dieses törichte Mißverständnis schwindet, sobald wir dem Wort Arete den für die klassische Zeit selbstverständlichen Sinn der politischen Arete zurückgeben und in erster Linie dabei an die intellektuellen und rednerischen Fähigkeiten denken, die in den neuen Verhältnissen des 5. Jhrh. als das Entscheidende an ihr erscheinen mußten. Es ist für uns natürlich, daß wir die Sophisten zurückschauend von Anfang an mit den skeptischen Augen Piatos sehen, für den der sokratische Zweifel an der 'Lehrbarkeit der Tugend' der Anfang aller philosophischen Erkenntnis ist. Aber es· ist geschichtlich ungerecht und hemmt jedes wirkliche Verständnis dieser für die Geschichte der menschlichen Bildung hochwichtigen Epoche, wenn man sie von vornherein mit den Problemen einer fortgeschritteneren Stufe der philosophischen Selbstbesinnung belastet. Geistesgeschichtlich sind die Sophisten eine ebenso notwendige Erscheinung wie Sokrates oder Plato, j a diese sind ohne sie überhaupt nicht denkbar. Das Unterfangen, die politische Arete zu lehren, ist der unmittelbare Ausdruck der tiefgreifenden Strukturveränderung im Wesen des Staates. Die ungeheure Umwälzung, die der attische Staat durch seinen Eintritt in die große Politik durchmachte, hat Thukydides mit genialem Scharfblick geschildert. Der Übergang von dem statischen Zustand des altertümlichen Stadtstaates zu der dynamischen Form des perikleischen Imperialismus brachte die stärkste Anspannung und den Wettbewerb aller Kräfte mit sich, im Innern wie nach außen. Die Rationalisierung der politischen Erziehung ist nur ein· Sonderfall der Rationalisierung des gesamten Lebens, das mehr als je auf Leistung und Erfolg gestellt war. Das konnte nicht ohne Einfluß auf die Wertung der Eigenschaften des Menschen bleiben. Das Ethische, das 'sich von selbst versteht', trat unwillkürlich zurück hinter dem Intellektuellen, das jetzt überall den Ausschlag gab. Die Hochschätzung von Wissen und Verstand, wie Xenophanes sie kaum 50 Jahre früher als einsamer Vorkämpfer eines neuen 370

[1/370]

Menschentypus vertreten hatte, wurde jetzt allgemein, besonders im geschäftlichen und politischen Leben. Es ist die Zeit, wo das Ideal der Arete des Menschen alle jene Werte in sich aufnahm, die die aristotelische Ethik später als Geistesvorzüge, διανοητικά! άρεταΐ, zusammenfaßt und mit den ethischen Werten des Menschen zu einer höheren Einheit zu verbinden sucht. Dieses Problem lag der Sophistenzeit freilich noch ganz fern. Die intellektuelle Seite des Menschen drängte sich hier zum erstenmal mächtig in den Vordergrund, und daraus entsprangen die erzieherischen Aufgaben, die die Sophisten zu lösen suchten. Nur so ist es zu erklären, daß sie die Arete lehren zu können glaubten. Sie hatten mit dieser pädagogischen Voraussetzung in gewisser Hinsicht also ebenso Recht wie Sokrates mit seinem radikalen Zweifel, weil sie im Grunde etwas ganz Verschiedenes meinten. Die Zwecksetzung der sophistischen Erziehung als Bildung des Geistes schließt eine außerordentliche Mannigfaltigkeit der Erziehungsmittel und -Methoden in sich. Wir können aber den Versuch machen, diese Verschiedenheit aus dem einheitlichen Gesichtspunkt der Geistesbildung abzuleiten, wenn wir uns den Begriff des Geistes in der Vielheit seiner möglichen Ansichten vergegenwärtigen. Der Geist ist einmal das Organ, mit dem der Mensch die Welt der Gegenstände in sich aufnimmt, also sachbezogen. Sieht man dagegen von allem gegenständlichen Inhalt ab (und das ist die neue Einsicht dieser Zeit), so ist der Geist auch dann nicht leer, sondern es tritt seine eigene innere Struktur erst recht ans Licht. Dies ist der Geist als formales Prinzip. Entsprechend diesen beiden Ansichten finden sich bei den Sophisten zwei in der Wurzel verschiedene Arten der Erziehung des Geistes: die Übermittlung enzyklopädischen Wissensstoffes und die formale Geistesbildung mit ihren verschiedenen Bezirken. Es leuchtet ein, daß die Gegensätzlichkeit beider Erziehungsmethoden nur in dem Oberbegriff der Geistesbildung ihre Einheit findet. Beide Arten des Unterrichts haben sich als Erziehungsprinzip bis auf den heutigen Tag behauptet, meistens in der Form eines Kompromisses und nicht in voller Einseitigkeit. Das war schon bei den Sophisten selbst großenteils nicht anders. Aber auch die Personalunion beider darf nicht darüber täuschen, daß es sich um zwei grundverschiedene Arten der Erziehung [II 371/

371

des Geistes handelt. Neben der rein formalen Verstandesbildung gibt es jedoch bei den Sophisten auch noch eine Formbildung im höheren Sinne, welche nicht von der Struktur des Verstandes und der Sprache sondern von der Ganzheit der seelischen Kräfte ausgeht. Sie wird von Protagoras vertreten. Sie bewertet neben Grammatik, Rhetorik und Dialektik vor allem Poesie und Musik als seelenformende Mächte. Die Wurzel dieser dritten Art der sophistischen Erziehung liegt im Politischen und Ethischen Sie unterscheidet sich von der formalen und der enzyklopädischen dadurch, daß sie den Menschen nicht abstrakt für sich nimmt sondern ihn als Glied in die Gemeinschaft hineinstellt. Damit setzt die Erziehung ihn in festen Bezug zur Welt der Werte und fügt die geistige Bildung in das Ganze der menschlichen Arete ein. Auch diese Form ist Geistesbildung; der Geist wird hier nur nicht rein intellektuell-formal oder intellektuell-sachlich sondern in seiner sozialen Bedingtheit erfaßt. Es ist also in jedem Fall zu äußerlich, wenn man gesagt hat, das Neue und zugleich Verbindende an den Sophisten sei das Bildungsideal der Rhetorik, das ευ λέγειν, weil es allen Vertretern der Sophistik gemeinsam sei, während sie in der Bewertung der Sachen auseinander gingen, denn es gebe auch Sophisten, die bloß Rhetor seien wie Gorgias, sonst aber nichts lehrten 2. Gemeinsam ist vielmehr allen, daß sie Lehrer der politischen Arete sein * und diese durch eine Steigerung der Geistesbildung erreichen wollen, gleichviel was sie zu dieser rechnen. Wir können nur immer wieder staunen über den Reichtum an neuen und bleibenden erzieherischen Erkenntnissen, welche die Sophisten in die Welt gebracht haben. Sie sind die Schöpfer der Geistesbildung und der auf sie gerichteten Erziehungskunst. Zugleich ist es klar, daß die neue Bildung, gerade wo sie über das Formale und Sachliche hinausging und die Erziehung zur politischen Führung mehr in der Tiefe der Problematik von Sittlichkeit und Staat angriff, am meisten Gefahr lief in Halbheiten 1 Plat. Prot. 325 E ff. Den Gegensatz des Protagoras und seiner politischethischen Bildungsidee gegen die mathematische Polymathie des Hippias von Elis läßt Plato Prot. 318 E ihn selbst scharf formulieren. * H . Gomperz, Sophistik und Rhetorik. Das Bildungsideal des e j λέγειν in seinem Verhältnis zur Philosophie des 5. Jhrh. (Leipzig 1912) » Plat. Prot. 318 E ff. Men. 91 A ff. u. a.

372

[11372]

stecken zu bleiben, wenn sie sich nicht auf echte Forschung und durchgreifendes philosophisches Denken gründete, das die Wahrheit u m ihrer selbst willen sucht. V o n diesem Punkt aus haben Plato und Aristoteles in der Folgezeit das ganze System der sophistischen Erziehung aus seinen Angeln gehoben. Das führt uns zu der Frage der Stellung der Sophisten in der Geschichte der griechischen Philosophie und Wissenschaft. Sie war eigentlich immer merkwürdig zweideutig, obgleich es durchaus herkömmlich ist und als selbstverständlich gilt, sie als organisches Glied der philosophischen Entwicklung zu betrachten, wie unsere Geschichten der griechischen Philosophie es tun. A u f Plato darf man sich dabei nicht berufen, denn was ihn zu immer neuen Auseinandersetzungen mit den Sophisten führt, ist ihr Anspruch Lehrer der Arete zu sein, also gerade ihr Zusammenhang mit dem Leben und der Praxis, nicht ihre Wissenschaft. Die einzige Ausnahme bildet die Kritik der Erkenntnislehre des Protagoras in Piatos 'Theaetet' 1 . Hier besteht in der T a t eine Verbindung der Sophistik mit der Philosophie, aber sie beschränkt sich auf diesen einen Vertreter, und die Brücke ist schmal genug. Die Philosophiegeschichte, die Aristoteles in der 'Metaphysik' gibt, schließt die Sophisten aus. Die neuere Philosophiegeschichtschreibung pflegt in ihnen die Begründer des philosophischen Subjektivismus oder Relativismus zu sehen. A b e r die Ansätze einer Theorie bei Protagoras berechtigen nicht zu einer solchen Verallgemeinerung, und es ist geradezu eine Verzerrung der geschichtlichen Perspektive, die Lehrer der Arete neben Weltdenker vom Stile des Anaximander, Parmenides oder Heraklit zu stellen. Wie fern ursprünglich dem reinen Forschungstrieb der ionischen „Historie" der Gedanke an den Menschen oder gar an eine praktische erzieherische Wirkung lag, wurde an der Kosmologie der Milesier gezeigt. Wir haben von dort aus verfolgt, wie die Betrachtung des Kosmos sich Schritt für Schritt dem Problem des Menschen nähert, das sich immer unwiderstehlicher in den Vordergrund drängt. Der kühne Versuch des Xenophanes, die Arete des Menschen auf die rationale Erkenntnis von Gott 1

Plat. Theaet. 152 A

¡1/373]

373

und Welt zu gründen, bringt diese schon in innere Verbindung mit dem Erziehungsideal, und es scheint einen Augenblick so, als sollte die Naturphilosophie durch ihre Aufnahme in die Poesie die geistige Herrschaft über Bildung und Leben der Nation erringen. Aber Xenophanes blieb eine vereinzelte Erscheinung, wenn auch die einmal gestellte Frage nach Wesen, Weg u n d Wert des Menschen die Philosophie nicht wieder ruhen ließ. Freilich hat nur Heraklits einsame Denkergröße die Eingliederung des Menschen in den gesetzmäßigen A u f b a u des Kosmos aus einem einheitlichen Prinzip zu vollziehen vermocht, und Heraklit ist kein Physiker. Die Nachfolger der milesischen Sehlde im 5 . J h r h . , unter deren Händen die Erforschung der Natur immer mehr den Charakter einer Fachwissenschaft annimmt, haben den Menschen entweder ganz aus ihrem Denken ausgeschaltet oder, soweit sie philosophische Tiefe hatten, sich jeder auf seine Weise mit dem Problem abgefunden. Bei Anaxagoras von Klazomenai bricht die anthropozentrische Tendenz der Zeit in die Kosmogonie ein, er setzt an den Anfang des Seins den Geist als ordnende und lenkende Kraft, führt aber im übrigen die mechanische Naturbetrachtung lückenlos durch. Eine Durchdringung von Natur und Geist erreicht er nicht. Empedokles von Akragas ist ein philosophischer Kentaur, in seiner zwiegestaltigen Seele lebt die ionische Elementarphysik in seltsamem Bunde mit orphischer Erlösungsreligion. Sie fuhrt den Menschen, das unerlöste Geschöpf und Spielzeug des ewigen physischen Werdens und Vergehens, auf mystischem Wege aus dem unseligen Kreislauf der Elemente, an den er vom Schicksal gekettet ist, zu ursprünglich-göttlich reinem Dasein der Seele zurück. So wahrt die seelische Welt des Menschen, die gegenüber der Übermacht der kosmischen Kräfte immer dringender ihr Recht heischt, bei jedem dieser Denker auf anderem Wege ihre Selbständigkeit. Selbst ein so strenger Naturdenker wie Demokrit kann das Problem des Menschen und seiner sittlichen Eigenwelt nicht mehr beiseite setzen. Er vermeidet andererseits die zum Teil merkwürdigen Auswege, auf die dieses Problem seine unmittelbaren Vorgänger gelockt hatte, und zieht es vor, reinlich zwischen Naturphilosophie und ethischer Erziehungsweisheit zu scheiden, die er nicht als theoretische Wissenschaft sondern in 374

[1/374]

der altherkömmlichen Form der Paränese gibt. In ihr mischt sich eigentümlich das Erbgut der älteren Spruchpoesie mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Geist des modernen Forschers. Das sind lauter bedeutsame Symptome der wachsenden Wichtigkeit des Problems, das der Mensch und sein Dasein der Philosophie aufgab. Aber der Erziehungsgedanke der Sophisten hat hier dennoch nicht seinen Ursprung. Das fortschreitende Interesse der Philosophie für den Menschen, das seinen Gegenstand näher und näher umkreist, ist ein neuer Beweis für die geschichtliche Notwendigkeit des Auftretens der Sophisten, aber das Bedürfnis, das sie befriedigen, ist kein wissenschaftlich-theoretisches sondern durchaus praktisch. Das ist auch der tiefere Grund, weshalb sie in Athen eine so starke Wirkung hatten, während die Wissenschaft der ionischen Physik dort auf die Dauer keine Wurzel schlagen konnte. Ohne Verständnis für diese lebensabgewandte Forschung, knüpfen die Sophisten an die erzieherische Tradition der Dichter an, an Homer und Hesiod, Solon und Theognis, Simonides und Pindar. Erst wenn wir die Sophisten in die Entwicklung der griechischen Bildung hineinstellen, deren Linie durch diese Namen bezeichnet ist, wird ihre geschichtliche Stellung deutlich. Schon bei Simonides, Theognis und Pindar war das Problem der Arete und ihrer Lehrbarkeit in die Poesie eingebrochen, die bis dahin ihr Ideal des Menschen nur einfach hingestellt und verkündigt hatte. Sie wird jetzt die Stätte einer vielstimmigen Aussprache über Erziehung. Simonides ist im Grunde schon ein typischer Sophist 1 . Die Sophisten tun den letzten Schritt. Sie setzen die verschiedenen Gattungen der paränetischen Dichtung, in der das pädagogische Element am stärksten hervortrat, in die neue Kunstprosa um, in der sie Meister sind, und treten dadurch mit der Dichtung in der Form wie in den Gedanken in bewußten Wettbewerb. Zugleich ist diese Prosawerdung des erzieherischen Gehalts der Poesie ein Zeichen seiner endgültigen Rationalisierung. Als die Erben des erzieherischen Berufs der Poesie wenden die Sophisten auch dieser selbst ihre Tätigkeit zu. Sie sind die ersten schulmäßigen Erklärer der Werke der großen Dichter, an die sie 1

11/37

D a s sagt eigentlich schon Plat. Prot. 339 A η

375

mit Vorliebe ihre Belehrungen anknüpfen. Interpretation in unserem Sinne darf man dabei nicht erwarten. Man steht den Dichtern unmittelbar und zeitlos gegenüber und zieht sie unbefangen in die eigene Gegenwart hinein, wie das Piatos 'Protagoras* in ergötzlicher Weise z e i g t l . Die verstandeskühle Zweckbewußtheit, die der ganzen Zeit eigen ist, verrät sich nirgendwo stärker und weniger passend als in der lehrhaften Auffassung der Poesie. Homer ist für die Sophisten eine Enzyklopädie alles menschlichen Wissens vom Wagenbau bis zur Strategie und eine Fundgrube kluger Lebensregeln 2 . Das heroische Erziehertum des Epos oder der Tragödie wird handgreiflich nutzhaft aufgefaßt. Trotzdem sind die Sophisten keine bloßen Epigonen. Sie sind erfüllt von einer vielgestaltigen neuen Problematik. Von dem rationalen Denken ihrer Zeit über sittliche und staatliche Dinge wie von den Lehren der Physiker sind sie so weit berührt, daß sie eine Atmosphäre vielseitiger Bildung um sich erzeugen, wie sie auch das peisistratische Zeitalter in dieser hellen Bewußtheit, quirlenden Lebendigkeit und erregbaren Mitteilungsbedürftigkeit noch nicht gekannt hatte. Der xenophaneische Geistesstolz ist von dem neuen Typus nicht zu trennen, er wird von Plato immer wieder in seinen ziemlich mannigfaltigen Formen von grotesk selbstbewußter Würde bis zur kleinlichen Eitelkeit parodiert und verspottet. Das alles erinnert an die Literaten der Renaissance, dazu paßt auch die Unabhängigkeit, Weltbürgerlichkeit und Freizügigkeit, die die Sophisten in der Welt umhertreibt. Hippias von Elis, der in allen Zweigen des Wissens bewandert ist und alle Handwerkskünste gelernt hat, der kein Kleidungs- oder Schmuckstück am Leibe trägt, das er nicht eigenhändig verfertigt hat, ist der vollendete uomo universale3. Auch bei den anderen ist es unmöglich, diese schillernde Mischung von Philolog und Rhetor, Pädagog und Literat unter irgend einen der herkömmlichen Begriffe zu bringen. Wohl nicht nur um der Belehrung willen, die sie geben, sondern wegen Plat. Prot. 339 A ff. Plat. Pol. 598 E zeichnet diesen Typus sophistischer Homererklärung offenbar nach einem bestimmten Vorbild. 3 Plat. Hipp. min. 368 Β 1

2

376

[11376]

des ganzen geistigen und psychologischen Reizes ihres neuzeitlichen Typus sind die Sophisten als höchste Berühmtheiten des griechischen Geistes in jeder Stadt, wo sie eine Zeit lang ihre Rolle geben, bei den Reichen und Mächtigen beliebte Gäste. Auch darin sind sie die echten Nachfolger der Dichterparasiten, die wir am Ende des 6.Jhrh. an den Höfen der Tyrannen und in den Häusern des reichen Adels fanden. Ihre Existenz beruht ausschließlich auf ihrer intellektuellen Bedeutung. Bei ihrem unaufhörlichen Wanderleben können sie keine feste bürgerliche Stellung haben. Daß ein solches losgelöstes Dasein im damaligen Griechenland überhaupt möglich wird, ist wohl das Eigentümlichste und das sichere Zeichen für das Aufkommen einer ganz neuen Art der Bildung, die im innersten Kern individualistisch ist, so viel sie auch über die Erziehung zur Gemeinschaft und über die Tugend des besten Staatsbürgers reden mag. Die Sophisten sind tatsächlich die ausgesprochensten Individualitäten eines überhaupt allgemein zum Individualismus sich neigenden Zeitalters. Insofern verdienten sie wirklich als die echten Repräsentanten des Zeitgeistes von ihren Zeitgenossen bestaunt zu werden. Auch daß die Bildung ihren Mann ernährt, ist ein Zeichen der Zeit. Sie wird wie eine Ware des Marktes „importiert" und in Handel gebracht. In diesem boshaften Vergleich Piatos 1 liegt etwas durchaus Berechtigtes, man muß es nur nicht als moralische Kritik der Sophisten und ihrer persönlichen Gesinnung nehmen sondern als geistiges Symptom. Für die 'Soziologie des Wissens' sind die Sophisten ein unerschöpfliches Kapitel und noch gar nicht ausgenutzt. Alles in allem bedeuten die neuen Männer eine bildungsgeschichtliche Erscheinung allerersten Ranges. Durch sie ist die Paideia in dem Sinne der bewußten Idee und Theorie der Bildung in die Welt gekommen und auf rationale Grundlage gestellt worden. Insofern müssen sie als eine wichtige Stufe in der Entwicklung des Humanismus gelten, wenngleich dieser seine höchste und wahre Form erst im Kampfe mit den Sophisten und in ihrer Überwindung durch Plato gefunden hat. Dieser Charakter der Vorläufigkeit und Unfertigkeit haftet ihnen dauernd an. Die 1

Plat. Prot. 313 C

[U377]

377

Sophistik ist keine wissenschaftliche Bewegung sondern eine Überflutung der Wissenschaft im Sinne der älteren Physik und 'Historie' der Ionier durch die anders gerichteten Interessen des Lebens, vor allem durch die pädagogischen und sozialen Probleme, die sich aus der Umschichtung des wirtschaftlichen und staatlichen Zustandes ergaben. Die Bewegung wirkt also zunächst geradezu wissenschaftverdrängend, ebenso wie in neuerer Zeit die Hochflut der Pädagogik, Soziologie und Journalistik auf die alte Wissenschaft wirkte. Aber indem die Sophistik die Umsetzung der alten Erziehungstradition, wie sie vor allem in der Poesie seit Homer verkörpert war, in die Sprachform und Denkart des neuen rationalen Zeitalters vollzieht und den Bildungsbegriff theoretisch bewußt macht, führt sie zur Erweiterung des Bereichs der ionischen Wissenschaft nach der ethischsozialen Seite und wird die Wegbereiterin einer wirklichen politisch-ethischen Philosophie neben und über der Wissenschaft von der Natur A m längsten hatte die Leistung der Sophisten auf formalem Gebiete Bestand. Aber der Rhetorik sollte alsbald in dem wissenschaftlichen Element, das sich von ihr loslöste und sein eigenes Recht forderte, ein furchtbarer Gegner und eine starke Konkurrenz erwachsen. So barg die sophistische Bildung gerade in ihrer Vielseitigkeit den Keim des Bildungskampfes der folgenden Jahrhunderte in sich, des Kampfes zwischen Philosophie und Rhetorik. Der Ursprung der Pädagogik und des Kulturideals Man hat die Sophisten die Gründer der Erziehungswissenschaft genannt. In der Tat haben sie die Grundlagen der Pädagogik gelegt, und die intellektuelle Bildung geht großenteils noch heute dieselben Wege. Aber es ist noch heute eine offene Frage, ob die Pädagogik eine Wissenschaft oder eine Kunst ist, und die Sophisten haben ihre Erziehungskunst und -Theorie nicht eine Wissenschaft sondern eine Techne genannt. Über Protagoras sind wir durch Plato näher unterrichtet, denn die Darstellung, die er von der Art seines öffentlichen Auftretens gibt, muß trotz 1 Den Gegensatz der praktischen Tendenz der Sophisten zu der lebensabgewandten Art der alten Philosophen und Weisen hebt hervor Plat. H i p p , raaior 281 C

378

[11378]

ihrer spöttischen Übertreibung ein im wesentlichen treues Bild geben. Der Sophist bezeichnet seinen Beruf als die 'politische Techne', weil sie die politische Arete lehrt 1 . Die Technisierung der Erziehung erscheint nur als ein Sonderfall des allgemeinen Strebens der Zeit nach Auflösung des ganzen Lebens in eine Anzahl zweckbewußt aufgebauter und theoretisch begründeter Sonderfacher, die ein übertragbares Sachwissen vermitteln. Wir finden Spezialisten und Spezialschriften für die mathematischen Fächer, für Medizin, Gymnastik, Musiktheorie, Bühnenkunst usw. Selbst die bildenden Künstler wie Polyklet fangen an theoretisch zu schreiben. Allerdings sehen die Sophisten in ihrer Kunst die Krone aller Künste. In dem Mythos von der Entstehung der Kultur 2 , den Plato seinen Protagoras vortragen läßt, um das Wesen und die Stellung seiner Techne zu erläutern, unterscheidet der Sophist zwei Stufen der Entwicklung. Sie sind offenbar nicht als zeitlich getrennte geschichtliche Etappen gedacht, sondern ihr Nacheinander ist nur die Form, wie der Mythos die Bedeutung und Notwendigkeit der sophistischen höheren Erziehung veranschaulicht. Die erste Stufe ist die technische Zivilisation. Protagoras nennt sie nach Aischylos die Prometheusgabe, die die Menschen mit dem Feuer empfingen. Trotz dieses Besitzes wären sie zu kläglichem Untergang verurteilt gewesen, da sie sich in furchtbaren Kämpfen gegenseitig vernichteten, wenn nicht Zeus ihnen die Gabe des Rechts verliehen hätte, das sie fähig machte Staat und Gemeinschaft zu gründen. Es ist nicht klar, ob Protagoras auch diesen Zug aus Aischylos d. h. aus dem verlorenen Teil der Prometheustrilogie entlehnt oder ob er ihn aus Hesiod genommen hat, der als erster das Recht als die Gabe des Zeus an die Menschen rühmt, durch die sie sich von den einander fressenden Tieren unterscheiden 3 . Originell ist erst die weitere Ausführung des Protagoras. Während die Gabe des Prometheus, das technische Wissen, nur den Fachleuten verliehen ist, hat Zeus den Sinn für Recht und Gesetz allen Menschen eingePlat. Prot. 319 A * Plat. Prot. 320 D a Hcs. Erga 276 1

[H379]

379

pflanzt, weil sonst der Staat nicht bestehen könnte. Aber es gibt doch noch eine höhere Stufe der Einsicht in die Grundlagen von Recht und Staat, die die politische Techne der Sophisten lehrt. Sie ist für Protagoras die eigentliche Bildung und das geistige Band, das die gesamte menschliche Gemeinschaft und Zivilisation zusammenhält. Nicht alle Sophisten werden eine so hohe Auffassung ihres Berufes gehabt haben, der Durchschnitt hat sich wohl damit begnügt, sein Wissen an den Mann zu bringen. Zur gerechten Einschätzung der ganzen Bewegung ist es jedoch nötig, von ihrem stärksten Vertreter auszugehen. Die zentrale Stellung, die Protagoras der Menschenbildung im Ganzen des Lebens anweist, charakterisiert die geistige Zielsetzung seiner Erziehung als ausgesprochenen 'Humanismus'. Das liegt einmal in der Überordnung der Menschenbildung über den ganzen Bereich des Technischen im heutigen Sinne dieses Wortes, der Zivilisation. Diese grundsätzliche und klare Scheidung zwischen dem technischen Können und Wissen und der eigentlichen Bildung ist die Grundlage des Humanismus geworden. Vielleicht sollte man sich hüten, das Spezialistentum ohne weiteres dem modernen, seinem Ursprung nach christlichen Begriff des Berufs gleichzusetzen, der umfassender ist als der altgriechische Begriff der Techne Ein Beruf in unserem Sinne ist auch der des Staatsmannes, zu dem Protagoras die Menschen bilden will, im Griechischen dagegen ist es eine besondere Kühnheit, ihn eine Techne zu nennen, die sich nur dadurch rechtfertigt, daß die griechische Sprache kein anderes Wort besitzt, um das auszudrücken, was am Wirken des Politikers auf geschulter Kraft und erworbenem Wissen beruht. Es ist auch ganz deutlich, daß Protagoras bemüht ist, diese seine Techne von den im engeren Sinne technischen Berufen abzurücken und als etwas Allumfassendes, Allgemeines hinzustellen. Aus demselben Grunde stellt er seinen Gedanken der 'allgemeinen' Bildung auch zu der Erziehung der übrigen Sophisten und ihrer bloßen Realbildung in den allerschärfsten Gegensatz. Nach seiner Ansicht „ruinieren sie die Jugend" geradezu. Obwohl sie nur darum zu 1

V g l . Karl Holl, Die Geschichte des Worts Beruf, Sitz. Beri. Akad. 1924,

XXIX

380

[1/380]

den Sophisten komme, um dem bloß Technisch-Handwerklichen zu entrinnen, führten diese sie doch wider Willen von neuem in ein technisches Wissen e i n 1 . Wahrhaft 'allgemein' ist für Protagoras nur die p o l i t i s c h e Bildung. Er zieht mit dieser Auffassung vom Wesen der 'allgemeinen' Menschenbildung nur die Summe der gesamten geschichtlichen Entwicklung der griechischen Erziehung z . Auch dieses Ethische und Politische ist ein Grundzug im Wesen der echten Paideia. Erst spätere Zeiten haben einen neuen, rein ästhetischen Typus des Humanismus hinzugefügt oder an die Stelle zu setzen gesucht, weil für sie der Staat nicht mehr an höchster Stelle stand. Für die klassische Zeit des Griechentums ist gerade die Bindung aller höheren Bildung an die Idee des Staats und der Gemeinschaft wesentlich. Wir verwenden das Wort Humanismus zur Bezeichnung der in der Sophistik aus der Tiefe der Entwicklung des griechischen Geistes hervorbrechenden Idee der Menschenbildung mit vollem Bedacht und im wesenhaften Sinne, nicht von ungefähr als bloßes geschichtliches Beispiel. Für die Neuzeit haftet allerdings der Begriff Humanismus an der bewußten Beziehung unserer Bildung zum Altertum. Aber diese hat doch ihren Grund wieder nur in der Tatsache, daß unsere Idee der 'allgemeinen' Menschenbildung eben dort ihren geschichtlichen Ursprung hat. Der Humanismus ist in diesem Sinne seinem Wesen nach eine Schöpfung der Griechen. Nur ihre unvergängliche Bedeutung für den menschlichen Geist macht auch die geschichtliche Beziehung zur Antike für unsere Erziehung notwendig und wesenhaft. Im übrigen ist hier von Anfang an zu bemerken, daß der Humanismus bei aller Konstanz seiner Grundzüge sich lebendig entwickelt hat und sich nicht auf den Typus des Protagoras festlegen läßt. Plato wie Isokrates haben den Bildungsgedanken der Sophisten aufgenommen und ihm jeder eine verschiedene Wendung gegeben. Nichts ist fur diese Metamorphose so bezeichnend wie die Tatsache, daß Plato am Ende seines Lebens 1 Plat. Prot. 318 E. Protagoras rechnet hier zu diesen τέχναι im besonderen Hinblick auf Hippias Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Musik, was hier soviel wie Musiktheorie bedeutet.

» vgl. s. 155 fr. [1/381]

381

und seiner Erkenntnis in den 'Gesetzen' den berühmten Satz des Protagoras, der gerade in seiner Vieldeutigkeit für die Art seines Humanismus so vielsagend ist: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge" in das Axiom umwandelt: „Das Maß aller Dinge ist Gott" 1 . Dabei sollen wir uns erinnern, daß Protagoras von der Gottheit gesagt hat, er sei nicht imstande auszusagen, wie es sich mit ihr verhalte, weder daß sie sei noch daß sie nicht sei 2. Wir haben sogleich angesichts dieser platonischen Kritik der Grundlagen der sophistischen Erziehung in aller Schärfe die Frage zu stellen: sind die religiöse Skepsis und Indifferenz und der sittliche und erkenntnistheoretische 'Relativismus', welche Plato bekämpft und die ihn zum lebenslänglichen erbitterten Gegner der Sophisten machen, für den Humanismus wesenhaft? Die Antwort ist nicht in das Dafürhalten des Einzelnen gestellt, auch sie muß objektiv von der Geschichte selbst erteilt werden. Unsere weitere Darstellung wird dieses Problem immer von neuem berühren und den Kampf der Bildung und Kultur um Religion und Philosophie erkennen lassen, der mit der Aufnahme des Christentums durch die Spätantike seinen weltgeschichtlichen Wendepunkt erreicht. Wir können hier nur so viel vorausblickend darüber sagen. Die althellenische Bildung vor den Sophisten kennt die moderne Spaltung zwischen Kultur und Religion überhaupt nicht, sie wurzelt tief im Religiösen. Die Kluft tut sich erst in der Zeit der Sophisten auf, die zugleich die Zeit der Schöpfung der bewußten Bildungsidee ist. Die Relativierung der überlieferten Normen des Lebens und die resignierte Einsicht in die Unlösbarkeit der Rätsel der Religion, die wir bei Protagoras finden, war gewiß nicht nur durch Zufall mit seiner hohen Idee der Bildung des Menschen verbunden. Der bewußte Humanismus konnte aus der großen Erziehungstradition der Griechen wahrscheinlich nur in einem geschichtlichen Augenblick entspringen, wo jene höchsten erzieherischen Werte in Frage gestellt waren. Es liegt in ihm in der Tat zunächst deutlich ein Sichzurückziehen auf die schmale Basis des 'bloßen' Menschseins. Die Erziehung, die stets als Ausgangspunkt einer Norm 1 8

382

Plat. Leg. 716 C vgl. Prot. frg. 1 Diels Prot. frg. 4 11/382]

bedarf, klammert sich jetzt, wo die geltenden Norminhalte den Menschen unter den Händen dahinschwinden, an die F o r m des Menschen, sie wird formal. Solche Situationen haben sich in der Geschichte wiederholt, und immer ist ihnen der H i m a nismus eng gesellt. Andererseits ist es jedoch ebenso wesentlich für ihn, daß er in dieser formalen Haltung über sich selbst rückwärts und vorwärts weist: rückwärts auf die Fülle der religiösen und sittlichen Bildekräfte der geschichtlichen Tradition als den eigentlichen und wahren 'Geist', an dem der bis zur Abstraktheit entleerte GeistbegrifF des Rationalismus seinen konkreten lebendigen Gehalt erst wieder zu gewinnen hat; vorwärts auf das religiöse und philosophische Problem eines Begriffes des Seins, der das Menschliche wie eine zarte Wurzel schützend umschließt, aber dem Menschen den fruchtbaren Boden zurückgibt, in dem er zu wurzeln vermag. Wie man sich zu dieser Grundfrage aller Erziehung stellt, ist entscheidend für die Beurteilung der Bedeutung der Sophisten. Geschichtlich gesprochen kommt alles darauf an, sich darüber klar zu werden, ob Plato den ersten Humanismus, den die Geschichte kennt, den der Sophisten, beendet oder vollendet hat. Die Stellungnahme zu dieser geschichtlichen Frage bedeutet nicht weniger als ein Bekenntnis. Rein geschichtlich gedacht scheint es jedoch faktisch längst entschieden, daß die Idee der Bildung des Menschen, wie die Sophisten sie verkündigten, zwar eine große Zukunft in sich barg, aber keine abschließende Schöpfung war. In ihrer Formbewußtheit ist sie von unschätzbarer praktisch-erzieherischer Wirkung gewesen bis auf den heutigen Tag. Aber gerade indem sie mit dem höchsten Ansprüche auftrat, bedurfte sie der tieferen Grundlegung durch die Philosophie und Religion. I m Grunde ist es der religiöse Geist der älteren griechischen Erziehung von Homer bis zur Tragödie, der sich in Piatos Philosophie eine neue Gestalt gibt. Plato geht über die Bildungsidee der Sophisten hinaus, indem er hinter sie zurückgeht. Das Entscheidende ist an den Sophisten der bewußte Bildungsgedanke als solcher. Schauen wir zurück auf den Weg, den der griechische Geist von Homer bis zur attischen Periode zurückgelegt hat, so erscheint dieser Gedanke nicht wie etwas [If383]

383

Überraschendes, sondern als die geschichtlich notwendige und reife Frucht der gesamten Entwicklung. Er ist der Ausdruck des dauernden Strebens aller dichterischen Gestaltung und aller Denkerarbeit der Griechen nach normativer Ausprägung der Form des Menschen. Dieses seinem Wesen nach bildnerische Streben drängte, zumal in einem so philosophischen Volke, zur Bewußtwerdung der Idee der Bildung in dem hohen Sinne, wie sie hier gefaßt wird. Es erscheint als das Allernatürlichste, daß alle früheren Schöpfungen des griechischen Geistes sich fiir die Sophisten mit dieser Idee der Bildung verbanden und als ihr gegebener Inhalt angesehen wurden. Die erzieherische Kraft der Werke der Dichter stand dem griechischen Volke seit jeher fest. Ihre Zusammenfassung zum Inbegriff der Bildung vollzog sich notwendigerweise in dem Moment, da das bewußte erzieherische T u n (τταιδεύειν) sich nicht mehr ausschließlich dem kindlichen Alter (irais), sondern mit besonderem Nachdruck dem heranwachsenden Menschen zuwandte und die Einsicht erwachte, daß der erzieherische Werdegang des Menschen keine fixierbare Zeitgrenze nach oben hat. Jetzt gab es mit einemmal eine Paideia auch des erwachsenen Menschen. Der Begriff, der ursprünglich nur den Prozeß der Erziehung als solchen bezeichnet hatte, erweiterte seine Bedeutungssphäre nach der objektiven, inhaltlichen Seite, genau wie unser Wort Bildung oder das gleichbedeutende lateinische cultura, das vom Bildungs v o r g a n g zur Bezeichnung des Gebildet s e i n s und dann zum Bildungs i n h a l t wird und schließlich die ganze geistige Bildungs w e i t umschließt, in die der einzelne Mensch als Angehöriger seines Volkes oder eines bestimmten sozialen Kreises hineingeboren wird. Der geschichtliche A u f b a u dieser Bildungswelt gipfelt im Bewußtwerden der Bildungsidee. Es erscheint daher als ganz natürlich und selbstverständlich, daß die Griechen alle gewachsene Form und alles geistig Geschaffene, den gesamten Besitz und Inhalt ihrer Tradition seit dem 4. Jhrh., wo dieser Begriff erst seine endgültige Kristallisierung gefunden hat, als ihre Paideia — wir sagen 'Bildung' oder mit dem lateinischen Fremdwort 'Kultur' — bezeichnet haben. V o n hier aus betrachtet sind die Sophisten eine zentrale Er384

[1/384]

scheinung. Sie sind die Schöpfer des Kulturbewußtseins, in dem der griechische Geist sein 'Telos' erreicht und zur inneren Selbstgewißheit seiner eigentümlichen Form und Richtung gelangt. Daß sie diesem Begriff und Bewußtsein zum Durchbruch verholfen haben, ist dabei zunächst wichtiger, als daß sie ihm noch nicht seine endgültige Ausprägung gegeben haben. Indem sie in einer Zeit der Auflösung der überlieferten Formen des Daseins die Bildung des Menschen als die große Aufgabe, die ihr Volk durch die Geschichte überkommen hatte, sich und der Mitwelt zum Bewußtsein brachten, haben sie den Punkt entdeckt, auf den die ganze Entwicklung ständig hinzielte und von dem jeder bewußte A u f b a u des Lebens ausgehen mußte. Bewußtwerdung ist eine Höhe, aber die Höhe der Spätzeit. U n d dies ist die andere Seite der Erscheinung. Wenn die Behauptung auch keiner Erläuterung bedarf, daß die Periode von den Sophisten bis zu Plato und Aristoteles ein dauernder weiterer Aufstieg in der Entwicklung des griechischen Geistes ist, so bleibt doch das Wort Hegels in Kraft, d a ß die Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt. Seine Weltherrschaft, deren erste Sendboten die Sophisten sind, erkauft der griechische Geist u m den Preis seiner Jugend. Man kann es verstehen, daß Nietzsche und Bachofen die Höhe in die Zeit vor dem Erwachen der ratio verlegen wollten, etwa in die mythischen Anfänge, in den Homer oder in das tragische Zeitalter. Aber diese romantische Verabsolutierung der Frühzeit ist doch unmöglich, denn die Entwicklung des Geistes der Nationen wie der Individuen hat ihr unüberschreitbares Gesetz in sich selbst, und ihr Eindruck auf den, der sie geschichtlich nacherlebt, kann nicht anders als zwiespältig sein. Wir fühlen schmerzlich den Verlust, den die Entwicklung des Geistes in sich schließt, möchten aber doch keine ihrer Kräfte missen, j a wir wissen nur zu gut, daß wir nur unter ihrer Voraussetzung das Frühere so ungehemmt zu bewundern bereit und fähig sind. Dies ist notwendig unsere Stellung, da wir selbst auf einer späten Stufe der Kultur stehen und in mancher Hinsicht erst von der Sophistik an eigentlich zu uns selber kommen. Sie ist uns 'näher' als Pindar oder Aischylos. Dafür sind wir dieser um so mehr bedürftig. Ge[1138η

385

rade an den Sophisten werden wir inne, daß die 'Dauer' der früheren Stufen im geschichtlichen Aufbau der Bildung kein leeres Wort ist, denn wir können die neue Stufe nur bejahen, wenn die frühere gleichzeitig in dieser Bildung mitaufgehoben ist. Im einzelnen sind wir über die Sophisten zu wenig unterrichtet, um auch nur von den Hauptvertretern ein individuelles Bild ihrer Lehrweise und ihres Zieles geben zu können. Daß sie auf diese Unterschiede selbst viel Gewicht legten, zeigt Piatos vergleichende Charakteristik im 'Protagoras', doch stehen sie sich gegenseitig nicht so fern wie ihr Ehrgeiz sie glauben ließ. Der Grund für den Mangel an Nachrichten ist, daß sie keine Literatur hinterlassen haben, die sie länger überlebt hat. Schriften des Protagoras, der auch darin eine Vorzugsstellung einnimmt, las man vereinzelt noch im späten Altertum, obgleich auch sie damals so gut wie verschollen waren 1 . Einzelne mehr wissenschaftliche Arbeiten der Sophisten hielten sich eine Reihe von Jahrzehnten im Gebrauch, doch im allgemeinen waren sie keine Gelehrten, ihr Ziel war Einfluß auf die Gegenwart zu üben. Ihre rhetorische Epideixis war, mit Thukydides zu reden, kein Besitz für immer sondern mehr ein Glanzstück zum augenblicklichen Anhören. Und bei ihren tieferen erzieherischen Bestrebungen konzentrierte sich ihre Hauptkraft auf den Umgang mit den lebendigen Menschen und nicht auf die literarische Tätigkeit, wie es j a das Natürliche ist. Sokrates hat sie darin noch übertrumpft, er hat nie etwas geschrieben. Für unser Urteil ist es ein durch nichts auszugleichender Verlust, daß wir in ihre erzieherische Praxis keinen Einblick mehr haben. Demgegenüber wiegt das nicht schwer, was wir vereinzelt über ihr Leben und ihre Ansichten erfahren, da auf diese im Grunde nicht viel ankommt. Wir werden darauf nur so weit eingehen, als es sich um die theoretischen Grundlagen ihrer Erziehung handelt. D a ist von wesentlicher Bedeutung zunächst die mit dem Bewußtwerden der Bildungsidee zusammenhängende Bewußtmachung des Bildungsprozesses. Sie setzt eine Einsicht in die Gegebenheiten des erzieherischen Tuns, 1 Eine wichtige K u n d e über ein erhaltenes Exemplar der Schrift des Protagoras über das Seiende bei Porphyrios vgl. Prot. frg. 2 Diels

386

[1/386]

insbesondere eine Analyse des Menschen voraus. Sie ist in ihren Elementen zwar noch einfach, verglichen mit der modernen Psychologie ungefähr so einfach wie die physikalische Elementenlehre der Vorsokratiker im Vergleich mit der modernen Chemie. Aber vom Wesen der Dinge weiß die Psychologie heute nicht mehr als die sophistische Erziehungslehre und die Chemie nicht mehr als Empedokles oder Anaximenes, wir dürfen uns also der erstmaligen prinzipiellen Einsichten der Pädagogik der Sophisten auch heute noch erfreuen. Anknüpfend an die u m ein Jahrhundert ältere Streitfrage zwischen Adelserziehung und politisch-demokratischer Auffassung, die wir bei Theognis und Pindar fanden, untersucht die Sophistik die Vorbedingungen aller Erziehung, das Problem des Verhältnisses von „ N a t u r " und bewußtem erzieherischen Einfluß im Werden des Menschen. Es wäre zwecklos die zahlreichen Stellen der zeitgenössischen Literatur zusammenzutragen, die das Echo dieser Erörterung sind. Sie beweisen, daß die Sophisten das Bewußtsein dieser Fragen in alle Kreise getragen haben. Die Worte wechseln, aber die Sache ist überall die gleiche : man ist zu der Erkenntnis gelangt, daß die Natur (φύσις) die Grundlage ist, auf der jede Erziehung aufbauen muß. Der Aufbau selbst vollzieht sich als Lernen (μάθησις) bzw. Lehren (διδασκαλία) und als Übung (άσκησις), die das Gelernte zur zweiten Natur m a c h t 1 . Hier ist der Versuch einer Synthese der alten entgegengesetzten Standpunkte der Adelspaideia und des Rationalismus gemacht unter grundsätzlicher Preisgabe der aristokratischen Blut-Ethik. An die Stelle des göttlichen Bluts tritt jetzt der allgemein gefaßte Begriff der N a t u r des Menschen in seiner ganzen individuellen Zufälligkeit und Vieldeutigkeit, aber mit seinem sehr viel weiteren Umfang. Das ist ein ungeheuer folgenreicher Schritt, er wurde erst möglich mit Hilfe der damals eben frisch aufstrebenden jungen Wissenschaft der Medizin. Sie war lange Zeit eine primitive Feldscherkunst geblieben, mit vielerlei volksmedizinischem Aberglauben und Beschwörungswesen vermischt, bis der Aufschwung der Erkenntnis der 1

Vgl. das Fragment aus dem 'Großen Logos' des Protagoras Β 3 Diels»

[II387]

387

Natur in Ionien und die Ausbildung einer geregelten Empirie auch auf die Heilkunde zu wirken anfing und die Arzte zu wissenschaftlicher Beobachtimg des menschlichen Körpers und der Vorgänge in ihm anleitete. In diesen Kreisen der wissenschaftlichen Medizin ist der Begriff der menschlichen Natur entsprungen, dem wir bei den Sophisten und ihren Zeitgenossen so oft begegnen 1 . Der Begriff der Physis ist von dem Ganzen des Alls auf das Einzelne, auf den Menschen übertragen worden. Hier hat er seine individuelle Färbung erhalten. Der Mensch unterliegt gewissen Regeln, die seine Natur ihm vorschreibt und von deren Erkenntnis seine Lebensweise im gesunden wie im kranken Zustande ausgehen muß, wenn sie das Richtige treffen soll. Von dem medizinischen Begriff der menschlichen Physis, die hier zuerst als körperlicher Organismus von bestimmter Beschaffenheit erkannt und danach behandelt wurde, schritt man bald zu einem erweiterten Begriffe der menschlichen Natur fort, wie ihn die Sophisten ihrer Erziehungstheorie zugrunde legen, die darunter das Ganze aus Leib und Seele, vor allem aber die innere Anlage des Menschen verstehen. In ähnlichem Sinne gebraucht in jener Zeit auch der Historiker Thukydides den Begriff der menschlichen Natur, er wandelt ihn aber seinem Gegenstande entsprechend zur Bedeutung der sozialen und moralischen Natur des Menschen. Die Idee der menschlichen Natur, wie sie hier zuerst gefaßt worden ist, ist keineswegs als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, sie ist selbst eine grundlegende Tat des griechischen Geistes. Erst durch sie wird eine eigentliche Bildungslehre möglich. Die tiefen religiösen Probleme, die in dem Wort „Natur" beschlossen sind, haben die Sophisten nicht entwickelt. Ein gewisser optimistischer Glaube, daß die Natur des Menschen in der Regel erziehbar und zum Guten befähigt sei, ist ihre Voraussetzung; der unglücklich oder zum Schlechten Veranlagte ist die Ausnahme. Dies ist bekanntlich der Punkt, wo die christliche religiöse Kritik des Humanismus zu allen Zeiten eingesetzt hat. Der pädagogische Optimismus der Sophisten 1 Der Begriff der menschlichen Natur in der ärztlichen Literatur des hippokratischen Corpus bedarf dringend einer Untersuchung.

388

[II388]

ist freilich nicht das letzte Wort des griechischen Geistes zu dieser Frage, aber wären die Griechen ausgegangen vom allgemeinen Sündenbewußtsein statt vom Ideal der Formung des Menschen, so wäre es niemals zu einer Pädagogik und zu einem Kulturideal gekommen. Es bedarf j a nur der Erinnerung an die Phoinixszene der Ilias, an Pindar und an Plato, um zu ermessen, wie tief von Anfang an auch das Problematische alles Erziehertums den Griechen bewußt war. Es sind naturgemäß besonders die Aristokraten, die diesen Zweifel in sich tragen. Pindar und Plato haben die demokratischen Illusionen der aufgeklärten Massenbildung niemals geteilt. Der Plebejer Sokrates ist der Wiederentdecker dieser adligen Erziehungszweifel. Man muß sich der tief resignierten Worte entsinnen, die Plato im 7. Brief über die engen Schranken gesprochen hat, welche dem Einfluß der Erkenntnis auf die Masse der Menschen gezogen sind, und über die Gründe, weshalb er nicht als Bringer einer Heilsbotschaft an die Unzähligen aufgetreten sei sondern den Kreis um sich so fest geschlossen habe 1 . Aber zugleich muß daran erinnert werden, daß dieser selbe griechische Geistesadel trotzdem der Ausgangspunkt aller höheren und bewußten Menschenbildung gewesen ist, und man wird begreifen, daß gerade in dieser inneren Antinomie zwischen ernsthaftem Zweifel an der Erziehbarkeit und unbrechbarem Bildnerwillen die ewige Größe und Fruchtbarkeit des griechischen Geistes liegt. Zwischen diesen beiden Polen hat sowohl das christliche Sündenbewußtsein und sein Kulturpessimismus wie der sophistische Bildungsoptimismus Platz. Es ist gut, ihn sogleich in der Zeitgebundenheit seiner Voraussetzungen zu erkennen, um dann um so besser seinen Verdiensten gerecht werden zu können. Ihre Würdigung kann nicht ohne Kritik sein, eben weil das, was die Sophisten gewollt und geleistet haben, auch für unsere Zeit noch immer unentbehrlich ist. Keiner hat die aktuelle politische Bedingtheit des sophistischen Bildungsoptimismus klarer durchschaut und packender dargestellt als sein großer Kritiker Plato. Sein 'Protagoras' ist immer wieder die Quelle, aus der wir schöpfen müssen, weil 1

Plat. ep. VII 341 D

[1/389]

389

hier die erzieherische Praxis und die Gedankenwelt der Sophisten als eine große geschichtliche Einheit gesehen und ihre sozialen und politischen Voraussetzungen unwiderleglich aufgedeckt sind. Sie sind immer dieselben, wo die Situation der Erziehung, die die Sophisten vorfanden, sich geschichtlich wiederholt. Die individuellen Unterschiede sophistischer Erziehungsmethoden, auf die ihre Erfinder so stolz sind, bilden fìir Plato freilich nur einen Gegenstand der Erheiterung. Die Persönlichkeiten des Protagoras von Abdera, des Hippias von Elis und des Prodikos von Keos werden auf einmal vorgeführt — sie sind alle gleichzeitig im Hause des reichen Atheners Kallias zu Gast, das sich in ein Gasthaus für geistige Zelebritäten verwandelt hat. Dabei wird trotz aller Verschiedenheiten die auffallende geistige Familienähnlichkeit der Sophisten offenkundig. Als der Bedeutsamste unter ihnen entwickelt Protagoras, der sich anheischig gemacht hat, einen ihm von Sokrates vorgestellten lerneifrigen jungen Athener aus gutem Hause zur politischen Arete zu erziehen, auf die skeptischen Einwände des Sokrates die Gründe seiner Überzeugung von der sozialen Erziehbarkeit des M e n s c h e n E r geht von dem gegebenen Gesellschaftszustand aus. Jeder Mensch pflegt seine Unfähigkeit in irgendeiner Kunst, zu der eine besondere Anlage gehört, offen zuzugestehen, weil das keine Schande bringt. Dagegen Verfehlungen gegen die Gesetze begeht kein Mensch öffentlich sondern wahrt wenigstens den Schein gesetzmäßigen Handelns. Unterließe er das und gestände offen sein Unrecht ein, so würde man das in diesem Fall nicht für Offenherzigkeit sondern für Wahnsinn halten. Denn alle setzen voraus, daß jeder an Gerechtigkeit und Besonnenheit Anteil haben kann. Die Erwerbbarkeit der politischen Arete folgt auch aus dem herrschenden System der öffentlichen Anerkennung und Strafe. Kein Mensch zürnt dem anderen über Mängel, die seiner Natur von Geburt anhaften und die er nicht abzulegen vermag, für die er weder Lob noch Strafe verdient. Beides aber, Lob und Strafe, wird von der menschlichen Gesellschaft dort zuerteilt, wo es sich um Güter handelt, die man durch bewußtes Bemühen und durch 1

390

Plat. Prot. 323 A ff.

[Um]

Erlernung erlangt. Die menschlichen Verfehlungen, die das Gesetz bestraft, müssen also durch Erziehung vermeidbar sein, wenn nicht das ganze System, auf dem die Gesellschaft sich aufbaut, unhaltbar sein soll. Protagoras folgert das Gleiche auch aus dem Sinn der Strafe. Im Gegensatz zu der altgriechischen kausalen Auffassung der Strafe als Vergeltung, w e i l jemand gefehlt hat, bekennt er sich zu einer offenbar ganz modernen Theorie, welche die Strafe final als Mittel zur Besserung des Übeltäters und Abschreckung anderer geübt wissen möchte 1 . Diese pädagogische Auffassung der Strafe beruht auf der Voraussetzung der Erziehbarkeit des Menschen. Die bürgerliche Tugend ist die Grundlage der Staaten, ohne sie würde keine Gemeinschaft bestehen. Wer nicht an ihr Teil hat, muß erzogen, gestraft und zurechtgewiesen werden, bis er besser wird, ist er aber unheilbar, so muß er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder getötet werden. So ist nicht nur die Strafjustiz sondern der ganze Staat für Protagoras eine durch und durch erzieherische Macht. Es ist genauer gesagt der moderne Rechts- und Gesetzesstaat, wie er ihn in Athen verwirklicht sieht, dessen politischer Geist aus dieser folgerichtig pädagogischen Strafauffassung spricht und in ihr seine Rechtfertigung sucht. Diese erzieherische Auffassung der Rechtspflege und der Gesetzgebung des Staates hat eigentlich zur Voraussetzung eine systematische Einflußnahme des Staates auf die Erziehung seiner Bürger, die es aber, wie früher gesagt wurde, außer in Sparta in Griechenland nirgendwo gab. Es ist bemerkenswert, daß die Sophisten nicht für die Verstaatlichung der Erziehung eintraten, obgleich diese Forderung von dem Standpunkt des Protagoras aus eigentlich recht nahe lag. Aber in diese Lücke traten j a eben die Sophisten ein, indem sie nach privater Vereinbarung ihre Erziehung anboten. Protagoras weist nach, daß schon jetzt das Leben des Individuums von Geburt an erzieherischen Einflüssen untersteht. Amme, Mutter, Vater, Pädagog wetteifern darin, das Kind zu formen, indem sie es lehren und ihm zeigen, was Recht und Unrecht, schön und häßlich ist. Wie ein sich 1

[11391/

Plat. Prot. 324 Α — Β

391

ziehendes und krümmendes Holz suchen sie es zurechtzubiegen mit Drohungen und Schlägen. Dann kommt es in die Schule, lernt Ordnung und erwirbt die Kenntnis des Lesens und Schreibens sowie des Kitharaspielens. Ist diese Stufe überschritten, so legt der Lehrer ihm Gedichte guter Dichter vor und läßt sie auswendig lernen. Sie enthalten viele Ermahnungen und lobende Erzählungen von hervorragenden Männern, deren Beispiel das Kind zur Nachahmung antreiben soll. Daneben wird es durch den Unterricht in der Musik zur Sophrosyne erzogen und von schlechten Streichen abgehalten. Dann folgt das Studium der lyrischen Dichter, deren Werke in Form musikalischer Kompositionen vorgetragen werden. Sie machen Rhythmus und Harmonie den Seelen der Jugend vertraut, um sie zu zähmen, denn das Leben der Menschen bedarf der Eurhythmie und der richtigen Harmonie. Sie soll sich im ganzen Reden und Tun des wahrhaft gebildeten Menschen ausdrücken. Man schickt die Jugend ferner in die Gymnastikschule zum Paidotriben, um ihren Körper zu ertüchtigen, damit er dem tüchtigen Geist der rechte Diener sei und der Mensch niemals aus körperlicher Schwäche im Leben versage. Protagoras trägt dem vornehmen Kreis, vor dem er diesen Vortrag über die Grundvoraussetzungen und die Stufen der Menschenbildung hält, besonders Rechnung durch den Hinweis, daß begüterte Familien ihre Kinder länger ausbilden lassen als die ärmere Klasse. Die Söhne der Reichen fangen früher an zu lernen und hören später damit auf. Er will damit beweisen, daß jeder Mensch seinen Kindern so sorgfältige Erziehung angedeihen läßt wie irgend möglich, daß also die Erziehbarkeit des Menschen die communis opinio der ganzen Welt ist und daß praktisch die Erziehung von jedermann unbedenklich geübt wird. Für den neuen Bildungsbegriff ist bezeichnend, daß Protagoras die Erziehung nicht mit dem Austritt aus der Schule abgeschlossen sein läßt. Sie fängt jetzt in gewissem Sinne eigentlich erst an. Wieder ist es die herrschende Staatsauffassung seiner Zeit, die sich in der Theorie des Protagoras spiegelt, wenn er die Gesetze des Staates als die Erzieher zur politischen Arete ansieht. Die eigentlich staatsbürgerliche Bildung beginnt damit, daß der aus der Schule entlassene junge Mann bei seinem Eintritt ins 392

[1/392]

tätige Leben vom Staate gezwungen wird die Gesetze kennen zu lernen und nach ihrem Muster und Beispiel (παράδειγμα) zu leben. Hier ist die Umformung der alten Adelspaideia in die moderne Bürgererziehung mit Händen zu greifen. Der Vorbildgedanke beherrscht die adlige Erziehung von Homer an. Im persönlichen Vorbild tritt dem Erzogenen die Norm leibhaftig vor Augen, die er befolgen soll, und der bewundernde Blick auf ihre Verkörperung in der menschlichen Idealgestalt soll ihn zur Nachahmung reizen. Dieses persönliche Element der Nachfolge (μίμησις) fällt beim Gesetze fort. In dem abgestuften System der Erziehung, das Protagoras entwickelt, ist es zwar nicht ganz verschwunden, aber es ist auf eine niedrigere Stufe gerückt: es haftet an dem elementaren, noch rein inhaltlichen Unterricht in der Poesie, der, wie wir sahen, nicht auf die Form, auf Rhythmus und Harmonie des Geistes gerichtet war, sondern auf das moralisch Regelhafte und auf das geschichtliche Beispiel. Daneben ist das normative Element des Vorbildes in der Auffassung des Gesetzes als höchsten Erziehers der Bürger festgehalten und verstärkt, denn das Gesetz ist der allgemeinste und bündigste Ausdruck der geltenden Norm. Das Leben nach dem Gesetz vergleicht Protagoras bildlich mit der elementaren Erziehung des Schreibunterrichts, wo die Kinder lernen müssen nicht über die Linie zu schreiben. Eine solche Schönschreiblinie ist auch das Gesetz, die Erfindung vorzüglicher alter Gesetzgeber. Protagoras hatte den Erziehungsvorgang mit dem Zurechtbiegen eines Holzes verglichen; wenn die Sprache des Rechts die Strafe, die den von der Linie Abweichenden zu ihr zurückführt, als Euthyne, „Geraderichtung" bezeichnet, so offenbart sich nach Ansicht des Sophisten auch darin die erzieherische Funktion des Gesetzes. I m athenischen Staat war das Gesetz nicht nur „ K ö n i g " , wie man in jener Zeit gern aus Pindar zitierte, es war auch die hohe Schule der Bürgerschaft. Heutigem Empfinden liegt dieser Gedanke ziemlich fern. Das Gesetz ist nicht mehr die Erfindung altehrwürdiger Gesetzgeber sondern ein Geschöpf des Augenblicks, was es auch in Athen nur zu bald werden sollte, und es ist selbst für Spezialisten nicht mehr übersehbar. I n unseren Tagen wäre es kaum vorstellbar, daß dem Sokrates im Gefang-

/.1/393]

393

nis im Augenblick, wo sich ihm die Tür zur Freiheit und Flucht öffnet, die Gesetze als lebendige Gestalten erscheinen und ihn ermahnen, ihnen auch in der Stunde der Versuchung treu zu bleiben, weil sie es gewesen sind, die ihn sein ganzes Leben lang erzogen und beschützt haben und weil sie der Grund und Boden seiner Existenz sind. A n diese Szene in Piatos 'Kriton' erinnert, was Protagoras über die Gesetze als Erzieher sagt Er formuliert damit nur den Geist des Rechtsstaates seiner Zeit. Wir würden die Wahlverwandtschaft seiner Pädagogik mit dem attischen Staat herausspüren, auch wenn er nicht mehrmals ausdrücklich auf die athenischen Verhältnisse Bezug nähme und es ausspräche, daß der attische Staat und seine Einrichtung auf dieser Auffassung des Menschen beruhe. O b Protagoras dieses Bewußtsein selbst gehabt, oder ob Plato es ihm in der genialen aber künstlerisch freien Nachahmung seines Lehrvortrages im 'Protagoras' von sich aus beigelegt hat, können wir nicht mehr entscheiden. Sicher ist nur, daß Plato zeitlebens der Ansicht war, daß die Erziehung der Sophisten eine den tatsächlichen politischen Verhältnissen abgelauschte Kunst war. Alles was Protagoras bei Plato vorbringt, zielt auf die Frage der Erziehbarkeit. Sie wird aber von den Sophisten nicht nur aus den Voraussetzungen von Staat und Gesellschaft und aus dem politischen und moralischen common sense abgeleitet, sondern in einen noch umfassenderen Zusammenhang hineingestellt. Das Problem der Bildsamkeit der menschlichen Natur ist ein Sonderfall des Verhältnisses von Natur und Kunst im allgemeinen. Sehr lehrreich sind für diese Seite der Theorie die Ausführungen des Plutarch in seiner für den Humanismus der Renaissance grundlegenden Schrift über Jugenderziehung, die unendlich oft herausgegeben und deren Gedankengehalt von der neueren Pädagogik völlig aufgesogen worden ist. Der Verfasser selbst gesteht in der Einleitung z , was wir auch ohnedies bemerken würden, daß er die ältere Erziehungsliteratur kennt und benutzt. Das erstreckt sich nicht nur auf den einzelnen Punkt, für den er sich auf sie beruft sondern auch auf das folgende Kapitel, in dem er die drei Grundfaktoren aller Er1 2

394

Plat. Kriton 50 A vgl. Prot. 326 C Plut, de üb. educ. 2 A ff.

[1/394]

ziehung: Natur, Lernen, Gewöhnung behandelt. Daß er hier auf dem Boden der älteren pädagogischen Theorie steht, ist ohne weiteres deutlich. Es ist für uns sehr erwünscht, daß er zugleich mit der auch sonst als sophistisch bekannten 'pädagogischen Dreiheit' eine Gedankenreihe erhalten hat, die mit dieser Lehre eng zusammenhängt und die geschichtliche Tragweite des Bildungsideals der Sophisten hell beleuchtet. Plutarchs Quelle erläuterte das Verhältnis jener drei Elemente der Erziehung an dem Beispiel des Ackerbaus als dem Grundfall der Bearbeitung der Natur durch bewußte menschliche Kunst. Zum richtigen Ackerbau bedarf es zuerst eines guten Bodens, dann eines kunstverständigen Landmannes, schließlich eines guten Samens. Der Boden für die Erziehung ist die Natur des Menschen, dem Landmann entspricht der Erzieher, der Same sind die Lehren und Vorschriften, die das gesprochene Wort übermittelt. Wo alle drei Bedingungen restlos erfüllt sind, kommt das Außerordentliche zustande. Aber auch wo eine Natur von geringeren Gaben die richtige Pflege durch Erkenntnis und Gewöhnung findet, kann der vorhandene Mangel zum Teil ausgeglichen werden, während umgekehrt selbst die reich ausgestattete Natur verkommt, wo sie vernachlässigt wird. Gerade diese Erfahrung macht die Erziehungskunst unentbehrlich. Das der Natur Abgerungene wird schließlich stärker als die Natur selber. Guter Boden wird unergiebig, wenn er keine Pflege findet, er wird dabei um so schlechter, je besser er von Natur ist. Weniger gutes Erdreich bringt, richtig und unablässig bearbeitet, am Ende edle Früchte hervor. Ebenso steht es mit der Baumzucht, der anderen Hälfte der Landwirtschaft. Das Beispiel des Körpertrainings und der Tierdressur ist ebenfalls ein Beweis für die Bildsamkeit der Physis. Man muß nur im richtigen, bildsamsten Augenblick mit der Arbeit einsetzen, das ist beim Menschen das kindliche Alter, wo die Natur noch weich ist und das Gelernte noch leicht mit der Seele verschmilzt und sich ihr einprägt. Es ist leider nicht mehr möglich Gedankengang sauber zu scheiden. ren nachsophistischer Philosophie ungen vereinigt. So stammt die [IÍ395]

Frühes und Spätes in diesem Plutarch hat offenbar Lehmit sophistischen AnschauVorstellung der Bildsamkeit 395

(εύττλαστον) der jugendlichen Seele vielleicht von Plato und der schöne Gedanke, daß die Kunst ein Ausgleich der Mängel der Natur ist, kehrt bei Aristoteles wieder 2 , wenn nicht beide bereits sophistische Vorgänger voraussetzen. Das schlagende Beispiel des Landbaus scheint dagegen mit der Lehre von der pädagogischen Dreiheit so organisch verbunden, daß es für die sophistische Erziehungslehre in Anspruch genommen werden muß. Es ist auch vor Plutarch bereits in Gebrauch und muß auch aus diesem Grunde auf eine alte Quelle zurückgehen. Durch seine Übertragung ins Lateinische ist der Vergleich der menschlichen Bildung mit der agricultura in das Denken des Abendlandes übergegangen und hat zu der treffenden Neuschöpfung der cultura animi geführt: menschliche Bildung ist 'Geisteskultur'. In diesem Begriff klingt das Bildliche seiner Herkunft von der Bodenkultur noch deutlich mit. Die Bildungslehre des späteren Humanismus hat auch diesen Gedanken auferstehen lassen und ihm Anteil an der zentralen Stellung gegeben, die die Idee der Menschenbildung seither im Denken der 'Kulturvölker' einnimmt. Es paßt zu unserer Charakteristik der Sophisten als erster Humanisten, daß sie die Schöpfer des Begriffs der Kultur geworden sind, wenn sie auch nicht ahnen konnten, daß dieses Bild einmal den einfachen Begriff der Erziehung des Menschen so sehr in Schatten stellen und zum höchsten Symbol der Gesittung werden würde. Aber dieser Siegeslauf des Kulturgedankens ist innerlich berechtigt, denn in diesem fruchtbaren Vergleich drückt sich die neue allgemeingültige Grundlegung des griechischen Bildungsgedankens aus, der damit als die höchste Anwendung des allgemeinen Gesetzes der Veredlung und Verbesserung der Natur durch den bewußten Menschengeist gekennzeichnet wird. Es erweist sich hier, daß die Verbindung von Pädagogik und Kulturphilosophie, die die Überlieferung für die Sophisten, vor allem für Protagoras bezeugt, eine innerlich notwendige war. Das Ideal der Menschenbildung ist für Plat. Pol. 377 Β Die Partie des verlorenen 'Protreptikos', wo Aristoteles diesen G e danken entwickelte, ist ans der gleichnamigen Schrift des Neuplatonikers Iamblichos wiedergewonnen in meinem 'Aristoteles' S. 75. 1

2

396

[1/396]

ihn der Gipfel der Kultur in jenem weitesten Sinne, wo sie alles umspannt, was zwischen den Uranfängen der Bezwingung der elementaren Natur durch den Menschen und der Höhe der Selbstformung' des menschlichen Geistes liegt. In dieser tiefen und breiten Grundlegung des Erziehungsphänomens offenbart sich wieder die aufs Allgemeine und Ganze des Seins gerichtete Natur des griechischen Geistes. Ohne sie wäre weder die Idee der Kultur noch die der Menschenbildung in dieser plastischen Gestalt ans Licht getreten. So wichtig nun aber auch diese tiefere philosophische Begründung der Erziehung ist, hat der Vergleich mit der Kultur des Ackers für die Methode der Erziehung selbst doch nur beschränkten Wert. Die Kenntnisse, die durch das Lernen in die Seele gesenkt werden, stehen zu ihr in einem anderen Verhältnis als der Same zum Erdreich. Die Erziehung ist kein bloßer von selbst fortschreitender Wachstumsprozeß, den der Erzieher willkürlich herbeiführt und durch seine Mittel nährt und fördert. Wir haben schon früher des Vorbildes der körperlichen Erziehung des Menschen durch das gymnastische Training gedacht, dessen altererbte Erfahrungen für die neue Seelenbildung das nächstliegende Beispiel darboten. Wie man im Hinblick auf die bildende Kunst die Bearbeitung des lebendigen Körpers als einen Akt der Formung ansah, so erscheint dem Protagoras die Erziehung als eine F o r m u n g der Seele und die Mittel der Erziehung als formende Kräfte. O b die Sophisten den bestimmten Begriff der Formung oder Bildung schon für den Erziehungsvorgang verwendet haben, läßt sich nicht sicher sagen; im Prinzip ist ihr Gedanke der Erziehung nichts anderes. Es kann also gleichgültig sein, daß vielleicht erst Plato den Ausdruck „bilden" (πλάττειν) gebraucht hat. Wenn Protagoras durch die Einprägung des dichterischen und musikalischen Rhythmus und der Harmonie die Seele rhythmisch und harmonisch machen will, so liegt dabei der Formungsgedanke bereits zugrunde. Protagoras beschreibt an jener Stelle nicht den Unterricht, den er selbst gibt sondern den, welchen jeder Athener mehr oder weniger genießt und den die vorhandenen privaten Schulen erteilen. Es ist anzunehmen, daß der Unterricht der Sophisten im gleichen Sinne auf diesem aufbaute, vor allem in den for[1/397]

397

malen Disziplinen, die ein Hauptstück der sophistischen Erziehung waren. Vor den Sophisten ist von Grammatik, Rhetorik und Dialektik nirgendwo die Rede, sie müssen daher als deren Schöpfer gelten. Die neue Techne ist offenbar der methodische Ausdruck des Prinzips der Formung des Geistes, da sie von der Form der Sprache, der Rede und des Denkens ausgeht. Diese pädagogische Tat ist eine der größten Entdeckungen des Menschengeistes. Er wird sich dadurch in diesen drei Bereichen seiner Tätigkeit zum erstenmal des verborgenen Gesetzes seiner eigenen Struktur bewußt. Unsere Kenntnis dieser großen Leistungen der Sophisten ist leider äußerst lückenhaft. Ihre grammatischen Schriften sind verloren, aber auf ihnen haben die Späteren, Peripatetiker und Alexandriner, weitergebaut. Manche Einblicke tun wir durch Piatos Parodie in die Synonymik des Prodikos von Keos, daneben hören wir einiges über die Einteilung der Wortarten durch Protagoras und über die Lehre des Hippias von der Bedeutung der Buchstaben und S i l b e n D i e Rhetorik der Sophisten ist gleichfalls verloren; ihre Lehrbücher waren von vornherein nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Ein Nachzügler dieses Typus ist die Rhetorik des Anaximenes, die großenteils mit ererbten Begriffen arbeitet und von der sophistischen Rhetorik noch ein gewisses Bild gibt. Besser ist uns die Disputierkunst der Sophisten noch erkennbar. Zwar ihr Hauptwerk, die 'Antilogien' des Protagoras, ist verloren. Aber der erhaltene Traktat eines unbekannten dorisch schreibenden Sophisten vom Ausgang des 5. Jhrh., die 'Doppelten Reden' (δισσοί λόγο»), gewährt einen Einblick in diese merkwürdige Methode, über dieselbe Sache „nach beiden Seiten" zu reden, also sie bald anzugreifen bald zu verteidigen. Zur Logik kommt es erst in Piatos Schule, und die taschenspielerische Eristik mancher Sophisten niedrigen Grades, gegen deren Unwesen die ernste Philosophie kämpft, zeigt in der Karikatur des platonischen 'Euthydem', wie stark die neue Disputierkunst von Anfang an als Waffe im Redekampf gedacht war. Sie ist darin der Rhetorik verwandter als der wissenschaftlichen Theorie der Logik. 1 Die wenigen Zeugnisse sind gesammelt bei Diels, Vorsokratiker, Prodikos A 13 ff., Prot. A 24—28, Hipp. A 1 1 — 1 2 .

398

[1/398]

Die Bedeutung der formalen Bildung der Sophisten müssen wir in Ermangelung fast jeder direkten Überlieferung vor allem aus ihrer ungeheuren Wirkung auf Mit- und Nachwelt erkennen. Dieser Bildung verdanken die Zeitgenossen die unerhörte Bewußtheit und überlegene Kunst im A u f b a u der Rede und in der Beweisführung wie in jeder anderen Form der Gedankenentwicklung von der schlichten Erzählung eines Sachverhalts bis zur Erregung der stärksten Leidenschaften, deren sämtliche Tonarten die Redner wie eine Klaviatur beherrschen. Hier ist die 'Gymnastik des Geistes' zu Hause, die wir im Ausdruck der modernen Redner und Schriftsteller so oft vermissen. Wir haben bei den attischen Rednern jener Zeit wirklich das Gefühl, daß der Logos ein sich zum Ringkampf Entkleiden ist. Die Straffheit und Elastizität eines gutgebauten Beweises gleicht dem sehnigen trainierten Körper eines Athleten, der in bester Form ist. Die Gerichtsverhandlung heißt im Griechischen Agon, sie ist für griechisches Empfinden immer der Kampf zweier Gegner in legalisierten Formen geblieben. Neuere Forschung hat gezeigt, wie in der ältesten gerichtlichen Redekunst zur Zeit der Sophisten an die Stelle der altertümlichen gerichtlichen Beweisführung durch Zeugen, Folter und Eid mehr und mehr der logisch argumentierende Beweis der neuen Rhetorik t r i t t A b e r auch ein so ernster Wahrheitsforscher wie der Geschichtschreiber Thukydides zeigt sich von der formalen Kunst der Sophisten bis in die Einzelheiten der Redetechnik, des Satzbaus, j a des grammatischen Wortgebrauchs, der „Orthoepie" beherrscht. Die Rhetorik ist die herrschende Bildung der Spätantike geworden. Der formalen Anlage des griechischen Volkes entsprach sie so sehr, daß sie ihm zum Verhängnis geworden ist, weil sie schließlich alles übrige wie eine Schlingpflanze überwucherte. Diese Tatsache darf das Werturteil über die erzieherische Bedeutung der neuen Erfindung nicht beeinflussen. Im Bunde mit der Grammatik und Dialektik ist die Rhetorik die Grundlage der formalen Bildung des Abendlandes geworden. Sie bilden zusammen das seit dem späten Altertum sogenannte Trivium, das mit dem Quadrivium zum System der sieben freien Künste verschmolzen 1 V g l . F. Solmsen, Antiphonstudien (Neue Philologische Untersuchungen hrsg. v. W Jaeger Bd. 8) S. 7

[1/399]

399

wurde, und haben in dieser schulmäßigen Gestalt allen Glanz der antiken Kultur und Kunst überdauert. Die Oberklassen der französischen Gymnasien tragen noch heute die aus der mittelalterlichen Klosterschule stammenden Namen jener „Disziplinen" als Zeichen der ununterbrochenen Überlieferung der sophistischen Bildung. Die Sophisten selbst haben noch nicht jene drei formalen Künste mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie zu dem späteren System der sieben freien Künste zusammengestellt. Aber die Zahl sieben ist schließlich das wenigst Originelle daran, und die allgemeine Einbeziehung der von den Griechen sogenannten Mathemata, zu denen seit den Pythagoreern auch Harmonik und Himmelskunde gehörte, in die höhere Bildung, also gerade das Wesentliche an der Verbindung des Trivium und Quadrivium, ist wirklich das Werk der Sophisten 1 . Nur der praktische Musikunterricht war schon vor ihnen allgemein in Gebrauch, wie j a auch die Beschreibung, die Protagoras von dem herrschenden Erziehungswesen gibt, es voraussetzt. Die musikalische Unterweisung lag in der Hand des Kitharisten. Die Sophisten fügten die theoretische Lehre der Pythagoreer von den Harmonien hinzu. Eine für alle Zeiten grundlegende Tat war die Einführung des Unterrichts in Mathematik. In den Kreisen der sogenannten Pythagoreer war sie ein Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung gewesen. Erst durch den Sophisten Hippias wird ihr unersetzlicher pädagogischer Wert erkannt, auch andere Sophisten wie Antiphon und später Bryson haben sich forschend und lehrend mit Problemen der Mathematik beschäftigt, und seither ist sie aus der höheren Bildung nicht wieder verdrängt worden. Das griechische System der höheren Bildung, wie die Sophisten sie aufgebaut haben, beherrscht heute die ganze zivilisierte Welt. Sie hat sich allgemein durchgesetzt, zumal da zu ihr keine Kenntnis der griechischen Sprache erforderlich ist. Es darf niemals vergessen werden, daß nicht nur die Idee der ethisch-politischen Allgemeinbildung, in der wir die Ursprünge unsrer humanistischen Bildung erkannten, sondern auch 1

400

Vgl. Hippias Α η—12 Diels [1/400]

die sogenannte realistische Bildung, die mit der humanistischen teils wetteifert teils sie bekämpft, von den Griechen geschaffen ist und unmittelbar von ihnen abstammt. Was wir heute im engeren Sinne die humanistische Bildung nennen, die nicht ohne Kenntnis der Originalsprachen der klassischen Literatur zu denken ist, konnte überhaupt erst auf dem Boden einer nichtgriechischen, doch von der griechischen geistig aufs tiefste beeinflußten Kultur wie der römischen erwachsen. Die zweisprachige griechisch-lateinische Bildung ist vollends erst eine Schöpfung des Humanismus der Renaissance. Ihre Vorstufen in der Kultur des späteren Altertums werden uns noch beschäftigen. In welchem Sinne die Sophisten den Unterricht in der Mathematik erteilt haben, wissen wir nicht. Ein Haupteinwand der öffentlichen Kritik gegen diese Seite der sophistischen Erziehung war die Nutzlosigkeit der Mathematik für das praktische Leben. Plato fordert bekanntlich die Einordnung der Mathematik in seinen Unterrichtsplan als Propädeutik der Philosophie Nichts mußte den Sophisten ferner liegen als diese Auffassung. Es ist aber auch keineswegs sicher, ob wir berechtigt sind ihnen die Begründung zuzuschreiben, mit der Isokrates, ein Schüler der sophistischen Rhetorik, nach anfänglicher langjähriger Gegnerschaft die Mathematik schließlich gelten ließ, nämlich als ein Mittel der formalen Schulung des Verstandes, das nur keinen zu breiten R a u m beanspruchen dürfe 2 . Die Mathemata stellen in der Bildung der Sophisten das reale, Grammatik, Rhetorik und Dialektik das formale Element dar. Für eine solche Scheidung in zwei Gruppen von Fächern spricht auch die spätere Einteilung der sieben freien Künste in das Trivium und Quadrivium. Man blieb sich der verschiedenen erzieherischen Aufgabe beider Gruppen offenbar dauernd bewußt. Das Streben, beide Zweige zu vereinigen, beruht schon auf dem Gedanken der Harmonie oder wie bei Hippias selbst auf dem Ideal der Universalität und ist nicht einfach durch Addition entstanden 3. Es ist endlich auch an sich nicht wahrscheinlich, daß die MaPlat. Pol. 536 D Isokr. Antid. 265 Panath. 26 3 Plat. Hipp. mai. 285 Β zeigt nur das enzyklopädische Vielerlei seines Wissens, Hipp. min. 368 Β das bewußte Streben nach Allseitigkcit, da er den Ehrgeiz hat, auch alle Handwerksarten zu beherrschen. 1

2

[1/401J

401

themata, zu denen auch die — damals noch nicht sehr mathematische — Astronomie gehörte, als bloße formale Geistesgymnastik betrieben wurden. Die praktische Unverwendbarkeit dieses Wissens in der damaligen Zeit scheint in den Augen der Sophisten kein durchschlagender Einwand gegen seinen erzieherischen Wert gewesen zu sein. Sie müssen die Mathematik und Astronomie um ihres theoretischen Werts willen geschätzt haben. Wenn sie selbst auch in der Mehrzahl keine produktiven Forscher waren, steht dies doch gerade von Hippias fest. Der Wert des rein Theoretischen für die Bildung des Geistes ist hier zum erstenmal anerkannt worden. Es waren ganz andere Fähigkeiten, die durch diese Wissenschaften entwickelt wurden, als die technisch-praktischen, die durch Grammatik, Rhetorik und Dialektik geweckt werden sollten. Die konstruktive und zergliedernde, überhaupt die Denk-Kraft des Geistes wurde in dem Vorgang der mathematischen Erkenntnis gestählt. Zu einer Theorie dieser Wirkung ist es bei den Sophisten nirgendwo gekommen. Erst Plato und Aristoteles haben das volle Bewußtsein der erzieherischen Bedeutung der reinen Wissenschaft ausgebildet. Aber der Scharfblick der Sophisten, der sogleich das Richtige getroffen hat, verdient von uns gewürdigt zu werden, wie die Geschichte der späteren Erziehung ihn nach Gebühr gewürdigt hat. Mit der Einführung des wissenschaftlich-theoretischen Unterrichts mußte sogleich die Frage auftauchen, wie weit man diese Studien treiben solle. Überall wo in jener Zeit von wissenschaftlicher Erziehung gesprochen wird, bei Thukydides Plato Isokrates Aristoteles, finden wir die Reflexe dieser Frage wieder. Es waren keineswegs nur die Theoretiker, die sie erhoben, sondern wir erkennen deutlich in ihr den Nachhall des Widerstandes, auf den die neue Bildung mit ihrer ungewohnten, scheinbar Zeit und Kraft raubenden Vertiefung in rein geistige, lebensabgewandte Studien in weiten Kreisen stieß. Die ältere Zeit kannte diese Geisteshaltung nur als Ausnahmeerscheinung an einzelnen gelehrten Sonderlingen, die sich gerade in ihrer merkwürdigen Loslösung von dem gewöhnlichen bürgerlichen Leben und seinen Interessen und mit ihrer halb spöttisch halb bewundernd bemerkten Originalität einer gewissen Anerkennung und freund402

IV402]

lichen Duldung erfreut hatten. Das wurde anders in dem Augenblick, wo dieses Wissen den Anspruch erhob, die wahre und 'höhere' Bildung zu sein und sich an die Stelle der bisherigen Erziehung zu setzen oder ihr überzuordnen. Der Widerstand kam nicht so sehr aus dem berufstätigen Volk, das von dieser Bildung von vornherein ausgeschlossen blieb, weil sie 'unnütz' und kostspielig war und sich nur an die führenden Kreise wandte. Zur Kritik fähig war nur die Oberschicht, die seit jeher im Besitz einer höheren Erziehung und sicherer Maßstäbe war, mit ihrem auch unter der Demokratie im wesentlichen unverändert gebliebenen Gentleman-Ideal der Kalokagathie. Politisch führende Männer wie Perikles und gesellschaftlich tonangebende Persönlichkeiten wie Kallias, der reichste Mann Athens, gaben das Beispiel der leidenschaftlichen Vorliebe für die Studien, und viele vornehme Leute schickten ihre Söhne zu den Vorträgen der Sophisten. Aber man konnte die Gefahr nicht verkennen, die die σοφία für den aristokratischen Mannestypus in sich barg. Zu Sophisten wollte man seine Kinder nicht erziehen. Einzelne begabte Sophistenschüler, die mit ihren Lehrern von Stadt zu Stadt zogen und aus dem Gelernten selbst einen Beruf zu machen beabsichtigten, empfand der vornehme junge Athener, der diesen Vorträgen beiwohnte, nicht gerade als nachahmungswürdige Vorbilder, sie ließen ihn eher den Standesunterschied der Sophisten empfinden, die selbst durchweg von bürgerlicher Herkunft waren, und riefen die Grenze ins Bewußtsein, bis zu der man sich ihrer Einwirkung hingeben konnte 1 . In der Leichenrede des Perikles hat Thukydides auch den Staat seinen Vorbehalt gegenüber der neuen Intelligenz anmelden lassen, denn so hoch er den Geist auch stellt, vergißt er doch nicht zu dem φιλοσοφοΟμεν sein warnendes άνευ μαλακίας hinzuzufügen: Geistesbildung ohne Erschlaffung 2 . Diese Formel ist in ihrer strengen und wachsamen Freude an der Blüte der Studien ungemein aufschlußreich für die Haltung der regierenden Schicht Athens in der zweiten Hälfte des 5. Jhrh. Sie erinnert an das Streitgespräch zwischen 'Sokrates' — 1 =

Plat. Prot. 3 1 2 A , 3 1 5 A Thuk. II 40, ι

[11403]

403

der hier ganz Plato selbst ist — und dem athenischen Aristokraten Kallikles in Piatos 'Gorgias' über den Wert des reinen Forschens für die Bildung des vornehmen, im Staat tätigen Mannes x. Wissenschaft als Lebensberuf lehnt Kallikles heftig ab. Sie ist gut und nützlich, um die jungen Menschen in dem gefährdeten Alter, wo sie zum Mann heranreifen, von törichten Streichen abzuhalten und ihren Verstand zu trainieren. Wer solche Interessen nicht von frühauf gekannt hat, wird niemals ein wirklich freier Mensch. Aber wer umgekehrt sein ganzes Leben in dieser engen Atmosphäre zubringt, wird niemals ein ganzer Mann sondern bleibt auf einer jugendlichen Stufe der Entwicklung stehen. Die Grenze, bis zu der man sich mit diesem Wissen beschäftigen soll, zieht Kallikles mit den Worten, man solle es „um der Bildung willen" durchmachen, d. h. eine Zeit lang als bloßes Durchgangsstadium. Kallikles ist dêr Typus seiner Gesellschaftsklasse. Piatos Stellung zu ihm braucht uns hier nicht zu kümmern. £benso skeptisch wie Kallikles stand mehr oder weniger die ganze athenische vornehme Welt und bürgerliche Gesellschaft zu dem neuen geistigen Enthusiasmus ihrer Jugend. Nur der Grad der Zurückhaltung war individuell verschieden. Auf die Komödie werden wir noch zu sprechen kommen. Sie ist einer unserer wichtigsten Zeugen. Kallikles ist selbst Sophistenschüler, wie jedes seiner Worte verrät. Aber er hat als Politiker später gelernt diese Stufe seiner Bildung dem Ganzen seiner staatsmännischen Laufbahn einzuordnen. Er zitiert Euripides, dessen Werk der Spiegel aller Zeitprobleme ist. Dieser hatte die beiden gegensätzlichen modernen Typen des Tatmenschen und des geborenen Theoretikers und Träumers in seiner 'Antiope' auf die Bühne gebracht, und der Mann des tätigen wagemutigen Lebens sprach schon dort zu seinem ihm an Wesen so ungleichen Bruder ähnlich wie Kallikles zu Sokrates. Es ist merkwürdig, daß dieses Drama das Vorbild des altrömischen Dichters Ennius werden sollte, bei dem der junge Held Neoptolemus, der Sohn des großen Achill, das Wort spricht: philosophait sed paucis 2. Es ist von jeher empfunden 1

Plat. Gorg. 484 C ff. Ennianae Poesis Reliquiae ree. J . Vahlen 1 S. 191, ich zitiere den Vers in der ciceronischen Schlagwortform. 1

404

[1/404]

worden, daß die Haltung des durch und durch praktischen und politischen römischen Geistes zur griechischen Philosophie und Wissenschaft in diesem Vers wie ein historisches Gesetz seinen lapidaren Ausdruck gefunden hat. Allein dieses „Römerwort", bei dem viele unserer Philhellenen erschauern, ist ursprünglich aus griechischem Munde gekommen. Es ist nur Übersetzung und Aneignung der Haltung der vornehmen attischen Gesellschaftsschicht der sophistisch-euripideischen Zeit gegenüber der neuen Wissenschaft und Philosophie. Es spricht sich in ihm keine geringere Fremdheit gegenüber dem Geist der reinen Theorie aus, als die der Römer war und blieb. Die Beschäftigung mit der Forschung „nur um der Bildung willen" 1 , und soweit sie dazu notwendig ist, war die Formel der perikleischen Kultur, denn diese Kultur war durch und durch tätig und politisch. Ihre Grundlage war das attische Reich, dessen Ziel die Herrschaft über Griechenland. Auch als Plato nach dem Sturz des Reiches das „philosophische Leben" als Ideal verkündete, hat er es durch die Zielsetzung seines praktischen Wertes für den Staatsaufbau gerechtfertigt 2 . Nicht anders steht Isokrates' Bildungsidee zur Frage des reinen Wissens. Erst als die Zeit der großen Attiker vorbei ist, erlebt die ionische Wissenschaft in Alexandrien ihre Auferstehung. Diesen Gegensatz des attischen Geistes zu dem stammverwandten ionischen haben die Sophisten überbrücken helfen. Sie waren dazu prädestiniert, Athen die Elemente des Geistes zu vermitteln, deren es für die großen und verwickelten Aufgaben seines Staates nicht entraten konnte und das ionische Wissen der attischen Bildung dienstbar zu machen. Staatskrisis und Erziehung Die Bildungsidee der Sophisten bedeutet einen Höhepunkt in der inneren Geschichte des griechischen Staates. Zwar hatte er nun schon seit Jahrhunderten die Form des Daseins seiner Bürger bestimmt, und sein göttlicher Kosmos war von der Poesie aller Arten gepriesen worden, aber noch niemals war das un1

Plat. Gorg. 485 A Prot. 3 1 2 Β Vgl. Über Ursprung und Kreislauf des philosophischen Lebensideals, Sitz. Beri. Akad. 1928, 394—397 2

[1/405]

405

mittelbare Erziehertum des Staates auf so umfassende Weise dargestellt und begründet worden. Die Bildung der Sophisten war nicht nur einem praktischen politischen Bedürfnis entsprungen, sie nahm den Staat bewußt als Ziel und idealen Maßstab aller Erziehung, und in der Theorie des Protagoras schien es, als ob der Staat schlechthin die Quelle aller erzieherischen Kräfte, j a eine einzige große erzieherische Veranstaltung sei, die alle ihre Gesetze und sozialen Einrichtungen mit diesem Geiste durchdringt. Die Staatsauffassung des Perildes, wie Thukydides sie in der Leichenrede zusammenfaßt, gipfelt in dem gleichen Bekenntnis zum Staat als Erzieher und findet diese Kulturmission des Staates im athenischen Gemeinwesen vorbildlich erfüllt. Die Gedanken der Sophisten sind also in die wirkliche Politik eingedrungen, sie haben den Staat erobert. Eine andere Deutung läßt dieser Tatbestand nicht zu. Perikles und Thukydides sind auch sonst vom Geist der Sophisten erfüllt, sie müssen auch in diesem Punkte die Empfangenden, nicht die Gebenden sein. Ihre erzieherische Staatsauffassung gewinnt an Bedeutung dadurch, daß Thukydides sie mit einer anderen neuen Ansicht vereinigt: im Wesen des modernen Staats liegt sein Streben nach Macht. Zwischen diesen beiden Polen, Macht und Erziehung, ist der Staat der klassischen Zeit eingespannt, denn eine Spannung liegt darin auf alle Fälle, wenn auch der Staat die Menschen ausschließlich für sich erzieht. Die Forderung der Aufopferung des Lebens der Individuen für seine Zwecke setzt voraus, daß diese Zwecke mit dem richtig verstandenen Wohl des Ganzen und seiner Teile in Einklang stehen. Dieses Wohl muß an einer objektiven Norm meßbar sein. Als solche gilt dem Griechen von jeher das Recht, die Dike. Auf sie ist die Eunomie und damit die Eudämonie der Polis gegründet. Für Protagoras heißt denn auch Erziehung zum Staat Erziehung zur Gerechtigkeit. Gerade an diesem Punkte entspringt aber in der Zeit der Sophisten die Krisis des Staates, die zugleich die schwerste Krisis der Erziehung wird. Es hieße die Wirkung der Sophisten maßlos überschätzen, wollte man sie, wie es oft geschieht, allein für diese Entwicklung verantwortlich machen. In ihrer Lehre kommt sie nur am sinnfälligsten zur Erscheinung, weil sie alle Probleme der Zeit mit der hellsten Bewußtheit 406

[11406]

spiegelt und weil die Erziehung jede Erschütterung der geltenden Autorität am stärksten spüren muß. Das sittliche Pathos, mit dem einst Solon die Rechtsidee in den Staat getragen hatte, ist auch in perikleischer Zeit noch in ihm lebendig. Sein höchster Stolz ist sein Amt als Hüter des Rechts auf Erden und als Hort aller ungerecht Bedrängten. Aber auch nach der Einführung der Volksherrschaft war der alte Kampf u m Verfassung und Gesetz niemals zur Ruhe gekommen, die neue Zeit führte ihn nur mit anderen Waffen, von deren Zerstörungskraft und Gefährlichkeit die fromm-biederen Vorfahren noch nichts geahnt hatten. Es gab zwar eine herrschende Auffassung, die die Macht hatte sich durchzusetzen: das war seit dem glücklichen Ausgang der Perserkriege in immer steigendem Maße die demokratische Idee, der zufolge alle Entscheidung und alles Recht bei der zahlenmäßigen Majorität war. Unter blutigen Kämpfen und unter ständig drohender Gefahr des Bürgerkriegs hatte sie sich Bahn gebrochen, und auch die langjährige, fast unangefochtene Herrschaft eines einzelnen überragenden Staatsmannes wie Perikles, der selbst aus dem hochadligen Hause der Alkmeoniden stammte, war nur durch neue weitgehende Erweiterungen der Volksrechte erkauft worden. Doch unter der Oberfläche des offiziellen demokratischen Athens glomm nie verlöschend der Funke der Empörung in den Kreisen der politisch entrechteten Aristokratie oder, wie bei den Gegnern ihr Name hieß, der Oligarchen. Solange die Demokratie außenpolitisch unter der Führung bedeutender Männer von Erfolg zu Erfolg schritt und die Zügel fest in einer H a n d lagen, blieben sie teils aufrichtig loyal, teils waren sie gezwungen volksfreundliche Gesinnung wenigstens zu heucheln und dem Demos nach dem Munde zu reden, eine Kunst, die sich in Athen bald zu erstaunlicher Blüte entfaltete u n d mitunter groteske Formen annahm. Allein der peloponnesische Krieg, der die unaufhaltsam wachsende Macht Athens auf die letzte verhängnisvolle Probe stellte, erschütterte nach dem Tode des Perikles immer schwerer die Autorität der Staatsleitung und damit des Staates selbst und fachte schließlich den Kampf um die Herrschaft im Innern zu höchster Leidenschaft an. Er ist von beiden Parteien mit den Mitteln der neuen sophi[11407]

407

s tischen Rhetorik und Disputierkunst durchgefochten worden, und man kann eigentlich nicht behaupten, daß die Sophisten ihren politischen Anschauungen nach notwendig auf einer von beiden Seiten stehen mußten. Aber wenn noch für Protagoras wie selbstverständlich die gegebene Demokratie „der Staat" schlechthin war, auf den alle seine erzieherischen Bemühungen sich richteten, so finden wir jetzt umgekehrt gerade die Gegner des Demos im Besitz der Waffen, deren Gebrauch sie durch die Bildung der Sophisten gelernt haben. Wenn sie auch nicht ursprünglich gegen den Staat geschmiedet waren, so werden sie jetzt doch für ihn verhängnisvoll, und zwar sind es nicht allein die Künste der Rhetorik sondern vor allem die allgemeinen Gedanken der Sophisten über die Natur von Recht und Gesetz, die in diesem Kampf eine wichtige Rolle spielen. Durch sie wird er aus einem bloßen Parteikampf zu einem Entscheidungskampf der Geister, der an den prinzipiellen Grundlagen der bestehenden Ordnung rüttelt. Für die älteren Zeiten war der Rechtsstaat eine große Errungenschaft gewesen. Dike ist eine mächtige Göttin, niemand darf die ehrwürdigen Grundlagen ihrer Ordnung ungestraft antasten. Das irdische Recht ist verwurzelt im göttlichen. Das ist allgemeine griechische Anschauung. Sie hatte sich beim Übergang von der alten autoritären Staatsform zur neuen vernunftgegründeten Ordnung des Gesetzesstaates nicht geändert, nur der Inhalt, den man für göttlich sanktioniert hielt, hatte sich gewandelt. Die Gottheit hatte die Züge menschlicher Vernunft und Gerechtigkeit angenommen. Doch die Autorität des neuen Gesetzes beruhte nach wie vor auf seiner Übereinstimmung mit dem göttlichen oder, wie die philosophische Denkweise der neuen Zeit sich ausdrücken würde, auf seiner Übereinstimmung mit der Natur. Die Natur war für sie der Inbegriff des Göttlichen geworden. In ihr herrschte dasselbe Gesetz, dieselbe Dike, die in der Welt des Menschen als höchste Norm geachtet wurde. Das war der Ursprung der Idee des Kosmos gewesen 1 . Allein im Laufe des 5. Jhrh. hatte dieses Bild der Natur sich abermals gewandelt. Schon bei Heraklit ging 1 Vgl. S. 219. Zum folgenden vgl. meine Rede Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato (Berlin 1924).

408

[1/408]

der Kosmos aus dem unaufhörlichen K a m p f der Gegensätze immer neu hervor. „ K r i e g ist der Vater aller D i n g e . " Allmählich blieb nur der K a m p f übrig: die Welt erschien als das zufällige Produkt des Zwanges und der Übermacht im mechanischen Spiel der Kräfte. Es ist für uns auf den ersten Blick schwer zu entscheiden, ob diese Naturansicht der erste und ihre Übertragung auf die menschliche Welt erst der zweite Schritt ist, oder o b das, was der Mensch als ewiges Gesetz im Weltall zu erkennen glaubt, nur die Projektion seiner veränderten 'naturalistischen' Ansicht des menschlichen Lebens ist. Alte und neue Weltansicht stehen in sophistischer Zeit dicht neben einander. Euripides läßt in den 'Phoinissen' die Gleichheit, das demokratische Grundprinzip, als das im Walten der Natur hundertfältig zu beobachtende Gesetz rühmen, dem auch der Mensch sich nimmer zu entziehen v e r m ö g e 1 . Aber gleichzeitig wird an d e m Begriff der Gleichheit, wie die Demokratie sie versteht, von anderen die schärfste Kritik geübt und nachgewiesen, daß die Natur diese mechanische „Isonomie" in Wahrheit nirgendw o kennt und in ihr überall der Stärkere herrscht. In beiden Fällen scheint es deutlich, daß das Bild des Seins und seiner dauernden O r d n u n g ganz v o m Menschen her gesehen ist und j e nach seinem verschiedenen Gesichtspunkt in entgegengesetztem Sinne gedeutet wird. Wir haben nebeneinander sozusagen ein demokratisches und ein aristokratisches Natur- und Weltbild. Das neue Weltbild zeigt, daß die Stimmen derer sich mehren, die, statt die geometrische Gleichheit zu verehren, auf die natürliche Ungleichheit der Menschen untereinander pochen und diese Tatsache zum Ausgangspunkt ihres ganzen rechtlichen und staatlichen Denkens machen. Sie stützen sich für ihre A n sicht genau so auf die göttliche Ordnung der Welt wie ihre V o r gänger und können sich dabei sogar schmeicheln, die Erkenntnis der neuesten Naturforschung oder Philosophie auf ihrer Seite zu haben. Die unvergeßliche Verkörperung dieses Prinzips ist K a l likles in Piatos 'Gorgias' 2 . Er ist der gelehrige Schüler der So1 2

[1/409]

Eur. Phoen. 535 ff., vgl. Hik. 495—408 Plat. Gorg. 482 C ff., bes. 483 D

409

phisten; daß seine Anschauung von dieser Seite stammt, beweist das erste Buch von Piatos 'Staat', wo das Recht des Stärkeren seinen Verteidiger in dem Sophisten und Rhetor Thrasymachos findetJede Verallgemeinerung wäre freilich eine Verzerrung des geschichtlichen Bildes. Es wäre ein Leichtes, dem Naturalismus der beiden von Plato bekämpften Gegner einen anderen Typus des Sophisten entgegenzustellen, den lehrhaften Vertreter der überlieferten Moral, der nichts anderes will als die Lebensregeln der gnomischen Dichtung in Prosa übertragen. Aber der Typus Kallikles ist der bei weitem interessantere und, wie Plato ihn zeichnet, auch der stärkere. Es muß unter den athenischen Aristokraten solche Machtnaturen gegeben haben, Plato sind sie o'ffenbar von Jugend an aus seinem Kreise vertraut. Man denkt sogleich an Kritias, den skrupellosen Führer der Reaktion und späteren 'Tyrannen', vielleicht hat er oder ein Gesinnungsgenosse dem Bild des Kallikles, der ein fingierter Name ist, gewisse Porträtzüge geliehen. Bei aller grundsätzlichen Ablehnung, mit der Plato Kallikles gegenübersteht, spürt man in seiner Darstellung doch eine Fähigkeit des inneren Mitempfindens, wie nur der sie hat, der diesen Gegner in der eigenen Brust einmal hat bezwingen müssen oder immer wieder bezwingen muß. Plato erzählt j a selbst im 7. Brief, daß die Leute um Kritias in ihm, gewiß nicht nur wegen seiner Verwandtschaft mit diesem, den geborenen Kampfgenossen gesehen und ihn eine Zeit lang wirklich für ihre Pläne gewonnen hatten. Die Erziehung im Geiste des Protagoras, d. h. im Geiste des überlieferten Ideals der „Gerechtigkeit", wird von Kallikles mit einem Pathos angegriffen, das uns die vollkommene Umwertung aller Werte zugleich gefühlsmäßig miterleben läßt. Was für den athenischen Staat und seine Bürger höchstes Recht ist, heißt ihm der Gipfel der Ungerechtigkeit 2 . „Wir ziehen unsere Besten und Kraftvollsten von Kindesbeinen auf wie Löwen und beschwören und betören und knechten sie, indem wir ihnen vorsagen, es solle sich jeder mit dem Gleichen begnügen, und das sei eben das Edle und Gerechte. Wenn aber einmal ein 1 a

410

Plat. Pol. 338 C Plat. Gorg. 483 E

[1/410J

Mann von wahrhaft kraftvoller Natur kommt, der schüttelt all das ab und zerbricht die Ketten und flieht hinaus und tritt unseren ganzen Buchstabenkram und unsere Hexereien und Zaubermittel und all die widernatürlichen Gesetze unter seine Füße, und er, der Sklave, reckt sich und tritt in die Erscheinung als unser Herr: da bricht der Funke des Rechtes der Natur hervor." Das Gesetz ist für diese Ansicht eine künstliche Schranke, eine Konvention der organisierten Schwachen, um ihre natürlichen Herren, die Stärkeren, zu fesseln und zu zwingen ihren Willen zu tun. Das Recht der Natur steht zum menschlichen Recht in schroffem Gegensatz. A n seiner Norm gemessen ist das, was der Staat der Gleichheit Recht und Gesetz nennt, die reine Willkür. O b man sich ihr fügen soll, ist für Kallikles lediglich eine Frage der Macht. Seine innere sittliche Autorität hat der Begriff des Gerechten im Sinne des Gesetzes für ihn jedenfalls verloren. I m Munde eines athenischen Aristokraten ist das die offene Verkündigung der Revolution. In der T a t ist der Staatsstreich von 403 nach der Niederlage Athens aus diesem Geiste vollführt worden. Es ist nötig sich über die Tragweite des geistigen Vorganges, dessen Zeugen wir hier sind, klar zu werden. Unmittelbar vom Standpunkt unserer Zeit können wir sie nicht einmal voll ermessen, denn wenn auch eine Einstellung zum Staat wie die des Kallikles unter allen Umständen dessen Autorität untergraben muß, würde die Konsequenz der Anschauung, daß im politischen Leben die bloße Übermacht entscheidet, für die sittliche Haltung des Einzelnen im Privatleben nach heutigen Begriffen noch keineswegs notwendig einer Proklamation der Anarchie gleichkommen. Für unser heutiges Bewußtsein sind Politik und Moral zwei weithin getrennte Bereiche geworden, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, und die Regeln des Handelns in beiden sind nicht ohne weiteres die gleichen. Alle theoretischen Versuche, diesen Zwiespalt zu überbrücken, ändern nichts an der geschichtlichen Tatsache, daß unsere Ethik von der christlichen Religion, unsere Politik vom antiken Staate herkommt, daß also beide aus verschiedener sittlicher Wurzel erwachsen sind. Diese durch die Gewöhnung von Jahrtausenden sanktionierte doppelte Buchführung, aus deren Not die [U411]

411

moderne Philosophie sogar eine Tugend zu machen verstehen muß, war den Griechen unbekannt. Während wir in der Staatsmoral immer zunächst einen Gegensatz zur Individualethik sehen und viele im Geiste jenes Wort am liebsten nur in Anführungsstriche setzen möchten, bedeutet es für den Griechen der klassischen Zeit, j a der ganzen Periode der Poliskultur fast eine Tautologie, denn für ihn ist der Staat überhaupt die einzige Quelle aller sittlichen Normen, und es ist nicht abzusehen, welche andere Ethik es außer der Staatsethik, das heißt außer dem Gesetz der Gemeinschaft, in der der Mensch lebt, noch geben sollte. Eine von ihr unterschiedene Privatmoral ist für den Griechen ein unvollziehbarer Gedanke. Wir müssen von unserem Begriff des persönlichen Gewissens hier ganz absehen. E r ist zwar auch auf griechischem Boden entsprungen, aber erst in éiner wesentlich späteren Z e i t 1 . Für den Griechen des 5 . J h r h . gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist das Gesetz des Staates die höchste Richtschnur des menschlichen Lebens und steht im Einklang mit der göttlichen Ordnung des Seins, dann sind Mensch und Staatsbürger eins und der eine geht im anderen auf; oder die Normen des staatlichen Lebens widersprechen den Normen, die von der Natur oder Gottheit gesetzt sind, und der Mensch kann daher die Gesetze des Staates nicht anerkennen, dann fällt seine Existenz aus der politischen Gemeinschaft heraus und versinkt ins Bodenlose, wenn nicht eben jene höhere ewige Ordnung der Natur seinem Denken einen neuen sicheren Ankergrund bietet. V o n der Aufreißung der Kluft zwischen staatlichem und kosmischem Gesetz führt ein gerader Weg zum Weltbürgertum der hellenistischen Zeit. Es fehlt unter den Sophisten nicht an solchen, die diese Folgerung aus ihrer Kritik des Nomos ausdrücklich gezogen haben. Sie sind die ersten Kosmopoliten. Es ist das allem Anschein nach ein anderer Typus als Protagoras. Plato hat ihn in der Gestalt des Universalisten Hippias von Elis dem ersteren gegenübergestellt 2 . „ I h r anwesenden Herren", läßt er ihn sagen, „in meinen Augen seid ihr allesamt 1 s

412

Vgl. Fr. Zucker, Syneidesis-Conscientia (Jena 1938) Plat. Prot. 337 C [1/412]

Verwandte, Angehörige und Mitbürger, zwar nicht nach dem Gesetz, aber von Natur. Denn das Gleiche ist dem Gleichen von Natur verwandt, doch das Gesetz, das der Tyrann der Menschen ist, erzwingt vieles gegen die Natur." Der Gegensatz von Gesetz und Natur, Nomos und Physis, ist hier derselbe wie bei Kallikles, aber Richtung und Ausgangspunkt der Kritik des Gesetzes sind grundverschieden. Allerdings setzen beide mit der Zerstörung des herrschenden Gleichheitsbegriffes ein, denn er ist der Inbegriff der herkömmlichen Auffassung der Gerechtigkeit. Aber Kallikles setzt dem Gleichhcitsideal der Demokratie die Tatsache der natürlichen Ungleichheit der Menschen entgegen, während der Sophist und Theoretiker Hippias den Gleichheitsbegriff der Demokratie umgekehrt noch zu eng begrenzt findet, weil sie dieses Ideal nur für die freien, gleichberechtigten und gleichstämmigen Bürger des eigenen Staates gelten läßt. Hippias will die Gleichheit und Verwandtschaft ausdehnen auf alles, was Menschenantlitz trägt. In ähnlicher Weise drückt sich der athenische Sophist Antiphon in seinem Aufklärungsbuch 'Die Wahrheit' aus, von dem vor einiger Zeit umfangreichere Reste zutage getreten sind 1 . „Wir haben in jeder Beziehung alle die gleiche Natur, Barbaren und Griechen." Die Begründung dieser Aufhebung aller geschichtlich gewordenen nationalen Unterschiede ist in ihrem naiven Naturalismus und Rationalismus ein hochinteressantes Gegenstück zu dem Ungleichheitsenthusiasmus des Kallikles. „Man kann dies sehen aus den natürlichen Bedürfnissen aller Menschen. Sie können sie alle auf die gleiche Weise befriedigen, und in all diesen Dingen gibt es zwischen uns keinen Unterschied von Barbar und Grieche. Wir atmen alle die gleiche Luft durch Mund und Nase und essen alle mit den Händen." Dieses internationale Gleichheitsideal, das der griechischen Demokratie ganz fern lag, ist in der T a t das äußerste Gegenteil der Kritik des Kallikles. Antiphons Lehre nivelliert wie die nationalen Unterschiede folgerichtig auch die sozialen. „Wir ehren und achten die Menschen aus vornehmem Hause, die aus nicht vornehmem Hause aber ehren und achten wir nicht. 1 Oxyrh. Pap. X I n. 1364 Hunt, jetzt auch bei Diels, Vorsokr. I I 1 (Nachtr. X X X I I I ) frg. Β col. 2, 10 ff.

[1/413]

413

Wir stehen uns aus diesem Grunde wie Angehörige verschiedener Völker gegenüber." Realpolitisch war die Theorie des Antiphon und Hippias mit ihrer abstrakten Gleichmacherei für den damaligen Staat im Augenblick keine allzugroße Gefahr, zumal da sie keinen Widerhall bei der Masse suchte oder fand, sondern sich nur an einen engen Kreis von Aufgeklärten wandte, der politisch großenteils eher wie Kallikles dachte. Aber eine mittelbare Bedrohung der geschichtlich gewordenen Ordnung lag in dem unverhüllten Naturalismus dieses Denkens, der an alles seinen Maßstab anlegte und dadurch die Autorität der geltenden Normen untergrub. Diese Denkweise läßt sich in ihren ältesten Spuren bis in das homerische Epos hinauf verfolgen und lag dem Griechen von jeher nahe. Der ihm angeborene Blick für das Ganze konnte sehr verschiedene Wirkung auf das Denken und Verhalten der Menschen haben, denn je nachdem wie der Mensch beschaffen war, sah sein Auge in diesem Ganzen sehr Verschiedenes. Der eine sah es erfüllt von heroischem Geschehen, das die Kräfte des edlen Mannes zur höchsten Anspannung strafft, der andere sah, wie alles in der Welt 'ganz natürlich' zugeht. Der eine starb lieber heldenhaft, als daß er seinen Schild verlor, der andere ließ ihn im Stich und kaufte sich einen neuen, weil ihm sein Leben lieber war. Der moderne Staat stellte an Disziplin und Selbstüberwindung die höchsten Anforderungen, und die Gottheit des Staates heiligte sie. Aber die moderne Analyse des menschlichen Handelns betrachtete die Dinge rein kausal und physisch und wies einen durchgehenden- Widerstreit nach zwischen dem, was der Mensch von Natur erstrebt und meidet, und dem, was das Gesetz ihm zu erstreben und zu meiden befiehlt. „Die Mehrzahl der gesetzlichen Vorschriften ist der Natur feindlich" sagt Antiphon 1 , an einer anderen Stelle spricht er vom Gesetz als „Fessel der Natur". Diese Erkenntnis fuhrt dann weiter dazu, den Gerechtigkeitsbegriff, das Ideal des alten Rechtsstaats, zu unterminieren. „Unter Gerechtigkëit versteht man, die Gesetze desjenigen Staates, dessen Bürger man ist, nicht zu übertreten." Schon in der sprachlichen Formu1

414

ftg. A col. 2, 36 und col. 4, 5

[1/414]

lierung glaubt man die Relativierung der Normgeltung des Gesetzes zu spüren. Es gilt eben in jedem Staate, in jeder Stadt ein anderes Gesetz. Man muß sich nach ihm richten, wenn man dort leben will, das gilt ebenso in der Fremde; doch eine absolute Verbindlichkeit kommt ihm nicht zu. Daher wird es nur ganz von außen erfaßt, nicht als dem Innern des Menschen eingeprägte Gesinnung, sondern als eine Schranke, die nicht überschritten werden darf. Fehlt aber die innere Bindung, ist Gerechtigkeit nur noch äußere Legalität des Verhaltens, um dem Nachteil der Strafe zu entgehen, so wird man das Gesetz schwerlich auch in dem Falle befolgen, wo kein Anlaß besteht den Schein vor den Menschen zu wahren, und wo man ohne Zeugen handelt. Dies ist in der Tat für Antiphon der Punkt, wo der Wesensunterschied der gesetzlichen Norm und der Norm der Natur hervorspringt. Die Norm der Natur kann man auch ohne Zeugen nicht ungestraft außer Acht lassen. Hier ist eben nicht nur auf den „Schein" sondern auf die „Wahrheit" Rücksicht zu nehmen, wie der Sophist in deutlicher Anspielung auf den Titel seines Buches sagt. Sein Zweck ist also, die künstliche Norm des Gesetzes zu relativieren und die Norm der Natur als die wahre zu erweisen. Man denkt dabei an die zunehmende Gesetzmacherei der gleichzeitigen griechischen Demokratie, die alles gesetzlich festlegen will, sich dabei aber beständig in Widersprüche mit sich selbst verwickelt und bestehende Gesetze ändern oder aufheben muß, um neuen Platz zu machen, und an das Wort des Aristoteles in der 'Politik', es sei für den Staat besser, schlechte aber dauerhafte Gesetze zu haben als dauernd wechselnde, und wenn sie auch noch so gut wären Der peinliche Eindruck der Massenfabrikation von Gesetzen und des parteipolitischen Kampfes um sie mit all seinen Zufällen und Menschlichkeiten mußte dem Relativismus die Wege ebnen. Aber nicht nur die Gesetzesverdrossenheit der antiphontischen Lehre hat ihr Gegenbild in der gleichzeitigen öffentlichen Meinung — man erinnere sich an die Figur des unter so aufrichtigem Beifall des Publikums verprügelten Verkäufers der allerneuesten Volksversamm1

Arist. Pol. Β 8, ia68 b 27 fr.

[1/415]

415

lungsbeschliisse in der aristophanischen Komödie 1 — auch der Naturalismus entspricht der herrschenden Zeitströmung. Die Mehrzahl der überzeugten Demokraten verstand unter ihrem Ideal nichts anderes als den Staat, in dem man „leben kann, wie man will". Auch Perikles trägt in seiner Charakteristik der athenischen Verfassung dem Rechnung, indem er es so hinstellt, als ob in Athen die strengste Achtung vor dem Gesetz doch niemand hindere, sich auch einmal sein Privatvergnügen zu gönnen, ohne daß sogleich alle darüber die Nase rümpfen 2 . Aber dieses wohlbalancierte Gleichgewicht von .Straffheit im öffentlichen und Toleranz im persönlichen Leben, so echt beides in Perikles' Munde klingt und so menschlich es ist, war gewiß nicht jedermanns Sache, und Antiphons unverblümte Offenherzigkeit spricht wahrscheinlich für die geheime Mehrheit seiner Mitbürger, wenn er als die einzig natürliche Richtschnur alles menschlichen Handelns das Nutzbringende und letzten Endes das Angenehme oder Lustbereitende gelten läßt 3 . An diesem Punkte hat Piatos Kritik später eingesetzt, um für den Neubau des Staates eine festere Grundlage zu schaffen. Nicht alle Sophisten werden sich so offen und grundsätzlich zum Hedonismus und Naturalismus bekannt haben. Protagoras kann es nicht getan haben, denn als Sokrates ihn in Piatos Dialog auf das Glatteis zu führen sucht, leugnet er aufs bestimmteste, einen solchen Standpunkt je vertreten zu haben, und nur den raffinierten dialektischen Überführungskünsten des Sokrates gelingt es, den ehrenwerten Mann schließlich dabei zu erwischen, daß er sich insgeheim doch ein Hinterpförtchen offengehalten hat, um den an der Vordertür abgewiesenen Hedonismus einzulassen 4. Dieses Kompromiß soll immerhin den besseren Typus der Zeitgenossen kennzeichnen. Antiphon gehört nicht zu ihm. Dafür hat sein Naturalismus den Vorzug der Folgerichtigkeit. Seine Unterscheidung „mit und ohne Zeugen" trifft in der Tat das Grundproblem der zeitgenössischen Moral. Die Zeit war 1 2 3 4

416

Aristoph. Vögel 1038 Thuk. II 37, 2 frg. A col. 4, 9 ff. Plat. Prot. 358 A ff.

[1/416]

reif für eine neue, innerliche Begründung des sittlichen Handelns. Nur eine solche konnte der Geltung des Gesetzes neue Kraft geben. Der bloße Begriff des Gesetzesgehorsams, der für den alten Rechtsstaat in den ersten Zeiten seines Entstehens einmal eine große und befreiende Tat gewesen war, reichte nicht mehr aus, dem tieferen sittlichen Bewußtsein Ausdruck zu geben. Er war wir alle Gesetzesethik der Gefahr ausgesetzt, das Handeln zu veräußerlichen, ja zur bloßen sozialen Heuchelei zu erziehen. Schon Aischylos sagt von dem wahrhaft Weisen und Gerechten — wobei die Zuhörer auf Aristeides geblickt haben sollen — : „Denn er will gut nicht scheinen sondern will es sein" l . Die tieferen Geister waren sich wohl bewußt, worauf es ankam. Doch der übliche Begriff der Gerechtigkeit kannte nichts anderes als korrektes gesetzmäßiges Handeln, und für die Masse war und blieb die Furcht vor der Strafe das Hauptmotiv für die Beobachtung des Gesetzes. Ein letzter Pfeiler seiner innerlichen Geltung war die Religion. Aber auch an sie wagte sich die Kritik des Naturalismus ungescheut heran. Der spätere Tyrann Kritias hat ein Drama 'Sisyphos' geschrieben, in dem auf offener Bühne deklamiert wurde, die Götter seien eine kluge Erfindung der Staatsmänner, um ihren Gesetzen Achtung zu verschaffen 2. Um zu verhindern, daß die Menschen, wenn sie ohne Zeugen handelten, sich über das Gesetz hinwegsetzten, hätten sie die Götter als gleichsam immer anwesende unsichtbare, allwissende Zeugen alles menschlichen Tuns geschaffen und durch die Furcht vor ihnen das Volk in Gehorsam gehalten. Von hier aus versteht man, warum Plato im 'Staat' die Fabel vom Ring des Gyges ersinnt, der seinen Träger für die Mitmenschen unsichtbar macht 3. Er soll den, der aus innerer Gerechtigkeit gerecht handelt, von dem nur äußerlich legalen Menschen unterscheiden, dessen einziges Motiv dje Rücksicht auf den gesellschaftlichen Schein ist. Es ist das durch Antiphon und Kritias aufgeworfene Problem, das er auf diese Weise zu lösen unternimmt. Nichts anderes ist es, wenn Demokrit in seiner Ethik den altgriechischen Begriff der Aidos, 1 2 3

Aesch. Sept. 592, vgl. zur Lesart Wilamowitz, Arist. u. Athen I 160 Kritias frg. 25 Diels Plat. Pol. 359 D

[H417]

417

der inneren Scheu, zu neuer Bedeutung erhebt und an die Stelle der Aidos vor dem Gesetze, das die Sophisten vom Schlage des Antiphon, Kritias und Kallikles durchlöchert hatten, den wunderbaren Gedanken der Aidos des Menschen vor sich selber setzt 1 . Von solchem neuen Aufbau war das Denken des Hippias und Antiphon wie des Kallikles weit entfernt. Ein wirkliches Ringen um die letzten Fragen religiöser oder sittlicher Gewißheit finden wir bei ihnen nicht. Es fehlt den Anschauungen der Sophisten über Mensch, Staat und Welt der Ernst und die Tiefe der metaphysischen Begründung, wie die Zeit sie besessen hatte, die dem attischen Staate seine Form gegeben hatte, und wie die folgende Generation sie in der Philosophie wiederfand. Doch es wäre ungerecht, auf dieser Seite ihre originale Leistung zu suchen. Sie lag, wie bereits gesagt, in der Genialität ihrer formalen Erziehungskunst. Ihre Schwäche entspringt aus der Fragwürdigkeit der geistigen und sittlichen Substanz, aus der ihre Erziehung ihren inneren Gehalt schöpft, die aber teilen sie mit ihrem ganzen Zeitalter, über dessen ernste Lage aller Glanz der Kunst und alle Macht des Staates nicht täuschen kann. Es ist durchaus natürlich, daß gerade eine so individualistische Generation die bewußte Forderung der Erziehung mit noch nicht dagewesener Dringlichkeit erhebt und sie mit virtuosem Können verwirklicht. Aber ebenso notwendig muß sie eines Tages zu der Selbsterkenntnis gelangen, daß keine Zeit der letzten erzieherischen Kraft mehr ermangelt als sie selbst, weil ihr bei allem Reichtum ihrer Gaben das Wichtigste zu diesem Berufe fehlt, die innere Sicherheit des Ziels. 1

418

Demokr. frg. 264 Diels

[U418]

EURIPIDES UND SEINE ZEIT Die Krisis der Zeit wird erst in der Tragödie des Euripides in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar. Wir haben ihn von Sophokles durch die Sophistik getrennt, denn in den uns erhaltenen Dramen, die freilich alle der späteren Zeit des Euripides angehören, ist der 'Dichter der griechischen Aufklärung', wie man ihn gerne nennt, von den Gedanken und der rhetorischen Kunst der Sophisten erfüllt. Aber so viel Licht er auch von dieser Seite empfängt, ist das Sophistische doch nur ein begrenzter Ausschnitt seines Geistes, und man kann mit gleichem Recht sagen, daß die Sophisten erst auf dem seelischen Hintergrund, den die Dichtung des Euripides enthüllt, ganz verständlich werden. Die Sophistik hat einen Januskopf, das eine ihrer Gesichter ist dem Sophokles, das andere dem Euripides zugewandt. Das Ideal der harmonischen Entfaltung der menschlichen Seele haben die Sophisten mit Sophokles gemein, es ist dem bildnerischen Grundgesetz seiner Kunst verwandt. In der schillernden Unsicherheit der prinzipiellen sittlichen Begründung verrät die sophistische Erziehung ihre Herkunft aus der zerklüfteten, mit sich selbst im Zwiespalt liegenden Welt, die sich uns in der Dichtung des Euripides aufschließt. Die beiden Dichter, zwischen ihnen die nach beiden Seiten blickende Sophistik, repräsentieren dasselbe Athen, sie sind nicht Vertreter zweier verschiedener Zeiten. Die anderthalb Jahrzehnte, die ihre Geburt etwa trennen, reichen auch in dieser raschlebenden Zeit nicht aus, einen Generationsunterschied zu begründen. Es war der Unterschied ihres Wesens, der sie prädestinierte dieselbe Welt auf so verschiedene Weise in ihrem Schaffen auszuprägen. Sophokles schreitet auf den steilen Höhen der Zeit. Euripides wirkt wie die Offenbarung [1/419]

419

der Bildungstragödie, die das Zeitalter zerrüttet. Das weist ihm seine Stellung in der Geschichte des Geistes an und gibt ihm jene unvergleichliche Zeitverbundenheit, die uns zwingt seine Kunst ganz als Ausdruck dieser Zeit zu fassen. Die Gesellschaft, die sich in den Dramen des Euripides unserem Blicke zeigt und an die sie sich wenden, ist hier nicht um ihrer selbst willen zu schildern. Die geschichtlichen Quellen, vor allem die literarischen, fließen in dieser Periode zum erstenmal reichlicher, und das Sittengemälde, das sie uns zu entwerfen erlauben, würde ein eigenes Buch beanspruchen, das einmal geschrieben werden muß. Das Ganze des menschlichen Daseins von den trivialen Niederungen des Alltags bis zu seinen Höhen in Gemeinschaftsleben, Kunst und Gedanken breitet sich hier vielfarbig vor uns aus. Der erste Eindruck ist der eines überwältigenden Reichtums und einer in der Geschichte kaum wieder erreichten physischen und schöpferischen Lebenskraft. Während sich das griechische Leben noch zur Zeit der Perserkriege nach Stämmen gegliedert hatte, deren Hauptvertreter sich geistig einigermaßen die Wage hielten, ist dieses Verhältnis seit der Zeit des Perikles gestört, und Athens Übergewicht wird immer offenkundiger. Niemals in seiner Geschichte hatte das vielverzweigte Volk der Hellenen, das sich erst spät diesen gemeinsamen Namen gegeben hatte, eine solche Konzentration der staatlichen, wirtschaftlichen und geistigen Kräfte erlebt wie die, als deren bis in unser Jahrhundert hineinragendes Denkmal auf der Akropolis der Wunderbau des Parthenon erwuchs zu Ehren der Göttin Athena, die immer ausgesprochener die als göttlich angebetete Seele ihres Staates und Volkes war. Noch immer stand das Schicksal dieses Staates unter der segnenden Fernwirkung der Siege von Marathon und Salamis, mochte das Geschlecht jener Tage auch größtenteils längst dahingestorben sein. Ihre Taten spornten, immer wieder eingeprägt, den Ehrgeiz der Nachgeborenen zu höchster Nacheiferung an. Sie waren das Zeichen, in dem die gegenwärtige Generation ihre staunenswerten Erfolge in der unaufhaltsamen Ausdehnung attischer Reichs- und Handelsmacht errungen hatte, indem sie mit zäher Ausdauer, mit nie erlahmender Unternehmungslust und kluger Weitsicht die Vorteile ausnutzte, die für den aufstrebenden Volksstaat und seine 420

[1/420]

Seemacht in dem großen Erbe lagen. Freilich war die panhellenische Anerkennung der geschichtlichen Sendung Athens kein unerschöpflicher Kredit, wie schon Herodot zeigt, der fìir diese historischen Ansprüche des perikleischen Staates eben darum so nachdrücklich eifernd eintreten muß, weil die übrige hellenische Welt nichts mehr davon hören will. In den Tagen, da Herodot schrieb, nicht lange vor dem Ausbruch des die ganze Griechenwelt ergreifenden Riesenbrandes des peloponnesischattischen Krieges, war aus jener unbestreitbaren Tatsache längst die vielberufene und schon stark abgenutzte Ideologie der Machtpolitik des athenischen Imperialismus geworden, die bewußt oder nicht den Anspruch auf die Herrschaft Athens auch über den noch freien Teil von Hellas in sich schloß. Die Aufgabe, die der Generation des Perikles und ihren Erben zugefallen war, konnte sich an beflügelnder religiöser Schwungkraft nicht mit der des Aischylos vergleichen. Man fühlte sich mit Recht mehr als Nachfolger des Themistokles, in dem jene Heroenzeit bereits ein wesentlich moderneres Gesicht gezeigt hatte. Doch auch in der realistischen Nüchternheit, mit der man das Ziel der neuen Zeit verfolgte, empfanden die Mitlebenden, die willig ihr Gut und Blut für die Größe Athens opferten, ein eigenartiges Pathos, in dem kühle gewinnsüchtige Berechnung des Erfolges und hingebender Gemeinschaftssinn sich mischten und wechselseitig steigerten. Der Staat wußte jeden Bürger mit der Überzeugung zu erfüllen, daß der Einzelne nur prosperiert, wenn das Ganze wächst und gedeiht. Dadurch machte er den natürlichen Egoismus zu einer der stärksten Triebfedern des politischen Verhaltens. Der Staat durfte sich auf ihn freilich nur stützen, solange der sichtbare Gewinn das Bewußtsein der Opfer überwog. Im Kriege wurde diese Haltung zur schweren Gefahr, je länger er dauerte und je weniger materieller Vorteil dabei zu erzielen war. Das Vorherrschen des Geschäfts, des Rechnens und Wägens von der privaten bis zur höchsten öffentlichen Sphäre bezeichnet die Zeit des Euripides. Der ererbte peinliche Sinn für äußere Wohlanständigkeit nötigte auf der anderen Seite den Schein des Guten aufrechtzuerhalten, auch wo der bloße Nutzen oder Genuß die wirklichen Motive des Tuns waren. Nicht ohne Grund hat die sophistische Unter[II421]

421

Scheidung dessen, was „nach dem Gesetz" und dessen, was „von Natur" gut ist, in dieser Zeit ihren Ursprung, und es bedurfte gar nicht des Anreizes durch die Theorie und das philosophische Nachdenken, um die Menschen anzuspornen diesen Unterschied in der Praxis nach Kräften zur Wahrnehmung des eigenen Vorteils auszunutzen. Der Riß dieser künstlich aufrechterhaltenen idealistisch-naturalistischen Zweideutigkeit geht durch die gesamte private und öffentliche Moral des Zeitalters, von der skrupellosen Gewaltpolitik, zu der der Staat sich in einer solchen Lage mehr und mehr gedrängt sieht, bis in die kleinsten geschäftlichen Manipulationen des Einzelnen. J e großartiger sich die Zeit äußerlich in dem bedeutenden Format aller ihrer Unternehmungen darstellt, j e elastischer, bewußter und gespannter jedes Individuum seine besondere und die allgemeine Aufgabe erfaßt, desto trauriger berührt die ungeheure Zunahme der Lüge und des Scheins, um die dieser Glanz erkauft wird, und die Fragwürdigkeit der inneren Existenz, von der dieser noch nie erhörte Einsatz aller Kräfte für die äußere Leistung gefordert wird. Die alle Fundamente aufwühlende Entwurzelung des Denkens wurde durch den jahrzehntelangen Krieg unheimlich beschleunigt. Thukydides, der Geschichtschreiber der Tragödie des athenischen Staates, faßt den Untergang seiner Macht ausschließlich als eine Folge der inneren Auflösung auf. Der Krieg interessiert uns hier nicht als politisches Phänomen — als solches haben wir ihn bei der Behandlung des Thukydides später zu würdigen. Um so mehr gehört hierher die Diagnose des großen Historikers angesichts des immer offener zutage tretenden, immer rascher um sich greifenden Verfalls des gesellschaftlichen Organismus 1 . In ihrer rein ärztlichen, objektiv erkennenden Haltung ist diese Krankheitsanalyse ein erschütterndes Gegenstück zu seiner berühmten Beschreibung der Pest, welche sogleich in den ersten Jahren des Krieges die physische Gesundheit und Widerstandskraft des Volkes untergrub. Thukydides erhöht noch unsere Teilnahme an dem geschilderten Prozeß der sittlichen Auflösung der Nation durch die Schrecken des Parteikampfes, » Thuk. III 82 422

[H422]

wenn er vorausschickt, daß diese Vorgänge nicht etwas nur Einmaliges seien sondern sich immer wiederholen würden, solange die Natur des Menschen dieselbe sei. Wir wollen sein Bild der Zustände möglichst mit seinen eignen Worten wiedergeben. I m Frieden verschaffe sich die Vernunft leichter Gehör, weil die Menschen nicht in Zwangslagen versetzt würden, der Krieg aber enge die Lebensmöglichkeiten aufs äußerste ein und lehre die Masse durch Zwang, ihre Sinnesart der jeweiligen Lage anzupassen. Im Laufe der Umwälzungen, die der Krieg mit sich brachte, seien immer wieder Gesinnungsumschwung, Komplotte und Racheakte erfolgt, und die Erinnerung an die vorangegangenen Revolutionen und ihre Leiden habe den Charakter jedes neuen Umsturzes verschärft. Thukydides spricht in diesem Zusammenhang von der Umwertung aller geltenden Werte, die sich sogar in der Sprache als ein vollkommener Bedeutungswandel zu erkennen gab. Wörter, die seit alters höchste Werte bezeichnet hatten, sanken im Gebrauch der alltäglichen Rede zu Bezeichnungen verächtlicher Gesinnungs- und Handlungsweise herab, und andere, die bisher Tadel ausdrückten, machten Karriere und schwangen sich zu Lobesprädikaten empor. Sinnloses Draufgängertum galt jetzt als echt kameradschaftliche Tapferkeit, vorbauendes Abwarten als Feigheit, die sich unter schön klingenden Worten verbirgt. Besonnenheit galt als bloßer Vorwand der Schlaffheit, denkende Umsicht als Energie- und Tatenlosigkeit. Wahnwitzige Schärfe hielt man für deis Merkmal wahrer Mannhaftigkeit, reifliche Erwägung für Drückebergerei. J e lauter einer schmähte und schimpfte, für desto zuverlässiger hielt man ihn, und wer ihm widersprach, war schon verdächtig. Schlaue Intrigen zu spinnen galt für politische Klugheit, sie zu wittern für noch größeres Genie. Wer aber vorzusorgen bestrebt war, um solcher Mittel nicht erst zu bedürfen, dem warf man Mangel an Korpsgeist vor und Angst vor den Gegnern. Blutsverwandtschaft war ein schwächeres Band als Parteiangehörigkeit, war doch der Parteigenosse eher zu hemmungslosem Wagnis bereit. Denn solcher Zusammenschluß pflegt nicht im Einklang mit den bestehenden Gesetzen zu ihrer Unterstützung zu dienen, sondern gegen alles geltende Recht zur Erweiterung [1/423]

423

der eigenen Macht und persönlichen Bereicherung. Selbst die Eide, die die eigene Partei vereinten, banden weniger durch ihre Heiligkeit als durch das Bewußtsein gemeinsamer Verbrechen. Nirgendwo gab es mehr einen Funken von Vertrauen zwischen den Menschen. Wo die kämpfenden Parteien durch ihre Erschöpfung oder die im Augenblick ungünstige Lage gezwungen waren Verträge zu schließen und Eide zu schwören, wußte jeder, daß dies nur als Symptom der Schwäche zu bewerten sei, durfte sich also nicht darauf verlassen, sondern mußte darauf gefaßt sein, daß der wiedererstarkende Feind die Eide nur dazu benutzen werde, um den nichts ahnenden und ungeschützten Gegner aus dem Hinterhalt um so sicherer zu überfallen. Die Führer, gleichviel ob Demokraten oder Aristokraten, führten zwar die großen Worte ihrer Partei stets im Munde, aber in Wahrheit kannten sie kein höheres Ziel, für das sie stritten. Machtgier, Habsucht und Ehrgeiz waren die einzigen Motive des Handelns, und wo man sich auf die alten politischen Ideale berief, waren sie längst zu Schlagworten entwertet. Die Zersetzung der Gesellschaft war nur das nach außen in die Erscheinung tretende Bild der inneren Auflösung des Menschen. Auch die Schwere des Krieges wirkt anders auf ein innerliches gesundes Volk als auf eine Nation, deren Wertbegriffe vom Individualismus ausgehöhlt sind. Dabei gab es nie einen höheren Stand der ästhetischen und intellektuellen Bildung als in dem Athen jener Tage. Die ruhige Stetigkeit der inneren Entwicklung Attikas seit mehreren Generationen, die Urwüchsigkeit der allgemeinen Teilnahme an den geistigen Dingen, die hier von jeher im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen, schüfen von vornherein die glücklichsten Bedingungen. Dazu kam die mit der Komplizierung des Lebens immer zunehmende Wachheit eines schon an sich außergewöhnlich intelligenten und feinnervigen Volksstammes von empfindlichstem Sinn für jede Schönheit und von unersättlicher Freude an dem entfesselten Spiel der Kräfte des Verstandes. Die Zumutungen, welche von den damaligen Schriftstellern ununterbrochen an das Fassungsvermögen des Durchschnittsatheners gestellt werden, müssen den Modernen zunächst 424

[U424]

immer wieder mit ungläubigem Staunen erfüllen, aber wir haben keinen Grund, das Bild zu bezweifeln, das etwa die gleichzeitige Komödie uns davon gibt. D a sitzt im Theater des Dionysos der kleine Bürger Dikaiopolis, genügsam an seiner Zwiebel nagend, in sorgenvollem Selbstgespräch schon vor Sonnenaufgang und harrt auf den neueinstudierten Chor wer kann wissen welches frostigen und überspannten modernen Dramatikers, während sein Herz sich unbändig nach dem uraltmodischen Aischylos sehnt. Der Gott des Theaters, der blasiert lesend an Bord des Schiffes sitzt, auf dem er angeblich in der Seeschlacht bei den Arginusen mitgekämpft haben will, und die Einzelausgabe eines euripideischen Dramas, der 'Andromeda' in der Hand hält, in sehnsüchtigem Gedenken an den vor kurzem gestorbenen Dichter, verkörpert schon eine 'höhere' Stufe des Publikums: ein Kreis von leidenschaftlichen Verehrern hat sich um einen von der öffentlichen Kritik noch hart umstrittenen Dichter geschart und verfolgt sein Schaffen auch unabhängig von der Aufführung im Theater mit schärfster Spannung. U m den geistreichen Witz der literarischen Parodie in dem kurzen Augenblick, wo sie auf der komischen Bühne vorüberhuscht, zu erhäschen und mit Behagen zu genießen, dazu bedurfte es einer nicht zu kleinen Zahl von Kennern, die wußten: jetzt ist der Bettlerkönig Telephos des Eurípides gemeint, jetzt diese, jetzt j e n e Szene. Und welch unermüdliches Interesse für diese Dinge setzt der Agon des Aischylos und Euripides in den 'Fröschen' des Aristophanes voraus, wo die Prologe und andere Stücke der Tragödien beider Dichter dutzendweise zitiert und als bekannt vorausgesetzt sind vor einem nach vielen Tausenden zählenden Hörerkreis aller Volksschichten. Mag aber auch dem einfachen Hörer vielleicht die Kenntnis mancher Einzelheiten abgegangen sein, wesentlicher und weit wunderbarer ist es für uns, daß man bei der Menge jene untrüglich reagierende Feinheit des Stilgefühls erwarten durfte, ohne die sich diesen lang ausgesponnenen Vergleichen weder ein Interesse noch ein Moment der Komik abgewinnen läßt. Wenn es sich um einen einzelnen Versuch dieser Art handelte, könnte man am Vorhandensein dieser Fähigkeiten des Geschmacks

[1/425]

425

zweifeln, aber das ist unmöglich angesichts der unerschöpflichen Anwendung der Parodie als eines der beliebtesten Mittel der komischen Bühne. Wo wäre Ähnliches auf dem heutigen Theater vorstellbar? Zwar scheidet sich bereits damals deutlich eine Bildung, die Volksbesitz ist, von der geistigen Elite, und man glaubt oft in der Tragödie wie in der Komödie ziemlich deutlich unterscheiden zu können, ob sich diese oder jene Erfindung des Dichters mehr an die geistig Höherstehenden oder an die große Masse wendet. Aber die Breite und Volkstümlichkeit einer nicht gelehrten, durch und durch lebendigen Bildung, wie sie das Athen der zweiten Hälfte des 5. Jhrh. und nicht minder das des 4. Jhrh. zeigt, bleibt etwas Einzigartiges, das sich vielleicht nur bei so vollkommener Durchdringung von Geist und öffentlichem Leben in einem auf engem und leicht übersehbarem Raum zusammengedrängten stadtstaatlichen Gemeinwesen entwickeln konnte. Schon die wenn auch nicht vollständige Absonderung des flachen Landes von diesem in der Stadt Athen auf der Agora, der Pnyx und im Theater konzentrierten Leben ließ zur gleichen Zeit den Begriff des Bäurischen (ά/ροϊκον) zu dem des Städtischen (άστείον), das dann soviel wie das Gebildete überhaupt wird, in Gegensatz geraten. Der ganze Kontrast der neuen städtischen und bürgerlichen Bildung zur alten großenteils landsässigen und grundbesitzenden Adelskultur tut sich hier auf. In der Stadt gab es außerdem die zahlreichen Symposien, die eigentlichen Stätten der ganz und gar männlichen Geselligkeit der neuen bürgerlichen Gesellschaft. Die zunehmende Verherrlichung des Symposion durch die Dichtung, nicht als Ort des Trinkens, Schwärmens und der bloßen Lustbarkeit sondern als Brennpunkt des ernsthaften geistigen Lebens, läßt deutlich erkennen, welche ungeheure Wandlung der Geselligkeit hier seit der Adelszeit vor sich gegangen ist. Ihre Grundlage ist für die bürgerlichen Kreise die neue Bildung. Das verrät einmal die sympotische Elegie jener Jahrzehnte, die voll ist von den Problemen der Zeit und an der allgemeinen Intellektualisierung ihren vollen Anteil nimmt, und die Komödie bestätigt es vielfaltig. Der tödliche Widerstreit altmodischer und neuer sophistisch-literarischer Bildung durchzieht auch das 426

[IÌ426]

Symposion der euripideischen Zeit und markiert sie deutlich als einschneidende bildungsgeschichtliche Epoche. Immer ist Euripides der maßgebende Name, in dem die Verfechter des Neuen sich zusammenschließen. Aus der widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit der verschiedensten geschichtlichen und schöpferischen Kräfte erwächst das geistige Leben Athens in jener Zeit. Der vor allem in den Einrichtungen des Staates, seinen Kultus- und Rechtsbräuchen noch immer fest wurzelnden Macht der Tradition tritt zum erstenmal gegenüber ein mit unerhörter Freiheit schaltender individueller Aufklärungs- und Bildungsdrang großer Schichten, wie ihn selbst Ionien niemals gekannt hatte. Denn was bedeutet schließlich auch die schroffste Kühnheit eines einzelnen sich emanzipierenden Dichters oder Denkers inmitten einer im gewohnten Gleise hinlebenden Bürgerschaft verglichen mit einer so unruhigen Atmosphäre wie der athenischen, die mit den Keimen all dieser Kritik des Überlieferten schon gesättigt ist und wo jeder Einzelne in geistiger Hinsicht grundsätzlich die gleiche Denk- und Redefreiheit beansprucht, die die Demokratie ihm als Bürger in der Volksversammlung einräumt. Das war etwas dem Wesen des antiken Staates, auch des demokratischen, durchaus Fremdes und Beängstigendes, und mehr als einmal kam es zum feindlichen Zusammenstoß dieser neuen individualistischen, von keiner Verfassung gewährleisteten Rede- und Denkfreiheit mit den hinter dem Staate sich verschanzenden konservativen Kräften wie in dem Asebieprozeß des Anaxagoras oder in einzelnen Vorstößen gegen die Sophisten, deren aufklärerische Lehre zum Teil offenkundig staatsfeindlichen Charakter trug. Aber im allgemeinen war der demokratische Staat tolerant gegen alle geistigen Bewegungen, j a er war stolz auf die neue Freiheit seiner Bürger. Wir müssen uns erinnern, daß es die attische Demokratie dieser und der nächstfolgenden Zeit ist, die für Plato das Modell seiner Kritik der demokratischen Verfassung geliefert hat und die er von seinem Standpunkt aus als die intellektuelle und moralische Anarchie kennzeichnet. Wenn auch einzelne Politiker von Einfluß aus ihrem Haß gegen die jugendverderberischen Sophisten kein Hehl machten, so überschritt dieser doch meist nicht die Gren[V427J

427

zen des privaten Gefühls In dem Naturphilosophen Anaxagoras wollte die Anklage zugleich seinen Beschützer und Anhänger Perikles treffen. In der Tat war die offene Hinneigung des Mannes, der lange Jahre die Geschicke des athenischen Staates bestimmte, zur philosophischen Aufklärung ein unerschütterlicher Hort der neumodischen Geistesfreiheit im weiten Bereiche seiner Macht. Diese im übrigen Griechenland ebenso wenig wie sonst irgendwo auf der Welt früher oder später selbstverständliche Bevorzugung des Geistes zog alles intellektuelle Leben nach Athen. Es wiederholt sich jetzt im größten Maßstab und spontan, was unter der Tyrannis der Peisistratiden geschehen war. Der fremde Geist, ursprünglich ein Metöke, erwirbt das Recht der Einbürgerung. Diesmal sind es nicht die Dichter, die Athen herbeizieht, obgleich auch sie nicht fehlen, denn in allem Musischen hatte Athen selbst die unbestrittene Führung. Den entscheidenden neuen Einschlag geben diesmal die Philosophen, Gelehrten und Intellektuellen jeder Art. Neben dem schon genannten Ionier Anaxagoras von Klazomenai, der alle anderen überragt, und seinem Schüler Archelaos von Athen finden wir hier die letzten Vertreter der ionischen Naturphilosophie älteren Stils wie den durchaus nicht unbedeutenden Diogenes von Apollonia, nach dessen Modell Aristophanes in den 'Wolken' seinen Sokrates gezeichnet hat. Wie Anaxagoras die Entstehung der Welt zum erstenmal statt aus dem Zufall aus dem Prinzip einer denkenden Vernunft ableitete, verband Diogenes den alten Hylozoismus mit einer aufgeklärten modernen teleologischen Naturbetrachtung. Dem Hippon von Samos, dem Aristoteles als Denker nur einen ziemlich niedrigen Rang anweist, widerfuhr immerhin die Ehre, in den 'Panopten' des Komikers Kratinos verspottet zu werden. Den Herakliteer Kratylos hat der junge Plato eine Zeit lang gehört. Von den beiden Mathematikern und Astronomen Meton und Euktemon, deren Namen mit der staatlichen Kalenderreform des Jahres 432 verknüpft sind, war vor allem der erstere stadtbekannt und für die Athener schlechthin die Verkörperung des abstrakten Gelehrten, wie er in den 'Vögeln' des Aristophanes auf die Bühne 1

428

Plat. Menon 91 G

[1/428J

gebracht wird. Aristophanes scheint in seine Karikatur einige Züge des Hippodamos von Milet mitaufgenommen zu haben. Dieser Reformer des Städtebaus, der nach dem geometrischen Ideal der Rechtwinkligkeit die Hafenstadt des Piräus neu anlegte und daneben eine ebenso rationalistisch-gradlinige Staatsutopie vertrat, mit der sich noch die 'Politik' des Aristoteles ernstlich befaßt, ist neben Meton und Euktemon für seine Epoche besonders typisch, weil er zeigt wie die Rationalität auf das Leben überzugreifen beginnt. Auch der Musiktheoretiker Damon, den Sokrates hörte, gehört hierher. Das Kommen und Gehen der Sophisten, das jedesmal ein Stadtereignis war, das die gebildeten Kreise Athens in fieberhafte Aufregung versetzte, hat Plato im 'Protagoras' mit der überlegenen Meisterschaft seiner Ironie geschildert. Dieses Überlegenheitsgefühl der nächsten Generation, die die sophistische Aufklärung grundsätzlich hinter sich zu haben glauben durfte, müssen wir überwinden, wenn wir die Bewunderung der vorangehenden Zeit für diese Männer verstehen wollen. Plato läßt auch die beiden Eleaten Parmenides und Zenon nach Athen kommen und dort Vorträge halten. Das kann dichterische Erfindung der dialogischen Szenerie sein wie vieles andere dieser Art, aber es mußte doch wenigstens nicht undenkbar sein und hat in der Tat typische Wahrheit. Wer nicht in Athen lebte oder sich öfter dort sehen ließ, von dem sprach man nicht. Der merkwürdigste Beweis dafür ist der ironische Ausspruch Demokrits: „Ich kam nach Athen, da kannte mich niemand." 1 Es war eben schon viel Mode bei der athenischen Berühmtheit, und manche Eintagsgröße drängte sich in den Vordergrund, der erst die Geschichte nachträglich ihren richtigen Platz anweisen mußte. Aber die Zahl der großen Einsamen vom Schlage Demokrits, dessen Heimat nicht Abdera sondern die Welt war, war klein geworden. Es ist wohl kein Zufall, daß es gerade der reine Forscher war, der sich der Anziehungskraft des geistigen Zentrums noch entziehen konnte. Denn auch die Mächtigen im Geiste, die künftig in der Bildung des griechischen Volkes an erster Stelle stehen sollten, erwuchsen von nun an für ein ganzes Jahrhundert nur noch in Athen. 1

Demokr. frg. 116 Diels

[11429]

429

Was gibt gerade den großen Athenern, einem Thukydides, Sokrates und Eurípides, die doch die eigentlichen Zeitgenossen sind, in der Geschichte der Nation eine so überragende Stellung, daß das ganze Treiben um sie her, das wir geschildert, doch mehr wie das bloße Geplänkel der Vorposten vor der Entscheidungsschlacht erscheint? Durch sie ergreift der rationale Geist, dessen Keime die Luft ringsumher erfüllen, von den Großmächten der Bildung Besitz, von Staatsauffassung, Religion, Moral und Dichtung. In Thukydides' geschichtlicher Selbsterfassung vollbringt der rational gewordene Staat noch im Augenblick seines Untergangs seine letzte geistige Tat, in der er sein Wesen verewigt. Dadurch bleibt der Geschichtschreiber mehr als seine beiden großen Mitbürger auf seine Zeit beschränkt. Dem späteren Griechentum hatte er gerade mit seinen tiefsten Erkenntnissen vielleicht weniger zu sagen als uns, denn die Wiederkehr der geschichtlichen Situation, für die er sein Werk geschrieben hat, ist nicht so bald gefolgt, wie er wohl denken mochte. Wir werden mit dem Blick auf sein Ringen um das Verständnis des Staates und seines Schicksals die Betrachtung dieser Periode beschließen, die auch geistig mit dem Zusammenbruch des athenischen Reiches ihren Abschluß findet. Sokrates ist bereits nicht mehr dem Staate zugewandt, wie die meisten der besseren Athener es bis dahin waren, sondern dem Problem des Menschen, des Lebens allgemein. Er ist die wandelnde Frage seiner Zeit, ihr unruhiges Gewissen, tief aufgestört durch all das neue Forschen und suchende Tasten rings umher. Seine Gestalt gehört, so untrennbar auch gerade er von seiner Zeit erscheint, doch schon an den Anfang einer neuen Epoche, in der die Philosophie sich zur eigentlichen Trägerin der Bildung aufschwingt. Euripides ist der letzte große griechische Dichter im alten Sinne dieses Wortes. Auch er steht bereits mit einem Fuß in einer anderen Sphäre als der, der die Tragödie einst entsprungen war. Das Altertum hat ihn den Philosophen auf der Bühne genannt. Er gehört in der Tat zwei Welten an. Wir stellen ihn in die alte hinein, als deren Zerstörer er berufen war und die in seinem Werk noch einmal in ihrem höchsten verführerischen Glanz erstrahlt. Noch einmal übernimmt die Poesie ihre alte Führerrolle, wenn auch nur, um dem neuen Geiste die Bahn zu brechen, der sie von 430

[I/430J

ihrem ererbten Platz verdrängen sollte. Das ist eine jener großen Paradoxien, die die Geschichte liebt. Neben Sophokles blieb fur eine zweite Art der Tragödie Raum, weil inzwischen ein Geschlecht herangereift war, das die alten Fragen des aischyleischen Dramas in verändertem Sinn wieder aufzunehmen fähig war. Nachdem das Problematische bei Sophokles zeitweise hinter anders gerichteten Gestaltungskräften zurückgetreten war, fordert es bei Euripides wieder leidenschaftlich seine Rechte. Der Zeitpunkt für die Wiederaufnahme des tragischen Prozesses des Menschen mit der Gottheit schien gekommen. Er war gegeben durch das Erwachen der neuen Denkfreiheit, die sich erst allgemein zu entfalten begann, als Sophokles die Akme-seines Lebens überschritten hatte. Als man das Rätsel des Daseins mit ernüchterten forschenden Augen ansah, das den Vätern durch die Schleier frommer Befangenheit verhüllt gewesen zu sein schien, da mußte es dem Dichter, der die neuen kritischen Maßstäbe an die alten Fragen anlegte, so vorkommen, als habe nun eine riesige Umschrift alles bisher Geschriebenen zu beginnen. Der Mythos, dem die beiden ersten großen Tragiker den Atem ihres Lebens eingehaucht hatten, aus dem alle hohe Poesie von Anbeginn geschöpft, war als des Dichters ererbte Gestaltenwelt ein für allemal gegeben. Auch die kühne Neuerungssucht des Euripides hat nicht daran gedacht, aus dieser vorgezeichneten Bahn zu weichen. Es von ihm erwarten hieße die altgriechische Poesie in ihrem tiefsten Wesen mißverstehen, denn sie war an den Mythos gebunden und mußte mit ihm leben und zugrunde gehen. Aber Euripides lebt nicht nur sinnend und bildend in dieser angestammten dichterischen Sphäre. Zwischen sie und ihn drängt sich jetzt die Wirklichkeit des Lebens, wie seine Zeit sie empfindet. Für die Stellung dieses historischen und rationalen Zeitalters zum Mythos ist die Tatsache symbolisch, daß es den Historiker Thukydides hervorgebracht hat, dem das Suchen nach der Wahrheit so viel bedeutet wie die Austreibung des Mythischen. Es ist derselbe Geist, der Naturerklärung und Medizin beseelt. Der Wille zur Gestaltung der selbsterfahrenen Wirklichkeit erhebt sich in den Werken des Euripides zum erstenmal seiner selbst bewußt als elementarer [1/431]

431

künstlerischer Trieb, und da er den Mythos als gegebene Form sich gegenüber findet, läßt der Dichter seinen neuen Realitätssinn in dieses Gefäß einströmen. Hatte nicht schon Aischylos die Sage nach der Vorstellung und dem Wunschbild seiner eigenen Umwelt geformt, hatte nicht Sophokles aus dem gleichen Bedürfnis die Heroen vermenschlicht, und war nicht die staunenswerte Erneuerung des Mythos, der im späten Epos längst gestorben schien, im Drama der letzten hundert Jahre einzig das Werk der kühnen Transfusion des eigenen Bluts und Lebens in die schattenhaften Leiber dieser längst entseelten Welt? Dennoch konnte Euripides, als er sich mit seinem äußerlich stilstrengen mythischen Drama unter die Bewerber um den Preis der Tragödie einreihte, seine Hörer nicht glauben machen, daß die Tendenz zur fortschreitenden Modernisierung der Gestalten des Mythos in dem, was er wagte, nur eine graduelle Steigerung erfahre. Er muß sich der revolutionären Verwegenheit seiner Tat bewußt gewesen sein, die seine zeitgenössischen Zuschauer mit innerer Erschütterung ergriff oder sich mit leidenschaftlichem Abscheu von ihm abwenden ließ. Offenbar vertrug das griechische Bewußtsein eher die Verflachung des Mythos zu einer ästhetischen und konventionellen Ideal- und Scheinwelt, der er sich in der virtuosen Chorlyrik des 6. Jhrh. und im späten Epos schon vielfach angenähert hatte, als seine Einpassung in die Kategorien der gemeinen Wirklichkeit, die für griechisches Empfinden, am Mythos gemessen, unserem Begriff des Profanen entspricht. Nichts kennzeichnet so scharf die naturalistische Hingabe der neuen Zeit an das Reale wie der Versuch der Kunst, den Mythos dadurch vor Fremdheit und Leere zu schützen, daß sie seine Maßstäbe an der illusionslos geschauten Wirklichkeit korrigiert. Dieser unerhörte Eingriff wurde von Euripides nicht mit kaltem Blute begangen sondern geschah mit leidenschaftlichem Einsatz einer starken Künstlerpersönlichkeit und in zäher Standhaftigkeit gegen jahrzehntelange Niederlagen und Enttäuschungen, die das in seiner Mehrheit noch keineswegs Gefolgschaft leistende Volk dem aufstrebenden Dichter bereitete. Doch er blieb schließlich Sieger und eroberte nicht nur die Bühne Athens sondern die ganze griechisch sprechende Welt. Wir haben hier nicht die einzelnen Werke des Euripides vor432

[II432J

zuführen oder eine Analyse ihrer künstlerischen Form um ihrer selbst willen zu geben. Was wir ins Auge fassen, sind die stilbildenden Kräfte der neuen Kunst. Wir sehen dabei ab von dem, w es" expliziert sich eben nicht als Definition, sondern als Idee. Die Idee ist das Ziel der dialektischen Bewegung des platonischen Gedankens. Das ist die Einsicht, die der Leser schon aus den frühesten Werken Piatos gewinnt, und der ,Menon* rückt sie in noch helleres Licht«. Wenn wir diese Analyse des logischen Vorgangs der sokratischen Dialektik durch Plato, ihren berufensten Deuter, in ihrem klaren Wortsinn verstehen, so wie er sie im ,Menon' Schritt für Schritt vorführt, erscheint es fast immöglich, in die Fehler zu verfallen, die ihre philosophischen Beurteiler in alter u n d neuer Zeit begangen haben. Den Anfang damit macht in gewisser Weise schon Aristoteles mit seiner berühmten Behauptung, Sokrates habe als erster die allgemeinen Begriffe zu definieren gesucht, Plato aber habe dann diesen logischen Allgemeinbegriff als ontologische Realität hypostasiert und dadurch unnötigerweise verdoppelt 1 ®. 748

[II¡232]

Die platonische Idee würde danach die Entdeckung des logisch Allgemeinen von Anfang an voraussetzen. Wenn man das annimmt, erscheint die Idee in der Tat nur als eine seltsame Verdoppelung des Begriffes, der im menschlichen Geiste ist. In dieser Rekonstruktion des inneren Vorgangs, der Plato zur Aufstellung der Ideenlehre führte, sind die neueren Logiker dem Aristoteles meistens gefolgt 20 . Allein, wenn auch das, was wir „den Begriff" nennen, potentiell in dem sokratischen Was-ist-es bereits darinsteckt, geht doch Plato in seiner Deutung dieser sokratischen Frage nach dem Wesenswas der Arete in Wirklichkeit einen anderen Weg, als es dem modernen Logiker natürlich erscheint. Dem Modernen ist der logische Allgemeinbegriff etwas so Selbstverständliches, daß er das Mehr, welches in der platonischen Idee darüber hinaus noch steckt, als eine bloß störende und problematische Zutat empfindet, da er ohne weiteres annimmt, daß man die Tugend an sich zuerst einmal als logischen Begriff erfaßt haben müsse, ehe man diesem Begriff außerdem noch Existenz im ontologischen Sinne zuschreiben könne. Von diesem zwiefachen Aspekt des Wortes ist aber im ,Menon' in Wahrheit nichts zu finden, und wenn w i r auch in Piatos Worten beide Seiten, das logisch Allgemeine und das ontologisch Reale, deutlich unterscheiden, sind sie für ihn selbst doch absolut eins. Die Frage: Was ist die Arete? zielt unmittelbar auf die ούσία, auf ihr Wesen und wahres Sein, und das ist eben die Idee 21 . Erst in den späteren Dialogen wird das Verhältnis der Idee zu der Vielheit der Erscheinungen, das Plato bis dahin etwas undeutlich als „Teilhaben" des Einzelnen am Allgemeinen bezeichnet hatte, für ihn zum Problem, und es tauchen logische Schwierigkeiten auf, die ihm in der ursprünglichen Fassung der Idee noch nicht bewußt waren. Die Mißverständnisse der modernen Ausleger sind also nicht sowohl dadurch entstanden, daß man Piatos eigene Worte falsch deutete; denn das ist an sich kaum möglich, sondern dadurch, daß man gewisse spätere logische Einsichten in sie hineintrug. Indem Aristoteles von der ihm ganz geläufigen Tatsache des logischen Allgemeinbegriffs ausging, fand er einerseits mit Recht, daß dieser in der platonischen Idee darinsteckt; anderseits stellte er fest, daß Plato in seiner Idee dieses Allgemeine zugleich als das eigentlich und wahrhaft Seiende ansah. Diesen zweiten Schritt betrachtete Aristoteles als die Quelle der Fehler, die Plato bei der Be[II1233]

749

Stimmung des Verhältnisses des Allgemeinen zum Besonderen begeht. Er hatte nach Aristoteles' Ansicht die Allgemeinbegriffe zu metaphysischen Wesenheiten gemacht und ihnen selbständige Existenz, gesondert von den Sinnendingen, zugeschrieben. In Wahrheit hat Plato den zweiten Schritt (die „Hypostasierung" der Begriffe) nicht getan, weil er den ersten Schritt noch nicht getan hatte, nämlich die Abstrahierung der allgemeinen Begriffe als solcher. Der logische Begriff ist vielmehr bei ihm noch ganz in die Idee eingehüllt, er ist so, wie Plato das Vordringen von den Erscheinungen zum Wesen der Arete schildert, ein Akt geistiger Anschauung, die im Vielen das Eine erfaßt. Plato selbst bestimmt die Natur des dialektischen Denkvorgangs im ,Staat* als Synopsis, d. h. als Zusammenschauen der gemeinsamen Züge in einer Vielheit der Erscheinungen, die unter eine und dieselbe Idee fallen. Das ist das beste Wort, um den im ,Menon' beschriebenen logischen Akt zu charakterisieren22. Anderseits wird die dialektische Methode hier als ein Rechenschaft-Entgegennehmen bestimmt, und das ist wesentlich, weil es die Deutung ausschließt, als handle es sich bei jenem anschaulichen inneren Akt um etwas, das aller Nachprüfung durch andere grundsätzlich entzogen ist. Eine dialektische Antwort, so schärft Plato ein, muß nicht nur wahr sein, sondern sie muß sich stützen auf das, was der Gefragte zugesteht23. Es wird also vorausgesetzt, daß man hinsichtlich dessen, was der Gegenstand einer solchen intellektuellen Anschauung ist, durch Unterredung in der Form von Frage und Antwort zur Verständigung gelangen kann. Im ,Staat' und im 7. Brief wird es später klar, daß die geduldige Arbeit dieser dialektischen Verständigung der langsame und mühsame Weg ist, auf dem man sich dem Schauen der Idee nähern muß 24 . Es ist schwer zu sagen, ob und wieweit hinter der im ,Menon' gegebenen Analyse des logischen Gehalts der sokratischen Dialektik bereits ein fertiges Gebäude allgemeiner logischer Regeln steht. Sehr wahrscheinlich ist dies der Fall, auch wenn wir sahen, daß die Erkenntnisse letzten Endes alle aus der Bearbeitung des einen Tugendproblems erwachsen sind. Bezeichnend dafür ist außer dem hohen Grad logischer Bewußtheit, den Plato überall in diesem Dialog an den Tag legt, vor allem die Menge technischer Ausdrücke, deren er sich bei der Beschreibung der einzelnen methodi750

[II1234J

sehen Schritte bedient. Um eine „Übung" anzustellen, wie Plato es hier tut 25 , muß man die Regeln beherrschen, die man zugrunde legen will. Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die bewußte Kunst der Erläuterung logischer Prozesse durch Beispiele (Paradigmata), auf deren Funktion Plato wiederholt hinweist. So wird die Frage, was die Tugend sei, erläutert an dem Beispiel der Frage: Was ist eine Figur?, und die Frage, ob die Gerechtigkeit die Tugend oder eine Tugend sei, an der parallelen Frage, ob das Kreisförmige die Figur oder eine Figur sei 2 ·. Wenn an einer Stelle gesagt wird, daß andere Farben nicht minder Farbe sind als das Weiße und das Krumme nicht in höherem Grade Figur ist als das Gerade 27 , so wird damit logisch verdeutlicht, was Plato unter Wesen (ουσία) versteht; denn das Wesen läßt, wie ζ. B. auch der ,Phaidros' lehrt, kein Mehr oder Weniger zu, und keine Figur ist in höherem Maße Figur als irgend eine andere2B. Ein Mehr oder Weniger findet dagegen hinsichtlich der Qualität oder Relation statt. Dieselben Erkenntnisse finden sich später in der Kategorienlehre des Aristoteles ausgesprochen, aber sie waren schon Plato geläufig und zwar, wie der ,Menon' zeigt, seit seiner frühesten Zeit2*. (Eine logische Analyse der früheren Dialoge unter diesem Gesichtspunkt würde von großem Interesse sein.) Es erweist sich also, daß es sich in einem Werk wie dem ,Menon' keineswegs um die ersten tastenden Versuche Piatos handelt, zu einer Einsicht in die logische Natur der sokratischen Dialektik zu gelangen, sondern daß er aus der Fülle solcher logischen Erkenntnisse spricht. Sokrates macht seine Versuche an einem Schüler, der geistig den guten Durchschnitt der Studenten der Akademie verkörpert 30 . Plato bringt seinen Lesern in dieser Form die elementaren logischen Fragen zum Bewußtsein, ohne deren Verständnis seine Dialoge nicht zu begreifen sind. Er ist sich dabei klar über die Grenzen, die ihm bei der Erläuterung so technischer Dinge durch die literarische Form gezogen sind. Aber er bringt es trotzdem fertig, auch dem Nichteingeweihten einen Begriff von der Schwierigkeit wie von dem Reiz dieses neuen Problemgebietes zu geben. Eine besondere Rolle spielt im ,Menon' die Mathematik. Ohne Zweifel hat Plato ihr von Anfang an großes Interesse entgegengebracht, denn schon die früheren Dialoge verraten genaue Kenntnis der mathematischen Dinge. Während im ,Gorgias' bei der AnIII1235]

751

läge des Grundrisses der neuen ethisch-politischen Techne mehr das Vorbild der Medizin herangezogen wurde, ist es im ,Menon' die Mathematik, die als Muster dient. Das bezieht sich einmal auf die Methode. So wird schon bei dem ersten Versuch, das Wesen der Arete zu bestimmen, als Probe zu sagen versucht, was eine Figur ist 31 . Im zweiten Teil des Dialogs, wo Sokrates und Menon einen neuen Anlauf machen, um zu erkennen, was die Arete ist, wird wieder die Mathematik zu Hilfe geholt. Sie wissen zwar noch nicht, was die Arete ist, aber da aus erzieherischen Gründen vor allem die Frage sie interessiert, ob die Arete lehrbar ist, so stellt Sokrates jetzt das Problem in der Weise, daß er fragt, wie die Arete beschaffen sein muß, um lehrbar zu sein. Er will damit auf sein bekanntes Postulat hinaus, daß die Arete ein Wissen sei. Für diese Methode der „Hypothesis" beruft er sich auf die Geometer 32 . Doch können die Einzelheiten des von ihm angeführten Beispiels (des in einen Kreis zu konstruierenden Dreiecks) hier außer Betracht bleiben. Die Mathematik erscheint im ,Menon' aber nicht nur im einzelnen als Vorbild der Methode, sondern sie wird ganz allgemein zur Illustration derjenigen Art des Wissens, die Sokrates als Ziel vorschwebt, herangezogen. Dieses hat mit dem mathematischen Wissen gemeinsam, daß es zwar von sinnlichen Einzelerscheinungen ausgeht, die das Gesuchte repräsentieren, selbst aber nicht dem Bereich des Wahrnehmbaren angehört. Es kann nur in der Seele selbst erfaßt werden; das Organ, mit dem wir es erfassen, ist der Logos. Sokrates macht dies dem ,Menon* klar, indem er dessen Sklaven, einen nicht unbegabten, aber ganz ungebildeten jungen Menschen, in Gegenwart seines Herren durch entsprechende Befragung den Satz vom Hypotenusenquadrat an einer roh aufgezeichneten Figur selbst finden läßt 33 . Die Vorführung dieses pädagogischen Experiments ist der Glanzpunkt des Dialogs. Hier läßt Plato uns Einblick nehmen in die Überlegungen, die ihn zur Anerkennung einer von der sinnlichen Erfahrung verschiedenen, rein geistigen Quelle der wissenschaftlichen Gewißheit geführt haben. Der Sklave wäre natürlich ohne die Hilfe des Sokrates nicht imstande, die Schritte zu tun, die ihn zur Erkenntnis jenes komplizierten mathematischen Sachverhalts hinführen, und er begeht alle die Fehler, die der in rein sinnlicher Betrachtung be752

[II/236]

fangene naive Verstand zunächst machen muß, ehe er den wahren Grund der Sache begriffen hat. Aber die Gewißheit, daß es sich so und nicht anders verhält, kommt ihm schließlich aus keiner anderen Quelle als aus seiner inneren Anschauung, und nachdem er einmal die Natur der zugrunde liegenden mathematischen Verhältnisse klar erfaßt hat, wirkt diese Anschauung mit absoluter, jeden Zweifel ausschließender Überzeugungskraft. Diese Überzeugungskraft des Erkannten kommt nicht aus der Belehrung, die ihm zuteil geworden ist, sondern aus dem eigenen Geiste und der Einsicht in die Notwendigkeit der Sache 34 . U m der Natur dieser inneren Anschauung näherzukommen, greift Plato auf die Vorstellungswelt des religiösen Mythos zurück. Da der Grieche sich keine Anschauung ohne realen Gegenstand zu denken vermag, anderseits aber der Geist des Menschen wie z. B. der des Sklaven bei der geometrischen Untersuchung in seinem gegenwärtigen Dasein noch nichts Derartiges wie die mathematische Erkenntnis gesehen oder gewußt hat, so deutet Plato ihr potentielles Vorhandensein in der Seele als ein Schaunis, das ihr in einem früheren Leben zuteil geworden sein muß 35 . Der Mythos von der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Wanderung durch mehrere körperliche Gestalten gibt der Forderung einer solchen Präexistenz für unsere endliche Phantasie Farbe und Gestalt3®. Im jMenon' liegt dem Plato weniger an der Vorstellung der Unsterblichkeit als notwendiger Grundlage seines Begriffes der sittlichen Persönlichkeit 37 wie an der Möglichkeit, durch sie seiner neuen Lehre von einem gleichsam angeborenen Wissen in der Seele des Menschen einen Hintergrund zu geben. Ohne einen solchen Hintergrund bliebe die Charakteristik dieses Wissens eine blasse und vage Vorstellung. Durch ihre Verbindung mit der Präexistenz eröffnen sich ungeahnte Perspektiven nach mehreren Richtungen, und die gesuchte Erkenntnis des Guten an sich erhält ihre vollkommene Unabhängigkeit von aller äußeren Erfahrung und eine fast religiöse Würde. Sie ist einerseits von mathematischer Klarheit und ragt zugleich wie ein Stück einer höheren Welt in das menschliche Dasein hinein. Diese Hilfsstellung zur Ideenlehre nimmt die mathematische Wissenschaft bei Plato durchweg ein. Überall erscheint sie als die Brücke zur Erkenntnis der Ideen, und eine solche Brücke muß sie für Plato selbst gewesen sein, als er zum [11/237]

753

erstenmal daran ging, die von Sokrates gesuchte Erkenntnis und ihren Gegenstand logisch zu bestimmen. Damit war in Piatos Sinne das Erbe des Sokrates vollstreckt, aber zugleich ein gewaltiger Schritt über ihn hinaus getan. Dieser war stets beim Nichtwissen stehen geblieben, Plato aber drängt ungestüm vorwärts zum Wissen. Das Nichtwissen erweist sich ihm dabei jedoch als Zeichen der wahren Größe des Sokrates, denn Plato deutet es als die Geburtswehen einer ganz neuen Art des Wissens, von der Sokrates' Geist schwanger war. Es ist eben jenes innere Erkennen der Seele, das der ,Menon' erstmals genauer zu fassen und zu beschreiben sucht, die Anschauung der Ideen. Es ist daher nicht zufallig, daß Plato gerade im ,Menon' die „Aporie" des Meisters in einem neuen positiven Licht erscheinen läßt 38 . Nicht als ob er selbst erst in diesem Augenblicke sie so zu sehen imstande gewesen wäre. Doch sie anderen so zu erklären, wurde möglich erst, als Plato daran ging, die wunderbare Natur dieses Wissens, das seine Gewißheit ganz von innen schöpft, darzulegen. Als der junge Menon auf Forderung des Sokrates zum erstenmal die Arete zu bestimmen sucht und mit einer Fehlbestimmung endigt, die, wie Sokrates ihm klarmacht, gegen eine dialektische Grundregel verstößt, erzählt er enttäuscht, er habe schon von anderen gehört, daß Sokrates die gefährliche Kunst besitze, andere Menschen in solche Verlegenheit zu versetzen, daß sie weder aus noch ein wissen39. Er vergleicht ihn mit der Narkë, einem elektrischen Fisch, der die Hand lahmt, die ihn berührt. Doch Sokrates weist den Vergleich zurück, es sei denn, die Narkose mache auch den Fisch selbst imbeweglich, denn er fühlt sich selbst durchaus als Opfer seiner Aporie40. Aber Plato zeigt dann an dem mathematischen Beispiel in der Episode mit dem Sklaven, wie gerade die Aporie zur eigentlichen Quelle des Lernens und Verstehens wird41. Er hat augenscheinlich in der Mathematik ein vollkommenes Beispiel zu der sokratischen Aporie gesucht und gefunden, und dieses Beispiel hat ihn darüber beruhigt, daß es Aporien gibt, die die wichtigste Vorbedingung zur wirklichen Lösimg einer Schwierigkeit sind. Der mathematische Exkurs im ,Menon' dient dazu, die erzieherische Fruchtbarkeit des „aporein" aufzuzeigen und es als die erste Stufe auf dem Wege der positiven Erkenntnis der Wahrheit 754

[II 1238]

zu erweisen. Der sinnlichen Erfahrung fällt in diesem Prozeß der stufenweise fortschreitenden Selbstbesinnung des Geistes die Rolle zu, in der Seele die Erinnerung an das „von Ewigkeit her" geschaute Wesen der Dinge zu wecken42. Diese ihre Bedeutung erklärt sich aus der Auffassung der Sinnendinge als Abbilder der Ideen, wie Plato sie an anderen Stellen begründet hat. Im ,Menon' wird die Lehre, daß das „sokratische" Wissen Wiedererinnerung sei, nur eben hingestellt, ebenso wie die Lehre von der Unsterblichkeit und der Präexistenz, die im ,Phaidon', im,Staat', im ,Phaidros' und in den .Gesetzen' dann näher ausgeführt wird. Das Wesentliche ist für Plato hier die Einsicht, daß die Wahrheit des Seienden in der Seele „enthalten ist" 43 . Diese Einsicht bringt den Prozeß des Suchens und der methodischen Selbstbesinnung in Gang. Das Streben nach der Wahrheit ist nichts anderes als die Entfaltung der Seele und des von Natur in ihr liegenden eigenen Gehalts44. Es entspricht einer tief in ihr wurzelnden Sehnsucht, wie schon hier angedeutet wird45. Diese Anschauung hat Plato dann im Symposion' und anderwärts zu seiner Lehre vom Eros als dem Ursprung alles geistigen Strebens entwickelt. Sokrates weist mehrfach das Wort „lehren" (διδάσκείν) als Bezeichnung des Vorgangs zurück, da es die Vorstellung eines äußerlichen Hineinfüllens von Kenntnissen in die Seele anzudeuten scheint46. Der Sklave hat den mathematischen Satz nicht durch Belehrung als wahr erkannt, sondern dadurch, daß er das Wissen aus sich selber schöpfte47. Wie Plato im ,Protagoras' und ,Gorgias' die neue Paideia in ihrem ethischen Grundriß klarlegt dadurch, daß er sie in Gegensatz zu der Erziehung der Sophisten stellt, entfaltet er im,Menon' den tiefen Wissensbegriff, der in der Sokratik im Keime schlummert, indem er ihn mit der mechanischen Auffassung der Sophisten von dem Vorgang des Lernens kontrastiert. Das echte Lernen ist kein passives Aufnehmen, sondern ein angestrengtes Suchen, das nur mit spontaner Beteiligung des Lernenden möglich ist. Aus der gesamten Darstellung Piatos leuchtet die sittliche, den Charakter stählende Wirkung des wissenschaftlichen Strebens hervor48. Die aktive Natur des griechischen Geistes und sein Trachten, in sich selbst die bestimmenden Gründe seines Denkens und Tuns zu finden, kommt in ihr zu vollendetem Ausdruck. Der platonische Begriff des Wissens, der in dem mathematischen Exkurse des ,Menon' erläutert wird, wirft sein Licht auf den [II1239]

755

Schlußteil des Dialogs, der das alte Problem wieder aufnimmt: Was ist die Arete? 49 Es wurde schon gesagt, daß die Frage nach der Natur des Wissens für Plato überhaupt nur aus dem Problem der Arete erwächst; es war also zu erwarten, daß nach Abschluß der Erörterung über das Wissen der Versuch gemacht wird, aus ihr etwas für jenes sokratische Urproblem zu lernen60. In dem Teil des ,Menone, der der Untersuchung des Wissens vorangeht, war die Arete bewußt naiv als die Fähigkeit bestimmt worden, sich alle Arten von Gütern zu verschaffen 51 . Dieser Versuch hält sich noch ganz auf der Ebene der altgriechischen Volksethik, wie j a Plato durchweg an das geschichtlich Gegebene anknüpft. Diese vorläufige Bestimmung wurde dann erst durch den nachträglichen Zusatz der Worte „auf gerechte Weise" dem strengeren ethischen Denken der Philosophie einigermaßen angenähert52. Doch das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Tugend schlechthin bleibt dabei völlig unbestimmt, und es zeigt sich, daß das Wesen der letzteren durch jene Definition nicht klarer geworden ist, weil sie den logischen Fehler begeht, das Wesen der Tugend durch einen Teil derselben, nämlich die Gerechtigkeit, zu erklären. Sie setzt also das zu Erkennende bereits als bekannt voraus 53 . Die sokratische Bestimmung der Tugend als Wissen wird auf dieser Stufe der Untersuchung noch gar nicht erwähnt, aber es ist von Anfang an deutlich, daß die Erörterung der Frage: Was ist Wissen? im Mittelteil des ,Menon< dazu dient, die Einführung des sokratischen Begriffs des Wissens zum Zweck der Wesensbestimmung der Arete vorzubereiten. Sie folgt dann in der Form der bereits oben (S. 236) erwähnten hypothetischen Definition: Wenn die Tugend lehrbar sein soll, muß sie ein Wissen sein64. Es leuchtet ein, daß keines jener von der Welt so heiß begehrten Güter, unter denen die Menge Dinge wie Gesundheit, Schönheit, Besitz und Macht versteht, ein wirkliches Gut für den Menschen ist, wenn es nicht von Erkenntnis und Vernunft begleitet ist66. Diese Vernunft also, die Phronesis, die uns sagt, was wahre und was falsche Güter sind, und welche von ihnen wir wählen sollen, muß das gesuchte Wissen sein6®. Im ,Staat' bezeichnet Plato es geradezu als das Wahlwissen und erklärt, daß es im Leben einzig darauf ankomme, diese Art des Wissens zu erwerben 67 . Es beruht auf der unerschütterlichen Erkenntnis jener Ideen und Urbilder der höchsten Werte, die die 756

/11/240]

Seele in sich selber vorfindet, wenn sie sich auf das Wesen des Guten, Gerechten usw. besinnt, und es hat die Kraft, den Willen zu bestimmen und zu leiten. Dies ist jedenfalls die Richtung, in der die Antwort auf die Frage des Sokrates nach dem Wesen der Arete zu suchen ist. Doch Plato läßt das Gespräch lieber mit einer echt sokratischen Aporie enden. Wir erkennen in ihr das alte Dilemma wieder, in dem schon der ,Protagoras* gipfelte: Wenn die Tugend lehrbar sein soll, so müßte sie ein Wissen sein, und dann wäre in der Forderung des Sokrates, der dies ja behauptet, der Schlüssel zu einer Erziehung im wahren Sinne des Wortes enthalten 68 . Aber die Erfahrung scheint zu beweisen, daß es keine Lehrer der Tugend gibt, daß bisher selbst die größten Männer der athenischen Vergangenheit und Gegenwart nicht fähig waren, ihre Tüchtigkeit und ihren Charakter auf ihre eigenen Söhne zu vererben 59 . Sokrates ist zwar bereit zuzugeben, daß jene Männer selbst Arete besaßen, aber wenn sie ein Wissen gewesen wäre, müßte sie als erzieherische Kraft wirksam geworden sein. Sie beruhte also offenbar nur auf „richtiger Meinung"· 0 , die durch irgendeine göttliche „Moira" dem Menschen zuteil wird 41 , aber ihn nicht befähigt, Rechenschaft von seinem Tun zu geben, weil er nicht die „Erkenntnis des Grundes" besitzt62. So sind wir am Schlüsse des ,Menon' scheinbar nicht weiter gekommen, als wir schon im,Protagoras' waren. Doch dies ist wirklich nur scheinbar so, denn in Wahrheit eröffnet der neue Begriff des Wissens, den wir im Mittelteil des ,Menon' mit Hilfe des mathematischen Beispiels gewonnen haben, den Einblick in eine Art der Erkenntnis, die nicht im äußeren Sinne lehrbar ist, sondern bei richtiger Anleitung des Denkens in der Seele des Forschenden selbst entspringt. Der Reiz der sokratischen Gesprächskunst Piatos besteht darin, daß er uns dies Ergebnis auch hier, wo wir ihm endlich zum Greifen nahe gekommen sind, nicht fertig auftischt, sondern es uns selbst finden läßt. Wird aber das Dilemma, das Plato im ,Protagoras' entwickelt hatte®3, einer Lösung entgegengeführt, so wird damit der erzieherische Anspruch, den Sokrates in jenem Werke und im jGorgias' erhob, endgültig gerechtfertigt. Die neue Paideia ist in der Tat nicht lehrbar in der Weise, wie die Sophisten dies verstanden, und Sokrates hatte es daher mit Recht abgelehnt, Menschen durch [II

1241]

757

bloße Belehrung zu erziehen. Aber indem er die Forderung erhob, die Tugend müsse ein Wissen sein, und den Weg zu diesem Wissen bahnte, trat er an die Stelle der Pseudopropheten der Schulweisheit als der einzige wahre Erzieher. Sokrates wird im Schlußteil des ,Menon' ausdrücklich vor diesen Hintergrund der sophistischen Paideia gerückt, indem Anytos als neue Figur in das Gespräch eintritt und die Rede auf die Frage der richtigen Erziehung bringt. Das Problem, mit dem der Dialog beginnt und an dem er den Wissensbegriff des Sokrates entwickelt: die Frage, wie die Arete im Menschen entstehe, ist natürlich von Anfang an auf dieses Ziel gerichtet. Der ,Menon' endet — wie der,Protagoras' — mit einem Dilemma: da die Lehre der Sophisten nicht die Arete bewirken kann und die Arete der Staatsmänner, die sie von Natur (çùaa) besitzen, nicht fähig ist, auf andere übertragen zu werden, scheint Arete nur durch göttlichen Zufall in der Welt zu existieren, wenn nicht ein Staatsmann (πολιτικός) gefunden wird, der auch einen anderen zum Staatsmann machen kann. Doch dieses leicht zu überhörende „wenn nicht" enthält in Wahrheit die Auflösung des Dilemmas, denn aus dem .Gorgias' wissen wir schon, daß nach Piatos paradoxer These Sokrates dieser einzige wahre Staatsmann ist, der die Menschen besser macht. Wie seine Art des Wissens in der Seele des Menschen geweckt wird, das hat der ,Menon' gezeigt. Und so ist es am Schluß klar, daß die Arete im Sinne des Sokrates sowohl „von Natur" als auch „lehrbar" ist. Doch versteht man diese Worte im Sinne des gewöhnlichen pädagogischen Sprachgebrauchs, so ist sie weder „lehrbar" noch „von Natur" vorhanden, es sei denn letzteres im Sinne der natürlichen Begabung und Anlage, die keine Rechenschaft von sich geben kann. Doch das Erziehertum des Sokrates hängt nicht nur an dem methodischen Charakter des sokratischen Wissens, den Plato im ,Menon' mit Hilfe der Parallelisierung von Dialektik und Mathematik in volles Licht rückt. Das philosophische Ideenwissen, das aus der Selbstbesinnung des Geistes auf seinen eigenen inneren Kosmos geboren ist, erscheint in Piatos Dialogen in immer neuer Beleuchtung als die wahre Erfüllung der natürlichen Bestimmung des Menschen. Im ,Euthydemos' wird die Phronesis des Sokrates geschildert als der Weg zur Eudaimonie und zum wahren Gelingen Seine Botschaft klingt dort fast rein weltlich, und sie ist ge758

[II1242]

wiß nicht denkbar ohne das Bewußtsein, dem Menschen im Leben durch das Wissen von den höchsten Gütern einen festen und sicheren Stand zu geben. In Piatos ,Phaidon' enthüllt sie in der seherisch entrückten Sterbestunde des Meisters ihre weltüberlegene und weltüberwindende Kraft. Sie erscheint dort als die tägliche und stündliche Vorbereitung des Philosophen auf das S t e r b e n a b e r dieses unablässige geistige Sich-zum-Tode-Rüsten führt zum höchsten Triumph in der Apotheose des scheidenden Sokrates, der von seinen Jüngern geht in gelassener Heiterkeit der Seele und als ein wahrhaft Freier. Das Wissen ist hier beschrieben als Sammlung der Seele ββ — eine der unsterblichen psychologischen Begriffsschöpfungen Piatos —, wenn sie sich aus der Zerstreuung der Sinne, die stets zur Außenwelt hindrängen, auf ihre eigenste innere Tätigkeit konzentriert. Der Gegensatz der geistigen und sinnlichen Natur des Menschen findet in diesem Werk seinen schärfsten Ausdruck. Doch diese „Askese" des philosophischen Menschen, der sein ganzes Dasein der Erkenntnis und damit der dauernden Sammlung weiht, ist von Plato nicht als ausschließendes und einseitiges Lebenssymbol gemeint; sie erscheint bei der ungeheuren Übermacht, die er dem Geistigen in uns über das Körperliche gibt, als durchaus natürlich. Für den, der in diesem Leben seine Seele daran gewöhnt hat, sich vom Körper zu trennen, und dabei der Ewigkeit gewiß geworden ist, die er in seinem Geiste trägt, hat der Tod seine Schrecken verloren. Wenn so im ,Phaidon' der Geist des Sokrates sich wie der apollinische Schwan zu den Gefilden des reinen Seins aufschwingt 67 , noch ehe er den Leib verläßt, zeigt Plato den Philosophen im ,Symposion' als die höchste Form des dionysischen Menschen, und das Wissen von der ewigen Schönheit, zu deren Schaunis er emporsteigt, als die höchste Erfüllung des menschlichen Urtriebes, des Eros, des großen Dämons, der den Kosmos draußen und drinnen zusammenhält. Im ,Staat' endlich offenbart sich das Wissen des Philosophen als die Quelle aller gesetzgeberischen und gemeinschaftbildenden Kraft der Seele. So ist Piatos Philosophie nicht nur eine neue Theorie des Erkennens, sondern die vollkommenste Schau (θεωρία) des Kosmos der menschlichen und dämonischen Kräfte. Das Wissen ist zentral in diesem Bilde, weil es die alles führende und ordnende schöpferische Macht ist. Es wird für Plato der Wegweiser zu der Welt des Göttlichen. [II1243]

759

PLATOS SYMPOSION: EROS Plato hat schon früh im ,Lysis', einem der anmutigsten seiner kleineren Dialoge, die Frage nach dem Wesen der Freundschaft aufgeworfen und damit ein Grundmotiv seiner Philosophie angeschlagen, das in den vom Eros handelnden großen Werken seiner Reifezeit, dem , Symposion' und ,Phaidrosc ,zu reichster* Entfaltung kommt. Ebenso wie die Untersuchung der einzelnen Tugenden in den anderen frühplatonischen Dialogen fügt auch diese Erörterung sich in den größeren Zusammenhang der politischen Philosophie Piatos ein. Seine Lehre von der Freundschaft bildet das Kernstück einer Betrachtung des Staates, die in diesem in erster Linie eine erzieherische Macht sieht. Im ,Staat' und im 7. Brief begründet Plato seine Zurückziehung von aller politischen Tätigkeit mit dem völligen Mangel an zuverlässigen Freunden und Gefährten, die ihm bei dem Werk der Erneuerung der Polis Hilfe leisten könnten 1 . Wenn die Gemeinschaft im großen organisch erkrankt oder zerstört ist, kann ein Wiederaufbau nur von einer engeren, aber im Kern gesunden Gesinnungsgemeinschaft ausgehen, die zur Keimzelle eines neuen Organismus wird; das aber ist die Bedeutung der Freundschaft (φιλία) für Plato durchweg: sie ist die Grundform aller menschlichen Gemeinschaft, sofern diese nicht nur natürliche, sondern geistig-sittliche Verbundenheit ist. Das Problem greift daher weit über den Bereich dessen hinaus, was wir in unserer bis zum äußersten individualisierten Gesellschaftsform unter Freundschaft verstehen. Wir vermögen den wahren Umfang des griechischen Begriffs der Philia deutlicher zu erkennen, wenn wir seine weitere Entfaltung bis zu der feindifferenzierten Freundschaftstheorie der ,Nikomachischen' Ethik des Aristoteles verfolgen, die j a in gerader Linie von der platoni760

[1V244]

sehen abstammt. Sie stellt eine vollständige Systematik aller denkbaren Arten der menschlichen Geifleinschaft dar, von den einfachsten Grundformen des Familienlebens bis zu den verschiedenen Arten der Staatsverfassung. Die Wurzel dieser Philosophie der Gemeinschaft war die Spekulation des sokratischen Kreises und besonders Piatos über das Wesen der Freundschaft, sowie die einzigartige Bedeutung, die dieses Problem für die Sokratik gehabt hatte 2 . Wie die gesamte ethische Bewegung, die von ihr ausging, wurde auch der tiefere Begriff der Freundschaft, den sie hervorbrachte, unmittelbar als Beitrag zur Lösung des Staatsproblems erlebt und verkündigt. Die triviale Psychologie, die zur Zeit Piatos ihre unbefriedigenden Versuche zur Ableitung der Freundschaft machte, führte diese entweder auf die Ähnlichkeit der Naturen oder auf die Anziehung der Gegensätze zurück 3 . Über diesen äußerlichen Bereich bloßer Seelenvergleichung leitet der ,Lysis' in erstmaligem, kühnem Vorstoß zu dem neu geschaffenen Begriff des „Ersten was wir lieben" (πρώτον φίλον) empor, das Plato als die Quelle und den Ursprung aller Befreundung zwischen Menschen fordert und voraussetzt 4 . U m eines solchen allgemeinen, im letzten Grunde von uns begehrten „Lieben" willen lieben wir alles, was wir im einzelnen lieben 6 . Es ist das, nach dessen Erreichung oder Verwirklichung wir bei jeder Verbindung mit anderen Menschen trachten, gleichviel welches der besondere Charakter dieser Verbindung sein möge. Es ist mit anderen Worten das sinngebende und zielsetzende Prinzip aller menschlichen Gemeinschaft, nach dem Plato fragt. Auf ein solches Prinzip deutet der,Lysis' hin, wenn er den Begriff von einem „ersten Lieben" als Wegweiser aufstellt. Damit stimmt es überein, wenn Plato im ,Gorgias' sagt, daß wahre Gemeinschaft nicht möglich ist mit Menschen, die ein Räuberleben führen. Sie kann nur unter Guten existieren®. Wie die übrigen sokratischen Gespräche die Idee des Guten als festen Orientierungspunkt voraussetzen, so erweist diese sich auch in der Betrachtung des Problems der Freundschaft als der absolute und letzte Maßstab; denn auch ohne daß Plato es ausdrücklich ausspricht, würde es dem verstehenden Leser klar sein, daß sich hinter dem „ersten Lieben", um dessentwillen wir alles andere lieben, der höchste Wert, das an sich Gute verbirgt ? . So öffnet sich schon im ,Lysis' [II1245]

761

der Ausblick, den die beiden Hauptwerke über den Eros vollends enthüllen werden: die Begründung aller Gemeinschaft auf den Gedanken, daß, was die menschlichen Wesen aneinander bindet, die im Inneren der Seele angelegte Norm und das Gesetz eines höchsten Guten ist, welches die Menschenwelt wie den ganzen Kosmos zusammenhält. Schon im ,Lysis' reicht die Wirkung des von allen geliebten ersten Prinzips über die Menschenwelt hinaus: es ist das nicht nur von uns, sondern von allen Wesen erstrebte und begehrte Gut, das in jedem von ihnen als seine besondere Vollkommenheit gegenwärtig ist. Ähnlich ordnet auch der ,Gorgias' schon das Problem der menschlichen Gemeinschaft, in schroffer Ablehnung der These vom Recht des Stärkeren, in den Rahmen einer höchsten kosmischen Symmetrie ein, die hier soviel bedeutet wie die Übereinstimmung der Dinge mit einem letzten, zunächst noch nicht näher bestimmten Maß 8 . Keine menschliche Rede könnte sich vermessen, der höchsten Vollendung platonischer Kunst, wie sie im ,Symposion' sich offenbart, mit den Mitteln wissenschaftlicher Analyse oder sorgsam nachzeichnender Paraphrase gerecht zu werden. Es soll nur versucht werden, den Gehalt des Werkes in seinen Grundzügen vom Standorte der Paideia aus zu bestimmen. Plato hat es schon durch den Titel angedeutet, daß es sich nicht um eine Hauptfigur aufbaut, wie die meisten seiner Gespräche. Es ist kein dialektisches Drama wie der ,Protagoras' oder der ,Gorgias'. Am wenigsten ist es vergleichbar mit rein wissenschaftlichen Werken von der Art des ,Theaitetos'oder ,Parmenides', in denen die methodische Bemühung um eine bestimmte Frage nüchtern dargestellt wird. Das S y m posion' ist überhaupt kein Dialog im gewöhnlichen Sinne, sondern ein Redewettstreit zwischen lauter hochstehenden Männern. Versammelt sind Repräsentanten aller Art der griechischen Geistesbildung um die Tafel des tragischen Dichters Agathon. Er hat im dramatischen Agon einen glänzenden Sieg errungen und ist der Gefeierte und der Gastgeber zugleich. Aber im engsten Kreise trägt Sokrates im Agon der Reden den Sieg davon, einen Sieg, der schwerer wiegt als der Beifall der mehr als dreißigtausend Zuhörer, die am Tage zuvor im Theater Agathon zugejauchzt hatten Die Szene ist symbolisch. Nicht nur der Tragiker, sondern auch der größte Komödiendichter der Zeit, Aristophanes, ist zu762

/11/246]

gegen, und da die Reden dieser beiden unstreitig den Höhepunkt des Ganzen bilden, bevor als letzter Sokrates zu sprechen beginnt, so ist das »Symposion'gleichsam die sichtbare Verkörperung des Primats der Philosophie über die Poesie, den Plato im ,Staat' fordert. Doch zu dieser Würde konnte die Philosophie sich nur dadurch aufschwingen, daß sie selbst Dichtung wurde oder doch dichterische Werke höchsten Ranges schuf, die ihr Wesen unabhängig von allem Meinungskampf in unsterblicher Kraft uns vor Augen führten. Plato hat im,Symposion' schon durch die Wahl der Szene dem Erosproblem den passenden Rahmen gegeben. Von den ältesten Zeiten her waren die Symposien bei den Griechen Stätten der treuen Uberlieferung echter männlicher Arete gewesen und ihrer Verherrlichung in Dichterwort und Gesang. So begegnet uns das Symposion schon im Homer 1 0 . Aber auch ein Reformator der schwindenden alten Zeit wie der Dichterphilosoph Xenophanes wendete sich mit seinen Gedanken zur Kritik des homerischen Götterglaubens an die empfänglichen Teilnehmer geistig erregter Symposien 11 , und die ritterliche Erziehungsweisheit des Theognis von Megara wurde beim Gelage vorgetragen. Theognis setzt sein Vertrauen, die eigene Zeit zu überdauern, auf das Fortleben seiner Gedichte bei den Symposien späterer Jahrhunderte, und die Hoffnung hat· ihn nicht getrogen 12 . Die Verbindung der theognideischen Adelspaideia mit der Liebe des Dichters zu dem vornehmen Jüngling Kyrnos, an den er seine Mahnungen richtet, erhellt den Zusammenhang zwischen Symposion und erzieherischem Eros, aus dem heraus Plato sein ,Symposion' konzipiert hat. Besonders nah ist aber die Beziehung der Philosophenschule zu Überlieferung und Brauch der Symposien, denn diese gehörten zu den festen Formen der Geselligkeit von Lehrenden und Lernenden und erhielten dadurch ein völlig neues Gepräge. Die philosophischen und gelehrten Werke mit dem Wort Symposion im Titel, an denen die nachplatonische griechische Literatur so reich ist 13 , legen Zeugnis ab von dem umgestaltenden Einfluß, den das Eindringen des philosophischen Geistes und seiner tieferen Problematik auf diese Art der Zusammenkünfte ausgeübt hat. Der Stifter der neuen philosophischen Form des Symposions ist Plato. Literarische Darstellung und philosophische Neudeutung der alten Sitte gehen bei ihm Hand in Hand mit der Organisation [11/247]

763

des geistigen Lebens in seiner Schule. Dieser Hintergrund des Symposions wird in Piatos Spätzeit deutlicher sichtbar. Unter den Titeln der verlorenen Werke des Aristoteles und anderer Schüler Piatos finden sich ausgearbeitete Gesetze erwähnt, bestimmt für den Gebrauch beim Symposion, wie Plato sie in den ,Nomoi' fordert 14 . Er hat im Anfang dieses Werkes dem erzieherischen Wert des Trinkens und der Trinkgelage ein ganzes Buch gewidmet und ihn gegen Angriffe von anderer Seite verteidigt. Diese später zu würdigende neue Ethik des Trinkgelages15 ist axis der schon fest gewordenen Sitte solcher regelmäßigen Veranstaltungen in der Akademie erwachsen. Plato erklärt sich im Staat als Anhänger der spartanischen Sitte der gemeinsamen Männermahle, der Syssitien16, aber er tadelt in den »Gesetzen' das Fehlen der Symposien als eine der auffallendsten moralischen Schwächen der spartanischen Erziehung, die nur auf die Züchtung der Tapferkeit, nicht auf Selbstbeherrschung ziele17. Diese Lücke durfte in der Erziehung, wie die Akademie sie übte, nicht unausgefullt bleiben. Die Schule des Isokrates nimmt die entgegengesetzte Haltung ein. Sie spiegelt darin die Nüchternheit ihres Meisters, der in zu reichlichem Trinken den Ruin der athenischen Jugend sieht 18 . Er wird über den Eros nicht anders gedacht haben. Doch Plato zwingt beide Kräfte, Dionysos und Eros, in den Dienst seiner Idee. Er ist von der Gewißheit beseelt, daß die Philosophie alles Lebendige mit neuem Sinn erfüllt und in positive Werte verwandelt, auch das an der Grenze der Gefahrenzone Stehende. Er traut sich zu, mit diesem Geist den ganzen Umkreis der Wirklichkeit zu durchdringen, und fühlt, daß seiner Paideia damit alle jene natürlichen und triebhaften Energien zufließen müssen, die sie sonst vergeblich zu bekämpfen suchen würde. In seiner Lehre vom Eros überbrückt er kühn die Kluft zwischen dem Apollinischen und Dionysischen. Ohne den unerschöpflich sich erneuernden Schwung und Enthusiasmus der irrationalen Kräfte des Menschen erscheint es ihm unmöglich, jemals den Gipfel jener höchsten Verklärung zu erreichen, die dem Geist in der Schau der Idee des Schönen zuteil wird. Die Vermählung von Eros und Paideia ist der Grundgedanke des ,Symposion'. Er war, wie wir zeigten, an sich nicht neu, sondern durch die Tradition gegeben. Das eigentliche Wagnis Piatos liegt darin, daß er in einer Zeit der nüchternen moralischen Aufklärung, die nach 764

[111248]

allen Anzeichen dazu prädestiniert war, die ganze frühgriechische Welt des männlichen Eros mit all ihren Mißbräuchen, aber auch mit all ihren Idealen zum Orkus zu senden, sie noch einmal auferstehen läßt in einer von Schlacken gereinigten, veredelten Gestalt. In dieser letzten Form, als dem höchsten geistigen Aufschwung zweier eng verbundener Seelen zu dem Reich des ewig Schönen, hat er den Eros in die Unsterblichkeit eingeführt. Die persönlichen Erlebnisse, die diesem Läuterungsprozeß zugrunde liegen, sind uns nicht bekannt. Sie haben eines der größten dichterischen Kunstwerke der Weltliteratur inspiriert. Seine Schönheit liegt nicht nur in der Vollkommenheit seiner Form beschlossen, sondern in der Verschmelzung wahrer Leidenschaft mit dem reinen Höhenflug der Spekulation und mit der Kraft sittlicher Selbstbefreiung, wie sie in der Schlußszene mit triumphierender Kühnheit sich ausspricht. Piatos Philosophieren und dichterisches Gestalten hat sich uns auf Schritt und Tritt als die Verbindung des Strebens nach dem allgemeingültig Idealen mit der äußersten Konkretheit der geschichtlich gegebenen Existenz erwiesen. Dies kommt einmal in der Form des Dialogs an sich zum Ausdruck, der stets von bestimmten Situationen und Menschen, letzten Endes aber von einer einzigen, in ihrer Einheit geschauten geistigen Situation ausgeht. In ihr sucht Sokrates mit Hilfe seiner Dialektik zur Verständigung mit seinen Mitmenschen zu gegangen über alle Arten gemeinsamer Besitztümer. Aus ihnen erwachsen den Unterrednern ihre gemeinsamen Probleme, und ihre Zusammenarbeit läßt sie eine alle auseinanderstrebenden Richtungen umfassende gemeinsame Lösung erhoffen. Kein Dialog ist mehr als das ,Symposion' aus einer solchen bestimmten geistig-sittlichen Lage entsprungen; es ist nur als ein Chor wirklicher Stimmen der Zeit zu verstehen, von dem sich dann am Ende die des Sokrates führend und siegreich abhebt. Der dramatische Hauptreiz beruht auf der Meisterschaft individualisierender Charakteristik, die die gegensätzlichen Typen der herrschenden Erosauffassungen zu einer unnachahmlich reichen Symphonie gestaltet hat. Es ist unmöglich, diese verschiedenartigen Aspekte des Gegenstandes hier voll zu Worte kommen zu lassen, doch fur das Verständnis der Diotimarede des Sokrates sind sie eigentlich alle un[II¡249]

7 65

entbehrlich. Plato selbst bezeichnet die Rede des Sokrates als die Zinne des Baues, u n d nicht schlecht hat man danach die vorangehenden Reden als die Terrassen angesehen, die stufenweise zu ihr emporführen. Man braucht nur einmal zu versuchen, sich die Erörterung über den Eros in der gewohnten Form der sokratischen Gespräche als eine ununterbrochene Folge von Definitionsversuchen vorzustellen, u m zu begreifen, weshalb Plato das,Symposion' vielmehr als eine Anzahl selbständiger Reden komponiert hat, was natürlich den Verzicht auf die strenge Durchführung des dialektischen Verfahrens bedeutet. Sokrates ist nicht der Führer der ganzen Unterhaltung, wie gewöhnlich in Piatos Dialogen, sondern nur einer, und zwar der letzte, unter mehreren Rednern, eine Rolle, die seiner Ironie durchaus angemessen erscheint. Daher tritt die Dialektik im ,Symposion' erst am Schluß als vollendeter Gegensatz zu der farbenbunten Rhetorik und Poesie der übrigen Sprecher hervor. Die Fassung des Themas, der Lobpreis des Eros, motiviert diese Anlage des Dialogs vollkommen, und das Thema ist wiederum durch Ort und Anlaß der Reden wohlbegründet, die eine zusammenhängende, rein sachliche Unterhaltung nicht zulassen. Ein Enkomion ist ein Werk der Rhetorik, und noch mehr gilt dies von einem Enkomion auf einen mythischen Gegenstand, wie solche damals in der Schulpraxis der Redekünstler gern gewählt wurden. Plato hat u m dieselbe Zeit, als er das,Symposion' verfaßte, im ,Menexenos' noch ein zweites Werk dieser Art geschaffen und damit für eine Weile offen den Wettbewerb mit den konkurrierenden Rhetorenschulen Athens aufgenommen; denn auch die Grabrede auf gefallene Krieger war eine damals beliebte Form rednerischer Kunst. Phaidros, der erste Redner beim Symposion, der eigentliche „Vater des Gedankens", den Eros zu preisen 19 , faßt seine eigene Anregung rein in diesem Sinne auf, nämlich als rhetorische Schulaufgabe, der er mit den Mitteln sophistischer Beredsamkeit gerecht zu werden sucht. Er tadelt die Dichter 2 0 , weil sie, deren Beruf es ist, die Götter in Hymnen zu preisen, den Eros übergangen hätten, und setzt sich daher vor, diese Lücke auszufüllen durch eine Lobrede auf Eros in prosaischer Form. Gerade dieser bewußte Wettstreit mit der Poesie ist für die sophistische Rhetorik charakteristisch. Piatos Kunst zeigt sich -hier wie in den folgenden Reden in der vollendeten Meisterschaft seiner literari766

[11/250]

sehen Nachahmung und Parodierung der dargestellten geistigen Typen und ihrer entsprechenden Stile. Phaidros zitiert in der Art der Sophisten reichlich die Aussprüche der alten Dichter und gibt eine mythische Genealogie des Eros als des ältesten aller Götter, im Anschluß an Hesiod und andere theogonische Autoritäten 21 . Sein Hauptgedanke ist die politische Deutung des Eros als Erregers der Ehrliebe und Erzeugers der Arete, ohne den keine Freundschaft, keine Gemeinschaft, kein Staat bestehen kann 22 . So strebt die Erörterung von Anfang an zu einer höheren sittlichen Rechtfertigung des Eros hin, doch ohne sein Wesen genauer zu bestimmen oder seine verschiedenen Formen zu unterscheiden. Das versucht die zweite der Reden, die des Pausanias, zu leisten, der eben diesen Mangel an Bestimmtheit tadelt und zuerst einmal dem Thema eine Fassung zu geben sucht, wie man sie zu fordern habe. Damit wird die Richtung auf eine ideale Begründung des erotischen Verhältnisses weiter verfolgt und klarer herausgestellt. Im mythologisierenden Ton der Phaidrosrede bleibend, unterscheidet Pausanias, entsprechend der zweifachen Natur der Aphrodite, der Eros als Helfer zugeordnet ist, einen Eros Pandemos und Eros Uranios 23 . Ähnlich wie hier ein doppelter Eros eingeführt wird, hatte Hesiod in den ,Erga' eine doppelte Ens unterschieden, und dieses gegensätzliche Paar, die böse und die gute Göttin des Streites, an die Stelle der einen Eris der Uberlieferung gesetzt 24 . Seinem Beispiel scheint Plato zu folgen. Der Allerweltseros, der vulgäre und wahllose Trieb, ist verwerflich und gemein, weil auf die bloße Befriedigung der sinnlichen Begierde gerichtet, der andere ist göttlicher Herkunft und ist voll Eifer, dem wahren Wohl und der Vervollkommnung des Geliebten zu dienen 25 . Dieser zweite Eros beansprucht, eine erzieherische Kraft zu sein, nicht nur in dem negativen Sinne der Phaidrosrede, sondern seinem ganzen Wesen nach, indem er den Liebenden von niedrigen Handlungen abhält 2 6 , indem er Dienst am Freunde wird zur Entwicklung seiner Persönlichkeit 27 . Diese Auffassung fordert das „Zusammentreffen" des sinnlichen Triebes mit idealen Motiven, um die Berechtigung der physischen Seite des Eros verteidigen zu können 28 , doch die Tatsache selbst, daß Pausanias, der Anwalt dieser Art von Erotik, offensichtlich Schwierigkeiten hat, die zwei Seiten miteinander in Deckung zu bringen, beweist zur Genüge, daß es [11/251]

767

sich hier um ein bloßes Kompromiß handelt. Es mag zu jener Zeit manche Anhänger gefunden haben, und das hat Plato wohl bewogen, diese Ansicht so ausführlich zu Worte kommen zu lassen. Im Vergleich mit der Diotimarede fallt auf, daß Pausanias seine Unterscheidung von wertvollem und niedrigem Eros von Gesichtspunkten aus gewinnt, die außerhalb des Eros und nicht ursprünglich in ihm selbst hegen. Besonders aufschlußreich ist der Versuch des Pausanias, die Unsicherheit des auf diesem Gebiet herrschenden sittlichen Urteils für seine Theorie auszunutzen. Er erweist sie dadurch, daß er die in verschiedenen Gegenden geltenden Anschauungen über den männlichen Eros miteinander vergleicht29. In Elis und Böotien, das heißt in den geistig am wenigsten entwickelten und auf altertümlicherer Kulturstufe stehengebliebenen Landschaften Griechenlands, gilt der Eros schlechthin als unanstößig. Umgekehrt ist er in Ionien, das heißt, so interpretiert Pausanias, in dem dem asiatischen Wesen am nächsten benachbarten Teile der hellenischen Welt, streng verpönt. Der Redner erklärt dies durch den Einfluß der Barbaren und ihrer politischen Anschauungen. Jede Despotie ist auf Mißtrauen gegründet, und starke Freundschaften stehen in einem so regierten Lande stets leicht im Verdacht des Verschwörertums. Es ließe sich auch nicht leugnen, daß die athenische Demokratie der geschichtlichen Legende nach durch das Tyrannenmörderpaar Harmodios und Aristogeiton geschaffen worden war, die der Eros auf Tod und Leben verband. War nicht durch den Kult, den man in Athen von jeher mit diesem Freundespaar trieb, zugleich auch der Eros sanktioniert? Der Redner ist bemüht, zu beweisen, daß es der ideale Geist ist, der solche Freundschaften beseelt, was sie in den Augen athenischer und spartanischer Sitte von der Befriedigung der rein sinnlichen Begierde unterscheidet und für die öffentliche Meinimg annehmbar macht. Die Haltung Athens und Spartas ist nicht einfach billigend oder verwerfend, wie die der anderen genannten Staaten, sondern mehrdeutig und kompliziert. Sie hält gleichsam die mittlere Linie zwischen jenen äußersten Gegensätzen ein. Daher mag Pausanias glauben, seinen idealisierten pädagogischen Eros dem Verständnis des gebildeten Athen durch seine Deutung der politischen und ethischen Imponderabilien näherbringen zu können. 768

[II1252]

Daß er Athen nicht ganz vereinzelt, sondern in der Gesellschaft Spartas erscheinen läßt, ist wichtig. Das strenge Sparta scheint in ethischen Fragen ein besonders wertvoller Zeuge zu sein. In Wahrheit freilich ist es ein schlechter Eideshelfer, denn die Ansicht, die Pausanias verficht, ist im wesentlichen spartanischer Herkunft, wie die Sitte der Knabenliebe als solche. Aus dem kriegerischen Lagerleben der Stämmewanderungszeit, das für die Dorer weniger weit zurücklag als für die übrigen Griechen u n d das in der Lebensweise der spartanischen Kriegerkaste seine Fortsetzung fand, hatte sie sich bis in die Gegenwart hinein fortgepflanzt, und obgleich sie sich auch in anderen Landschaften Griechenlands verbreitet hatte, blieb doch Sparta ihr stärkster Rückhalt in der hellenischen Welt. Mit dem Sturz Spartas und dem Schwinden seines besonderen Einflusses, das bald nach der Entstehungszeit des,Symposion' begann, ist die Päderastie, wenigstens als ethisches Ideal, rasch ausgestorben, und nur als die deklassierte Unsitte des Kinädentums lebte sie in späteren Jahrhunderten des Altertums fort. Schon in der Ethik und Politik des Aristoteles spielt sie als positiver Faktor keine Rolle mehr, und der alte Plato hat sie in den ,Gesetzen' kurzerhand als widernatürlich verworfen 3 0 . So zeigt es sich auch an der geschichtlich-vergleichenden Betrachtungsweise der Pausaniasrede, daß das ,Symposion' als Markstein an der Grenzscheide früh- und spätgriechischen Empfindens steht. Es ist mit dem Eros bei Plato wie mit der Polis und dem althellenischen Glauben, der sie getragen hatte: sie alle sind noch stark und rein gefühlt, wie es nur wenige Geister jener Übergangszeit vermochten, aber nur das verklärte Bild ihres idealen Wesens wird hinübergerettet in die neue Welt und auf das metaphysische Zentrum dieser Welt bezogen. Das Kompromiß, das Altes und Neues versöhnen sollte, wird als zu schwach erfunden. Bei Pausanias kann Plato nicht stehen bleiben. Eine dritte Form geistiger Tradition kommt in der Rede des Eryximachos zu Wort. Als Arzt geht er aus von der Beobachtung der Natur 3 1 und beschränkt sein Gesichtsfeld schon darum nicht auf den Menschen, wie seine Vorredner es getan hatten. Er kann jedoch bei ihrer rhetorischen Formulierung der Aufgabe bleiben und Eros als mächtigen Gott preisen trotz oder gerade wegen dieser universalen Deutung seines Wesens. Die kosmische Deutung [U/253]

7 69

des Eros hatte schon mit Hesiod begonnen, der ihn in der ,Theogonie' an den Anfang der Welt gesetzt und zu jener Urzeugungskraft hypostasiert hatte, die in allen Zeugungen aller folgenden Göttergeschlechter wirksam war 32 . Von Hesiod hatten die frühgriechischen Philosophen wie Parmenides und Empedokles die Vorstellung des kosmogonischen Eros übernommen und sie für die Erklärung der Natur im einzelnen nutzbar zu machen gesucht, indem sie die Verbindung der Elemente miteinander zu körperlichen Gebilden aus dem Eros ableiteten. Schon Phaidros hatte diese alten Denker in seiner Rede gelehrt zitiert, als er in mythologischer Spielerei mit ihrer Hilfe eine Genealogie des Eros entworfen hatte 33 . Doch Eryximachos macht jetzt systematisch die zeugende Macht des Eros geltend als Prinzip des Werdens der gesamten körperlichen Welt, als die schöpferische Potenz jener Urliebe, die mit ihrem regelmäßigen Rhythmus von Füllung und Leerung alles durchdringt und belebt 34 . Es scheint auf den ersten Blick nicht möglich, von diesem Standpunkt der Physis aus überhaupt irgendeine Scheidung der Erscheinungsformen des Eros nach dem Maßstab ihres sittlichen Wertes aufrechtzuerhalten, wie Pausanias sie, ausgehend von dem geltenden Nomos der menschlichen Gesellschaft, versucht hatte. Doch auch der Arzt erkennt die Unterscheidung eines guten und schlechten Eros ausdrücklich an 36 . Ihm erscheint der im gesamten Leben der Natur vorzufindende Unterschied des Gesunden und Kranken als der Generalnenner, auf den man jenen moralischen Unterschied zurückführen müsse. Gesundheit ist die richtige Mischung der Gegensätze in der Natur, Krankheit die schadenstiftende Störung ihres Gleichgewichts und ihrer Eintracht, in der er das Wesen des Eros sieht 86 . Wir begreifen jetzt, weshalb Plato gerade einen Mediziner als Vertreter der naturalistischen Anschauungsweise gewählt hat 3 7 . Es ist geschehen um eben jenes Unterschiedes willen, der dazu führt, den Eros einer wertenden Betrachtung zu unterwerfen. Plato sieht von Anfang an seine ethische Wertlehre und Paideia als Gegenbild der ärztlichen Lehre von der gesunden und kranken Natur und ihrer Therapie, wie der ,Gorgias' gezeigt hat. Der ärztliche Begriff der körperlichen Physis hat mit Piatos seelischethischem Physisgedanken gemein, daß er ein echter Normbegriff ist. Eryximachos sieht im Walten des gesunden Eros in allen Be770

[IH254]

reichen des Kosmos wie der menschlichen Künste das Prinzip alles Wohlseins und aller wahren Harmonie. Er baut seinen Begriff des harmonischen Einklangs auf der heraklitischen Lehre von den Gegensätzen auf 3 8 , die auch sonst im ärztlichen Denken jener Zeit eine erhebliche Rolle spielt, wie vor allem die pseudohippokratische Schrift .Uber Diät' zeigt 39 . Wie die Heilkunst die Harmonie der gegensätzlichen physischen Kräfte zu bewirken hat, so die Musik die richtige Mischung und Verbindung der hohen und niedrigen Töne zur Symphonie. Zwar in den Grundverhältnissen der Töne und Rhythmen ist die Zusammengehörigkeit und gegenseitige Ergänzung der einfachsten Elemente, aus denen sie bestehen, nicht schwer zu erkennen, und einen „zweifachen" Eros gibt es auf dieser Stufe noch nicht. Doch wenn wir zur eigentlichen Komposition kommen oder zur Anwendung der komponierten Lieder und Maße auf den Menschen, „also zu dem, was wir Paideia nennen", bedarf es großer Kunst und Kennerschaft 40 , Man soll den züchtigen (κόσμιοι) Menschen jede Huld gewähren und ihren Eros erhalten, ja, man soll ihn auch als Mittel anwenden, um solche Gesittung und Zucht in Menschen zu pflanzen, die sie noch nicht besitzen. Das ist der uranische Eros, die Liebe zur Muse Urania. Doch den pandemischen Eros, die Neigung zur Muse Polyhymnia, soll man mit Vorsicht anwenden, d. h. man soll dem Menschen zwar den Genuß gestatten, aber darauf achten, daß er dadurch nicht verdorben wird, so wie der Arzt die Künste des Kochs zu benutzen und zu kontrollieren wissen muß 41 . Wenn in dem Vortrag des Eryximachos der Eros zu einer so allumfassenden allegorischen Potenz wird, daß sein Wesen im Allgemeinen zu verschwimmen droht, lenkt der Komiker Aristophanes in seiner witzig-genialen Rede zu dem konkreten menschlichen Liebesphänomen zurück und versucht, es in kühner dichterischer Vision zu deuten. Ihm ist es vor allem um die Erklärung der geheimnisvollen Macht des Eros über die Menschen zu tun, der schlechthin nichts zu vergleichen ist42. Dieser allgewaltige, sehnsüchtige Trieb in uns kann nur aus der besonderen Natur des Menschengeschlechts verstanden werden. In dem grotesken Mythos von der kugelförmigen Gestalt der Urmenschen, die noch nicht wie jetzt von den Göttern aus Furcht vor ihrer himmelstürmenden Titanenkraft in zwei Hälften zerschnitten waren, sondern noch [H/255]

771

ihre ursprünglichen vier Arme und Beine hatten, auf denen sie sich radschlagend in großer Geschwindigkeit fortbewegten, verkörpert der Tiefsinn der komischen Phantasie des Aristophanes die Einsicht, die wir in den Reden der anderen bisher vergeblich suchten. Der Eros ist geboren aus dem metaphysischen Verlangen des Menschen nach einer Totalität des Wesens, die der Natur des Individuums für immer versagt ist. Sie wird durch diese eingeborene Sehnsucht als ein bloßes Fragment erwiesen, das die Wiedervereinigung mit seiner zugehörigen Hälfte erstrebt, solange es getrennt und hilflos für sich existiert43. Die Liebe zu einem anderen menschlichen Wesen ist hier von dem Gesichtspunkt der Vervollkommnung des Ichs aus betrachtet. Sie ist erlangbar nur im Verhältnis zu einem Du, durch das die der Ergänzung bedürftigen Kräfte des Einzelnen in das ursprüngliche Ganze eingefügt und dadurch erst zu ihrer eigentlichen Wirkung befähigt werden. Durch diese Symbolik wird der Eros ganz in den Vorgang der Bildung der Persönlichkeit einbezogen. Aristophanes erfaßt das Problem in seiner vollen Ausdehnung, nicht nur als Liebe zweier Menschen des gleichen Geschlechts, sondern in jeder Form, in der sie begegnet44. Die Sehnsucht der Liebenden macht, daß sie sich nicht voneinander trennen mögen, sei es auch nur für kurze Zeit. Aber die Menschen, die ein Leben so zusammen verbringen, können doch nicht sagen, was sie eigentlich voneinander wollen. Denn dies ist offenbar nicht die körperliche Vereinigung, als ob der eine an dem Zusammensein mit dem anderen nur deswegen so große Freude hätte und so heiß danach strebte, sondern die Seele der beiden will offenbar etwas anderes, was sie nicht sagen kann, und was sie nur wie die dunkle Ahnung der Lösung ihres Lebensrätsels besitzt46. Die äußerliche Ganzheit, die durch die Zusammenfugung der aneinander passenden körperlichen Hälften wiederhergestellt wird, ist nur das grotesk-komische Abbild jener unaussprechlichen seelischen Harmonie und Ganzheit, die der Dichter hier als das wahre Ziel des Eros enthüllt. Wie das Wissen im ,Menon' als Wiedererinnerung an das in der Präexistenz geschaute reine Sein gedeutet wurde, so wird jetzt der Eros zur Sehnsucht nach der Ganzheit der ursprünglichen, in einem früheren Weltalter existierenden Natur des Menschen und damit zum aufstachelnden Hinweis auf ein ewig Seinsollendes. Dieses wird hier, in dem Aristo772

III/2S6]

phanesmythos, zunächst nur als das Verlorene und daher Wiedergesuchte gefaßt, aber wenn wir es im Spiegel der Diotimarede betrachten, so wird klar, daß es bereits dunkel auf die Norm des Guten vorausdeutet, in der alle wahre menschliche Freundschaft und Liebe ihre Erfüllung findet. Die letzte Rede vor Sokrates, das bewußte Gegenstück zu der kräftschwellenden, übermütigen Burleske des komischen Dichters, ist die feingepinselte, in den zartesten Farbtönen gehaltene Lobrede des jungen Agathon. War schon in dem Mythos des Aristophanes das Thema des Eros über die Männerfreundschaft hinaus zu dem Problem des Wesens der Liebe erweitert worden, so tritt in der nun folgenden Deklamation des vielgefeierten tragischen Modedichters, der ja auch im Spiegel der Komödie seiner Zeit im Grunde als Frauenfreund verspottet wird, das Thema der Knabenliebe ganz zurück, und der Eros erscheint in seiner allgemeinsten Gestalt. Agathon will nicht, wie seine Vorredner, die Wohltaten preisen, die Eros den Menschen erweist, sondern den Gott selbst und sein Wesen schildern, dann erst seine Gaben 46 . Das Erosbild des Agathon ist am wenigsten psychologisch, was besonders im Vergleich mit der nächstvorhergegangenen Rede des Aristophanes auffallt, die ganz von der Wirkung des Eros auf die menschliche Seele ausging. Dafür ist Agathons Darstellung um so reichlicher idealisierend. Es wird mit der Vollkommenheit des Eros Ernst gemacht, die aus seiner göttlichen Natur gefolgert wird. Doch da ein jeder Lobpreis des Eros, der ihn als göttliche Potenz personifiziert, seine Eigenschaften trotzdem notwendig von den Menschen hernehmen muß, an denen er seine Macht erweist, so ist es für den Schildemden selbst psychologisch charakteristisch, ob er die Züge seines Bildes mehr von dem Geliebten oder von dem Liebenden entlehnt. Agathon tut das erstere. Als der geborene Liebling gibt er dem Eros lauter Wesensmerkmale, die eher dem Liebenswürdigen zukommen als dem von Liebe Entflammten 47 . Er schildert im Eros in narzißhafter Verliebtheit sein eigenes Spiegelbild. Von diesem Punkt aus wird der Zweck seiner Rede und ihre Bedeutung gerade an dieser Stelle des Gesamtwerkes später deutlich werden. Von allen Göttern ist nach Agathons Schilderung Eros der seligste, schönste und beste48. Er ist jung, fein und zart und wohnt nur an blühenden und duftenden Orten. [1U257]

773

Zwang legt niemals seine Hand an ihn, sein Reich ist das der reinen Freiwilligkeit. Er besitzt alle Tugenden, Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit. Er ist ein großer Dichter und lehrt andere dichten. Seit Eros den Olymp betrat, wandelte sich die Herrschaft der Götter vom Schrecklichen zum Schönen. Er ist es, der die meisten der Unsterblichen ihre Künste gelehrt hat. Mit einem Prosahymnus auf die Erosgaben, der es an Ebenmaß des Gliederbaus wie an musikalischem Wohllaut mit jeder Verskunst aufnimmt, schließt der entzückte Erosverehrer seine Rede 49 . Plato hat sie als unmittelbaren Hintergrund der Rede des Sokrates gewählt. Den sinnlich überfeinerten, kennerhaften Ästheten nimmt er als Kontrast für den philosophischen Asketen, der ihn doch an innerer Kraft der Leidenschaft wie an Tiefe der Erkenntnis der Liebe unendlich übertrifft. Sokrates tut, was alle anderen vor ihm auch getan haben, er sucht den Nachteil, daß er nach so vielen vorzüglichen Vorrednern spricht, dadurch auszugleichen, daß er seinen Gegenstand anders faßt als sie. Zwar billigt er logisch Agathons Vorgehen, der erst das Wesen des Eros bestimmen wollte, dann seine Wirkungen50, doch er bricht radikal mit der ganzen bisherigen Behandlung des Themas. Er beabsichtigt nicht eine immer weiter gehende rhetorische Steigerung und Verschönerung des Gegenstandes, sondern will die Wahrheit erkennen, hier wie überall. So führt uns sogleich die erste Fühlungnahme, das kurze Vorgespräch mit Agathon, in dem zum erstenmal in diesem Dialog von den Mitteln der Dialektik wie spielend Gebrauch gemacht wird, von den poetischen Superlativen der Agathonrede auf den Boden psychologischer Wirklichkeit zurück. Aller Eros ist ein Begehren nach etwas, und dies ist etwas, was er nicht hat und dessen er bedürftig ist81. Wenn Eros also nach dem Schönen trachtet, kann er selbst nicht schön sein, wie Agathon behauptet, sondern ist der Schönheit bedürftig51*. Aus diesem negativen dialektischen Kern läßt Plato die Eroslehre des Sokrates und der Diotima sich entfalten. Aber diese Entfaltung geschieht nicht selbst in dialektischer Form, sondern in Gestalt des Mythos von der Abstammung des Eros von Poros und Penia52, der dem Mythos des Agathon gegenübergestellt wird. Doch mit wunderbar taktsicherem Griff hat Plato es vermieden, die Widerlegungskunst des Sokrates einen vollen Triumph feiern zu lassen an einer Stätte zwangloser 774

[II1258]

Heiterkeit und phantasievollen Ubermuts. Sokrates läßt Agathon in Frieden, nachdem dieser schon nach den ersten Fragen in liebenswürdiger Schwäche eingestanden hat, daß ihm plötzlich sei, als wisse er überhaupt nichts von all dem, worüber er soeben geredet habe 53 . Damit wird dem Besserwissen, das nicht in die gute Gesellschaft paßt, sein Stachel abgebrochen. Das dialektische Zuendeführen des Gesprächs aber wird dadurch ermöglicht, daß es fern in die Vergangenheit entrückt wird und Sokrates sich selbst aus dem lästigen und gefürchteten Frager zum naiven Befragten macht. Er erzählt den Gästen ein Gespräch, das er vor langer Zeit mit der mantineischen Prophetin Diotima über den Eros geführt hat 54 . So wird, was er zu sagen hat, nicht als seine überlegene Weisheit, sondern als ihre Offenbarung gegeben. Plato hat das Bild der Mystagogie bewußt gewählt und festgehalten. In dem Stufengang der Unterweisung, in dem die göttliche Diotima ihren Adepten in die Tiefe der Erkenntnis des Eros einführt, soll der Leser die niederen und höheren Grade der Weihen unterscheiden, die ihn zur letzten Epopsie emporleiten. Die Mysterienfrömmigkeit war im Reiche der griechischen Religion die persönlichste Form des Glaubens, und als ein ihm persönlich zuteil gewordenes Schaunis schildert Sokrates den Aufstieg des Philosophen zu dem höchsten Gipfel, wo die in jedem Eros liegende Sehnsucht nach dem ewig Schönen sich erfüllt. Von der Einsicht, daß der Eros nicht selber schön, daß er aber umgekehrt auch nicht häßlich ist, führt der Weg zunächst zur Erkenntnis seiner Mittelstellung zwischen Schön und Häßlich. Nicht anders ist es mit seinem Verhältnis zu Wissen und Unwissenheit. Er hat keins von beiden, sondern steht in der Mitte zwischen beiden 55 . Mit dieser Festlegung seiner Stellung zwischen dem Vollkommenen und Unvollkommenen ist zugleich erwiesen, daß er überhaupt kein Gott sein kann. Er besitzt weder das Gute noch das Schöne, noch hat er teil an der Glückseligkeit, alles wesentliche Merkmale der Gottheit 56 . Doch er ist auch kein Sterblicher, sondern steht in der Mitte zwischen Sterblich und Unsterblich, ein großer Daimon, der als Dolmetscher dient zwischen Göttern und Menschen 57 . Er nimmt also allerdings eine wesentliche Stellung innerhalb der platonischen Theologie ein. Er schließt die Kluft, die die beiden Reiche des Irdischen und Göttlichen [II1259]

775

trennt, u n d ist das Band, der Syndesmos, der das All zusammenhält 6 8 . Sein Wesen ist zwiespältig, das ist das Erbteil seiner ungleichen Eltern, des Reichtums u n d der Armut 5 9 . Ewig der Bedürftigkeit gesellt, ist er doch zugleich überfließend von Reichtum u n d in beständiger Spannung, ein großer Jäger, Draufgänger und Nachsteller, eine nie versiegende Quelle aller geistigen Energie u n d unablässig geistig an sich arbeitend, ein großer Zauberer und Magier. Er kann an demselben Tage blühen u n d leben, sterben und wieder auferstehen. So nimmt er ein und schöpft, gibt aus u n d verströmt, und ist niemals weder reich noch a r m 6 0 . So wird die allegorische Genealogie des Eros, die Sokrates an die Stelle der hesiodischen setzt, durch die Betrachtung seines Wesens bestätigt. Von dieser seiner Mittelstellung aber zwischen. Schön u n d Häßlich, Weise und Unwissend, Göttlich u n d Sterblich, Reich und Arm schlägt Sokrates die Brücke zwischen Eros und Philosophie. Die Götter philosophieren nicht und bilden sich nicht, denn sie sind im Besitz aller Weisheit. Die Toren und Unweisen aber trachten überhaupt gar nicht nach Erkenntnis, denn das ist j a das eigentliche Übel solcher Unbildung, daß sie nichts weiß u n d sich doch für wissend hält. Der Philosoph allein strebt nach Erkenntnis, weil er weiß, daß er sie nicht besitzt und sich ihrer bedürftig fühlt. Er steht in der Mitte zwischen Weisheit und Unbildung, deshalb ist er allein zur Bildung tauglich u n d aufrichtig u n d ernstlich u m sie bemüht. In diese Kategorie gehört auch der Eros seiner ganzen Natur nach. Er ist der wahre Philosoph, der zwischen Weisheit und Torheit in der Mitte steht u n d sich verzehrt in ewigem Sehnen u n d Streben β1 . So stellt Plato dem von Agathon entworfenen Bilde des Eros, das eine Beschreibung des Liebenswürdigen u n d Geliebten war, sein Bild gegenüber, das seine Maßstäbe umgekehrt vom Wesen des Liebenden hernimmt® 2 . Dem unbewegt in sich Ruhenden, Seligen und Vollkommenen stellt er entgegen das ewig Strebende, niemals Stillstehende, das u m seine Vollkommenheit und ewige Seligkeit Ringende. Damit ist Diotima bereits von ihrer Betrachtung der Natur des Eros zu seinem Nutzen fur die Menschen übergegangen 8 3 , aber so viel ist schon klar geworden, daß dieser nicht in irgendwelchen einzelnen sozialen Wirkungen zu suchen ist, wie sie in den Reden der übrigen Anwesenden zum Teil dem Eros zugeschrieben 776

[H/260]

worden waren, etwa in der Erregung von Ehrliebe u n d Schamgefühl (Phaidros) oder in der Bereitschaft des Liebenden, an der Erziehung des Geliebten zu arbeiten (Pausanias). Diese Bemerkungen sind zwar nicht unrichtig, aber sie erschöpfen die Sache nicht, wie sich bald zeigt. Diotima deutet die Begierde nach dem Schönen, als die wir den Eros erkannten, echt sokratisch als das Streben der Menschen nach der Glückseligkeit, der Eudaimonie M . Auf sie muß jedes starke und tief in uns angelegte Verlangen unserer Natur letztlich bezogen, und in diesem Sinne muß es bewußt gelenkt und gemodelt werden. Es trägt in sich den Hinweis und das Anrecht auf einen letzten höchsten Besitz, ein vollkommenes Gut, wie j a nach Sokrates' Ansicht alles Wollen des Menschen an sich notwendig ein Wollen des Guten ist. Der Eros wird damit aus einem bloßen Sonderfall des Wollens zu dem sichtbarsten und überzeugendsten Ausdruck jener Grundtatsache aller platonischen Ethik, daß der Mensch niemals begehren kann, was er nicht für sein Gut hält. Daß die Sprache trotzdem nicht alles Wollen Eros oder erän nennt, sondern dieses Wort für eine bestimmte Art des Begehrens reserviert, hat nach Plato seine Parallele auch bei anderen Wörtern wie „Poesie", was einfach Schöpfung bedeutet, aber im Sprachgebrauch nur eine bestimmte Form schöpferischer Tätigkeit bezeichnet. In Wirklichkeit ist dieses neue Bewußtsein der Willkürlichkeit solcher „Abgrenzung" der Bedeutung von Worten wie Eros oder Poesie eine Begleiterscheinung der von Plato vollzogenen Ausdehnung dieser Begriffe und ihrer Erfüllung mit einem allgemeinen Gehalt So wird der Erosbegriff ihm zum Inbegriff des menschlichen Strebens nach dem Guten. Wieder wird eine an sich richtige und tief schürfende Bemerkung eines Vorredners von dem nun gewonnenen höheren Standpunkt aus an den ihr zukommenden Platz gerückt. Der Eros ist nicht bloß, wie Aristophanes sagte, auf die andere Hälfte unseres Wesens bzw. auf das Ganze gerichtet, es sei denn, daß man darunter das Gute und Vollkommene verstehe ββ . Nur wenn wir unter dem Wesensganzen statt der bloßen zufälligen Individualität das wahre Selbst des Menschen verstehen, d. h. wenn wir das uns Wesenseigene und -zugehörige dem Guten gleichsetzen und das uns Wesensfremde dem Schlechten, kann die Liebe zu dem, was einst unserer „alten Natur" eigen war (Aristo[II ¡261]

777

phanes), als der Sinn alles Eros betrachtet werden. Er ist dann das Begehren, „das Gute sich selbst zu eigen zu machen" 67 . Dies kommt sehr nahe der Definition, welche Aristoteles in der ,Nikomachischen' Ethik vom Wesen jener höheren Selbstliebe (φιλαυτία) gibt, die er als die letzte Form der sittlichen Selbstvollendung anerkennt 88 . Er hat ihr Prinzip von Plato übernommen; ihre Quelle ist das ,Symposion'. Die Worte der Diotima lesen sich wie der kürzeste und beste Kommentar zu diesem aristotelischen Begriff der Selbstliebe. Der Eros, als Liebe des Guten verstanden, ist zugleich der Trieb zur wahren Wesenserfüllung der menschlichen Natur und damit Bildungstrieb im tiefsten Sinne des Wortes. Auch darin folgt Aristoteles dem Plato, daß er alle anderen Arten der Liebe und Freundschaft von dieser idealen Selbstliebe ableitet 69 . Wir erinnern uns jetzt an das, was wir oben über die Selbstverliebtheit gesagt haben, die sich in der Rede des Agathon spiegelt70. Agathons Epideixis ist auch in dieser Hinsicht der vollendete Gegensatz der Rede des Sokrates. Die philosophische Selbstliebe, die dieser auf dem tiefsten Grunde alles Eros entdeckt, das Streben nach unsrer „wahren Natur", hat mit Selbstzufriedenheit oder Selbstgefälligkeit nichts zu tun. Nichts ist der echten sokratischen „Philautie" so fremd wie der Narzißmus, den man, wenn man sie psychologisierend mißversteht, in ihr finden könnte. Der sokratische Eros ist der Drang des sich unvollkommen Wissenden nach geistiger Selbstformung im steten Hinblick auf die Idee. Er ist recht eigentlich das, was Plato unter „Philosophie" versteht: das Streben nach dem Gestaltwerden des wahren Menschen im Menschen71. Wenn Plato so das Ziel des Eros in die Vollkommenheit eines von ihm erstrebten letzten Guten verlegt, so wird dadurch der scheinbar irrationale Trieb im höchsten Grade sinnvoll. Doch anderseits scheint der eigentliche und nächstliegende endliche Sinn des Eros, nämlich das Begehren nach dem einzelnen Schönen, über dieser Umdeutung ganz verloren zu gehen. Ihm läßt Plato daher im folgenden Teil der Diotimarede Gerechtigkeit widerfahren. Die nächstliegende Frage muß sein, welche Art der Tätigkeit oder des Strebens denn, von diesem hohen Standpunkt betrachtet, den Namen des Eros verdient. Wir sind überrascht, darauf eine Antwort zu erhalten, die keineswegs moralisierend 778

[II1262]

oder metaphysisch überstiegen klingt, sondern ganz von dem natürlichen Vorgang der körperlichen Liebe ausgeht: sie ist das Verlangen nach Zeugung im Schönen 72 . Die gewöhnliche Auffassung irrt nur darin, daß sie diesen Zeugungsdrang auf den Leib beschränkt denkt, während er in Wahrheit im seelischen Leben seine vollkommene Analogie findet73. Doch ist es gut, zunächst an den körperlichen Zeugungsakt zu denken, weil er das Wesen des ihm entsprechenden geistigen Prozesses erhellt. Der physische Zeugungswille ist eine Erscheinung, die weit über die menschliche Sphäre hinausgreift 14 . Halten wir fest, daß aller Eros das Verlangen ist, dem eigenen wahren Selbst zur Verwirklichung zu verhelfen 75 , dann erscheint der Zeugungs- und Fortpflanzungsdrang der Tiere und Menschen als Ausdruck des Triebes, ein gleiches wie sie selbst zu hinterlassen 76 . Nach dem Gesetz endlicher Wesen ist es ihnen nicht möglich, selbst ewig zu dauern. Nicht einmal das menschliche Ich, das sich im Wechsel der Lebensphasen als mit sich selbst identisch bewußt ist, besitzt eine solche Identität im absoluten Sinne, sondern es unterliegt unablässiger Erneuerung, leiblich und seelisch 77 . Nur das Göttliche ist ewig absolut dasselbe. So ist die Erzeugung eines Artgleichen, doch individuell Verschiedenen der einzige Weg, wie das Sterbliche und Endliche sich selbst unsterblich erhält. Dies ist der Sinn des Eros, der als körperlicher Drang eben das Streben nach Selbsterhaltung unserer leiblichen Art ist 78 . Doch Plato stellt jetzt dasselbe Gesetz fur die geistige Natur des Menschen auf 7 9 . Das geistige Selbst ist die Arete, die als „ R u h m " in das Leben der Gemeinschaft ausstrahlt. Das alles hat schon Homer gesehen, und Plato hat aus dieser Urquelle griechischer Areteanschauung zu schöpfen verstanden 80 . Es war durchaus richtig, wenn die Rede des Phaidros auf die Ehrliebe (φιλοτιμία) als Wirkung des Eros hinwies 81 , aber die Bedeutung dieses Motivs reicht weiter, als er erkannte. Aller geistige Eros ist Zeugung, Streben nach Selbstverewigung in einer Tat oder einem Liebeswerk eigener Schöpfung, das in der Erinnerung der Menschen fortdauert und lebendig wirkt. Alle großen Dichter und Künstler sind Erzeuger solcher Art, im höchsten Grade aber sind dies die Schöpfer und Gestalter der staatlichen und häuslichen Gemeinschaft 82 . Wessen Geist nun voll ist von Zeugungskraft, der [II1263]

779

sucht ein Schönes, u m in ihm zu zeugen. Wenn er eine schöne lind edle, wohlgeartete Seele findet, so heißt er den ganzen Menschen willkommen u n d fließt über gegen ihn vpn Reden über Arete, u n d wie ein vortrefflicher Mann beschaffen sein und was er tun und treiben solle, und er versucht ihn zu erziehen (έπιχειρεϊ παιδεύάΐυ). U n d in der Berührung und im Umgang mit ihm gebiert und zeugt er das, wovon er erfüllt war. Er gedenkt des anderen anwesend u n d abwesend u n d zieht das Geborene gemeinsam mit ihm auf. Ihre Gemeinschaft ist ein stärkeres Band als leibliche Kinder, und ihre Liebe ist dauerhafter als die der Ehegatten, da sie an Schönerem u n d Unsterblicherem teilhaben. Homer u n d Hesiod, Lykurg u n d Solon sind fur Plato die höchsten Repräsentanten dieses Eros in Griechenland, denn sie haben in den Menschen durch ihre Werke mannigfach Tugend erzeugt. Dichter und Gesetzgeber sind eins in dem Erziehertum, das sie in ihrem Werk verkörpern. Plato sieht von hier aus die griechische Geistesüberlieferung von Homer u n d Lykurg bis zu sich selbst als eine geistige Einheit. U m Dichtung und Philosophie, so sehr auch ihr Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit nach seiner Ansicht auseinanderklafft, schlingt sich als einigendes Band die Idee der Paideia, die aus dem Eros zur Arete entspringt 8 3 . Die Rede der Diotima hat sich bis dahin auf der Höhe der höchsten griechischen Tradition bewegt, indem sie alle schöpferische geistige Tätigkeit in das Licht des Eros stellt. Die Deutung des Eros als der erzieherischen Macht, die diesen ganzen geistigen Kosmos zusammenhält, erscheint als eine passende Offenbarung für Sokrates, in dem diese Kraft sich noch einmal rein verkörpert. Doch Diotima äußert Zweifel, ob er fähig sein werde, die größeren Weihen zu empfangen und zum Gipfel der letzten Schau aufzusteigen 84 . Da diese Schau die Idee des Schönen zum Gegenstand hat, liegt der Gedanke nahe, daß Plato durch diese Bemerkung andeuten wollte, wie weit die Erörterung sich in sokratischen Bahnen bewegt, u n d von wo an sie über Sokrates hinausgeht. Schon in dem bisher Gesagten war eine Stufenfolge vom Körperlichen zum Geistigen klar erkennbar. Dieser Stufengang wird im letzten Teil der Rede zum Grundprinzip des Aufbaus. Plato entwirft, das Bild der Mysterienschau weiter ausführend, ein ganzes System von Stufen (έπαναβαθμοί), auf denen der vom wahren 780

[11/264]

Eros Ergriffene e m p o r s t e i g t s e i es aus innerem Drang, sei es von einem anderen geführt, und er bezeichnet am Ende diesen geistigen Aufstieg als „Pädagogie" 8 e . Hier ist nicht mehr an die erzieherische Wirkung des Liebenden auf den Geliebten zu denken, von der vorher die Rede war u n d auf die Plato auch hier hinweist 87 , sondern der Eros wird jetzt als die treibende Kraft geschildert, die für den Liebenden selbst zum Erzieher wird, dadurch, daß sie ihn von der niedrigeren Stufe stets zur höheren emporführt. Diese Entwicklung beginnt in früher Jugend mit der Bewunderung der körperlichen Schönheit eines einzelnen Menschen, die den Bewunderer zu „edlen R e d e n " entflammt 8 8 . Doch dann sieht der wahre Erosjünger, daß die Schönheit eines Körpers der des anderen verschwistert ist, und er liebt die Schönheit an allen und erkennt sie als ein und dieselbe, und die Abhängigkeit von dem einen Individuum schwächt sich ab. Dies bedeutet natürlich nicht wahllose Abenteuer mit vielen Einzelnen, sondern das Wachsen seines Sinns für die Schönheit an sich. Bald bemerkt er auch die seelische Schönheit u n d schätzt sie höher als die körperliche, und er zieht seelische Anmut u n d Form vor, auch wenn sie nicht in einem sehr blühenden Körper wohnt 8 e . Das ist das Stadium, in dem sein Eros auch für den anderen Teil erzieherisch wird u n d Reden zeugt, die die Jungen besser machen 9 0 . Nun wird er fähig, das Schöne in allen Tätigkeiten und Gesetzen als verwandt zu erkennen, ein deutlicher Hinweis auf die synoptische Funktion der Dialektik, wie Plato sie anderwärts geschildert hat. Auf den dialektischen Prozeß der Zusammenschau des vielen sichtbaren Schönen zu dem einen unsichtbaren „Schönen an sich" zielt j a die ganze Beschreibung des Stufengangs der Mysterien des Eros. Er endet in der Erkenntnis der Schönheit aller Wissenschaften. N u n ist der Liebende frei von der Sklaverei, die ihn mit den Fesseln der Leidenschaft an einen einzelnen Menschen oder an eine einzige bevorzugte Tätigkeit bindet 9 1 . Er wendet sich dem „unermeßlichen Meer des Schönen" zu, bis er endlich, nachdem er durch alle Arten des Wissens u n d der Erkenntnis hindurchgegangen ist, die göttliche Schönheit in ihrer reinen Gestalt, losgelöst von allen Einzelerscheinungen u n d Beziehungen, erblickt 92 . Plato stellt den „vielen schönen Wissenschaften" das eine Wissen (μάθημα) gegenüber, dessen Gegenstand das Schöne selbst [111265]

781

ist 93 . Schön sind die Wissenschaften nicht in dem Sinne, wie man bis vor kurzem in neuerer Zeit von den „schönen Wissenschaften" sprach. Alle Wissensarten haben in Piatos Sinne ihre ihnen eigentümliche Schönheit, ihren besonderen Wert und Sinn. Doch alles Erkennen des Besonderen soll seinen Abschluß finden in der Erkenntnis des Wesens des Schönen selbst 94 . Auch das klingt befremdlich für uns, weil wir das Schöne zunächst im ästhetischen Sinne zu verstehen geneigt sind. Doch vor einer solchen Deutung warnt uns Plato durch verschiedene deutliche Winke. Nur ein Leben, das in der beständigen Schau dieser ewigen Schönheit verbracht wird, erklärt er für wahrhaft des Lebens wert 95 . Es handelt sich also bei jenem Schauen nicht um einen vereinzelten Höhepunkt, einen ekstatisch verzückten Augenblick. Nur ein ganzes Menschendasein, im Hinblick auf dieses „Ziel" (τέλος) geführt, vermag der Forderung Piatos zu genügen 96 . Damit ist natürlich noch viel weniger ein lebenslänglicher, ununterbrochener Schönheitstraum gemeint, der aller Wirklichkeit entrückt ist. Wir sollen uns dabei erinnern, daß Diotima j a schon vorher das Wesen des Eros bestimmt hat als das Trachten, sich das Gute „für immer" zu eigen zu machen 9 7 . Auch dort ist ein dauernder Besitz, eine das ganze Leben durchdringende Wirkung gemeint. Das „Schöne selbst", oder, wie Plato es an unserer Stelle auch nennt 9 8 , das „göttliche Schöne selbst" ist in seiner Bedeutung von dem Guten, von dem er dort redet, nicht wesentlich verschieden. Die Stellung der Lehre (μάθημα) vom Schönen als Endziel der Wanderung durch das Reich der einzelnen Wissenschaften (μαθήματα), wie das S y m posion' sie beschreibt 99 , entspricht der Idee des Guten und ihrer beherrschenden Stellung in dem Aufbau der Paideia im .Staat'. Plato nennt sie dort ähnlich das größte Lehrstück (μέγιστον μάθημα) 10°. Das Schöne und das Gute sind nur zwei eng verschwisterte Aspekte einer und derselben Wirklichkeit, die j a auch der allgemeine Sprachgebrauch im Griechischen miteinander zur Einheit verschmilzt, wenn er die höchste Arete des Menschen als „Schön und Gutsein" (καλοκάγαΘΙα) bezeichnet. In diesem „Schönen" oder „Guten", der in ihrem reinen Wesen angeschauten Kalokagathie erfassen wir das höchste Prinzip alles menschlichen Wollens und Handelns, den mit innerer Notwendigkeit wirkenden letzten Beweggrund, der zugleich der bewegende Grund alles 782

[II1266]

Geschehens in der Natur ist. Denn für Plato besteht zwischen sittlichem und physischem Kosmos völlige Harmonie. Schon in den ersten Reden über den Eros war dieses ihm innewohnende Streben nach dem sittlich Schönen, die Ehrliebe des Liebenden und sein Besorgtsein für die Vortrefflichkeit und Vollkommenheit des Geliebten, hervorgehoben worden. Damit wird der Eros eingefügt in den sittlichen Aufbau der menschlichen Gemeinschaft. Ebenso war in Diotimas Schilderung des Stufenganges der Liebesweihen schon auf der untersten Stufe, bei der Liebe zur körperlichen Schönheit, von den „schönen R e d e n " gesprochen worden, die sie hervorruft. Darunter sind Reden zu verstehen, die den Sinn für Höheres, Ideales, Ehrenvolles verraten. Die schönen Beschäftigungen und Wissensarten, die auf den folgenden Stufen sich daraus entwickeln, sind gleichfalls nicht bloß ästhetischer Art, sondern umfassen das Gute und Vollkommene, Sinngebende in allen Bereichen des Tuns und Wissens. Der Stufengang läßt so mit wachsender Klarheit erkennen, daß das Schöne nicht nur ein vereinzelter Lichtstrahl ist, der auf einen einzelnen Punkt der sichtbaren Welt fällt und ihn verklärt, sondern das alles durchwaltende Streben nach dem Guten und Vollkommenen. J e höher wir steigen, je weiter vor unserem Auge das Bild der Allwirksamkcit dieser Macht sich ausbreitet, u m so mehr wächst das Verlangen in uns, sie in ihrer Reinheit zu schauen und als bewegenden Grund des Lebens zu begreifen. Aber diese von Plato beschriebene Loslösung der allgemeinen Idee des Schönen von ihren endlichen Erscheinungen soll praktisch nicht die Loslösung des Erkennenden von der Welt bewirken, sondern sie soll ihn die allbeherrschende Kraft des Prinzips in der gesamten Wirklichkeit erst voll begreifen und sie in seinem eigenen Dasein bewußt zur Geltung bringen lehren. Denn das, was er von der Außenwelt herkommend als den alles durchdringenden Grund des Seins vorgefunden hat, entdeckt er in der höchsten Konzentration des Geistes in sich selbst als sein eigenstes Wesen. Wenn unsere Deutung des Eros zutrifft, daß der Trieb, sich das Gute für immer zu eigen zu machen, die im höchsten Sinne verstandene Selbstliebe des Menschen ist, so kann sein Gegenstand, das ewig Schöne und Gute, nichts anderes sein als der Kern eben dieses Selbst. Der Sinn des Stufenganges der „Pädagogie" des Eros, von der Plato spricht, ist [11/267]

783

die Herausformuiig des wahren menschlichen Wesens aus dem Rohmaterial der Individualität, die Begründung der Persönlichkeit auf das Ewige in uns. Der Glanz, mit dem die platonische Darstellung des „Schönen" diese unsichtbare Idee umgibt, strahlt aus von dem inneren Licht des Geistes, der in ihr seinen Mittelpunkt und Wesensgrund gefunden hat. Die humanistische Bedeutung der Lehre des ,Symposion' vom Eros als dem dem Menschen eingeborenen Drang zur Entfaltung seines höheren Selbst bedarf keiner Erläuterung. Im ,Staat' kehrt der Gedanke wieder in der Form, daß es der Sinn aller Paideia ist, den Menschen im Menschen zur Herrschaft zu bringen101. Die Unterscheidung des Menschen im Sinne der natürlich gegebenen Individualität und des höheren menschlichen Selbst liegt allem Humanismus zugrunde. Er ist in dieser philosophisch bewußten Fassung erst durch Plato möglich geworden, und das Werk, in dem er zum erstenmal entwickelt wird, ist das ,Symposion'. Aber er bleibt bei Plato nicht abstrakte Erkenntnis, sondern entfaltet sich wie alles andere in seiner Philosophie aus der Anschauung der einzigartigen Persönlichkeit des Sokrates. Deshalb ist jede Auffassung des ,Symposion' zu eng, die nur darauf ausgeht, aus der Gesamtheit der Reden und vor allem aus der philosophischen Offenbarung der Diotima den dialektischen Kern herauszuschälen. Ein solcher Kern ist unzweifelhaft in ihnen enthalten, er wird von Plato nicht einmal ängstlich versteckt. Doch es wäre falsch, seine eigentliche Absicht darin zu sehen, dem dialektisch erprobten Leser das Vergnügen zu bereiten, unter so vielfachen sinnlichen Hüllen schließlich den rein logischen Gehalt aufzufinden. Plato läßt das Werk nicht mit der Entschleierung der Idee des Schönen und der philosophischen Deutung des Eros schließen. Es gipfelt in der Szene, in der Alkibiades an der Spitze eines Schwanns trunkener Gefährten in das Haus eindringt und in kühner Rede Sokrates als den Meister des Eros in jenem höchsten, von Diotima enthüllten Sinne feiert. Die Reihe der Enkomien auf Eros wird beschlossen durch das Enkomion auf Sokrates. In ihm verkörpert sich der Eros, der die Philosophie selber ist 102 . Seine erzieherische Leidenschaft zieht ihn zu allen schönen und wohlveranlagten Jünglingen 103 , doch im Falle des Alkibiades wirkt die tiefe geistige Anziehungskraft, die von Sokrates ausgeht, derart, daß 784

[II1268]

sie das gewohnte Verhältnis von Liebendem und Geliebtem umkehrt, und es ist am Ende Sokrates, nach dessen Liebe Alkibiades vergeblich trachtet. Es ist für griechisches Empfinden die Höhe der Paradoxie, daß der schöne und gefeierte Jüngling den grotesk häßlichen Mann liebt, aber das neue Gefühl für den Wert der inneren Schönheit, von dem das ,Symposion' kündet, bricht in der Rede des Alkibiades mächtig durch, wenn er Sokrates mit den Silenfiguren in den Bildnerwerkstätten vergleicht, die, wenn man sie aufklappt, inwendig voller schöner Götterbilder sind 104 . U m die innere Schönheit läßt Plato den Sokrates am Ende des ,Phaidros' beten, denn mehr bedarf's nicht, und dies ist das einzige Gebet im ganzen Plato — das Vorbild und Beispiel, wie der Philosoph betet 105 . Die Tragik der Liebe des Alkibiades zu Sokrates, den er sucht und dem er zugleich doch zu entfliehen strebt, weil er das Gewissen ist, das ihn bei sich selbst verklagt 108 , ist die der groß veranlagten philosophischen Natur, die aus Ehrgeiz zum Erfolgsund Machtmenschen entartet, wie Plato sie im ,Staate* schildert 107 . Ihre verwickelte Psychologie — Bewunderung und Verehrung des Sokrates, aber gemischt mit Furcht und Haß — legt er in der großartigen Bekenntnisrede am Schluß des ,Symposion' bloß. Es ist die instinktive Verehrung des Starken für das, was er als Sokrates' siegreiche Stärke erkennt, und die Abneigung der Schwäche des Ehrgeizigen und Eifersüchtigen gegen die sittliche Größe der wahren Persönlichkeit, die ihm selbst, wie er fühlt, unerreichbar bleibt. Plato hat hier sowohl denen geantwortet, die dem Sokrates einen Schüler wie Alkibiades zur Last legten, — wie der Sophist Polykrates in seiner Anklageschrift, — wie dem Isokrates, der es lächerlich fand, Sokrates einen so großen Mann zum Schüler zu geben 108 . Er wollte wohl sein Schüler sein, aber seine Natur war nicht der Selbstüberwindung fähig 1 0 9 . Der sokratische Eros zündete in seiner Seele für Augenblicke, aber er ward nicht zur dauernden Flamme entfacht.

[U/269]

785

PLATOS STAAT Einleitung Der Staat ist das Problem, zu dem von Anfang an Piatos Denken hinstrebt. Unsichtbar zuerst, tritt es immer deutlicher als das Ziel aller dialektischen Bemühungen seiner früheren Werke ans Licht. Die sokratische Erörterung der Tugenden hat, wie wir erkannt haben, schon in den kleineren Dialogen die politische Tugend im Sinne 1 , und im ,Protagoras' und ,Gorgias' wird das sokratische Wissen vom Guten an sich als die politische Kunst vorgestellt, von der alles Heil zu erwarten ist2. Wer diese Tatsache fest im Auge behält, der bedarf kaum des Selbstzeugnisses des 7. Briefes8, um im ,Staat' Piatos zentrales Werk zu erkennen, in dem alle Linien der früheren Schriften zusammentreffen4. Man hat lange Zeit bei Plato nach dem „System" gesucht, weil man ihn an den Denkformen späterer Zeiten maß, bis man sich schließlich bei der Ansicht beruhigte, daß der Philosoph, sei es aus darstellerischen oder aus kritischen Gründen, nicht das feste Lehrgebäude erstrebt habe wie andere Denker, sondern die Erkenntnis in ihrem Werden zeigen wolle. Dabei entging aber den scharfsichtigeren Interpreten nicht die Tatsache, daß zwischen Piatos Dialogen trotzdem hinsichtlich ihres konstruktiven Gehalts große Unterschiede bestehen. Wenn das konstruktivste seiner Werke „Der Staat" betitelt ist, so folgt daraus eben, daß er anstatt der abstrakt-logischen Form des Systems das plastisch-anschauliche Bild des Staates als die höchste Darstellungseinheit gewählt hat, die den Umkreis seiner ethisch-sozialen Probleme ganz umspannt, ähnlich wie im ,Timaios' die Physik Piatos nicht als logisches System der Prinzipien der Natur entwickelt wird, sondern als das anschauliche und plastische Gesamtbild des Kosmos in seiner Entstehung5.

786

[II/270J

Aber was bedeutet der,Staat' für Plato? Seine ,Politeia' ist kein Werk des Staatsrechts oder der Verwaltungskunst, der Gesetzgebung oder der Politik im heutigen Sinne. Plato geht nicht von einem vorhandenen geschichtlichen Volk wie dem athenischen oder dem spartanischen aus. Wenngleich er sich bewußt auf griechische Verhältnisse bezieht, fühlt er sich doch an keinen bestimmten Boden, an keine Stadt gebunden. Die physischen Grundlagen des Staates werden nicht erwähnt. Sie interessieren Plato in diesem Rahmen weder im geologischen noch im anthropologischen Sinne. Die Züchtung eines höheren Menschentypus, von der der platonische Staat spricht, hat nichts zu tun mit dem Gesamtvolk als Rasse. Die breite Masse der Bevölkerung, ihr Handel und Wandel, ihre Sitten und ihr Lebensstand, alles das bleibt außer Betracht oder doch ganz an der Peripherie. Man wird das Volk vielleicht in dem „dritten Stand" Piatos suchen, aber dieser ist nur passives Objekt des Regierens8 und wird nicht einmal als solches näher gewürdigt. Für alle diese Seiten des staatlichen Daseins stellt Plato im ,Staat' weder eine Norm auf noch beschreibt er sie. Sie werden als unwesentlich ausgeschieden. Dagegen steht ganze Bücher hindurch die Auseinandersetzung mit Dichtung und Musik (Buch 2—3) und die Frage des Wertes der abstrakten Wissenschaften (Buch 5—7) im Mittelpunkt, und im zehnten Buch wird die Poesie noch einmal von neuen Gesichtspunkten aus erörtert. Eine Ausnahme macht scheinbar die Untersuchung der Staatsformen in Buch 8 und 9. Doch auch hier lehrt genaueres Zusehen, daß die Staatsformen von dem Philosophen nur als Ausdruck verschiedener Seelenhaltungen und Seelenformen aufgefaßt werden. Ebenso ergeht es dem Problem der Gerechtigkeit, das am Anfang der Erörterung steht und woraus alles Folgende erwächst. Welch ungeheures Thema für den Rechtsgelehrten nicht nur unserer Zeit, sondern auch der Zeit Piatos, die die vergleichende Staatswissenschaft zum erstenmal ins Leben rief! Aber auch hier keine Beachtung des realen Rechtslebens; die Untersuchung der Frage: Was ist das Gerechte? mündet in die Lehre von den „Teilen der Seele" 7 . Mit der Seele des Menschen hat Piatos ,Staat' es letzten Endes zu tun. Was er über den Staat selbst und seine Struktur sagt, die sogenannte organische StaatsaufFassung, in der viele den eigentlichen Kern von Piatos ,Politela' sehen, wird nur als „vergrößertes [1U271]

787

Spiegelbild" der Seele und ihrer Struktur herangezogen. Aber auch dem Problem der Seele steht Plato nicht primär theoretisch, sondern praktisch gegenüber: als der Seelenbildner. Die Formung der Seele ist der Hebel, mit dem er seinen Sokrates den ganzen Staat bewegen läßt. Der Sinn des Staates, den Plato in seinem Hauptwerk enthüllt, ist kein anderer als der, den uns die vorangehenden Dialoge ,Protagoras' und ,Gorgias' erwarten lassen. Er ist seinem höheren Wesen nach Erziehimg 8 . Diese Darstellungsweise Piatos kann uns nach allem Vorangegangenen nicht mehr befremdlich erscheinen. Er stellt in der staatlichen Gemeinschaft eine der dauernden existentiellen Voraussetzungen der griechischen Paideia philosophisch ans Licht *. Zugleich aber stellt er — in der Gestalt der Paideia — denjenigen Aspekt des Staates in den Vordergrund, in dessen Abschwächung er den Hauptgrund für die fortschreitende Entwertung und Entartung des staatlichen Lebens seiner Zeit zu erkennen glaubt. P o l i t e l a und P a i d e i a , die wohl schon damals für viele Menschen nur noch in sehr vager Beziehung zueinander standen, werden so die Brennpunkte in Piatos Werk. Nichts kann für den, der es in dieser Perspektive sieht, überraschender sein als die Bemerkung eines aus der Schule des Positivismus hervorgegangenen modernen Historikers der Philosophie, der zwar in Piatos ,Staat' viele faszinierende Gedanken findet, aber daran Anstoß nimmt, daß in ihm so viel von Erziehung die Rede sei 10 . Man könnte mit dem gleichen Recht sagen, daß die Bibel zwar ein sehr geistreiches Buch sei, daß aber in ihr zu viel von Gott die Rede sei. Aber lächeln wir nicht, denn diese Haltung steht keineswegs vereinzelt da. Sie ist für die Verständnislosigkeit des 19. Jhrh. gegenüber diesem Werk typisch. Die Wissenschaft, die sich aus der Schulweisheit des Humanismus zu stolzer Höhe emporgearbeitet hatte, war in ihrer als vornehm geltenden Verachtung alles „Pädagogischen" nicht mehr fähig, ihren eigenen Ursprung zu verstehen 11 . Sie war außerstande, das Problem der Erziehung des Menschen, das noch fur die Zeit Lessings und Goethes ein höchstes Ziel bedeutet hatte, in seiner antiken und insbesondere platonischen Dimension ins Auge zu fassen, als letzten Inbegriff geistigen Seins und als Quelle alles tieferen Sinnes der menschlichen Existenz. Wieviel näher war ein Jahrhundert früher JeanJacques Rousseau dem wahren Verständnis des platonischen Staats 788

[II1272]

gewesen, wenn er erklärte, das Werk sei keine Staatslehre, wie diejenigen dächten, die Bücher nur nach ihrem Titel beurteilen, sondern es sei die schönste Abhandlung über Erziehung, die jemals geschrieben worden sei. (Emile, livre Einleitung.) Der Ursprung der Idee des besten Staates aus dem Problem der Gerechtigkeit

Seit der paradoxen Schluß-These in Piatos ,Gorgias£, daß Sokrates der größte Staatsmann seiner Zeit sei, sind wir auf die Einlösung des damit gegebenen Versprechens gespannt 12 . Zwar was der piatonische Sokrates mit dieser Selbstcharakteristik im Grunde meint, ist bereits im ,Gorgias [ klar. Aber diese Umsetzung des Polidschen aus der Sphäre des egoistischen Machttriebs in die der sokratischen Erziehung und Seelenformung ·— wie würde sie sich praktisch auswirken, wenn sie in einem wirklichen Staat Ereignis würde? Wie würde sie das Wesen dieses Staates verwandeln? Piatos dichterisches Anschauungsbedürfnis und sein politischer Erneuerungswille wirkten zusammen zu dem großartigen Versuch, den „besten Staat" auf dieser Grundlage im Geiste zu errichten und ihn als Paradeigma vor die Augen der Menschheit hinzustellen. Der Gedanke des „besten Staats" war an sich nicht neu. Der eingeborene Trieb des Griechen, der ihn in allen Zweigen der Künste und des Wissens nach der höchsten Vollkommenheit streben ließ, wirkte auch im politischen Leben dieses Volkes als Stachel der Unzufriedenheit mit dem bestehenden Unzulänglichen, und selbst die strenge Vorschrift des Gesetzes, die den Umsturz der heimischen Verfassung mit dem Tode bedrohte, hielt die politische Phantasie nicht ab, über die gegenwärtigen Verhältnisse hinauszudenken 13 . Vor allem waren die sozialen Zustände seit Jahrzehnten Gegenstand eifrigen Spekulierens. Schon die alten Dichter hatten in chaotischen Zeiten Idealbilder der „Eunomie" geschaffen. Tyrtaios der Spartaner hatte die vollkommene Ordnung konservativ mit der spartanischen Tradition gleichgesetzt 14 . Darüber hinausschreitend hatte Solon die gerechte Polis aus den ewigen Forderungen der sittlichen Vernunft abgeleitet 15 . In der Sophistenzeit war man noch weiter gegangen: Es bedurfte jetzt mehr konkreter Vorschläge, wie die sozialen Schäden im Staate zu beseitigen seien, Und Phaleas und Hippodamos, deren Utopien wir [II!273]

789

aus Aristoteles' .Politik' noch im Umriß kennen 1 ·, hatten, dem Zeitgeist des Rationalismus entsprechend, Grundrisse einer gerechten und dauerhaften Gesellschaftsordnung aufgezeichnet, deren schematische Form einigermaßen an die geometrische Gestalt der architektonischen Stadtpläne desselben Hippodamos erinnert. Phaleas hatte unter anderem in seinem Staatsentwurf auch gleiche Erziehung für alle Bürger gefordert und darin ein Band gesehen, das die Gemeinschaft innerlich zusammenhalten würde 17 . Ein unbekannter Sophist, der nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges schrieb, stellte das Problem der bürgerlichen Tugend und der Autorität der Staatsgesetze in den Mittelpunkt einer Schrift, die sich mit der Rekonstruktion des Staates befaßt 18 . Sein Gesichtspunkt ist von dem der platonischen ,Politeia' sehr verschieden, da er alles, auch das Problem der Moral und staatlichen Autorität, in wirtschaftlichem Zusammenhang sieht. Von diesen Faktoren hängt nach seiner Auflassung das Vertrauen, der Kredit, im Inneren wie im Verkehr mit den Angehörigen der anderen Staaten, ab, und die Unfähigkeit des Staates, eine solche Autorität aus eigener Kraft herzustellen, führt zur Tyrannis. So ist der Verfasser hauptsächlich praktischen Zielen zugewandt, die ihm von vornherein feststehen und die im wesentlichen den Anschauungen entsprechen dürften, wie sie in den griechischen Demokratien nach dem Ausgang des alles zerrüttenden Krieges herrschten. Aber eine Schrift wie diese ist bezeichnend für die Atmosphäre, in der Piatos Lehre vom besten Staat erwuchs. Plato beschränkt sich nicht, wie dieser Verfasser, darauf, dem Staate unter der Voraussetzung einer bestimmten Staatsform Ratschläge zu erteilen oder, wie die Sophisten, über den relativen Wert der verschiedenen Staatsformen zu debattieren 19 , sondern er geht radikal vor und nimmt als Ausgangspunkt das Problem der Gerechtigkeit in seiner Allgemeinheit. Die Symphonie der ,Politeia' setzt ein mit dem uns altvertrauten sokratischen Motiv der Arete, also auf der gleichen Ebene wie die früheren Dialoge Piatos. Vom Staate ist zunächst ebensowenig die Rede wie dort. Sokrates beginnt scheinbar wieder mit der Erörterung einer einzelnen Tugend, aber diese hat einen bedeutsamen historischen Hintergrund, der unsichtbar gegenwärtig ist. Um den Ansatz des platonischen Werkes zu verstehen, müssen wir die Kämpfe in 790

[Ii!274]

unserem Geiste gegenwärtig haben, die um das Ideal der Gerechtigkeit in den Jahrhunderten vor Plato geführt worden waren. Die Gerechtigkeit war die politische Tugend im höchsten Sinne; sie faßte, wie der alte Dichter sagte, alle übrige Tugend in sich zusammen 20 . Dieser Vers war einst in der Werdezeit des Rechtsstaats der prägnante Ausdruck einer neuen Sinngebung des Tugendbegriffs gewesen, und er ist für Piatos Staatsdenken in neuer Weise aktuell. Aber sein Sinn ist jetzt ein anderer, innerlicherer geworden. Für den Schüler des Sokrates kann er nicht länger den bloßen Gehorsam gegen die Gesetze des Staates, die Legalität, bedeuten, die einst das schützende Bollwerk des Rechtsstaates gegenüber einer Welt selbstherrlicher feudaler oder revolutionärer Gewalten gebildet hatte21. Piatos Begriff des Gerechten geht über alle Menschensatzung hinaus, er geht zurück auf ihren Ursprung in der Seele selbst. In ihrer innersten Natur muß das, was der Philosoph gerecht nennen kann, seinen Grund haben. Der Gedanke der Bindung der Bürger an ein allgemeines geschriebenes Gesetz, der vor zwei Jahrhunderten erlösend den Weg aus der Wirrnis jahrhundertealter Parteikämpfe gewiesen hatte22, barg in sich, wie die seitherige Entwicklung gelehrt hatte, ein schweres Problem. Das Gesetz, das auf lange oder gar ewige Dauer berechnet war, erwies sich bald als der Verbesserung oder Erweiterung bedürftig. Die Erfahrung zeigte aber, daß alles darauf ankam, welche Elemente im Staat die Fortbildung der Gesetze in die Hand nahmen. Gleichviel ob es eine schmale besitzende Schicht oder eine Volksmehrheit oder ein einzelner Machthaber waren, schien es eine unausweichliche Notwendigkeit, iaß das jeweils herrschende Element die Gesetze in seinem Sinne, and das hieß seinem eigenen Interesse gemäß, änderte. Die Verichiedenheit dessen, was in den einzelnen Staaten als Recht galt, bewies die Relativität dieses Begriffs23. Wollte man über diese ichwankende Verschiedenheit hinausdringen zu einer letzten Einheit, so konnte sie scheinbar nur in der wenig trostreichen Definition gefunden werden, daß das geltende Recht überall der \usdruck des Willens der jeweils stärkeren Partei und ihres Interesses ist. Es wird damit zu einer bloßen Funktion der Macht, die in sich kein sittliches Prinzip hat. Ist aber Gerechtigkeit gleichbedeutend mit dem Vorteil des Stärkeren, so ist alles Ringen (II¡275]

7 91

der Menschen um ein höheres Ideal des Rechts eine Selbsttäuschung, und die staatliche Ordnung, die es verwirklichen will, wird zur bloßen Kulisse, hinter der sich in Wirklichkeit der schonungslose Kampf der Interessen abspielt. Manche Sophisten und viele Staatsmänner ihrer Zeit hatten in der Tat diese letzte Konsequenz gezogen und damit jede Bindung abgestreift, wenn dies natürlich auch nicht jedem ehrsamen Durchschnittsbürger bewußt war, Die Auseinandersetzung mit diesem Naturalismus mußte für Plato der Ausgangspunkt jeder tieferen Erfassung des Staatsproblemswerden; denn hatte diese Ansicht recht, so hatte freilich alles Philosophieren ein Ende. Schon im ,Gorgias' hatte er den grundsätzlich skrupellosen Machtpolitiker in der Gestalt des Kalükles verkörpert und ihn als den eigentlichen Gegner des Sokrates gekennzeichnet24. Er hatte dort den Kampf der Macht und der Erziehung um die Seele des Menschen als das Kernproblem der geistigen Situation seiner Zeit geschildert25. Wenn Sokrates nun in der ,Politela' daran geht, seine eigene Staatskunst zu zeigen, so erwarten wir, daß er auf dieses Problem zurückgreift. Im ersten Buch des ,Staates' ist der streitbare Sophist Thrasymachos als Repräsentant der kallikleischen Machtphilosophie ausgewählt; auch sonst finden sich trotz Piatos bewußter Kunst der Variation manche Wiederholungen der Szene des ,Gorgias'. Die Lehre vom Recht des Stärkeren wird offenbar von Plato als die geeignetste Folie angesehen, von der seine eigene Stellung zum Staate sich abheben läßt2®. Doch er stellt in dem größeren Werk seine These der Erziehung nicht einfach programmatisch kontrastierend der These des Willens zur Macht gegenüber, wie er es im ,Gorgias' getan hatte, sondern er gelangt erst auf einem Umweg zur Entwicklung seiner erzieherischen Forderungen. Die einleitende Erörterung über die rein machtmäßig-machiavellistische Auffassung von Staat und Gerechtigkeit dient in der ,Politela' eben lediglich als Hintergrund, während die positive Darstellung des platonischen Erziehungssystems das eigentliche Thema bildet. Nachdem Sokrates im ersten Buch die Lehre, daß das Gerechte nur der Ausdruck des Willens der zur Zeit stärksten Partei sei, in seiner gewohnten Weise widerlegt hat, indem er an Stelle des positiven Rechts das eigentliche Wesen des Gerechten setzt, ist 792

[U/276]

das Gespräch scheinbar an seinem Ende angelangt 27 . Doch die Brüder Piatos, Glaukon und Adeimantos, zwei wundervolle Vertreter der Elite athenischer Jugend in ihrer zähen Ausdauer, geistigen Schärfe und idealen Schwungkraft, „stellen" Sokrates an diesem Punkte und fordern von ihm etwas weit Größeres, als was er bis dahin gegeben hat. Sie erkennen alles, was er gesagt hat, nur als ein Proömium an und bekennen sich noch nicht endgültig davon überzeugt, daß die Gerechtigkeit an und für sich, ohne jede Rücksicht auf ihren sozialen Nutzen und auf die bürgerliche Konvention betrachtet, ein hohes Gut sei. Glaukon und Adeimantos entwickeln kampflustig in zwei direkt aufeinander folgenden Reden das Problem in der strengen Form, die allein der Jugend ihrer Generation genügen kann: Ist die Gerechtigkeit ein ^Gut, das wir um seiner selbst willen suchen, oder ist sie ein bloßes Mittel, das einen bestimmten Nutzen bringt? Oder gehört sie zu den Dingen, die wir sowohl um ihrer selbst wie um ihrer segensreichen Folgen willen lieben? 28 Glaukon macht sich einen Augenblick zum Verteidiger der Ansicht derer, die Unrechttun an sich für ein Gut und Unrechtleiden für ein Übel halten, die aber in Ermangelung der Kraft, selbst nach dieser Moral des Starken zu leben, den Schutz der Gesetze als ein Kompromiß, einen mittleren Ausweg begrüßen zwischen dem höchsten Gut, ungestraft Unrecht zu tun, und dem größten Übel, Unrecht zu leiden 28 . Er macht uns die Unfreiwilligkeit der Gerechtigkeit einleuchtend durch das Gleichnis von jenem zauberkräftigen Ring des Gyges, der seinem Träger die Fähigkeit verlieh, wenn er das Siegel nach innen drehte, sich plötzlich unsichtbar zu machen 30 . Wer von uns wäre, wenn er diesen Ring besäße, von so adamantener Härte in seinem Inneren, der Macht der Versuchung zu widerstehen? Wer würde nicht versuchen, allerlei geheime Wünsche zu befriedigen, die die moralische Ordnung unserer Gesellschaft als schlecht verurteilt? Glaukon packt also das Problem bei seiner Wurzel an. Wir haben bereits früher bemerkt, welche Rolle in der sophistischen Erörterung der objektiven Gültigkeit des moralischen und staatlichen Gesetzes die Frage spielt, warum der Mensch in Gegenwart von Zeugen so häufig anders handelt als ohne Zeugen. Man setzte das Verhalten in Gegenwart von Zeugen auf Rechnung des künstlichen Zwanges der Gesetze und glaubte, in dem Verhalten des Menschen [II1277]

793

ohne Zeugen die wahre Norm der Natur zu fassen, die nichts anderes sei als der Trieb nach dem Angenehmen und nach Vermeidung der Unlust 31 . Plato hat in der Geschichte vom Gygesring ein geniales Symbol für diese naturalistische Auffassung der Macht und des menschlichen Strebens geschaffen. Wir können den wahren Wert der Gerechtigkeit für das Leben des Menschen nur so erkennen, daß wir das Leben eines durch und durch Ungerechten, dessen wahrer Charakter verborgen bleibt, vergleichen mit dem Leben eines Mannes, der wahrhaft gerecht ist, doch es nicht versteht oder es verschmäht, auch den so viel wichtigeren äußeren Schein des Rechts stets sorgfaltig zu wahren. Wird dieser Vergleich nicht sehr zugunsten des Lebens ausfallen, wie es der Ungerechte führt? Und wird der Gerechte nicht verfolgt und gemartert und unglücklich sein? Doch auch diese packende symbolische Darstellung des Problems als der Frage des reinen inneren Wertes der Gerechtigkeit genügt Plato noch nicht. Er läßt Glaukons Bruder Adeimantos eine zweite Rede halten, um die Absicht Glaukons noch deutlicher zu machen 32 . Es sollen nach den modernen aufgeklärten Lobrednern der Ungerechtigkeit jetzt auch deren Gegner zu Worte kommen, die die Gerechtigkeit preisen, die Schar der großen Dichter von Homer und Hesiod bis Musaios und Pindar. Aber preisen sie dieses Ideal nicht nur wegen des Lohnes, den die Götter dem Gerechten gewähren 33 , und erklären sie nicht an anderen Stellen die Gerechtigkeit zwar für hoch und hehr, aber zugleich für beschwerlich und Leid bringend, während sie die Ungerechtigkeit oft als nützlich, ja, sogar die Götter als bestechlich schildern? 34 Wenn selbst die Zeugen der höchsten menschlichen Tugend, die Dichter und Erzieher des Volkes, so urteilen, welches Leben soll da ein junger Mensch wählen, wenn er praktisch vor die Entscheidung gestellt wird? Adeimantos spricht sichtlich aus einer echten inneren Not; seine Worte atmen, besonders gegen den Schluß seiner Ausführungen, durchaus eigenes Erlebnis 38 . Er ist von Plato zum Vertreter der jungen Generation gemacht worden, der er selbst angehört hat. Das ist der Sinn der Wahl seiner Brüder als Mitunterredner, die die Untersuchung vorwärts treiben und das eigentliche Problem fertig formuliert vor Sokrates hinstellen. Wahrlich zwei großartige Sockelgestalten für das Denkmal des 794

[II¡278]

Erziehers Sokrates, das Plato in seinem größten Werk zu errichten im Begriffe ist. Der Grund, aus dem es emporwächst, ist die beunruhigende Gewissenspein dieser jungen Vertreter urechtester altattischer Kalokagathie, die zu diesem Manne kommen als zu dem einzigen, von dem sie sich eine Antwort erhoffen. Adeimantos schildert den inneren Zustand seiner selbst und seinesgleichen mit rückhaltlosem Freimut, und jedes seiner Worte ist ein Hieb der Kritik gegen die bisherige Erziehung durch eben jene klassischen alten Dichter und vielgerühmten sittlichen Autoritäten, die in der Seele einer kompromißlos denkenden Jugend den Stachel des Zweifels zurücklassen. Plato und seine Brüder waren die Produkte dieser alten Erziehung und fühlten sich als ihre Opfer. Glaubte wirklich einer dieser Erzieher an den inneren Selbstwert der Gerechtigkeit in dem Sinne, den die neue Jugend fordert, um an das Ideal noch glauben zu können?3® Was sie im öffentlichen und privaten Leben rings um sich hört und sieht, ist nur die notdürftig in ideale Phrasen gehüllte abgefeimte Skrupellosigkeit, und die Jugend ist in größter Versuchung, ihren Pakt mit dieser Welt zu machen. Kleine Bedenklichkeiten der inneren Stimme, so schildert Adeimantos, werden leicht beschwichtigt durch die Erfahrung, daß das Unrecht oft genug nicht entdeckt wird, und gegen die religiöse Vorstellung, daß Gottes Auge mich sieht, hilft ein bißchen Atheismus oder der rituelle Formelkram irgendeiner Reinigung verheißenden Mysterienreligion37. So fordert er von Sokrates, darin mit seinem Bruder Glaukon übereinstimmend, den überzeugenden Nachweis, nicht, daß die Gerechtigkeit sozial nützlich sei, sondern daß sie an und für sich für die Seele dessen, der sie besitzt, ein Gut ist wie Sehen und Hören und klarer Verstand, und daß die Ungerechtigkeit ein Unglück ist, und er will wissen, was das ist, was jede von beiden, gleichgültig ob sie verborgen bleibt oder nicht, im Wesenskern der menschlichen Persönlichkeit bewirkt. Mit dieser Formulierung des Problems der Gerechtigkeit hat die Untersuchung eine Höhe der Betrachtung erreicht, von wo aus aller Sinn des Lebens, sowohl der sittliche Wert wie das Glück, ausschließlich in das innere Sein des Menschen verlegt erscheint. Wie das möglich sei, vermögen die jungen Menschen, die diese Frage an Sokrates richten, freilich nicht selbst

[11/279]

795

zu sagen; sie sehen nur klar, daß dies der einzige Ausweg wäre, um dem vollkommenen Relativismus zu entgehen, wie die Lehre vom Recht des Stärkeren ihn in sich schließt. Die Gerechtigkeit muß etwas in der Seele selbst Liegendes, eine Art innerer Gesundheit des Menschen sein, an deren Wesen man nicht zweifeln kann, wenn sie nicht der bloße Reflex der wechselnden äußeren Macht- und Parteieinflüsse sein soll, wie das geschriebene Gesetz des Staates s e . Es ist schön, daß nicht etwa Sokrates von oben herab einer ungläubigen Hörerschaft diesen Satz als ein Dogma verkündet wie im ,Gorgias' 3e , sondern daß die um ihre eigene sittliche Haltung ringende Jugend selbst diese Konsequenz ihrer verzweifelten inneren Lage zieht und sich nur darum an Sokrates wendet, um von seinem überlegenen Geiste die Auflösung ihres Rätsels zu empfangen. Damit fallt von fern bereits ein Licht auf die platonische Auffassung von der Bestimmung des Staates, der aus der Wurzel d i e s e r Gerechtigkeitsidee erwachsen soll: er wird sein Zentrum im Innern der Persönlichkeit haben müssen. Die Seele des Menschen ist das Urbild des platonischen Staates. Die enge Beziehung des Staates zu der Seele des Menschen wird von vornherein angedeutet durch die merkwürdige Art, wie Plato auf den Staat zu sprechen kommt. Nach dem Titel des Werkes erwarten wir, daß jetzt endlich der Staat als das eigentliche Hauptziel der langen Untersuchung über die Gerechtigkeit proklamiert wird. Aber er wird von Plato bloß als ein Mittel eingeführt zu dem Zweck, Wesen und Funktion der Gerechtigkeit in der Seele des Menschen anschaulich zu machen. Denn da es Gerechtigkeit sowohl in der Seele des Einzelnen wie im Staatsganzen gibt, so muß man an dieser größeren, wenn auch entfernteren Tafel, dem Staate, ihr Wesen gleichsam in größerer und deutlicherer Schrift ablesen können als in der Seele des Individuums 40 . Das sieht auf den ersten Blick freilich eher so aus, als solle der Staat vielmehr zum Urbild der Seele gemacht werden, aber für Plato sind beide völlig gleich beschaffen und von gleicher Struktur sowohl in ihrem gesunden wie im entarteten Zustande. In Wahrheit ist das Bild, das er von der Gerechtigkeit und ihrer Funktion im besten Staate gibt, nicht von der Erfahrungswirklichkeit des staatlichen Lebens hergenommen, sondern ein Spiegelbild der Lehre Piatos von der Seele und ihren Teilen, die er 796

[11/280]

in seinem Bild des Staates und seiner Stände ins Große projiziert. Plato läßt den Staat aus seinen einfachsten Elementen vor unseren Augen entstehen, u m ausfindig zu machen, an welchem Punkt die Gerechtigkeit sich in ihm als Bedürfnis geltend macht 4 1 . Das tritt zwar erst wesentlich später zutage, doch das ihr zugrunde liegende Prinzip ist schon in den ersten Anfängen des Staates unbewußt wirksam in Gestalt der unausweichlichen Notwendigkeit der beruflichen Arbeitsteilung, die sich herausstellt, sobald sich einige Handwerker und Landbebauer zu einer Gemeinde einfachster Art zusammenschließen 42 . Dieses Prinzip, daß jeder sein ihm eigenes Werk verrichten solle (τά έαυτοϋ πράττειν), hängt für Plato mit dem Wesen der Arete selbst zusammen, die in der Vollkommenheit der spezifischen Leistung jedes Wesens und jedes seiner Teile besteht 43 . Beim Zusammenwirken der Menschen in der sozialen Gemeinschaft begreifen wir diese Wahrheit leicht, während ihre Gültigkeit für das Zusammenwirken der „Teile der Seele" weniger einfach einzusehen ist. Das Wesen der Gerechtigkeit wird erst später deutlich werden, wo Plato das Ergebnis aus dem Vergleich von Staat und Seele zieht. Die Reformation der alten Paideia Wir sind dem Lauf der Untersuchung vorausgeeilt und kehren zu der Schilderung der Entstehung des Staates zurück. Sie unterscheidet zwei Phasen der Entwicklung, den ursprünglichen, einfachen und nur aus den notwendigsten Handwerken und Berufen zusammengesetzten Gesellschaftsaufbau, den Plato den gesunden Staat nennt, und die geschwollene und kranke Stadt, die sich bei zunehmendem Luxus und Wohlleben naturnotwendig herausbildet 44 . In ihr gibt es nicht nur Ackerbauer, Bauleute, Bäcker und Schneider, Schuhmacher u n d Kleidermacher, sondern auch ein ganzes Heer von Menschen, die für die überflüssigen Dinge des Lebens sorgen. Die unausbleibliche Folge dieser krankhaften Aufschwemmung des Staates, dessen Gesundheit am besten in engen Verhältnissen gedeiht, ist der Drang zur Gebietserweiterung, indem der Staat von dem R a u m seiner Nachbarstaaten ein Stück abschneidet und sich aneignet. Damit haben wir die Entstehung des Krieges gefunden, der immer aus wirtschaftlichen Ursachen entspringt 45 . Plato nimmt ihn hier als gegebene Tatsache hin; [II

1281]

797

das große Problem, ob der Krieg gut oder schlecht sei, behält er ausdrücklich einer anderen Erörterung vor 46 . Der nächste Schritt ist naturgemäß die Entstehung des Kriegertums. Plato fordert im Gegensatz zu dem demokratischen Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht der Bürger, wie es in den griechischen Staaten bestand, auf Grund seines Satzes, daß jeder nur sein eigenes Handwerk betreiben solle, einen berufsmäßigen Kriegerstand, die Wächter 47 . Er nimmt damit die Idee der Berufsheere der hellenistischen Zeit vorweg; die Kriegführung seiner Zeit hatte freilich schon entscheidende Schritte in dieser Richtung getan durch die Ausbildung des gerade damals viel kritisierten Söldnerwesens 48 . Plato zieht es vor, aus der Bürgerschaft selbst einen besonderen Kriegerstand herauszuheben. In der Bezeichnung der Krieger als „Wächter" liegt aber die Beschränkung ihres Zweckes auf die Verteidigung. Das Bild, das Plato zeichnet, ist eine merkwürdige Mischung; es ist teils moralisch beurteilende Schilderung des wirklichen naturgemäßen Hergangs, wobei die Entstehung des Krieges als Symptom der Störung einer ursprünglichen Ordnung gilt, teils ideale Fiktion, die aus dem nun nicht mehr zu entbehrenden Stand der Krieger das Beste zu machen strebt. Das zweite dieser Motive gewinnt bald die Oberhand, und wir befinden uns plötzlich in der Rolle von Bildnern, die vor der Aufgabe stehen, durch Auslese der geeignetsten Naturen und deren richtige Erziehung den Typus des mutigen und intelligenten Wächters gleichsam mit Künstlerhand zu formen 49 . Die Wichtigkeit einer strengen Auslese fiir das Gelingen der Erziehung wird hier wie überall von Plato aufs stärkste hervorgehoben 50 . Sie wird im Falle der Wächter nicht an ein besonderes, kompliziertes Verfahren gebunden. Sie ist offenbar mehr Sache des erzieherischen Blicks, für den Plato mit seiner Charakteristik der wahren Wächternaturen ein glänzendes Beispiel gibt. Die körperliche Eignung des Wächters beruht auf Schärfe der sinnlichen Wahrnehmung, Behendigkeit im Verfolgen des Wahrgenommenen und Kraft im Kampfe darum, wenn er es gepackt hat. Zum Kampfe bedarf er der Tapferkeit; ihre spezifische körperliche Grundlage aber ist jenes muthafte Element, das auch den edlen Rossen und Hunden eigen ist. Ein ähnlicher Vergleich kehrt auch bei der seelischen Auslese der Wächter und bei der Frauenerziehung 798

[II1282]

wieder 61 . Er verrät den ausgesprochenen Sinn des Aristokraten fur den Wert der guten Rasse und seine Zuneigung zu Roß und Hund als den treuen Gefährten seiner Muße in Jagd und Sport. Die Seele des Kriegers, wenn er ein wahrer Wächter der Seinen sein soll, muß wie die guten Hunde zwei scheinbar sich widersprechende Eigenschaften in sich vereinigen: Sanftmut gegen die eigenen Leute und Angriffslust gegen Fremde. Scherzhaft sieht Plato in dieser Eigenschaft einen philosophischen Zug, da die Hunde wie die Wächter beide den Unterschied zwischen Bekannten und Unbekannten zum Maßstab dessen machen, was sie als ihnen eigen oder fremd ansehen 52 . Nach dieser Auslese geht Plato an die Erziehung (παιδεία) der Wächter 63 . Sie erweitert sich ihm zu einer umfangreichen Abhandlung, die dann in noch längere Untersuchungen über die Frauenbildung und die Erziehung der Herrscher im besten Staate mündet. Plato begründet sein ausführliches Eingehen auf die Erziehung der Wächter mit dem Hinweis, daß das für die Hauptuntersuchung, die Stellung der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Staate, erleuchtend sein werde, und sein jugendlicher Mitunterredner bejaht diese Bemerkung nachdrücklich. Aber wenn wir diesen Nutzen auch nicht bezweifeln, so haben wir doch, je weiter wir uns in die Einzelheiten der Paideia der Wächter vertiefen, desto mehr das Gefühl, dabei die sogenannte Hauptuntersuchung über die Gerechtigkeit völlig aus den Augen zu verlieren. In einem Werk von der Form eines vielverschlungenen Gesprächs wie der ,Politeia' müssen wir zwar vieles als durch die Kompositionsart bedingt hinnehmen, was unseren Ordnungssinn auf eine harte Probe stellt, doch die dreifache Untersuchung über die Erziehung der Wächter, die Bildung der Frauen und endlich die Erziehung der Herrscher wirkt so sehr als Selbstzweck, und die Erledigung der Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit und dem Glück des Gerechten wird so kurz zwischendurch abgemacht, daß hier nur die volle Absicht des Künstlers als Grund für dieses scheinbar gestörte Gleichgewichtsverhältnis der beiden ineinander verflochtenen Untersuchungen angenommen werden kann. Die Erörterung über die Gerechtigkeit ist zwar insofern die Hauptuntersuchung, als das ganze Werk sich aus ihr entwickelt und die Frage der Gerechtigkeit auf das Normproblem als den entscheiden[11/283]

7 99

den Punkt hinzielt. Aber als Kfxn des Ganzen erweist sich eben durch das Übergewicht, das Plato ihm äußerlich und innerlich gegeben hat, das Problem der Paideia, das mit der Erkenntnis der Normen unlöslich zusammenhängt und in einem nach Verwirklichung der höchsten Norm strebenden Staat naturnotwendig zur Hauptsache wird. Die Erziehung der Wächter nach einem vom Staat gesetzlich bestimmten System ist eine revolutionäre Neuerung von unabsehbaren geschichtlichen Folgen. Auf sie geht letzten Endes der Anspruch des modernen Staates zurück, die Erziehung seiner Bürger autoritativ zu regeln, der namentlich seit der Zeit der Aufklärung und des Absolutismus von Staaten aller Verfassungsarten erhoben wird. Zwar war auch in Griechenland und in der athenischen Demokratie der Geist der Verfassung des Staates in hohem Maße bestimmend für die Erziehung der Bürger, aber eine Erziehung durch den Staat und seine Behörden gab es nach dem Zeugnis des Aristoteles nirgendwo außer in Sparta 54 . Seine Berufung auf dieses Beispiel macht es gewiß, daß sowohl er wie Plato bei ihrer Forderung der Staatserziehung das spartanische Vorbild bewußt vor Augen hatten. Der Frage der Organisation des öffentlichen Erziehungswesens und der Ausbildung der Organe, die sie leiten sollen, ist Plato später in den ,Gesetzen' nähergetreten58, im ,Staat' bleibt sie noch ganz beiseite. Hier ist er ausschließlich an dem Inhalt der Bildung interessiert und sucht Grundlinien für sie aufzustellen, deren Erörterung ihn schließlich auf das Problem der Erkenntnis der höchsten Norm fuhrt. Als die natürliche Lösung der Doppelaufgabe der Bildung des Körpers und der Seele des Menschen erscheint ihm die altgriechische Paideia mit ihrer Teilung in Gymnastik und Musik; er behält sie daher als Grundlage bei6®. Wir müssen diese Tatsache im Lichte der Äußerungen Piatos über die Verderblichkeit jeder Neuerung in dem einmal eingeführten Erziehungssystem betrachten, um sein konservatives Festhalten an dem Bewährten nicht zu übersehen über der radikalen Kritik, die er im einzelnen an dem Inhalt der alten Erziehung übt. Man stellt begreiflicherweise meist die Negation in den Vordergrund, und ohne Zweifel offenbart sich in ihr besonders Piatos neues philosophisches Prinzip. Allein das persönlich Reizvolle und zugleich für die Entwicklung der Kultur Entscheidende liegt bei 800

[II1284]

Plato grade in der fruchtbaren Spannung zwischen seinem begrifflichen Radikalismus und dem konservativen Sinn für geistig geformte Überlieferung. Bevor wir seiner Kritik unser Ohr leihen, gilt es daher festzustellen, daß er seine neue philosophische Art der Bildung auf dem Grunde der (wie auch immer umgestalteten) altgriechischen Paideia aufgebaut hat. Diese Entscheidung, die für die Haltung der späteren Philosophie zum Vorbild wurde, ist von geschichtlicher Tragweite. Sie sicherte erstens die Kontinuität und organische Einheit der griechischen Kulturentwicklung nach Inhalt und Form und verhütete den vollkommenen Bruch mit der Tradition im Augenblick ihrer akuten Gefährdung, als der rationale Geist der Philosophie sich von der Betrachtung der Natur dem begrifflichen Neuaufbau der Kultur zuwandte. Zweitens gibt Piatos positive Anknüpfung an die ältere Paideia und damit an das lebendige Erbe der griechischen Nation seinem eigenen Philosophieren das historische Gesicht, denn es vollzieht sich in der Form der fortlaufenden Auseinandersetzung mit den Mächten der Dichtung und Musik, die bis dahin die Herrschaft über den griechischen Geist ausgeübt hatten. Diese Auseinandersetzung ist daher, philosophisch angesehen, keineswegs Nebensache, wie es dem modernen Beurteiler zu erscheinen pflegt, sondern sie ist für Plato von absolut primärer Bedeutung. Die Kritik der musischen Bildung Plato fordert, daß mit der Bildung der Seele, also mit der Musik, begonnen werde 57 . In dem umfassenden Sinne des griechischen Wortes μουσική verstanden, hat sie es nicht nur mit Ton und Rhythmus zu tun, sondern auch, und nach Piatos Akzentuierung sogar in erster Linie, mit dem gesprochenen Wort, dem Logos. Plato enthüllt in seiner Schilderung der Erziehung der Wächter noch nicht sein philosophisches Prinzip, aber er deutet sogleich mit dem ersten Satz die Richtung an, in der es liegt. Alles Interesse des Philosophen an sprachlichen Aussagen richtet sich auf die eine Frage, ob ein Satz wahr oder falsch ist. Auch der erzieherische Wert des Wortes, nicht nur sein Erkenntniswert, hängt von seiner Wahrheit ab. Um so paradoxer ist für Plato die Feststellung, daß die Erziehung nicht mit der Wahrheit, sondern mit der „Lüge" beginne 58 . Er meint damit die Mythen, die man den Kindern [11/285]

801

erzählt, und er sieht selbst keinen anderen Weg. Aber wenn er hier wie anderwärts im Staat der Täuschung, wenn sie bewußt als Erziehungs- und Heilmittel verwendet wird, ihren Platz einräumt, macht er doch sogleich eine wesentliche Einschränkung, die sich als tiefer Eingriff in die bisher geübten Methoden erweist. Die Geschichten, die wir der Jugend vorsetzen, sind zwar im ganzen genommen nicht wahr, aber sie enthalten doch ein gewisses Maß von Wahrheit. Nun ist wie in allen übrigen Dingen so besonders in der Erziehung der Anfang von großer Wichtigkeit, denn sie setzt ein im frühesten und zartesten Stadium der Entwicklung des Menschen. In diesem Alter ist er am leichtesten formbar und nimmt für immer den Stempel oder „Typus" in sich auf, den man ihm aufprägt. Nichts kann daher weniger angebracht sein als die Sorglosigkeit, mit der wir den Kindern von beliebigen Menschen Geschichten erzählen lassen. Die ihnen auf diese Weise eingepflanzten Vorstellungen sind oft geradezu entgegengesetzt den Überzeugungen, die sie einst als Erwachsene hegen sollen. Plato will deshalb die Erzähler von Sagen und Märchen unter Aufsicht stellen, denn die Seele des Kindes wird durch sie nachhaltiger geformt 59 als sein Körper durch die Hände seiner Pfleger. Piatos Forderung geht dahin, daß in allen Geschichten, groß und klein, der gleiche „Typus" ausgedrückt sein solle 60 . Nun kann zwar ein Staatsgründer als solcher nicht selbst ein Dichter sein, doch er muß die klare Erkenntnis der allgemeinen Typen haben, die die Dichter ihren Erzählungen zugrunde legen sollen. Plato spricht bald von einem Typus, bald von Typen in der Mehrzahl. Er denkt dabei nicht so sehr an eine positive Festlegung des schaffenden Dichters auf eine bestimmte Anzahl vorgeschriebener Schemata, eine dürre Typologie, wie an die Gestalt und den Umriß aller wertbetonten Vorstellungen, vornehmlich vom Göttlichen und vom Wesen der menschlichen Arete, die durch sein Werk der kindlichen Seele eingeprägt werden. Dem heutigen Leser des Homer oder Hesiod stehen sogleich zahlreiche Szenen vor Augen, die er nicht anders beurteilen würde, wenn er sie am Maßstab seines sittlichen Gefühls mißt. Er ist aber gewohnt, sie nur vom Standpunkt des Unterhaltenden zu betrachten, und so sah man sie schon in Piatos Zeit an. Daß sie für Kinder geeignet seien, wird man in der Tat kaum behaupten. Die Geschichte, wie Kronos

802

[11/286]

seine Kinder frißt, würden auch wir nicht in ein Kinderbuch aufnehmen. Solche Bücher hatte man damals aber nicht: man gab den Kindern früh Wein zu kosten sowie echte Poesie als Nahrung des Geistes. Aber wenn Plato zunächst auch von solchen Geschichten ausgeht, die man Kindern erzählt, so ist seine Kritik der Poesie doch keineswegs nur von einem pädagogischen Standpunkt in diesem engen Sinne geschrieben. Sie bezweckt keine bloße Herrichtung der Lektüre ad usutn Delpkini. Hinter ihr steht der tiefe prinzipielle Gegensatz zwischen Dichtung und Philosophie, der Piatos ganzen Kampf u m die Erziehung beherrscht und an dieser Stelle akut wird. Plato war nicht der erste Tadler der Dichtung unter den griechischen Philosophen. Er steht in einer langen Kette der Tradition, u n d wenn es natürlich auch nicht möglich ist, seine Kritik in ihrem besonderen Gesichtspunkt auf seine Vorgänger zurückzuführen, so wäre es doch ungeschichtlich gedacht, wollten wir die Macht dieser Überlieferung und ihren Einfluß auf Plato verkennen. Sein Angriff geht von der Unwürdigkeit der allzumenschlichen Götterdarstellung des Homer und Hesiod aus, und gerade sie war schon in den Spottgedichten des Xenophanes der Ausgangspunkt des Kampfes gegen die epische Poesie gewesen 61 . Auch Heraklit hatte in diesen Ton eingestimmt, und die moderne Dichtung selbst hatte sich in Euripides mit diesen philosophischen Angreifern verbündet' 2 . Aber hatten denn selbst Aischylos u n d Pindar über den homerischen Olymp anders denken können, und hatten sie nicht mit der ganzen Wucht ihres sittlichen Ernstes u n d ihrer persönlichen Glaubenskraft ihr reineres Bild des Göttlichen an die Stelle jenes alten gesetzt, mochten sie sich auch der negativen Kritik mehr enthalten? Eine ununterbrochene Kontinuität reicht von diesen ältesten Zeugen der religiösen u n d sittlichen Mißbilligung Homers bis zu den christlichen Kirchenvätern, die ihre Gründe und oft selbst ihre Worte gegen den Anthropomorphismus der griechischen Götter aus den Werken dieser heidnischen Philosophen schöpften. I m Grunde beginnt die Reihe schon mit dem Dichter der Odyssee, der sichtlich bemüht ist, seinen Göttern u n d besonders seinem Zeus eine würdigere Haltung zu geben als wir sie aus der Ilias kennen· 3 . Plato hat die Gründe des Xenophanes in Einzelheiten wie der Kritik der Kämpfe zwischen Göttern [II/287J

803

und Giganten oder des Hasses und der Zwietracht unter den Unsterblichen Homers unmittelbar übernommen 64 , und die letzte Quelle seines Empfindens ist dieselbe wie für seine Vorgänger: er legt wie sie den Maßstab seiner Sittlichkeit an die Vorstellungen der alten Dichter an und findet sie seinen Forderungen an das Göttliche nicht angemessen und daher unwahr. Schon Xenophanes hatte Homer angegriffen, „weil von Anbeginn allen Horneros als Lehrer gedient hat" β5, und er bekämpft ihn, weil er sich im Besitz einer neuen höheren Wahrheit weiß. Piatos Widerspruch bewegt sich auf derselben Linie, aber er geht weit darüber hinaus. Er ist nicht nur der gelegentliche Tadler des schlechten Einflusses der Poesie auf das Denken des Volkes, sondern sieht sich in seinem ,Staat' in der Rolle eines Erneuerers des ganzen Systems der griechischen Paideia. Von jeher waren Dichtung und Musik die Grundlagen der Geistesbildung gewesen; sie schlossen auch die religiöse und sittliche Erziehung ein. Plato sieht in dieser Auffassung der Poesie etwas so Selbstverständliches, daß er nirgendwo den Versuch macht, sie näher zu begründen. Aber wo immer er sich über das Wesen der Dichtung äußert, setzt er sie voraus oder bezieht sie in seine Definition ausdrücklich ein. Dem Heutigen wird es deshalb so schwer, diese Haltung zu begreifen, weil sich die moderne „Kunst" von dem Moralismus der Aufklärungszeit erst vor nicht langer Zeit unter Schmerzen hat losreißen müssen. Nichts steht daher vielen von uns so fest wie der Satz, daß der Genuß eines Werkes der „Kunst" moralisch indifferent ist. Wir haben es hier nicht mit der Frage der Wahrheit dieser Theorie zu tun, sondern haben nur erneut festzustellen, daß sie dem griechischen Empfinden nicht entspricht. Wir dürfen zwar die besonderen, rigorosen Forderung m, die Plato aus der erzieherischen Sendung des Dichters zieht, nicht ohne weiteres verallgemeinern, aber die Auffassung als solche ist keineswegs ihm allein eigentümlich. Er teilt sie nicht nur mit der älteren griechischen Tradition, sondern auch mit seinen Zeitgenossen. Die attischen Redner zitieren vor Gericht die Gesetze des Staates, wo es sich um die Feststellung des geschriebenen Rechts handelt. Daneben aber berufen sie sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit auf die Aussprüche der Dichter, wo sie sich mangels geschriebener Paragraphen auf das ungeschriebene Gesetz stützen, auf dessen 804

[II1288]

Macht Perikles in seiner Verherrlichung der athenischen Demokratie mit Stolz hinweist66. Das sogenannte ungeschriebene Gesetz ist in Wahrheit in der Dichtung kodifiziert. Ein Vers des Homer ist, wenn rationale Gründe fehlen, immer der beste Autoritätsbeweis, den selbst die Philosophen nicht verschmähen67. Man kann diese Autorität nur mit der der Bibel und der Kirchenväter in christlichen Jahrhunderten vergleichen. Nur aus dieser allgemeinen Geltung der Poesie als des Inbegriffs aller Bildung können wir ihre Kritik bei Plato verstehen, denn diese Auffassung macht das Wort des Dichters zur Norm. Sie berechtigt aber anderseits Plato auch, diese Norm an einer höheren Norm zu messen, in deren Besitz er sich durch die philosophische Erkenntnis weiß. Ein normatives Element liegt bereits der Kritik des Xenophanes zugrunde, wenn er die Vorstellungen Homers und Hesiods von der Gottheit als dieser „unangemessen" erklärt68. Doch Plato ist der Denker, dessen ganzes Fragen von Anfang an ausdrücklich auf die höchste Norm des Handelns gerichtet war. Von ihr aus gesehen sind die Ideale der älteren Dichter teils unzulänglich teils verwerflich. Von einem noch höheren Standpunkt betrachtet muß Piatos Kritik der Dichtung sogar eine noch radikalere Form annehmen. An der Erkenntnis des reinen Seins gemessen, zu welcher die Philosophie Zutritt gibt, wird die Welt, die die Dichter als Wirklichkeit schildern, zu einer Welt des bloßen Scheins entwertet. Der Aspekt der Poesie ist für Plato wechselnd, je nachdem ob er sie in ihrem Wert als Norm des Händeins oder als Erkenntnis der absoluten Wahrheit prüft. Das letztere geschieht in der abschließenden Erörterung der Poesie im zehnten Buch des ,Staates', wo er in ihr nur noch das Abbild des Abbilds sieht. Doch da schaut er von der höchsten Stufe des Wissens auf sie herab. Beim Aufbau der Paideia der Wächter stellt er sich auf die Stufe der bloßen richtigen Meinung, der Doxa, auf der sich die gesamte musische Erziehung bewegt, und nimmt deshalb eine duldsamere Haltung ein. Er behält hier die Poesie als hervorragendes Mittel der Bildung und als Ausdruck einer höheren Wahrheit bei 6e , muß aber eben deshalb das an ihr, was mit dem philosophischen Maßstab unvereinbar ist, rigoros ändern oder unterdrücken. Der Zusammenhang der platonischen Kritik der Dichtung mit der einzigartigen Stellung, die der Dichter als Erzieher seines [II1289]

805

Volks bei den Griechen einnahm, ist den modernen Beurteilern nicht immer deutlich bewußt gewesen. Auch das 'geschichtliche' Denken des 19. Jhrh. war nicht durchweg fähig, sich bei der Betrachtung der Vergangenheit von den weltanschaulichen Voraussetzungen seiner eigenen Zeit freizumachen. Man suchte Plato zu entschuldigen oder seine Vorschriften als harmloser darzustellen, als sie sind. Man deutete sie psychologisch als die Rebellion der rationalen Kräfte in der Seele des Philosophen gegen seine eigene Dichternatur, oder man bezog seine Geringschätzung der Dichter auf den zunehmenden Verfall der Poesie in seiner eigenen Zeit. Aber diese Erklärungen, mögen sie auch etwas Wahres enthalten, verkennen das Prinzipielle in Piatos Haltung. Man sah die Frage zu sehr unter dem politischen Gesichtspunkt der Freiheit der Kunst. Man hatte sich in dem Kampf, in dessen Verlauf sich die neuere Dichtung und Philosophie von der Bevormundung durch Staat und Kirche freigemacht hatte, oft auf die Griechen als Vorbild berufen, undPlatopaßte dann nichtin dieses Bild. Also suchte manzu retouchieren, um Plato nicht in die Nachbarschaft der Kunstpolizei der modernen Bürokratie geraten zu lassen. Doch das Interesse des Denkers ist nicht auf die Frage gerichtet, wie ein Zensurbüro mit größtmöglichem praktischen Erfolg organisiert werden könnte, und gesetzt, der Tyrann Dionysios hätte Piatos Staat verwirklichen wollen, so wäre er an diesem Punkt gescheitert oder hätte nach Piatos richterlichem Spruch zuerst seine eigenen Dramen verbieten müssen. Die wahre Bedeutung der Reform der Dichtkunst durch die Philosophie in Piatos 'Staat' ist geistiger Art, und nur insofern ist sie politisch, als in jeder geistigen Zielsetzung letzten Endes eine staatsbildende Kraft liegt. Das ist es, was Plato das Recht gibt, die Dichtung der Idee nach in den Neubau der staatlichen Gemeinschaft mit einzubeziehen oder, soweit sie keine solche Kraft entbindet, sie zu wägen und zu leicht zu finden. Plato will j a die Poesie, die seinem Maßstab nicht entspricht, keineswegs ausrotten, er verkennt nicht ihre ästhetischen Qualitäten. Sie paßt nur nicht in den schlanken, sehnigen Staat, den er konstruiert, sondern gehört in den üppigen und reichen. So wird der Poesie gerade die einzigartige Würde, mit der die Griechen sie umgeben hatten, zum Schicksal. Es ergeht ihr wie dem Staat, dem gleichfalls sein Anspruch auf sittliche Autorität in dem

806

[IU290J

Augenblick zum Verhängnis wurde, als Plato ihn an der sittlichen Norm des Sokrates maß, der er seiner irdischen Natur nach niemals gerecht werden konnte. Poesie und Staat können beide zwar als erzieherische Faktoren nicht entbehrt werden, aber in Piatos Staat nimmt die Philosophie, die Erkenntnis der Wahrheit, ihnen die bisherige Führung ab, indem sie ihnen vorhält, wie sie sich wandeln müßten, um ihren erzieherischen Anspruch aufrechthalten zu können. Sie werden sich in Wirklichkeit nicht ändern, und so bleibt scheinbar, als weithin sichtbares Ergebnis der platonischen Kritik, einzig die Tatsache des unüberbrückbaren Zwiespalts übrig, der die griechische Seele forthin zerklüftete. Doch eine Frucht hat das scheinbar vergebliche Sehnen Piatos nach einer vollen Versöhnung des Schönheitsstrebens der Kunst mit ihrem erzieherischen Hochberuf reifen lassen, das ist die philosophische Poesie seiner eigenen Dialoge. Sie erscheint, an den Forderungen des 'Staats' gemessen, im höchsten Sinne zeitgemäß und die ältere Art der Dichtung ablösend, wenn sie auch (trotz aller Versuche der Nachahmung) etwas Unwiederholbares blieb. Doch warum erklärt Plato nicht rund heraus, man solle seine eigenen Werke als die wahre Poesie Erziehern und Erzogenen in die Hand geben? Es ist ausschließlich die Fiktion des gesprochenen Gesprächs, die ihn daran hindert. In dem Alterswerk läßt er diese Illusion fallen und verordnet seine 'Gesetze' der entarteten Welt als die Art der Poesie, deren sie bedarf 7 0 . So beweist die sterbende Dichtung noch einmal ihren Primat in dem Werk ihres großen Anklägers. Den Hauptteil der Vorschriften für die Erziehung der Wächter bilden die „Typen", die avis der Poesie künftig verbannt sein sollen. Plato verfolgt mit dieser Erörterung einen doppelten Zweck. Indem er eine radikale Reinigung der musischen Bildung von allen religiös und sittlich unwürdigen Vorstellungen vollzieht, bringt er uns zugleich seine Forderung zum Bewußtsein, daß die ganze Erziehung von einer höchsten Norm beherrscht sein soll. Seine Kritik und Auswahl der Mythen nach Maßgabe ihres sittlichen und religiösen Wahrheitsgehalts setzt ein unumstößliches Prinzip voraus. Es tritt hier zunächst nur indirekt in die Erscheinung, in seiner praktischen Anwendung, und die Zustimmung, auf die Sokrates sich dabei stützt, ist bloß eine gefühlsmäßige; aber [111291]

807

die Notwendigkeit seiner tieferen philosophischen Begründung macht sich eben dadurch fühlbar, und so weist diese Stufe bereits auf einen späteren höheren Grad der Einsicht hin, wo sich die von Plato hier dogmatisch zugrunde gelegte Norm in ihrer Wahrheit enthüllen wird. An erster Stelle stehen die „Typen der Theologie", das heißt Grundrisse für jede Art von Aussagen über Wesen und Wirken der Götter und Heroen n . Die Darstellung, welche die Dichter bisher von ihnen gaben, wird mit einem schlechten Porträt verglichen 72. Denn die Dichter haben zwar den Willen, etwas der Wahrheit Ähnliches darüber zu sagen, aber sie sind dazu nicht fähig. Sie erzählen von Gewalttaten und Intriguen der Götter gegeneinander. Aber an oberster Stelle steht für Plato die Gewißheit, daß Gott vollkommen gut und von Mängeln frei ist. Alles Dämonische, Schadenfrohe und Schadenbringende, Züge, mit denen der Mythos ihn behaftet denkt, ist seiner Natur in Wahrheit fremd. Er kann also nicht die Ursache des Schlechten in der Welt sein, wo immer es sich findet. Daraus folgt, daß Gott überhaupt nur in geringem Grade der Urheber des menschlichen Geschicks ist; er ist nicht der Sender alles Unheils in unserem Leben, wie die Dichter lehren 73 . Der altgriechische Glaube, daß die Götter den irrenden Sterblichen in Schuld verstricken, um ihn und sein Haus dann zu vernichten, ist widergöttlich und frevelhaft. Mit diesem Glauben stürzt aber die Welt der griechischen Tragödie zusammen. Unschuldiges Leiden bewirkt nicht Gott, und wo ein Schuldiger leiden muß, ist es nicht zum Unheil, sondern zum Segen. Das alles wird mit zahlreichen Beispielen und Zitaten aus den Dichtern belegt. Desgleichen wird jeder Mythus verboten, der das schlechthin Vollkommene, Unwandelbare und Ewige als sich verwandelnd und mannigfache Gestalten endlicher Wesen annehmend darstellt oder Gott die Absicht des Truges und der Irreführung zuschreibt. Dichtungen dieses Inhalts sollen nicht nur nicht zur Jugenderziehung verwertet, sondern in Piatos Staat überhaupt nicht aufgeführt werden74. An die Vorschriften über die Darstellung der Gottheit schließt sich eine ebenfalls auf zahlreiche Beispiele gestützte Kritik der Poesie unter dem Gesichtspunkt ihrer Schädlichkeit für die Entfaltung der Tapferkeit und Selbstbeherrschung an. Der gesamten Kritik der älteren Paideia liegt als Einteilungsprinzip die platonische 808

[II¡292]

Lehre von den vier bürgerlichen Haupttugenden: Frömmigkeit, Tapferkeit, Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit, zugrunde. Die Gerechtigkeit wird zwar nicht mit behandelt, aber dies wird am Schlüsse ausdrücklich damit erklärt, daß wir jar noch nicht festgestellt haben, was die Gerechtigkeit eigentlich ist und welche Bedeutung für das Leben und Glück des Menschen sie hat 7 S . Auch in diesem Teil geht Plato mit den alten Dichtern ziemlich gewaltsam um. Die furchterregende Unterweltsschilderung Homers würde die Wächter zu Todesfurcht erziehen. Plato will natürlich Homer nicht ganz verbannen, aber er nimmt Streichungen vor (έξαλείφειν, διαγράφειν), tilgt ganze Partien im Epos und scheut sich nicht, die Dichter umzudichten, wie er es in den 'Gesetzen' später praktisch zeigt 7 6 . Dem philologischen Hüter der Überlieferung muß dies als ärgste Ausgeburt der Tyrannei und Willkür erscheinen. Ihm gilt das originale Wort des Dichters als unantastbar. Aber diese uns in Fleisch und Blut übergegangene Gesinnung ist das Produkt einer zum Abschluß gelangten Kultur, die die Werke der Vergangenheit als glücklich gerettete Kostbarkeiten aufbewahrt und nur dann einen Grund zur Änderung anerkennt, wenn aus reineren Textquellen das, was die Dichter geschrieben, in seiner ursprünglichen Form erschlossen werden kann. Doch die Zeit, in der die Dichtung noch selbst am Leben war, hatte, wenn wir schärfer zusehen, allerlei merkwürdige Ansätze und Vorstufen zu Piatos Forderung des Umdichtens gezeitigt, die seine Gewalttätigkeit in anderem Lichte erscheinen läßt. Die Forderung, einen einmal geprägten Vers umzudichten, wird ζ. B. von Solon an den zeitgenössischen Dichter Mimnermos gerichtet, der in weichmütigem Pessimismus gelehrt hatte, der Mensch sollte nach Erreichen des sechzigsten Jahres sterben. Solon fordert ihn auf, umzudichten und das achtzigste J a h r an die Stelle zu setzen 77 . Die Geschichte der griechischen Poesie weist zahlreiche Beispiele dafür auf, daß ein Dichter, der die Anschauungen eines Vorgängers über die höchste menschliche Arete bekämpft oder berichtigen will, sich besonders eng an dessen Gedicht anschließt und den Wein seiner neuen Forderung in die alten Schläuche füllt 7 8 . Er dichtet tatsächlich den Vorgänger um. Auch in der mündlichen Rhapsodenüberlieferung der homerischen und hesiodischen Gedichte hat dieses Motiv gewiß öfter, als wir noch nach[II1293]

809

zuweisen vermögen, zu Eingriffen geführt, die denDichter in diesem Sinne besser machen sollten. Das eigenartige Phänomen ist natürlich nur verständlich auf dem Hintergrunde der autoritativen erzieherischen Geltung der Dichtung, die jenen Jahrhunderten ebenso selbstverständlich war, wie sie uns fremd geworden ist. Solche Umgestaltungen passen das einmal als klassisch Eingebürgerte in naiver Weise einem veränderten Normgefühl an und erweisen ihm eben dadurch in gewisser Weise die höchste Ehre. Diese 'Epanorthose' ist von den Philosophen in ihrer Dichterauslegung allgemein übernommen und von ihnen an die christlichen Schriftsteller weitervererbt worden. „Präge die Münze um" war der Grundsatz einer noch nicht erstorbenen, sondern tätig fortzeugenden Überlieferung, solange ihre Träger sich bewußt waren, als Mitschöpfer und Lebendigerhalter an ihr teilzuhaben 79 . So ist der Vorwurf rationalistischer Verständnislosigkeit gegen die Dichter der Vorzeit, den man Plato macht, selbst nicht ohne eine gewisse geschichtliche Verständnislosigkeit für das, was die dichterische Uberlieferung seines Volkes ihm und seinen Zeitgenossen bedeutete. Wenn er z. B. in den 'Gesetzen' fordert, der altspartanische Dichter Tyrtaios, der die Tapferkeit als die Krone der Mannestugend gepriesen hatte und dessen Werke bis zur Gegenwart die Bibel des spartanischen Volkes geblieben waren, müsse umgedichtet werden, indem man die Gerechtigkeit an die Stelle setze80, so ist unmittelbar zu spüren, welche bindende Macht die Verse des Tyrtaios in der Seele dessen gehabt haben müssen, der nur durch Umdichtung seine doppelte Pflicht gegenüber dem Dichter und gegen die Wahrheit erfüllen zu können glaubte. Doch Plato geht nicht so naiv vor, wie jene älteren Umdichter geprägter Dichterweisheit es getan haben. Seine strenge Zensorenmiene umspielt ein Hauch von Ironie. Er rechtet nicht mit denen, die dem ästhetischen Wohlgefallen seinen Platz wahren wollen und erklären, daß die Hadesszenen Homers das Gedicht doch poetischer und für die Menge genußreicher machen. Je poetischer sie sind, desto weniger sollen Knaben und Männer, die freie Menschen sein sollen, sie hören, damit sie die Knechtschaft mehr fürchten als den Tod 81 . Ebenso tilgt er mit unbarmherziger Hand im Homer alle Wehklage um ruhmvolle Männer, aber auch das un810

[II1294]

auslöschliche Gelächter der olympischen Götter, da es die Hörer zu übergroßer Nachgiebigkeit gegen ihre eigene Lachlust stimmt. Schilderungen der Widersetzlichkeit, der Genußsucht, der Geldgier und Bestechlichkeit werden als verderblich ausgemerzt. An den Charakteren des Epos wird die gleiche Kritik geübt 8 2 . Achill, der Lösegeld für Hektors Leiche und Sühnegeld von Agamemnon annimmt, verletzt das sittliche Gefühl eines späteren Jahrhunderts ebenso wie sein Lehrer Phoinix, der ihm rät, sich für Geld mit Agamemnon zu versöhnen. Achills herausfordernde Worte gegen den Flußgott Spercheios u n d seine Schmähung Apollons, die Schändung der Leiche des edlen Hektor u n d die Abschlachtung der Gefangenen am Scheiterhaufen des Patroklos verdienen keinen Glauben. Die Moral der homerischen Heroen schließt entweder ihre Göttlichkeit aus, oder ihre Schilderung ist unwahr 8 3 . Plato folgert aus diesen Zügen nicht, daß das Epos in vielem noch altertümlich und roh ist, weil es das Denken einer primitiven Zeit spiegelt, sondern er hält daran fest, daß der Dichter Beispiele höchster Arete geben soll und will, daß aber die Menschen Homers dafür oft kein Beispiel sind. Nichts könnte dieser Auffassung empörender sein als eine historische Erklärung jener Mängel, denn eine solche würde der Dichtung völlig die normative Kraft rauben, auf der ihr Anspruch auf Führung der Menschen beruht. Nur am absoluten Maßstab daif sie gemessen werden, daher bleibt ihr nur entweder Abdankung oder Unterwerfung unter das Gebot der Wahrheit, das Plato ihr entgegenhält 84 . Diese Wahrheit ist der äußerste Gegensatz zu dem, was wir unter künstlerischem Realismus verstehen und was so schon in der Generation vor Plato existiert hatte. Die Darstellung menschlicher Häßlichkeit und Schwäche oder scheinbarer Mängel der göttlichen Weltordnung trifft nur die Erscheinungsseite der Wirklichkeit, nicht ihr Wesen, wie die platonische Philosophie es sieht. Bei all dem kommt es nicht einen Augenblick in Piatos Sinn, daß man die Poesie als erzieherische Macht durch die abstrakten Erkenntnisse der Philosophie ersetzen könne. Die zähe Erbitterung, mit der er seinen Kampf führt, hat vielmehr ihren tiefsten Grund in der Einsicht, daß die formende Kraft der musischen und dichterischen Gebilde, die die Jahrhunderte erprobt haben, durch nichts zu ersetzen ist. Angenommen, die Philosophie wäre imstande, die erlösende Erkenntnis einer [11/295]

811

höchsten Lebensnorm zu finden, so bleibt damit fur Platos Gefühl ihre erzieherische Aufgabe doch noch zur Hälfte ungelöst, ehe diese neue Wahrheit als Seele eingegangen ist in die geformte und formgebende Gestalt einer neuen Dichtung. Die Wirkimg musischer Werke beruht nicht nur auf ihrem Inhalt, sondern vor allem auf ihrer Form. Dadurch rechtfertigt sich der Aufbau der platonischen Kritik der bisherigen musischen Bildung in zwei Hauptteilen über die Mythen und den Sprachstil Die Erörterung des dichterischen Sprachstils (λέξι$) ist von ungemeinem Reiz, weil sie zum erstenmal in der griechischen Literatur gewisse Grundbegriffe der Poetik enthüllt und als fertig vorhanden zeigt, die uns in größerem systematischen Zusammenhang erst in der Poetik des Aristoteles begegnen. Plato gibt jedoch keine Theorie der Dichtkunst um ihrer selbst willen, sondern seine Poetik ist Kritik der Poesie als Paideia. Während er vorher alle Künste aus der gemeinsamen Wurzel des Vergnügens an der Nachahmung abgeleitet hat 86 , fällt bei der Einteilung der Arten der dichterischen Rede auf, daß der Begriff der Nachahmung hier in dem engeren Sinne der dramatischen Imitation gebraucht wird. Die Arten der poetischen Darstellung zerfallen in i. solche rein erzählender Haltung wie ζ. B. im Dithyrambos, 2. Darstellung durch dramatische Nachahmung und 3. Darstellung durch eine Mischung von Erzählung und Nachahmung, bei der das Ich des Erzählers sich verbirgt wie im Epos, in dem Erzählung und direkte Rede, also ein dramatisches Element, miteinander abwechseln87. Plato kann für diese Erörterung offenbar bei seinen Lesern nicht ohne weiteres ein Verständnis voraussetzen; seine Betrachtungsart ist neu und wird von ihm an Beispielen aus der Ilias umständlich erläutert. Auch hier erhebt sich die Frage der Zulassung der verschiedenen Arten im besten Staat; für ihre Beantwortung ist einzig das Bedürfnis der Erziehung der Wächter entscheidend. In strikter Durchführung des Prinzips, daß jeder seinen Beruf durch und durch verstehen und sonst nichts betreiben solle, erklärt Plato die Neigung und Fähigkeit zur Nachahmung vieler anderer Dinge für unvereinbar mit den Eigenschaften eines guten Wächters. Ist doch meistens nicht einmal ein tragischer Schauspieler fähig, richtig Komödie zu spielen, und ein Rezitator selten für eine dramatische 812

[IH296]

Rolle geeignet 88 . Die Wächter sollen ein Berufsstand sein, der sich nur auf ein einziges Handwerk versteht: die Freiheit des Staates zu schützen 88 . Die alte Paideia hatte keine Spezialisten, sondern nur allgemein vortreffliche Bürger erziehen wollen. Plato nimmt ihr Ideal der Kalokagathie zwar auch für seine Wächter ausdrücklich in Anspruch 90 , aber indem er unbilligerweise die Anforderungen an die dramatischen Aufführungen von Laien an dem Maßstab des hochspezialisierten Berufsschauspielertums seiner Tage mißt, wird die Frage der Einbeziehung der dramatischen Poesie in die Erziehung der Wächter plötzlich zum Grenzzwischenfall zwischen zwei verschiedenen Spezialbegabungen, die besser täten, sich nicht gegenseitig ins Handwerk zu pfuschen. Die betonte Vorliebe für die Sauberkeit des Spezialistentums ist bei dem universalen Genius Piatos eine seltsame, aber psychologisch verständliche Erscheinung. Sie ist sichtlich ein Anzeichen des inneren Konflikts, der hier wie an manchen anderen Punkten bei Plato zu einer etwas gezwungenen Lösung geführt hat. Er zieht aus der Tatsache, daß die Natur des Menschen nur zerstückt zur Ausgabe gelangt, die Folgerung, daß es für den Soldaten besser sei, die Einseitigkeit bewußt zu kultivieren 91 . Neben diesem die Starrheit etwas übertreibenden Argument steht dann aber eine so tiefe Erkenntnis wie die, daß Nachahmung, zumal fortgesetzte Nachahmung, den Charakter des Nachahmenden beeinflusse. Alle Nachahmung ist seelische Verwandlung, also vorübergehende Preisgabe der eigenen seelischen Form und ihre Anähnlichung an das Wesen des Darzustellenden, sei er ein Besserer oder Schlechterer 9a . Plato beschränkt deshalb die Beschäftigung der Wächter mit dramatischen Aufführungen auf die Verkörperung von Gestalten von echter Arete. Er schließt grundsätzlich aus die Nachahmung von Frauen, Sklaven, Männern von niedrigem Charakter oder Betragen und von „Banausen"Typen aller Art, die an Kalokagathie keinen Anteil haben. Auch die Stimmen von Tieren, das Rauschen von Flüssen, das Tosen des Meeres, das Grollen des Donners, das Heulen des Windes, das Knirschen der Räder soll ein junger Mann von Haltung nicht nachäffen außer einmal im Scherz 9S . Es gibt eine Sprache des edlen und eine Sprache des ordinären Menschen, und wenn ein künftiger Wächter überhaupt nachahmt, so soll ihm nur der erstere dieser [11/297]

813

beiden als Objekt dienen M. Er soll nur einen einfachen Stil pflegen, wie er der Sinnesart eines braven Mannes angemessen ist, nicht aber eine bunte Sprache voll zahlreicher Variationen lieben, die dann auch von der musikalischen und rhythmischen Begleitung einen entsprechenden unruhigen Wechsel der Ton- und Taktarten erfordert95. Den Künstlern dieser reizvollen modernen Gattung wird in Piatos Staat zwar alle Ehre und Bewunderung gezollt, ihr Haupt wird gesalbt und mit wollenen Binden umkränzt, aber in solchem Aufzug werden sie in eine andere Stadt geleitet, denn in dem reinen Erziehungsstaat darf es sie nicht geben. In ihm ist nur für einen herberen, weniger Lust bereitenden Dichter Platz9®. Plato geht sogar so weit, die dramatische Dichtung als solche hinter der erzählenden zurückzusetzen, und möchte auch in der epischen Dichtung das dramatische Element der direkten Reden möglichst beschränkt sehen97. Seine Behandlung dieses Punktes setzt natürlich die leidenschaftliche Hingabe der Jugend seiner Zeit an das Theater und an die dramatische Dichtung voraus. Ihre bedenkliche Seite muß Plato, dessen eigene Liebhaberei während seiner vorsokratischen Periode die Tragödie gewesen war, an sich und anderen kennengelernt haben. Er spricht hier fühlbar mit dem Humor eigener Erfahrung. Untrennbare Geschwister sind im Sinne der griechischen Bildung Dichtung und Tonkunst, wie ja auch ein einziges Wort der griechischen Sprache beide umfaßt. So folgt nach den Bestimmungen über Inhalt und Form der Poesie die Musik in unserem heutigen Sinne des Wortes ββ. In dem Grenzfall der lyrischen Dichtung verschmilzt sie mit der Kunst der Sprache zu einem höheren Ganzen. Nachdem die inhaltliche und sprachliche Seite der Poesie, wie es naheliegt, wesentlich an Beispielen der redenden Dichtkunst, des Epos und Drama, erläutert worden ist, bedarf es keiner eigenen Behandlung der Lyrik mehr, soweit sie Dichtung ist, weil für sie dieselben Grundsätze gelten wie für jene beiden anderen Gattungen99. Um so mehr verlangen die Tonarten oder Harmonien als solche, losgelöst vom Wort, eine Betrachtung. Ihr schließt sich als weiteres nichtsprachliches Element der gesungenen Poesie wie der getanzten Musik der Rhythmus an. Als oberstes Gesetz für das Zusammenwirken des ganzen Dreivereins von Logos, Harmonie und Rhythmus stellt Plato den Satz auf, 814

[11/298J

daß Ton und Takt dem Wort untergeordnet sein sollen 100 . Damit erklärt er ipso facto die Prinzipien, die er für die Dichtung aufgestellt hat, auch für die Tonwelt als verbindlich und macht eine Gesamtbetrachtung von Wort, Harmonie und Rhythmus aus einem einzigen Gesichtspunkt möglich. Das Wort ist der unmittelbare Ausdruck des Geistes, und der Geist soll führen. Das war gewiß nicht der Zustand, den Plato in der gleichzeitigen griechischen Musik vorfand. Wie auf der Bühne das Schauspiel die Dichtung unterjocht und das geschaffen hatte, was Plato die Theatrokratie nennt 1 0 1 , so war die Poesie im Konzert die Dienerin der Musik. Die Schilderungen des Musiklebens jener Zeit stimmen überein in dem Tadel des Schwelgens im Gefühlsrausch und des Aufpeitschens aller Leidenschaften 102 . Die emanzipierte Musik wird zur Demagogin im Reich der Töne. Wenn etwas für die Berechtigung der platonischen Kritik spricht, so ist es die Tatsache, daß sie die gesamte Musiktheorie der Antike von ihrem Urteil überzeugt hat. Plato denkt im übrigen nicht daran, seiner entarteten Welt die Zügel anzulegen. Ihr Wesen ist die Zügellosigkeit, und er läßt sie ihren Weg gehen. Sie trägt ihre Arznei in ihrem eigenen Übermaß. Es wird von Natur in sein Gegenteil umschlagen, wenn die Zeit gekommen ist. Wir dürfen nicht außer acht lassen, daß sein Objekt die gesunde und schlanke, sehnige Stadt ist, die „zuerst" war, nicht die fette und gedunsene, die „ d a n a c h " kam und in der es Köche und Ärzte geben muß. Seine Vereinfachung ist radikal. Er schraubt nicht eine Entwicklung zurück, sondern fangt von vorne an. Bei der Musik wird es noch deutlicher als bei der Zurückführung der Dichtung auf gewisse „Typen", daß er nicht beabsichtigt, eine vollständige Kunstlehre zu geben. Er überlastet die Erörterung nicht mit technischem Detail, sondern zieht nur als Gesetzgeber ein paar feste Striche zur Grenzbestimmung. Das ist seine künstlerische Weisheit, wenn wir auch als Historiker diese Sparsamkeit bedauern mögen, da das wenige, was wir aus seiner Kritik lernen, das Fundament unseres Wissens von den Harmonien der griechischen Musik bildet. Es ist für uns unmöglich, die griechische Gymnastik oder Musik, die Grundlagen der Paideia der frühen und klassischen Periode, in ihren Einzelheiten zu schildern, da der Zustand unserer Überlieferung dies nicht gestattet. Sie erscheinen daher in dieser Dar[II¡299]

815

Stellung nicht als gesonderte Kapitel, sondern überall da, wo ihr Bild in den Denkmälern und in der antiken Diskussion auftaucht, und wir müssen uns damit trösten, daß das Technische daran für uns wie für Plato j a Nebensache ist. Plato selbst verweist für das Technische der Harmonielehre mehrfach auf die Spezialisten und deutet an, daß Sokrates Damons Musiktheorie kannte, die zu seiner Zeit Epoche gemacht hatte 103 . So hören wir nur das wenige, daß die gemischt-lydische und die gespannt-lydische Tonart ausgeschlossen werden sollen, weil sie der Wehklage und Trauer angemessen und diese in der Kritik der Poesie vorher verboten worden sind. Desgleichen werden die schlaffen, für das Trinkgelage geeigneten Harmonien, Ionisch und Lydisch, unterdrückt, denn Trunkenheit und Schlaffheit geziemen den Wächtern nicht 104 . Sokrates' Mitunterredner, der junge Glaukon, der die Interessen der gebildeten Jugend verkörpert, ist stolz darauf, seine musiktheoretischen Kenntnisse zu zeigen. Er bemerkt, daß unter diesen Umständen wohl nur die dorische und phrygische Tonart übrigbleiben werden, doch Sokrates läßt sich auf solche Einzelheiten nicht ein. Plato zeichnet ihn damit bewußt als den Mann von wahrer Bildung, der zwar den Blick für das Wesen der Sache hat, dem es aber nicht ansteht, mit dem Fachmann zu wetteifern. Für den Sachverständigen ist Genauigkeit eine selbstverständliche Forderung, an dem Gebildeten würde sie jedoch pedantisch und eines Freien nicht würdig erscheinen 108 . Sokrates sagt daher nur allgemein, daß er lediglich diejenige Tonart beizubehalten wünsche, die die Stimme und Betonung eines kriegerischen Mannes im Angesicht von Gefahren, Wunden und Tod oder die eines Mannes im Frieden von besonnenem Charakter und maßvollem Verhalten nachahmt 10 ®. Wie die Fülle der Tonarten, so wird auch der Reichtum an Musikinstrumenten preisgegeben. Die Instrumente sollen nicht nach der Mannigfaltigkeit der Tonarten, die sie erzeugen oder nach der Zahl der Saiten gewertet werden. Flöten, Harfen und Cymbeln werden ganz abgeschafft. Ausschließlich Leier und Kithara werden beibehalten, weil sie nur für einfache Weisen geeignet sind, und auf dem Lande soll nur die Hirtenpfeife ertönen 107 . Wir erinnern uns dabei der Erzählung, daß die spartanische Behörde den genialen Neuerer Timotheos, den Meister der modernen Musik, maßregelte, weil er nicht die von der musikalischen Tradition 816

[H/300]

geheiligte siebensaitige Kithara des Terpandros, sondern ein Instrument von größerer Saitenzahl und Reichhaltigkeit der Harmonien benutzte. Ist die Geschichte nicht wahr, so ist sie jedenfalls gut erfunden, u m zu verdeutlichen, daß griechische Ohren eine grundlegende Änderung der musikalischen Harmonie als eine politische Revolution empfanden, weil sie den Geist der Erziehung veränderte, auf der der Staat beruhte 1 0 8 . Daß dieses Gefühl nicht aus einer besonderen spartanischen Engherzigkeit entsprang, sondern sich in einem demokratischen Staat wie Athen ebenso oder noch intensiver, wenn auch in anderer Form, geltend machte, beweist der Sturm der Empörung gegen die moderne Musik in der gesamten gleichzeitigen attischen Komödie. Von der Harmonie untrennbar ist der Rhythmus, die Ordnung in der Bewegung 109 . Es wurde früher von uns ausgeführt, daß das griechische Wort seinem Ursprung nach überhaupt nicht das Bedeutungselement der Bewegung enthält, wohl aber an zahlreichen Stellen das Moment einer festen Haltung oder Anordnung von Gegenständen ausdrückt 110 . Der Blick des Griechen erkennt diese sowohl im Zustand der Ruhe wie in der Bewegung, im Takt des Tanzes, des Gesangs oder der Rede, zumal der gebundenen. J e nach der Zahl der Längen und Kürzen eines Rhythmus und ihrer Verbindung miteinander entsteht im Bewegungsfluß des Schrittes oder der Stimme eine verschiedene Ordnung. Sokrates verschmäht auch hier ein Eingehen auf die technischen Fragen des Spezialisten, aber er hat von ihm ein Wort vernommen, das seine erzieherische Phantasie erregt hat: die Lehre vom Ethos in Harmonie und Rhythmus. Aus ihr leitet sich her, was Pl^to über die Auswahl der Harmonien lehrt: daß nur solche Tonarten erwünscht sind, die das Ethos des Tapferen oder des Besonnenen ausdrücken 111 . Auch aus dem Reichtum der Rhythmengeschlechter wählt er nur diejenigen aus, die das Wesen dieser beiden sittlichen Willenshaltungen nachahmen. So wird die Lehre vom Ethos zum gemeinsamen Prinzip der musikalischen wie der rhythmischen Paideia. Plato setzt sie mehr voraus, als daß er sie begründet. Aber schon die Tatsache, daß er sie von dem größten Musiktheoretiker der sokratischen Zeit, von Damon, übernimmt, beweist uns, daß es sich hier nicht u m etwas spezifisch Platonisches handelt, sondern u m eine eigentümliche Musikauffassung der Griechen, die, be[II1301]

817

wußt oder unbewußt, von Anbeginn fur die beherrschende Stellung der Tonkunst und Rhythmik in der griechischen Kultur entscheidend gewesen ist. Aristoteles hat in seinem Gnindriß der Erziehung im achten Buch der 'Politik' die Lehre vom Ethos in der Musik weiter ausgebaut. Er folgt darin Piatos Spuren, ist aber wie so oft in noch höherem Grade als sein Meister der Interpret gemeingriechischer Anschauungsweise. Er bejaht den Ethosgehalt der Musik wie des Rhythmus und leitet ihre Bedeutung für die Erziehung aus eben dieser Quelle ab 112 . Er sieht im Ethos der Ton- und Taktarten das Abbild seelischer Haltungen von verschiedenem Wert und wirft die Frage auf, ob diese durch das Gehör wahrgenommenen Qualitäten, die wir als Ethos bezeichnen, sich in ähnlicher Form auch im Bereich des Tastsinns, Geschmacks- oder Geruchssinns finden. Er leugnet ihre Existenz auf diesen Gebieten absolut118, und wir werden kaum versucht sein, ihm darin zu widersprechen. Er gesteht aber auch den Eindrücken des Gesichtssinns, wie die bildende Kunst sie vermittelt, im allgemeinen kein Ethos zu. Er will Wirkungen dieser Art nur auf bestimmte Gestalten der Malerei und Skulptur beschränkt wissen und spricht sie auch diesen nur in abgeschwächtem Grade zu 1M . Es handelt sich nach Aristoteles auch in diesen Fällen nicht um eigentliche Abbilder eines Ethos, sondern um bloße Zeichen eines solchen, die sich in Farben und Figuren ausdrücken. Man wird ζ. B. Ethos nicht in den Werken des Malers Pauson, sondern in denen des Polygnot finden sowie bei gewissen Bildhauern118. Dagegen sind die Werke der Musik unmittelbare Nachahmungen eines Ethos. Für jeden Bewunderer der bildenden Kunst der Griechen mag es naheliegen, dem Philosophen das Auge des Künstlers abzusprechen und seine ungleiche Bewertung des Ethosgehalts der Musik und der bildenden Kunst auf diese Weise zu erklären. Damit könnte man etwa seinen Ausspruch zusammenbringen, daß das Ohr das geistigste Organ unter den menschlichen Sinnen sei, während Plato dem Auge die höchste Verwandtschaft mit dem Geiste zuerkennt11®. Aber es bleibt die Tatsache bestehen, daß es keinem Griechen je eingefallen ist, der bildenden Kunst und ihrer Betrachtung einen Platz in der Paideia einzuräumen, während Dichtung, Musik und Rhythmik das Erziehungsdenken dieses Volkes zu allen Zeiten beherrscht haben. 818

[11/302]

Was Aristoteles über den Wert des Zeichnens sagt, hat mit dem Sinn für bildende Kunst nichts zu tun, kann also dieses Urteil nicht widerlegen 117 . Auch Plato streift den Einfluß der Malerei nur anhangsweise (nach Abschluß der Erörterung der musischen Erziehung) mit einem Wort und stellt sie dort in eine Linie mit der Weberei, Dekorations- und Baukunst, ohne die Skulptur zu erwähnen 118 . Es wird nicht völlig klar, wie weit er ihnen ein Ethos im Sinne der Musik und Dichtung zuschreibt 119 ; sie werden offenbar mehr der Vollständigkeit halber mitgenannt, als Ausdrucksformen eines Gesamtgeistes des Anstands und der Strenge oder der geschmacklosen Üppigkeit und insofern als Faktoren, die dazu beitragen, eine bestimmte öffentliche Atmosphäre im guten oder schlechten Sinne zu schaffen 120 . Aber die eigentlichen Säulen der Paideia sind sie nicht 121 . Der Sinn für die erzieherische Wirkung einer solchen Atmosphäre ist etwas spezifisch Griechisches, aber auch dort findet er sich nur bei Plato zu solcher Verfeinerung gesteigert. Wir werden ihm in der Erziehung der Philosophenherrscher erneut begegnen 122 . Auch bei zunehmender Vergeistigung der Erziehung geht dem Griechen niemals der Sinn dafür verloren, daß sie ein Wachstumsprozeß ist. Die Wörter für Erziehung und Ernährung, die ursprünglich in ihrer Bedeutung fast identisch waren, bleiben immer verschwistert 123 . Sie differenzieren sich zwar zunächst insofern, als der Begriff der Paideia mehr und mehr die intellektuelle Bildung bezeichnet, und die „Ernährung" bedeutet dann das vorgeistige Stadium der kindlichen Entwicklung. Doch Plato nähert die beiden Begriffe auf höherer Stufe einander wieder an; er sieht den Vorgang der geistigen Bildung des Individuums nicht isoliert, wie es die Sophisten taten, sondern erkennt zum erstenmal, daß es auch für die Geistesbildung gewisse klimatische Voraussetzungen und Wachstumsbedingungen gibt 124 . Der platonische Bildungsbegriff hat bei aller hochgesteigerten Geistigkeit etwas Pflanzenhaftes wiedergewonnen, das ihm bei der individualistischen Auffassung der Sophisten abhanden gekommen war. Wir rühren hier an eine der Wurzeln des platonischen Willens zur staatlichen Gemeinschaft; es ist die Erkenntnis, daß der Mensch nicht in der Isolierung, sondern nur in einer umgebenden Welt gedeiht, die seinem Wesen und seiner Bestimmung angemessen ist. f11/303J

819

Staat ist notwendig, damit Erziehung sein kann, notwendig nicht nur als gesetzgebende Autorität, sondern auch als die umgebende Luft, die der Einzelne atmet. Es genügt nicht, daß die seelische Nahrung der musischen Bildung rein sei; die Werke aller Berufe, alles was Form hat, soll den gleichen Geist einer edlen Haltung spiegeln und sich vereinen im Streben nach einer höchsten Vollendung und einem würdigen Anstand. Aus dieser Umwelt soll jeden Einzelnen von den Tagen seiner frühesten Kindheit an etwas wie der Hauch einer gesunden Gegend anwehen126. Aber wenn so auch Kunst und Handwerk insgesamt das geistige Klima mitbestimmen, bleibt doch die Musik die „eigentlich bildende Nahrung" 12 ®. Piatos Denken ist auch in diesem Punkt keineswegs nur traditionsgebunden. Er hat sich bewußt das Problem vorgelegt, ob der Vorrang vor den anderen Künsten, den die Überlieferung der griechischen Paideia der Musik einräumte, berechtigt sei. Er findet ihn vollkommen begründet, weil Rhythmus und Harmonie „ a m tiefsten in das Innere der Seele hinabtauchen und sie am stärksten packen, indem sie ihr die edle Haltung bringen und mitteilen". Aber nicht nur wegen ihrer seelischen Dynamik ist ihm die Musik allem anderen überlegen, sie erzieht auch zu einer unvergleichlichen Präzision der Wahrnehmung dessen, was an einem schönen Werk und an seiner Aufführung richtig oder mangelhaft ist 127 . Der in ihr richtig Gebildete entwickelt dadurch, daß er sie in seine Seele aufnimmt, schon in jungen Jahren und auf noch unbewußter Stufe der Entwicklung eine Untrüglichkeit der Freude am Schönen und des Hasses gegen das Häßliche, die ihn später fähig macht, die bewußte Erkenntnis, wenn sie kommt, als ein ihm Wesensverwandtes freudig zu begrüßen 128 . Die Erziehung, die Plato seinen Wächtern zuteil werden läßt, nimmt in der Tat in der unbewußten inneren Form, zu der die Musenwerke den Menschen bilden, die höchsten Erkenntnisse vorweg, die die philosophische Erziehung seiner Herrscherklasse auf bewußtem Wege später enthüllt. Indem Plato so auf eine zweite, höhere Art der Bildung vorausdeutet, werden zwar die Grenzen der musischen Erziehung, die für das ältere Griechentum die einzige Art der höheren Geistesbildung gewesen war, bereits deutlich sichtbar. Sie erhält aber zugleich eine neue Bedeutung als unentbehrliche Vorstufe für die reine philosophische Erkenntnis, 820

[II1304]

die ohne die Grundlage der musischen Bildung in der Luft schweben würde. Der tiefere Kenner wird bemerken, daß es sich hier nicht nur um eine feine, aber mehr oder minder zufällige psychologische Wendung handelt, sondern um eine pädagogisch grundlegende Folgerung aus der platonischen Theorie der Erkenntnis. Es gibt nach Piatos Lehre für den Intellekt, er sei so scharf wie er wolle, keinen unmittelbaren Zugang zu der Welt der Erkenntnis der Werte, um die es in der platonischen Philosophie letzten Endes geht. Der 7. Brief beschreibt den Vorgang des Erkennens als einen Prozeß der allmählichen lebenslangen Verähnlichung der Seele mit dem Wesen der Werte, die sie zu erkennen strebt. Das Gute kann nicht als etwas außer uns Liegendes formal-begrifflich erfaßt werden, ohne daß wir zuvor innerlich an seiner Natur teilgewonnen haben; die Erkenntnis des Guten wächst in dem Menschen nur in dem Maße, wie es in ihm selbst Wirklichkeit wird und Gestalt gewinnt 129 . Der Weg zur Schärfung der Augen des Intellekts ist daher für Plato die Erziehung des Charakters, die, dem Menschen unbewußt, seine Natur durch die stärksten seelischen Kräfte, durch Dichtung, Harmonie und Rhythmus, so ändert, daß er das höchste Prinzip durch die eigene reale Heranbildung an dessen Wesen schließlich ergreifen kann. Das Wesen dieses langwierigen Erziehungsprozesses, der das Ethos des Menschen bildet, wird von Sokrates in gewohnter Hausbackenheit mit dem Elementarunterricht im Schreiben und Lesen verglichen 130 . Dann, wenn wir in allen Zusammensetzungen und Wörtern die Buchstaben des A B C zu erkennen vermögen, die ihnen als einfachstes Element zugrundeliegen, sind wir Schreibkundige im vollen Sinne des Wortes geworden. So sind wir auch musisch gebildet im wahren Sinne erst dann, wenn wir überall und in allem, worin sie ausgeprägt sind, Kleinem und Großem, die „Gestalten" der Selbstbeherrschung und Besonnenheit, der Tapferkeit, Freigebigkeit, Vornehmheit und alles dessen, was mit ihnen verwandt ist, und ihre Abbilder wahrzunehmen und nach Gebühr zu schätzen gelernt haben 131 .

[II 1305]

821

Kritik der Gymnastik und Medizin Plato baut neben der Musik als die andere Hälfte der Paideia die Gymnastik auf 132 . Sein eigentliches Interesse gehört zwar der musischen Erziehung an, aber für die Bildung der Wächter ist auch die körperliche Ertüchtigung von der höchsten Wichtigkeit, und die Gymnastik soll deshalb von Kindesbeinen an gepflegt werden. Es erweist sich jetzt, daß die Voranstellung der musischen Bildung nicht nur, wie Plato es zuerst motiviert hatte, aus dem Grunde geschah, daß sie zeitlich früher einsetzen muß 138 . Sie ist auch dem Prinzip nach früher als die Gymnastik, denn ein brauchbarer Körper kann durch seine Tauglichkeit nicht die Seele gut und vortrefflich machen, wohl aber kann umgekehrt ein vorzüglicher Geist dem Körper zu seiner Vervollkommnung helfen 134 . Darauf baut sich Piatos kompositioneile Ökonomie auf. Er will zuerst die Menschen geistig voll ausbilden und ihnen dann die Fürsorge für den Körper im einzelnen überlassen. Er selbst beschränkt sich hier wie bei der musischen Erziehung darauf, gewisse Grundlinien zu geben 136 , um Weitschweifigkeit zu vermeiden. Dem Griechen galt von jeher der Athlet als das Urbild der Leibeskraft, und da die Krieger zu „Athleten des wichtigsten Kampfspiels" berufen sind, könnte es selbstverständlich scheinen, die hochentwickelte Methode der Ausbildung des Athleten zum Beispiel für sie zu nehmen 136 . Auch sie dürfen sich natürlich nicht dem Trunk ergeben. Aber die Regeln, die der Ringkämpfer im übrigen hinsichtlich der Ernährung während des Trainings beobachten muß, hält Plato keineswegs für vorbildlich; sie machen den Athleten viel zu sensibel und von seiner Diät abhängig, und vollends seine Gewöhnung an langen Schlaf paßt nicht für Leute, die die Wachsamkeit in Person sein sollen. Sie müssen sich jedem Wechsel in Speise, Trank und Witterung anpassen können, und ihre Gesundheit darf nicht jedesmal „auf der Kippe stehen" 137 . So fordert Plato für sie eine völlig andere, einfache Art der Gymnastik (Oats) findet sich bei dem Geschichtschreiber auch die Vorstellung der besonderen Physis einzelner Volksstämme oder Städte, ganz entsprechend dem medizinischen Gebrauc h des Wortes, wobei auch eine allgemeine und eine individuelle Natur des Menschen unterschieden wird 80 . Das Besondere bei Isokrates ist jedoch die Wendung zum Normativen, die er dem Begriff der Physis gibt. Ist diese normative Bedeutung in der Medizin meist mit dem allgemeinen Begriff der Natur verbunden, während die individuelle Physis diese allgemeine Norm immer nur irgendwie modifiziert und meist abgeschwächt zeigt, so liegt in dem Begriff der athenischen Naturanlage bei Isokrates das Individuelle, Unvergleichliche und das Normhafte zugleich. Der erzieherische Gedanke liegt in dem Appell an die gegenwärtig verschüttete und verdunkelte, aber in den Leistungen der Vorfahren offenbar gewordene, [III! 191]

1067

echt athenische Physis, das bessere Selbst des athenischen Volkes. Dieser Gedanke findet später in den Reden und Aufrufen des Demosthenes sein Echo in einer noch gefährlicheren Lage des Staates, in dem Entscheidungskampf gegen Philipp von Makedonien. Er ist keineswegs der einzige Tribut, den Demosthenes dem großen Rhetor darbringt, so weit sich seine Anschauungen in der makedonischen Frage von denen des Isokrates sonst auch entfernen*1. Die junge Generation, die sich nach dem Sturz des zweiten Seebundes der Aufgabe der Erneuerung des athenischen Staates weihte, war von der Kritik des Isokrates innerlich tief berührt. Niemand hat mit größerer Überzeugung diesen Angriff auf das tyrannische Demagogentum und den Materialismus der Masse wiederholt als Demosthenes, der Vorkämpfer der demokratischen Freiheit gegen ihre fremden Unterdrücker. Niemand konnte mehr als er mit Isokrates übereinstimmen in dem Tadel der Verschleuderung der öffentlichen Mittel für die Genußsucht der Masse und in der Kritik der Verweichlichung und der schwindenden Wehrfähigkeit der athenischen Bürgerschaft Er hat sich schließlich auch die Idee des Isokrates zu eigen gemacht, in der die ,Areopagrede* gipfelt, die Athener wären es nicht nur sich selbst, sondern ihrer Rolle als Retter und Schützer ganz Griechenlands schuldig, sich aus der gegenwältigen Mißwirtschaft und Fahrlässigkeit aufzuraffen und sich einer strengeren Erziehung zu unterwerfen, die das Volk von neuem fähig machen kann, seine geschichtliche Sendung zu erfüllen. Die Tragik des Verzichts auf die Macht liegt darin, daß zu der Zeit, als die Gedanken des Isokrates in den Herzen der Jugend so Wurzel schlugen, ihr Urheber selbst den Glauben an einen Wiederaufstieg Athens als selbständiger Macht und als Führerin eines großen Staatenbundes endgültig aufgegeben hatte. In der ,Friedensrede* des Isokrates sind wir Zeugen der Abdankimg all seiner Pläne zur inneren Wiedergeburt der politischen Schöpfung des Timotheos, des erneuerten Reiches des zweiten attischen Seebundes. Wir können das Erziehungsprogramm der Denkschrift über den Areopag heute nicht lesen, ohne an den Verzicht zu denken, den Isokrates in der ,Friedensrede' am Ende des verlorenen Krieges gegen die abgefallenen Bundesgenossen dem athenischen 1068

[Uli 192]

Volke empfiehlt. Der Grundgedanke dieser Schrift ist die in ihr nachdrücklich vertretene Überzeugung, daß den Athenern nichts anderes übrigbleibt, als ihren Anspruch auf die Herrschaft zur See vollkommen preiszugeben und damit die Idee der Seebundspolitik, die dem attischen Reich zugrunde lag. E r r ä t jetzt, Frieden zu schließen nicht nur mit den abtrünnigen Bundesgenossen, sondern auch mit der ganzen Welt, mit der Athen im Streit liegt 82 . Das ist nur möglich, wenn man die Wurzel der Streitigkeiten selbst ausrottet; diese aber sieht Isokrates in dem ehrgeizigen Streben des athenischen Staates nach Beherrschung der anderen Städte 8 3 . U m diesen Umschwung in seiner Stimmung zu begreifen, ist es nötig, sich von der veränderten Lage Athens nach dem Zusammenbruch des Seebundes Rechenschaft zu geben. Das Herrschaftsgebiet des Bundes war auf nahezu ein Drittel des Bestandes eingeschränkt, den er zur Zeit seiner größten Ausdehnung unter der Führung des Timotheos besessen hatte. Die Zahl der Bundesgenossen war entsprechend zusammengeschrumpft, da die Bedeutenderen unter ihnen dem Bunde den Rücken gekehrt hatten. Die Finanzlage war katastrophal 84 . Die zahlreichen finanzpolitischen Prozesse nach dem Ende des Krieges, von denen wir in den Reden des Demosthenes genaueres erfahren, werfen ein grelles Schlaglicht auf die bankrotten Verhältnisse dieser Zeit und auf die verzweifelten Mittel, die man anwandte, um sich zu helfen. Die großen Männer der Zeit des siegreichen Aufstiegs des zweiten Seebundes, Kallistratos und Timotheos, waren tot. Die einzig mögliche Politik schicn zunächst ein vorsichtiges Lavieren bei vollständigem Verzicht auf aktive Außenpolitik und ein langsamer Wiederaufstieg im Inneren vor allem auf dem Gebiet der Finanzen und der Wirtschaft. Aus dieser Lage ergab sich Isokrates' Rat, zu dem Frieden des Antalkidas als Grundlage der äußeren Politik zurückzukehren 85 , d. h. auf jede athenische Seeherrschaft grundsätzlich zu verzichten. Dieses Programm zeigt große Verwandtschaft mit der Denkschrift des Xenophon über die öffentlichen Einkünfte, die um die gleiche Zeit erschien und einen Ausweg aus der bedrängten Lage zeigen wollte. Die wirkliche Führung des Staates ging jetzt an die konservative Gruppe des Finanzpolitikers Eubulos über, dessen Gedanken sich in gleicher Richtung bewegten. [111/193]

1069

Die ,Friedensrede geht weiter auf dem Wege der politischen Erziehung des athenischen Publikums, den Isokrates in der ,Rede über den Areopag' betreten hatte · · . Aber wenn man heute allgemein beide Schriften an das £nde des Bundesgenossenkrieges oder in noch spätere Zeit setzt, so ist es nach dem soeben Gesagten auch durch die veränderte Haltung der ,Friedensrede' klar, daß beide nicht der gleichen Zeit angehören können. Es ist zwar nicht zu verkennen, daß die kritische Ansicht der gegenwärtigen athenischen Demokratie in beiden dieselbe ist; daher finden sich in dem Gedankengange der Reden starke Übereinstimmungen. Doch zu dem Problem der athenischen Seeherrschaft nehmen beide eine ganz verschiedene Stellung ein. Wenn die herrschende Auffassung zu Recht besteht, daß die Verzichtleistung auf die Herrschaft zur See in der,Friedensrede' auf der bitteren Erfahrung des Abfalls der Bundesgenossen beruht, bestädgt sich auch von dieser Seite unser Schluß, daß die »Areopagrede' noch der Zeit vor dem akuten Ausbruch der Krisis angehören muß; denn in ihr wird der Vorschlag der Stärkung des erzieherischen Einflusses des Areopags, wie oben gezeigt wurde, gerade mit der Notwendigkeit dieser Maßnahme für die Behauptung der Seeherrschaft Athens begründet. An der Vortrefflichkeit der Seeherrschaft und an ihrem geschichtlichen Verdienst für Athen wie für Griechenland wird in der .Areopagrede' nicht im mindesten gezweifelt, was durchaus der älteren Ansicht des Isokrates im ,Panegyrikos' entspricht. Im ,Panegyrikos' war die Wiederherstellung der Seeherrschaft Athens, die im Peloponnesischen Kriege zusammengebrochen war, im natíonalen Interesse gefordert worden. Ihr Sturz war dort als die „Ursache aller Übel" des griechischen Volkes dargestellt worden 87 , während die,Friedensrede' in ihrem Pessimismus genau umgekehrt den Anfang der Seeherrschaft als den Anfang aller Übel bezeichnet M . Die ,Areopagrede* steht in der Mitte zwischen diesen beiden Polen der Entwicklung der politischen Anschauungen des Isokrates, nicht an dem negativen Pol des Verzichts auf die Seeherrschaft Athens β ·. Der vollkommenen Wandlung in der Frage der Herrschaft, die sich vom,Panegyrikos' bis zur,Friedensrede' vollzogen hat, entspricht die gegensätzliche Beurteilung des Antalkidasfriedens in beiden Schriften. Im .Panegyrikos' wird er aufs schärfste verurteilt und gilt als Sinnbild der schimpflichen griechischen 1070

[III! 194]

Abhängigkeit von den Persern, wie sie nur nach dem Zusammenbruch der athenischen Seeherrschaft möglich war 1 ·. In der »Friedensrede' ist mit der Seeherrschaft auch diese national bewußte Haltung preisgegeben, und der Antalkidasfrieden erscheint als die erwünschte Plattform, zu der man zurückkehren muß, um das zerrüttete politische Leben Griechenlands neu zu organisieren· 1 . Es muß freilich jedem Leser des ,Panegyrikos' klar sein, daß dieser Verzicht für Isokrates außerordentlich schmerzlich gewesen sein muß, und man versteht es, daß die antipersische Gesinnung des Isokrates in dem ,Philippos' später wieder auflebt, sobald in dem König von Makedonien ein neuer „Vorkämpfer" der griechischen Sache erscheint. Der Verzicht auf den Gedanken der Seeherrschaft wird dem Isokrates erleichtert durch seinen Moralismus, der anfänglich mit dem imperialistischen Element seines Denkens einen seltsamen Bund einzugehen schien, während er in der ,Friedensrede' über dieses triumphiert. Im .Panegyrikos' erhält der Imperialismus durch seine Beziehung auf das Wohl der griechischen Gesamtnation seine Rechtfertigung, in der ,Friedensrede' werden Herrschaft (άρχή) und Streben nach Machterweiterung (ττλεουίξία) schlechthin verworfen, und es wird die Gültigkeit der Privatmoral auch für den Bereich der zwischenstaatlichen Verhältnisse ausdrücklich behauptet 92 . Die Rückkehr zur Bildung größerer Staatengruppen oder Bünde wird zwar vorsichtig nicht ganz ausgeschlossen, aber Isokrates setzt der Herrschaft, die auf bloße Macht gegründet ist, das Prinzip der Hegemonie entgegen, die als eine Führerrolle honoris causa aufgefaßt wird *3. Sie soll auf dem freiwilligen Anschluß der übrigen Staaten an Athen beruhen. Isokrates hält sie nicht für ganz unmöglich. Er vergleicht sie mit der Stellung der spartanischen Könige, die gleichfalls eine nur auf Ehre, nicht auf Macht beruhende Autorität besitzen. Diese Art der Autorität müßte auf das Verhältnis von Staaten untereinander übertragen werden. Isokrates vergißt dabei fur einen Augenblick, daß im spartanischen Staat diese Ehrenstellung der Könige jederzeit durch die Macht des Staates garantiert war. Das Streben nach Macht und Herrschaft wird als Quelle alles Unheils in der griechischen Geschichte erwiesen. Isokrates findet sie in ihrem Wesen der Tyrannis gleichartig, also mit der Demokrade [III! 195]

1071

innerlich unvereinbar*4. Er hat die .Friedensrede', wie er sagt, geschrieben, um die Gesinnung der Athener in dieser Frage der Macht umzuwandeln95. Wieder erscheint die Besserung der politischen Lage wie in der ,Areopagrede' von einer völligen Änderung der grundsätzlichen sittlichen Haltung abhängig, wenn man auch nicht von dem Gefühl loskommt, daß ^n dieser Haltung der tatsächliche Zusammenbruch, also der Zwang der Not, wesentlich mitbeteiligt ist ··. Es handelt sich nicht sowohl um eine politische Bekehrung des alten Isokrates wie um seine stete Bereitschaft, von der Erfahrung zu lernen. Diese Bereitschaft war uns bereits in den Lehren entgegengetreten, die er in der ,Areopagrede* aus dem ersten Zusammenbruch Athens im Peloponnesischen Kriege und aus dem Sturz der spartanischen Macht bei Leuktra gezogen hatte. Sie erscheint von neuem nach der Auflösimg des. Seebundes in der,Friedensrede' des Achtzigjährigen. In der ,Areopagrede' war sie als Warnung vor tragischer Hybris aufgetreten; in der ,Friedensrede' nimmt sie die Form der Verwerfung alles rein imperialistischen Machtstrebens an. Dabei ist natürlich nur an das Verhältnis der griechischen Staaten untereinander zu denken ; denn den Gedanken, daß die Griechen von Natur zur Herrschaft über die Barbaren bestimmt seien, hat Isokrates auch in dieser Periode schmerzlichster Resignation gegenüber seinen früheren Machtträumen niemals fahren lassen. Vom Standpunkt einer übernationalen Ethik aus stellt diese Einschränkung die in der ,Friedensrede' gezogenen ethischen Folgerungen freilich wieder in Frage oder schwächt doch ihren Wert ab. Doch fiir die gegenseitige Auseinandersetzung der griechischen Staaten ist der Moralismus des Isokrates ein wichtiges Symptom, soweit auch die Wirklichkeit von dem Ideal entfernt bleiben mochte. Er ist in dieser Hinsicht zu vergleichen mit einer Erscheinung wie der neuen Kriegsethik für Kämpfe zwischen Griechen, die Plato im ,Staat' verkündigt hatte. Isokrates ist sich bewußt, daß die Frage letzten Endes erzieherischer Natur ist. Denn das Machtstreben ist tief im Innern der Menschen verwurzelt, und es bedarf einer gewaltigen Anstrengimg des Geistes, um es mit der Wurzel auszurotten. Isokrates sucht zu zeigen, daß die Macht (δύναμη) die Menschen zur Zügellosigkeit verführt habe. Er macht für die Entartung der Bürger unter ihrem Einfluß nicht sowohl die Zeitgenossen als 1072

[ I I I !196]

die Generation vor der gegenwärtigen verantwortlich, d. h. die Zeit des ersten attischen Seereiches, auf deren Glanz jetzt der Schatten der Gegenwart fallt 9 7 . Ähnlich wie in der ,Areopagrede* die Gesetzlichkeit und Strenge der Lebensordnung der Vorfahren als die Erzieherin zu allem Guten erscheint, wird in der,Friedensrede' alles Schlechte und Zuchtlose der Gegenwart der verderblichen Erziehung des Volkes und seiner Führer durch die Macht zugeschrieben®8. Isokrates zeigt, wie in der ,Areopagrede', so auch hier ein klares Bcwußtsein der Kräfte, welche zu seiner Zeit das Leben des Individuums und seiner Formung in Wahrheit bedingen. Es sind nicht die ungezählten Versuche und Mittel, die unter dem Namen der Erziehung angeboten werden, um die schädlichen Einflüsse zu durchkreuzen und abzuschwächen, sondern es ist der Gesamtgeist der politischen Gemeinschaft, der das Sein des einzelnen bestimmt. Der wahre Gestalter der Menschenseelen ist die Machtsucht, das Streben nach mehr (πλεονεξία). Wo es den Staat und sein Handeln beherrscht, da ist es auch bald im Tun des Individuums das oberste Gesetz. Gegen diesen Dynamismus als das eigentlich Tyrannische, das in allen Formen des Staates gleich sehr die Oberhand gewonnen h a t " , ruft er den Geist der Demokratie an. Sie hat ihm lange me^r als alle anderen gehuldigt, ohne zu fühlen, daß sie sich damit selbst aufgibt 1 0 0 . So wird Demokratie gleich Verzicht auf Machtstreben. Doch ist das nicht gleichbedeutend mit der freiwilligen Selbstausschaltung der einzigen noch bestehenden bedeutenderen Demokratie im Wettkampf mit den anderen Staatsformen, die ohne die verfassungsmäßigen Hemmungen der bürgerlichen Freiheiten dem gleichen Ziel auf direktem Wege zustreben? Die Frage erscheint ungemein aufregend. Aber in Wahrheit müssen wir gestehen, daß die Aufforderung des Isokrates zum Verzicht auf die Willkürmacht der athenischen Herrschaft zu einer Zeit ausgesprochen wurde, als der tatsächliche Verlust der Macht durch den Zwang der Ereignisse bereits eingetreten war 1 0 1 . Die moralische Begründung durch den freien Willen wirkt nur wie eine nachträgliche Rechtfertigung, die den machtlosen Erben der einstigen Herrlichkeit ihr Werk einigermaßen erleichterte, indem sie das Gewissen deijenigen Patrioten beschwichtigte, deren Denken noch in den Bahnen der überlieferten Machtpolitik weiterlief. Isokrates wollte [IIIÌ197J

1073

den nüchternen Ordnern des Nachlasses des zweiten Reiches ihre Arbeit unter den obwaltenden Verhältnissen nach Kräften erleichtern. Seine geistige Autorität war um so mehr der rechte Erzieher zu solcher Selbstbescheidung, als er selbst von jeher der Träger der Idee der athenischen Seeherrschaft gewesen war. Sein innerer Wandel war in der Tat von symbolischer Bedeutung für den Sinn der geschichtlichen Vorgänge, die sich im Laufe seines Lebens abspielten, und es erscheint fast undenkbar, daß der von ihm zur Rolle des Altersrentners bestimmte athenische Staat sich noch einmal unter der Führung des Demosthenes zum letzten Kampf aufraffen könnte, einem Kampf, der nicht mehr um die Erlangung größerer Macht ging, sondern um die Behauptung des einzigen, was ihm nach dem Verlust seines Reiches noch geblieben war, seiner Freiheit.

1074

[III/198]

ISOKRATES VERTEIDIGT SEINE PAIDEIA Isokrates hat in seinen Schriften viel von sich selbst gesprochen, aber in einem seiner spätesten Werke, das er im Alter von mehr als achtzig Jahren schrieb1, hat dieses Bedürfnis seinen reinsten Ausdruck gefunden, da es ganz seiner eigenen Person und seinem Lebenswerk gewidmet ist. Es ist die Rede über den Vermögenstausch oder die „Antidosis", wie der Begriff im attischen Recht lautet. Die ungewöhnlich hohe steuerliche Belastung der kleinen Gruppe der reichsten Bürger, die in Athen die Kosten für die Ausrüstung der Kriegsflotte zu tragen hatten, machte ein Gesetz erklärlich, das auch auf Isokrates angewandt worden war. Jeder zur Leistung der Trierarchie Herangezogene konnte, wenn er diese Belastung für ungerecht hielt, einen reicheren Bürger namhaft machen, der mit mehr Recht zur Erfüllung der gleichen Pflicht aufgefordert werden konnte, und er durfte von diesem den Tausch des Vermögens verlangen, um den Beweis anzutreten, daß er selbst weniger als jener besitze. Bei Gelegenheit des Prozesses waren allerlei Angriffe gegen die Person und Lehrtätigkeit des Isokrates gerichtet worden, die nicht streng zur Sache gehörten, aber mit seinem Ruf zusammenhingen, durch seine publizistische und erzieherische Wirksamkeit ein großes Vermögen gemacht zu haben 2 . Seine Unpopularität in weiten Kreisen der politischen Öffentlichkeit, die dabei zutage getreten war, muß ihm schon früher zuBewußtsein gekommen sein, denn sowohl in der,Areopagrede' wie in der ,Rede über den Frieden', also seinen beiden innerpolitischen Schrifien, sucht er sich von dem Vorwurf der Volksfeindlichkeit zu rechtfertigen3. Die ,Antidosis* nimmt erneut auf diese Anschuldigung Bezug, deren Ursprung aus den wiederholten Angriffen des Isokrates gegen die Demagogen leicht zu verstehen ist. [IUI 199]

1075

Die erhaltene ,Rede über die Antidosis' ist nicht die von Isokrates in dem genannten Prozeß wirklich gehaltene, sondern sie beruht wie die meisten seiner politischen Schriften auf einer Fiktion 4 . Er hat den Prozeß wegen Vermögenstausches zum Anlaß genommen, eine Schrift zu verfassen, die, unter dem Vorwand, er sei öffentlich angegriffen worden, sein Leben, seinen Charakter und seine Lehrtätigkeit „verteidigt", d. h. in das von ihm für richtig gehaltene Licht rückt. Er hat sich über die seltsame Verbindung von Gerichtsrede, Selbstverteidigung und Autobiographie in der jAntidosisrede' selbst ausführlich geäußert 6 und will diese „Mischung der Ideen" als eine besondere Feinheit seiner rhetorischen Kunst gewürdigt wissen®. Sie gibt ihm Gelegenheit, durch den Zwang der Verteidigung zu motivieren, was, als bloßes Selbstlob ausgesprochen, bei jedermann Anstoß erregen würde 7 . Plato hatte als erster in seiner ,Apologie' die gerichtliche Verteidigungsrede zur literarischen Form des Selbstbekenntnisses gemacht, indem eine geistig hervorragende Persönlichkeit Rechenschaft von ihrem Tun (πράγμα) abzulegen suchte 8 . Diese neue Form des literarischen Selbstporträts muß auf das egozentrische Denken des Isokrates tiefen Eindruck gemacht haben, und er hat sie sich in der Rede vom Vermögenstausch selbst zu eigen gemacht. Wenn ihm natürlich auch der heroische Hintergrund des Kampfes um sein Leben nicht zu Gebote stand, von dem sich in Piatos .Apologie' das Bild sokratischer Standhaftigkeit und Seelengröße ergreifend abhebt, so muß Isokrates doch eine durchgehende Parallelität seiner Lage mit dem Prozeß des Sokrates gespürt haben; denn er benutzt jeden Anlaß, um sie durch wörtliche Anlehnungen an Piatos Schrift und an die Anklage des Sokrates dem Leser ins Gedächtnis zu rufen 9 . Der Ankläger und die Gefahr, die ihn bedroht, sind freilich nur wirkungsvolle Staffage, wie er ungeniert ausspricht, und er hat selbst den Eindruck, daß dieses längste aller seiner Werke das schwächste von ihnen ist 10 . Aber abgesehen von dem Reiz, den es als erstes wirkliches Denkmal der Selbstbiographie 11 oder richtiger als „Porträt seines Geistes und Lebens" 12 für uns hat, fesselt es besonders als umfassendste Darstellung der Ziele und Erfolge seiner Paideia 13 . Die fingierte Anklage lautete, daß Isokrates die Jugend verderbe, indem er sie lehre, auf ungerechte Weise vor Gericht Vor1076

[111/200J

teile zu erlangen 14 . Indem er sich gegen dieses Mißverständnis wendet, das bei einem Rhetor stets nahelag, will Isokrates sich vor allem von den gewöhnlichen Redenschreibern unterscheiden, die ihre Schüler für die gerichtliche Praxis schulen. Er hatte sich schon in seiner frühesten Kundgebung, der ,Sophistenrede', nachdrücklich gegen sie gewandt 15 , und die Verwechslung seiner politisch-moralischen Erziehung mit ihrer öden juristischen Routine ist ihm besonders ärgerlich 16 . Er fühlt sich ihnen gegenüber wie ein Phidias im Vergleich zu den Handwerkern, die die kleinen Tonfiguren kneten, oder wie ein Parrhasios und Zeuxis neben den kunstlosen Verfertigern von billigen gemalten Bildchen 17 . Das stolze Bewußtsein, ein großer Künstler zu sein, spricht sich immer von neuem in der Rede aus. Es ist einmal die Größe des Gegenstandes, durch die sich seine Reden von allen anderen unterscheiden, da sie die Interessen der griechischen Nation und nicht die irgendwelcher einzelner Individuen betreffen 18 . Doch auch in ihrer Form stehen sie der Dichtung näher als den ephemeren Erzeugnissen des gemeinen gerichtlichen Streites, und ihre Wirkung ist mehr dem Vergnügen an den rhythmischen Gestaltungen der poetischen Phantasie zu vergleichen 19 . Die Atmosphäre, aus der sie erwachsen, ist nicht die rastlose Vielgeschäftigkeit des alltäglichen Lebenskampfes, sondern eine edle Muße 2 0 . Darum schart seine Kunst zahlreiche Schüler um sich, während die praktischen Redenschreiber nicht eigentlich Schule bilden können 21 . Isokrates erläutert die Art seiner Reden nach Inhalt und Form an einer Anzahl von Musterstücken, die er aus seinen früher veröffentlichten Schriften auswählt 22 . Das Wesen seiner geschriebenen Reden wird damit in der Tat in das richtige Licht gerückt. Nichts kann deutlicher die erzieherische Richtung des Isokrates auf das Vorbildliche hin klarmachen als die Darbietung dieser Auslese 23 ; wir dürfen von ihr auf die Lehrweise der isokrateischen Schule zurückschließen. Auch dort wurden nicht nur die technischen Dinge der Sprache und Komposition gelehrt, sondern die letzte Inspiration sollte von dem künstlerischen Vorbild des Meisters ausgehen. Deis Wort „Nachahmung" wurde schon in seinen frühesten Programmschriften in diesem Zusammenhang ausgesprochen 24 ; es muß mehr und mehr zum eigentlichen Kern seiner Erziehung geworden sein. Es lag in ihr von Anfang an der Wille zum [III 1201]

10 77

Vollkommenen, und in der ,Antidosisrede' stellt Isokrates selbst in seinem hohen Alter sich der literarischen Öffentlichkeit als vollendeter Klassiker vor, der seine Werke als Modelle ausstellt. Der spätere Klassizismus hat hier seine Wurzel. Allen anderen Schriften voran stellt er seinen ,Panegyrikos i2S , zugleich als Muster seiner Form wie als Probe seiner vaterländischen Gesinnung, an der hier weniger das Panhellenische als sein bewußtes Athenertum hervorgehoben wird2®. Von den Athenern war letzteres offenbar bezweifelt worden. Doch nachdem er die Seeherrschaft Athens zwei Jahre zuvor als die Wurzel alles Unglücks nachgewiesen hatte, konnte er den ,Panegyrikos', in dem er sie aufs nachdrücklichste gefordert hatte, nicht unretuschiert vorweisen. Er setzt daher in der kurzen Inhaltsangabe, die zu dem Probeabschnitt aus dieser Rede überleitet, an den Stellen, wo eigentlich von der Seeherrschaft gesprochen werden sollte, das neutrale Wort „Hegemonie" e i n " . Er hatte es schon in der ,Friedensrede' empfohlen, als Bezeichnung einer milderen Form der Führerschaft honoris causa, die an die Stelle der auf Gewalt gegründeten Seeherrschaft treten müsse, wenn je wieder an einen Zusammenschluß der griechischen Seestaaten zu denken sei*8. Isokrates ist sicher, mit dieser Rede auch jetzt noch in den patriotischen Kreisen Athens den größten Beifall zu ernten, aber es ist bezeichnend, daß er als Gegengewicht gegen diese Verherrlichung Athens und seiner geschichtlichen Größe sogleich hinterher einen Probeabschnitt aus der ,Friedensrede', seinem neuesten Werk, folgen läßt, und zwar gerade den Teil der Rede, in dem er einen dauernden Frieden und die Preisgabe der Herrschaft Athens über die Meere fordert 29 . Man konnte ihm leicht vorwerfen, er habe seine Haltung geändert, ja, in ihr Gegenteil verkehrt 30 , und es war für ihn am leichtesten, diesem Angriff dadurch zuvorzukommen, daß er beide Haltungen, die des ,Panegyrikos' und die der jFriedensrede', als zwei verschiedene Äußerungen eines und desselben erzieherischen Wollens erklärt. Er sagt selbst, nachdem er den ,Panegyrikos' zitiert hat, es möchten viele seiner Leser denken, daß angesichts der gegenwärtigen athenischen Verhältnisse Tadel nötiger sei als Lob, und führt die .Friedensrede' ausdrücklich als Beispiel solcher erzieherischen Zurechtweisung an 31 . Ein drittes Muster entnimmt er der ,Rede an Nikokles'. Die 1078

[111/202]

Beziehung zu dem kyprischen Monarchen war ihm von den athenischen Demokraten offenbar besonders vorgehalten und der Vorwurf erhoben worden, er habe von seinem fürstlichen Schüler große Geschenke angenommen. Isokrates erwidert, daß er diese jedenfalls nicht darum erhalten habe, weil er den künftigen Herrscher, den obersten Gerichtsherrn seines Landes, in der Beredsamkeit eines Rechtsanwalts unterwiesen habe, als deren Lehrer ihn dieselben Gegner hinstellten 32 . Er erinnert daran, daß er in der ,Rede an Nikokles' die Erziehung der Mächtigen dieser Welt als etwas Neues gefordert und selbst ein würdiges Beispiel dieser Kunst gegeben habe3*. Von Volksfeindlichkeit weiß er sich dabei völlig frei, da er selbst j a dem König empfohlen hatte, vor allem für sein Volk treu zu sorgen. Er will daraus gefolgert wissen, daß er dies selbstverständlich noch weit mehr als die Aufgabe eines Volksstaates wie des athenischen ansehe3*. Man wird das sicherlich a b wahr hinnehmen dürfen in dem Sinne, den die ,Areopagrede' der Idee der Demokratie gibt®, aber zugleich wird man es als Zeichen politischer Vorsicht aufzufassen haben, daß Isokrates diese Schrift, die für seine erzieherische Haltung doch besonders charakteristisch ist, in der Auswahl seiner Werke in der .Antidosisrede' nicht mit angeführt hat. Man hat daraus geschlossen, daß die ,Areopagrede', die allen Anzeichen nach früher verfaßt ist, damals noch nicht existiert habe, doch dieser Schluß ist kaum zulässig angesichts der Tendenz der politischen Selbstrechtfertigung, die die .Antidosisrede* beherrscht3®. Die Erinnerung an den mißlungenen Versuch, die athenische Demokratie einzuschränken bzw. unter die Kontrolle einer sittlichen und erzieherischen Aufsichtsbehörde zu stellen, war in diesem Augenblick nicht erwünscht. Isokrates beschließt die Reihe der Proben seiner Reden mit einer Betrachtung über die Wichtigkeit des politischen Erziehungswerkes, von dem sie Zeugnis ablegen. Es ist wichtiger als das des Gesetzgebers, denn dieser ist in seinem Einfluß beschränkt auf den Gang der Geschäfte, den er durch seine Gebote regelt, und auf den Machtbereich einer einzelnen Polis. Die Paideia des Isokrates dagegen kommt, wenn sie befolgt wird, dem Leben der gesamten griechischen Nation zugute 87 . Hier wird die politische Ethik seines Panhellenismus für ihn unmittelbar zur Rechtfertigung seiner ganzen Erziehertätigkeit ; denn da es einen panhelle[II1/203]

1079

nischen Staat nicht gibt, der auf dem Wege der Gesetzgebung für die gesamte Griechenwelt etwas Ähnliches wie seine Ziele durchsetzen konnte, so ist die ideelle Macht der Erziehung und Bildung das einzige Werkzeug, das einen solchen politischen Aufbau zu vollbringen vermag. Es ist nicht ohne Reiz zu fragen, ob Isokrates bei den Gesetzgebern auch an Plato gedacht hat, der um jene Zeit mit der Abfassung seiner .Gesetze' beschäftigt war. Die Tatsache muß in Athen in den geistig interessierten Kreisen bekannt gewesen sein. Sie warf auf Piatos erzieherisches Wollen ein letztes, neues Licht. Wenn er dabei als jüngster in der langen Reihe der hellenischen Gesetzgeber erschien, so ist das in Isokrates' Augen kein Vorteil für ihn; denn „von den Gesetzen lobt man die ältesten, von den Reden aber die neuesten" 38 . Und das war Isokrates' eigenes Ziel: nicht mit den zahllosen Gesetzgebern der Griechen und* Barbaren in der Vergangenheit zu wetteifern, sondern der politische Ratgeber der Stadt und der griechischen Nation zu sein und das erlösende Wort zur gegenwärtigen Lage zu sprechen 39 . Sein Werk als Erzieher ist aber auch von höherer Bedeutung als das der Philosophen oder Sophisten, die die Menschen zur Tugend der Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung ermahnen; denn ihr Ruf zur „Phronesis", zur sittlichen Erkenntnis und einem ihr gemäßen Handeln, richtet sich nur an die Individuen, und sie sind damit zufrieden, einige wenige Menschen zu gewinnen 40 . Die Erziehung des Isokrates wendet sich an die ganze Polis und strebt danach, sie zu solchen Taten zu bewegen, die sie selbst glücklich machen und die anderen Griechen von ihren Leiden befreien 41 . Um die eigenen Schriften, welche seine Lehre verkörpern, gruppiert Isokrates an dem Denkmal seiner Paideia, das er in der jAntidosisrede' errichtet, die Schar seiner Schüler von seinen ersten Anfangen bis herab zur Gegenwart. Für den heutigen Leser ist das Wesentliche sein literarischer Nachlaß, aus dem er noch selbst zu uns spricht. Doch für den Athener, zumal für den, der diese Werke nicht genau kannte, mußte die Aufzählung der langen Reihe von Staatsmännern und sonstigen hervorragenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die aus der Schule des Isokrates hervorgegangen waren, mehr als das bloße geschriebene Wort bedeuten. Denn in dieser Tatsache drückt sich sichtbar die Kraft aus, die aus den Lehren des Rhetors in das Leben der Gemeinschaft seiner 1080

[III1204]

Vaterstadt hinübergeströmt war. Hier konnte jeder lernen, was Isokrates unter Paideia verstand, u n d mit dem positiven Beitrag, den er durch die Heranbildung dieser Männer zur Leitung ihrer Polis gemacht hatte, konnte nichts sich vergleichen. Spätere Generationen des Altertums haben die Gegenprobe gemacht, und die alexandrinischen Gelehrten haben die politische Wirkung der Philosophenschulen, insbesondere der platonischen Akademie, dadurch festzustellen gesucht, daß sie die Laufbahn der einzelnen Schüler Piatos im staatlichen Leben ihrer Zeit verfolgten 42 . Wir sehen sie meistens als Revolutionäre oder Experimentierer eine kurze, gewaltsame Rolle spielen. Wir haben früher diese Erscheinung als den Ausdruck ihrer fortgeschrittenen Problematik gewürdigt, die sie in die Absonderung hineintrieb, aber, vom Standpunkt des wirklichen Staates jener Zeit betrachtet, sind sie meist charakterisiert durch ihre Unfähigkeit, sich in ihn als Mitwirkende und Dienende einzuordnen. Isokrates hat das deutlich gefühlt, als er in der ,Antidosisrede' die Geschichte seiner Schule schrieb, und in den Augen seiner Mitbürger mußte der tätige Anteil seiner Schüler im Dienste ihrer Stadt in der Tat eine große Empfehlung sein. Dabei mußte alsbald das alte Problem wiederauftauchen, wieweit überhaupt die Erziehung für ihre Produkte verantwortlich zu machen ist. Plato hatte die gerichtliche Rhetorik älteren Stils in seinem ,Gorgias' schuldig befunden, weil sie ihre Adepten die schwarze Kunst lehre, die schlechtere Sache zur besseren zu machen. Isokrates hatte in seinen Anfangen gegen diese Belastung Protest erhoben und den Satz vertreten, daß der Mißbrauch, den die Schlechten mit den Gütern des Lebens treiben, diese noch nicht als Übel erweise 43 . Doch jetzt, am Ende seiner L a u f b a h n , ist er bereit, die volle · Verantwortung für seine Schüler zu übernehmen, wenn man nicht lieber jetzt umgekehrt dem Lehrer jeden Anteil an ihren Taten abzusprechen geneigt ist, da ihre Verdienste so offen am Tag liegen 44 . Isokrates überläßt dem Leser die Entscheidung, aber er denkt sichtlich an die ähnlichen Erörterungen, die sich nach der Hinrichtung des Sokrates an dessen Verhältnis zu seinen ehemaligen Schülern Kritias und Alkibiades geknüpft hatten. Die Sokratiker waren damals bemüht gewesen, ihren Meister von aller Mitschuld an der verhängnisvollen Rolle [III1205]

1081

freizusprechen, die diese Männer während der schwersten Prüfungszeit Athens in der Geschichte ihres Vaterlandes gespielt hatten. Isokrates hat, wie er behauptet, keinen Schüler zu verheimlichen, der Athen zum Schaden gereicht hätte45 Wer hätte da nicht sogleich an den berühmtesten unter seinen Schülern, an Timotheos, den Sohn des Konon, gedacht, der wenige Jahre vor der Veröffentlichung der ,Antidosisrede', nachdem er zweimal als Feldherr und Staatsmann des von ihm mitgegründeten zweiten Seebundes Athen zum Gipfel seiner Macht emporgeftihrt hatte, wegen seines Verhaltens im Bundesgenossenkriege vom Volksgericht abgesetzt und zu einer unerschwinglichen Geldbuße verurteilt worden war und bald danach in freiwilliger Verbannung sein Leben beschlossen hatte! Er war Isokrates natürlich aufs Schuldkonto gesetzt worden, denn sein nahes Verhältnis zu ihm war allbekannt. Es konnte auch kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Freundschaft nicht nur eine menschliche, sondern zugleich eine ausgesprochen politische Gesinnungsgemeinschaft gewesen war. Isokrates hatte zugestandenermaßen wiederholt publizistisch fur Timotheos gearbeitet, wie dieser umgekehrt seine politischen Grundanschauungen der Schule des Isokrates verdankte. Die Bereiterklärung des Meisters, für das Tun aller seiner Schüler die volle Verantwortung zu übernehmen, kommt also in diesem Augenblick einer Herausforderung der öffentlichen Meinung gleich, die uns um so mehr aufhorchen läßt, als wir von ihm die äußerste Vorsicht in allen Dingen, die die Empfindlichkeit des Demos berühren, gewohnt sind. Die Motive, die bei diesem Heraustreten an die Öffentlichkeit mitgesprochen haben, sind wahrscheinlich recht verwickelter Art. Die unverantwortliche, von Mund zu Mund gehende Kritik an Isokrates als dem geistigen Vater der politischen Reaktion, die die radikalen Kreise in der Gestalt seines Schülers verkörpert sahen, mag ihn ernstlich beunruhigt haben. Je mehr er Timotheos' Ansichten über das Versagen und den Fall des zweiten Seebundes teilte, um so mehr mußte ihm daran liegen, den Namen des Freundes unbefleckt zu erhalten, wenigstens im Andenken derer, an deren Urteil ihm etwas lag. Dazu kam, daß der Rufseiner eigenen Schule und Erziehung weitgehend an diesem Falle hing und er fürchten mußte, durch jene Verflechtung seiner Paideia mit der 1082

[111/206]

realen Politik, auf die er stolz war und die er von Anfang an erstrebt hatte 46 , sein ganzes Lebenswerk bedroht zu sehen. Alle diese Dinge hingen so eng miteinander zusammen, daß er beschloß, für seinen großen Schüler das ganze Gewicht seines moralischen und literarischen Ansehens in die Waagschale zu werfen. Das Gefìihl der Furcht und seine bessere Einsicht in die wahre Natur der Verhältnisse, vor allem in den Charakter des Timotheos, gaben ihm den Mut zu seinem Angriff, der in dem gesamten Schrifttum des Isokrates einzig in seiner Art ist. Er enthüllt vor unseren Augen zugleich die Tragödie der äußerlich so erfolgreichen erzieherischen Laufbahn des Isokrates, und diese ist ihm zugleich die Tragödie des athenischen Staates. Sie wurzelt in dem alten Problem des Verhältnisses der großen Persönlichkeit und der Masse im Leben der griechischen Demokratie. Das Porträt des Timotheos, das Isokrates entwirft, hebt sich ab von dem reichen Goldgrund einer Schilderung seiner großen Taten als Feldherr und Führer des zweiten Seebundes. Doch der Prunk des Lobes, das er ihm spendet, ist nicht übertrieben, sondern der Bedeutung seiner Verdienste angemessen. Isokrates mißt die Zahl der Städte, die er genommen hat, an den Erfolgen aller früheren athenischen Strategen und findet diese durch Timotheos bei weitem übertrefft n 47 . Die Namen der bedeutendsten seiner Siege erscheinen wie symbolische Gestalten um den Sockel seines Monuments angeordnet: Korkyra im Westmeer, Samos in Ionien, Sestos und Krithote am Hellespont, Poteidaia und Torone an der thrakischen Küste, die Seeschlacht bei Alyzia, der Friede zu Sparta, der die Vormachtstellung Spartas brach und seinen Sturz bei Leuktra anbahnte, endlich die Niederwerfung des chalkidischen Städtebundes 48 . Der Mann, der diese Siege errang, erscheint inmitten all der ruhmreichen Taten überraschend menschlich, keineswegs in der heroischen Pose der Feldherrn früherer Zeiten. Er war keine in Strapazen abgehärtete Kraftnatur, sondern von verfeinerten Nerven und zarter Gesundheit. Verglichen mit dem narbenbedeckten Haudegen Chares, dem Kriegsgott der radikalen Partei, den Isokrates offenbar bei dieser Schilderung im Auge hat, ohne ihn zu nennen, war Timotheos das Ideal des modernen Strategen. Die Charesnaturen verwendete er als Unteroffiziere, er selbst aber war groß in dem, was den Feldherrn ausmacht 4 ·. Er sah den Krieg [111/207]

1083

als Gesamtproblem, den Feind und die Bundesgenossen. Er sah seine Aufgabe stets politisch und militärisch zugleich. Er wußte sich in seinen Operationen von den Einflüssen hinter der Front unabhängig zu erhalten und führte doch seine Feldzüge erfolgreich zu Ende50. Er war Meister im Aufbau eines Heeres, das ganz seinem jedesmaligen Zwecke entsprach, und verstand es, mit ihm zu leben und es selbständig zu unterhalten 51 . Seine Kraft war nicht die der geballten Faust, er war ein Genie der moralischen Eroberungen. Er wußte durch die Gewinnung von Vertrauen und Freundschaft alles das zu erreichen, was seine Nachfolger durch die Erregung des Hasses der Griechen wieder verdarben. Ihm lag mehr an der Popularität Athens bei den übrigen Griechen als an seiner eigenen bei seinen Soldaten62. Die ganze Charakteristik ist ohne Zweifel im Hinblick auf die Katastrophe des zweiten Seebundes geschrieben, deren Ursache der Haß und das Mißtrauen der Griechen gegen Athen gewesen war 63 . Ohne es auszusprechen, führt Isokrates alles Unglück darauf zurück, daß die Athener ihren wahren Führer nicht erkannt haben. Er vergleicht Timotheos mit einem anderen vielbewunderten modernen Führer, Lysander, und gibt Timotheos den Vorrang. Lysander gewann seine Stellung mit einem Schlag durch einmáliges, ungeheures Glück, Timotheos aber war der Mann, der in vielen ganz verschiedenartigen, schwierigen Lagen stets das Richtige tat und seine geistige Klarheit bewahrte64. Es mußte für die Athener einer schweren Anklage gleichkommen, dieses Lob des von ihnen dreimal abgesetzten Feldherrn zu vernehmen, und vom Standpunkte der absoluten Gerechtigkeit aus findet Isokrates nichts daran abzudingen, daß das Verhalten Athens gegen einen seiner größten Söhne schändlich war. Doch im Hinblick auf die menschliche Natur und ihre Schwäche und Ungewißheit, auf den Neid, der alles Große und Bedeutende verdunkelt, und die verworrenen Zeitläufte der Gegenwart erscheint das Geschehene leider nur zu begreiflich66. Aber auch Timotheos selbst hat zu dieser Verkennung sein Teil beigetragen. Mit diesem Zugeständnis verläßt Isokrates den Bereich des politischen Meinungsstreits und spielt die Frage auf sein eigenstes Gebiet hinüber, das des Erzieherischen. Timotheos war weder ein Volksfeind noch ein Menschenfeind, er besaß weder Hochmut noch sonst eine der schlechten Charaktereigenschaften dieser Art. Aber seine Groß1084

[III/208J

gesinntheit, die ihm ab Heerführer so nützlich war, machte ihn im täglichen Umgang schwierig und Heß ihn hochfahrend und schroff erscheinen56. Isokrates macht hier ein Zugeständnis, das fiir sein Verhältnis zu seinem Schüler von größter Wichtigkeit ist, da es beweist, daß sein erzieherischer Einfluß auf ihn über die Zeit seiner eigentlichen Schüleijahre hinaus gedauert hat. Er blieb der Redner und Mahner, auch als jener auf der Hohe seines Erfolges stand. „Oft hat er von mir solche Worte vernommen: ein Staatsmann, der von den Menschen gebilligt werden will, müsse zwar die heilsamsten und besten Taten und die wahrsten und gerechtesten Worte wählen, aber er müsse auch dauernd daran denken, in seinem Reden und Handeln volkstümlich und menschenfreundlich zu erscheinen" 57 . Isokrates hat an dieser Stelle eine ganze Mahnrede an Timotheos eingelegt, die nicht sowohl behaglich breite Erzählung als ein eindrucksvolles Muster der Erziehung sein will, wie er sie übte. Lebendig in der Form direkter Rede wird dem Leser vor Augen geführt, wie der Meister im persönlichen Gespräch den stolzen Sinn des Helden zu mäßigen sucht. Niemand kann dieses Bild betrachten, ohne an das homerische Vorbild erinnert zu werden, das dem Isokrates vorgeschwebt haben muß, als er diese Seiten aus Wahrheit und Dichtung zusammenwob: die Mahnrede des Phoinix an Achilleus im neunten Buch der Ilias. Auch da war es das Problem, wie es möglich sei, den Sinn des Megalopsychos, der „großen Seele", zu bändigen, ihn, den Einzigen, in das Gefuge einer nicht immer zu Dank und Anerkennung bereiten menschlichen Gemeinschaft einzuordnen. Das tragische Mißlingen des Versuchs, der, wie Homer ihn geschildert hat, an der Natur des Großgesinnten selber scheitert, wirft von vornherein auf die Szene zwischen Isokrates und Timotheos einen Schatten 58 . Isokrates stellt ihm vor, wie die Menge ist: mehr auf das bedacht, was ihr angenehm ist und schmeichelt, als auf das, was ihr gut ist. ΓAntidosisrede' zu vergleichen: daß beide Männer schließlich mit ihrem persönlichen Wollen und Schicksal an die Öffentlichkeit treten mußten, ist gewiß ein bedeutsames Zeichen der Zeit. Es ist ein nicht gering zu schätzender Beweis für die Echtheit des 7. Briefes, daß er uns das Übergewicht der Persönlichkeit, die hinter ihm steht, in überwältigender Weise fühlen läßt.

1164

[III1288]

PLATOS GESETZE Der Gesetzgeber als Erzieher

Piatos Alters- und Nachlaßwerk, die besetze', haben schon im Altertum kaum Erklärer und nur wenige Leser gefunden. Ein Mann von gelehrter Bildung wie Plutarch ist stolz, sich zu dieser kleinen Schar zu zählen1, und die Überlieferung des Werkes in byzantinischer Zeit hat, wie die Herkunft aller unserer Handschriften aus einem einzigen geretteten Exempar beweist, an einem Haar gehangen1. Noch im 19. Jhrh. wußte man nichts mit den ,Gesetzen* anzufangen, und der repräsentative Philosophiehistoriker dieser Periode, Eduard Zeller, erklärte sie in einer frühen Arbeit für nicht platonisch*. In der Platodarstellung seiner Geschichte der griechischen Philosophie hat er sie später in einem Anhang behandelt4, d. h. er betrachtete sie nun zwar als echt, war aber auch jetzt nicht imstande, sie in das Gesamtbild der platonischen Philosophie einzubeziehen, das sich ihm aus anderen Dialogen ergeben hatte. Da die,Gesetze' aber ein Fünftel der schriftstellerischen Produktion Piatos ausmachen und bei weitem sein umfangreichstes Werk sind, kann man aus diesem Tatbestand lernen, wie wenig bisher noch mit der Forderung eines wirklich geschichtlich treuen Verständnisses der platonischen Philosophie ^rnst gemacht worden ist®. Man macht sich ein Bild von ihr zurecht, das nach dem Muster eines vorgefaßten Begriffes davon, was Philosophie sei, geformt ist. Die,Gesetze' enthalten weder Logik noch Ontologie. Darum werden sie von den Philosophen als Nebensache behandelt. Doch für Plato war ihr Inhalt Hauptsache: er besteht in tiefgreifenden Erörterungen Uber Staat und Gesetze, Ethik und Kulturphilosophie. Diese alle aber ordnet Plato dem Gesichtspunkt der Paideia unter. In einer Geschichte der griechischen Paideia bilden die ,Nomoi' also jedenfalls einen Hauptpfeiler. Paideia ist Piatos letztes wie sein erstes Wort. [II1/289]

1165

Wie der »Staat*, in dem Flatos frühere Schriftstellerei ihren Höhepunkt findet, sind die,Gesetze' eine allumfassende Darstellung des menschlichen Bios, aber das Merkwürdige ist, daß der Philosoph nach Vollendung jenes Werkes das Bedürfiiis empfunden hat, noch einmal in anderer Form ein solches Gesamtbild zu schaffen und einen zweiten Staat neben den besten Staat seiner ,Politela' zu stellen. Dieser ist, wie es in den ,Gesetzen* heißt, ein Staat nur für Götter und Göttersöhne ·. In dem Idealstaat wollte Plato von einer speziellen Gesetzgebung überhaupt nichts wissen. Die Gesetze, mit denen die meisten Staaten seiner Zeit überladen waren, sollten durch die Wirksamkeit der vollkommenen Erziehung, auf die er den besten Staat gründet, überflüssig gemacht werden7. Auch im ,Politikos* ist Piatos Stellung zu der traditionellen griechischen Hochschätzung des Nomos kritisch: der vollkommene Monarch würde vor der besten Gesetzgebung den Vorzug verdienen, weil das starre geschriebene Gesetz der sich wandelnden Situation doch nicht rasch genug angepaßt werden kann und daher nicht erlaubt, im Notfall das wirklich Notwendige zu tun 8 . Wenn das späteste der platonischen Staatswerke den Titel ,Nomoi' führt und alle Einzelheiten des Lebens der Bürger gesetzlich regelt, so zeigt sich schon darin der veränderte Maßstab e . Er zeigt sich nicht minder in der zunehmenden Rücksicht auf die Erfahrung. Im Bereich des Ethischen und Erzieherischen äußert sich diese neue Haltung in dem Zurücktreten des Interesses an der reinen Erkenntnis der Norm hinter Geschichte und Psychologie10. Im Mittelpunkt des ,Staates' stand die Ideenlehre und die Idee des Guten. Sie wird in den ,Gesetzen' nur kurz am Schluß erwähnt und als Inhalt der Bildung für den Herrscher gefordert11, aber das Problem der Gestaltung dieser höchsten Erziehung, das im ,Staat' die eigentliche Aufmerksamkeit auf sich zog und den breitesten Raum füllte, macht in den,Gesetzen' der Frage der Bildung einer breiteren Schicht Platz, einschließlich der Elementarbildung. Piatos Sekretär und Eckermann, Philippos von Opus, der die,Gesetze' nach dem Tod des Meisters aus dessen unvollendetem Wachstafel-Manuskript herausgab und in zwölf Bücher einteilte, hat die Lücke gefühlt, die durch das Fehlen der Herrschererziehung entsteht und hat sie auszufüllen versucht, indem er die Natur der besonderen Weisheit, die für die Herrscher gefordert werden muß, näher bestimmte. Diese Gedanken legte er in der Ab1166

[III/290]

handlung nieder, die wir jetzt als ,Epinomis' oder Nachtrag zu den ,Gesetzen' am Schluß des Werkes lesen12. Man wird angesichts des offiziellen Auftrages der Akademie, die Philippos als besten Kenner der nachgelassenen Papiere Piatos und seiner letzten Pläne mit dieser Aufgabe betraut haben muß, schwerlich von einer Fälschung sprechen können. Vielmehr handelt es sich um eine Ergänzung des Werkes, das also nach der feststehenden Meinung der platonischen Schule unvollendet war. Ein so riesiges Werk wie die ,Gesetze' kann an dieser Stelle nicht in all seinen Teilen gleichmäßig behandelt werden. Es ist schwer, auch nur die großen Umrißlinien nachzuzeichnen, wie wir es mit der ,Politeia* getan haben, da die Komposition der ,Gesetze' und ihre Einheit eines der schwierigsten Probleme ist und der besondere Reiz des Werkes in der originalen Art liegt, wie eine Anzahl wichtiger Einzelfragen hier von dem alten Plato völlig neu angepackt werden. Schwer ist es auch, in allgemeinen Worten zu sagen, wie sich die ,Gesetze' zum ,Staat' verhalten, obgleich dies oft versucht worden ist. Man wird etwa erklären, der ,Staat' verkörpere, am dialektischen Maßstab gemessen, die Stufe der Idee und der im Sein begründeten Wahrheit, die ,Gesetze' dagegen ständen auf der Stufe der bloßen Meinung. Plato selbst gibt keine Auflösung des Rätsels als die vorhin erwähnte 13 . Philosophiegeschichtlich betrachtet stehen die ,Gesetze' in vieler Hinsicht methodisch dem Aristoteles näher. Der alte Plato sucht mit seinen Prinzipien einen immer umfangreicheren Stoff zu durchdringen, statt daß er, wie in früheren Jahren, die Kluft zwischen Idee und Erscheinung möglichst unüberbrückbar macht. Erörterungen über Erziehung nehmen in den ,Nomoi' einen breiten Raum ein. Die beiden ersten Bücher und das siebente Buch beschäftigen sich ausschließlich mit diesem Gegenstand. Doch damit ist die Bedeutung der ,Gesetze' für die Paideia keineswegs erschöpft. I m Sinne Piatos ist das ganze Werk dem Aufbau eines gewaltigen Systems der Erziehung gewidmet. Seine Beziehung zu dem Problem Paideia findet sich grundsätzlich am klarsten an einer Stelle des neunten Buchs ausgesprochen, die ihrerseits ein schon vorher im vierten Buch auftretendes Motiv wieder aufnimmt und variiert 14 . Es ist der Vergleich des schlechten Gesetzgebers mit dem Sklavenarzt, der von einem Kranken zum anderen eilt und ohne Angabe von [III

1291]

1167

Gründen oder vollständige Untersuchung rasch und diktatorisch seine Vorschriften gibt, so wie er sie aus der Überlieferung anderer wie aus eigener Erfahrung kennt und anzuwenden gewohnt ist. Der Arzt, der freie Bürger behandelt, erscheint verglichen mit ihm wie ein Philosoph. Er spricht mit dem Kranken wie mit einem Schüler, der bewußt zur Erkenntnis der Ursache einer Erscheinung geführt werden soll. Der Sklavenarzt würde diese umständliche Art der Belehrung nicht verstehen und seinem Kollegen, wenn er ihm zuhörte, sagen: du behandelst deinen Patienten ja nicht, sondern erziehst ihn, als wolltest du einen Arzt aus ihm machen, nicht als wolltest du ihn gesund sehen11. Auf dem Niveau des Sklavendoktors stehen alle gegenwärtigen Gesetzgeber. Sie sind keine wahren Arzte, weil sie keine Erzieher sind. Das aber ist das Ziel der Bemühungen Piatos in den ,Nomoi': er will ein Gesetzgeber im höchsten Sinne, das heißt aber: er will der Erzieher der Bürger sein. Der Unterschied dieser Art, seine Aufgabe anzufassen, von den gewöhnlichen Gesetzgebern zeigt sich in seiner Geringschätzung von Gesetzesvorschriften der üblichen Art, in denen lediglich für bestimmte Tatbestände ein bestimmtes Strafmaß festgesetzt wird. Die Tätigkeit des Gesetzgebers setzt dabei zu spät ein; denn es ist nicht sein wichtigster Beruf, geschehenes Unrecht zu ahnden, sondern zu verhüten, daß U n · recht geschieht. Plato folgt hier dem Beispiel der ärztlichen Wissenschaft und ihrer eben damals zunehmenden Tendenz, nicht den Kranken, sondern den Gesunden als den eigentlichen Gegenstand ihrer Fürsorge zu betrachten. Dem entsprach die erhöhte, ja führende Bedeutung, die man in der Medizin der Diätetik beimaß. Sie war die Kunst, die Menschen gesund zu erhalten, indem man ihnen die richtige Lebensweise vorschrieb. Denn unter Diaita versteht die griechische Medizin nicht nur die „Diät" im heutigen Sinne, d. h. den Speisezettel für Kranke, sondern allgemein die Lebensweise jedes gesunden Menschen. Es ist früher von uns gezeigt worden, daß sich in dem wachsenden Interesse der griechischen Ärzte filr die Diätetik der Einfluß des erzieherischen Gedankens auf die Medizin fühlbar macht. Es ist der Zweck Piatos in den jNomoi', aus der schon im ,Gorgias' von ihm aufgestellten Parallele zwischen Körper- und Seelenpäege, ärztlichem und politischem Tun die Konsequenz zu ziehen und den Paideiagedanken 1168

[III1292]

auf dem Felde der Gesetzgebung zum Siege zu führen. War es im ,Staat' sein Bemühen gewesen, durch die Vollkommenheit der Erziehung jede Gesetzgebung überflüssig zu machen 1 ·, so geht er in den ,Nomoi' von der Annahme aus, daß Gesetze normalerweise im Staatsleben unentbehrlich sind. Er sucht jetzt die Gesetzgebung selbst dem erzieherischen Prinzip zu unterwerfen und zu seinem Werkzeug zu machen, wie er in der ,Politela' den Staat als ganzen zum Erziehungsinstitut gemacht hatte. Das Mittel, dessen er sich zu diesem Zweck bedient, sind die Gesetzesproömien, auf deren Begriffsbestimmung und Ausarbeitung im einzelnen er besondere Mühe verwandt hat. An der grundlegenden Stelle des vierten Buchs unterscheidet er überredende und befehlende Darlegungen des Gesetzgebers17. Er sieht die Aufgabe des überredenden Teils, der in den Proömien der Gesetze niedergelegt ist, in der Aufstellung und Begründung der Form des richtigen Handelns 18 . Dieser Teil soll sehr ausführlich gehalten werden und nicht nur für den Gebrauch des Richters bestimmt sein, sondern sich an alle Bürger wenden. Schon der Sophist Protagoras spricht in Piatos nach ihm benannten Dialog den Gedanken aus, daß, wenn die junge Generation der Schule entwachsen ist und ins Leben tritt, eine neue Phase ihrer Erziehung beginnt; jetzt wird für all ihr Tun und Lassen im praktischen Leben das Gesetz des Staates ihr Lehrmeister 19 . Das Gesetz ist also der eigentliche Träger aller Erziehung der Erwachsenen zur Bürgertugend. Protagoras will damit nichts Neues aussprechen, er beschreibt nur den tatsächlichen Zustand jeder griechischen Polis. Plato geht von dieser Tatsache als etwas Gegebenem aus, doch er will dieser Bedeutung des Gesetzes als Erzieher durch seine Reform des gesetzgeberischen Stils bewußt Rechnung tragen. In der großen Art, wie er sein Werk als Erzieher von Anfang an angreift, macht er seine Philosophie zum Sammelpunkt aller positiven erzieherischen Kräfte, und wie er zuvor die sokratische Dialektik, den Eros, das Symposion, den Staat, in diesen geistigen Aufbau eingeordnet hat, so tritt er am Ende seines Lebens in der Rolle des Gesetzgebers vor uns hin als der letzte jener grandiosen Reihe geschichtlicher Gestalten, der Lykurg und Solon angehören, und mit einer feierlich altertümlichen, zu diesem Zweck gebildeten Sprache verkündigt er seine Satzungen 10 . Für griechisches Denken [III1293J

1169

ist Gesetzgebung im wahren Sinne stets die Schöpfung der überlegenen Weisheit einer einzelnen göttlichen Persönlichkeit gewesen. So offenbart sich auch die höchste philosophische „Tugend" des platonischen Staats, die Sophia, zuletzt in der Aufstellung von Gesetzen und findet darin ihre produktive Stellung im Leben der menschlichen Gemeinschaft, von der sie den, der sie besitzt, zuerst abzusondern schien. Der Philosoph wird Nomothet. Er ist in allen Stücken jenen großen alten Repräsentanten griechischer Gesetzgebung gleich; nur darin ist er von ihnen verschieden, daß er das, was potentiell in ihrem Werk enthalten war, zum bewußt gestaltenden Grundprinzip macht, den Gedanken, daß der Gesetzgeber die Urerscheinung des Erziehers ist. Als solcher erscheint er bereits im .Symposion', wo Plato den Gesetzgeber in dieser Hinsicht neben den Dichter stellt, wie dies auch andere griechische Schriftsteller getan haben. Weil Piatos Philosophieren von Anfang bis zu Ende ein Werk der Erziehung war und er diesen Begriff in seinem tiefsten Sinne gefaßt hat, mußte er als Gesetzgeber enden.

Der Geist der Gesetze und die wahre Bildung

Wie der ,Staat' mit dem allgemeinen Problem der Gerechtigkeit beginnt, so geht Plato in den ,Nomoi' von dem Geist der Gesetze aus, der in einem wirklichen Staat alles Einzelne mit seinem Ethos durchdringt. Von dieser platonischen Vorstellung des „Ethos der Gesetze" nahm Montesquieus berühmter Essay ,L'esprit des lois' seinen Ursprung, der für die Entwicklung des modernen Staatslebens so unabsehbare Folgen gehabt hat. Plato wählt zur Veranschaulichung seines Begriffs des Staatsgeistes einen bestimmten Typus des staatlichen Lebens aus, der seine Aufmerksamkeit von jeher gefesselt hatte, den dorischen Staat. Er läßt daher zwei Vertreter dieses griechischen Stammes, einen Spartaner und einen Kreter, als Sprecher in seinem Dialog auftreten. Das war ein glücklicher Griff, nicht nur weil dies ein gutes Beispiel ist für den Einfluß einer starken politischen Eigenart auf die materiellen Einzelheiten der Gesetzgebung, sondern auch darum, weil damit sogleich die philosophische Frage des besten Staatsethos zur Erörterung gestellt wird. Denn der politischen Theorie zur Zeit Piatos 1170

[III1294]

galten Sparta und Kreta meist als die Staaten Griechenlands mit bester Verfassung 21 . Doch als Dritten und Hauptunterredner hat Plato neben die beiden typischen Dorer, die in geistigei Hinsicht wie Zwillingsbrüder wirken, den „athenischen Fremdling" gestellt, eine Persönlichkeit von geheimnisvoller, souveräner Überlegenheit, die von den beiden Dorern trotz ihrer heftigen Abneigung gegen das Durchschnittsathenertum willig anerkannt wird. Denn wenn ein Athener ausnahmsweise einmal gut ist, so erklärt Megillos als feststehende Überzeugung, ist er meistens etwas wirklich Hervorragendes12. Dieser Grad der Objektivität wird von Plato bei ihm, dem Spartaner, ausdrücklich durch die Fiktion glaubhaft gemacht, daß Megillos athenischer Konsul oder Proxenos in seiner Vaterstadt ist und sich daher seit langem mit diesem Problem in sympathischer Weise beschäftigt hat 23 . Er ist ein athenisierter Spartaner, wie der Fremdling seinerseits ein spartanerfreundlicher Athener ist. Diese Wahl der Personen ist symbolisch. In konkreterer Form als irgendein anderes Werk zeigen die ,Nomoi' das Bestreben Piatos, das ilrn von Anfang an leitet, dorisches und athenisches Wesen in einer höheren Einheit aufzuheben. Es ist etwa zu vergleichen mit den Versuchen späterer Humanisten, den Geist Griechenlands und Roms zu einer Harmonie der Gegensätze zu vereinigen. Auch in Piatos Synthese in den ,Gesetzen* ist derselbe geschichtsphilosophische Geist am Werke und sucht, ausgehend vom Historisch-Gegebenen und Individuellen, zu einem Vollkommenen und Absoluten vorzudringen. Das sichert dieser Schrift das Interesse aller Humanisten, auch abgesehen von der Frage der besten Erziehung, die in ihr erörtert wird. Die Stämme verkörpern in einseitiger, aber bodenständiger und naturstarker Form die Grundkraft der griechischen Nation. Ihr Streben nach Alleinherrschaft und gegenseitiger Vernichtung durch Gewalt sucht Plato durch den Hinweis auf die gemeinsame Abstammung zu hemmen. Doch dieser Panhellenismus bedeutet ihm nicht das Ideal der Nivellierung aller Unterschiede und ihrer Auflösung in ein verwaschenes Durchschnittsgriechentum, um sie auf diese Weise handlicher zu machen. Das Schlimmste, was geschehen könnte, ist nach Plato die Mischung aller griechischen Stämme miteinander 24 . Sie wird von ihm als gleiches Übel wie die von Griechen und Barbaren angesehen. [111/295]

1171

Der athenische Fremde ist vorübergehend in Kreta anwesend und wird von den beiden dorischen Sprechern in ein Gespräch über die besten Gesetze gezogen, ein Problem, das durch die bevorstehende Entsendung einer Kolonie für sie recht aktuell ist. Die neu gegründete kretische Polis soll die den Umständen nach bestmögliche Verfassung erhalten. So ist es natürlich, daß vom Wesen des Staates und der menschlichen Arete ausgegangen wird und daß beides zunächst, der dorischen Umgebung entsprechend, im Sinne dorischer Staatsauffassung und Ethik bestimmt wird. Dieser Ausgangspunkt der Unterhaltung muß besonders dem Leser der ,Politeia' willkommen sein, da schon in jenem Werk der spartanische Einschlag so fühlbar ist, daß eine offene Stellungnahme Piatos zu der Idee „Sparta" erwünscht ist. Zwar wird in der,Politela' das geschichtliche Sparta bei der Konstruktion des besten Staates kaum berührt, da Plato sich dort durchgehende im Reich des Ideellen bewegt. Aber in der Reihe der entarteten Verfassungen erscheint die spartanische Timokratie als die dem Ideal am nächsten kommende Verfassungsform der empirischen Wirklichkeit23, und viele Züge des platonischen Staatsbildes sind direkt von dem spartanischen Vorbild entlehnt oder erweisen sich als spartanische Einrichtungen, die von dem Philosophen in eine höhere, vergeistigte Form umgesetzt werden. Bei diesem Verfahren mag es leicht so erscheinen, als wäre der Schritt von der spartanischen zu der platonischen Staatsidee nur ein verhältnismäßig kleiner. Von dem idealisierten Sparta der platonischen Politie fällt ein Schimmer der Verklärung auf das irdische Vorbild zurück. Dieses Bild ändert sich in den ,Nomoi' ; denn obgleich alles, was Plato über dorische Staatsauffassung und Tradition sagt, von wahrer Ehrfurcht erfüllt ist, ist seine Stellungnahme hier doch die des ausgesprochenen und grundsätzlichen Gegensatzes. Dies mußte notwendig der Fall sein, sobald das konkrete geschichtliche Sparta in seinem Gesamtgeist philosophisch zur Erörterung gestellt wurde. Von einem einseitigen Spartanertum kann bei Plato nirgendwo die Rede sein; die ,Nomoi' bilden darin den besten Kommentar zur ,Politela'. Niemand konnte zwar mehr als Plato überzeugt sein von dem Wert des Beitrages, den das Dorertum bei dem Aufbau der ethischen und politischen Kultur Griechenlands und der Menschheit geleistet hatte. Aber sobald er an die individuelle 1172

[IIH296J

geschichtliche Erscheinung als solche herantrat, wurde sie ihm notwendig zur bloßen Stufe im Ganzen seines philosophischen Kosmos der Werte, und ihr beschränktes Recht mußte ihr von einem höheren Prinzip aus zugemessen werden. An Stelle des einfachen Gegensatzes von geschichtlicher Erscheinung und absoluter Norm, wie wir ihn in Piatos ,Staat' finden, tritt in den ,Nomoi' ein in mehreren solchen Stufen sich aufbauendes Bild der wahren menschlichen Vollkommenheit, dessen Stufen jeweils bestimmten geschichtlichen Erscheinungen entsprechen und untereinander im Verhältnis des dialektischen Fortschritts vom Niedrigeren zum Höheren stehen. Damit haben wir in den ,Nomoi* die Elemente einer Geschichtsphilosophie, so wenig auch die Schematik der platonischen Gegensätze dem verfeinerten Bedürfiiis des modernen geschichtlichen Bewußtseins nach individuellem Verstehen der einzelnen Erscheinung genügen mag. Auf alle Fälle ist in ihnen die Richtung auf das geschichtlich Konkrete deutlich erkennbar, die mit der normativen Haltung in eine höhere Einheit eingeht. Das ist die Folge einer Betrachtungsweise, die, wie Plato in den .Gesetzen' es macht, die geschichtlichen Ausprägungen des Geistes in Literatur und Dichtung als Repräsentanten der menschlichen Arete ansieht und in ihrem relativen Wert innerhalb der Gesamtwelt der Paideia zu bestimmen sucht 26 . Für die griechische Paideia der Zeit Piatos ist der spartanische Geist durch die Gedichte des Tyrtaios repräsentiert. Sie sind sein maßgebender Ausdruck sowohl für die Spartaner selbst, die diese Verse von Jugend an auswendig lernen und ganz mit ihnen „gesättigt" sind47, wie für die übrigen Griechen, die darin die Eigenart spartanischer Arete verkörpert sehen28. So war es seit Jahrhunderten gewesen, und so blieb es, soweit das spartanische Element in der griechischen Gesamtkultur sich erhielt, auch in der Folgezeit, wie ein jüngst inschriftlich wiedergefundenes hellenistisches Gedicht aufs schönste anschaulich macht. Es setzt einem für seine Vaterstadt gefallenen Erzieher und Lehrer die Worte aufs Grab, daß er seine Paideia, wie sie in den Gedichten des Tyrtaios niedergelegt sei, durch die Tat bewährt habe 29 . Ganz so faßt auch Plato die Werke des dorischen Dichters als Urkunden und Gesetze menschlicher Arete auf. Aber so gewiß er sich mit der Rezeption des spartanischen Gebots einverstanden erklärt, das die Ver[¡111297]

1173

teidigung des Vaterlandes jedem Bürger zur höchsten Pflicht macht, handelt es sich ihm in den ,Nomoi' noch um etwas Größeres und Grundsätzlicheres: um den letzten Maßstab der menschlichen Tugend und Vollkommenheit, der den Ermahnungen des Tyrtaios zur Tapferkeit zugrunde liegt 30 . Plato gründet in den beiden ersten Büchern der ,Gesetze' auf die Interpretation des Tyrtaios seine gesamte Auseinandersetzung mit dem Staatsethos und dem Aretegedanken Spartas, von der dann seine praktische Haltung zu den spartanischen und kretischen Einrichtungen bestimmt wird. Mit anderen Worten: die Uridee der menschlichen Arete, mit der der Gesetzgeber das Leben der Bürger im einzelnen zu durchdringen strebt, ist bei dem Dichter, dem höchsten Gesetzgeber des menschlichen Lebens, zu suchen. Dieses Erwachsen des erzieherischen Ideals unmittelbar aus der historischen Substanz ist das eigentümlich Humanistische an Piatos Haltung. Die Dichter erscheinen durchweg als klassische Repräsentanten geltender Werte. Aber zugleich sind sie eben dadurch auf einen höchsten Maßstab bezogen, und die dialektische Prüfung dieses Maßstabes ist der Beitrag der Philosophie zum Aufbau der Paideia. Was die Gedichte des Tyrtaios und die Einrichtungen des spartanischen wie des kretischen Gemeinwesens als die dorische Auffassung der menschlichen Arete erkennen lassen, läßt sich in dem Satz zusammenfassen, daß der Kampf das Wesen des Lebens ist. Alle Formen des Zusammenlebens und alle sittlichen Anschauungen, die es beherrschen, sind diesem Zweck angepaßt 81 . Die philosophische Auseinandersetzung mit Sparta beginnt damit, diesen allgemeinen Zug in allen Einzelheiten des spartanischen Lebens zu erfassen und bewußt zu sehen. Das Zeugnis des Dichters wird nur bestätigend hinzugenommen; es dient zugleich dazu, die Einseitigkeit dieses Ideals klarzumachen. Wo man den Sieg als einzigen Sinn des Daseins ansieht, wird die Tapferkeit notwendig zur einzigen Tugend 32 . Wir haben den Streit um die Rezeption der Tugenden seit den Tagen, als Tyrtaios den Primat des spartanischen Mannesideals der Welt verkündete, als eines ihrer größten Themen durch die griechische Dichtung verfolgt. Plato nimmt dieses philosophische Problem wieder auf und entscheidet den alten Streit zwischen Tyrtaios, der die Tapferkeit pries, und Theognis, der lehrte, daß in der Gerechtigkeit alle Arete zusammengefaßt 1174

1111/298]

sei, zugunsten des letzteren 33 . Der entscheidende Schritt über das altdorische Ideal hinaus war die Gründung des Rechtsstaates. Man mußte lernen, zwischen Tapferkeit im gerechten und ungerechten Kampf zu unterscheiden und einzusehen, daß Tapferkeit im Verein mit den übrigen Tugenden: Gerechtigkeit, Mäßigung und Gottesfurcht, besser ist als Tapferkeit allein31. Tyrtaios muß also durch Theognis korrigiert werden. Nur die gesamte Tugend (πδσα άρετή) darf das Ziel unserer Gesetzgebung sein35. Aber das eine haben wir von den dorischen Gesetzgebern zu lernen, daß es nötig ist, bewußt von einem bestimmten Menschenideal und Begriff der Arete auszugehen. Darin müssen sie wirklich das Vorbild für jede künftige Gesetzgebimg sein36. Den vier Tugenden der Seele, die Plato hier auch als göttliche Güter bezeichnet37, sind die menschlichen Güter wie Gesundheit, Kraft, Schönheit und Reichtum unterzuordnen 38 . Wo die göttlichen Güter gepflegt werden, stellen die menschlichen sich von selbst ein. Wo man nur nach den letzteren trachtet, wird man beide gleichermaßen verlieren 39 . Die höheren enthalten, wie schon Theognis es von der Gerechtigkeit sagte, stets die niedrigeren Güter oder Tugenden in sich40. Doch die wahre Einheit, die sie alle, göttliche wie menschliche, umfaßt, ist die Phronesis, die Arete des Geistes41. Wie die Gesetzgebung eine bestimmte Tugend zu kultivieren imstande ist, zeigt Plato an der Art, wie in Sparta und Kreta die Tapferkeit durch die Einrichtung der gemeinsamen Männermahle oder Syssitien, durch ein System kriegerischer Leibesübungen, durch Jagd und alle Arten von Abhärtung gezüchtet wird 42 . Doch das spartanische Tapferkeitsideal kennt nur eine Erziehung zur Standhaftigkeit gegen Furcht oder Schmerz, nicht gegen die Verlockungen der Lust43. Das ist ein Mangel an Konsequenz, der schwächliche Nachgiebigkeit gegen die Begierde zur Folge hat. In der Tat fehlt es in dem dorischen System durchaus an entsprechenden Einrichtungen zur systematischen Züchtung der Mäßigung und Selbstdisziplin44. Denn die Wirkung der Syssitien und des Exerzierreglements in dieser Beziehung sind ziemlich zweifelhaft45. Der Athener greift die dorische Knabenliebe als widernatürliche Entartung des normalen Geschlechtslebens an und tadelt die sexuelle Ungebundenheit der spartanischen Frauen 44 . Das spartanische Vorurteil gegen Symposien und Weingenuß erscheint ihm [III1299]

1175

nicht als geeignetes Mittel, zur Sophrosyne zu erziehen, sondern umgekehrt als eine Flucht vor der eigenen Disziplinlosigkeit. Der Alköholgenuß als solcher ist wie so viele andere sogenannte Güter des Lebens als solcher in Wahrheit weder gut noch schlecht 47 . Plato fordert strenge Disziplin beim Gelage und bestellt als ihr Organ einen guten Präsiden, der die chaotischen und wilden Elemente zum richtigen Kosmos bändigt 48 . Welchen Nutzen hat ein „wohlerzogenes Symposion" für den einzelnen oder für die Polis 48 ? Von einem solchen Nutzen wissen die Gesetze Spartas nichts, da es dort an jeder Erfahrung in dieser Hinsicht fehlt 50 . Plato macht die Frage des Antialkoholismus zum Gegenstand einer langen Spezialuntersuchung, die sich durch die ersten beiden Bücher der ,Gesetze' zieht und ihm dazu dient, nicht nur seine Kritik an dem spartanischen Gesetz, sondern seine eigenen Gedanken über Paideia und besonders über die Erziehung des Trieblebens zu entwickeln. Dieser Altersstil ist charakteristisch in seinem philologischen Wichtignehmen eines bestimmten Einzelproblems, von dem aus Plato sich dann den Weg zu allgemeinen Erkenntnissen bahnt. Der Wert des Symposion ist der gleiche wie der jeder Paideia, etwa der Ausbildung eines Chores 51 . Die Ausbildung des einzelnen Individuums ist für das Ganze nicht von erheblichem Wert, doch die Erziehung der Erzogenen 52 in ihrer Gesamtheit ist von höchster Bedeutung für die Polis; denn sie macht sie zu Männern von wirklicher Tüchtigkeit, die alles recht machen und auch fähig sind, den Feind zu besiegen, was man in Sparta j a zum höchsten Maßstab der Arete macht 53 . Denn Kultur (παιδεία) bewirkt Sieg, nicht aber Sieg immer auch Kultur; oft sogar ist Unkultur (άτταιδευσία) seine Folge 54 . Ein Sieg, der Hybris in den Menschen großzieht, ist ein kadmeischer Sieg. Aber noch niemals hat es eine kadmeische Paideia gegeben 55 . U m die erzieherische Macht des Symposion zu erweisen, bedarf es seiner Einordnung in den Rahmen der Paideia im ganzen und seiner Verknüpfung mit der musischen Bildung 56 . So ist Plato genötigt, das Wesen und die Wirkung der Paideia zu bestimmen, und er fugt hinzu: „Durch sie muß unsere Erörterung hindurchgehen, bis sie zu Gott gelangt" 57 . Diese Verbindung der Philosophie der Erziehung mit dem höchsten Wesen erinnert an die Verankerung der Paideia in Piatos ,Staat' in der Idee des Guten 5 8 . 1176

[HI/300]

Aber während im ,Staat' aller Nachdruck auf der höchsten Stufe der Paideia lag und Plato bemüht war, ihren Begriff vom „Pais" möglichst loszulösen, geht er in den ,Gesetzen' umgekehrt vom frühen Kindesalter aus 59 . Was ihn mehr und mehr fesselt, ist die Verwurzelung der bewußten, rationalen Schicht der Paideia — ihres eigentlich philosophischen Elements, wie es scheinen möchte, — in der vorrationalen, unbewußten oder halbbewußten Schicht des seelischen Lebens. Im Grunde war die Erkenntnis dieser Zusammenhänge im ,Staat', wie wir dort gezeigt haben, bereits vorhanden, bemerkenswert ist nur, daß Plato sich auf das psychologische Wie in den ,Nomoi' so nachhaltig konzentriert. Das Hauptstück der Paideia ist die richtige Aufzucht, heißt es jetzt 40 . Sie soll in der Seele des Kindes wie im Spiel das Verlangen wecken nach dem, worin der Mann es später zur Vollendung bringen soll. Auch der Gedanke der Trophe ist uns schon im,Staat' als etwas fur Plato Charakteristisches begegnet. Die Bedingtheit der vollendeten Arete in jedem Bereiche durch die Art, wie der Mensch oder das lebende Wesen,aufwächst, das Pflanzenhafte in aller ethischen wie biologischen Vollkommenheit, war dort mit voller Klarheit ausgesprochen. Das mußte Plato zur Untersuchung der Entwicklung des Trieblebens im jugendlichen Alter führen und zu der Frage, wie Lust und Unlust, deren Reaktionen in der Kindheit besonders stark sind, in den Dienst der Erziehung gezogen werden können. Paideia wird jetzt vielfach die Ausbildung in jeder Art von Tätigkeit genannt, so erklärt Plato, und wir reden von Bildung oder Unbildung im Krämer- oder Schifferberuf oder in irgendwelchen anderen ähnlichen Betätigungen 61 . Doch wenn wir Paideia von unserem Standort aus betrachten, d. h. vom Standort eines Erziehers, der im Staate ein bestimmtes Ethos, einen allgemeinen Geist erzeugen will, der alles durchdringt, dann müssen wir unter Bildung vielmehr die von Kindesbeinen an einsetzende Erziehung zur Arete verstehen, die in dem Menschen das Verlangen weckt, ein vollkommener Bürger zu werden, der gelernt hat, dem Rechte gemäß zu befehlen und zu gehorchen*3. Allen anderen Arten von Ausbildung, die sich nur auf Spezielles beziehen, müssen wir den Namen Bildung, Paideia, streng genommen absprechen. Sie sind banausisch und zielen auf Gelderwerb oder [III 1301]

1177

irgendeine bestimmte Fähigkeit oder Kenntnis, die des leitenden geistigen Prinzips und rechtlichen Zwecks entbehrt oder ein bloßes Mittel und Werkzeug ist· 3 . Doch Plato will mit anderen nicht über das Wort Paideia streiten; worauf es ihm ankommt, ist lediglich, daß die richtige Auffassung ihres Wesens zur Grundlage aller gesetzgeberischen Tätigkeit genommen wird. Denn ihm steht fest, daß die richtig Erzogenen im allgemeinen vortreffliche Männer werden. Die echte Bildung darf auf keinen Fall gering geschätzt werden, denn sie ist gerade fur die Besten unter den Menschen der höchste aller idealen Werte (ττρωτον των καλλίστων). Geht sie einmal aus, ist aber ihre Wiederherstellung möglich, so muß jeder sein Leben lang aus allen Kräften dies zu erreichen versuchen®1. In diesen Worten hat Plato sich selbst und sein Lebenswerk charakterisiert. Wie er die Lage sah, die er vorfand, hat er hier deutlich gesagt. Es ist der Zerfall der echten Paideia, die stets Bildung des Menschen zu der „ganzen Arete" war, in lauter spezielle Fähigkeiten ohne ein beherrschendes Ziel46. Piatos Philosophie will dem Leben der Menschen dieses Ziel wiedergeben und damit allen zersplitterten Einzelbereichen des Daseins von neuem Sinn und Einheit verleihen. Er muß empfunden haben, daß seine Zeit trotz des erstaunlichen Reichtums an speziellen Fähigkeiten und Kenntnissen, der in ihr sich anhäufte, in Wahrheit eine „Abnahme" der Kultur bedeutete. Was er unter Wiederherstellung der Paideia versteht, hat er durch den Gegensatz der wahren Menschenbildung, nach der er sucht, zu aller bloßen Speziai- und Berufsbildung klargemacht. Diese Ganzheit der Arete, und das heißt die Ganzheit des Menschen und des Lebens, fìlr seine Zeit wiederzugewinnen, war die schwerste aller Aufgaben, unvergleichbar mit irgendeiner anderen speziellen Erkenntnisleistung, die der philosophische Geist vollbringen mochte. Wie Plato sich die Lösung gedacht hat, ist am besten axis der ,Politela* ersichtlich; denn ihr Aufbau beruht darauf, daß die Idee des Guten, das Urprinzip aller Werte, beherrschend in den Mittelpunkt des Kosmos gestellt wird. Die entscheidende Erkenntnis für die Erziehung ist, daß sie von diesem Bild des Kosmos auszugehen hat. Sie muß um die Idee des Guten als ihre Zentralsonne kreisen. So finden wir denn auch an unserer Stelle der ,Nomoi'die wahre Paideia auf das Göttliche, wie Plato sich hier ausdrückt, bezogen*7. 1178

IUI1302]

Es ist für dieses Werk wie fur alle Werke nach dem ,Staat' charakteristisch, daß in ihm von dem Göttlichen oder Gott viel die Rede ist, sei es, daß Plato eine ursprüngliche Scheu gegenüber dieser Bezeichnung seines Prinzips später aufgegeben hat, oder sei es, daß ihre unbedenkliche Verwendung hier eine andere Stufe der Erkenntnis anzeigt, die der Doxa nähersteht. Doch auch hier zeigt Plato sich wie überall in den ,Nomoi' stark an dem psychologischen Zusammenhang interessiert, durch den das höchste Prinzip in der Seele des Menschen wirkt· Er macht ihn anschaulich durch das Bild (Eikón) des Puppentheaters, in welchem der Mensch die Puppe ist, die auf der Bühne des Lebens spielt®8. Mögen wir nur als ein bloßes Spielzeug Gottes oder zu einem ernsten Zweck geschaffen sein — denn das vermögen wir nicht zu erkennen —, soviel sehen wir klar, daß die Triebe und Vorstellungen unserer Seele die Bänder sind, die uns in verschiedene Richtungen ziehenββ. Während die Erwartung von Lust und Unlust unser Triebleben in Gestalt der Gefühle des Muts und der Furcht bewegen, sagt wertende Überlegung (λογισμός) uns, welche von diesen Regungen besser oder schlechter sind. Wenn solche Überlegung gemeinsamer Beschluß der Polis wird, nennen wir sie Gesetz70. Dem zarten goldenen Band, an dem der Logos die Seele lenkt, soll sie nachgeben, nicht den harten, eisernen Drähten der Triebe. J e sanfter und weniger gewaltsam die Überlegung unsere Seele leitet, umso mehr bedarf sie der Mitwirkung von innen her 71 . Das Band des Logos ist aber, wie wir sahen, nichts anderes als das, was im Staat der Nomos befiehlt. Gott oder einer, der ihn erkennt, gibt der Polis den Logos, und sie erhebt ihn zum Gesetz, welches dann ihren Verkehr mit sich selbst und mit anderen Staaten reguliert72. Den Gehorsam der Seele gegen den Logos nennen wir Selbstbeherrschung. Damit ist auch das Wesen der Paideia klargemacht. Sie ist Leitung des menschlichen Lebens am Bande des Logos, das von göttlicher Hand bewegt wird n . Doch hier fallt ein wesentlicher Unterschied der ,Nomoi£ von der ,Politeia' uns ins Auge. In der ,Politeia' war die Idee des Guten als das Vorbild gefaßt, das der Herrscher und Philosoph in der eigenen Seele trägt 74 . Die ,Nomoi' drängen zu größerer Konkretheit. Sie setzen eine Menschheit voraus, die genau wissen will, wie und was. Sie bedarf der Gesetze für alle Einzelheiten des Handelns. In diesem Moment [111/303]

1179

taucht die Frage auf, wie jener göttliche Logos seinen Weg zu den Menschen herabfinden und sich zur politischen Einrichtung verwandeln soll. Plato scheint zwar an irgendeine Form der Zustimmung der Gesamtheit zu denken76, doch entscheidend ist ihm, daß ein einzelner Mensch, der das Göttliche erkennt, zum Gesetzgeber für die Polis wird. Er nähert sich damit der Offenbarung7®. Von hier aus ergibt sich, was Plato mit der erzieherischen Wirkimg der Sitte der Symposien meint, deren Fehlen in dem spartanischen System er tadelt77. Sein Ideal der Paideia ist seinem innersten Wesen nach Selbstbeherrschung, nicht Beherrschung anderer durch äußere Gewalt, wie das der Spartaner 78 . Als Erzieher sucht er nach einem Test für die von ihm am höchsten bewertete Eigenschaft, einen solchen aber bedeutet ihm der Rausch, den der Alkohol bewirkt. Er macht die Lustgefühle intensiver und schwächt die geistigen Kräfte ab. Der kindliche Zustand kehrt gleichsam zurück79. Dieser Moment wird zur Prüfung für die Stärke der unbewußt wirkenden Hemmungsfaktoren der Scham und Scheu. Wie wir den Menschen nur dadurch zur Furchtlosigkeit erziehen können, daß wir ihn mit furchterregenden Eindrücken in Berührung bringen, so muß die Seele auch der Versuchung durch die Lust ausgesetzt werden, um sie gegen diese abzuhärten w . Die Kasuistik der Lustarten, für die dieser Test gedacht ist, läßt Plato unausgeführt. Er deutet sie nur an 81. Dagegen liegt ihm daran, den Zusammenhang der Paideia mit dem „Pais", dem Kindesalter, so eindringlich wie möglich einzuprägen 82 . Im ,Staate' hatte er ihre Entfaltung nach oben hin, in die Baumkronen der höchsten Geisteskultur, verfolgt, in den ,Gesetzen' steigt er zu ihren Wurzeln hinab, der Zähmimg des Trieblebens durch den Logos. Im frühen Kindesalter hat die Erziehung es fast ausschließlich mit den Lustund Unlustgefühlen und ihrer Formung zu tun. Sie sind ihr eigentliches Material. Die Paideia wird, so gefaßt, zur Pädagogik 83 . Es bedarf keines Wortes, daß diese Wendung die frühere hohe Idee der Paideia nicht ausschließt und sie nicht verdrängen soll. Doch sie ist ein neuer, vielverheißender Nebenschößling des Baumes der platonischen Paideiaphilosophie, der unmittelbar neben dem Stamm von der Wurzel aufsprießt. Von dem Gelingen dieser ersten frühesten Behandlung des Ethos im Kindesalter sieht Plato jetzt mehr und mehr alle spätere Erziehung abhängig. Das war eine 1180

[III/304]

unvermeidliche Entdeckung für den, der die sokratische Gleichung von Tugend und Wissen zum Ausgangspunkt seiner Paideia genommen hatte. Plato wird nicht an dieser Lehre an sich irre, wie es scheinen könnte, doch er verlegt den Einsatz der erzieherischen Tätigkeit in immer frühere Stadien. Schon der ,Staat* hatte damit den Anfang gemacht, aber dort war es noch mehr der frühe Beginn der geistigen Propaideia, was ihn beschäftigte und zu diesem Zurückgehen veranlaßte. Jetzt sind es die Triebe, die er so zeitig wie möglich mit seiner Formung erfassen will, damit das Kind von Anfang an wie spielend lerne, sich zu gewöhnen, das Rechte zu lieben und das Schlechte zu hassen84. Die Arbeit des eigenen Logos kann auf späterer Stufe nur dann glücken, wenn der Logos eines anderen, des Erziehers oder der Eltern, ihm auf unbewußter Stufe vorgearbeitet hat. Alle Arete, soweit sie Arete des Ethos ist, also sittliche Bildung in unserem Sinne, beruht auf der Symphonie von Einsicht und Gewöhnung. Paideia ist die dieser Symphonie zugrunde liegende Formung der Lust und Unlustgefühle 85 . Plato erreicht hier den Punkt, von dem die Ethik des Aristoteles, die es ebenso in erster Linie mit dem Ethos zu tun hat, ausgeht M . Die Entwicklung von der sokratischen Forderung des Tugendwissens zu der spätplatonisch-aristotelischen, bis in alle Einzelheiten ausgebildeten Ethoslehre, die die Wurzel aller modernen „Ethik" wurde, ist bestimmt worden durch die Tatsache, daß sie Paideia sein wollte. Ihr Weg führte von der reinen Erkenntnis der Norm zur Einsicht in das Wesen und die Behandlung der Seele. Nach einer Periode, in der es als höchstes Ziel erschien, die bewußte Einsicht und Erkenntnis immer mehr zu vertiefen im Vertrauen auf die Wirkung, die diese Steigerung und Vertiefung auf die gesamte sittliche Kultur der Persönlichkeit ausüben müsse, tritt in dem Alterswerk Piatos der althellenische Gedanke der Formung des Menschen wieder ganz in den Vordergrund, und er sieht seine Wahrheit in neuem Lichte. Wir werden diese scheinbare Rückkehr vom Ideal zum Geschichtlichen ganz natürlich finden. Nachdem Plato mit seinem Vorstoß in der Richtung auf das reine Ideal den äußersten Punkt erreicht hat, führt ihn der Wunsch, es nach Möglichkeit zu verwirklichen und in die Welt hineinzubilden, zur Welt zurück und läßt ihn zum prometheischen Menschenformer werden. Schon in der ,Politela' fanden wir den [111/30η

1181

Formungsgedanken ausgesprochen. Doch es ist klar, daß er gegenüber dem Problem der Bildung der irrationalen Kräfte der Seele, mit dem die ,Gesetze' beschäftigt sind, noch weit mehr zu seinem Recht kommen muß. Hier handelt es sich um Formung im engsten Sinn des Wortes, um Haltung in Bewegung und Gebärde und in jeder Äußerung des inneren Ethos der Seele. Wenn Plato sich erst protestantisch an den Intellekt gewendet hatte, so enthüllt er jetzt die Bedeutung deijenigen Ausdruckselemente, deren frühe Prägung zu fester Form einen der wesentlichen Züge katholischer Erziehungsweisheit ausmacht. Damit treten altgriechische Bildimgsfaktoren, die uns längst vertraut sind, in bedeutsamer Weise von neuem in den Mittelpunkt des Interesses. Die musische Bildung des alten Hellas war Chortanz und Gesang gewesen. Sie hatten diese Funktion freilich in einer intellektualisierten Welt eingebüßt und lebten, vor allem in Athen, nur noch als Formen künstlerischer Produktion in hochkomplizierter Gestalt fort. Doch Plato vermißt in der jetzigen Erziehung einen wirklichen Ersatz fur sie, sobald er an sein Problem der frühen Formung des Ethos denkt. So gelangt er in den .Gesetzen* zu der Forderung der Wiedergeburt des althellenischen Reigentanzes als Grundelement der Jugendbildung. Das frühe Alter kennt keine Ruhe, es ist in rastloser Bewegung, die man nicht an eine Stelle bannen, sondern nur in bestimmte Richtung lenken kann 87 . Dem Menschen ist im Unterschiede von den anderen Tieren der Sinn fur Ordnung und Unordnung in den Bewegungen verliehen, was wir Rhythmus und Harmonie nennen. Hier haben wir ein klassisches Beispiel jener früh im Spiel zu entwickelnden Freude an richtigen und schönen Betätigungen, die der mächtigste Antrieb zur Entfaltung des sittlichen und künstlerischen Sinnes ist. Ungebildet ist, wer nicht durch die Schule der Freude an der rhythmischen Bewegung und Harmonie des Chorliedes hindurchgegangen ist. Der Gebildete ist der des schönen Tanzes Kundige88. Er hat den richtigen Maßstab in sich als untrügliches Gefiihl für schön und häßlich, wobei Plato das ethisch und ästhetisch Schöne als eine untrennbare Einheit faßt 89 . Eine solche Einheit des Ethischen und Ästhetischen gab es in der Kunst seiner Zeit kaum mehr. Doch der Philosoph wül sie in der Choretik, die er als Muster vor Augen hat, wiederherstellen. Das setzt eine absolute Norm des 1182

[III/306]

Schönen voraus90. Sie ist für den Erzieher, der alles auf diese künstlerische Grundlage stellen will, das größte Problem. Wer in der Assimilation des Ethos der ganzen Polis und ihrer Jugend an die gehörten Melodien und getanzten Rhythmen die Quelle aller Kultur und Erziehung sieht, kann nicht der individuellen Laune des Dichters, wie es „heute" geschieht, alles überlassen91. Plato hat sich nach einem Land umgesehen, wo es feste hieratische Formen der Kunst gibt, die aller Neuerungssucht und Willkür entzogen sind. Er findet diese nur in Ägypten, wo die Kunst scheinbar ohne Entwicklung ist und ein ungeheurer Sinn fur die Tradition das einmal Geheiligte streng festhält. Von seinem Standpunkt aus gewinnt er fUr diesen Zustand, wie es ihm scheint, ein neues Verständnis, ähnlich wie er sich in anderer Hinsicht für Sparta erwärmt02. Das Schicksal der Kunst scheint ihm davon abzuhängen, ob sie sich von dem hedonistischen und materialistischen Geschmack des Publikums zu befreien imstande sein wird. Cicero sagt einmal, daß der verfeinerte Geschmack des Publikums in Athen der Maßstab für die Höhe des künstlerischen Niveaus gewesen sei, und führt die Geschmacklosigkeit anderer Länder auf den Mangel eines solchen Kriteriums zurück93. Mit wie anderen Augen sieht Plato dieses Problem an, obgleich er mitten in der von Cicero als klassisch gepriesenen Zeit und Umwelt lebt Ihm erscheint das Publikum seiner Zeit, das nur auf Genuß aus ist, als der Verderber aller Kunst 84 . Der wahre Kunstrichter — und dabei denkt Plato wohl an die vom Staat eingesetzte Kommission, die in Athen die Preise fur die besten Leistungen bei öffentlichen Aufführungen festsetzte — darf nicht auf die Zuhörer hören, denn das verdirbt beide, Dichter und Hörerschaft. Er soll nicht Schüler, sondern Lehrer des Publikums sein. Der Lärm des Beifalls der Menge verbündet sich mit seiner eigenen Unbildung gegen das richtige Urteil und den guten Geschmack95. Wir sahen bereits, daß der einzige Maßstab des Publikums für eine künstlerische Leistung der Genuß ist, den. sie ihm bereitet. Wenn man aber wirklich einmal feststellte, was jedes Alter unter Genuß versteht und welche Kunstgattung es vorzieht, würde jedes eine andere wählen. Kinder würden den Zauberkünstler allen anderen Künstlern vorziehen, und auch die Erwachsenen sind in ihrem künstlerischem Urteil nicht viel besser96. [III/307]

1183

Eine feste Überlieferung in Dingen der Poesie gibt es innerhalb Griechenlands nur in Kreta und in Sparta, wo man sich an den alten Tyrtaios hält*7, doch, wie Plato vorher gezeigt hat, müßte dieser Dichter fur unseren Staat erst umgedichtet und an Stelle der Tapferkeit als oberster Wert die Gerechtigkeit gesetzt werden98. Plato wählt, um das am Beispiel zu erläutern, aus allen Gedichten des Tyrtaios dasjenige aus, das die Tapferkeit mit den übrigen Vorzügen eines Mannes vergleicht und ihr dann den Preis zuerkennt". Er beweist, daß in Wahrheit nicht der heroische Mut, sondern die Gerechtigkeit deijenige Besitz ist, durch den die anderen Vorzüge erst zu wirklichen Gütern werden und ohne den sie wertlos sind100. Da es des Dichters Beruf ist, die Jugend zu erziehen, so ist die richtige Anschauung von der Rangordnung der Güter die Voraussetzung alles wahren Dichtens101. Poesie .und Musik sind echte Paideia, wenn sie dieser Forderung Genüge tun loa . In Wirklichkeit enthält diese Ansicht, so gewiß sie einseitig ist, ein gut Teil Wahrheit, soweit es sich um die ältere griechische Dichtung und Musik handelt. Dem Leser unserer Darstellung dürfte es nicht schwer fallen zu verstehen, was Plato meint. Der Streit um die höchste Arete und die Auseinandersetzung über die höchsten Güter des Lebens, beides zieht sich jahrhundertelang durch die ältere Poesie. Plato hat in den,Gesetzen' bewußt an sie angeknüpft. Die Oden der Dichter werden ihm zu Epoden, zu Beschwörungen der Seele des Hörers, die durch den süßen Zauber der Form sie willig machen, den ernsten Gehalt im Spiel in sich aufzunehmen, wie eine Arznei verzuckert gegeben wird108. Plato will seine Stadt mit unersättlichem Heißhunger nach solcher Kost erfüllen104. Er beweist im Grunde nur seine hellenische Art damit, daß er die angeborene Freude am Schönen mit der Begierde nach dem Guten zu neuer Einheit verschmilzt. Sie allein kann Griechenseelen im Feuer der Jugend und Begeisterung zu dauernder Form schmieden10®, und selbst die Alten verlieren ihre Härte und Unbildsamkeit, wenn ihre Gemüter vorher durch die Gaben des Dionysos nach Gebühr aufgetaut, erweicht und erwärmt werden106. So wird der Gesetzgeber zum Former und Bildner (πλάστης) der Seelen107. Die Gymnastik wird zumSchluß, offenbar nur der Form halber, hinzugefügt108, doch Plato hält sich nicht bei ihr auf, wie sie j a bereits in der,Politela' weit kürzer weggekommen war als die Musik. 1184

[III/308J

Die Frage des Symposion und seines erzieherischen Wertes, von der er ausgegangen war und die er zeitweise aus den Augen verloren zu haben schien, wird durch längere Ausführungen über die Dosis des Weins, die den verschiedenen Lebensaltern zugemessen werden soll, und über seine besondere Bedeutung für das Alter am Ende dieser ersten großen Abhandlung über die Paideia wieder aufgenommen und zu Ende geführt109. Über die Ursachen des Verfalls der Staaten Der Ubergang zur Erörterung des Problems der Entstehung des Staates am Ende dieser die zwei ersten Bücher umfassenden Abhandlung Uber Paideia und Staatsgeist erscheint unvermittelt, aber er ist es nur der Form nach; denn der Gesetzgebung muß die Schaffung der Grundlagen des Staatswesens vorangehen, und diese wiederum setzt die Bestimmung des Geistes voraus, der in ihm herrschen soll. Er soll in den Einrichtungen des Staates seine konsequente Ausprägung finden, wie das Beispiel der Dorerstaaten es gezeigt hat, aber er soll sich von ihrem Geiste radikal unterscheiden. Der neue Staat soll wie sie ein Erziehungssystem größten Stils werden, doch die Norm dieser Erziehung soll die menschliche Gesamttugend, die volle Entfaltung der Persönlichkeit sein110. In ihrer Hierarchie der Werte soll die spartanische Tugend der Tapferkeit nicht an erster, sondern an vierter und letzter Stelle stehen111. Der Fortgang der Untersuchung zeigt, daß Plato diesen Ersatz des Machtideals durch das der Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit nicht als starrer Moralist von außen her ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit staatlichen Lebens dekretiert, sondern daß seine Forderung eng verflochten ist mit seiner Anschauung von den Bedingungen der Dauer und Erhaltung des Staates. Darauf wird bald zurückzukommen sein. Im übrigen offenbart seine Theorie von den Anfangen und Wandlungen des Staatslebens und der periodischen Wiedervernichtung der Kultur durch ungeheure Naturkatastrophen die intensivste und geistvollste Beschäftigung mit dem Problem der Geschichte der Menschheit112. Plato hält das, was wir geschichtliche Tradition nennen, für nicht viel älter als gestern und vorgestern im Vergleich zu den dunklen, vorgeschichtlichen Zeiträumen, in [HI1309]

1185

denen sich die Entwicklung der menschlichen Rasse im Schneckentempo vorwärtsbewegte113. Aus großen Überflutungen der Erdoberfläche, Seuchen und dergleichen rettete sich nur ein kleiner Teil der Menschen jeweils in die neue Periode hinüber, mit der ein allmählicher Wiederaufstieg von den primitivsten Anfangen begann 114 . Die Erde war noch nicht dicht bevölkert, man kannte weder den Gebrauch der Metalle noch den Krieg, der erst ein Produkt der fortschreitenden technischen Zivilisation ist 116 . Piatos Vorstellung der Frühzeit ist die eines im wesentlichen friedvollen Zustandes, in dem es noch nicht arm und reich gab und die gutartige Einfalt der Menschen einen höheren Stand der Moral zur Folge hatte11*. Gesetzgeber waren noch überflüssig, ja, man hatte nicht einmal eine Schrift 117 . Da es zu seiner Zeit noch keine Ausgrabungen gab, hält Plato sich an die literarische Überlieferung, besonders Homer. Er erkennt hier ausdrücklich der ältesten Poesie wenigstens zum Teil den Wert einer Quelle geschichtlicher Wahrheit zu. An der Hand des Homer schildert er den Übergang von dem gesetzlosen zyklopischen Zustand zu systematischer Bindung und patriarchalischer Herrschaft118. Mit dem Zusammenströmen verschiedener Sippenverbände in größeren städtischen Ansiedlungen wird ein Ausgleich der verschiedenartigen bei ihnen geltenden Rechtsbräuche nötig. Die erste Gesetzgebung hat eben darin ihre Aufgabe gefunden11*. An die homerische Ära, die Zeit der Achäer und ihrer Züge nach Kleinasien, knüpft Plato, wie der Geschichtschreiber Ephoros, sein Zeitgenosse, die Rückkehr der Herakliden an, und mit ihr die älteste Geschichte der peloponnesischen Staaten, die als Schöpfungen der dorischen Stämmewanderung auf den Trümmern der älteren Achäerreiche erwuchsen110. Damit sind wir in unserer geschichtlichen Rückschau an dem Punkt angelangt, wo unser Dialog begann, bei den Staatsgründungen und Gesetzgebern der Lorer 121 . Als Plato die ,Gesetze' in den 40er oder 50er Jahren des Jhrh. schrieb, stand das Schicksal des Dorerstammes, das Bild seiner einstigen Größe und hohen geistigen Eigenart wie die Tragödie seines Untergangs, der durch Spartas Vernichtung bei Leuktra besiegelt war, als ein ungeheures Problem vor dem Auge des denkenden Teils der Hellenenwelt122. Nach der Niederlage der Spartaner hatte Epaminondas die Messenier aus jahrhunderte1186

[Hl/310]

langem Helotentum zur Freiheit aufgerufen, um durch Erregung inneren Zwiespalts im Peloponnes das Werk der kriegerischen Vernichtung des Feindes zu vollenden. Den Freunden dorischer Art in ganz Griechenland mußte bei diesen Vorgängen die Frage im Herzen brennen, was aus der griechischen Geschichte geworden wäre, wenn die peloponnesischen Dorerstaaten Sparta, Argos und Messenien, statt sich gegenseitig aufzureiben, zur politischen Einheit zusammengewachsen wären123. Es wiederholte sich hier gegenüber dem peloponnesischen Dorertum der Vergangenheit dieselbe Frage, die die Gegenwart den Griechenstaaten in ihrer Gesamtheit zu stellen schien, ja, sie ist recht eigentlich das in die Vergangenheit zurückprojizierte Gegenwartsproblem. An sich waren die Entwicklungsbedingungen für das, was Plato das „System"124 der dorischen Staaten nennt, den Dreibund der Herakliden unmittelbar nach der Landnahme, geradezu ideal gewesen. Sie brauchten nicht, wie moderne Sozialrevolutionäre und Reformer zu Piatos Zeit es vorschlugen, unter den größten Gefahren fìir den Staat neue Landaufteilungen und Schuldentilgungen vorzunehmen, sondern fingen von vorn an, da sie das zurückeroberte Land in gleiche Lose teilen konnten und so den Staat auf der Grundlage eines gerechten sozialen Prinzips aufbauten128. Wie ernst es Plato damit ist, zeigt sich später bei der Behandlung des Problems der Verteilung des Grundbesitzes; denn dort greift er praktisch auf das Vorbild der Herakliden und ihrer Niederlassung im Peloponnes zurück126. Doch woran waren die dorischen Königreiche zugrunde gegangen, die doch, wie Plato glaubt, so viel stärker, einiger und besser geführt waren als die Griechen vor Troja 127 ? Sie hätten vereint Hellas und die Welt beherrschen können128, aber sie zerfielen in hoffnungslosem Hader untereinander. Piatos geschichtliche Phantasie sieht in diesen zu seiner Zeit schon halb mythischen Vorgängen des achten und siebenten Jahrhunderts die eigentliche, nicht wieder gut zu machende Tragödie, die große, aber verpaßte Gelegenheit der griechischen Nation in der Weltgeschichte129. Er sieht in Sparta den besten Beweis für die staatbildenden Fähigkeiten der Dorer, doch die Messenier und Argiver standen nicht auf gleicher Höhe. Die Ursache ihres Niederganges war nicht, wie ein Spartaner denken könnte130, Mangel an Tapferkeit oder Kriegskunst, sondern [III!311]

1187

Unbildung (άμαθία) in den wichtigsten menschlichen Dingen 131 . Diese tiefe Unbildung ist es, die damals wie heute die Staaten zerstört und es nach Plato auch in alle Zukunft tun wird 132 . Fragen wir, worin sie besteht, so verweist er uns zurück auf das, was wir in langwierigen Untersuchungen über das Wesen der Paideia gefunden haben. Sie beruht auf der wahrhaften Ubereinstimmung von Begierde und Einsicht133. Jene mächtigen dorischen Staaten sind gefallen, weil sie ihren begehrlichen Wünschen, nicht ihrer vernünftigen Einsicht gefolgt sind181. So führt die Erkenntnis der tragischen politischen Fehler, die die Geschichte des Dorertums aufweist, zu dem Ausgangspunkt des Dialogs zurück, der Frage des richtigen Staatsethos, dessen Wurzeln in der gesunden Struktur der Seele des Individuums liegen. Die philosophische Kritik, die Plato schon im ,Staat' an dem spartanischen Staatsgeist und an der spartanischen Erziehung geübt hatte, wird in den , Gesetzen' bestätigt durch den im Licht der Gegenwart gesehenen vernichtenden Zusammenbruch des Stammes in seinem geschichtlichen Wettlauf um den höchsten Preis, die Herrschaft über die Griechen, zu der er bestimmt zu sein schien. Es ist, als ob Plato auf diesen Seiten sein lebenslängliches Ringen mit dem Problem der dorischen Staatsidee zum letzten Abschluß gebracht hätte. Es ist tragisch — wie konnte es anders sein! In seiner Jugend hatte er in den Kreisen der athenischen Opposition Sparta als absolutes Ideal preisen hören. In seinen Mannesjahren hatte er viel von diesem Vorbild gelernt; aber während der Erfolg Spartas, das damals auf der Höhe seiner äußeren Macht stand, seinen kritiklosen Bewunderern recht zu geben schien, hatte er im ,Staate* bereits die Quellen seiner Schwäche prophetisch bezeichnet. Als er die ,Nomoi' schrieb, lagen diese Fehler offen vor den Augen aller Welt136, und für Plato bleibt jetzt nur übrig festzustellen, daß der „zweitbeste Staat" der ,Politela' eben darum zugrunde gehen mußte, weil er nicht der beste war, das heißt, weil er der wahren Paideia und des besten Ethos entbehrte. Diese „Könige" hatten dem Plethos in ihrer Seele, den Trieben der Macht- und Ehrgier, der „Pleonexie", gehorcht, statt dem wahren Führer, dem Geist, zu folgen. Der platonische Vorrang des Paideutischen über das Realpolitische zeigt sich auch hier in der kühnen und geistreichen Antithese zwischen äußerer Form und innerem Wesen des Staats. Äußerlich war er einheitlich 1188

[III 1312]

von einem Manne geführt, aber innerlich war er die Massenherrschaft der begehrlichen Triebe, die in der Seele dieses Einen herrschten 138 . Ähnlich vergleicht Plato schon im,Gorgias f die Form der Demokratie, in der die Willkür der Menge regiert, mit der Tyrannis, der sie in ihrem Wesen nahesteht 137 . U m mit der ,Politeia' zu sprechen, der Zerfall des Staates im Innern der Seele 138 des Herrschers besiegelte den Sturz seiner äußeren Macht. Denn Staat ist niemals bloße Macht, sondern immer auch die geistige Struktur des Menschen, der ihr Träger ist. Ist also Unbildung die Ursache des Untergangs der Staaten, das heißt Mangel an „Symphonie" zwischen Begierde und Vernunft in der Seele des Herrschers, gleichviel ob es einer oder mehrere sind, so muß dem Ungebildeten der Einfluß auf die Führung genommen werden. Ungebildet in diesem tieferen Sinne kann aber sehr wohl gerade derjenige sein, den die allgemeine Meinung als typischen Gebildeten ansieht: der kluge Rechner, der Mann von rascher geistiger Reaktion, der geistreiche Sprecher; ja, Plato scheint in dieser Eigenschaft ein gewisses Symptom dafür zu sehen, daß in ihrem Träger das Triebhafte überwiegt13®. So tritt die Frage, wer herrschen soll, in den Mittelpunkt. Plato hatte sie in der ,Politeia' dahin beantwortet, daß stets das Bessere über das Schlechtere, das Höhere über das Niedrigere herrschen soll 140 . Er macht in den .Gesetzen' aber einen neuen Versuch der Bestimmung, offenbar in dem Bewußtsein, daß diese Frage für die Politik als Wissenschaft wie als praktische Kunst die eigentlich entscheidende ist. Faßt man die Politik als die Wissenschaft vom Herrschen auf, so bedarf sie eines Prinzips, von dem aus alles einzelne sich regelt, und dieses Prinzip muß die Frage, wer herrschen soll, in allgemeingültiger und für jedes vernünftige Denken einleuchtender Weise beantworten. Plato stellt an dieser Stelle der ,Gesetze' sieben „Axiome" des Herrschens auf, auf die er sowohl in der Kritik der Staaten der geschichtlichen Wirklichkeit wie bei den Einrichtungen seines eigenen Staates sich mehrfach beruft 141 . Das Wort „Axiom" bezeichnet einmal den Rechts- oder Herrschaftsanspruch im juristischen Sinne, und so wird es von den Erklärern hier durchweg aufgefaßt, da es sich u m eben diese Frage handelt. Es hat aber in Piatos Spätzeit in der Wissenschaft auch bereits den uns geläufigen /.III/313]

1189

Sinn der unbeweisbaren, aber auch nicht des Beweises bedürfenden Voraussetzung, die wir in einer wissenschaftlichen Deduktion machen, vor allem in der Mathematik, in der diese Terminologie nach dem Zeugnis des Aristoteles damals zuerst aufkam 148 . Flatos Streben, die Mathematik zum Vorbild aller wissenschaftlichen und philosophischen Methode zu machen, ist bekannt. Es ging besonders in seinen späteren Jahren sehr weit und wird von Aristoteles als für die ganze Schule Piatos charakteristisch betrachtet14*. So wird es unumgänglich, den Begriff hier, wo es sich gerade um die allgemeine Grundlegung der Politik handelt, in diesem Sinne zu verstehen, was den erstgenannten Sinn „Herrschaftsanspruch" nicht notwendig ausschließt144. Denn „Axiom" ist ja auch im mathematischen Sprachgebrauch ein Anspruch oder eine Forderung, die sich von selbst versteht, das heißt, der ursprünglich rechtliche Sinn ist noch in dem Wort lebendig. Auf den Sinn „Axiom" deutet auch die feste Zahl solcher grundlegenden Sätze hin, auf die Plato ausdrücklich dadurch hinweist, daß er die einzelnen Axiome numeriert (von eins bis sieben), womit die Begrenztheit ihrer Zahl angedeutet wird145, wie es auch in der Geometrie des Euklid geschieht. Diese Sätze besagen, daß von Natur die Eltern Uber die Kinder herrschen sollen, die Edlen über die Unedlen, die Älteren über die Jungen, die Herren über die Sklaven, die Besseren über die Schlechteren, die Vernünftigen und Wissenden über die Unwissenden, wozu als siebente Forderung der demokratische Grundsatz tritt, daß der durch das Los Gewählte über den herrscht, der nicht vom Los getroffen ist. Plato erkeimt das Los hier wie überhaupt in den,Gesetzen' als göttliche Entscheidung an und faßt es nicht wie öfter in der Kritik der Demokratie in seinen früheren Schriften als sinnlosen Mechanismus auf 146 . Diesen Axiomen gemäß haben die Könige von Messenien und Argos mit Recht ihre Reiche verloren, weil zu große, verantwortungslose Macht in der Hand eines einzelnen vereinigt war, der keineswegs jene Forderungen wirklich erfiillte 147 . Könnten manche Wendungen in der , Politela* und im ,Politikos' eher dazu verführen, Plato fìir einen Anhänger dieser Form des politischen Lebens zu halten, so spricht er sich in den .Gesetzen* rundweg gegen alle solche Vereinheitlichung der Macht aus und erklärt sie fìir eine Ausartung des Machtstrebens, der Pleonexie148, die 1190

[111/314]

j a auch für Isokrates, wenn in dem üblichen Sinne verstanden, die Wurzel alles Übels bedeutet. Das Beispiel Spartas zeigte, daß die gemischte Verfassung die dauerhafteste ist. Denn dort ist die Monarchie sowohl durch die Einrichtung des Doppelkönigtums wie durch Gerusie und Ephorat eingeschränkt14·. Nicht Messenien und Argos, sondern Sparta hat Griechenland es zu danken, daß die griechischen Stämme heute nicht miteinander und mit den Barbaren vermischt und durcheinander gewürfelt sind wie die Völkermassen des Perserreiches, sondern sich rein erhalten haben. Dies ist für Plato der Inbegriff der Freiheit, die in den Perserkriegen errungen wurde 150 . Nicht die Anhäufung großer ungemischter Machtbefugnisse in den Händen eines einzelnen, sondern die Freiheit, Vernunft und innere Harmonie der Polis muß das Ziel sein, nach dem der Gesetzgeber strebt 151 . Persien und Athen sind die Staaten, die die beiden Grundelemente alles Staatslebens in ihrer einseitigen Übersteigerung zeigen. In Wahrheit sind beide Elemente unentbehrlich, und der Wert Spartas liegt darin, daß es diese Mischung erstrebte und sich dadurch am längsten behauptet hat. Plato schiebt eine längere Kritik des persischen Königtums ein, die sich ganz auf dem Gedanken aufbaut, daß die wenigen wirklich bedeutenden Männer, die das Reich geschaffen haben, Kyros und Dareios, es nicht verstanden haben, ihre Söhne zu erziehen162. Die Paideia der persischen Prinzen lag in den Händen ehrgeiziger, neureicher Königinnen 163 . Darum haben Kambyses und Xerxes in kurzer Zeit alles wieder verspielt, was ihre Väter gewonnen hatten 164 . Diese hatten für die wichtigste Aufgabe, die Heranbildung ihres Nachfolgers, keinen Sinn und keine Zeit 158 . Die Ermahnungen, die Dareios bei Aischylos den Persem nach ihrer Niederlage zuteil werden läßt, kamen im Sinne Piatos zu spät 156 . In Wahrheit konnten weder Dareios noch Kyros ihre Söhne erziehen, weil sie selbst keine Paideia besaßen 167 . Mit diesem Federstrich löscht Plato zugleich Xenophons Werk, die .Kyrupädie', gleichsam aus. Er findet in Persien nichts, was für Griechen ein Vorbild sein könnte 158 . Doch das tiefere Interesse Piatos gilt in Wahrheit seiner Vaterstadt Athen 169 . Der Preis ihres Anteils an dem Werk der Befreiung Griechenlands180 scheint im Widerspruch zu stehen mit dem Tadel der zu großen Freiheit, die sich dort entfaltet habe 181 . Doch Piatos [III!315J

1191

Bild der athenischen Geschichte ist nicht einheitlich hell oder düster. Er kommt auch darin dem alten Isokrates nahe, der die Gegenwart scharf kritisiert, aber an dem alten Athen der Perserkriegszeit viele ausgezeichnete Eigenschaften zu rühmen weiß182. Plato findet in der heroischen Frühzeit der athenischen Demokratie noch viel von dem Geist der altgewohnten Ehrfurcht vor dem Gesetz erhalten, der jetzt geschwunden ist163. In der Schilderung dieser Aidös, die in Wahrheit den sozialen Bau innerlich zusammenhielt, berührt er sich mit dem ,Areopagitikos' des Isokrates, der um dieselbe Zeit wie die besetze'geschrieben ist 1 · 4 . Vom Standpunkt des politischen Erziehers war in der Tat damit das Hauptproblem bezeichnet. Darum treffen sich die beiden so verschieden gearteten Geister des Plato und Isokrates an diesem Punkte. Plato sieht die Entartung der athenischen Demokratie ganz von diesem erzieherischen Standpunkt aus, genau so wie er den Verfall des persischen Reiches einzig aus dem Mangel an Paideia erklärt. Das zeigt sich vor allem in seiner Ableitung dieser Entwicklung Athens aus dem Niedergang der Musik und Poesie und ihrer Ausartung in unmusische Zuchtlosigkeit165. Dieses Bild der Entartung ist eine der größten historischen Erkenntnisse Piatos. Es ist von der peripatetischen Schule übernommen worden und durch sie in die Politik und Musikliteratur der hellenistischen und Kaiserzeit übergegangen168. Es erläutert durch seine Einzelheiten den Satz der ,Politeia', daß die Musikerziehung die Zitadelle des Idealstaates sei187. Die Reinerhaltung der einzelnen Gattungen und ihres Charakters, der Hymnen, Threnodien, Päane, Dithyramben und Nomen, verbürgte lange Zeit die treue Bewahrung der strengen musikalischen Überlieferung der früheren Jahrhunderte 188 , und weder Pfeifen und Johlen noch Klatschen des großen Haufens hatten auf die Kunst den geringsten Einfluß. Die in der Paideusis sachverständig waren, konnten ungestört bis zu Ende hören, und die Masse hielt der Stab des Ordners in Disziplin189. Doch dann kam eine andere Zeit, in der poetisch hochbegabte, aber hinsichtlich des Normgehalts der Kunst völlig urteilslose Könner in bakchischer Ekstase und im Banne der reinen Sinnlichkeit Dithyrambos mit Päan und Hymnos mit Klage vermischten und mit der Kitharodie die rauschenden Effekte der Flötenmusik nachzuahmen 1192

/IW316]

suchten 170 . Sie verwischten jede Grenze und hielten alles für erlaubt, was irgendwie den Sinnen Freude erregte, denn in ihrer Unwissenheit glaubten sie nicht an die Existenz von Maßstäben des Richtigen und Falschen im Bereich des Musischen 171 . Zu solchen Kompositionen schrieb man Texte von der gleichen Art. So führte man Gesetzlosigkeit in das Reich der Musen ein und ermutigte die Menge zu dem Wahn, über diese Dinge ein Urteil zu haben, und es mit lautem Toben zu verkünden172. Die lautlose Stille der Theater verwandelte sich in Lärm, und an Stelle der Vornehmheit, die bis dahin in diesem Reiche geherrscht hatte, entstand eine Theatrokratie, die Herrschaft des ungebildeten Publikums. Wäre es wirklich eine Demokratie freier Männer gewesen, so wäre es ganz in der Ordnung. Doch jetzt ist es der Wissenswahn und die Zügellosigkeit aller und in allem, die in ihrer Dreistigkeit vor nichts haltmacht 178 . Als das Schicksal dieser Freiheit sieht Plato den stufenweise fortschreitenden Abstieg von der inneren Bindung, die zuerst ihr Wesen ausmachte, zur reinen Ungebundenheit und am Ende den vollendeten Rückfall in den titanischen Urzustand 174 . Staatsgriindung und göttliche Norm. Die Gesetzesproömien

Der Ausgangspunkt der Untersuchung war ein geschichtlicher gewesen : der Geist der dorischen Staaten und ihrer Gesetzgebung. Doch Plato hatte alsbald die philosophische Forderung eines absoluten Ideals der Arete und des Menschen, und damit seine Idee der Paideia in die Erörterung eingeführt und von diesem hohen Standpunkt aus Kritik an der spartanischen Paideiatradition geübt 176 . Damit schien der Weg frei für die Gründung des neuen Staates, die wir erwarten. Doch von neuem strömte geschichtliche Betrachtung ein: Plato ging nicht geradeswegs praktisch an die ihm vor Augen stehende Aufgabe heran, sondern fragte, wie denn in der Geschichte der Staat entstanden sei 17 ·. Aus dem geschichtlichen Stufengang dieser Entwicklung hob sich erneut das Problem der dorischen Staatenbildungen heraus, und das tragische Geschick, das sie trotz glänzender Aussichten erlitten, führte zu dem Ergebnis der vorhergegangenen Kritik des dorischen Staatsethos und Menschenideals zurück; die geschichtlichen Tatsachen be[III1317]

1193

stätigen die philosophische Analyse. Einen Augenblick schien es, als sollte an diesem Punkte aus der Kritik des geschichtlichen Hergangs der systematische Aufbau eines idealen Staates erwachsen; denn Plato legte nun die Axiome der Herrschaft dar, von denen jeder Versuch dieser Art auszugehen habe 177 . Doch von neuem und in noch größerem Umfange eröffneten sich geschichtliche Horizonte, um die richtige Anwendung dieser Axiome zu sichern. Sie fuhren, in Piatos Sinne verstanden, zu der Idee einer gemischten Verfassung, die er in dem alten Sparta verwirklicht findet178. Persien und Athen verkörpern dagegen in ihrer gegenwärtigen Staatsform die übertriebenen Extreme der Tyrannei und der Willkürfreiheit, die aus Mangel an Paideia entspringen 179 . Erst an dieser Stelle des Dialogs erwähnt einer der Mitunterredner, der Kreter Kleinias, die Absicht der Kreter, eine neue Kolonie zu entsenden, und teilt dem Athener mit, daß die Stadt Knossos mit der Aufsicht über die Angelegenheit betraut worden sei und ihn mit neun anderen Männern beauftragt habe, die Sache in die Hand zu nehmen 180 . Damit nimmt das Gespräch die Wendung zum Praktischen, was hier gleichbedeutend ist mit dem Systematischen, da ein Philosoph nunmehr Einfluß auf die Gestaltung der Polis gewinnt. Denn zu solcher beratenden Teilnahme fordert Kleinias den Athener auf. Die Vorschriften für den Aufbau dieses neuen Staatswesens können hier nicht in ihren technischen Einzelheiten behandelt werden, obgleich in einem tieferen Sinne alles auf die Paideia, die die Gesetzgebung verkörpern soll, Bezug hat und aus ihr entspringt. Sogleich die erste Vorschrift, daß die zu gründende Stadt keine Seestadt sein soll, hängt mit dem erzieherischen Grundgedanken Piatos zusammen181. Aristoteles hat im ,Staat der Athener' die Radikalisierung der athenischen Demokratie zur Massenherrschaft von der Entwicklung Athens zur Seemacht abgeleitet182. Das war ein Gedanke, den er von der konservativen, gemäßigten Gruppe der athenischen Demokraten übernommen hat, die zu eben der Zeit, als Plato an den ,Nomoi' schrieb und Aristoteles in der Akademie sich seine Anschauungen bildete, nach dem Niedergang des zweiten Seebundes von neuem um Einfluß rang 188 . Plato berührt sich mit Aristoteles und dem alten Isokrates sowohl in seiner negativen Haltung zu der athenischen Seeherrschaft184 wie in dem Glauben an die gemischte Verfassung. 1194

[III/318]

Auch Isokrates war ein ausgesprochener Anhänger jener gemäßigten Richtung, die die Rückkehr zu der Verfassung der Väter erstrebte. Die Entstehung der Seemacht Athens und die Verminderung der Autorität des Areopags werden von Aristoteles miteinander in Verbindung gebracht als Ursachen der Verschlechterung der athenischen Demokratie 185 . Auch dieser Gedanke ist ein Teil der konservativen Kritik an dem perikleischen Staat, der imperialistischen, seebeherrschenden Demokratie, ja, er läßt sich in noch ältere Zeit hinaufverfolgen. Schon in den .Persern' des Aischylos kommt in der Kritik, die die konservativen alten Mitglieder des Staatsrats an der Politik des jungen Königs Xerxes üben, die Abneigung des Adels gegen die Seemachtbestrebungen und die Flottenrüstung zum Vorschein186. Aischylos hatte sie in Athen und nicht in Persien kennengelernt, und er zeigt auffallend viel Verständnis für sie. Wir dürfen nicht vergessen, daß er selbst ja zu den Kreisen des um Eleusis ansässigen Landadels gehörte. Schon in den .Persern' vollendet sich das Schicksal der Barbaren erst in der Landschlacht bei Plataiai187. Plato geht weiter und spricht der Seeschlacht bei Salamis, die der nationale Ruhmestitel Athens war, die entscheidende Bedeutung ab; die Vernichtung der persischen Landmacht bei Marathon und Plataiai rettete Hellas vor der Knechtschaft188. Piatos politische Anschauungen sind so wenig wie die des Isokrates von seinem Ideal der Paideia zu trennen. Ihr Zusammenhang wird an diesem Punkte besonders deutlich sichtbar. Plato ist sich bewußt, daß der Mensch nicht Gesetze gibt, wie es ihm gefällt, sondern die Situation ein bestimmender Faktor ist. Krieg, wirtschaftliche Not, Krankheit und Mißgeschick ziehen Umsturz und Neuerung nach sich189. Die Tyche ist allbeherrschend im menschlichen Leben, auch in dem der Gesamtheit. Gott regiert alles, nach ihm Tyche und Kairos, als drittes kommt die menschliche Kunst, die Techne hinzu, die das hinzufügt, was in schwerem Sturm die Steuerkunst ist, gewiß keine unwichtige Hilfe190. Wenn dem Gesetzgeber ein Wunsch gestattet sein soll hinsichtlich der Vorbedingung, die ihm für das Glück der künftigen Polis als die wichtigste erscheint, so würde Plato als Material fiir seine Pläne einen Staat wählen, der von einem belehrbaren Tyrannen regiert ist191. Die Tyche muß ihn mit dem großen Ge[III 1319]

1195

setzgeber zusammenführen, um jene in der ,Politela' geforderte Koinzidenz von Geist und Macht zu ermöglichen, die ihm auch jetzt noch als der einfachste Weg zur Verwirklichung seiner Idee erscheint192. Plato weiß aus seiner Erfahrung mit dem syrakusischen Tyrannen, daß ein solcher leicht ein ganzes Volk in seinem Ethos umwandeln kann durch Lob und Ehrenerweisung und deren Gegenteil193. Das Schwere und Seltene ist nur, daß ein göttlicher Eros zur Gerechtigkeit und Mäßigung einen solchen Mann erfaßt 194 . Plato sieht diese Schwierigkeit in seinem Alter eher noch größer als ehemals. Solange aber diese Vorbedingung nicht erfüllt ist, bleibt dieser Weg zur Verwirklichung des besten Staates ein bloßer „Mythos" 188 . Die übrigen Formen der Verfassung erscheinen Plato nicht wesentlich, sondern nur graduell von der Tyrannis verschieden. Sie sind alle Despotien, und das Gesetz, das in ihnen herrscht, ist der Ausdruck des Willens der jeweils herrschenden Klasse19®. Doch es liegt nicht im Wesen des Gesetzes selbst, daß es das Recht des Stärkeren ist197. Plato wendet auf das vorliegende Problem seine Axiome an und schließt aus ihnen, daß zum Herrschen am meisten diejenigen berufen sind, die dem wahren Gesetz am strengsten gehorchen. Der Gehorsam gegen das Gesetz in diesem Sinne ist nichts anderes als der Gehorsam gegen Gott, der nach dem alten Spruch Anfang, Mitte und Ende aller Dinge in Händen hat198. Der Gottlose reißt als Führer alle mit sich in den Abgrund199. Gott ist das Maß aller Dinge. Er ist das Ziel, nach dem alles streben soll200. Dieser Grundgedanke des platonischen Staatsideals ist in den ,Gesetzen' in einfachster Klarheit ausgesprochen, während er im ,Staat' durch Begriffe wie die „Idee des Guten" und die „Konversion" der Seele zu ihr, der Quelle alles Seins und Denkens, ausgedrückt und philosophisch modifiziert war. Die Idee des Guten war eben der neue platonische Aspekt des Göttlichen, dem sich alles andere unterordnen mußte. Frühere griechische Denker hatten das unerschöpfliche All-Eine oder die bewegende Urkraft oder den weltformenden Geist als das Göttliche prädiziert. Der vom Ethischen oder Erzieherischen ausgehenden philosophischen Betrachtung Piatos erscheint es vielmehr als die Norm der Normen, das Maß der Maße. In diesem Sinne gefaßt, wird der Gottesbegriff Zentrum und Quelle aller Gesetzgebung, und die Gesetzgebung 1196

lÏII/320J

wird sein unmittelbarer Ausdruck und seine irdische Verwirklichung. Gott wird offenbar und wirkt im staatlichen Kosmos wie in dem der Natur. Beide sind bei Plato aufeinander bezogen, denn auch im Universum waltet das höchste Maß und seine Harmonie201. Das Gesetz wird zum Werkzeug, um den Menschen in sie hineinzubilden. Das ist seine Arete, und in seiner Arete erlangt er seine wahre Natur. In diesem neuen werthaften Begriff der Natur, der Physis, findet Piatos Denken den Ankergrund 202 . Wie die Darlegungen der ,Nomoi' über die Seele zeigen, ist fìir Plato nicht der Stoff und sein Zufall, sondern die Seele und ihre Ordnung das herrschende Prinzip der Welt. Von der Gestirnwelt bis herab zur Pflanzenseele ist alles geeint unter ihrem Szepter, und Seele bedeutet Vernunft und Maß 203 . In einer solchen Welt hat das Maß des bloßen menschlichen Meinens und Dafürhaltens sein Recht verloren. Piatos Erziehungs- und Staatsidee beruht auf der Umkehrung des Satzes des Protagoras: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Er setzt Gott an die Stelle des Menschen und sagt: Das Maß aller Dinge ist Gott 204 . Dies ist nicht das erste Mal, daß wir den höchsten Wertmaßstab eines griechischen Dichters oder Denkers in der Form der Korrektur eines berühmten Vorgängers ausgesprochen finden. Letzten Endes stellt Plato damit nur das Verhältnis von Polis, Nomos und Gottheit wieder her, wie es der früheren griechischen Auffassung entsprach. Doch der Begriff der Gottheit ist grundlegend verändert. An die Stelle der individuellen Polisgötter ist das „Maß aller Dinge" getreten, das platonische Agathon, die Urgestalt aller Arete. Der Kosmos ist ein teleologischer Zusammenhang geworden, und Gott ist der Weltpädagoge205. Im .Timaios', dem anderen großen Alterswerk, das den ,Gesetzen' parallel ging, hatte Plato gezeigt, wie von dem göttlichen Demiurg die Welt der ewigen Ideen in die natürliche Welt der Erscheinungen hineingebildet wurde. Die Ideen sind dabei die „Vorbilder, die im Seienden stehen" 208 . Durch die Gesetzgebung wird der Philosoph zum Demiurgen des Kosmos der menschlichen Gemeinschaft, der in jenen größeren Kosmos hineingefügt werden muß, und die Herrschaft Gottes vollendet sich im bewußten Vollziehen des göttlichen Logos durch den Menschen als vernünftiges Wesen207. In diesem Sinne ist die Prädikation Gottes als des Weltpädagogen gerechtfertigt, ja, sie beleuchtet wie keine andere Formel schlag/////321]

1197

artig den inneren Ausgangspunkt und die Quelle des neuen platonischen Gottesbewußtseins. Wie es für Plato die entscheidende Erkenntnis ist, daß — nach den Forschungen der eudoxischen Astronomie — die Gestirne sich am Himmel in ewigen klaren Ordnungen nach sinnvollen und einfachen mathematischen Regeln bewegen208, so sucht die menschliche Gesetzgebung die Willkürbewegungen der Lebewesen, soweit sie an der Einsicht in jene höhere Ordnung teilhaben, von ihrer Ziel- und Richtungslosigkeit zu befreien und in schöne und harmonische Bahnen zu lenken. Das Bild des gestirnten Himmels spiegelt sich mit seinen Kreisläufen in der Menschenseele und in dem Kreislauf des reinen Denkens in ihr 209 . Der Herausgeber der ,Nomoi' spricht in der ,Epinomis< gewiß im Sinne seines verewigten Meisters, wenn er die Wissenschaft von den „sichtbaren Göttern", die mathematische Astronomie, als Sinnbild der in ihnen verwirklichten höchsten Weisheit aufrichtet, die über den Gestirnen thront 810 . Nach der Festlegung des theologischen Zentrums wendet Plato sich der Ausführung der Gesetze selbst zu. Hier ist der Ort, wo er seine Grundansicht vom Wesen einer wahren Gesetzgebung auseinandersetzt. Alles gesetzgeberische Tun ist Erziehung, das Gesetz ist ihr Werkzeug. So gelangt Plato zu jener in der Einleitung von uns genauer dargelegten Forderung, nicht nur Vorschriften zu geben, sondern durch Proömien der Gesetze die Menschen zum richtigen Handeln anzuleiten. Es gibt vieles, was wichtig ist zu sagen und was sich doch nicht in die üblichen lakonischen Paragraphenformen fassen läßt 211 . Im Grunde bedeutet dieser Schritt die Überwindung des Stadiums der reinen Gesetzesherrschaft, deren Ausdruck der Imperativ „Du sollst nicht" war, durch die Philosophie, die in allgemeinen Prinzipien denkt. Für sie ist der materielle Inhalt des Gesetzes nicht so wichtig wie der von der Vernunft ermittelte Ausgangspunkt der gesetzlichen Gebote, die sittliche Norm. Diese Tatsache muß dem philosophischen Gesetzgeber praktisch Schwierigkeiten bereiten. Er sucht sie zu beseitigen, indem er sozusagen zwischen den Zeilen seiner Paragraphen fortlaufend philosophiert 2 ' 2 . Das mußte zu einer ungeheuren Anschwellung des Gesetzes führen, die nicht auf der ganzen Linie durchiuhrbar ist. Doch es kommt Plato mehr darauf an, sie am einzelnen Beispiel zu zeigen. Dafür wählt er die Ehegesetze aus. 1198

[IH/322]

E r gibt sie zunächst in der jetzt üblichen einfachen Form der Drohung, dann in seiner neuen zweifachen Form, die Überredung und Befehl verbindet 213 . Das Proömium fallt natürlich wesentlich länger aus als das Gesetz selbst. Denn im Proömium greift Plato auf die im ,Symposion' begründete Ansicht der Zeugung als Verewigung des Menschengeschlechts zurück. Er faßt es als eine Einheit auf, als die nie abreißende Kette der Generationen, die sich durch alle Zeiten erstreckt. Auf Unsterblichkeit in diesem Sinne zielt auch der Wunsch, daß der Tote berühmt und nicht namenlos sei 214 . Plato geht hier von der altgriechischen Ruhmesidee, dem Kleos aus, das an dem Namen haftet und in dem die Arete des Individuums ihren gültigen sozialen Ausdruck findet215. Träger dieses Kleos, des guten Namens und Andenkens, ist im engsten Sinne die Familie. Sich freilich selbst dieser Athanasie zu berauben, kann niemals im Einklang sein mit göttlichem Recht (caiov) 2le . Das Heiratsalter wird für den Mann auf die Zeit vom 30.—35. Lebensjahr festgesetzt. Wer bis dahin nicht verehelicht ist, verfallt einer jährlichen Geldbuße, deren Höhe jeden davon abschrecken soll, das Junggesellenleben als Mittel zur Selbstbereicherung zu benutzen. Er wird ferner ausgeschlossen von den Ehren, die die Jüngeren in der Polis den Älteren erweisen. Er wird im sozialen Sinne niemals „älter" 2 1 7 . Plato überläßt es dem Ermessen des Gesetzgebers zu bestimmen, bei welchen Gesetzen, größeren oder kleineren, ein Proömium erwünscht ist 218 . Er erklärt in gewissem Sinne alle bisherigen Erörterungen als Proömium 219 und will die weitere Unterhaltung in diesem Bewußtsein geführt wissen220. Nächst dem Proömium über die Pflichten gegen Gott und die Eltern und die ihnen zu erweisende Ehre hält er vor allem Ausführungen über das Wesen der Seele fur unumgänglich, weil sie für die Erziehung von grundlegender Wichtigkeit sind 241 . Nach Beendigung des Proömienteils soll die eigentliche Gesetzgebung folgen. Sie muß ihren Anfang nehmen mit den Gesetzen über die Ämter und die politische Grundstruktur des neuen Staates. Denn die Einsetzung der Ämter und Festlegung der Befugnisse, die mit ihnen verbunden sind, muß der Aufstellung der Gesetze vorangehen, nach denen die Beamten regieren sollen222. Plato macht hier vorweg eine Bemerkung, die fur die Gestaltung der Paideia wichtig ist. Er unterscheidet im Ge[III1323]

1199

webe des Staates Aufzug und Einschlag. Der erstere muß stärker sein als der zweite. Der Aufzug sind die zum Herrschen Bestimmten; ihre Arete muß hervorragen über die der anderen Bürger. Sie müssen sich daher von denen unterscheiden, die nur durch eine geringere Bildung (σμικρά παιδεία) hindurchgegangen sind223. In der Tat spricht Plato im zwölften Buch, wo er kurz vor Schluß seines Werkes auf die Herrscher und ihre Erziehung zu sprechen kommt, von einer sorgfaltigeren Ausbildung (άκριβ οπέρα τται^ία) dieser Klasse" 4 . Die Bemerkung erscheint freilich im fünften Buch verfrüht, da zunächst von Paideia weder im höheren noch im niedrigeren Sinne die Rede ist, sondern ganz andere Probleme erörtert werden. Aber offenbar hat Plato von vornherein die Erziehungsfrage im Auge, und so findet sich in der Tat ein ganzes Buch, das siebente, der Gesetzgebung über Erziehung, gewidmet. Augenscheinlich sind diese Erziehungsgesetze des siebenten Buches der kleinen Paideia gleichzusetzen, von der in der Vorankündigung (V 735 a) gesprochen wird. Es ist die allgemeine bürgerliche Erziehung im Gegensatz zur Bildung der künftigen Regenten des Staates. In der uns vorliegenden Fassung des Werkes steht diese elementare Erziehung durchaus im Vordergrund, aber das ist völlig gerechtfertigt. Es ist ein Hauptreiz der ,Gesetze', daß sie sich so eingehend mit einem Problem beschäftigen, das nicht nur in Piatos ,Staat' ganz übergangen, sondern in den Auseinandersetzungen über die richtige Erziehung seit dem Beginn der sophistischen Bewegung noch niemals ernstlich in Angriff genommen worden war 224 . Die Gesetze für Volksbildung Plato ist sich bewußt, daß es auf keinem Gebiet schwerer ist, durch allgemeine Gesetze wirksam in das Leben einzugreifen, als auf dem der Erziehung. Ein großer Teil der Paideia vollzieht sich im Hause und in der Familie und ist dadurch der Kritik der Öffentlichkeit entzogen226. Gerade der häusliche Einfluß ist aber von der höchsten Bedeutung. Plato glaubt hier mehr durch Belehrung als durch Vorschriften erreichen zu können227. Wie die Dinge jetzt liegen, bewegt sich die private Erziehung in den verschiedenen Häusern in ganz entgegengesetzter Richtung, ohne daß der Ge1200

[III¡324]

setzgeber diesem Zwiespalt, der sich meist in kleinen und kaum sichtbaren Dingen zeigt, entgegenwirken kann. In ihrer Gesamtwirkung aber stellt diese Verschiedenheit der Auffassung vom Wesen einer richtigen Erziehung geradezu die geschriebene Gesetzgebung in Frage428. So ist es zwar schwer, Gesetze dafür zu geben, aber es ist auch nicht möglich, einfach zu schweigen. Mit dieser Kritik trifft Plato die Zustände in Athen und den meisten anderen griechischen Stadtstaaten, die keine gesetzliche Regelung der Erziehung kannten229. Schon bei den Gesetzen über Ehe und Kindererzeugung, die denen über Erziehung unmittelbar vorangehen, hat Plato den Grund für diese gelegt230. Beide Teile, die eine Ehe miteinander eingehen wollen, sollen als höchsten sozialen Zweck dabei die Erzeugung möglichst schöner und vortrefflicher Kinder im Auge behalten*31. Plato ordnet keine staatliche Auslese der Gatten an wie in der ,Politeia' bei den Wächtern. Er tastet in den ,Nomoi' auch nicht die Ehe als solche an. Doch er empfiehlt beiden Teilen besondere Aufmerksamkeit auf diese Dinge und setzt eine Kommission von Frauen ein, deren Amtslokal sich im Tempel der Geburtsgöttin Eileithyia befinden soll232. Sie haben dort zugleich ihre Dienststunden, in denen sie Beratungen halten. Sie haben ein Aufsichtsrecht über die Ehe, das sich wie die Zeit für die Kindererzeugung auf zehn Jahre erstrecken soll. Sie greifen ein, wenn Mann oder Frau nicht das nötige Interesse für Nachwuchs zeigen oder unfähig sind, Kinder zu haben. Im letzteren Falle wird die Ehe geschieden233. Die Mitglieder dieser Kommission gehen in die Häuser und geben den jüngeren Frauen Rat, um Fehler, die aus Unwissenheit entstehen, zu verhüten. Für solche, die bewußt und hartnäckig der besseren Einsicht und Ermahnung zuwiderhandeln, wird ein genau ausgearbeitetes System von Strafen, vor allem Ehrenstrafen, festgesetzt234. Plato folgt hier den Anregungen des spartanischen Gesetzes, das er nur weiter ausgebaut hat. Wir erfahren von Kritias wie von Xenophon, die beide über den Staat und die Zucht der Spartaner geschrieben haben, daß die Fürsorge fur die Nachkommenschaft dort schon während der Zeit der Erzeugung und Schwangerschaft begann236. Diese Eugenik hat in der philosophischen Literatur des 4. Jhrh. großen Beifall gefunden, und Plato und Aristoteles haben sie in ihre Staatsutopie aufgenommen. Aus dieser [III!325]

1201

Literatur haben Plutarch und andere spätere pädagogische Schriftsteller sie übernommen. Es ist charakteristisch für Piatos »Gesetze1, daß er in diesem Werk auf die physiologischen und eugenischen Grundlagen der Züchtimg einer besseren und gesünderen Jugend mit größerer Aufmerksamkeit eingeht als im ,Staat', ebenso wie er die entscheidende Phase der moralischen Erziehung hier in das frühe Kindesalter verlegt. Ärztliche Diätetik hat augenscheinlich auf seine Vorstellungen einen erheblichen Einfluß geübt. Wenn er Bewegung selbst für das Kind im Mutterleib vorschreibt238, so ist das nur eine Ausdehnung des Systems der Leibesübungen, dem auch die zeitgenössische Medizin ihr Hauptinteresse zuwandte. Plato beruft sich auf das Beispiel der Kampfhähne und anderer kleinerer fur Kampfzwecke gezüchteter Vögel, die für ihre Aufgabe von ihren Besitzern geübt werden, indem man sie im Arm oder unter der Achsel auf langen Spaziergängen mit sich herumträgt 297 . Die Erschütterung des mit oder ohne eigene Anstrengung bewegten Körpers hat auch auf Menschen eine kräftigende Wirkung, wie der Spaziergang, das Schaukeln, Erholungsfahrten zur See, der Reitsport und andere Arten der Bewegung beweisen*38. Daher rät Plato den werdenden Müttern Spaziergänge an und verordnet Massage fur die neu geborenen Säuglinge und Wickeln bis zum Alter von zwei Jahren. Die Ammen sollen die Kinder aufs Land zu Gottesdiensten oder zu Verwandten mitnehmen, indem sie sie auf dem Arm tragen, bis,sie stehen können 839 . Plato rechnet mit dem Widerstand der Mütter und Ammen; doch diese Ratschläge sollen trotzdem den Eltern erteilt werden, um sie über ihre Pflichten aufzuklären und auf die Folgen der Unterlassung aufmerksam zu machen 240 . Auch später sollen die Kinder in dauernder Bewegung erhalten werden, und man soll sie keineswegs künstlich zur Ruhe zwingen. Diese ist gegen die Natur des Kindes; es sollte sich Tag und Nachtin rhythmischer Bewegung befinden wie auf einem Schiff241. Nicht Stille, sondern Singen ist das Richtige für die Beschwichtigung des Kindes, denn die äußere Bewegung ist Befreiung von innerer Angst und wirkt beruhigend 242 . Plato hat diesen ärztlichen Fragen soviel Beachtung geschenkt, weil er die Wichtigkeit des physiologischen Faktors filr die psychologische Gestaltung des Charakters, des Ethos, erkannte. In diese geht daher die Lehre von der körperlichen 1202

[111/326]

Behandlung der Neugeborenen unmittelbar über. Das Erzeugen von Behagen und Abstellen von Mißbehagen im Kinde durch Bewegung des Körpers ist der erste Schritt zur Formung der Seele. Gerade wéil Plato alle Bildung des Menschen als Formung der Seele verstand, wurde er zum Begründer der Pädagogik des frühen Kindesalters. Die Befreiung des Kindes von Angstgefühlen ist der erste Schritt auf dem Wege seiner Erziehung zur Tapferkeit. Das ist der Erfolg, den Plato sich von der Gymnastik der Neugeborenen verspricht. Unzufriedenheit und Verstimmung tragen bei zur Erzeugung von Furcht 243 . Plato fordert das Einschlagen des richtigen Mittelwegs zwischen Verweichlichung und Unterdrückung. Die eine macht überempfindlich und übellaunig, die andere unfrei, duckmäuserisch und menschenfeindlich 244 . Es ist, wie wir sagen würden, die Züchtung des Minderwertigkeitskomplexes, den der Erzieher am sorgfältigsten zu vermeiden suchen muß, weil er allzu leicht das Ergebnis einer Übererziehung ist. Das Ziel muß sein, das Kind zur Heiterkeit zu bilden. Denn der Grund zur Harmonie und zum vollen Gleichgewicht des Charakters muß frühzeitig gelegt werden. Man erreicht diese mittlere Linie, indem man dem Kind weder nur Lust bereitet noch alle Lust von ihm fernhält 244 . Die Gewohnheit hat eine große Macht; Plato leitete geradezu ή Oos, Charakter, von εθος, Gewohnheit, ab24®. Die Gewöhnung an ein solches Gleichmaß muß schon in den ersten drei Jahren einsetzen, in denen das Neugeborene noch fast ganz von Lust- und Unlustgefuhlen beherrscht wird 247 . Plato betrachtet diese Bestimmungen nicht als Gesetze, sondern als ungeschriebene Bräuche (άγραφα νόμιμα). Er mißt ihnen die höchste Bedeutung bei und nennt sie die Bänder des Staates (δεσμοί πολιτείας). Sie halten den gesamten Bau zusammen, und nimmt man sie heraus, so stürzt er ein 248 . Die Normen der Paideia bestehen im wesentlichen aus solchen festen Sitten (εθη) und Gewohnheiten (έττιτηδεύματα). Sie sind wichtiger als das geschriebene Gesetz (νόμος). Wer eine neue Polis aufbauen und fest zusammenbinden will, bedarf beider Elemente 249 . Cicero spricht später in seinen ethischen und staatsphilosophischen Schriften oft von leges et mores oder leges et instituía maiorum, wenn er den gesamten Komplex der geschriebenen und ungeschriebenen Normen bezeichnen will, die dem mensch/.111/327/

1203

lìchen Leben zugrunde liegen. Diese Zweiheit geht auf die klassische Zeit des griechischen Staates zurück, von dessen wirklicher sozialer Struktur Plato diese Begriffe hergenommen hat, um sie dem philosophischen Denken späterer Geschlechter zu vermitteln. Er hat sich selbst den Einwand gemacht, daß Sitte und Brauch streng genommen nicht in ein Werk gehören, das den Titel .Gesetze' fiihrt. Wenn er trotzdem viel aus dieser Quelle geschöpft hat 260 , so ist es nicht deshalb geschehen, weil er die Begriffe nicht scharf genug voneinander geschieden hat, es hängt vielmehr mit seinem Paideiamotiv zusammen. Weil seine Auffassung der Gesetzgebung eine durch und durch erzieherische ist, hat er ihren Begriff weit genug gefaßt, um in sein Werk, das ja ohnehin nicht in Erztafeln auf der Burg aufgestellt werden soll, sondern eine literarische Schöpfung ist, auch Sitte und Brauchtum in reichlichem Maße aufzunehmen. Wie die vielen interessanten Zitate der Sitten (νόμιμα) fremder Völker in den ,Nomoi' beweisen, steht hinter diesem Teil des Werkes ein ebenso ausgedehntes Studium hellenischer und barbarischer „Nomima" wie dies fur die Vergleichung der eigentlichen Gesetze gilt 161 . Es ist die Zeit, wo das Interesse an der Sittengeschichte der eigenen Nation und fremder Völker in Griechenland seinen Höhepunkt erreicht. Aristoteles ist der Fortsetzer dieser Arbeit gewesen, die in der Akademie sichtlich in diesem Zusammenhang betrieben worden ist. Plato stuft die Jugenderziehung nach Perioden ab. Vom dritten bis sechsten Jahr bedarf es der Spiele. Bei ihnen schon soll gegen verweichlichtes und überempfindliches Wesen mit Strafen eingeschritten werden. Diese sollen weder Zorn in dem Bestraften zurücklassen noch die Ausschreitung ungeahndet lassen282. Die Kinder dieses Alters sollen, wenn sie zusammenkommen, Spiele selbst erfinden, man soll sie ihnen nicht vorschreiben. Diese Zusammenkünfte will Plato für jeden Bezirk (κώμη) in den dort gelegenen Heiligtümern veranstalten. Er hat damit die moderne Errungenschaft des Kindergartens vorweggenommen. Die Kinderfrauen sollen dabei das Betragen der ihnen anvertrauten Kleinen überwachen. Sie selbst und die ganze Schar oder Herde (αγέλη ), wie Plato sie mit dem spartanischen Ausdruck nennt, unterstehen der Aufsicht einer der Frauen der Zwölferkommission, die für diesen Zweck von der Eheaufsichtskommission gewählt wird 253 . 1204

[III!328]

Die Erziehung der Knaben und Mädchen soll bis zum sechsten J a h r in weiblichen Händen liegen. Sie ist Koedukation. Von da an trennt Plato die Geschlechter M4 . Die weitere Ausbildung soll gleichermaßen rechts- und linkshändig sein, nicht wie jetzt einseitig255. Die früher zu kurz gekommene Gymnastik wird hier nachgeholt 26 ". Sie wird auf Tanz und Ringübungen beschränkt. Alles, was an ihr nicht fur die spätere militärische Ausbildung nützlich ist,wird abgeschafft 257 . Das muß ein großer Teil der zum Selbstzweck gewordenen Athletik der damaligen Zeit gewesen sein. Anderseits entnehmen wir aus dem, was Plato später über die Anstellung von Lehrkräften auf diesem Gebiet sagt, daß er den Begriff der Gymnastik nach der Seite der militärischen Übungen ganz außerordentlich erweitert sehen will, so daß von der viel gerühmten griechischen Gymnastik im Staate der ,Nomoi' nicht viel mehr als der Name übrig bleibt 258 . Da lesen wir von besoldeten und angestellten Speziallehrern der Bogenschießkunst und Werfkunst, der Fechtkunst für Leicht- und Schwerbewaffnete, der Taktik aller Arten der Bewegung von Heereskörpern, des Lagerschlagens, der Reiterei usw. Plato erklärt dort ausdrücklich, daß er alle diese Dinge mit unter die „Gymnasien" rechnet 85 ·. Dies gilt zwar erst für eine spätere Stufe der Ausbildung, doch erst wenn man es mit dem über die Anfänge der Gymastik Gesagten zusammennimmt, ergibt sich die Perspektive, in der man Piatos Bestimmungen über die Beschneidung der Athletik zu betrachten hat. Was er kultiviert sehen will, ist ein vornehmer, freier Stil des Menschen, und dafür ist die Gymnastik in der Form, wie er sie verlangt, ein wichtiges Mittel. Er redet der Wiederbelebung der alten Wagentänze das Wort wie der der Kureten auf Kreta, der Dioskuren in Sparta und der Demeter und Kore in Athen" 0 . Das erinnert uns daran, daß schon Aristophanes in den .Wolken' den Verfall dieser Tänze als Zeichen des Niederganges der alten Paideia getadelt hatte2®1. Plato sieht im Geiste die Jugend in der Zeit, in der sie noch nicht am Kriege teilnimmt, mit Wagen und Rossen in den feierlichen Prozessionen und Festzügen zu Ehren der Götter schreiten, wie wir sie in idealen Gestalten auf dem Fries des Parthenon erblicken, und läßt sie in Agonen und Voragonen ihre Kräfte messen2®2. Dieselbe Tendenz der Stärkung des soldatischen Geistes, die [III!329]

1205

wir in Platos Theorie hier finden, läßt sich in der politischen Wirklichkeit der damaligen Zeit verfolgen. Die allgemeine militärische Dienstpflicht der Bürger war ursprünglich nicht nur eine spartanische Einrichtung, sondern ebenso die rechtliche Grundlage der bürgerlichen Existenz in der athenischen Demokratie. Sie galt nicht nur nicht als undemokratisch, sondern umgekehrt als die selbstverständliche Voraussetzung der Freiheiten, die jeder als Bürger dieses Staates genoß. Bei der Häufigkeit der Kriege, die Athen in der Zeit seiner größten Macht im 5. Jhrh. zu führen hatte, verstand sich die Erfüllung dieser Pflicht von selbst. Mit dem Aufkommen des Söldnerwesens im 4. Jhrh. beginnt die allgemeine K l a g e über den Verfall der Wehrfähigkeit und -Willigkeit der Bürgerschaft263. Doch die zweijährige Dienstpflicht der Epheben bleibt auch dann bestehen, ja, sie wird angesichts jener Tatsache sogar eine Forderung von erhöhter Bedeutung fur die Erziehung der Jugend. Man hat geglaubt annehmen zu müssen, daß der athenische Staat in der Periode nach der Schlacht bei Chaironeia in seiner Gesetzgebung über die Ausbildung der Epheben sogar praktisch den Anregungen gefolgt sei, die Plato in seinen .Gesetzen' gegeben hatte264. Das läßt sich nicht aufrechterhalten angesichts des Alters der Einrichtung der Ephebie, die sich in weit frühere Zeit hinaufverfolgen läßt266. Doch es ist derselbe Geist, der in Piatos ,Gesetzen' herrscht und der in der athenischen Demokratie ein Jahrzehnt nach Erscheinen dieses Werkes in der Zeit der lykurgischen Reformen Einfluß gewann. Aber da war die Freiheit bereits endgültig verloren. Das Heilmittel wurde zu spät angewandt, um noch wirklich zu helfen, weil die große Menge der Bürger die Notwendigkeit der Wehrfähigkeit erst begriff, als sie vor die vollendete Tatsache der Niederlage gestellt worden war, die die athenische Demokratie für immer vernichtete. Nach der Gymnastik folgt die Musik266. Es scheint, als erübrigte sich ihre erneute Behandlung, nachdem sie schon im zweiten Buch der ,Nomoi' im Zusammenhang mit dem Problem der frühzeitigen Gewöhnung an die rechten Lustempfindungen erörtert worden war 267 . Auch im siebenten Buch ist es derselbe Gesichtspunkt, unter dem Plato an die Musikerziehung herangeht. Gerade durch ihn unterscheidet sich ja, was er in den .Gesetzen' über sie sagt, am meisten von den entsprechenden Ausführungen in der 1206

IIII/330]

, Politela'. Dort war Plato besonders darauf bedacht gewesen, die neuen sittlichen und metaphysischen Gedanken seiner Philosophie als Maßstab an Inhalt und Form der musischen Künste anzulegen; in den ,Nomoi' ist das Interesse, wie wir früher zeigten, der psychologischen Grundlegung des Erziehungswerks zugewandt, setzt also bei der Formung des Unbewußten an. Während noch im zweiten Buch der .Gesetze' die Normfrage im Vordergnind stand und das Gespräch lange dabei verweilte, wer über das Richtige in künstlerischen Dingen das wahre Urteil habe 288 , geht Plato im siebenten Buch gesetzgeberisch vor und stellt dabei den Gedanken des spielenden Lernens in den Vordergrund2®9. Schon in der Vorerörterung war er ausgesprochen worden 270 , doch jetzt beginnt Plato mit einer neuen grundsätzlichen Erklärung über den erzieherischen Wert des Spiels, da dieser bisher in allen Städten völlig verkannt werde271. Sei es nun, daß solche Wiederholungen an sich in der Natur des platonischen Stils des lehrenden Ethos lagen oder durch die Unfertigkeit des Werkes bedingt sind, sie sind jedenfalls ein deutlicher Hinweis auf das, worauf es Plato ankommt. Das Problem des Spiels muß ihn in seinem Alter stärker als je beschäftigt haben, und zwar eben als Mittel der frühen Bildung des richtigen Ethos. Bei den Spielen der Drei- bis Sechsjährigen hatte er der eigenen Erfindungskraft des Kindes volle Freiheit gewährt 272 , doch von dieser Grenze an sind feste Spiele vorgeschrieben, die einen ganz bestimmten Geist atmen. Da die oberste Voraussetzung aller Erziehung die Stabilität der Normen und daher auch die Dauerhaftigkeit der staatlichen Einrichtungen zur Pflege der guten Tradition ist, sucht er in den »Gesetzen' die schon im .Staat' gegebenen Anweisungen zur Reinerhaltung der musischen Tradition auf die frühzeitige Gewöhnung des Kindes an feste Spielformen zu gründen. Am Spiel darf nichts geändert werden, es darf nicht Gegenstand der Mode, der Willkür und des Experimentierens werden, wie Plato dies als fiir seine eigene Zeit charakteristisch ansieht 273 . Das Wort „alt" darf nichts Herabsetzendes an sich haben, wie es in dem gegenwärtigen Zeitalter der wechselnden Mode der Fall ist274. Neue Spiele bedeuten neuen Geist der Jugend, und dieser bedingt neue Gesetze. Jede Änderung ist als solche gefährlich (es sei denn Änderung des Schlechten), gleichviel ob auf dem Gebiet der Witterung oder der körperlichen Diät oder des inneren Charakters175. [Uli331]

1207

Plato sucht daher die Ausdrucksformen des menschlichen Spieltriebs, die Rhythmen und Gesänge, zu stabilisieren, indem er sie nach dem früher erwähnten Vorbild der ägyptischen Kunst 2 7 6 für heilig u n d darum unantastbar und unveränderlich erklärt 277 · Geschichtlich betrachtet würde damit die ganze Entwicklung der Poesie über die hieratisch gebundene Dichtung des Orients hinaus, die die eigentliche Leistung der Griechen war, rückgängig gemacht und Dichtung als Ausdruck des Individuums unmöglich werden. Denn außer den offiziellen Liedern und Tänzen wird in den ,Nomoi' alles andere verboten. I m Griechischen hat das Wort Nomos den Doppelsinn von Gesetz und Lied. Plato möchte beide Bedeutungen zu voller Deckung miteinander bringen. Die Lieder, die in seinem Erziehungssystem anerkannt sind, sollen wie Gesetze sein, und keiner soll an ihnen rütteln 2 7 8 . Eine Anzahl grundlegender Bestimmungen regelt ihr Ethos, ihre Form, ihren Zweck und Gegenstand 2 7 9 . Für ihre Auswahl wird eine Behörde eingesetzt, die auch Halbbrauchbares umredigieren darf, offenbar im Sinn der Änderungen, die Plato selbst vorher an der Elegie des Tyrtaios vorgenommen hat 280 . Die Anweisungen für die lebenden Dichter, die immer den Geist der ,Gesetze' als Norm vor Augen haben sollen, sind wohl nur für die erste Zeit nach der Gründung des neuen Staates gedacht, da später an den einmal rezipierten Liedern nichts mehr geändert werden darf. Höchstens für Gelegenheitsdichtungen wie Hymnen u n d Enkomien auf hochverdiente Mitbürger bleibt neben dieser Tradition noch Platz, und auch diese werden auf Verstorbene beschränkt, die ihre Arete bis ans Ende ihrer Tage bewahrt haben 2 8 1 . Plato stellt sich die neue Ordnung praktisch so vor, d a ß stets absolute Festigkeit der Tradition mit der nötigen Abwechslung verbunden sein soll. Er nimmt das Kalendeijahr als Grundeinheit des zeitlichen Kreislaufs des Lebens und teilt jeder Gottheit höheren oder niedrigeren Ranges ihre ein für allemal bestimmten Festtage zu, die durch Opfer und Gebete begangen werden 2 8 2 . Für jedes Opferfest setzt er besondere Gesänge u n d rhythmische Haltungen und Gebärden fest, sogenannte „Schemata", ein Wort, das die Griechen auch sonst regelmäßig anwenden, wenn sie das Wesen des Rhythmischen beschreiben 283 . Was wir in den ,Nomoi' als ideale Lebensordnung lesen, ist nur mit dem katholischen Kirchenjahr, 1208

[III1332]

seinen festen und für jeden Tag bestimmten heiligen Riten und Liturgien vergleichbar. Der Vergleich, der sich uns schon früher aufdrängte, bestätigt sich uns auch in dieser Konsequenz, die Plato aus seinen Grundgedanken zieht. Solange wir uns Piatos Erziehungsgebäude als Staat vorzustellen suchen, wirkt es befremdend, doch sobald wir an die größte erzieherische Institution der nachklassischen Welt, an die katholische Kirche, denken, erscheint sein letztes Werk geradezu als eine prophetische Vorwegnahme vieler wesentlicher Züge des Katholizismus284. Was in der heutigen Welt als Staat und Kirche geschieden ist, war für Plato noch im Begriff der Polis vereinigt. Doch nichts hat so sehr dazu beigetragen, diese Einheit zu sprengen und ein geistiges Reich neben und über dem Irdischen zu gründen, wie die ungeheuren Anforderungen, die Plato an die erzieherische Geistesmacht der menschlichen Gemeinschaft stellt. Der Staat, den er um seine Erziehungsidee als Zentrum aufbaut, nähert sich in seiner Bewegung von der ,Politela' zu den ,Nomoi' in raschem Tempo dem geistigen Typus der Herrschaft über die Seelen, den die Kirche später verwirklicht hat. Doch stets bleibt es dabei Piatos Grundanschauung, daß dieses Reich nichts anderes ist als die unter überlegener Leitung zur Wirkung geführte innerste Natur des Menschen schlechthin, die Herrschaft des Höheren in tins über das Niedrigere, wie sie in den Axiomen der ,Nomoi' als fundamentale Forderung von ihm niedergelegt ist. Diese Ausweitung des jugendlichen Spieles und seiner Formen ins Grandiose mag manchem als kolossale Übersteigerung eines an sich richtigen Gedankens erscheinen, sie verschiebt jedenfalls das Schwergewicht der Existenz von den Angelegenheiten, die wir sonst besonders ernst zu nehmen pflegen, in den Bereich dessen, was wir als bloßes Beiwerk des Lebens betrachten. Plato ist sich dieser Folge bewußt und vollzieht die Umwertung in feierlich religiösen Worten, in denen er sie mit dem theozentrischen Grundgedanken seiner Gesetzgebung in Verbindung bringt. Am Anfang seines Werkes hatte er den Menschen ein Spielzeug Gottes genannt ses . Wenn wir dieses Bild zusammennehmen mit dem Gedanken des Gesetzesproömiums, in dem er Gott für das Maß aller Dinge erklärt28*, so ergibt sich die Folgerung, die er hier verkündet: das Leben des Menschen ist des großen Ernstes nicht wert. [UI1333]

1209

In Wirklichkeit (φύσει) ist nur Gott alles Ernstes wert, und am Menschen nur das, was das Göttliche in ihm ist287. Das aber ist der Logos, an dessen Bande Gott den Menschen bewegt. Der Mensch in seiner höchsten Form ist ein Spielzeug Gottes288, und das Leben, nach dem er streben sollte, besteht darin, so gottwohlgefallig zu spielen wie möglich289. Ohne diese Perspektive des Göttlichen verliert das Humane seinen selbständigen Wert. Insbesondere sind Krieg und Streit nicht mehr der wahre Ernst des Daseins. Sie enthalten „weder Spiel (παιδιά) noch irgendwie nennenswerte Bildung (παιδεία), was für uns das am meisten ernst zu Nehmende bedeutet". Daher sollte der Mensch das Leben im Frieden zur Hauptsache machen, wie wir ja auch sagen, daß wir Krieg fuhren, um Frieden zu haben290. Das ganze Leben sollte ein beständiger Gottesdienst sein mit Opfer, Gesang und Tanz, um die Gottheit gnädig zu stimmen. Die Feinde abzuwehren, bleibt daneben eine unumgängliche Pflicht, für deren Erfüllung der in diesem Geist erzogene Mensch besser als irgendein anderer vorbereitet ist291. Die geistlichen Ritterorden des Mittelalters haben diesem doppelten Ideal vielleicht am genauesten entsprochen. Während das Ganze des platonischen Gesetzesstaates, wenigstens mit den Augen des liberalen 19. Jhrh. gesehen, so unmodern wirkt, stehen daneben viele äußerst moderne Einzelforderungen wie allgemeiner Schulzwang292, Reitsport fur Frauen293, Bau öffentlicher Schulen und Turnplätze294, Erziehung für beide Geschlechter298, die Plato in der ,Politeia' nur für die Wächter durchführen wollte, strenge Zeiteinteilung des Tagewerks29® und die dem Griechen sonst ganz unbekannte Nachtarbeit für Leute in leitenden Stellungen des öffentlichen und privaten Lebens297, Kontrolle der Lehrer298 und Einrichtung einer höchsten staatlichen Unterrichtsbehörde mit einem staatlichen Unterrichtsminister an der Spitze299. An dieser Stelle wird die Existenz des „Epimeleten der Paideia" von Plato einfach vorausgesetzt. Die Einrichtung des Amtes als solchen findet sich bereits im sechsten Buch der ,Gesetze' bei der Einsetzung der Ämter (άρχω > κατάστοσις), die den Gegenstand dieses Buches bildet. Es sei hier nur kurz daran erinnert, daß Plato, als er von den Proömien zu der eigentlichen Gesetzgebung überging (735 A 5), Gesetze ü b e r die Einrichtung der Verwaltung und ausführende Gesetze f ü r die 1210

[UH334]

Verwaltung des Staates unterschieden hatte. Die Beamten fiir Musik und Gymnastik werden 764 C f. bestimmt, daran schließt sich (765 D) als Krönung die Einsetzung des wichtigsten Amtes für das Erziehungswesen: des Unterrichtsministers. Er soll nicht jünger als fünfzigJahre sein. Schon in diesem, wie wir sagen würden, verfassungsrechtlichen Zusammenhang hebt Plato die fundamentale Wichtigkeit der Paideia im Staat der ,Gesetze' in feierlichen Worten (766 A) hervor und begründet damit die für Griechen überraschende Schaffung eines völlig neuen Amtes, das der Zentralstellung der Paideia in diesem Staate sichtbaren Ausdruck gibt. Plato schärft den Wählern wie dem Gewählten ein, daß das Amt des höchsten Erziehungsbeamten „unter den höchsten Staatsämtern das bei weitem wichtigste" ist (765 E 2). Der Gesetzgeber will durch die Einrichtung der höchsten Unterrichtsbehörde verhindern, daß die Erziehung in seinem Staat jemals „zur Nebensache wird". Die Wahl des Unterrichtsministers wird mit ganz besonderer Feierlichkeit und Umständlichkeit umgeben. Alle Beamten außer der Bulé und den Prytanen versammeln sich im Heiligtum des Apollon und wählen in geheimer Abstimmung dasjenige Mitglied des Staatsrats (νυκτερινός σύλλογος), der „Gesetzeswächter" (νομοφύλσκες), das jeder für die Leitung der Erziehungsangelegenheiten am geeignetsten hält. An der Prüfung der Würdigkeit des Gewählten (δοκίμοσίσ) nehmen seine nächsten Kollegen, die Nomophylaken, nicht teil. Die Dauer der Amtsperiode beträgt fünf Jahre, der Inhaber des Amtes ist nicht wiederwählbar. Er bleibt aber dauernd Mitglied des nächtlichen Staatsrats, dem er als Epimelet der Paideia natürlich automatisch an erster Stelle angehört. Doch kehren wir von diesem verfassungsrechtlichen Exkurse zu der Amtsführung des Erziehungsministers zurück. Es ergibt sich jetzt die Frage, wie der oberste Erziehungsbeamte selbst zu erziehen ist500. Er soll mit möglichst eingehenden Anweisungen versehen werden, um dann seinerseits den anderen als Interpret und Erzieher zu dienen801. Die Vorschriften über Chortanz und Gesang sollen die Grundlage seiner Instruktion bilden, denn die religiöse Erziehung gibt allem übrigen den Rahmen 9 w . Doch darüber hinaus müssen die Kinder aller freien Bürger — denn um sie handelt es sich in den .Gesetzen' — viele Kenntnisse erwerben. Da wird über Lesen und Schreiben, über Spielen der [III1335]

1211

Lyra und Uber die Lektüre der nicht gesungenen und getanzten Dichtungen gehandelt 803 . Auf die Methode des Unterrichts in den Dichtern wird besonders eingegangen. Plato tadelt die Vielwisserei, die auf diesem Gebiete zu seiner Zeit vielen als Bildung galt 804 . Man lernte, wie auch andere gleichzeitige Quellen bestätigen, ganze Dichter auswendig805, was mit der von Plato im .Staate' bekämpften Auffassung der Poesie als Enzyklopädie alles Wissens zusammenhing306. Er empfiehlt statt dessen als erster in der Geschichte des Unterrichts die Herstellung von Lesebüchern, die nur eine Auswahl des Besten enthalten 307 . Er will nur einzelne Abschnitte dichterischer Werke dem Gedächtnis eingeprägt wissen, um Überlastung mit Stoff zu verhindern. Die Lehrer sollen die Auswahl treffen im Hinblick auf das Paradigma der ,Gesetze 80e. Hier läßt der Verfasser fìir einen Augenblick die Illusion des wirklichen Gesprächs fallen und denkt dieses als literarisches Werk. Es ist von göttlicher Inspiration eingegeben so gut wie nur irgendeine dichterische Schöpfung, ja, Plato stellt es mit der Dichtung in Versen ausdrücklich auf gleiche Stufe, eines der bedeutsamsten Zeugnisse seines künstlerischen Selbstbewußtseins809. Nicht nur die Jungen sollen die .Gesetze' als Dichtung höchsten Stils lesen, sondern die Lehrer sollen sich ihren Maßstab für wahre Poesie an ihnen bilden und sie auf das sorgfaltigste studieren810. Der höchste Erziehungsbeamte des Staates soll sich seine Mitarbeiter und Lehrkräfte nach dem Maße ihres Verständnisses fìir dieses Werk und die in ihm niedergelegten Anschauungen wählen. Wer nicht mit dem Geiste dieser ,Gesetze' innerlich übereinzustimmen vermag, ist als Erzieher untauglich und darf in dem platonischen Staat keine Anstellung finden811. Wir sehen heute natürlich die Gefahr im Hintergrunde lauern, daß viele dieses Werk nur deshalb loben werden, um angestellt zu werden. In jedem Falle will Plato es als den Kodex aller Erziehungsweisheit und als unerschöpfliche Fundgrube des Bildungsinhalis betrachtet wissen. In dieser Absicht gibt er es jedem Grammatisten in die Hand 812 . Es soll hier nicht im einzelnen nacherzählt werden, wie nach dem Literaturlehrer der Musiklehrer oder Kitharist seine Instruktion empfängt 313 oder wie das Reglement für Gymnastik und Orchestik die allgemeinen Gedanken, die von uns bereits früher 1212

[IIU336J

dargestellt worden sind, in die Praxis umsetzt814. Es finden sich naturgemäß in diesen Abschnitten zahlreiche Berührungen mit dem ,Staat' und mit der Vorerörterung dieses Problems in den früheren Büchern der ,Gesetze'81B. Piatos Ernst geht leicht in Ironie über, und so hält er auch den Dichtern, denen er Nachahmung schlechter Vorbilder und Gegenstände in ihren Tanzweisen und Liedern vorwirft, seine ,Nomoi' als die schönste aller Tragödien entgegen, weil sie eine Nachahmung des schönsten und besten Lebens sei81·. „Ihr seid Dichter, und wir sind Dichter in der gleichen Gattung", so spricht er817 zu ihnen, „wir — die Philosophen — sind eure Konkurrenz. Wir sind eure Antagonisten in dem schönsten Drama, das nur wahrer Nomos hervorzubringen vermag, wie unsere Hoffnung ist. . . Jetzt, ihr Abkömmlinge weichlicher Musen, legt eure Lieder zuerst dem Archonten vor und laßt sie vergleichen mit den unsrigen, und wenn sie ebenso gut oder besser sind als die unseren, werden wir euch einen Chor geben, sonst aber, Freunde, können wir es nicht tun". Auf den Wettkampf mit der Poesie alten Stils war Piatos Schriftstellerei von Anfang an angelegt; er war die Voraussetzung der Angriffe im ,Staat* auf die klassischen Dichter. Die gesetzliche Einführung von Piatos eigenen Werken an Stelle der älteren Poesie als Gegenstand des Unterrichts auf den Schulen und den Orchestren seines Zukunftsstaats ist logischerweise der letzte notwendige Schritt auf diesem Wege. Er ist, ganz abgesehen von der Frage der Verwirklichung einer solchen Forderung, für das Verständnis Piatos wahrhaft erleuchtend: der Philosoph wird Dichter, um die neue Paideia zu schaffen, und gründet den Staat, den er ersinnt, auf sein eigenes Werk. Diese Äußerung muß man neben die im ,Phaidros' und im 7. Brief halten, wo Plato dem geschriebenen Wort fast alle Bedeutung zu nehmen schien818, um den Wahrheitsgehalt wie die Ironie in beiden Selbstansichten zu erkennen. Es ist lehrreich zu sehen, wie der Philosoph, der im , Staat' die Bildung der Herrscher auf Dialektik und Mathematik aufgebaut hatte, in den ,Gesetzen' über die Wünschbarkeit dieser Art des Wissens fur die Volksbildung denkt. Es versteht sich von selbst, daß die gründliche und langjährige Ausbildung in der Mathematik und Astronomie, die er von den höchsten Lenkern des Staates fordert, für die allgemeine Erziehung der Bürger nicht [1IU337]

1213

in Betracht kommt*1®. Aber er begnügt sich für sie doch nicht mit Gymnastik und Musik, der alten Paideia, sondern fügt zu ihr erstmalig eine realistische Elementarbildung hinzu. Damit wird einmal den gesteigerten Anforderungen der Zeit an die Schulung des Verstandes Rechnung getragen, aber Plato hat noch einen höheren Zweck dabei im Auge. Diese Wissenschaften haben jetzt eine unmittelbare Bedeutung für die Weltanschauung erlangt, die sie ehemals nicht besaßen 32 ". Wenn Plato sagt, die Erziehung des Volkes bedürfe nur der Kenntnis der Anfangsgründe der Rechenkunst und der Strecken- und F l ä c h e n m e s s u n g 8 8 s o scheint das auf den ersten Blick dei Beschränkung gleichzukommen, die Sokrates in diesen Fächern für die Paideia verlangt hatte8®2. Doch dieser hatte dabei an die Bedürfnisse des künftigen Politikers gedacht, während Plato von der Elementarbildung redet. Sie war zwar niemals ganz ohne Rechenunterricht gewesen, doch das Mindestmaß an Mathematik, das Plato für nötig erachtet, geht augenscheinlich darüber hinaus. Es bedeutet einen neuen Sieg der mathematischen Wissenschaft, die nach der höheren Bildung nun auch die Volksbildung erobert. Dieser ihrer Herrschaft über alle Stufen der Bildung ist es zuzuschreiben, daß die Mathematik sich früher als irgend eine andere Wissenschaft mit der pädagogischen Notwendigkeit vertraut gemacht hat, ihre Erkenntnisse gemäß dem Bildungsgrad jeder Stufe in verschiedenen Graden der Faßlichkeit mitzuteilen, ohne dabei der Exaktheit ihrer Methode das Geringste zu vergeben 823 . Plato ist offenbar von der modernen Mathematik seiner Zeit so erfüllt, daß er seine Forderung des mathematischen Elementarunterrichts geradezu mit dem Hinweis auf die neuesten Einsichten der griechischen Forschung begründet. Der athenische Fremdling spricht offen aus, daß er selbst erst in höherem Alter mit den Lehren bekannt geworden sei, die er durch die Volksschule der gesamten griechischen Nation einprägen will, und erklärt es für eine Schande, daß das gebildete griechische Volk in dieser Hinsicht hinter den Ägyptern zurückstehe 324 . E r sagt dies mit Bezug auf die Frage der Meßbarkeit der Strecken, Flächen und Körper durcheinander 325 . Offenbar beruht, was Plato hier sagt, auf neuerer Berichterstattung über den Erkenntnisstand der ägyptischen Mathematik. Diese Kenntnis verdankt er wahrscheinlich dem 1214

[III/338J

Eudoxos, der selbst längere Zeit in Ägypten gelebt und observiert hatte 329 . Auf einen direkten Zeugen muß auch zurückgehen, was Plato über die anschaulichen Methoden weiß, die die Ägypter beim arithmetischen Elementarunterricht anwenden und die er nachzuahmen empfiehlt 827 . Daß sein Gewährsmann Eudoxos war, gewinnt erhöhte Gewißheit durch den Umstand, daß Plato diesen Hinweis mit der Einführung einer anderen Lehre verbindet, die gleichfalls den Griechen noch unbekannt und für die richtige Gottesverehrung von größter Bedeutung sei. Dies ist die astronomische Einsicht, daß die sogenannten Planeten oder Irrsterne ihren Namen völlig mit Unrecht führen, da sie sich nicht, wie es dem Augenschein entspricht, am Himmel vorwärts und wieder rückwärts bewegen, sondern immer gleichbleibende regelmäßige Kreisbahnen beschreiben32e. Diese Theorie war von Eudoxos aufgestellt worden, und ihr war die von Plato in diesem Zusammenhang besonders erwähnte Erkenntnis 7u verdanken, daß deijenige Planet, der sich dem Augenschein nach am langsamsten bewegt, der Saturn, in Wirklichkeit der schnellste von allen ist und die weiteste Bahn zurücklegtS2e. Plato bezieht diese astronomische Tatsache auf seine Anschauung von den Gestirnen als beseelten Wesen oder sichtbaren Göttern. Von hier aus betrachtet, wird der sachliche Irrtum zur gröblichen Unterlassung einer verdienten Ehrenerweisung, die schon bei einem Olympialäufer als das größte Unrecht erscheinen würde, geschweige bei der kultischen Verehrung eines Gottes830. So mündet die Forderung des mathematischen und astronomischen Unterrichts auf der Volksschule direkt in die eigentümliche Theologie der ,Nomoi', für die die Betrachtung des ewigen mathematischen Kreislaufs der Gestirne eine Hauptquelle des Gottesglaubens ist831. Die theologische Funktion der „Mathemata", besonders der Astronomie, ist für Plato wesentlich. In späteren Ausführungen der .Gesetze', die dem Beweise für das Dasein Gottes gewidmet sind, wird der geschichtliche Wandel nachdrücklich hervorgehoben, der aus der atheistisch denkenden Astronomie früherer Jahrhunderte durch die neueren Entdeckungen dieser Wissenschaft eine Stütze der Gotteskenntnis gemacht hat832- Der verstärkte „realistische" Unterricht dient letzten Endes der Befestigung des Gottesglaubens in den Herzen der BürgerÄSa. Plato findet seine Polis so verschieden von allem, was existiert, [111/339]

1215

daß die Frage sich aufdrängt, wie ihr Verhältnis zu der übrigen Welt sich gestalten soll. Da sie keine Seestadt ist, wird sie keinen nennenswerten Handel treiben, sondern nach wirtschaftlicher Autarkie streben *·*. Doch auch in geistiger Hinsicht muß sie abgeschlossen sein gegen alle zufalligen Einflüsse von außen, die die Wirkung ihrer vollkommenen Gesetze stören könnten 33s. Reisen in das Ausland werden nur Herolden, Gesandten und Theoren gestattet 33 Unter letzteren versteht Plato nicht Festgesandte, wie es der herkömmliche Sinn dieses Wortes war, sondern Männer, die etwas vom Geist wissenschaftlicher Forschung an sich haben, also wirkliche „Betrachter" der Kultur und Gesetze der anderen Menschen, die in Muße die ausländischen Zustände studieren 137 . Ohne Kenntnis der Menschen, der guten und der schlechten, vermag kein Staat etwas Vollkommenes zu werden noch seine Gesetze zu erhalten. Der Hauptzweck solcher Auslandsstudienreisen ist der Verkehr der Theoren mit den wenigen hervorragenden Persönlichkeiten oder „göttlichen Männern", die es unter den Vielen gibt und mit denen zu reden und sich zu verständigen sich lohnt 838 . Es muß für Plato kein ganz leichtes Zugeständnis sein, daß es solche Männer Uberall in der Welt gäbe, in den besteingerichteten wie in schlechten Staaten. Er selbst ist viel und lange von Athen abwesend gewesen, und das Gesetz über die Auslandsreisen oder „Theorien" geistig hochstehender Männer entspringt augenscheinlich seinen persönlichen Erfahrungen. Die Ausgesandten sollen im Austausch mit ihresgleichen im Ausland sich ihre Ansichten darüber bilden, welche Gesetze ihrer Polis gut sind und welche der Verbesserung bedürfen. Nur erfahrene Männer, die das fünfzigste Jahr überschritten haben, werden mit dieser Aufgabe betraut 3 ·*. Wenn sie heimkehren, haben sie freien Zutritt zu der höchsten Behörde, das aber ist der geheime nächtliche Staatsrat. Ihm gehören an: die Inhaber der höchsten Priesterämter, die zehn ältesten Gesetzeswächter, die höchsten Exekutivbeamten und der Kultus- und Unterrichtsminister oder „Epimelet für die gesamte Paideia" und seine noch lebenden Amtsvorgänger. Die Kompetenz dieses Rats umfaßt Gesetzgebimg und Erziehung; ihre Verbesserung ist seine Aufgabe. Der aus dem Ausland Zurückgekehrte, der dort die Einrichtungen anderer Menschen von nahem gesehen hat, soll Bericht erstatten über alle Anregungen, die er 1216

[111/340]

auf dem Gebiet der Gesetzgebung wie der Erziehung von anderen empfangen hat, sowie über seine eigenen Beobachtungen. Doch seine Ratschläge sollen strenger Kritik unterliegen, um diese Einrichtung nicht zur Einlaßpforte für schädliche Einflüsse werden zu lassen840. Sowohl in der Zusammensetzung des Staatsrats wie in der Zielsetzung seiner Tätigkeit und der Zweckbestimmung der Studienreisen der Theoren spiegelt sich die alles beherrschende Stellung der Paideia im Staat der ,Gesetze*. Es ist Piatos Streben, seinen Staat vor der Gefahr der Erstarrung zu schützen und autoritative Regelung des Lebens im Innern mit elastischer Aufnahmefähigkeit für nützliche Anregungen von außen zu verbinden. Herrscherbildung und Gotteserkenntnis

Der nächtliche Rat ist der Anker des Staates 341 . Seine Mitglieder müssen das Ziel kennen, auf das der Staatsmann hinblicken soll342. Darin erkennen wir die Grundstruktur des Staates der ,Politela' wieder. Dort war dieses Ziel die Idee des Guten genannt, hier heißt es mit dem alten sokratischen Ausdruck die Einheit der Tugenden 848 . Doch beides bedeutet dasselbe; denn es ist die Idee des Guten, die wir erblicken, wenn wir die Einheit der verschiedenen Erscheinungsformen des Gutseins, die wir Aretai nennen, ins Auge fassen344. Das Organ des Staates, das in der ,Politela* der Träger dieser höchsten und staatsbildenden Erkenntnis ist, sind die Wächter. Ihnen entspricht in den ,Nomoi' der nächtliche Rat. Es wird ausdrücklich gesagt, daß seine Mitglieder die „ganze Tugend" besitzen müssen und mit ihr zugleich diejenige Fähigkeit, die ihr gestaltendes geistiges Prinzip ist: die philosophische Erkenntnis des Einen in der Vielheit 345 . Daß im ,Staat* über diese ausführlicher gehandelt wird, während Plato hier nur kurz andeutet, daß sie die eigentliche Herrscherbildung ist, macht keinen wesentlichen Unterschied, und wenn wir am Anfang sagten, daß in den ,Gesetzen' die Ideenlehre fehlt, so soll damit nicht denen rechtgegeben werden, die das im Sinne der bekannten modernen Hypothese deuten, nach der Plato im späteren Alter seine Ideenlehre preisgegeben hätte34®. Das gerade Gegenteil kann mit größter Gewißheit aus seinen skizzenhaften Bemerkungen über die Erziehung der Herrschenden im zwölften Buch der ,Nomoi' gefolgert [III!341]

1217

werden. Er verweist dort auf die Dialektik347 als etwas seinen Lesern Bekanntes; eine erneute Behandlung ihres Bildungswertes hätte nur zu Wiederholungen des bereits im .Staat' Gesagten fuhren können. Doch die bildende Funktion der Dialektik, die Zusammenschau des Vielen zur Einheit, wird mit den alten Worten eindeutig bezeichnet und an dem alten sokratischen Grundproblem der Einheit der Tugenden veranschaulicht. In der Tat war ja eben dieses Problem der Arete und nicht irgendeine beliebige andere Idee die Wurzel, aus der der platonische Gedanke entsprungen war, die philosophische Erkenntnis des Einen im Vielen zur Grundlage der Herrscherbildung und des ganzen Staates zumachen. IndiesemKardinalpunktbleibtPlatos Denken vom frühesten bis zum letzten seiner Werke unverändert. Es bleibt sich auch darin gleich, daß es der Phronesis, der Erkenntnis dieser Einheit des Guten als höchster Norm, als Ideal, den obersten Rang unter den Tugenden anweist848. Die Mitglieder des nächtlichen Staatsrates geben den Wächtern der ,Politela' nichts nach in ihrer philosophischen Bildung. Sie ist die Dreieinigkeit der Erkenntnis der Wahrheit sowie der Fähigkeit, sie in Worten auszusprechen und mit der Tat der Welt vorzuleben84·. Immer wieder betont Plato in den .Gesetzen', daß das Vorbild der Tat der wahre Kern aller Paideia ist880. Die Wahrheit, die die Herrschenden erkennen sollen, ist das Wissen der Werte, d. h. der Dinge, um die sich mit der Tat zu bemühen allen Ernstes wert ist361. Dieses System der Werterkenntnis gipfelt in der Erkenntnis Gottes, denn Gott ist, wie Plato uns gelehrt hat, das Maß aller Dinge862. Um dieses Maß praktisch in den Gesetzen und im Leben zu entfalten, müssen der Gesetzgeber und die Organe der Regierung des Staates die Erkenntnis Gottes als des höchsten Seins und Wertes selbst besitzen. Gott hat im Staat der ,Gesetze' die Stelle inne, die in der ,Politciac das höchste Paradeigma einnimmt, welches die Herrscher in ihrer Seele tragen sollen, die Idee des Guten 353 . Zwischen beiden besteht kein Unterschied des Wesens, sondern nur ein solcher des Aspekts und der Erkenntnisstufe, der sie als Gegenstand entsprechen36*. Piatos ,Nomoi' endigen mit dem Gottesgedanken, aber dahinter steht, wie das zehnte Buch zeigt, eine vollständige Theologie. Es kann in einer Geschichte der griechischen Paideia nicht näher auf die begriffliche Struktur dieser Theologie eingegangen werden; 1218

[III¡342]

sie gehört in eine Geschichte der philosophischen Theologie der Griechen und soll in diesem Zusammenhang an anderem Ort von uns erörtert werden. Die Paideia der Griechen und ihre philosophische Theologie sind die beiden Hauptformen der weltgeschichtlichen Wirkung des Hellenen turns gewesen während der Jahrhunderte, in denen von griechischer Wissenschaft und Kunst fast nichts mehr erhalten war. Im Homer hing beides, menschliche Arete und Götterideal, ursprünglich zusammen. In Plato stellt sich dieser Zusammenhang auf einer anderen Stufe wieder her. Am deutlichsten wird diese Synthese in seinen beiden großen Erziehungswerken, dem ,Staat' und den ,Gesetzen', und zwar mit wachsender Klarheit und Entschiedenheit. Der Höhepunkt ist das Schlußwort der .Gesetze', zu dem wir das ganz dem Gottcsproblem gewidmete zehnte Buch hinzunehmen müssen. Es wird durch die geschichtliche Fortsetzung der platonischen Metaphysik in der Theologie des Aristoteles und anderer Platoschüler bestätigt (unter ihnen auch durch die vom Herausgeber der ,Gesetze' hinzugefügte ,Epinomis'), daß sich hinter den andeutenden Umrissen dieses platonischen Schlußwortes nichts Geringeres verbirgt als der Entwurf einer solchen Wissenschaft von den höchsten Dingen als Abschluß und Krönung alles menschlichen Wissens. Hier gibt es keinerlei Unterschied zwischen bloßem Bildungswissen und höchstem Wesenswissen, wie man ihn in neuerer Zeit aufzurichten versucht hat 355 , denn im Geiste Piatos ist überhaupt kein wahres Bildungswissen denkbar, das nicht seinen Ursprung, seine Richtung und sein Ziel fände in dem Wissen von Gott. Zwei Quellen sind es, aus denen aller Glaube des Menschen an die Existenz des Göttlichen strömt, so erklärt Plato in diesem Epiloge seines schöpferischen Wirkens auf Erden: die Erkenntnis der ewig gleichbleibenden mathematischen Kreisbahnen, in denen sich die himmlischen Körper bewegen, und das „ewig strömende Sein" in uns, die Seele35*. Von Aristoteles, der diese zwei Quellen der Gottesgewißheit aus Piatos ,Gesetzen' in seine Theologie hinüberleitete, bis zu Kants ,Kritik der rein, η Vernunft', die am Schluß aller ihrer umstürzenden theoretischen Einsichten praktisch wieder bei ihnen endigt, ist die Menschheit philosophisch nicht über diese Erkenntnis hinausgelangt 357 . So mündet Piatos lebenslange Bemühung um die Aufdeckung der wahren und unumstößlichen Grundlagen aller [III

1343]

1219

Menschenbildung in der Idee dessen, was höher ist als der Mensch und doch des Menschen wahres Selbst ist. Der antike Humanismus in der Gestalt, die er in der platonischen Paideia angenommen hat, findet sein Zentrum in Gott 368 . Der Staat ist die soziale Form, die die geschichtliche Überlieferung des griechischen Volkes Plato darbot, um in ihr diese Idee auszuprägen. Doch indem er ihn mit seiner neuen Gottesidee als dem Maß aller Maße durchdrang, verwandelt er ihn aus einer lokalen und zeitlichen irdischen Organisation in ein ideales Gottesreich, das universal war wie sein Symbol, die beseelten Sterngötter. Ihre Strahlenleiber sind die Götterbilder, die Agalmata, die der Piatonismus an die Stelle der Bildnisse der olympischen Menschengötter setzt. Sie sind nicht in enge Tempel gebannt, die von Menschenhand gebaut sind, sondern ihr Licht leuchtet, den einen höchsten, unsichtbaren Gott verkündigend, über alle Völker der Erde.

1220

[111/344]

DEMOSTHENES Demosthenes war für die Jahrhunderte seit seiner Wiedererweckung in der Renaissance, was er schon für den Veranstalter der ersten gedruckten Ausgabe seiner Werke laut der lesenswerten Vorrede bedeutet hat: der Erwecker der Griechen zur Freiheit und redegewaltige Vorkämpfer gegen ihre Unterdrücker. Noch in der Zeit der napoleonischen Unterdrückung Europas ist er von dem deutschen Philologen und Humanisten Friedrich Jacob übersetzt worden, um den Geist der nationalen Unabhängigkeit zu stärken, und der Staatsmann Clémenceau hat unmittelbar aus dem Erlebnis des Weltkrieges ein Demosthenesbuch voll glühender französischer Rhetorik gegen die Deutsch-Makedonen geschleudert und die Athener in Paris vor den Gefahren eines durch Verfeinerung entnervten Künstler- und Rentnervolks gewarnt, das nicht mehr über die vitalen Kräfte verfügt, dem barbarischen Gegner einen ungebrochenen Existenzwillen entgegenzustellen 1 . Während hier auf dem Boden lateinischer Kultur mit den eigenen rednerischen Mitteln des gefeierten Heroen ein neuer Demostheneskult gestiftet wurde, auf dessen Altären das Feuer des alten Klassizismus zum letztenmal aufflammte, zog das Kriegsbuch eines deutschen Philologen mit dem verachtungsvollen Titel „Aus einer alten Advokatenrepublik" das für Demosthenes scheinbar vernichtende Fazit aus einem Jahrhundert scharfer Reaktion gegen eben dieses klassizistische Bild des großen Redners und Agitators, aus dem die Schulrhetorik mit Unrecht einen Heiligen gemacht habe 2 . Gewiß waren in diesem Kriegsbuch, das selbst in hohem Maße agitatorisch ist, alle Züge in zu grelles Weißlicht gerückt und maskenhaft überschärft, doch es bezeichnet j a auch nur den äußersten Punkt auf einer Kurve, die das geschichtliche Urteil über Demosthenes seit dem Erwachen des historischen Sinnes vor etwa anderthalb Jahrhunderten durchlaufen hat. [III13451

1221

Zwar noch der erste große Repräsentant der neuen geschichtlichen Anschauungsweise im Reiche der Altertumsforschung, Barthold Georg Niebuhr, war einer der überzeugtesten Verehrer des Demosthenes, doch mit Johann Gustav Droysen brach die Kritik mit Macht herein. Sie ging aus von der epochemachenden Entdeckung der Welt des Hellenismus3. Bisher hatte die griechische Geschichte mit dem Untergang der politischen Freiheit des griechischen Stadtstaates in der Schlacht bei Chaironeia ihren dramatischen Abschluß gefunden. Demosthenes stand als letzter griechischer Staatsmann an ihrem Sarg und hielt ihr die Leichenrede. Nun aber ging plötzlich der Vorhang hoch vor dem ungeheuren Schauspiel der Jahrhunderte der politischen und geistigen Weltherrschaft des Griechentums, die mit der Eroberung des Perserreichs durch Alexander begann. In dieser Perspektive einer unaufhaltsamen äußeren und inneren Entwicklung der griechischen Kultur zum Universalismus und Kosmopolitismus wandelten sich die Proportionen, und die Größe des Demosthenes erschien als Kleinheit und Beschränktheit. Er gehörte einer Welt an, so schien es, die, befangen in eitler Selbsttäuschung über ihre wahre Bedeutung, nur noch von dem Anachronismus der rhetorischen Erinnerung an ihre glorreichen Vorfahren zehrte 4 . Ihre Tat wollte sie in der Gegenwart wieder aufleben lassen, während sie selbst bereits der Vergangenheit angehörte. Ein Schritt der Kritik folgt immer dem anderen. Zuerst hatte man sich befreit von dem Maßstab der politischen Urteile des Demosthenes, denen sich die moderne Geschichtschreibung bisher willig gefugt hatte, weil kein zusammenhängendes Bild der Geschichte seiner Zeit von zeitgenössischer Hand erhalten war. Nachdem man gelernt hatte, die Befähigung des Staatsmanns Demosthenes zu bezweifeln, begann man auch seinen Charakter zu prüfen und zu verwerfen. Gleichzeitig begannen die Gegenspieler des Demosthenes, Isokrates und Aischines, im Kurse zu steigen, weil sie den Glauben an die Zukunft des athenischen Staates rechtzeitig aufgegeben hatten und allen Kampf widerrieten. Der Erfolg wurde, wie so oft, zum Preisrichter der Geschichte gemacht, und man war befriedigt zu finden, daß Demosthenes schon zu seinen Lebzeiten6 Gegner gehabt hatte, die so einsichtsvoll gewesen waren wie die moderne Wissenschaft. Es ist Zeit, das Bild des Demosthenes von neuem einer Re1222

[IH/346]

vision zu unterziehen, nachdem die Kritik ihre Grenzen ohne Zweifel weit überschritten hat®. Die radikale Umwertung der Persönlichkeiten des Demosthenes, Aischines und Isokrates muß das Gefühl und den gesunden Menschenverstand alarmieren durch ihre psychologische Unwahrscheinlichkeit. Abgesehen davon hat sich seit dem Aufkommen der hellenistischen Welt ein entscheidender Fortschritt in der Beurteilung der Geschichte des 4. Jhrh. vollzogen. Er ist nicht von der politischen Entwicklung ausgegangen, sondern von der Geschichte der geistigen Bewegungen dieser tief einschneidenden Epoche. Ein völlig neues Bild der Verflechtung des politischen Schicksals in die allgemeine Krisis des griechischen Geistes und der Kultur ist gewonnen; Welten, die bis vor wenigen Jahrzehnten hermetisch gegeneinander abgeschlossen schienen, wie die Geschichte des Staats und der Philosophie, der Publizistik und Rhetorik, erscheinen jetzt als lebendige Glieder eines einheitlichen Organismus und nehmen teil an demselben großen Lebensprozeß der Nation. Wir sind dabei zu lernen, dem Gedanken der geschichtlichen Notwendigkeit, den Thukydides entdeckt hat', eine weitere Fassung zu geben, als es speziell in der politischen Geschichte üblich gewesen ist. Es erscheint jetzt als krasser Rationalismus, wenn man das Auftreten eines geschichtlichen Phänomens wie Demosthenes in der Geschichte des sinkenden griechischen Polisstaates lediglich von seiner Person aus und nach seinen realpolitischen Chancen beurteilt. In seinem Widerstand gegen die Mächte seiner Zeit vollzieht sich das überpersönliche Gesetz der zähen Beharrung eines Volkes in der einmal von ihm geprägten Lebensform, die in seiner Naturanlage begründet ist und der es" die höchsten Errungenschaften seiner Entwicklung verdankt. Die Grundtatsache der griechischen Geschichte in den Jahrhunderten von Homer bis auf Alexander war die griechische Polis als die ein fur allemal gegebene Form des staatlichen und geistigen Lebens 8 . Vielgestaltig wie die individuelle Mannigfaltigkeit der griechischen Landschaft hatte sie den ganzen Reichtum des inneren und äußeren Lebens der griechischen Stämme zur Entfaltung gebracht, und auch als nach dem Erwachen einer panhellenischen geistigen Gemeinsamkeit seit dem Ende des 6. Jhrh. die Entwicklung auf staatlichem Gebiet ' zur Zusammenfassung zahlreicher [111/347]

1223

kleinerer Einheiten zu bündischen Gebilden größeren Umfangs geführt hatte, war die selbständige Existenz des Stadtstaates die Grenze gewesen, vor der die neuen Notwendigkeiten früher oder später Halt machen mußten. Die Frage der Autonomie der Polis ist niemals wieder zur Ruhe gekommen seit ihrer ersten Verletzung durch die athenische Reichspolitik unter Perikles, die die Bundesgenossen zu Untertanen herabdrückte. Als die spartanische Hegemonie nach dem Ausgang des Peloponnesischen Krieges das Erbe der athenischen Macht antrat, mußte sie ihre Vormachtstellung auf der formalen Anerkennung der Autonomie der Einzelstädte aufbauen. Nach dem ersten großen Aufstand griechischer Staaten gegen die spartanischen Oberherren in dem sogenannten Korinthischen Kriege war dies in dem Friedensschluß des Antalkidas feierlich anerkannt worden ·. Für Sparta bedeutete die Formel der Autonomie der griechischen Staaten allerdings zugleich das Mittel, um die Bildung eines Gegenbundes unter Führung eines anderen Staates zu verhindern, aber als es selbst die Zügel straffer anzog und in die Freiheit der Einzelstaaten eingriff, war der Sturz der spartanischen Herrschaft die Folge. Seither hat sich überhaupt keine entschiedene Alleinherrschaft eines einzelnen Staates im griechischen Staatensystem mehr durchzusetzen vermocht. Mit anderen Worten: die Preisgabe des autonomen Polisstaats lag für die Griechen genau so außerhalb der Möglichkeiten ihres politischen Denkens, wie die Preisgabe des nationalstaatlichen Prinzips zugunsten irgendeiner umfassenderen Staatsform für uns bisher praktisch außerhalb unseres Horizonts gelegen hat. Demosthenes' Jugend fiel in die Zeit des Wiederaufstiegs des athenischen Staates nach dem katastrophalen Ausgang des Peloponnesischen Krieges 10 . Während sich der philosophische Geist des Zeitalters in Plato mit gesammelter Kraft dem geistigen Problem des Staates zuwendet und an seinen moralischen Wiederaufbau geht, unabhängig von den Bedingungen von Zeit und Raum, arbeitet sich der athenische Staat der Wirklichkeit schrittweise aus seiner Schwäche zu einer Bewegungsfreiheit durch, die die Aussicht auf ein langsames Erstarken seiner Macht eröffnet. Nur zu prompt war die thukydideische Prophezeiung in Erfüllung gegangen, der Besitzwechsel der Macht werde auch einen Umschwung der Sympathien nach sich ziehen. Athen konnte, unter1224

[1111348]

stützt von den bisherigen Bundesgenossen Spartas, Theben und Korinth, allmählich seine Stellung im Kreis der griechischen Staaten wiedergewinnen und mit persischem Gelde seine Befestigungen wieder aufbauen, die es nach dem Kriege hatte zerstören müssen. Dann folgt der zweite Schritt: der Abfall Thebens von Sparta gab Athen die Gelegenheit zur Gründung des zweiten Seebundes, der durch Vermeidung der überspannt zentralistischen Politik des früheren Seebundes die Bundesgenossen an Athen zu fesseln wußte. An seiner Spitze sah man Politiker und Soldaten von wirklichem Format, wie Timotheos, Chabrias, Iphikrates und Kallistratos, und der opferbereite Aufschwung des patriotischen Gefühls in den ersten Jahren nach Gründung des neuen Seebundes brachte in dem an Thebens Seite geführten siebenjährigen Krieg gegen Sparta den glücklichen Erfolg des Friedens von 371, der Athen das unbestrittene Übergewicht zur See sicherte und den neuen Seebund durch völkerrechtliche Verträge endgültig legalisierte 11 . Die athenische Jugend, verloren in philosophischer Betrachtung oder hoffnungslos in Abenteuern und Spiel sich zerstreuend, folgte mitgerissen dem großen Gang der Geschichte, die Athen noch einmal zu den höchsten Aufgaben staatlicher Kraftentfaltung im Leben der griechischen Nation zu berufen schien. Es war eine andere Generation als die unter der Problemlast des Peloponnesischen Krieges und seiner zersetzenden Folgen leidende Jugend, an die sich Piatos ,Gorgias' als Kampfschrift gewandt und die sich in den 90er Jahren als der Sauerteig der künftigen Menschheit gefühlt hatte 12 . Während sich der platonische Weise im ,Theaitetosc in die weltfernen Höhen seiner mathematischastronomischen Spekulation zurückzieht und der gesamten Politik ungläubig den Rücken kehrt 13 , sieht sich diese neue Jugend mitten in den Strudel der politischen Bewegung hineingezogen, und sie muß es staatsfremden jungen Metöken aus den Kleinstädten und Randländern Griechenlands wie Aristoteles, Xenokrates, Herakleides und Philippos von Opus überlassen, sich ganz dem platonischen Leben der reinen Forschung zu ergeben14. Anders als mit der Akademie Piatos steht es mit Isokrates und seiner Schule. Aus ihr ging eine Anzahl von aktiven Politikern dieser Zeit hervor, allen voran der militärische und staatsmänni[III/349]

1225

sehe Führer des neuen Seebundes, Timotheos, Isokrates' höchster Stolz. Doch die wahre Schule der jungen Generation war die politische Arbeit in der Partei und die Rednerbühne in der Volksversammlung und vor Gericht. Dort hat Demosthenes als Jüngling, von seinem Pädagogen heimlich eingeschmuggelt, der großen Verteidigungsrede des Kallistratos im oropischen Prozeß gelauscht, durch die er dem Sturze noch einmal entging 16 . Nichts ist bezeichnender für den Gebt der neuen Jugend als diese wahrscheinlich historische Anekdote. Sie beweist, wo neben der aufreibenden jahrelangen Sorge um die unglücklichen Verhältnisse seines zerrütteten Vaterhauses und Familienerbes, die die ersten Gerichtsreden des Zwanzigjährigen enthüllen, die wahren Interessen dieses jungen Mannes lagen. Seiner inneren Bildung war durch die Wendung der Dinge der Weg zum Staate von Anfang an vorgezeichnet. Seine Richtung war durch seine Vorbilder, die großen Männer des zweiten Seebundes, im Grunde schon gewiesen: es galt, die geschichtlichen Erinnerungen Athens aus dem Jahrhundert seiner höchsten politischen Blüte, die in Piatos philosophischer Kritik schon mehr oder weniger entwertet schienen, in die Gegenwart zurückzurufen und die eigene Zeit durch die Ideale der Vergangenheit zu veijüngen 16 . Doch die schmerzliche Erfahrung, daß diese großartige Welt hatte zusammenbrechen müssen, hatte als Frucht des zähen geistigen Ringens der Nachkriegsgeneration um die Ursachen dieser Katastrophe Erkenntnisse reifen lassen, die nicht verloren sein durften, wenn sich das Vergangene nicht wiederholen sollte. Es mußte die Aufgabe der neuen Jugend sein, einen guten Schuß von dem nüchternen Wasser dieser Erkenntnis in den berauschenden Wein der alten attischen Machtpolitik zu mischen. So allein konnte man hoffen, der eigenen Zeit gewachsen zu sein. Es war die tastende Vorsicht dieser moralischpolitischen Reflexion, was die Ära des zweiten Seebundes vom Geist des 5. Jhrh. unterschied 17 . Es ist durchaus natürlich, daß die politische Restaurationsbewegung des 4. Jhrh. zugleich so ideell bewußt und literarisch ist. Der ungebrochenen Vitalität des vorhergehenden Jahrhunderts war dieser Zug noch fremd. Erst die Nachblüte des athenischen Staatslebens im demosthenischen Zeitalter hat die politische Beredsamkeit zur vielbewunderten schriftstellerischen Kunstgattung entwickelt. Es wird den Tatsachen ent1226

[III/350]

sprechen, wenn uns überliefert ist, Demosthenes habe sich während der Zeit seiner Ausbildung zum politischen Redner leidenschaftlich dem Studium des thukydideischen Geschichtswerkes hingegeben 18 . Nicht die Staatsreden des Perikles, wie dieser sie wirklich gehalten hat, konnten dem jungen Mann als Vorbild dienen, denn sie waren nicht literarisch veröffentlicht und nicht erhalten. Die Reden im Werke des Thukydides waren in der Tat der einzige Nachhall der politischen Beredsamkeit aus Athens großer Zeit, und sie standen doch wieder in ihrer künstlerischen und geistigen Geformtheit und der Gedankenschwere ihres Gehaltes jenseits aller politischen Redepraxis der Wirklichkeit19. Erst dem Demosthenes war es vorbehalten, eine literarische Form zu schaffen, die die Kraft und bewegliche Geschmeidigkeit des wirklich gesprochenen Wortes verbindet mit der dialektischen Gedanklichkeit und kunstreichen Formung thukydideischer Reden, und die Suggestion der lebendigen Fühlung mit dem Hörer als wesentlichstes Element der rhetorischen Überzeugungskraft in literarische Form umzusetzen*0. Als Demosthenes zwölf Jahre nach jenem großen rednerischen Erlebnis seiner Jugend selbst die Tribüne betrat, war die politische Situation vollkommen verändert. Es war nach dem verlorenen Bundesgenossenkrieg, der die wichtigeren seiner Bundesgenossen erneut von Athen abtrünnig sah und das Ende des mit so großen Hoffnungen begründeten zweiten Seebundes besiegelte. Dieser Bund hatte seine geschichtliche Aufgabe in den Augen der Mehrzahl seiner Teilnehmer mit dem Sturz der spartanischen Vorherrschaft erfüllt. Seitdem fehlte ihm das innere Band, das ihn zusammenhielt. Obgleich er seine größte Ausdehnung erst nach dem für Athen siegreichen Frieden mit Sparta erreicht hat, erwies es sich bald genug, daß ihm die positive Interessengemeinschaft fehlte, die ihn zu weiterer Dauer befähigen konnte, und als Schwierigkeiten die Vormacht Athen zwangen, die alte Gewaltpolitik gegen die Bundesstaaten wieder aufzunehmen, sammelte sich von neuem der allgemeine Unwille an, der schon einmal Athens Seeherrschaft gestürzt hatte. Doch das wichtigste positive neue Element in der griechischen Politik seit dem Friedensschluß von 371 war der unerwartete Aufstieg Thebens unter der Leitung des Epaminondas, der zu einer völlig veränderten Gruppierung der Machtverhält[III1351]

1227

nisse führte. Zuerst Seite an Seite mit Theben gegen Sparta vorgehend, hatte Athen sich in jenem Frieden von 371 von seinem thebanischen Bundesgenossen getrennt, um die Ernte des Krieges rechtzeitig in die Scheuem zu bringen. Aber unmittelbar nachdem es durch den selbständigen Friedensschluß, der Sparta entlastete, von diesem die offizielle Anerkennung des Seebundes erlangt hatte, wurde die spartanische Landmacht von den Thebanern unter Epaminondas bei Leuktra vernichtend geschlagen. Dieser Sieg begründete eine nie dagewesene Machtstellung Thebens in Griechenland und drängte Sparta in die zweite Reihe. Die athenische Politik des Kallistratos warf in diesem Augenblick das Steuer herum und trat mit Sparta in ein offenes Bündnis, um dem bisherigen Bundesgenossen Theben die Waage zu halten. Es war die Geburtsstunde der Gleichgewichtsidee, die die athenische Politik des folgenden Jahrzehnts beherrscht und ein neues System in der griechischen Staatenwelt zu stabilisieren versucht hat. Ihr Urheber war Kallistratos, derselbe Politiker, der schon während der Friedensverhandlungen fur Athens Trennung von Theben eingetreten war und sich gegen eine starke thebenfreundliche Strömung in Athen durchgesetzt hatte 21 . Auf der anderen Seite ging Epaminondas, der einzige Staatsmann großen Stils, den Theben hervorgebracht hat, nach dem militärischen Sieg über Sparta an die Auflösung des Peloponnesischen Bundes, indem er die von Sparta unterdrückten Stämme der Messenier und Arkader befreite und zu selbständigen Staaten mit einheitlicher Verwaltung machte. Sie traten jetzt in die Reihe der Vcisallen Thebens. Spartas Übergewicht war damit auch im Peloponnes gebrochen, und nur der Waffenhilfe Athens hatte es seine Rettung vor vollständiger Vernichtung zu verdanken. Es ist unabsehbar, welche Richtung die griechische Politik im Zeichen der neuen Frontstellung Athens gegen Theben genommen hätte, wenn nicht Epaminondas in der für Theben siegreichen Schlacht gegen die Spartaner bei Mantinea gefallen und sein bedeutender athenischer Gegenspieler Kallistratos kurz darauf gestürzt worden wäre 22 . Seither ging die Macht der beiden rivalisierenden Staaten unter mittelmäßiger Führung rasch zurück, und der Konflikt verlagerte sich: sowohl Theben wie Athen hatten um die Aufrechterhaltung ihrer Autorität über ihre Bundesgenossen schwer zu kämpfen, Theben in Mittelgriechenland 1228

[111/352]

und Thessalien, Athen zur See. Das hinderte nicht, daß sich die Feindschaft beider Staaten bis in die demosthenische Ära als feststehende Voraussetzung vererbte und in jeder Einzelfrage zum Ausdruck kam. Sie trat filr Athen jedoch naturgemäß zurück hinter den inneren Sorgen der nächsten Jahre, der unaufhaltbaren Auflösung des Seebundes. Dies war das Erbe, das Demosthenes und die Männer seiner Generation antraten (355). Die Katastrophe des zweiten Seebundes stellte mit nicht zu überbietender Eindringlichkeit noch einmal, ein letztes Mal, die Frage der staatlichen Zukunft Athens. Es könnte scheinen, als wäre Isokrates' unerschrockene Antwort, die er in seiner ,Rede über den Frieden' noch während des Krieges unter dem Druck der Not gegeben hatte, die einzig vertretbare. Es war die offene Aufforderung zum endgültigen grundsätzlichen Abbau jeder auswärtigen Machtpolitik im Sinne des einstigen attischen Reiches, wie sie auch der zweite Seebund wieder zwangsläufig mit sich gebracht h a t t e D i e These wird begründet mit einer stark utilitaristisch gefärbten politischen Moral. Es sei nützlicher, sich auf friedlichem Wege Lorbeeren zu erwerben, ab durch die mit jeder Machtpolitik verbundene Pleonexie, das „Mehrhabenwollen", den Haß der ganzen Welt zu erregen und den Staat unter der Führung allgemein verachteter Agitatoren und militärischer Bandenführer der äußersten Gefahr auszusetzen. Zur gleichen Zeit wird in der,Schrift über die Einkünfte', die einen ausgezeichneten Mann des Wirtschaftslebens zum Verfasser hat, dieselbe Politik des Verzichts aus wirtschaftlichen Gründen empfohlen**. Doch gleichviel ob Athen sich grundsätzlich auf den Boden dieser Anschauung stellte oder nur der gegenwärtigen Not gehorchend, jede Besserung mußte beginnen mit der Beschränkung auf die nächstliegenden Aufgaben der finanziellen Sanierung und der Wiederherstellung des Kredits (in jedem Sinne dieses Wortes) bei der übrigen Welt. Weitergehende Pläne einer Verfassungsreform des in dem letzten Jahrzehnt in die Hände der radikalisierten Massen geratenen Staates müssen in den Kreisen der besitzenden Klasse in jenen Jahren gleichfalls erörtert worden sein, wenn Isokrates es wagen konnte, in einer eigenen Broschüre, dem ,Areopagitikos', öffentlich für die Einsetzung einer mehr autoritativen Regierung einzutreten. Ein solches Ziel lag zwar in weiter Feme, [111/353]

1229

aber es zeugt von der Kampfstimmung und dem Machtbewußtsein der großbürgerlichen Schicht in jener bedrängten Lage, in der nur sie dem Staat helfen konnte 26 . Ein hochangesehener Staats· mann ihrer Richtung, in erster Linie Vorkämpfer der wirtschaftlichen und finanziellen Gesundung, Eubulos, tritt jetzt als Führer einer Opposition in die Erscheinung, in deren Reihen die besten Vertreter der jüngeren Generation sich finden, unter ihnen auch der junge Demosthenes, der von Haus aus den reichen Kreisen Athens angehörte 2 ·. Es war ja nur natürlich, daß er dort Anschluß suchte, wohin ihn seine Geburt, Erziehung und Anschauung wiesen. Diese Jugend, die einst auf dem Höhepunkt des Wiederaufstiegs der athenischen Macht politisch zum Bewußtsein erwacht war und kein höheres Ziel kannte, als ihre ganze Kraft dem Staat zu widmen, mußte nun in die ersehnte politische Tätigkeit eintreten zu einer Zeit des größten Tiefstandes, den der athenische Staat in seiner Geschichte jemals erreicht hatte. Mit den hohen Idealen, die sie mitbrachte, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen waren, sah sie sich in eine trostlose Wirklichkeit hineingeschleudert, und es war vom ersten Augenblick an deutlich, daß in dieser ungeheuren Spannung von Ideal und Wirklichkeit ihr Kampf um das Schicksal des Staates sich vollenden mußte. Demosthenes war durch eigene Lebenserfahrung, die Veruntreuung des großen von seinem Vater hinterlassenen Vermögens durch seine Vormünder, frühzeitig mit den Gerichten in Berührung gekommen und hatte die Tätigkeit eines Verfassers von Gerichtsreden und Rechtsberaters als Beruf gewählt, nachdem er seihst zum erstenmal als Redner in eigener Sache vor die Richter getreten war 2 7 . Bei der engen Verbindung des politischen Kampfes mit den Gerichten, wie sie in Athen sich herausgebildet hatte, war das Auftreten in politischen Prozessen bereits ein ganz normaler Weg zur Staatslaufbahn geworden. Die ersten Dokumente politischer Betätigung, die wir von Demosthenes haben, sind denn auch Reden in großen Staatsprozessen aus jenen Jahren der Depression, die er als Logograph fïir andere geschrieben hat. Die drei Reden gegen Androtion, Timokrates und Leptines stehen im Dienst einer und derselben Politik. Sie richten sich gegen die meist exponierten Persönlichkeiten deijenigen politischen Gruppe, die Athen während des verlorenen Krieges gegen die Bundesgenossen geführt hatte 1230

/ / / / /354]

und sich auch nach dem unglücklichen Ende des Krieges zunächst noch am Ruder behaupten konnte 28 . Demosthenes erweist sich sofort als einer der gefahrlichsten und geschicktesten Angreifer des Stoßtrupps der Opposition. Die Gehässigkeit des Kampfes läßt die Erbitterung erkennen, mit der die Gegner der Regierenden um die Macht ringen. Schon hier zeigt sich die systematische Konsequenz des Vorgehers als eine Hauptstärke des Demosthenes, der damals freilich noch überwiegend für fremde Personen und unter fremder Führung arbeitet 28 . Bald tritt er auch persönlich als Redner in der Öffentlichkeit hervor. Sein Interesse ist bezeichnenderweise von Anfang an den Problemen der auswärtigen Politik zugewandt. Wir verfolgen in diesen ersten Kundgebungen des werdenden Staatsmannes mit Spannung den Gang seiner Entwicklung. Es ist zu beobachten, wie er von den entscheidenden Fragen der athenischen Außenpolitik eine nach der anderen mit bemerkenswerter Zielsicherheit ergreift, so daß sich bereits in kurzer Zeit in diesen Dokumenten ein vollständiges Bild der damaligen auswärtigen Lage Athens vor unseren Augen entrollt* 0 . Die Möglichkeiten einer produktiven Außenpolitik, die sich für Athen in dieser Periode des langsamen und mühseligen inneren Wiederaufbaus boten, waren gering genug. Um so mehr fallt die geistige Selbständigkeit und bewegliche Initiative auf, die der junge Demosthenes gegenüber jedem dieser Probleme entfaltet, sobald es in das politische Gesichtsfeld rückt. Dies hing bei der Passivität, zu der Athen gerade in außenpolitischer Hinsicht durch seine l.age verurteilt war, durchaus von den sich bietenden Gelegenheiten ab, und an solchen fehlte es in dieser schnellebigen und von mannigfach sich kreuzenden Interessen bewegten Zeit auch für Athen nicht völlig. Hier mußte sich freilich mit absoluter Notwendigkeit eine Kluft auftun, die im Laufe der Jahre immer größer und unüberbrückbarer wurde. Die politische Auffassung, die literarisch durch Isokrates und rcalpolitisch durch Eubulos, den Hauptführer der Opposition der reichen Kreise, repräsentiert wurde, lehnte konsequent jede außenpolitische Aktivität für den geschwächten Staat ab und sah seine Zukunft in der bewußten Beschränkung auf die Aufgaben einer umsichtigen Innen- und Wirtschaftspolitik. Demosthenes hatte in seiner ersten außenpolitischen Rede noch dem Standpunkt dieser Nichtinterventionisten [111/355]

1231

nahegestanden 11 . In der Frage des damais von vielen befürworteten Präventivkriegs gegen einen angeblich unmittelbar drohenden Angriff des Perserkönigs hatte er sich durch seine agitatorisch gewandte und politisch zielsichere Initiative gegen die Kriegshetzer den Beifall der Kreise um Eubulos errungen, und sein Mut zur Unpopularität muß mit Sympathie vermerkt worden sein von Seiten einer Reformgruppe, die es auf ihre Fahne geschrieben hatte, ¿1er vulgären Sentimentalität und der herrschenden Phrase in der Politik unnachsichtig entgegenzutreten. Aber Demosthenes war trotz aller Nüchternheit in der Beurteilung der vorhandenen Chancen grundsätzlich ein Anhänger der Überzeugung, daß Athen sich aus dem gegenwärtigen Tiefstand wieder zu einer aktiven Rolle im griechischen Staatsleben emporarbeiten müsse ss . Er mußte daher jede Gelegenheit für wertvoll halten, die sich für Athen bot, um seine trostlose Isolierung zu überwinden und durch eine maßvolle und gerechte, aber wachsame Haltung in seiner auswärtigen Politik allmählich wieder an Boden zu gewinnen. So vorsichtig abwartend er dabei auch vorgehen mochte, war eine solche Politik der Ausnutzung der sich von außen bietenden Gelegenheiten doch nicht möglich, ohne ein Mindestmaß des Risikos einzugehen, während die Politik des grundsätzlichen Verzichts in jedem Falle den Weg der absoluten Sicherheit vorziehen mußte. Demosthenes erlebt auch diese Zeit der Passivität geistig als Aktivist. Er verfolgt die Entwicklung der Welt ringsumher ab interessierter Zuschauer von der Tribüne aus, um sich dann im entscheidenden Augenblick mit einem plötzlichen Sprung selbst auf die Bühne zu stürzen und mitten während der Szene die Hauptrolle an sich zu reißen. Die nächsten Stationen auf seinem Wege sind die großen Reden fiir die Megalopoliten und für die Freiheit der Rhodier, zu denen die ihrem Gehalt nach ebenfalls außenpolitische Gerichtsredegegen Aristokrates tritt 89 . Nachdem Demosthenes in seiner ersten öffentlichen Rede die Beziehungen zur persischen Großmacht erörtert hat, packt er in diesen Reden die drei übrigen Hauptprobleme der athenischen Außenpolitik an: die peloponncsische Frage, die Frage des künftigen Verhältnisses zu den von Athen abgefallenen Staaten des früheren Seebundes und das nordgriechische Problem. Damit ist das Ganze der künftigen Außenpolitik, wie 1232

[UH356]

Demosthenes sie sich vorstellt, erstmalig in großen Zügen umrissen. Das Ziel dieser Versuche ist stets das gleiche, von Demosthenes fest im Auge behaltene: herauszukommen aus der lähmenden Isolierung und die Möglichkeiten einer praktischen Bündnisbildung vorsichtig zu sondieren, um sie gegebenenfalls entschlossen zu ergreifen. Es war gar nicht anders denkbar, als daß ein athenischer Außenpolitiker dieser Zeit sich dem konstruktiven Rahmen einfügte, der durch die originale Gleichgewichtsidee des Kallistratos vorgezeichnet war. Seit dem überraschenden Auftreten Thebens als dritter Macht neben Sparta und Athen mußte dieser Plan eines Gleichgewichts als das klassische Testament und Erbe aus der erfolgreichsten Periode der attischen Politik seit Perikles gelten. Solange die gegebenen Faktoren der griechischen Staatenpolitik noch die gleichen waren wie zur Zeit der Aufstellung dieses Axioms vor 15 Jahren, konnte die Aufgabe des kommenden Außenpolitikers nicht darin bestehen, an dem Axiom zu rütteln, sondern er hatte es nur als gelehriger Schüler zu handhaben. Die Probe, die Demosthenes in der ,Megalopolitenrede' ablegt, zeugt von der Elastizität des Geistes, der hier am Werke ist, dem Prinzip, das er wie alle übrigen Staatsmänner adoptiert, im Sinne seines Urhebers die von der veränderten Zeit geforderte Interpretation zu geben. Die Idee des Gleichgewichts der spartanisch-thebanischen Waage, an der Athen das ausschlaggebende Zünglein bleiben sollte, hatte einst wie eine Erleuchtung gewirkt in dem Augenblick, als das Übergewicht des thebanischen Bundesgenossen Athen genötigt hatte, sich mit seinem alten Feinde Sparta zu vertragen. Seit aber der Aufstieg Thebens zum Stillstand gekommen und es durch den eben damals unglücklich beginnenden mittelgriechischen Krieg gegen die Phoker sehr geschwächt war, galt es filr Athen, zu verhüten, daß die durch Theben im Peloponnes gegen Sparta neu geschaffenen Staaten Arkadien und Messenien von dem inzwischen erholten Sparta neuerdings unterdrückt würden, wodurch Athen leicht in eine unerwünschte Abhängigkeit von Sparta geraten und Theben allzu sehr geschwächt würde. Diese schutzlosen Staaten mußten jetzt bei Athen Anlehnung suchen, und Demosthenes hält den Augenblick filr gekommen, das starr gewordene Gleichgewicht zu lockern und als Gegengewicht gegen das seit Leuktra mit Athen verbündete Sparta ein doppeltes Bündnis mit Arkadien und Messe[III/357]

1233

nien in die Waagschale zu legen 34 . Diesem selbständigen Gedanken folgt in der Rede für die Rhodier ein zweiter, nicht weniger interessanter. Die Rhodier waren, aufgereizt durch den König von Karien, unter den ersten Staaten gewesen, die vom athenischen Seebunde abgefallen waren. Aber sie hatten nicht bedacht, d a ß Athen für alle demokratisch regierten Seestaaten der einzige natürliche Rückhalt war, um ihre Unabhängigkeit zu wahren, u n d als dann der karische Verführer die Demokraten aus Rhodos verjagte, kamen sie reuig nach Athen, bereit zu neuem Anschluß. Wie im Fall der Arkadier die Nichtintervendonisten in Athen, die den entscheidenden Einfluß hatten, das bisherige Bündnis mit Sparta vorschützten, nutzten sie gegen die Rhodier die Volksstimmung aus, die diesen alten Verrätern ihre jetzige Bedrängnis gönnte®. Demosthenes wandte sich auch jetzt scharf gegen die nächstliegende, gefühlsmäßige Auflassung, hinter deren Sentimentalität sich nach seiner Meinung die mangelnde Entschlußkraft und die Passivität der Regierenden verbarg 8 *. Beidemale ist er völlig selbständig vorgegangen und hat seinen noch jungen R u f aufs Spiel gesetzt, beidemale ohne Erfolg. Die Abgewiesenen haben den Weg zu den Feinden Athens gefunden. Die Arkadier und Messenier stehen später auf Seiten Philipps von Makedonien, und mit den Rhodiern gingen Athen auch die übrigen Staaten verloren, die fraglos bald ebenfalls den Weg zu Athen zurückgefunden hätten, wenn der Bund mit Rhodos zustandegekommen wäre. War doch auch bei dem Abfall der Bundesgenossen Rhodos führend beteiligt gewesen. Mit der ,Rede gegen Aristokrates' betritt Demosthenes zum erstenmal den Schauplatz der nordgriechischen Politik. Es handelt sich um die Sicherung der Dardanellen. Der Besitz der Meerengen war der letzte Stützpunkt Athens zur See, von ihm hing die Getreideversorgung der Stadt ab, er sicherte außerdem die Herrschaft Athens in den nordgriechischen Gewässern. Demosthenes kannte die Bedeutung der Frage von seinen Fahrten als Trierarch an diese Küsten aus eigener Anschauung. Die benachbarten T h r a ker hatten den wichtigen Punkt seit Jahrzehnten bedroht und zeitweise besetzt gehabt. Es schien ihm wichtig, jetzt, wo mehrere fürstliche Brüder sich in das thrakische Reich teilten, ihre Uneinigkeit zu benützen, u m die Wiederkehr dieses Zustandes zu verhüten und 1234

[111/358]

die gefährlichen Nachbarn der Meerengen möglichst zu schwächen". Inzwischen war aber noch ein anderer Faktor in die nordgriechische Politik eingetreten, der neue König Philipp von Makedonien. Ihm war es in wenigen Jahren seit seiner Thronbesteigung gelungen, sein bis vor kurzem zerrissenes und von anderen Mächten wechselnd abhängiges Land durch seine geniale Kraft zur entscheidenden Macht in diesem Bereich zu machen. Schon in der ,Rhodierrede' streift Demosthenes die Gefahr, die Athen von dieser Seite droht. Der König befand sich seit der Wegnahme der seit langem umstrittenen makedonischen Hafenstadt Amphipolis im Kriegszustande mit Athen, das Anspruch auf diesen alten Stützpunkt seines Handels und seiner Flotte erhob. Nachdem Philipp sein Land geeinigt hatte, hatte er sich zum Herrscher des südlich angrenzenden Thessalien gemacht, das politisch seit Jahrzehnten zerrissen war und eine Lösung seiner Probleme von außen erwartete. Dann griff er in den Krieg zwischen Theben und Phokis ein, schlug die Phoker und war eben im Begriff, durch die Thermopylen in Mittelhellas einzurücken, um dort als Schiedsrichter aufzutreten, als die Athener sich aufrafften und ein Korps an diesen leicht zu verteidigenden Eingang von Griechenland warfen, das Philipp den Weg versperrte 38 . Er versuchte nicht, den Paß zu forcieren, sondern wandte sich nach Norden, marschierte durch Thrakien, ohne ernsten Widerstand zu finden, und bedrohte Athen plötzlich an den Dardanellen, wo niemand ihn erwartet hatte. Alle Berechnungen des Demosthenes fur den Schutz der Meerengen gegen die Thraker waren mit einem Schlage nichtig geworden, das ganze Bild war verschoben, und die makedonische Gefahr enthüllte sich blitzartig in ihrer vollen Größe 39 . Die Panik, die die Nachricht in Athen erregte, war bald unbekümmertem Leichtsinn gewichen, als man erfuhr, daß Philipp erkrankt und die Expedition aufgegeben sei. Aber für Demosthenes war dies der Zeitpunkt des grundsätzlichen Entschlusses zur offenen Absage an die hinhaltende, passive Politik der regierenden Männer 40 . Sie hatten alle seine Versuche zum Scheitern gebracht, die Lage Athens durch freiwilliges Ergreifen der sich bietenden günstigen Gelegenheiten zu bessern. Aber jetzt handelte es sich nicht mehr um den Prinzipienstreit zwischen Intervention und Nichtintervention. Der Staat war in Gefahr. Untätigkeit konnte nicht [III!359]

1235

länger als Sorge um die Sicherheit Athens ausgegeben werden: sie bedeutete Preisgabe der wichtigsten Lebensinteressen des Staates. Der nicht ernst genommene Blockadekrieg hatte Athen plötzlich in die Verteidigung gedrängt. Das ganze System der Kriegführung mußte geändert werden. Philipps rapider Aufstieg forderte alle aktiven Energien in Demosthenes heraus41. Hier hatte er endlich den furchtbaren Angreifer gefunden, dessen es bedurfte, um in der augenblicklichen Lage Athens überhaupt den Mut zu außenpolitischem Handeln zu rechtfertigen. Ob Demosthenes unter günstigeren Verhältnissen einer jener aufbauenden und schöpferischen Staatsmänner hätte werden können, deren Existenz ein Land von aufstrebender Kraft zur Voraussetzung hat, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Sicherlich ist er in dem Athen seiner Zeit nicht denkbar ohne einen Gegner wie Philipp, der seine weitschauende Voraussicht, Entschlossenheit und zähe Konsequenz erst zur Entfaltung bringt. Die moralischen Hemmungen, die jeder aggressiven außenpolitischen Betätigung in dieser Zeit voll philosophischer Gewissensproblematik seit langem im Wege standen, fielen jetzt fort. Das erleichterte es dem Demosthenes, sich über die Köpfe der fuhrenden Kompromißpolitiker hinweg an das Volk zu wenden, von dem ihn in seinen ersten Reden noch ein so weiter Abstand getrennt hatte. Schon in der Rede für die rhodischen Demokraten hatte er aus außenpolitischen Überlegungen Töne angeschlagen, die auf die politischen Ansichten der Masse berechnet waren, sehr verschieden von der von oben herab belehrenden und ironisierenden Haltung seiner ersten Rede, die bestimmt war, die erhitzten Gemüter abzukühlen42. Die ,Aristokratesrede* richtet heftige Angriffe gegen die maßgebenden Politiker, die sich selbst bereichern und behaglich in prächtigen Häusern wohnen, während sie für den Staat nichts Besseres zu tun wissen als die Mauern frisch zu kalken und die Straßen zu reparieren43. Die Rede über die Rüstungen mißt das von den Mitteln des Staates als Rentner lebende Volk kritisch an dem kampferprobten und zu herrschen gewohnten Volk der Vergangenheit, und sie schließt mit dem Gedanken, da der Appell an die Männer der Politik nichts gefruchtet habe, müsse man das Volk in einem neuen Geiste erziehen, da die Redner doch immer nur so sprechen, wie das Volk es von ihnen wünscht44. 1236

[III!360]

Die Worte enthalten ein Programm. Man hat es bisher nicht weiter ernst genommen, weil die Rede bis vor kurzem meist nicht als echt angesehen wurde. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat in der Betätigung ihrer Skepsis öfters die Grenzen des Beweisbaren überschritten, und so war es auch in diesem Falle45. Aber es bedarf kaum der Echterklärung der Rüstungsrede, um zu erkennen, daß die von jetzt an folgenden Reden des Demosthenes in einem einzigartigen Maße eine geistige Einheit bilden. Schon das Altertum hat sie als die ,philippischen Reden' zu einer besonderen Gruppe zusammengefaßt, aber es ist nicht nur die Tatsache, daß sie sich gegen denselben Gegner richten, die sie von den früheren Reden abhebt. Sie sind zusammengehalten durch die großartige volkserzieherische Idee, die in jenem Satz der Rüstungsrede kurz und schlagend formuliert ist. Er gibt den einfachsten Kommentar für das, was man nicht richtig als die Wendung des Demosthenes zur demokratischen Partei bezeichnet hat 4 ·: für seine Entwicklung zum großen Volksftihrer, die sich in den ,philippischen Reden' vollzieht. Gewiß ist in diesen genug zu spüren von der bewußten Kunst, mit der es üblich war, die inneren Reaktionen der Masse vorauszusehen und zu beherrschen. Die athenische Rhetorik des 4. Jhrh. verfügte über eine mehr als hundertjährige Erfahrung, und da die Führung oft in der Hand von Leuten lag, die selbst nicht aus der Masse stammten, so hatte sich für den Umgang mit ihr eine eigene Sprache gebildet, die ihren Instinkten Rechnung trug. Aber nur vollkommener Mangel an geistigem Unterscheidungsvermögen kann die Fähigkeit des Demosthenes, sich gèlegentlich dieser Sprache zu bedienen, mit dem gewöhnlichen Demagogentum verwechseln. Wie die Motive, aus denen er sich an das Volk wendet, von denen des Demagogen grundverschieden sind, entsprungen aus sachlicher politischer Erkenntnis, die ihn innerlich treibt, die Hemmungen seiner zarten Natur und seiner Jugend zu überwinden und als Kritiker hervorzutreten47, so steht auch der Wert des politischen Einsatzes seiner Persönlichkeit turmhoch nicht nur über dem Geschrei der Demagogen, sondern auch Uber dem Alltagsniveau des sachlichen und anständigen Geschäftspolitikers vom Schlage des Eubulos. Es ist selbstverständlich, daß ein innerlich völlig fertiger Staatsmann, wie er sich uns in den ersten demosthenischen Reden zur aus[III¡361]

1237

wärtigen Politik enthüllt hat, nicht plötzlich seine Natur verwandelt und zum bloßen Schreier wird, wie das ernsthafte Gelehrte ungescheut ausgesprochen haben. Wer auch nur den geringsten Sinn für die Größe und Neuheit der Sprache hat, die in den ,philippischen Reden' des Demosthenes hervorbricht, steht damit von vornherein jenseits jedes derartigen Mißtrauens. Um die staatsmännische Haltung dieser Reden zu verstehen, genügt es nicht, nach den praktischen Maßnahmen zu fragen, die in ihnen vorgeschlagen werden. Es offenbart sich in ihnen ein Schicksalsbewußtsein und eine Schicksalsbereitschaft von historischem Ausmaß. Das ist nicht mehr bloße Politik, vielleicht ist es besser zu sagen: es ist wieder Politik, wie einst Solon oder Perikles sie verstanden hatten 48 . Er nimmt das Volk an die Hand und tröstet es Uber die Ungunst seiner Lage. Sie ist schlimm genug. Aber das Volk hat nichts getan, was es berechtigte, etwas anderes zu erwarten. Gerade das ist das einzig Tröstliche in allem Unglück 4 ·. Wie Solon als Warner aufstand, so lehrt Demosthenes jetzt die Athener: Klagt nicht die Götter an, sie hätten eure Sache aufgegeben. Ihr selbst seid schuld daran, wenn Philipp euch Schritt für Schritt zurückdrängt und jetzt schon eine Macht errungen hat, gegen die vielen von euch jeder Widerstand aussichtslos erscheint 50 . Ähnlich wie sich bei Solon mit der Frage nach dem Anteil der Götter an dem Unglück des Staates der Gedanke der Tyche verbindet, kehrt er auch bei Demosthenes in seinen Warnungsreden gegen Philipp wieder, in immer neuer Abwandlung". Es ist ein Grundmotiv dieser tiefen Auseinandersetzungen mit dem Schicksal Athens. Die fortgeschrittene Individualisierung dieses Zeitalters läßt die Menschen in ihrem Bedürfnis nach Freiheit ihre tatsächliche Abhängigkeit vom äußeren Weltlauf um so heftiger empfinden. Das Jahrhundert seit der Tragödie des Euripides ist von der Idee der Tyche mehr als irgend eine Zeit erfüllt, und es ist mehr und mehr geneigt, sich resigniert zu ergeben. Demosthenes nimmt den alten erbitterten Kampf Solons gegen diesen schlimmsten Feind alles entschlossenen Handelns mutig auf. Er legt die geschichtliche Verantwortung für Athen einzig auf die Schultern der gegenwärtigen Generation. Ihre Aufgabe sieht er gleich derjenigen der dunklen Zeit nach dem verlorenen Peloponnesischen Krieg, die gegen den Widerstand von ganz Hellas Athen wieder 1238

[III!362]

emporgeführt hat zur Höhe politischer Geltung in der Welt62. Dazu hat es nur eines Mittels bedurft, des wachsamen und angespannten Einsatzes der ganzen Kraft des Volkes. Jetzt ist Athen gleich dem barbarischen Ringkämpfer, dessen Faust nichts anderes zu tun weiß, als an die Stelle zu greifen, wo der Gegner ihm die letzte Beule geschlagen hat, statt selbst vorwärts zu blicken und kühn einen Ausfall zu wagen63. Das sind die einfachen und schlagenden Gedanken, mit denen Demosthenes in der ersten .Philippika' seine Erziehungsarbeit beginnt. Die vorbauenden Vorschläge zur radikalen Änderung der Kriegführung, die er hier macht, ohne daß ein direkter neuer Angriff Philipps vorhergegangen ist, weisen die Rede, die jetzt oft zu spät gesetzt wird, in die Zeit, als Philipps unvorhergesehener Uberfall auf die Meerengen Demosthenes die Augen für die Gefahr zum erstenmal geöffnet hat 61 . Die militärischen und finanziellen Maßregeln, die er zu ergreifen rät, um bei dem nächsten Überfall bereit zu sein, sind vom Volk nicht angenommen worden Er muß sie wiederholt6· in Vorschlag bringen, als Philipp, von seiner Krankheit erholt, Olynth angreift, und sich für Athen eine letzte Gelegenheit bietet, im Bunde mit dem mächtigen Handelsstaat im griechischen Norden dem weiteren Vordringen der makedonischen Macht Widerstand zu leisten. Noch einmal stellt Demosthenes mit erneuter Dringlichkeit die Frage der Selbstverantwortung des athenischen Volkes dem Tyche-Verhängnis gegenüber und sucht den Mut zu eigenem Handeln zu entbinden 67 . Er greift die falschen Erzieher heftig an, die — allzuspät — das Volk durch Erregung von Angstzuständen zu überzeugen suchen, daß es nun wirklich" an der Zeit sei zu handeln 58 . Seine eigene Analyse der gegnerischen Macht ist durchaus nicht realpolitisch in dem üblichen Sinn. Es ist eine Kritik der moralischen Grundlagen, auf denen sie sich aufbaut 6 ·. Wir dürfen diese Reden nicht lesen, als wäre es die Erwägung eines Staatsmannes im Geheimkabinett. Sie dienen der Leitung eines intelligenten, aber wankelmütigen und selbstsüchtigen Volkes. Sie sind dazu da, diese Masse wie ein Rohmaterial für die Ziele des Staatsmannes zu formen eo . Das gibt dem ethischen Moment in den Reden des Demosthenes aus dieser Zeit seine besondere Bedeutung. Es ist in den außenpolitischen Reden, die wir in griechischer Literatur sonst finden, ohne Parallele*1. Wohl sieht [IIU363]

1239

Demosthenes die Größe des Gegners, das Zauberische und Dämonische seiner Persönlichkeit, das mit keinem bloß moralischen Maßstab meßbar ist· 2 . Doch der Jünger Solons vertraut nicht der Haltbarkeit einer Macht, die auf dieser Grundlage errichtet ist, und bei aller Bewunderung der geheimnisvollen Tyche Philipps entscheidet sich sein Glaube doch für die Tyche Athens, auf deren Fittich der Abglanz der historischen Sendung dieses Staates ruht **. Niemand, der das Bild des Staatsmannes im Wandel des griechischen Geistes verfolgt hat, kann dem schweren Ringen dieser Auseinandersetzung mit dem athenischen Volk und seinem Schicksal folgen, ohne sich erinnert zu fühlen an jene ersten grandiosen Verkörperungen des verantwortlich handelnden politischen Führers, wie die attische Tragödie sie geschaffen hat M . Auch sie atmen solonischen Geist, aber dieser ist dort hineingestellt in das tragische Dilemma der Entscheidung. In den Reden des Demosthenes ist das tragische Dilemma Wirklichkeit geworden **, und dieses Bewußtsein, nicht bloße subjektive Erregtheit ist die Quelle jenes fortreißenden „Pathos", das eine nur ästhetenhaft genießende und schülerhaft nachahmungsbeflissene Nachwelt richtig als den Anbruch einer neuen Ära in der Geschichte des rednerischen Ausdrucks empfand". Es ist der Stil, in dem das tragische Wesen dieser Zeit seine Prägimg fand. Seine tiefen pathetischen Schatten kehren wieder auf den Gesichtern der großartigsten Werke der gleichzeitigen bildenden Kunst, die Skopas geformt hat, und eine gerade Entwicklung führt von diesen beiden großen Bahnbrechern des neuen Lebensgefühls zu der Schöpfung des pergamenischen Altars, in dessen pathetisch mächtiger Bewegungsfülle die Formensprache dieser Gesinnung den Gipfel der Erhabenheit erreicht. Wie hätte Demosthenes der größte Klassiker der hellenistischen Zeit werden können, in die sein politisches Ideal so wenig paßte, wenn er nicht der Farbe ihrer seelischen Empfindimg den vollkommenen Ausdruck gegeben hätte? Doch diese Empfindung und ihr Ausdruck sind bei Demosthenes selbst nicht zu trennen von dem Kampf um das politische Ideal, der die Stunde ihrer Geburt herauflühren sollte. Redner und Staatsmann in ihm sind eins. Was wäre die bloße rednerische Form ohne das Schwergewicht des staatsmännischen Geistes, der in ihr nach Gestaltung ringt! Er verleiht ihren leidenschaftbeseelten Gebilden die 1240

[III!364]

eherne Standfestigkeit, von der keiner der nach Tausenden zählenden Nachahmer dieser Sprache etwas begriffen hat und die sie unlösbar fest gewurzelt hält an dem Orte der geschichtlichen Entscheidung, die sich in ihr verewigt. Eine vollständige Darstellung der demosthenischen Politik als solcher liegt hier nicht in unserer Absicht. Die Reden geben ein zwar lückenhaftes, aber fUr unsere gewohnten Begriffe von historischer Überlieferung noch immer verschwenderisch reiches Material zur Rekonstruktion des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse und noch mehr der staatsmännischen Entwicklung des Demosthenes. Was wir zu Ende verfolgen wollen, ist das Wachstum und die Vollendung seiner Gestalt als Leiter seines Volkes bis zur Zeit des Endkampfes um das selbständige Dasein des athenischen Staates. Der Fall Olynths und die Zerstörung der zahlreichen blühenden Städte der Halbinsel Chalkidike, die zu der olynthischen Hansa gehörten, zwang Athen zum Frieden mit Philipp von Makedonien. Er kam 346 zustande, und auch Demosthenes hat ihn grundsätzlich gewünscht' 7 . Doch der Annahme der Bedingungen Philipps hat er widersprochen, weil sie Mittelgriechenland dem Feinde schutzlos auslieferten und Athen der immer engeren Einkreisimg preisgaben. Er hat den Abschluß des Friedens auf dieser Grundlage nicht verhindern können und mußte in seiner ,Rede über den Friedensschluß' sogar bewaffneten Widerstand dringend widerraten, nachdem die Besetzung der für die Beherrschimg Mittelgriechenlands wichtigen Landschaft Phokis und der Thermopylen durch Philipp zur Tatsache geworden war. Gerade die ,Friedensrede' zeigt, wie schon die ersten Reden des Demosthenes aus der Zeit, bevor der Kampf gegen Philipp seine eigentliche Lebensaufgabe wurde, den Realpolitiker in ihm, der nicht das Unmögliche will und es wagt, der Herrschaft der bloßen Leidenschaft in der Politik scharf entgegenzutreten ··. Man greift den Gegner nicht in der Situation an, die für ihn die günstigste ist89. Diese realistisch denkenden Reden zeigen Demosthenes von einer Seite, die für seine Einschätzung als Politiker entscheidend ist. Auch hier ist er von Anfang an der Lehrer, der die Masse nicht nur überreden, überwältigen will, sondern sie nötigt, auf eine höhere Warte zu treten und selbst zu urteilen, nachdem er sie auf diese Schritt für Schritt hinaufgeführt hat. Ein schönes Beispiel dafür ist die .Rede [III/365 ]

1241

für die Megalopoliten' mit ihrer Auseinandersetzung über die Politik des Gleichgewichts der Kräfte und ihrer Anwendung auf den gegebenen Fall. Für die ständig wachsame Bereitschaft, den bloßen Phrasensturm des chauvinistischen Gefühlsrausches zu beschwichtigen, sind die .Symmorienrede' und die ,Rede für die Freiheit der Rhodier' klassische Beweise. In diesen Reden enthüllt sich mit voller Klarheit Demosthenes' Begriff der Politik als einer vollkommen objektiven Kunst, und die Rede nach dem ungunstigen Frieden von 346 zeigt, daß der Kampf gegen Philipp nichts an dieser Haltung geändert hat. Bestätigen doch auch die erste .Philippika' und die drei .Reden für Olynth' mit ihren Ratschlägen das Bild der vorbauenden Voraussicht und der rechtzeitigen Entschlossenheit dieses Staatsmannes, der weiß, wieviel in dieser von der Tyche beherrschten Welt die Gunst der Gelegenheit bedeutet' 0 . Sein Handeln setzt stets das Bewußtsein seiner Abhängigkeit von ihr voraus; dadurch ist seine auffallende Zurückhaltung nach dem Frieden bedingt. Sowohl seine Kritiker wie die bloßen Gefühlspolitiker unter seiner Gefolgschaft haben das bis auf den heutigen Tag nicht begriffen und haben da, wo strenge Konsequenz des Denkens sich in elastisch wechselnder Haltung äußert, ein Schwanken des Charakters gesehen n . Aber Demosthenes hat, auch als er die ,Friedensrede' hielt, sein Ziel genau gekannt und scharf im Auge behalten. Er hat nicht an die Dauer dieses Friedens geglaubt, der nur ein Werkzeug zur Beherrschung Athens war, und seine praktische Anwendung durch Philipp zu verteidigen hat er lieber den Politikern überlassen, die sich blind stellten wie Aischines, weil ihr Wille zum Widerstand schon gebrochen war, oder die, wie der alte Isokrates, gar zu der Folgerung bereit waren, Philipp als Führer aller Griechen zu proklamieren und aus der Not eine Tugend zu machen7*. Diese unerwartete Wendung im geistigen Kampf mit der Gefahr der makedonischen Fremdherrschaft ist in der Tat nur dem verständlich, der verfolgt hat, wie Isokrates allmählich zum Herold der Idee der politischen Einigung der Griechen geworden war. Die Einigung konnte in Hellas nicht in der Form der Auflösung der autonomen Einzelstaaten in einen nationalen Einheitsstaat verwirklicht werden, auch wenn die Schwächung der Staaten so weit gediehen war wie jetzt. Sie konnte nur von außen kommen. Nur 1242

[III1366]

der Widerstand gegen einen gemeinsamen Feind konnte alle Griechen als Nation zusammenschließen. Daß Isokrates als diesen Feind das Perserreich ansah, dessen Angriff vor fast 150 Jahren die Griechen ihre Streitigkeiten hatte vergessen lassen, und nicht Makedonien, das gegenwärtig die einzige wirklich dringende Gefahr war, mochte man aus der trägen Gewohnheit erklären; denn Isokrates hatte nun schon seit Jahrzehnten die Idee dieses Kreuzzugs vertreten7®. Aber daß er die Gefahr Makedoniens auszuschalten glaubte, indem er Philipp, den Feind der Freiheit Athens und aller Griechen, als prädestinierten Führer dieses künftigen Nationalkrieges verkündigte, war ein unverzeihlicher politischer Fehler; denn damit gab er Griechenland dem Feinde im voraus preis und rückte ihn an eine Stelle, die er nur zu gern einnahm, weil sie allen Widerstand der Griechen gegen seine Herrschaftspläne moralisch entwaffnen mußte. Von diesem panhellenischen Standpunkt aus konnte Isokrates alle diejenigen als bloße Kriegshetzer herabsetzen, die noch nicht bereit waren, jeden Ubergriff der makedonichen Macht willig hinzunehmen71, und die makedonische Agitation hatte leichtes Spiel mit der systematischen Ausnutzung dieses Schlagwortes. Demosthenes war nicht der Mann, diesem neuen Kampf im Innern aus dem Weg zu gehen. Wie er gegen die Parteigrößen der Nicht-Interventionisten leidenschaftlich vorgeht, so nimmt er jetzt seine alten Bestrebungen wieder auf, Athen zunächst einmal aus der Isolierung herauszuführen. Wenn Philipp als der Retter der Griechen in der Not maskiert wird, so setzt Demosthenes dieser künstlichen Front den eisernen Willen entgegen, die Griechen g e g e n Philipp zu vereinen und zur Verteidigung ihrer nationalen Unabhängigkeit aufzurufen. Seine Reden in der Friedenszeit sind eine ununterbrochene Reihe von Versuchen, diesen seinen Panhellenismus dem promakedonischen des Isokrates entgegenzustellen und als reale politische Macht zu organisieren n . Dem Kampf um die Seele Athens folgt der Kampf um die Seele von ganz Hellas. Der Einkreisung kann Athen nur entgehen, wenn es ihm gelingt, die griechischen Bundesgenossen Philipps aus der feindlichen Front herauszubrechen und sich an die Spitze der Griechen zu setzen7*. Nichts Geringeres als das ist das Ziel des Demosthenes, der in der zweiten .Philippika' selbst seine Bemühun[1IH367]

1243

gen schildert, die peloponnesischen Staaten von Philipp loszureißen. Sie waren vorerst noch ohne Erfolg 77 . Früher hätte man sie gewinnen können, als sie selbst nach Athen gekommen waren und ein Bündnis wünschten. Damals, Jahre bevor der Kampf mit Philipp seinen gegenwärtigen Höhepunkt erreicht hatte, war j a Demosthenes nachdrücklich für eine solche Bündnispolitik eingetreten und hatte geraten, nicht um des fast wertlos gewordenen Bündnisses mit Sparta willen die übrigen Staaten des Peloponnes von sich zu stoßen, fiir die Athen der gegebene Rückhalt war. Jetzt hatten sie sich Philipp in die Arme geworfen, und auch Theben, das in dieser Zeit für Athen wichtiger gewesen wäre als Sparta, war infolge der Unterstützung seiner phokischen Gegner durch Athen und Sparta enger an Philipp gekettet, als es in seinem eigenen Interesse lag. Die Unterstützung der Phoker nur aus Haß gegen Theben hat Demosthenes, wie er später sagte, stets für die falsche Politik gehalten. Nun hat der Phokerkrieg Philipp Gelegenheit gegeben, sich in Mittelhellas einzumischen. Die Phoker sind vernichtet, Athens Annäherung an Theben ist in weite Ferne gerückt 78 . Es schien eine Sisyphusarbeit, in einem so zerklüfteten Griechenland eine panhellenische Front gegen Philipp aufzubauen. Und doch ist es Demosthenes nach jahrelangem Bemühen endlich gelungen. Diese seine Entwicklung zum Vorkämpfer der hellenischen Freiheit ist um so erstaunlicher, als die politische Verwirklichung des panhellenischen Gedankens, selbst nachdem die Vertreter der Rhetorik ihn ausgesprochen hatten, wie ein Märchen erschien. Der Mann, der sie durchgesetzt hat, war derselbe Demosthenes, der in seiner ersten außenpolitischen Rede das Axiom aufgestellt hatte: der Ausgangspunkt alles politischen Denkens ist für mich das Interesse Athens 79 . Aus diesem Politiker der hohen Schule des Kallistratos, also des grundsätzlichen und illusionslosen Partikularisten, war der panhellenische Staatsmann der ,dritten Philippika' geworden, für den es Athens größte Aufgabe ist, die Führung der Griechen gegen Philipp zu übernehmen, eingedenk der großen nationalen Tradition seiner früheren Politik 80 . Daß es ihm geglückt ist, die Griechen größtenteils unter dieser Fahne zu sammeln, hat schon die antike Geschichtsschreibung als eine staatsmännische Leistung ersten Ranges anerkannt. In der großen seelischen Durchbruchsschlacht der ,Chersonnes1244

[1111368]

rede' und der .dritten Philippika' kurz vor Beginn des Krieges steht Demosthenes wieder vor uns als der Volksführer der ersten philippischen Reden vor dem Frieden von 346. Aber wie hat sich die Lage gewandelt! Damals ein vereinzelter Außenstürmer, ist er jetzt der leitende Geist einer ganz Griechenland ergreifenden Bewegung, und statt der Athener ruft er nun alle Griechen aus ihrem lethargischen Zustand auf zum Kampf um ihre Existenz. Sie stehen bei der reißenden Ausbreitung der Macht Philipps noch immer untätig wie bei einem Unwetter, einer elementaren Naturkatastrophe, der der Mensch passiv zuschaut im Gefühl seiner vollkommenen Machtlosigkeit, hoffend, daß der niederfahrende Hagelschlag vielleicht doch das Haus des Nachbarn treffen werde 81 . Aufgabe des Führers ist es, den Willen des Volkes von dieser Lähmung zu befreien und es den Händen der falschen Berater zu entreißen, die es dem Feind bereitwillig ausliefern und nur Philipps Interesse vertreten8*. Das Volk hört gern auf sie, weil sie nichts von ihm fordern. Demosthenes zählt die Beispiele der Städte auf, in denen die Philipp ergebene Partei ihm die Macht schon in die Hände gespielt hat. Olynth, Eretria, Oreos erkennen heute: wenn wir das vorher gesehen hätten, wären wir gewiß nicht zugrunde gegangen, aber jetzt ist es zu spät w . Man muß das Schiff retten, solange es heil ist. Wenn die Wogen erst die Übermacht haben, ist alle Mühe vergebens84. Die Athener müssen selbst handeln, und wenn auch alle anderen zurückwichen, müßten sie doch für die Freiheit kämpfen. Sie müssen Geld, Schiffe und Mannschaften bereitstellen und durch ihren Opferwillen Griechenland mit sich reißen86. Der Krämersinn der Masse, die Bestechlichkeit der Redner müssen und werden weichen dem Heldengeiste jenes Hellenentums, das einst die Perserschlachten schlug88. Schon viele Jahre früher taucht bei Demosthenes die Frage auf, die sich bei diesem Vergleich nicht zurückdrängen läßt, ob die Athener von heute nicht eine entartete Rasse sind, nicht in einem Atem zu nennen mit den Athenern von damals Aber Demosthenes ist kein Historiker oder Kulturtheoretiker, der nur Tatsachen erkennen will. Er ist auch hier notgedrungen der Erzieher, der eine Aufgabe vor sich sieht. Er glaubt nicht an die Verschlechterung der Natur des Volkes, so ungünstig auch die Zeichen scheinen. Er wäre niemals fähig, mit Plato den athenischen Staat aufzugeben [JIIJ369]

1245

und sich von ihm abzukehren wie von einem unheilbar Kranken. Krämerhaft und kleinlich ist das Treiben dieses Volkes geworden, wie sollte da die Denkart der Menschen anders sein?88 Woher sollte höherer Sinn, kühnerer Schwung in sie kommen? Während Isokrates aus dem Vergleich mit der Vergangenheit nur das eine folgerte, daß es damit endgültig vorbei sei, konnte der handelnde Staatsmann diesen Schluß nicht ziehen, solange noch eine Bastion seiner Festung zu verteidigen war 8 ·. Für ihn wird die Größe des alten Athen der Stachel, um das Volk zum Einsatz seiner äußersten Kraft anzutreiben 90. Aber diese Auffassung von dem Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit ist für ihn nicht bloß eine Frage des Wollens. Es ist noch mehr eine Frage des Müssens M . Selbst wenn die Kluft zwischen damals und heute noch so groß wäre, Athen kann sich nicht von seiner Geschichte trennen, ohne sich selbst aufzugeben. Je größer die Geschichte, desto mehr wird sie dem Volk zum Schicksal in sinkender Zeit, desto tragischer die Unmöglichkeit, sich ihrer Verpflichtung zu entziehen, auch wenn sie unerfüllbar sein sollteM. Gewiß hat Demosthenes sich nicht bewußt getäuscht und die Athener leichtherzig in ein Abenteuer geführt. Aber allerdings müssen wir uns die Frage vorlegen, ob die Zwangslage, die er klarer erkannte als die anderen, überhaupt jene technische Art der Staatskunst noch gestattete, die man die Kunst des Möglichen genannt hat. Der Realpolitiker in Demosthenes, der viel stärker war, als die modernen Historiker es meist begriffen haben, mußte mit jenem anderen Staatsgeist in ihm in Spannung geraten, der sich des Rechts und der Pflicht bewußt war, angesichts der ideellen Existenzfrage das Ganze aufs Spiel zu setzen und von den vorhandenen Kräften das schier Unmögliche zu fordern. Diese Forderung war darum noch keine bloße Utopie. Sie beruhte auf der Erkenntnis, daß der physische und moralische Organismus des Individuums wie einer Nation im Augenblick tödlicher Gefahr einer Höchstleistung fähig ist, deren Kraftmaß im wesentlichen davon abhängt, in welchem Grade der Kämpfende selbst sich seiner Lage bewußt und wie gesund sein Lebenswille ist. Hier steht auch der weiseste Staatsmann vor einem Geheimnis der Natur, das der menschliche Verstand nicht im voraus zu berechnen vermag. Hinterher erscheinen allzuleicht die als die wahren Staatsmänner, die hier nur vor einem rechnerischen 1246

[III!370]

Problem standen und es daher leicht hatten, einem Risiko auszuweichen, zu dessen Übernahme kein lebendiger Glaube an ihr Volk, kein Gefühl für seine Würde und keine Ahnung von der Unausweichlichkeit des Schicksals sie innerlich zwang. Demosthenes ist in dieser Entscheidungszeit der Mann gewesen, in dem der heroische Zug des griechischen Polisgeistes diesen zwingenden Ausdruck fand. Wir brauchen nur sein düster sorgenvolles, durchfurchtes Antlitz im Bilde des Künstlers zu betrachten, der es festgehalten hat, um zu erkennen, daß auch er von Natur kein Achilleus oder Diomedes war, sondern selbst ein Sohn seiner Zeit. Aber wer sieht nicht, daß dadurch sein Kampf nur um so edler wird, je übermenschlicher seine Anforderungen einem Geschlecht von so überfeinerten Nerven und individueller Innerlichkeit erscheinen mußten ! Demosthenes konnte nicht anders, als ihn mit äußerst gespannter Bewußtheit auf sich nehmen. Schon Thukydides hatte gesagt, daß die Athener zum Wagnis nur in voller Bewußtheit iahig seien, während der Mut der anderen oft auf Unkenntnis der Gefahr beruhe· 8 . Demosthenes' Verhalten folgt diesem Leitsatz. Er widerlegt die Meinung, daß der kommende Krieg dem Peloponnesischen ähnlich sein werde, in dem Perildes sich darauf beschränkte, den Feind ins Land hineinzulassen und sich in die Mauern einzuschließen. Bei der technisch weit fortgeschrittenen modernen Kriegführung ist Athen nach seiner Uberzeugung verloren, wenn es wartet, bis der Feind im Land steht N . Das ist eine wesentliche Voraussetzung für Demosthenes' Ablehnung der Politik des Abwartens. Er hat außer um die Griechen damals auch um Persien geworben, und angesichts des Sturzes des Perserreiches unmittelbar nach der Unterwerfung der Griechen durch Philipp erscheint in der Tat die Unbeteiligtheit Persiens an dem Schicksal Athens als reine Verblendung. Demosthenes hat geglaubt, durch die Kraft seiner staatsmännischen Logik den Großkönig überzeugen zu können, was Persien erwarte, wenn Philipp die Griechen unterwürfe Vielleicht hätte er es vermocht, wenn er selbst in Person nach Asien gegangen wäre. Seine Gesandten waren nicht imstande, die persische Passivität zu brechen. Ein weiteres Problem, das Demosthenes damals bewußt angepackt hat, ist die soziale Frage, der in diesen Jahrzehnten sich dauernd verschärfende Gegensatz lim371]

1247

zwischen der besitzenden und der ärmeren Klasse der Bevölkerung. Er war sich klar darüber, daß dieser Zwiespalt in den Kampf um die Entscheidung nicht mit hineingenommen werden durfte, sollte er nicht den Einsatz der vollen"" Kraft aller Volksschichten von vornherein abschwächen. Die «vierte Philippika' drängt zu einem Ausgleich, mindestens einem Kompromiß, einer Entgiftung der Atmosphäre. Sie verlangt Opfer von beiden Teilen··. Sie zeigt, wie eng für das Volk die Frage des Willens zur nationalen Behauptung mit der Lösung der sozialen Schwierigkeiten verkettet war. Vielleicht ist das beste Zeugnis für Demosthenes der Opferwille, der sich bei dem folgenden Kampfe Uberall kräftig regt. Der Krieg entschied zu ungunsten der verbündeten Griechen. Die souveräne Existenz des griechischen Polisstaats war seit der Schlacht von Chaironeia vernichtet. Auch in ihrem Ziisammenschluß zum letzten Kampf für die Freiheit waren die alten Staaten nicht mehr fähig, der organisierten kriegerischen Macht des makedonischen Königreichs zu widerstehen. Ihre Geschichte mündete in das makedonische Weltreich, das Alexander nach dem jähen, gewaltsamen Tode König Philipps durch Mörderhand auf seinem stürmischen Eroberungszug durch Asien auf den Trümmern des Perserreichs errichtete. Der griechischen Kolonisation, Wirtschaft und Wissenschaft eröffneten sich neue, ungeahnte Möglichkeiten der Entwicklung, auch als das Reich nach dem frühen Tode seines Schöpfers in die Staaten der Diadochen zerfiel. Aber das alte Hellas war politisch tot. Isokrates' Traum der Zusammenfassung aller Griechen unter makedonischer Führung zum nationalen Krieg gegen den persischen Erbfeind war nun Wirklichkeit geworden. Der Tod hat es Isokrates erspart, zu spät zu erkennen* daß der Sieg eines Volkes, das seine Selbständigkeit verloren hat, über einen imaginären Feind keine wahre Erhebung für das nationale Gefühl bedeutet und die Einheit, die von außen auf·· gezwungen wird, keine Lösung des Problems der staatlichen Zersplitterung ist. Kein wahrer Grieche, der nicht während des Alexanderzuges lieber die Nachricht vom Tode des neuen Achilleus empfangen hätte, statt ihn auf allerhöchsten Befehl als Gott anzubeten. Das fieberhafte Warten aller Patrioten auf diese Nachricht mit seinen immer neuen Täuschungen und übereilten Aufstandsversuchen ist eine Tragödie für sich. Aber was wäre geworden, 1248

[III1372]

wenn es wirklich den Griechen gelungen wäre, nach Alexanders Tode das Joch abzuschütteln, statt daß die makedonischen Truppen die Revolte blutig unterdrückten und Demosthenes im Tode durch Selbstmord die Freiheit suchte, die er im Leben ftir sein Volk nicht mehr erhoffen konnte? Es gab fììr die Griechen keine politische Zukunft mehr, auch wenn sie mit den Waffen gesiegt hätten — so wenig außerhalb der Fremdherrschaft wie unter ihr. Die geschichtliche Lebensform ihres Staates hatte sich ausgelebt, und keine künstliche neue Organisation konnte sie ersetzen. Es ist verfehlt, ihre Entwicklung am Maßstab des modernen Nationalstaates zu messen. Es bleibt Tatsache, daß die Griechen ein nationales Bewußtsein im politischen Sinne, das sie zu einer solchen Staatsbildung befähigt hätte, nicht entwickelt haben, obgleich es ihnen an nationalem Selbstbewußtsein in anderem Sinne nicht gefehlt hat. Aristoteles hat in der .Politik' das Wort gesprochen, die Griechen könnten die Welt beherrschen, wenn sie ein einziger Staat wären 07 . Aber nur als philosophisches Problem ist dieser Gedanke in den Horizont des griechischen Geistes getreten. Nur e i n m a l , in dem Endkampf des Demosthenes um die Unabhängigkeit, ist es zum Aufwallen eines griechischen NationalgefUhls gekommen, das sich in dem gemeinsamen Widerstand gegen den äußeren Feind in politische Wirklichkeit umsetzte. In diesem Augenblick seiner letzten Anspannung zur Behauptung seiner Existenz und seines Ideals hat der sinkende Polisstaat in den Reden des Demosthenes seine Verewigung gefunden. Die viel mißbrauchte und viel bewunderte Kraft der öffentlichen politischen Beredsamkeit, die von seiner Idee untrennbar ist, steigt in ihnen noch einmal zu höchster Bedeutung und Würde empor, um dann zu verlöschen. Ihr letzter großartiger Kampf ist Demosthenes ,Rede vom Kranz*. Es geht hier bereits nicht mehr um politische Realitäten, sondern um das Urteil der Geschichte und um die Gestalt des Mannes, der Athen in diesen Jahren geführt hat. Es ist wunderbar, daß und wie wir Demosthenes den Kampf um die Idee bis zum letzten Atemzug durchfechten sehen. Es könnte scheinen, als wäre das Rechthaberei, nachdem die Geschichte ihr ehernes Wort gesprochen hatte. Aber wenn seine alten Gegner jetzt aus ihren Löchern hervorkrochen und im Namen der Geschichte Uber ihn endgültig aburteilen zu können glaubten, [III !373J

1249

so mußte er ein letztes Mal aufstehen und zum Volke sprechen von dem, was er von Anfang an gewollt und getan hatte. Was wir in den ,philippischen Reden' als gegenwärtiges Ringen miterlebt haben, die Last des Erbes, die Größe der Gefahr, die Schwere der Entscheidung, das tritt nun als abgeschlossenes Schicksal noch einmal vor unseren Blick, das Ende schon mitumfassend. Demosthenes bekennt sich in wahrhaft tragischer Gesinnung zu seinem Handeln, und er beschwört das Volk, nicht zu wünschen, daß es anders entschieden hätte, als die Vergangenheit es von ihm forderte". Ihr Glanz leuchtet noch einmal auf, und das Ende ist trotz seiner Bitterkeit in Harmonie mit ihr.

1250

[III!374J

ANMERKUNGEN Auf den Seiten 1253-1310 sind die Anmerkungen zu den Seiten [IH1-IH360] = 517- 876 zu finden und auf den Seiten 1311-1398 die der Seiten [UH 1-IW374] = 877-1250.

DIE GRIECHISCHE MEDIZIN ALS PAIDEIA SEITE 11—58 Vgl. unten S. 33. a Auch die bekannten medizingeschichtlichen Werke von Hecker, SprengelRosenbaum u. a. verraten diese Verengung des Gesichtsfeldes dadurch, daß sie die Stellung der Medizin im Ganzen der griechischen Bildung nicht als Problem behandeln, sondern sie nur als „ F a c h " darstellen. Die philologische Medizingeschichtsforschung ist ihnen darin meist gefolgt. 3 Über die Stellung der Medizin im hellenistischen Bildungssystem vgl. die Prolegomena von F. Marx zur Ausgabe des A. Cornelius Celsus S. 8 ff. 4 Beispiele dafür, die sich vermehren ließen: Plat.Prot.313 D, Gorg.45oA. 517 E, Soph. 227 A . sag A , Polit. 289 A ; vgl. besonders Gorg. 464 Β. Über die Personalunion von Medizin und Gymnastik bei Herodikos von Selymbria: Plat. Pol. 406 A . 6 Λ 514. • Vgl. S. 31. Früher begann man umgekehrt die Geschichte der griechischen Medizin mit Thaies, getreu der Lehre des Celsus (I prooem. 6), daß die Allwissenschaft Philosophie ursprünglich alle Einzelwissenschaften in sich umfaßte. Das ist romantische Geschichtskonstruktion der hellenistischen Zeit. Die Medizin war in ihren Anfängen eine rein praktische Kunst, die aber von der neuen Naturbetrachtung der ionischen Forscher aufs stärkste erfaßt wurde. Die erhaltene medizinische Literatur der Griechen setzt ein mit der Reaktion gegen diesen Einfluß. 1

' Vgl. James H. Breasted, The Edwin Smith Surgical Papyrus published in Facsimile and Hieroglyphic Transliteration with Translation and Commentary, 2 Bde., Chicago 1930; ferner Abel Rey, L a science dans l'antiquité, Bd. I: La science orientale avant les Grecs (Paris 1930) S. 314fr. Zur Literatur über den wissenschaftlichen oder nichtwissenschaftlichen Charakter dieser Stufe der Medizin vgl. M. Meyerhof, Über den Papyrus Edwin Smith. Das älteste Chirurgi! buch der Welt, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 231 (1931) S. 645—690. 9 Vgl. Paideia Bd. I S. 193 fr. • Anaximanders Triaden: Paideia Bd. I S. 215. Hebdomadische Spekulation im hippokratischen Corpus: De hebd. c. 5, De earn. c. 12—13; dann systematisch ausgebaut bei Diokles von Karystosfrg. 177 (Wellmann); lateinischer Auszug erhalten bei Macrobius. Vgl. dazu jetzt die griechische [11/361]

1253

Version in W.Jaeger, Vergessene Fragmente des Peripatetikers Diokles von Karystos (Abh. Beri. Akad. 1938) S. 17—36 mit den Bemerkungen über die Bedeutung der Periodenlehre und Zahlentheorie in der Naturbetrachtung der Griechen. 10 Vgl. Solon frg. 14,6 und 19, 9. Über den Begriff des Passenden (άρμόττον) bei den Ärzten vgl. unten S. 54 und mein Buch Diokles von Karystos. Die griechische Medizin und die Schule des Aristoteles (Berlin 1938) S. 47ff. 11 τιμωρία und τίμωρείν vgl. z. B.Hipp. Devictuacut.c.5; 15 (Il262Littré). Galen z. St. und Erotian s. ν. τιμωρέουσα erklären es als βοήθεια, βοηθείν sicher richtig; doch der Zusammenhang mit Begriffen der älteren Naturphilosophie wie 6ίκη, -riais, άμοιβή liegt auf der Hand: die Kausalität im Bereich der Natur wird nach rechtlicher Analogie als Vergeltung verstanden (vgl. Bd. I S. 2i8ff.). „Zuhilfekommen (τίμωρείν) muß man nach Kräften dem, dem Unrecht geschieht", Demokrit frg. 261. Auch βοηθεΐν hat juristischen Sinn, wie sich jetzt zeigt. 12 De aere c. 12 ( C M G I 1, 67) wird die Herrschaft der Gleichheit (Isomoirie) und die Abwesenheit des gewaltsamen Übergewichts einer einzelnen Kraft als das Wesen des gesunden Zustandes bezeichnet; vgl. auch De vet. med. c. 14 (CMG I 1, 45f.). 13 Bd. I S. 387 fr. 11 Bd. I S. 487; Thukydides alsÄtiologe ebendort S. 491; als Diagnostiker S. 499. 1S De morbo sacro c. ι und 18 (VI 352 u. 394 L.). 19 L. Edelstein, Περί άέρων und die Sammlung der hippokratischen Schriften (Berlin 1931) S. 117fr. bemerkt zwar, daß Hippokrates für Plato und Aristoteles noch nicht die unfehlbare Autorität war wie für die Zeit des Galen, doch scheint er mir nach der entgegengesetzten Seite zu weit zu gehen, wenn er einseitig und nicht ohne Gewaltsamkeit zu beweisen sucht, daß die berühmten Stellen bei Plato (Prot. 311 Β—C, Phaidr. 270 C) und Aristoteles (Pol. V I I 4, 1326 a 15) zwar voll Achtung vor Hippokrates seien, aber ihn nicht höher stellten als andere Ärzte. Er ist für Plato und Aristoteles, daran kann kein Zweifel bestehen, bereits die repräsentative Verkörperung der ärztlichen Kunst. 17 Der neueste kritische Versuch einer Abgrenzung der dem hippokratischen Kreise zuzuweisenden Schriften aus den ersten Generationen der Schule (K. Deichgräber, Die Epidemien und das Corpus Hippocraticum, Abh. Beri. Akad. 1933) geht aus von den einigermaßen datierbaren ältesten Teilen des Epidemienwerkes. Er verzichtet auf die Zuweisung von Schriften an Hippokrates selbst. Dieser Weg kann, mit Vorsicht begangen, zu manchen relativ sicheren Ergebnissen führen. Die Hauptaufgabe ist die Erschließung des Verständnisses der vorhandenen Werke in ihrer sprachlichen und geistigen Form. Sie ist noch kaum angefaßt worden. 18 Vgl. über die Gemeinsamkeit des Lehrens und Produzierens innerhalb der wissenschaftlichen Schulen meine Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles (Berlin 1912) S. 141 ff.; Henri Alline, Histoire du texte de Platon (Paris 1915) S. 36fr. Bewußter Betrug, wie M. Wellmann, Hermes 61 (1926)

1254

[U/362]

S. 332 ihn annimmt, liegt auch beim hippokratischen Corpus gewiß nicht vor. Vgl. Anm. ig. « Vgl. den ,Eid' GMG I x, 4. 20 Arist. Hist. an. Γ 3, 5 1 2 b 12—513a 7; vgl. Hipp., De nat. hom. c. 11 (VI 58 L.). Die meisten neueren Forscher schreiben auf Grund der Übereinstimmung dieser Partie mit dem Auszuge des Aristoteles aus Polybos die ganze hippokratische Schrift dem Polybos zu. Doch die Hippokratesforschung des Altertums war geteilter Meinung. Galen in seinem Kommentar zu dieser Schrift (CMG V 9, ι , S. 7ff.) hält c. 1—8 für echt hippokratisch, aus der Überzeugung heraus, daß die Viersäftelehre (Humoralpathologie) das Kennzeichen des echten Hippokrates sei. Für den Rest des Werkes will er nicht einmal einen dem Meister so nahestehenden Arzt wie Polybos als Autor gelten lassen. Sabinus und die Mehrzahl der antiken Exegeten halten Polybos für den Verfasser (vgl. Gal. a. O. 87). 21 Vgl. De victu acut. c. 1 (II 224 L-). Ebenda wird eine neuere und bessere Bearbeitung der Knidischen Lehren (Κυίδιαι γνωμαι) zitiert (ο! ύστερον ίτπδιασκευάσαντε;). Das Buch war also wie die ,Epidemien' des Hippokrates nicht das Werk eines Einzelnen, sondern einer ganzen Schule. 22 Vgl. J . Ilberg, Die Ärzteschule von Knidos (Ber. Sachs. Akad. 1924) und neuerdings L . Edelstein a. O. S. 154, der die Zahl der knidischen Schriften im hippokratischen Corpus wesentlich einschränkt. Ferner Max Wellmann, Die Fragmente der sikelischen Ärzte (Berlin 1901). Doch vgl. mein Buch Diokles von Karystos (oben Anm. 10). 2 » Ιδιώτη; ( = Laie) vgl. De victu sal. c. i (VI 72 L.); De äff. c. 1; 33; 45 (VI 208; 244; 254 L.); De victu c. 68 (VI 598 L.); De flat. c. 1 (VI 90 L . ) . δημότης und δημιουργό; einander entgegengesetzt: De vet. med. c. 1—2 (CMG I I, 36f.). Ιδιώτη; und δημότη; synonym gebraucht: De vet. med. c. a. χειρώναξ : De victu acut. c. 3 (II 242 L.). Aischylos Prom. 45 nennt die Schmiedekunst eine χειρωναξία. " C M G I ι , 8. 25 Zu unterscheiden sind iatrosophistische Vorträge über allgemeine Themen in rhetorischer Prosa wie TTepl τέχνη; und Περί φυσών und Schriften in schlichter sachlicher Form, die sich an die weitere Öffentlichkeit wenden wie: ,Über die ältere Medizin', ,Über die heilige Krankheit' und ,Über die Natur des Menschen'. Ein literarisches Werk sind auch die vier Bücher ,Über Diät·. Diese Literatur gilt der Laienbelehrung und der Selbstreklame, wie sie in einer Welt nötig war, die keinen staatlich approbierten Ärztestand kannte. Vgl. De arte c. 1 (CMG I 1, 9); De vet. med. c. 1; 12; De victu acut. c. 3. ** Plat. Leg. 857 C—D ούκ Ιατρεύει; τόν νοσοϋντα, άλλά σχεδόν ττσ δεύει;. 27 De vet. med. c. 2. " Plat. Symp. 186 A—188 E. » Xen. Mem. I V 2, 8—10. »» Thuc. I I 48, 3. 81 Arist. Part. an. I 1, 639 a 1—12. *· Arist. Pol. Γ I i , 1282a 1—7.

111/363J

1255

" Vgl. Bd. I S. 403 fr.

Plat. Prot. 31 a A ; 315 Α. »» Xen. Mem. I V a, 10. 38 Xen. Mem. IV 2, ι το!; δί νομί^ουσι παιδείας τε -rifa άρΙστης τετυχηκέναι καΐ μέγα φρονοΟσιν tiri σοφ(